Olaf Kühne · Annette Spellerberg Heimat in Zeiten erhöhter Flexibilitätsanforderungen
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Olaf Kühne · Annette Spellerberg Heimat in Zeiten erhöhter Flexibilitätsanforderungen
Olaf Kühne Annette Spellerberg
Heimat in Zeiten erhöhter Flexibilitätsanforderungen Empirische Studien im Saarland
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Katrin Emmerich / Marianne Schultheis VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media.. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: STRAUSS GMBH, Mörlenbach Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17305-4
Inhalt
Abbildungsverzeichnis ...................................................................................... 8 Tabellenverzeichnis ......................................................................................... 10
1
Einleitung .............................................................................................. 13
2
Heimat im Spannungsfeld von Raum, Zeit und Identität ................. 19
2.1 Der soziale Rahmen: Heimat im sozialen Wandel .................................. 19 2.2 Der Identitätsbegriff im Wandel .............................................................. 23 2.3 Regionale Identität und Heimat .............................................................. 2.3.1 Die Dimensionen von Heimat ........................................................ 2.3.2 Heimat und die Unterscheidung von Stadt und Land ..................... 2.3.3 Die Bedeutung der Kunst bei der Konstruktion von Heimat und regionaler Identität ...................................................... 2.3.4 Heimat und Politik ......................................................................... 2.3.5 Heimat und Globalisierung ............................................................
3
26 26 30 33 36 38
Historische Aspekte der Bildung regionaler Identitäten und heimatlicher Orientierungen im Saarland ........................................... 45
3.1 Von den Anfängen der Besiedlung zum Wiener Kongress – die Entwicklung vor 1815 .............................................................................. 45 3.2 Zwischen Preußen und Bayern, zwischen Agrarland und Industrierevier – die Entwicklung zwischen 1815 und 1918 ................... 51
5
3.3 Zwischen Frankreich, Deutschland, Völkerbund, „Drittem Reich“ und Autonomie – die Entwicklung zwischen 1918 und 1957/59 ............. 58 3.4 Die Saarregion als deutsches Bundesland – zwischen 1959 und heute .... 72 3.5 Historische Bezüge von regionalen Identitäten und heimatlichen Orientierungen im Saarland ..................................................................... 82
4
Ergebnisse des quantitativen Studienteils ............................................ 85
4.1 Sozialstruktureller und räumlicher Hintergrund der Befragten ................ 86 4.2 Wohndauer im Saarland ........................................................................... 4.2.1 Wohndauer nach Ortsgröße ............................................................ 4.2.2 Räumliche Verteilung sozialer Netze ............................................. 4.2.3 Verbundenheit mit dem Wohnort ....................................................
89 90 90 92
4.3 Heimatbewusstsein und Heimatgefühle, Bewertung von Heimat ............ 96 4.3.1 Übereinstimmung und Diskrepanz zwischen realem und idealem Bild der Heimat ................................................................. 96 4.3.2 Charakterisierung der Heimat ...................................................... 101 4.3.3 Typisches für die Region .............................................................. 104 4.3.4 Bedeutung der Heimat .................................................................. 108 4.3.5 Bewertung der eigenen Heimat .................................................... 110 4.3.6 Vorhandensein einer weiteren Heimat .......................................... 112 4.3.7 Verortung von Heimat .................................................................. 114 4.3.8 Ursachen für Heimatlosigkeit ........................................................ 116 4.4 Heimatbewusstsein und Engagement in der Gemeinde ......................... 4.4.1 Ortskenntnis ................................................................................. 4.4.2 Nähe zu Nachbarn ........................................................................ 4.4.3 Engagement und Beteiligung am Wohnort ...................................
119 119 121 122
4.5 Fazit des quantitativen Studienteils ........................................................ 126
5
Ergebnisse des qualitativen Studienteils ............................................ 131
5.1 Forschungsinteresse und Methodik des qualitativen Studienteils .......... 131
6
5.2 Heimatbegriff ......................................................................................... 5.2.1 Soziales ........................................................................................ 5.2.2 Wohlbefinden ............................................................................... 5.2.3 Zeitliches ...................................................................................... 5.2.4 Ort bzw. Landschaft ..................................................................... 5.2.5 Geistige Heimat ............................................................................ 5.2.6 Ab- und Ausgrenzung ................................................................... 5.2.7 Die synthetische Dimension der Funktion der Vereinfachung von Welt durch Heimat .................................................................
132 133 133 134 135 136 136 137
5.3 Deutungen und Bedeutungen ................................................................. 5.3.1 Biographische Aspekte von Heimat ............................................. 5.3.2 Die Bedeutung von Dialekt für den Heimatbezug ........................ 5.3.3 Die Bedeutung von Vereinen für den Heimatbezug ..................... 5.3.4 Die Bedeutung von Traditionen für den Heimatbezug ................. 5.3.5 Die Bedeutung von Landschaft für den Heimatbezug .................. 5.3.6 Heimat und Fremde ......................................................................
139 139 143 146 147 148 151
5.4 Aspekte des Saarländischen ................................................................... 160 5.4.1 Das Konstrukt des „typisch Saarländischen“ ............................... 160 5.4.2 Die Eigenständigkeit des Bundeslandes Saarland in der Beurteilung der Befragten ............................................................ 165 5.5 Fazit des qualitativen Studienteils .......................................................... 168
6
Fazit .......................................................................................................173
Anhang
....................................................................................................... 177
Literaturverzeichnis ....................................................................................... 185
7
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: „Grün ist die Heide“ Filmplakat. 1951. ................................... 33 Abbildung 2: Das Wappen des Saarlandes .................................................... 47 Abbildung 3: Das Saarbrücker Schloss ......................................................... 50 Abbildung 4a: Wechselnde territoriale Zugehörigkeiten der Saarregion in der Geschichte – 1789 ......................................................... 52 Abbildung 4b: Wechselnde territoriale Zugehörigkeiten der Saarregion in der Geschichte – 1817 ......................................................... 53 Abbildung 5a: Die topographische Lage Saarbrückens um die Zeit der Vereinigung der Stadt .............................................................. 55 Abbildung 5b: Die topographische Lage Saarbrückens heute ........................ 56 Abbildung 6: Alltagsprodukte im Saarstaat................................................... 65 Abbildung 7: Wahlplakat zur Landtagswahl 1952......................................... 67 Abbildung 8: Abstimmungskampf ................................................................ 68 Abbildung 9: Abstimmungsergebnis nach Gemeinden in Prozent der Stimmen gegen das Saarstatut und für eine Vereinigung mit der Bundesrepublik Deutschland. ..................................... 70 Abbildung 10: Gemeinden des Saarlandes vor und nach der Gebietsund Verwaltungsreform 1974 .................................................. 76 Abbildung 11: Völklinger Hütte...................................................................... 80 Abbildung 12: Herkunft der Befragten............................................................ 87 Abbildung 13: Einteilung der Gemeinden in vier Ortstypen ........................... 88
8
Abbildung 14: Bilder von saarländischen Regionen und idealen Heimaten. ................................................................................ 97 Abbildung 15: Beschreibung der Heimat ...................................................... 101 Abbildung 16: Polaritätenprofil Merkmale des Wohnortes nach Bewertungstypen ................................................................... 102 Abbildung 17: Schwenken ............................................................................ 106 Abbildung 18: Idealbild einer saarländischen Heimat................................... 127 Abbildung 19: Der St. Johanner Markt in Saarbrücken................................. 164
9
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1:
Einwohner und Befragte nach Ortstyp .................................... 88
Tabelle 2:
Wohndauer im Saarland........................................................... 89
Tabelle 3:
Wohnort von Verwandten und Bekannten ............................... 91
Tabelle 4:
Typen der räumlichen Sozialbeziehungen ............................... 91
Tabelle 5:
Zustimmung „Ich möchte nie woanders leben“ nach Gemeindetyp ........................................................................... 94
Tabelle 6:
Ich möchte nie an einem anderen Ort leben (log. Regression) 95
Tabelle 7:
Gemeindetyp nach typischer Region....................................... 98
Tabelle 8:
Ortstyp nach idealer Heimat .................................................... 99
Tabelle 9:
Ist-Soll-Vergleich: Heimatregion und ideale Heimat............... 99
Tabelle 10:
Ist-Soll-Vergleich zwischen Region und idealer Heimat ....... 100
Tabelle 11a:
Die zehn am meisten genannten positiven Merkmale ........... 104
Tabelle 11b:
Die zehn am meisten genannten negativen Merkmale .......... 105
Tabelle 12a:
Positive Merkmale der Region .............................................. 107
Tabelle 12b:
Negative Merkmale der Region............................................. 108
Tabelle 13:
Bedeutung von Heimat (Mehrfachnennungen)...................... 109
Tabelle 14:
Bewertung von Heimat.......................................................... 111
Tabelle 15:
Bezeichnungen der zweiten Heimat ...................................... 113
Tabelle 16:
Assoziationen mit der zweiten Heimat .................................. 113
10
Tabelle 17:
Bezeichnungen für Heimat (Mehrfachnennungen)................ 115
Tabelle 18:
Faktoren der Heimatlosigkeit ................................................ 117
Tabelle 19:
Bedeutung der Heimat in der Fremde.................................... 119
Tabelle 20:
Kenntnis der Gemeinde nach sozialstrukturellen Merkmalen ........................................................................... 120
Tabelle 21:
Kenntnis der Nachbarn nach Merkmalen der sozialen Integration ............................................................................ 121
Tabelle 22:
Örtliches Interesse und Engagement (Mehrfachnennungen) ........................................................... 123
Tabelle 23:
Hierarchie des Engagements nach Bildung ........................... 124
Tabelle 24:
Ehrenamtlich oder politisch aktiv nach Einflussfaktoren ...... 125
11
1 Einleitung
Regionale Identitäten und heimatliche Orientierungen sind zunehmend Gegenstand wissenschaftlicher, publizistischer und politischer Diskurse. Neben der Geographie und Volkskunde befassen sich auch (wieder) zunehmend die Soziologie und die Psychologie mit dem Themenfeld. Die Diskussionen um Heimat finden in der Presse und Literatur verstärkt statt, weil angesichts steigender Flexibilitäts- und Mobilitätserfordernisse „das Recht auf Heimat“ in Frage gestellt wird. Heimatgefühle und regionale Identitäten geraten wieder in den Blickpunkt, einerseits als Stabilitäts- und Identifikationsanker in einer globalisierten Welt, andererseits als Modernitätsbremse, wenn Arbeitskräfte aus Heimatliebe vermeiden, zu den Arbeitsplätzen zu wandern (vgl. Schlink 2000: 22). Es steht die These im Raum, dass durch Individualisierung, erhöhte Mobilität, globale Massenkommunikationsmedien und Internetkontakte ein Verlust der Ortsgebundenheit eintritt (Heinze et. al 2006: 8; Gebhardt et. al 2007; Hecht 2000). Der soziale Wandel führt beispielsweise zu folgenden Fragen: Haben Migranten bei uns eine Heimat? Was ist mit den vielen beruflich bedingten Umzügen – führen sie zu zweiten und dritten Heimaten oder zum Verlust von Heimat? Ostdeutsche finden in ihrer Heimat heute ganz andere Lebensbedingungen vor als noch vor zwanzig Jahren. Ist der Kindheitsort noch ihre Heimat – für die Gebliebenen – und für die, die gegangen sind? Ist Heimat heute überflüssig? Offensichtlich nicht, denn wie wir aus Zeitungsberichten wissen und wie uns auch die schnell wachsende Literatur zum Thema zeigt, sind Heimat und regionale Identitäten wieder in den Blickpunkt geraten. Die auch in der Wissenschaft vorgebrachten Positionen zum Thema Heimat reichen von einer unhinterfragten und kritiklosen Affirmation des Heimatlichen als Wert an sich bis hin zu völliger Ablehnung regionaler Identitäten als Mittel zur Ausgrenzung Fremder (Bundeszentrale für Politische Bildung 1990). Als Heimat wird häufig eine emotional gefärbte, starke Identifikation mit einem bestimmten Ort bzw. einer bestimmten Region bezeichnet (Hecht 2000: 16f, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg 1984). Dabei handelt es sich – so Doreen Massey (1995) – um ein Netz miteinander korrespondierender, aber dennoch unterscheidbarer Orte, die geeignet sind, Identität zu stiften, also als Treffpunkt unterschiedlicher individueller Aktionsräume aufgefasst werden können. Ein Beispiel für die Bedeutung von Orten bietet der 13
Papstbesuch im Jahr 2006: „Von Heimatgefühlen gerührt beginnt der Papst in München eine Pilgerfahrt,...“, und weiter „Joseph Ratzinger hat oft gesagt, wie viel ihm diese Heimat bedeutet, dieser Landstrich südlich der Donau und östlich der Isar mit den nahen Bergen, dem Bauernland, den barocken Kirchen. Jeder Mensch braucht Wärmequellen, und für Joseph Ratzinger ist das südliche Bayern mit all seinen Eigenarten eine dieser Quellen.“ (Süddeutsche Zeitung vom 11.09. 2006 S. 3). Für die Beschreibung von Heimaten wird am häufigsten der langjährige Wohnort oder der Ort der Kindheit genannt. Offensichtlich wird für die Ausbildung des Gefühls Zeit für das Vertrautwerden und die Identifikation mit dem Umfeld benötigt, sodass Heimat als ein Sozialisationsraum verstanden werden kann, der ein Gefühl der Geborgenheit in einem bestimmten Ort hat entstehen lassen. Heimat bedeutet, dass eine Person sich auf einen soziokulturellen Raum bezieht, der Identität zulässt (z.B. Professor und Bischof zu sein); er findet Sicherheit und die Möglichkeit zur aktiven Lebensgestaltung nach eigenen Bedürfnissen. Heimatgefühle entstehen entsprechend im gewohnten Alltag, in dem ich quasi „naiv“ handeln kann. Damit hat Heimat etwas Alltägliches, als herkömmliches Leben in einem bestimmten vertrauten Milieu und Umfeld, in dem wir „schwimmen wie ein Fisch im Wasser“. Bausinger (1990) formuliert, dass die Lebenswelt zur Eigenwelt wird, weil ein Gefühl der Übereinstimmung zwischen dem Individuum selbst und seiner Umgebung vorhanden ist. Diese emotionale Färbung von Heimat ist mit der Industrialisierung und Urbanisierung entstanden. Ursprünglich bedeutete Heimat ein Rechtsverhältnis, d.h. rechtmäßig auf dem ererbten bzw. gekauften Grund und Boden zu Hause zu sein und ihn zu bewirtschaften. In Notsituationen galt das Heimatrecht, das eine Armenspeisung umfasste. Mit der Aufhebung des bäuerlichen Wirtschaftens als Einheit von Leben und Arbeiten wurde Heimat vom produktiven Tun abgetrennt, romantisiert und verklärend betrachtet (Krokow 1990: 60; Mitzscherlich 2000). Eine Politisierung des Heimatbegriffs setzte mit den Weltkriegen ein, in denen Heimat mit Volk, Vaterland und Patriotismus gleichgesetzt wurde. Heimaturlaub, Heimatvertriebene und Grüße aus der Heimat sind die entsprechenden Konnotationen. Noch heute ist die Verwendung des Wortes Heimat suspekt, weil es politisch missbraucht wurde, in seinem Namen unendliches Elend von den Deutschen in die Welt gebracht wurde, und der Begriff auch heute noch in reaktionärem Sinne verwendet wird (z.B. die Forderung von „Heimatverteidigung“ gegenüber Migranten bei Neonazis). Nicht umsonst steht Heimat mit Ewig Gestrigen und Volkstümelei in Verbindung. In den 1950er-Jahren blühte angesichts der schwierigen Lebensbedingungen und moralischen Schuld die kulturelle Heimatbewegung als Flucht in die schö-
14
ne, heile Welt in Form von Heimatfilmen, -romanen und -gedichten auf. In Heimatfilmen dient eine übermächtige Natur (Alpen, Lüneburger Heide, Tirol) als Kulisse, um bodenständigen Charakteren und bäuerlichen Traditionen zum Sieg gegenüber dem (unpolitischen, nicht steuerbaren) Schicksal zu verhelfen (Kaschuba 1990; vgl. die Romane von Ludwig Ganghofer). Eine Ausgrenzung der Moderne, von städtischen Lebensbedingungen und von Fremden ist integraler Bestandteil dieses Heimatverständnisses. Zeitgleich machten Kriegsrückkehrer erschreckende Erfahrungen: Zerstörung von Heimatorten einerseits, erschreckende Kontinuität andererseits und das eigene Erleben von Fremdheit und Ausgestoßen sein. Romantisierte, liebliche oder erhabene Landschaft wurde zum Erlebnisträger des Heimatgefühls und reale soziale Spannungen und heterogene Lebenssituationen wurden eingeebnet. Die Kommerzialisierung von Heimat als Kitsch wurde seit den 1950er-Jahren stark vorangetrieben, z. B. in Form von Egerländern, Musikantenstadl, Hinterseer, Moik, Trachten, Heimatabende, Kuhglocken, etc. In den 1980er-Jahren fand mit der Ökologiebewegung eine Umdeutung des Heimatbegriffs statt, der nun für regionale Wirtschaftskreisläufe und Produkte, nachhaltige Ökonomie und alternative Lebensformen – auch in Städten – stand. Mit der beschleunigten und intensivierten Globalisierung seit dem Mauerfall, dem Auftreten des Internets und gestiegener Mobilität gewinnen die Aspekte von Regionalisierung, Identifikation mit dem Nahraum und Sicherheit in lokalen Netzen eine neue Bedeutung. Die Frage „Wohin gehöre ich?“ erhält angesichts der Skepsis an der Moderne, Beschleunigung, Entwurzelungserfahrungen und Rationalisierungsprozessen neue Aktualität. Heimat ist damit nicht nur ein individuelles, emotionales Konstrukt und auch kein rein soziales, abstraktes Phänomen, das aus Netzwerken besteht, sondern ein Begriff, der an das Territorium gebunden ist. Heimat ist dort, wo sich Personen als tätige, mitgestaltende Gesellschaftsmitglieder erleben. Die soziale Integration in eine Gemeinschaft bildet eine wichtige Dimension von Heimat, denn Fremdheits- und Einsamkeitserlebnisse gehen mit Heimatgefühlen nicht einher. Mit Ina-Maria Greverus kann formuliert werden, dass Heimat nicht „Welt“ ist, sondern eine spezifische Umwelt, „in der das Individuum sich auskennt, die es anerkennt und von der es anerkannt wird: ‚einer Wohn- und Rangordnung‘“ (Greverus 1979: 37). Heimat ist diesem Verständnis nach kein passives Gefühl, kein pittoresker Landstrich, keine regionalspezifische Kleidung und nicht Vergangenheit, sondern hat etwas mit aktiven Gestaltungsmöglichkeiten zu tun. Ein Ort kann zur Heimat werden, wenn er die Chance auf aktive Aneignung bietet, sich Vertrautheit und Verlässlichkeit von Personen und Gegenständen einstellen,
15
Konflikte nicht zu Vertreibungen führen und in der Umwelt das eigene Innere erfahren wird (Negt 1990: 193). Heimat ist daher in allen städtischen und ländlichen Räumen zu erleben und fordert dazu auf, höhere Identifikation mit der sozialen, gebauten und gestalteten Umwelt herzustellen. Aus diesem Grund betitelt Beate Mitzscherlich ihre Dissertation „Heimat ist etwas was ich mache.“ (2000). Ernst Bloch beschließt sein Werk „Das Prinzip Hoffnung“ mit folgenden Worten: „Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seien ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in der Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat“ (Bloch 1977, 4. Auflage: 1628). Heimat bezeichnet einen Idealzustand oder Sehnsuchtsort, der als eine verlorene, ursprüngliche Situation und sinnvolle Ordnung erscheint, die aber in der Zukunft liegt und aktiv hergestellt werden muss (vgl auch Hecht 2000: 17; Mitzscherlich 2004: 8). Blochs Konzept von Heimat als neuer Gesellschaftsordnung umfasst einerseits die territorial gebundene Aneignungsvorstellung von Greverus, weist in seiner Zukunftsvision mit demokratischen, nicht ausbeuterischen Verhältnissen zugleich darüber hinaus. Die aktuelle Diskussion um das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer lokalen bzw. regionalen Gemeinschaft bzw. Gesellschaft wird gegenwärtig mit unterschiedlichen Termini belegt: Zum Ersten findet das lebensweltlich aufgeladene Wort der Heimat in der wissenschaftlichen Diskussion Verwendung (insbesondere, um die emotionale Bedeutung hervorzuheben), zum Zweiten wird von Regionalbewusstsein (das die kognitive Dimension unterstreichen soll), zum Dritten von regionaler Identität (um den Bezug von Individuum zum Kollektiv hervorzuheben) oder zum Vierten regionaler Identifikation (als aktiver Akt der eigenen Zuschreibung) gesprochen. Zwar lassen sich diese Worte terminologisch trennen (vgl. Ivanišin 2006) und miteinander in Beziehung setzen, doch erscheint eine solche Trennung in einer empirischen Studie – wie der vorliegenden – wenig Gewinn bringend, zu eng sind die Interferenzen und die Bedeutungsschnittmengen (vgl. auch Rohrbach 1999). Im Begriff Heimat sind die verschiedenen Aspekte enthalten und seine emotionale Bedeutung besonders hervorgehoben. Die vorliegende Studie ist darum bemüht, die gegensätzlichen Positionen zum Thema Heimat an einem konkreten Beispiel zu reflektieren und empirisch zu evaluieren. Die Studie wird im Saarland durchgeführt, das im Jahr 2007 sein 50jähriges Jubiläum gefeiert hat. Dieses Bundesland ist damit quasi auch ein „neues“ Bundesland, das durch eine Abstimmung im Oktober 1955 die Zugehörigkeit zur Bundesrepublik gewählt hat, nachdem es 1947 begrenzte Autonomie erlangte und Frankreich angegliedert war. Die Amts- und Umgangs-
16
sprache blieb in der Zeit deutsch. Es gab eigene Produkte und Marken z.B. Waschmittel, Zigaretten und Bier. Deutsche Institutionen existierten nicht oder erhielten besondere Namen, wie Deutsche Bank Saar. Die Grenze verlief entlang Rheinland-Pfalz – entsprechend wurde hier nicht nur kontrolliert, sondern auch wechselseitig viel geschmuggelt. Das Land hatte von 1954 - 1959 auch eine eigene Währung, den Saar-Franken, Münzen, parallel zum französischen Franc, der jedoch letztendlich von Frankreich, das Veto-Recht in ökonomischen Fragen hatte, nicht akzeptiert wurde. 1954 trat das Saarland mit einer eigenen Nationalmannschaft zur Qualifikation der WM an – es verlor dabei gegen den späteren Weltmeister Deutschland. 1955 wurde dann im Saarland abgestimmt: über eine relative Autonomie, dem Saarstatut, oder aber Zugehörigkeit zur Bundesrepublik. Unter dem Label „Heimatbund“ schlossen sich die konservative, nationalistische und sozialdemokratische Partei des Saarlandes zusammen und warben national gestimmt für die Zugehörigkeit zur BRD. Seit 1957, der kleinen Wiedervereinigung, gehört es offiziell zur Bundesrepublik. Aufgrund der wechselvollen Geschichte zwischen Frankreich und Deutschland dürfte das Bewusstsein für regionale Identität in diesem kleinen Land besonders ausgeprägt sein1. Dies wird durch Umfragen zur politischen Zuordnung zu Rheinland-Pfalz bestätigt. Die finanziell desolate Situation des kleinen Bundeslandes gibt von Zeit zu Zeit Anlass, eine Fusion mit Rheinland-Pfalz zu diskutieren, was von Seiten Rheinland-Pfalz’ begrüßt werden würde. Die Saarländer/innen lehnen dieses Ansinnen jedoch vielfach ab. Der Ministerpräsident Müller wird mit den Worten zitiert, wer so rede, verkenne historisch gewachsene Strukturen und ignoriere das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen (Tagesspiegel, 31.12.2006). Im Saarland ist damit zu rechnen, dass regionale Identität und Heimatbewusstsein neben emotionalen Komponenten auch stark kognitiv geprägt ist. Ziel der Studie ist es, empirische Informationen zur Bedeutung von Heimat im Saarland zu präsentieren. Im Mittelpunkt stehen dabei der Heimatbegriff und die Bewertung von Heimat in verschiedenen Bevölkerungsgruppen, differenziert vor allem nach Zugezogenen und im Saarland Geborenen. Wie erwähnt wird Heimat zumeist mit der Kindheit, dem langjährigen Wohnort, teilweise auch mit einer Weltanschauung in Verbindung gebracht. Es geht hier darum, das Gewicht der einzelnen Faktoren für das alltägliche Leben zu erfahren. Die Erörterung von Ausgrenzungsmechanismen gegenüber Fremden durch die Betonung langer Ansässigkeit und Vertrautheit mit den lokalen Kulturen, Bräuchen, Dialekten und sozialen Situationen bildet einen weiteren wesentlichen Baustein. Eine Fragestellung richtet sich auf die positive Wirkung von Heimatgefühlen: Geht 1
Mit 2.570 km² ist das Saarland das kleinste Bundesland nach den Stadtstaaten.
17
ein starkes Heimatbewusstsein mit überdurchschnittlichem lokalen Engagement einher? Um die Fragen zu beantworten, fand Anfang 2007 eine quantitative, teilstandardisierte Erhebung im Saarland statt, die bei einem Rücklauf von 27 % in knapp 1.200 auswertbare Fragebögen resultierte. Zur Validierung der quantitativen Ergebnisse und einer stärkeren Deutung des Heimatgefühls wurden Anfang 2008 17 qualitative Interviews in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und Siedlungstypen durchgeführt. Die Bedeutung von Heimatgefühlen für Integrationschancen bzw. für Abgrenzungstendenzen gegenüber Zuziehenden bildet einen Schwerpunkt der mündlichen Interviews. Die Ergebnisse beider Studienteile bilden den Hauptbestandteil dieses Buches. Im folgenden zweiten Kapitel befassen wir uns mit dem Identitätsbegriff im sozialen Wandel. Der Sonderfall der kollektiven Identitätskonstruktion steht hier im Mittelpunkt, nämlich jener von regionalen Zugehörigkeits- und Heimatgefühlen. Die zentralen Achsen, anhand derer Heimatgefühle und -bewusstsein diskutiert werden, sind Ort, Zeit und Identität. Das Verständnis von Heimat wird weiterhin anhand alltagspraktischer Dimensionen diskutiert: landschaftlicher Stereotypen, kultureller Produkte und Politik. Wie eingangs erwähnt, weist das Saarland eine wechselvolle politische und ökonomische Geschichte auf. Das dritte Kapitel befasst sich mit historischen Aspekten der Bildung regionaler Identitäten und heimatlicher Orientierungen im Saarland auf Grundlage vorliegender Literatur. In Kapitel vier und Kapitel fünf werden die Ergebnisse der eigenen empirischen quantitativen und qualitativen Studie vorgestellt. Dabei wird sowohl auf die soziale Konstruktion von Heimat und regionalen Identitäten im Saarland Bezug genommen wie auf die Selbstbeschreibung als Saarländerinnen und Saarländer.
18
2 Heimat im Spannungsfeld von Raum, Zeit und Identität
2.1 Der soziale Rahmen: Identitätsbildung im sozialen Wandel Heimat und regionale Identitäten unterliegen einer – infolge der gesellschaftlichen Entwicklung – sich wandelnden sozialen Definition und Bedeutung. Im Folgenden werden diese sich wandelnden sozialen Bezüge vor dem Hintergrund der Relevanz für das Themenfeld Heimat und regionale Identität in Grundzügen erläutert. Die Ökonomie verliert ihre Gefasstheit im „Container des Territorialstaates“ (Beck/Bonss/Lau 2001: 20), verschiebt die räumliche Bezugsdimension, die Globalisierung „unterläuft die ökonomische Selbstdefinition“ (Beck/Bonss/Lau 2001: 23) einer national gefassten Volkswirtschaft. In der postfordistischen Ökonomie verringert sich in einem „flexiblen Kapitalismus“ die Stabilität von Unternehmen. An die Stelle auf Langfristigkeit und Dauer ausgerichteter Strukturen treten netzwerkartige und flexible Gliederungen (Sennett 2007: 43), und „unmittelbare und kurze Aufgaben treten in den Vordergrund“. So können auch kurzfristige Fehlinvestitionen den Bestand des Unternehmens oder von Unternehmensteilen gefährden. Die Politik sieht sich der Herausforderung der Globalisierung – insbesondere der ökonomischen – ausgesetzt. Dabei untergräbt „die global agierende Wirtschaft [...] die Grundlagen der Nationalökonomie und der Nationalstaaten“ (Beck 1997: 14). Der Staat bleibt mit seinen Untergliederungen – trotz der Bemühungen sich transnational von INTERREG IV AGrenzraumkooperationen bis hin zu den Vereinten Nationen zu organisieren – territorial fixiert. Sein unmittelbarer Einfluss endet an seinen territorialen Grenzen, während „die Inszenierung der Globalisierung es den Unternehmern und ihren Verbänden erlaubt, die politisch und sozialstaatlich gezähmte Handlungsmacht des demokratisch organisierten Kapitalismus aufzuschnüren und zurückzuerobern“ (Beck 1997: 14). Staatliche Stellen sehen sich aufgrund des zunehmenden Konkurrenzdrucks auf unterschiedlichen Ebenen, kontinental bis lokal (vor allem um Investitionen), gezwungen, ihre strukturelle Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen: „An die Stelle des ‘Keynesianischen Wohlfahrtsstaates’ tritt nun der ‘Schumpetersche Leistungsstaat’“ (Ronneberger 1994:
19
185), der die Unsicherheiten der globalisierten Ökonomie immer weniger kompensieren kann. Mit dem Wandel von der Industriegesellschaft zur postindustriellen Gesellschaft (Bell 1985 – zuerst 1973) entwickelt sich aus dem System „standardisierter Vollbeschäftigung“ ein „System flexibel-pluraler Unterbeschäftigung“ (Beck 1986: 222; Sennet 1998; Lessenich 2006). An die Stelle einer lebenslangen Ganztagsarbeit treten Teilzeitarbeitsmodelle, räumliche Dekonzentration von Arbeit (durch Informationsmedien), Neuvernetzung von Abteilungen, Entstandardisierung von Arbeit und neue Rechtsformen von Arbeit (Zeitverträge, Arbeit auf Abruf, Leiharbeit, neue Selbständigkeit u. a.). Damit wird auch die Erwerbsarbeit als Grundlage für Identitätsbildungen brüchig: „Die psychologischen Folgen dieses Prozesses sind enorm, gerade in einer Gesellschaft, in der die Teilhabe an der Erwerbsarbeit über Ansehen, Zukunftssicherung und persönliche Identität entscheidet“ (Keupp et al. 2002: 47). Gesellschaftliche Integration und Identitätsbildung erfolgen nach wie vor zentral über die Teilnahme am Erwerbsleben. Entsprechend bedeutet die Freisetzung aus traditionellen Milieus nicht auch eine Freisetzung aus Klassenlagen. Vielmehr ist mehrheitlich von klassenspezifischen Ausformungen der Freizeitaktivitäten und von Kontaktkreisen auszugehen. Fällt der Erwerbsbereich mangels Teilhabechancen aus, bieten sich häufig für die Betroffenen keine Ersatzlösungen. Der Konsum erstrebenswerter Güter fällt schwer, dient jedoch gleichzeitig zur Demonstration der Zugehörigkeit. Dabei nimmt Konsum eine zentrale Stellung der sozialen Integration von Gesellschaft ein, indem das „Individuum versucht, der normativen Erwartung der Gesellschaft zu entsprechen, als Konsument zu agieren und Geld auszugeben“ (Wood 2003: 52). Koslowski (1987: 107) zufolge äußert sich im Konsum die Suche nach sozialer Identität, die „’kulturell’ angereicherte, ästhetisch verfeinerte [...] Güter“ durch einen hohen Grad an Differenziertheit vermitteln. Eine soziale Identität wird definiert als die Wahrnehmung der Zugehörigkeit zu einer sozialen Kategorie (oder Gruppe)“ (Tajfel/Turner 1986: 18). Die Zuordnung geschieht zunehmend über symbolische Zeichen, die das wechselseitige Erkennen und Abgrenzen ermöglichen. Nicht nur in den ökonomischen Bezügen ist die Gesellschaft einem raschen Wandel unterworfen. Auch die sozialen Beziehungen werden aus traditionalen, selbstverständlichen Verhältnissen gelöst, unterliegen Reflexionsprozessen und müssen sich Flexibilisierungsprozessen anpassen. Eine gestiegene Lebenserwartung, ein gestiegenes Pro-Kopf-Einkommen bei gleichzeitig abnehmender Lebensarbeitszeit und eine Hebung des allgemeinen Bildungsniveaus, verbunden mit dem Strukturwandel von der Dominanz des sekundären zur Dominanz des tertiären Wirtschaftssektors, haben neben einem Anstieg des Lebensstandards auch individuelle Entfaltungsmöglichkeiten eröffnet, die zu
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einer Differenzierung der modernen kollektiven, klassenspezifischen Lebensformen und Sozialmilieus führten (vgl. Beck 1986; Hradil 1995). Von flexiblen Lebensläufen und häufig wechselnden Sozialbeziehungen sind jedoch nicht alle Statusgruppen in gleichem Maße betroffen. Der Bildungsgrad und der Wirtschaftsbereich der Beschäftigten spielen eine wesentliche Rolle (Blossfeld et al 2008). Eine besondere Dynamik der Veränderung resultiert aus der Modernisierung von Geschlechterrollenidentifikationen, die Geschlechter (als Amalgam von körperlichem und sozialem Geschlecht) suchen neue Orientierungsrahmen. Ein weitgehend standardisiertes Familiensystem mit klaren Leitbildern für Männer und Frauen, dessen Funktion auf kultureller, psychosozialer wie biologischer Reproduktion beruhte und ein Charakteristikum der arbeitsteiligen, funktional spezialisierten Industriegesellschaft darstellt (Beck 1986), weicht häuslichen „Arrangements von Arbeitsteilung, Kindererziehung oder Sexualität“ (Keupp et al. 2002: 51; inklusive männlicher Berufsrollenidentität und weiblicher Hausfrauenrollenidentität in den westlichen konservativ geprägten Ländern wie der Bundesrepublik). Durch die in Grenzen stattfindende Emanzipation der Frau, ihren, den Männern angeglichenen, bzw. diesen sogar übertreffenden Bildungsabschlüssen, die ein selbständiges – aber kein gleichwertiges – Behaupten im Erwerbssystem ermöglichen, ist das standardisierte Familiensystem mit seinen gesicherten Rollenidentitäten in modernisierten Teilgruppen der Gesellschaft aufgebrochen worden. In zwischengeschlechtlichen Beziehungen kann somit insgesamt weniger auf geschlechtsspezifische Stereotypen als handlungsleitende Konstruktion der Wirklichkeit zurückgegriffen werden. Verhalten und Handeln wird individuell und schichtspezifisch austariert (vgl. hierzu z.B. Brandan 1988, Hendrick/Hendrick 1992; Bertram / Krüger / Spieß 2006; Peuckert 2008; Meuser 2000). Rekursiv mit der ökonomischen Differenzierung entwickelt sich aus der Normkleinfamilie der Moderne eine Pluralisierung privater Lebensformen mit der sich daraus ergebenden Konsequenz, „dass das Individuum unter den Bedingungen des modernen Pluralismus nicht nur auswählen kann, sondern dass es auswählen muss“ (Berger 1994: 83; Rechtschreibung angepasst). Wenn auch eine Familiengründung für die Mehrheit der jungen Menschen in Betracht kommt (vgl. Shell-Jugendstudien), so steigt doch die Vielfalt an Lebensformen im individuellen Lebensverlauf. Mit steigender Differenzierung des sozialen Lebens gehen die Gesellschaftsmitglieder nicht in der Totalität einer Gemeinschaft (und ihrer Rollen, Werte und Normen) auf, sondern sind Mitglieder in unterschiedlichen Gemeinschaften mit unterschiedlichen, z. T. konkurrierenden Rollen, Werten und Normen. Diese Gemeinschaften unterscheiden sich häufig von den Gemeinschaften der Moderne und Vormoderne, denn sie werden häufi-
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ger situativ, örtlich und temporär gebildet. Eine partielle Teilhaberschaft ist vielfach konstitutiv: Das Erlebnisempfinden ist dabei häufiger Antrieb zur Aufnahme einer Aktivität und zur Bildung von Gemeinschaften (vgl. Schulze 2000), die daher stärker zur Variabilität und Instabilität neigen als jene der Moderne und Vormoderne (Hitzler/Pfadenhauer 1998). Hiermit geht ein Bedeutungsverlust von Organisationen mit weit reichendem Deutungsanspruch und „MetaErzählungen“ einher, wie der von Kirchen oder politischen Parteien. Diese sich bis zur scheinbaren Auflösung vollziehenden Differenzierungen des Gesellschaftlichen sind vielfach mit der Fragmentierung von Erfahrungen verbunden: „Die wachsende Komplexität von Lebensverhältnissen führt zu einer Fülle von Erlebnis- und Erfahrungsbezügen, die sich aber in kein Gesamtbild mehr fügen“ (Keupp et al. 2002: 48), aus den pluralen – häufig medial auf zweiter, dritter oder vierter Hand vermittelten – Erfahrungen und Informationen ist nur selten ein in sich konsistenter, vor allem kein lokal geprägter „Erlebniskosmos zu konstruieren“ (Keupp et al. 2002: 48). Die Menschen sind gefordert, Erlerntes zu hinterfragen, sich neues Wissen anzueignen sowie aus der Vielfalt an kulturellen Produkten und Formensprachen auszuwählen. Die bereits Mitte der 80er Jahre aus den schwächer werdenden Zwängen abgeleitete Individualisierungsthese (Beck 1986) wird jedoch auch skeptisch diskutiert und gefordert, zumindest nach räumlichem, zeitlichem, inhaltlichem und sozialem Geltungsbereich zu differenzieren (Friedrichs 1998). Das einheitliche „Realitätsprinzip“ wird auch durch die mittlerweile weit diffundierten Informations- und Kommunikationsmedien, d.h. neue Formen von Erzeugung, Speicherung, Zugang und Verteilung von Wissen, in Frage gestellt. Menschen erhalten ihre Informationen zunehmend aus disparaten, fluiden Quellen und ihre technische Vernetzung ist entscheidend für Wissensbestände und -qualitäten. Die geringe Halbwertzeit von Wissen, die gleichzeitige Verfügbarkeit unterschiedlich gesicherten Wissens durch das Internet, gezielte Desinformationen sowie einseitige Berichterstattungen in den unterschiedlichen Medien untergraben das Vertrauen in ein objektives Wissen. Auch die Wissenschaft verliert das ihr in der Moderne zugeschriebene „Monopol auf den legitimen Standpunkt“ (Bourdieu 1992: 71). Solche Umbruchserfahrungen schwächen Sicherheit, Klarheit, aber auch soziale Kontrolle, sie führen zu einem geöffneten sozialen Raum. Diese Entwicklungen lassen sich als „Entbettung“ (Giddens 1998: 123) beschreiben, die dem weit verbreiteten Streben nach Geborgenheit, Sicherheit und Klarheit entgegensteht.
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2.2 Der Identitätsbegriff im Wandel Identität ist ein zentraler Begriff der Moderne, zu seinen Implikationen zählen die Ideen von Widerspruchsfreiheit, Einheit, Ordnung, Versöhnung und Fortschritt. Auf anthropologischer Ebene umfasst ein solcher Identitätsbegriff die Vorstellung des autonomen und souveränen Subjektes, wie sie von Rousseau und Schiller vertreten wird (Richter 1997) und bedeutet, dass ein Individuum selbstreflexiv über eine Selbstdefinition inklusive bestimmter Zukunftsvorstellungen verfügt und sich als einheitlich und handlungsfähig erlebt (Hettlage 2000: 17). Die Identität einer Person entsteht aus der Perspektive des Handlungssubjektes einerseits, aber auch des Subjekts der Erfahrung, die personale Identität ist damit „sowohl aktiv wie auch passiv“ (Korsgaard 1999: 195). Keupp et. al. (2002: 28) beschreiben Identität als „selbstreflexives Scharnier zwischen der inneren und der äußeren Welt“, sie ist als ein „Sich-selberVersichern“ stets auf andere angewiesen (Ipsen 1999: 151). In den Worten von Keupp u.a. soll Identität „das unverwechselbar Individuelle, aber auch das sozial akzeptable darstellbar machen“ (Keupp et. al. 2002: 28). Die Identitätsbildung basiert auf dem Wunsch nach „einem einheitsstiftenden Verfahren oder einem einheitsstiftenden Prinzip der Entscheidung“ und lässt sich auf die Notwendigkeit zurückführen, „Entscheidungen zu treffen“ (Korsgaard 1999: 209). Dass sich eine Person eine Identität zulegt, „ist eine Frage der praktischen Vernunft“ (Korsgaard 1999: 210). Dabei ist die Person – Tajfel und Turner (1986) zufolge – darum bestrebt, ein positives Selbstkonzept zu erreichen, d.h. die eigene Person positiv zu bewerten. Ein Einklang zwischen Person und Lebenswelt wird daher als identitätsstabilisierend erfahren. In den klassischen Ansätzen zur Rollentheorie finden sich hierzu die theoretischen Begründungen. Nach George Herbert Mead vollzieht sich die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes in einem komplexen Wechselspiel von individuellen Triebäußerungen (Ich „I“), wahrgenommenen Einstellungen und Verhaltenserwartungen des bzw. der Gegenüber, die die Kontrollinstanz für das Ich bilden (Bezugsperson/en; „Me“).Die Ausbildung von Ich-Identität kann nur im sozialen Austausch mit verschiedenen „Mes“ vollzogen werden, der dann zur Entwicklung des „Self“ führt. Bei dem Lernen sozialer Rollen („play“ und „game“ als Gruppenspiele mit Interaktion) findet eine Konstruktion und Interpretation der sozialen Umwelt durch das Kind statt, indem der Standpunkt des Anderen erfasst und gedeutet und der Andere durch eigenes Verhalten beeinflusst wird. Rollenübernahme und Perspektivwechsel sind zentrale Bestandteile, um mit anderen Menschen interagieren zu können. Das unmittelbare, unsozialisierte „I“ trifft auf die Reaktionen und Erwartungen anderer Personen und richtet seine Handlungen daran aus. Normen, Werte und kulturelle Muster
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werden in die Identität eines Menschen integriert und bilden das vormals Äußere des sich entwickelnden „self“. Erving Goffmann (1959) hat diesen dauerhaften Prozess des Interagierens und Probierens differenziert analysiert und mit Begriffen wie Vorder- und Hinterbühne, zentrierten und nichtzentrierten Interaktionen beschrieben. Bei Menschen ist daher die Kommunikation entscheidend, die mit „signifikanten Symbolen“, vor allem mit Sprache und Gesten von statten geht. Sprache ermöglicht, Handlungsabläufe innerlich zu repräsentieren, eigenes Handeln zu antizipieren und kollektiv zu agieren. Das gemeinsame Verständnis über die Bedeutung von Handlungen, Gesten und Symbolen ermöglicht es überhaupt erst, in Gemeinschaften und Gesellschaften zu leben (Mead 1968) und den Menschen als sozial entstanden zu begreifen. Mit der Ausdifferenzierung von Gesellschaften, wechselnden Bezugspersonen und Ortswechseln steigen die Ansprüche an die Deutungs- und Integrationsfähigkeit verschiedener Perspektiven, sodass der auf Einheitlichkeit gegründete Identitätsbegriff brüchig geworden ist. Mit der Modernisierung der Gesellschaft hat unweigerlich die Zahl der Wahlmöglichkeiten zugenommen (Dahrendorf 1979): Durch die Individualisierung, das komplexer werdende Feld sozialer Beziehungen und Bindungen, sich wandelnde oder sogar auflösende Rollenidentitäten und -erwartungen, die Reflexivität, eine ständige mit anderen Menschen rückgekoppelte Selbstbestätigung und Neupositionierung, ein großes Angebot konkurrierender sozialer Handlungs- und Problemlösungsvorschläge und Konfliktregelungen „werden Menschen aus ihren identitätsbereitenden sozialen Kontexten herausgerissen“ (Wagner 1995: 98-99). Keupp et. al. (2002: 47) stellen fest: „Die Schnittmuster, nach denen Menschen sich biographisch entwerfen und ihr Leben verwirklichen sollten, haben ihre Prägekraft verloren“. Die noch eine Generation früher geteilten Vorstellungen von Erziehung, Sexualität, Gesundheit, Geschlechter- oder Generationenbeziehung verlieren den Charakter des Selbstverständlichen“ (Keupp et al. 2002: 47). Dabei wird „Identitätsarbeit immer mehr zur Arbeit an der Integration von Komponenten unterschiedlicher kultureller Herkunft“ (Welsch 1995: 99). Insbesondere an Migranten und Migrantinnen richtet sich die Aufgabe, ihre Identität in veränderten Kontexten neu auszubalancieren. Diese wechselnde Konstruktion von Identität in der Postmoderne vollzieht sich dabei unter erheblichem Einfluss von Medien, sie sind ein bedeutender Bestandteil der kulturellen Globalisierung und tragen somit wesentlich zur Definition von Identitäten im Spannungsfeld von Globalität und Lokalität bei (vgl. Winter 1997, Weisenbacher 1990). Der Einfluss der Medien wird insbesondere in Form kultureller und ästhetischer Angebote im Alltag von Jugendlichen (aber auch Erwachsenen) deutlich, Daily Soaps, Styling Magazine, Talk Shows, aktuelle im Internet verbreitete Musiktrends, Internetforen u.a. vermitteln kulturelle
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Alternativen und soziale Entscheidungsvarianten sowie Versatzstücke von Rollenvorbildern, Normen und Werten. Die so entstehenden Identitäten der Gegenwart sind Ergebnis einer reflexiven Regulierung des Alltags, dessen Basis sich aus dem „kompetente[n] Gebrauch von populären Filmen, Fernsehsendungen, Videoclips [entwickelt], die die Funktion von ästhetischen Expertensystemen einnehmen und in der Reflexion über das eigene Leben, in der Kleidung und Frisur“ konstruiert werden (Winter 1997: 68). Diese Angebote nationaler und internationaler Fernsehprogramme erhalten zwar in Medien mit regionalem Bezug eine Alternative, jedoch zeigt diese – wie die Untersuchung von Kerstin Schneider (1997) am Beispiel des Fernsehregionalprogramms des Saarländischen Rundfunks zeigt – keine oder bestenfalls geringe Wirkung hinsichtlich der kognitiven, affektiven und konnotativen Komponente der Ausbildung eines Regionalbewusstseins. An Bedeutung bei der sozialkommunikativen „Selbstprogrammierung“ (Mead 1968: 280) bei der Bildung von Identitäten bei Jugendlichen gewinnen die peer-groups, die Gleichaltrigengruppen, gegenüber geplanten Sozialisierungsbemühungen von Eltern und Lehren. Heranwachsende haben also einen institutionell höheren Grad an Freiheit hinsichtlich der Akzeptanz von Werten und Normen als die voran gegangenen Generationen, die sich gegenwärtig in zahlreichen Jugend(sub)kulturen äußern (Ferchhoff/Neubauer 1997), die auch durch die kompetente Nutzung der neuen Medien eine ständige Aktualisierung erfahren. Sowohl der Einfluss von Organisationen (z.B. Vereinen), als auch der der Primärgruppe Familie auf die Konstruktion der Identität von Jugendlichen erhält somit Konkurrenz. Heranwachsende entziehen sich zunehmend den traditionellen Verbänden der Jugendarbeit, da „der Sinn, der mit Freizeitaktivität unlösbar verknüpft wird, [...] nicht individuell verfügbar [ist], sondern [...] im Rahmen der Verbandsideologie über sachliche Merkmale und vor allem aber über die soziale Funktion der Freizeitaktivität generiert [wird]“ (Eckert/Drieseberg/Willems 1990: 95). Die festen „Aktivitäts-Sinn-Pakete“ von lokalen Verbänden und Vereinen seien in weit geringerem Maße für „individuelle Variationen und Ausgestaltungen offen als wertunbelastete Freizeitangebote im kommerziellen Bereich“ (Eckert/Drieseberg/Willems 1990: 95; Shell-Jugendstudie 2006). Damit steigt auch die Erfordernis einer ständigen Identitätsarbeit, wie Keupp et al. (2002: 55) beschreiben: „Architekt und Baumeister des eigenen Lebensgehäuses zu werden, ist allerdings für uns nicht nur Kür, sondern zunehmend Pflicht in einer grundlegend veränderten Gesellschaft. [...] Nur noch in Restbeständen existieren Lebenswelten mit geschlossen weltanschaulichreligiöser Sinngebung, klaren Autoritätsverhältnissen und Pflichtkategorien“. Dabei sieht Burckhardt (1995: 102) gegenwärtig vielfach ein Kontinuum
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zwischen den (Sub)kulturen der Jugendlichen und der Gesellschaft der Erwachsenen: „Der Gegensatz zwischen Jugendlichen und Erwachsenen schwächt sich dabei aus unterschiedlichen Gründen wechselseitig ab. Die Alten teilen sich in ehemalige Jugendgruppen. Unter den Bedingungen permanenter Arbeitslosigkeit und marginaler Jobs verlässt der Heranwachsende nie seine Jugendkultur, da er im beruflichen Sinne nie ein Erwachsener wird.“ Selbst wenn diese Formulierungen überspitzt sind, so sind Altersnormen doch in Frage gestellt. Mittvierziger befinden sich angeblich in der sogenannten zweiten Pubertät und von Senioren wird nicht Disengagement gefordert, sondern ein gesellschaftlich produktives Alter. Trotz – oder wegen – gestiegener Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten kann die soziale Distanz zwischen den Akteuren infolge von Kontingenz- und Komplexitätssteigerungen zunehmen, da die Basis geteilter Kommunikation erst ermittelt werden muss. Mit der Entstehung von flexibleren Identitäten als Abkehr von der „gesicherten Identität des Individuums“ (Mingione 2004: 232) gehen persönliche und soziale Instabilität, Risiken und Unsicherheiten einher (Beck 1986, Sennett 1998, Bauman 1999, Mingione 2004), die sich in einem zunehmenden Mangel „an sozialer Integration und ein[em] Unsicherheitsgefühl, niedrige[n] Toleranzgrenzen und geringe[r] Solidarität“ äußern können und eine Kombination darstellen, „die ohne Zweifel Kreisläufe sozialer Ausgrenzung hervorruft“ (Mingione 2004: 328). Doch bedeutet Auflösung traditioneller Identitätsmuster zwar einerseits eine Entbettung aus traditionellen sozialen Kontexten von Familienverband, Verein, Dorf, aber auch sozialer Klasse, jedoch können durch ein aktives, kreatives Engagement auch „neue Kontexte derart geschaffen werden, dass neue soziale Identitäten“ (Wagner 1995: 99) ausgebildet und der Entwurzelung aus dem traditionellen Kontext Wiederverwurzlungen entgegengestellt werden können. Voraussetzung dafür ist eine Zunahme von Toleranz gegenüber anderen Werten und Normen, Herkünften und kulturellen wie sozialen Eigenarten (vgl. Watzlawick 1995). Dem vergrößerten persönlichen Freiheitsspielraum und der (vielfach erzwungenen) Entwicklung eines reflexiven Bewusstseins stehen Bindungsverlust sowie eine gewachsene individuelle und partiell schwer einschätzbare Verantwortung für die eigene Entwicklung gegenüber.
2.3 Regionale Identität und Heimat 2.3.1
Die Dimensionen von Heimat
Das Themenfeld von Heimat und Heimatbewusstsein, lokaler und regionaler Identität, Ortsbezug, wird aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspek-
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tiven (so in den Sozialwissenschaften, den Regionalwissenschaften, aber auch dem wissenschaftlichen Naturschutz) einer intensiven Diskussion unterzogen und in seiner Bedeutung für (Regional)Politik und Regionalentwicklung behandelt (vgl. z.B. Weichhart 1990, Pohl 1993, Ipsen 1994, Gebhardt et al. 1995, Ipsen 1999, Rohrbach 1999, Blotevogel 2001, Rohler 2003, Jung 2003). Der Diskurs um Heimat stellt – Hauser/Kamleithner (2006) zufolge – ein bemerkenswertes Phänomen dar: Die affirmative Bezugnahme auf Heimat vereint konservative Kulturkritik einerseits und ‚linken’ Fortschrittsglauben andererseits. Beide setzten in ähnlicher Weise auf die „positive Kraft des Lokalen“ (ebenda: 173). Diese Affirmation gegenüber dem Heimatlichen sei allerdings mit unterschiedlichen Hoffnungen verbunden, einerseits in die Wiederverheimatung im vormodernen Gemeinschaftlichen, andererseits in die – die globale kapitalistische Raumproduktion unterlaufende – Emanzipation des Lokalen. Heimat ist ein „sehr schillerndes, ein sehr gefühlsbetontes kulturelles Phänomen, das Bedeutungsschichten aus vielen Jahrhunderten transportiert“ (Kazal 2005: 61). Im Rückblick auf das 20. Jahrhundert hat es sich – angesichts der Zeit des Nationalsozialismus oder der Ideologie der sozialistischen Heimat der Deutschen Demokratischen Republik (Kazal 2005) – keinesfalls als harmloses Konzept erwiesen (vgl. Hüppauf 2007). Etymologisch ist die Geschichte des Begriffs von mehreren Bedeutungswechseln bzw. -erweiterungen geprägt. Im Althochdeutschen hatte das Wort heimôte/heimôti eine theologische Bedeutung, es bezog sich auf die Sehnsucht nach dem Himmelreich (Piltz 2007). Erst ab dem 12. Jahrhundert erfuhr der Begriff Heimat eine weltliche Wandlung, indem er „auf Heim, Einöde, Armut und auch Familie, Vertrauen bezogen“ (Bertels 1997: 65; vgl. auch Piechocki 2006) wurde. Noch bis in das 19. Jahrhundert bestand keine sentimentale Einfärbung des Begriffs. Das Wort Heimat bezog sich in jener Zeit vorwiegend auf ein materielles Recht (Bertels 1997: 65): „Die Ortsbürgerschaft, An- und Abmeldepflichten, Recht auf Geschäftseröffnung, Versorgung im Notfall, waren hierunter kodifiziert“. Der Bedeutungswandel zu einer gefühlsdominanten Bindung mit räumlicher Komponente vollzog sich – vergleichbar der Konstitution eines ästhetischen Landschaftsbegriffs – erst durch eine romantische Verklärung des Ländlichen und Ursprünglichen als Abgrenzungsbewegung gegen Industrialisierung, Rationalisierung, Verstädterung und Urbanisierung, insbesondere durch ein (nach Distinktion strebendes) Bildungsbürgertum (vgl. Bausinger 1990, Dinnebier 1996, Bertels 1997, Huber 1999, Kropp 2004, Kühne 2008a). Landschaft wurde zur Spazierlandschaft, ohne produktiven Bezug, wie Hermann Bausinger formuliert. Die Kulturlandschaft wurde zum Erlebnisträger des Heimatgefühls. Reale
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soziale Spannungen, ein entbehrungsreicher Alltag und harte Kindheiten wurden und werden auf diese Weise geglättet. Aschauer (1990: 14) beschreibt den gefühlsbetonten Heimatbegriff als provinziellen Topos, der „für Gemütlichkeit, Harmonie zwischen Mensch und Umwelt, für Unveränderlichkeit und für Sinnfindung nicht im Handeln, sondern im Erleben“ steht. Heimat wird für die Romantiker zur „Wunschkategorie des Elementaren“ (Schmitz 1999: 230): dem „Wunschort absoluter Geborgenheit“ (Hüppauf 2007: 116). Der Heimatbegriff betont Zugehörigkeit, emotionale, soziale Nähe und alltägliche Sicherheit bei den Umgangsformen, Bräuchen, Sitten und Gewohnheiten. Im Sinne von Max Weber, der zwischen vier Typen des sozialen Handelns unterscheidet, zwei Typen rationalen Handelns: zweckrational und wertrational und zwei Typen nicht-rationalen Handelns: affektuell und traditional, ist der Heimatbegriff also eher bei den nicht-rationalen Typen sozialen Handelns angesiedelt. Dies wird sich auch in den unten aufgeführten empirischen Ergebnissen zeigen. Traditionen und Bräuche ebenso wie affektive Zuordnung sind die entscheidenden Formen von Bindungen zu bestimmten Territorien. Wertrationalität kommt zudem eine größere Bedeutung zu als Zweckrationalität, die kein emotionales Band zu knüpfen vermag. Eine stärkere Anbindung des Heimatbegriffs an die räumlich größeren Kategorien von Vaterland und Nation fand ausgehend vom 1. Weltkrieg und der Zwischenkriegszeit in der Heimatideologie der Nazizeit ihren Höhepunkt (Huber 1999: 47): „Von den traditionellen Heimatvorstellungen wurde lediglich der agrarromantische Aspekt übernommen, die regionale Komponente hingegen wurde strikt abgelehnt. Es wurde die nationale Variante von Heimat betont“. Kernaspekt dieses nationalsozialistischen Heimatbegriffs war neben „der Mystifizierung die Konstruktion der Reihung von Heimat, Volk und Vaterland“ (Huber 1999: 47), mit dem Ziel, emotionale Bindungen für die politische Manipulation nutzbar zu machen. In den 1950er- und 1960er-Jahren war das Heimatbild durch eine Entpolitisierung geprägt und wurde „zu einer Ansammlung von Phrasen und Klischees, Idyllen und Wunschbildern“ (Huber: 1999: 48), die eine massenkulturelle Verbreitung fanden. Seit den 1970er-Jahren wird dieses Heimatbild von einer emotionalisierten Zuwendung zur Umwelt – auch im linken politischen Spektrum – ergänzt. Heute durchziehen drei Dimensionen der Deutung die Konzeptionen von Heimat: die Dimension des Raumes, die Dimension der Zeit und die Dimension der Identität (Gebhard/Geisler/Schröter 2007). Dazu quer lassen sich die Einstellungskomponenten des Kognitiven, also „das Wissen von Menschen um die mit einem Raum verbundenen Eigenheiten und Grenzen“, des Affektiven, also „die Bewertung der Zugehörigkeit und Verbundenheit zu einem Raum“ und des
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Konnotativen, also das Handeln in lokalen und regionalen Bezügen ziehen (Schneider 1997: 29).Vielfach lässt sich Heimat im physischen Raum bestimmen, doch ist der Ort noch nicht Heimat, zur Heimat „gehört notwendig die Imagination. Die räumliche und zeitliche Bestimmung des Wortes Heimat überschreitet das Faktische“ (Hüppauf 2007: 112; vgl. auch Sachs 1995). Physische Objekte werden im Sinne eines signifikanten Symbols (Blumer 1969) durch den sozial vermittelten Lernprozess Teil von dem, was Heimat genannt wird. Dabei ist das Heimatliche – Blumer (1969) zufolge – nicht eine Eigenschaft der Dinge, vielmehr „wachsen“ ihnen in ihren Interaktionen diese Bedeutungen zu. Die örtliche Verankerung entsteht durch Umgang (physisch wie kommunikativ) von Menschen mit Dingen. Heimat lässt sich – wie es Sloterdijk (1999a: 997) beschreibt – als eine „Konvergenz von Ort und Selbst“ beschreiben. Der sich physisch räumlich heimatlich definierende Mensch erhebe – wie es Sloterdijk (1999b: 24) ausdrückt – den Anspruch „wie eine Pflanze zweiter Ordnung unter den Gewächsen heimischen Bodens gedeihen zu dürfen: Der heimatlich definierte Mensch möchte ein Tier sein, das sich das Pflanzenprivileg, Wurzeln schlagen zu können, zu eigen gemacht hat“. Ebenso formuliert Ina-Maria Greverus in ihrem Standardwerk „Auf der Suche nach Heimat“: „Die Grenzen des Identitätsraums werden durch die für eine Identifikationsgruppe verbindlichen Werte, ihre Darstellung in allen Mitgliedern verständlichen Symbolen und das „naive“ Handeln können in einem Territorium bestimmt. Dieses Handeln können ist von einer ‚geordneten’ Umwelt abhängig, in der das Individuum sich auskennt, die es anerkennt und von der es anerkannt wird: einer „Wohn- und Rangordnung“. (Greverus 1979: 37). Geht es bei Heimat in räumlicher Hinsicht um ein Zugehörigkeitsgefühl zu einem bestimmten Raum, so ist in zeitlicher Hinsicht häufig ein verlorener, vertrauter Raum gemeint, der zumeist mit der Kindheit gleichgesetzt wird (Gebhard/Geisler/Schröter 2007). Traditionen, vorhergehende gesellschaftliche Verhältnisse oder Zukunftsvorstellungen sind weitere zeitliche Komponenten von Heimat. Heimat wird – in die Vergangenheit gewandt – zu etwas, das eine Person hat, das stets von der Gefahr bedroht wird, verloren zu gehen, oder Heimat wird – in die Zukunft gewandt – zu etwas, das sich angeeignet und erarbeitet wird (vgl. Vicenzotti 2009). Hinsichtlich der Identität wird die Übereinstimmung von Lebenswelt und individuellen Bedürfnissen angesprochen. Entsprechend fordern Ortsveränderungen, Distanzierung und Reflexion Heimatgefühle und Heimatbewusstsein heraus. Mit Heimat wird empirischen Ergebnissen gemäß häufig der Wohnort, an dem schon lange gelebt wird, in Verbindung gebracht (Hildebrand 2003: 1). Die
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zweithäufigste Nennung betrifft den Kindheits- und Jugendort bzw. das Elternhaus. Für die Entwicklung eines Gefühls von Heimat bedarf es offensichtlich in der Mehrheit eine gewisse Zeit des Vertrautwerdens mit den physischen, sozialen, kulturellen und atmosphärischen Gegebenheiten eines Ortes. Oft werden in Verbindung mit Heimat Umgebungsqualitäten aus der Kindheit genannt, die offensichtlich so viel Sicherheit transportieren, dass sie als Heimat beschrieben werden – in Form von Gerüchen, Geräuschen, Sinneseindrücken oder Landschaftselementen wie Wald, Wiese oder Bach. Die Anthropologin Ina-Maria Greverus beschreibt Heimat als einen Ort, zu dem sich Menschen zugehörig fühlen, der Schutz bietet, Identifikationsmöglichkeiten und Aktivitäten eröffnet (Greverus 1979: 50). Greverus erweitert den Heimatbegriff um die sinnvollen Aktivitätsmöglichkeiten, aus dem Verständnis heraus, dass der Mensch ein tätiges Wesen sei. Möglichkeiten für sinnvolle Betätigung und eine aktive Aneignung eines Raumes sind damit wesentliche Bestandteile, um Heimatgefühle ausbilden zu können. „Heimat wären dann solche Räume, in denen die Bedürfnisse der Menschen – aller einzelnen – qualitativ am meisten befriedigt werden können“ (Greverus 1979: 16). Mit dem Gefühl der Übereinstimmung zwischen einem Individuum und seiner Umgebung geht einher, die Lebenswelt als Eigenwelt zu erleben (Bausinger 1978), die Sehnsucht nach Heimat bedeutet – Bausinger (2004: 23) zufolge – die Sehnsucht „nach dem gewohnten Alltag, dem herkömmlichen Leben in einem bestimmten Milieu und Umkreis“. Heimat stellt eine Vermittlung zwischen Innen- und Außenwelt dar, die stark subjektiv geprägt ist (Schmidt 1981: 59): „So setzen sich unsere Bilder von Heimaten aus selektiven Identifikationen und Introjektionen zusammen, die wir unserer Umwelt entnehmen und als ureigensten Besitz empfinden; so tönen wir die Heimatbegriffe mit Projektionen, indem wir unsere Empfindungen wieder heraus verlegen und an die Objekte der Mit- und Umwelt knüpfen.“ Die Grenzen des Identitätsraums werden deutlich in gemeinsamen Werten und der Vorliebe für bestimmte Symbole, d.h. Lieder, Dichtung, Ort und Landschaft, soziale Strukturen, in die jemand hineinwächst. Mithilfe der symbolischen Zuordnung werden auch Grenzen zu Fremden gezogen, indem das Eigene vom Fremden geschieden wird (Hummon 1992). Die emotionale, soziale und kulturelle Bindung wird vor allem in der sozialen Kommunikation erlebt.
2.3.2
Heimat und die Unterscheidung von Stadt und Land
Die dichotome Betrachtung von Stadt und Dorf, von städtischem Raum und ländlichem Raum, von Urbanem und Ruralem hat eine lange Tradition in Bezug auf die Konstruktion des Heimatlichen. So wirkte Trennung von Stadt und Dorf
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– nicht allein die geographische oder landschaftliche, sondern auch eine Art moralische – nahezu konstitutiv für die Heimatschutzbewegung (Bausinger 2001: 128): „Die Stadt, zumindest die Großstadt, kommt in den Bemühungen der Heimatbünde praktisch kaum vor – letztlich galt auch hier die Überzeugung, dass nur das Dorf (und hier vor allem das Bauerntum) Vitalität und Gesundheit verkörpert“. Noch heute wird Heimat in romantisierender Art häufiger mit dörflichen Strukturen und Landschaft als mit städtischen, gebauten Räumen in Verbindung gebracht. Dörfer sind für die Ausbildung von Heimatliebe möglicherweise eher geeignet gewesen als eine Stadt, weil die nahräumliche soziale Vernetzung und auch soziale Kontrolle stärker ausgebildet waren. Das Gemeinwohl und ein “Wir-Bewusstsein“ dürften stärker ausgeprägt gewesen sein als in urbanen Lebensformen, die mit Gleichgültigkeit und Reserviertheit im Umgang einhergehen (vgl. die Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft bei Ferdinand Tönnies 1963). Auch der Erhalt des Bestehenden steht in ländlichen Regionen stärker im Vordergrund. Traditionen vermitteln Geborgenheit, u. a. die traditionelle Kost, vor allem an Feiertagen, ein bestimmtes Essen in einer bestimmten Gemeinschaft, z.B. Backfischfeste oder Pflaumenmusfeste in Vereinen, die die Gemeinschaftsbildung fördern und die Traditionen beleben. Die industriell gefertigten Bauten, fehlende Ornamente und serielle Stapelungen von Wohnungen erschweren Beheimatungsprozesse. An städtischem Wohnen und an Großsiedlungen wird Anonymität und Uniformität beklagt, die nicht zur Identifikation mit dem nahen Umfeld einladen. Der Heimat-Begriff dient und diente auch als modernisierungskritische Antwort auf Industrialisierung, Uniformität und Bürokratisierung. Die Kritik an der Unwirtlichkeit der Städte, den Wohnmaschinen, aber auch an der technischen Zivilisation und Maschinen als Taktgeber beruht dem Ansatz Greverus entsprechend – oder der Streitschrift Mitscherlichs – auf einem Mangel an wohnungsnahen selbstbestimmten Betätigungsmöglichkeiten zum einen und mangelnder Gestaltung der Gebäude zum anderen (Greverus 1979; Mitscherlich 1965). Nicht nur den Städten, mehr noch den suburbanen Räumen, den Zwischenstädten, wird vielfach die Eigenschaft abgesprochen, als Verortung heimatlicher Bindungen geeignet zu sein. In Planer- und Architektenkreisen ist diese Einstellung weit verbreitet. Sie basiert auf der Meinung, Zwischenstadt zerstöre Heimat, da sie Kulturlandschaft – vielfach als Grundsubstrat für Heimat angesehen – zerstöre, darüber hinaus sei Zwischenstadt ein Ort der Anonymität und Universalität, schließlich sei „sie unbehaust, unwirtlich und ohne Identität. Identität und Heimat werden dabei gleichgesetzt“ (Vicenzotti 2009: 246). Diese Ansicht steht im Gegensatz zu den Heimatgefühlen, die der Zwischenstadt von ihren Bewohnern durchaus entgegengebracht werden. Die heimatlichen Bindungen der Bewohner der Zwischenstadt sind dabei Ausdruck eines aneignen-
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den Heimatbegriffs, der Verheimatung als aktiv gestalteten Prozess mit Blick in die Zukunft beschreibt und nicht als etwas Gegebenes, dessen Wurzeln in der Vergangenheit liegen (Vicenzotti 2009). Heimat lässt sich auch als Teil einer gelungenen Sozialintegration begreifen, die sich als Bezug auf die „einheitsstiftenden, kollektiven Zugehörigkeitsgefühle verbürgenden Wirkungen kultureller Traditionen, Werte und Gemeinschaftserfahrungen“ interpretieren lässt (Paris 2004: 161-162; ähnl. Twigger-Ross/Uzzell 1996). Insbesondere stereotyp als schön geltende ländliche Landschaften dienen hier als Kulisse, gelten aber auch als physisches Manifest kultureller Identitäten, Zuschreibungen und Sehnsüchte. Sie stellen Zurechnungspunkte für gesellschaftliche Akteure dar und „limitieren ihren Möglichkeitshorizont, fungieren als Kontingenzunterbrecher und ermöglichen damit den Aufbau regionaler Identitäten“ (Ahrens 2006: 237). Ländliche Symbole werden dabei herangezogen – so auch Kropp (2004: 151) am Beispiel Ostfrieslands: „die üblichen Stereotype, wie Platt sprechen und Tee trinken […], werden nun zu verhaltenssichernden Identifikationspotenzialen“. Huber (1999: 246) bezeichnet Heimat als einen Mythos, der gleichsam religiöse Funktionen erfülle: „Er verspricht Geborgenheit und gewährleistet Stabilisierung und Identität in einer kulturellen und sozialen Umwelt“. Naturlandschaft, Tier- und Pflanzenwelt, Baudenkmäler, Volkskunst, Dialekt, Sitten, Gewohnheiten, Feste, Trachten sowie die Kneipe an der Ecke gelten als Symbole für Heimat. Indem im Fernsehen Heimatfilme, -musiksendungen, und -bücher massiv verbreitet werden, werden lokale und zumeist ländliche Traditionen Gegenstand der Kulturindustrie und als Symbol für eine heile Welt genutzt – und auch missbraucht. „Die Aufnahme des Heimat-Motivs durch die Massenmedien hat schließlich nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass Heimat heute vor allem mit bestimmten volkstümlichen Klischees und Stereotypen verbunden wird“ (z.B. die Alpen, Egerländer oder Tirol; Heinze et al. 2006: 7). Durch die Vermarktung spezifischer Stereotype des Ländlichen greifen ländliche Regionen – wie Walter Leimgruber (2004) am Beispiel der Inszenierung und der Kommerzialisierung des schweizerischen Heidi-Mythos zeigt – in den Modernisierungsprozess ein, indem sie ihre „endogenen Potenziale“ einbringen. Somit kommt Leimgruber (2004: 43) zu dem Schluss: „Die Region hat ihre Lektion gelernt, sie ist nun aktiver Teil der Globalisierung“. Der einst (durchaus distinktiv wirkende) modernekritische Ansatz der Glorifizierung des Ländlich-Heimatlichen ist zum allgemeinverfügbaren Stereotyp, zum mainstream geworden (vgl. auch Huber 1999).
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Abbildung 1: „Grün ist die Heide“ Filmplakat. 1951 Entwurf: Albert Thäder Linolschnitt, Plakatdruck: Saarzeitung Saarlouis 84x59,4 (Historisches Museum Saar) 2.3.3
Die Bedeutung der Kunst bei der Konstruktion von Heimat und regionaler Identität
Bei der Konstruktion des Gemeinschaftlichen als Heimat kommt der Malerei wie auch der Literatur eine besondere Bedeutung zu – Heinrich Spanier (2005: 136) vertritt in diesem Zusammenhang sogar die These, Heimat werde in der Kunst, „zumal in der bildenden Kunst, landschaftlich dargestellt“. So stellt Büttner (2006: 274) in der russischen Landschaftsmalerei eine Hinwendung zu russischen Landschaften „erst in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts [fest], als russische Intellektuelle sich verstärkt für die kulturelle Unabhängig-
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keit Russlands einsetzten und ein nationales Selbstbewusstsein beschworen […] zum bildwürdigen Gegenstand“. Auch die landesbeschreibende Literatur stellt einen erheblichen Beitrag zum regionalen und nationalen Bildungsprozess dar (Behschnitt 2006): Die eigene Region bzw. Nation wird hinsichtlich ihrer landschaftlichen und kulturellen Charakteristika – in Deutschland zunehmend in symbiotischer Form der Kulturlandschaft (Lekan/Zeller 2005) – von anderen Regionen und Nationen unterschieden und stereotypisiert. Die unterscheidende Selbststereotypisierung des Deutschen vollzog sich sowohl in landes- und volkskundlichen wie auch in schönliterarischen Texten, wobei, was Sach- und fiktionale Texte betrifft, Differenzen hinsichtlich der Art und der Intensität der vergleichenden Darstellung bestehen (Behschnitt 2006: 491). Neben der Information und Belehrung bezieht sich die Funktion von landesbezogener Belletristik und Prosa auf die Einladung zur Identifikation sowie symbolischen und emotionalen Aufladung (Behschnitt 2000). Dabei kann sich die Aneignung des Nationalen (bzw. auch des Regionalen) in schönliterarischen Texten als Bildungsprozess des Subjekts gestalten, das „sich in der Auseinandersetzung mit dem Fremdartigen in Natur und Bevölkerung selbst verändert“ (Behschnitt 2006: 491; vgl. auch Imort 2005). Literatur, Malerei, wie auch entsprechende Filme, Fotografien, Radioberichterstattungen, Karten und Internet leisten einen Beitrag zur Konstitution einer nationalen (oder regionalen) Bildungsgemeinschaft auf Grundlage der Erweiterung der Landeskenntnis und eines imaginativen Nachvollzugs des Gelesenen bzw. Gesehenen. Wesentliches Element der Konstruktion des Gemeinsamen ist auch die Definition gemeinsamer Fremd- und Autostereotype, die sich auch in der Erfindung von national oder regional bedeutsamen– auf „prämoderne Wirklichkeitsdeutungen“ (Werlen 1996: 19) zurück gehende – Traditionen ausdrückt (Suter 1999). Diese – auf aktualisierten latenten oder neu entwickelten Traditionen basierende– Kultur der Unverwechselbarkeit ist gegen die nicht-regionalkulturell (bzw. nicht-nationalkulturell) regulierte Alltagswelt der in der Region Lebenden gerichtet: „Die bevorzugt [zur Konstruktion einer Regionalkultur; Anm. O.K./A.S.] herangezogenen Kulturelemente dienen vielmehr einer neuen Sinngebung. Die Sinngebung aber scheint oft nur um den Preis der Horizontverengung möglich zu sein“ (Köstlin 1980: 35). Die Teilhabe Fremder an diesen lokal, regional oder national als bedeutsam erklärten Traditionen ist aufgrund sprachlicher (und sei es nur ein anderer oder kein Dialekt), ethnischer, ökonomischer, sozialer bzw. kultureller Unterschiede zumindest erschwert, was die Asymmetrie des Machtdeposits zwischen Ein- und Ausgeschlossenen manifest werden lässt (Rommelspacher 1995: 186): „Machtlosigkeit drückt sich auch darin aus, dass einem/einer eine Identität verweigert wird, in der die eigenen Erfahrungen und Lebenszusammenhänge adäquat zum
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Ausdruck kommen“. In der Heimatdichtung wie sie z.B. Ludwig Ganghofer repräsentiert, werden die Menschen darüber hinaus als jung, heil, gesund, natürlich, stark, edel, heimatlich und bäuerlich dargestellt, die dazu beitragen, dass Krankhaftes und Minderwertiges ausgeschieden wird.2 Ein anderes Beispiel liefert die Filmtrilogie Heimat von Edgar Reitz, in der anhand einer Familienchronologie aus dem Hunsrück das Thema Heimat in einer globalisierten Welt filmisch dargestellt und aus dem Dunstkreis von Kitsch und Nostalgie befreit wird. Die Dokumentation umfasst im ersten Teil Heimat – 1984 in der ARD als Mehrteiler ausgestrahlt – etwa 16 Stunden Filmmaterial, mit „Die zweite Heimat“ von 1993 25 Stunden und Chronik einer Zeitenwende von 2004 11 Stunden vielfach preisgekrönte und ausgezeichnete Filme. Die Spanne der Handlung reicht vom Ende des ersten Weltkriegs bis zum Jahr 2004, in dem der Zusatzteil „Heimat – Fragmente, die Frauen“ erschien. Morley und Robins (1995: 95) interpretieren den Film in der Weise, dass Heimat in typischer Weise mit Dagebliebenen, Tradition, Dorf, natürlich, ewig und weiblich bzw. mütterlich, assoziiert wird, während die Fremde mit den kontrastierenden Merkmalen Weggegangen, ohne Wurzeln, Stadt, modern, wechselhaft und männlich dargestellt wird. Wim Wenders z.B. stellt demgegenüber Personen dar, die auf der Suche und auf der Reise sind und dabei ihre Identität finden (ebenda: 102). Wie im vorherigen Abschnitt behandelt wurde, basiert die Konstruktion einer regionalen bzw. nationalen Identität auf der Vorstellung einer gemeinsamen politischen und kulturellen Solidargemeinschaft, die jenseits der „individuellen unterschiedlichen Identität“ (Buß 2002: 12) eine zusätzlich konstruierte Emergenzebene der Identität schaffe. Damit sich diese Solidargemeinschaft „ihrer selbst bewusst werden und bleiben kann, muss Identitätsbildung betrieben werden“, dabei muss den Angehörigen dieser Solidargemeinschaft „klar gemacht werden, dass sie Teil eines Kollektivs sind, das im Wandel der Zeit ein und dasselbe geblieben ist, auch wenn es mehrere Namen gehabt haben sollte (numerische Identität)“ (Gostmann/Wagner 2007: 69). Den Angehörigen dieser Solidargemeinschaft muss ferner verdeutlicht werden, „worin sie sich gleichen (qualitative Identität)“ (Gostmann/Wagner 2007: 69). Bei der Existenz eines gemeinsamen Staates, kann auf die staatsbürgerliche Gleichheit als Begründung für die kollektive Identität verwiesen werden (Staatbürgernation), diese lässt sich auch bildlich (sprich kartographisch) abgrenzen und somit ikonographisch gegen das Fremde absetzen (vgl. Schneider 2006). Bei dem Fehlen eines gemeinsamen Staates, „muss auf kulturelle, ethnische oder soziale Gemeinsam-
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Vgl. Ludwig Ganghofers gesammelte Schriften. Volksausgabe. Stuttgart. Bonz [1906-1925], 30 Bände in drei Serien.
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keiten verwiesen werden, was die Nation zur Kulturnation, ethnischen Nation oder Klassennation macht“ (Gostmann/Wagner 2007: 69). Dabei obliegt es insbesondere Intellektuellen, die unterschiedlichen Aspekte des Gemeinsamen miteinander zu verbinden und in Form von einer Erzählung einer Nation (oder auch Region) als Identifikationsangebot zu unterbreiten. Sofern dieses akzeptiert wird, kann es den Ursprung eines Identitätsbewusstseins „im Sinne eines WirGefühls“ (Gostmann/Wagner 2007: 69) darstellen und zu kollektivem Handeln im Sinne des „Wir-Gefühls“ motivieren. Ein besonderes Identifikationsangebot stellt Sprache dar. Eine wesentliche Funktion von Sprache besteht in der Vermittlung zwischen Individuum und Sozialem. Die Bedeutungszuschreibung von Sprache ist historisch nicht konstant (Kremnitz 2000: 134): „In unserer europäischen Kultur wird Sprache als ein sehr konstanter Faktor der Persönlichkeit angesehen, in vieler Hinsicht – mindestens seit der Romantik – sogar als definitorisches Element. Damit wird der Unterschied zur Zeit der Aufklärung deutlich, wo die Sprachwahl in stärkerem Maße von praktischen Gesichtspunkten abhing und damit auch leichter revidierbar war, sofern die praktischen Kenntnisse vorlagen“. Eine auf Exklusion anderer Sprachen gegründete Sprachpolitik sollte die hegemoniale Stellung der als „Muttersprache“ bezeichneten Staatssprache als Identifikationsmoment (insbesondere durch die nun verpflichtend gewordene Schule) verankern.
2.3.4
Heimat und Politik
Gerade in der Regionalentwicklung werden heimatliche Bindung und regionale Identitäten mobilisiert. So sieht Pankoke (1993: 763) zwischen regionaler Identität und persönlichem Engagement eine Verbindung: „Wer sich mit einem Raum persönlich identifiziert, wird eher interessiert sein, sich hier produktiv einzubringen“. Der sich positiv mit einem Raum Identifizierende werde sich „vielleicht auch engagieren: nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im kulturellen und öffentlichen Leben. Wir können die damit unterstellte Relation auch dahin wenden: Wer sich in seiner Identität kulturell angesprochen sieht, könnte eher bereit sein, auch in anderen Bereichen, etwa wirtschaftlichen, aktiv zu werden“. Auf diesen Zusammenhang baut auch die unionseuropäische Strukturpolitik, wenn sie die Stärkung der regionalen Identitäten und die Mobilisierung endogener Potenziale (insbesondere finanziell) fördert (beispielsweise durch das Programm LEADER), die „durch Massenmedien, soziale Bewegungen und pädagogische Kampagnen verstärkt werden“ (Hard 1987a: 230). Heimatliche Bindungen sind dem kognitiven Zugriff so lange entzogen, bis sie reflexiv hinterfragt werden. Heimatliche Bindungen sind vorrangig Neben-
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folgen sozialen Handelns, nicht ihr Zweck, insofern unterliegen sie – aufgrund ihres geringen Reflexionsgrades – stets der Gefahr der bewussten Manipulation (vgl. Kropp 2004, Piechocki 2006, Kühne 2008a). Die „Inhalte solcher landschaftlich-vaterländisch-heimatlich-ökoidyllischer Raumabstraktionen“ (Hard 1987a: 230) können als simplifizierte Programme und Ordnungsbilder mit dem Ziel der Emotionalisierung und Akzeptanzsteigerung von Macht- und Herrschaftsmechanismen verstanden werden. Wobei eine solche Akzeptanzsteigerung– so Hard (1987b: 326; Hervorh. im Original) – auch dadurch erreicht wird, dass „der Blick von den wesentlicheren sozialen und regionalen Disparitäten weg auf vergleichsweise belanglose regionale Varietäten“ gelenkt wird und „die in modernen Gesellschaften machtvollen Raumabstraktionen hinter relativ belanglosen verschwinden“. Eine regionalisierte – häufig politisch induzierte – soziale Selbstdefinition lässt sich – im Anschluss an die Definition des Deutschen von Rommelspacher (1992: 208) – als hegemonial bezeichnen: „Deutsch sind […] die, die in Deutschland die Macht haben“, woraus sich die Motivation ableitet, warum die regionale und nationale Politik stark auf eine Semantik der regionalen bzw. nationalen Einheit ausgerichtet ist (vgl. Werlen 2000, Aschauer 2006). Die Entwicklung heimatlicher Zugehörigkeitsgefühle unterliegt somit der Gefahr der latenten prinzipiellen Höherschätzung des Autochthonen gegenüber dem Allochthonen. Allochthone werden zu Aggressionsobjekten, Fremde haben keine Rechte, man distanziert sich und schürt Überfremdungsängste. Der Heimatbegriff wird entsprechend kombiniert mit Ewig Gestrigem, Pflegerischem, Völkischem und Nationalsozialismus. Heimatfilm, Heimatroman, Heimatverteidigung zeigen sich hier repressiv gegen äußere Einflüsse. Es geht nicht mehr um eigene Aktivitätsmöglichkeiten und das Gefühl, zu Hause zu sein, sondern um das Bedürfnis nach Besitz und Verteidigung eines Reviers. Intoleranz ist die entspreche Haltung. Heimatgefühl und das Betonen von Heimat wird häufig mit einer konservativen Geisteshaltung gleich gesetzt. Die Verteidigung der Heimat wird zum Gegenstand einer exkludierenden und auf „Reinigung“ gegenüber dem Fremden und Neuen beruhenden Politik (Kühne 2006c, Gebhard/Geisler/Schröter 2007). Der Minoritätenstatus (beispielsweise der Fremden) ist nicht unbedingt auf eine numerische Minderheit zu beziehen, sondern bemisst sich auf das Maß der sozialen Macht (Wallerstein 1987). Die Überhöhung (und Inszenierung) der eigenen Tradition, sich manifestierend in der konservierenden Arbeit von Denkmalschutz, Brauchtumspflege, der Förderung des regionalen Kunsthandwerks und des Landschaftsschutzes, birgt stets die Gefahr einer sozialen Sklerotisierung und dem Ausschluss des Fremden bzw. zumindest eine an das Fremde gerichtete Unterordnungserwartung. Soyez (2003) fragt angesichts des Para-
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digmas der Erhaltung (historisch gewachsener) Kulturlandschaft nicht zu Unrecht, wessen Landschaft angesichts einer zunehmenden Multikulturalität eigentlich geschützt werden solle (hierzu siehe auch Eiter 2004). Aktiviert kann sich ein exklusivistisch (Sloterdijk 1987) auf die Erhaltung des Heimischen gerichteter Heimatbezug begleitet von den Semantiken der Notwehr und Verteidigung zur Fremdenfeindlichkeit bis hin zu physischen Übergriffen auf Fremde auswachsen (vgl. Rommelspacher 1995, Piechocki 2006, Hüppauf 2007).
2.3.5
Heimat und Globalisierung
Heute lassen sich die Bedürfnisse nach Heimat, Heimatbewusstsein, Ortsbezug, lokaler und regionaler Identität als mit der Globalisierung verknüpft betrachten (Giddens 1995). Die Globalisierungsprozesse brechen die enge Verbindung von Raum, Stabilität und kultureller Reproduktion auf (Appadurai 1998). Diese Auflösung führe in ihren ökonomischen, kulturellen, sozialen und politischen Ausprägungen zu einem dis-embedding, einer Ortslosigkeit des Menschen, „Lebenswelten verlieren durch Globalisierung ihre Zentrierung“ (Luckscheiter 2007: 181; vgl. auch Werlen 1997 und 2003). Ortlosigkeit einer globalisierten Welt wird vielfach der Versuch eines re-embeddings, einer Rückverortung, entgegengesetzt (vgl. auch Massey 1991, Krämer-Badoni 2003). Diese Art der Rückverortung wird vielfach an konkrete Orte und physische Landschaften gebunden – gerade weil Orte zunehmend weniger in der Lage sind, klare Unterstützung für Identität zu bieten. Manuell Castells führt im zweiten Band seines Hauptwerkes “Die Netzwerkgesellschaft” hierzu aus: “When the world becomes too large to be controlled, social actors aim at shrinking it back to their size and reach. When networks dissolve time and space, people anchor themselves in places, and recall their historic memory.” (Castells 2002, S.66). Der Grundgedanke findet sich bereits in der Soziologie Simmels, der ausführt: „Nicht der Raum, sondern die von der Seele her erfolgende Gliederung und Zusammenfassung seiner Teile hat gesellschaftliche Bedeutung. Diese Synthese des Raumstücks ist eine spezifisch-psychologische Funktion, die, bei aller scheinbar „natürlichen“ Gegebenheit durchaus individuell modifiziert ist; aber die Kategorien, von denen sie ausgeht, schließen sich allerdings, mehr oder weniger anschaulich, an die Unmittelbarkeit des Raumes an.“ (1992 (1908), S.688). Sein Verständnis von Raum ist zentral an soziale Wechselwirkungen gebunden, die Räume prägen und damit Rückwirkungen auf soziale Verhältnisse ausüben. Eine regionale Identität oder Zuordnung zu einer Gemeinschaft vollzieht sich damit auf Grundlage gemeinsamer Interpretationsmuster, also Wahrnehmungs- und Bewertungskriterien, die zu einer Verbundenheit mit einer Land-
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schaft, einem Ort oder einer Region führen, die aber nicht den natürlich-objektiven Verhältnissen entspringen, sondern der gefühlten Zugehörigkeit. Die Grundqualitäten, die nach Simmel den Raum bestimmen, sind Ausschließlichkeit, Begrenzung, Fixierung, Bestimmung von Nähe und Distanz sowie Wanderung als Bewegung im Raum (1992, S. 690ff). Gerade die Ausschließlichkeit ist eng mit dem Heimatthema verbunden, weil die Einzigartigkeit eines Raumes mit den dort ansässigen Menschen verwächst und somit an einem Ort räumliche und sozio-kulturelle Identität hergestellt wird. Simmel selbst spricht davon, dass ein Ort zur Wurzel und zum Symbol einer Gruppe werden kann (ebenda, S. 693). Giddens nimmt diesen Gedanken auf, indem er von Orten spricht, an denen sich die Routinetätigkeiten verschiedener Individuen überschneiden und die Institutionalisierung des sozialen Lebens in physischer Hinsicht stattfindet. Die sozialen Praktiken werden auf den Ort transferiert, von dem nun selbst gewisse Handlungsanforderungen ausgehen. Indem Institutionen an bestimmten Orten angesiedelt sind, erscheinen sie stabil, und umgekehrt erscheint der Ort als physische Gegebenheit fix, gegeben und invariabel. Auch wenn Giddens den symbolischen Gehalt von Orten kaum betont, so dürften Regionalisierung und Routinisierung eine zentrale Rolle für die Ausbildung von Ortsbindungen spielen. Des Weiteren bilden Orte den Kontext für soziale Zusammenkünfte, der Gesprächsinhalte und -verläufe, Positionierungen der Akteure, zeitliche Rahmen sowie Gesten und Rituale vorgibt. Eine Position bedeutet auch, den Tag in einem gewissen zeitlichen Rhythmus an bestimmten Orten zu verbringen. Ein Großteil zwischenmenschlicher Begegnungen vollzieht sich in routinisierter und taktvoller Form an bestimmten Orten. Indem eine Person lernt, sich zu positionieren, sich in unmittelbaren Interaktionskontexten kennen lernt und sich in Nachbarschaften, Lernorten, Arbeitsplätzen einordnet, festigt er seine Identität und integriert zugleich Elemente von ganz unterschiedlichen raum-zeitlichen Reichweiten. Die Vergrößerung der räumlichen Distanzen im Zuge der Modernisierung führt zu einem Bedeutungsverlust des Ortes, der Fluss an Kommunikation und Informationen, Umzugs- und Wanderungsverhalten haben die kulturelle Identität und Grenzen von konkreten Orten in Frage gestellt. Routinetätigkeiten müssen immer weniger zur gleichen Zeit am gleichen Ort integriert werden und die Koordinierung von Interaktionen funktioniert auch bei Abwesenheit. Die Fortschritte der Kommunikationstechnik durch Mikroelektronik führen letztendlich auch zum „disembedding of social systems“ (Giddens 1990, S. 21). Die nach Simmel zweite Grundqualität des Raumes, die Begrenzung, spielt insofern eine Rolle, als dass mit einer wahrgenommenen Grenze die Identität einer Gemeinschaft nach innen und außen sichtbar dargestellt wird. Dies können auch landschaftlich vorgegebene Grenzen sein, wie ein Fluss oder ein Gebirge.
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Regionen haben zwar eine administrative Grenze (z.B. Regierungsbezirke), sie werden für Individuen oder Gruppen jedoch erst dann relevant, wenn sie mit Bedeutungen versehen sind, also durch soziales Handeln und gemeinsame Wertorientierungen entstanden sind (vgl. Entrikin 1991). Inwieweit in einer Netzwerkgesellschaft Grenzen wahrgenommen und akzeptiert werden, wird u.a. in der Migrationssoziologie und Transnationalisierungsforschung thematisiert. In Folge der Globalisierung und Vernetzung durch das Internet stellt sich vor allem die Frage, inwieweit räumliche Nähe notwendig ist, um stabile soziale Beziehungen eingehen und festigen zu können. Diese dritte Grundqualität des Raumes (Bestimmung sinnlicher Nähe und Distanz) wird mit dem technologischen und gesellschaftlichen Wandel sehr stark herausgefordert und fördert möglicherweise die wechselseitige Verstärkung: Bewusstwerdung der lokalen Kontakte und Schaffung neuer emotionaler Verbundenheiten über große Distanzen hinweg durch die Ausschöpfung globaler Kommunikationsmöglichkeiten. Die medienvermittelte und auch urbane Kommunikation wurde als technisch-rational und funktional gekennzeichnet, kann aber mit den modernen Medien neue Qualitäten erreichen, die das Ortsprinzip von sinnlicher Nähe und Vertrautheit aufhebt (z.B. Videokonferenzen, Skype). Giddens (1992) unterscheidet zwischen System- und Sozialintegration, und betont, dass in vormodernen und Klassengesellschaften für eine Sozialintegration face-to-faceKommunikation und Kopräsenz notwendig seien (1992: 81). Neue technische Möglichkeiten und freier Zugang zu den Medien lassen jedoch neue Organisationsformen von Anwesenheit und Abwesenheit zu, die er allgemein als „timespace-distanciation“ fasst und als Grundprinzip für die Unterteilung von Gesellschaftsformen heranzieht (1983: 90). Modernisierung bezeichnet Giddens demnach als Abstandsvergrößerung, raumgebundene Kulturen erscheinen als vormodern. Da auch Heimat territorial zu begreifen ist, lässt sich ableiten, dass Beheimatung unmodern erscheint, als provinziell und altmodisch. Prozesse der Gemeinschaftsbildung und Identifizierung mit Gruppen scheinen zumindest für einige Gesellschaftsmitglieder nicht länger an kleine räumliche Einheiten gebunden zu sein. Einzelne Orte scheinen damit nicht länger feste Anker unserer Identitätsbildung zu sein. Die These einer Nivellierung der Bedeutung des Raumes findet mit der Globalisierung, vereinheitlichter Architektur und der Netzwerkgesellschaft (M. Castells) zahlreiche Anhänger (vgl. Featherstone 1990). Die tatsächliche Bewegung im Raum hat in Zeiten der Globalisierung und des internationalen Arbeitskräfteeinsatzes den regionalen oder nationalen Rahmen längst gesprengt. Die internationalen Bewegungen (real und virtuell) haben das Verständnis für andere Räume und Lebensverhältnisse, Sichtweisen und Routinen enorm erweitert und eigene Anschauungen – auch durch die globale
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Kulturindustrie – relativiert. Die am oberen Ende der Hierarchie tätigen Beschäftigten beheimaten sich länderübergreifend in den „Global Cities“, während die Migranten/innen am unteren Ende der beruflichen Hierarchie kaum die Chancen haben, sich aktiv in der Fremde zu beheimaten. Die einheimischen sozial Geschwächten und Immobilen sind auf ihren lokalen Umkreis verwiesen und von ortsübergreifenden Netzen abgeschnitten. In Global Cities treffen die verschieden geknüpften Netzwerke aufeinander, die global Reisenden, gobale Events, Wanderarbeiter/innen, die Kontakte zu ihren Verwandten am anderen Ende der Welt halten, bis hin zu lokalen, traditionellen Arbeitermilieus – je nach spezifischer Konfiguration an einem spezifischen Ort, wie Albrow formuliert: „The locality is criss-crossed by networks of social relations whose scope and extent range form neighbouring houses over a few weeks, to religious and kin relations spanning generations and continents. …But broadly the longer the time-span and the more extended the space over which social relations are perpetuated the more resources are required by the parties involved. We therefore need to conceptualize contemporary local social relations in relation to a concept of time-space social stratification”. (Albrow 1997: 51f.) Als Gegenbewegung gegen die Globalisierung entstehen regionalistische oder nationalistische Bewegungen, die bei Manuell Castells defensiv ausgerichtete „Widerstandsidentitäten“ genannt werden (im Unterschied zu Projektidentitäten, die sich aus punktuellem Widerstand bilden, wie z.B. die Ökologiebewegung (2002, Bd. 2: 67). Festgehalten werden kann mit Simmel, dass es immer eine interpretatorische Leistung ist, eine Wahrnehmung, Einordnung und Bewertung, die zu einer Verbundenheit mit einem bestimmten Raum oder verschiedenen Räumen führt, dass es aber nicht originär die physischen Verhältnisse sind, die Heimatgefühle entstehen lassen. Dabei wird der Wirtschaft, „die rückstandslos und rücksichtslos den unerbittlichen Gesetzen des Marktes ausgeliefert ist, […] die heimatliche Kultur entgegengestellt, eine gediegene Wärmflasche gegen die Kälte des Ökonomischen; auf der einen Seite die globale Orientierung des modernen Managements, auf der anderen Seite die Nestwärme des Heimatlichen, der gefühlvolle Ausgleich unvermeidlicher Versagungen“ (Bausinger 2004: 27). Doch auch die Wiedereinbettung im Lokalen vollzieht sich nicht durch Abkopplung von der globalen Kultur und der globalen Ökonomie. Zwischen Lokalität und Globalität entsteht ein dialektisches Verhältnis, das Robertson (1995) „Glokalisierung“ nennt. Diese Gleichzeitigkeit von Globalem und Lokalem bezeichnet die „gleichzeitige Steigerung von Prozessen der Verallgemeinerung und Besonderung“ (Ahrens 2001: 14), die sich auch in der Nutzung „multimediale[r] Sphären“ bei gleichzeitiger Identifikation mit dem Heimatort äußert (Rohrbach 1999: 127).
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Während dabei „die ‚Entbettung’ des modernen Selbst als Angelegenheit des Verlusts menschlicher Beziehungen“ (Knorr Cetina 2006: 101), als „Sinnverlust erfahrene Ausdifferenzierung und Aufsplittung einer Welt in multiple Wirklichkeiten“ (Tänzler 2007: 121) verstanden wird, erfolgt die Wiedereinbindung vielfach als Kompensation „durch die Expansion von Objekt-zentrierten Umwelten“ (Knorr Cetina 2006: 101) als Kompensationsbemühung gegenüber der Flexibilität der Arbeitswelt, ihren Oberflächlichkeiten und der omnipräsenten Drohung des sozialen Abstiegs (Sennett 2007). Diese Objekt-zentrierten Umwelten „situieren und stabilisieren das Selbst und definieren die individuelle Identität ebenso wie menschliche Gesellschaften dies getan haben“ (Knorr Cetina 2006: 101), ohne dass Regionen im Sinne einer umfassenden Heimat verstanden werden können. Vielmehr sei die Region „als ein räumlicher Code zu verstehen, mit dessen Hilfe die Komplexität der modernen Weltgesellschaft besser strukturiert werden kann“ (Pohl 1993: 241), Region wird also letztlich zum globalen Strukturierungs- und Entkomplexisierungskonstrukt. Verbannung, Vertreibung, politische, religiöse Flüchtlinge, aus wirtschaftlicher Not Auswandernde stehen vor dem Problem, sich zwangsweise in der Fremde neu beheimaten zu müssen. Je höher die Chancen auf eine aktive, sichere und identitätsfördernde Teilhabe in den neuen Lebenskontexten, desto eher dürften sich neue Heimatgefühle aufbauen. Angst und Passivität, Anonymität und Einsamkeit sind mit Heimatgefühl kaum vereinbar. Heimweh nach dem verlorenen Terrain ist der entsprechende Gefühlsausdruck, wenn emotionale Bindungen, ein angstfreies Leben und Aktivitätsmöglichkeiten nicht gegeben sind (Bernet 2006, Fisher 1990). Offen ist, inwieweit die freiwilligen Mobilen der modernen globalen Wirtschaft mit einer starken Berufsorientierung vom Gefühl des Heimatverlustes betroffen sind oder nicht. Es ist wahrscheinlich, dass Wahlheimaten an die Stelle des Herkunftsortes und der Familienbeziehungen treten und selbst geformte soziale Netze Ortsbindungen ermöglichen, die ebenso identitätsstiftend und einbettend sein können, wie langjährig gewachsene, familiäre Netze, wie Yildiz (2004: 53-54) am Beispiel von Köln-Ehrenfeld zeigt. Dies sei ein Ort, „der Differenzen zulässt, Vielfalt begünstigt und als Plattform für Auseinandersetzungen fungiert“. In einer mobilen und dynamischer werdenden – durch Glokalitäten gekennzeichneten – Welt sollten es nicht die Ahnenpässe sein, die das Recht auf Heimat bestimmen, quasi als Lohn für die Immobilität der Vorfahren (Bausinger 1978: 27). Es wird gefordert zu lernen, mit unterschiedlichen Formen des Anderseins und Fremdheit in der eigenen Heimat und in neuen Standorten umzugehen. Zum Recht auf Heimat gehört in diesem Zusammenhang auch das „Recht in Ruhe gelassen zu werden“ (Nassehi 1999: 177).
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Wenn die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen zu mehr fremden, transnationalen Einflüssen und Verflechtungen drängen, stellt sich die Frage, wie die Menschen Heimat begreifen, ob sie ein abgegrenztes Territorium meinen oder einen geöffneten Raum, ob sie Heimat eher in der Vergangenheit oder in der Zukunft ansiedeln, ob sie gegen oder offen für Fremdes sind (Bernet 2006) Auch in empirischer Hinsicht ist ungeklärt, wie die Menschen Heimat konstruieren, welche Bedeutung sie ihr beimessen, und wie sie Heimat zu Beginn des neuen Jahrhunderts bewerten.
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3 Historische Aspekte der Bildung regionaler Identitäten und heimatlicher Orientierungen im Saarland
Wie kaum eine andere Region in Mitteleuropa hat das Land an der Saar in den vergangenen rund 200 Jahren eine wechselvolle politische und ökonomische, aber auch soziale und kulturelle Entwicklung erfahren. Neben seiner peripheren Lage zu den Machtzentren Frankreichs und Deutschlands (zunächst Bayerns und Preußens) trug hierzu die geologische Situation bei, die dem Land an der Saar Erz- und insbesondere Kohlenlagerstätten bescherte. Diese wechselvolle geschichtliche Entwicklung leistet einen Beitrag zur regionalen Identitätsbildung der Bewohnerinnen und Bewohner des Saarlandes.
3.1 Von den Anfängen der Besiedlung zum Wiener Kongress – die Entwicklung vor 1815 Bereits für die Altsteinzeit lassen sich im Land an Saar und Blies Spuren durchziehender Jäger und Sammler nachweisen. In der jüngeren Steinzeit (Neolithikum von etwa 4.000 bis 1.800 vor unserer Zeitrechnung) wurden Menschen im Bezugsraum sesshaft: Der Bliesgau, der Saargau und die Ränder des mittleren Saartals waren zu dieser Zeit die bevorzugten Siedlungsräume, wie zahlreiche Funde von Steinbeilen und -klingen belegen. Spätestens seit dem 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, in der jüngeren Eisenzeit, gehörten die genannten Räume zum Siedlungsraum der gallischen Volksstämme der Mediomatriker und der Treverer. Es gilt als wahrscheinlich, dass sie zunächst Wanderfeldbau betrieben. Sie verlegten also ihre Wirtschaftsflächen und ihre Siedlungen, sobald die Ertragsfähigkeit des Bodens infolge der agrarischen Übernutzung zu gering wurde (vgl. Guth 2006, Quasten 2006, Herrmann 2008). Zwischen 58 und 52 vor unserer Zeitrechnung wurden Mediomatiker und Treverer durch Gaius Julius Caesar in den römischen Machtbereich – ohne einen größeren kulturellen Bruch – integriert (Herrmann 1989a: 13): „Die römische Zivilisation verschmolz mit gallischen Eigenheiten zur gallo-römischen Provinzialkultur“. Die gallo-romanischen Agrarlandschaften unseres Raumes 45
waren geprägt von einem Netz alleinstehender Höfe (villae rusticae). Ihre wirtschaftliche Grundlage war vornehmlich der Getreideanbau. Neben den villae rusticae gab es in unserem Raum als zweiten gallo-römischen Siedlungstyp den vicus. Vici sind kleine Landstädte. Sie waren im gesamten west- und südwestdeutschen Raum – abgesehen von den großflächigen Waldgebieten – mit Abständen von 12 bis 18 km voneinander leidlich regelmäßig räumlich verteilt. Funktional waren die vici auf die Versorgung ihres Umlandes mit Handelswaren sowie der Herstellung von Handwerkswaren ausgerichtet (Quasten 2006). Im heutigen Saarland sind vici an verkehrsgeographisch bedeutsamen Punkten wie am Halberg in Saarbrücken, in Pachten, bei Schwarzenacker, im Wareswald bei Tholey, im Kasbruch bei Neunkirchen und zwischen Reinheim und Bliesbruck errichtet worden. Die weitläufigen palastartigen Villenanlagen, die villae urbanae, der regionalen Oberschicht waren mit Mosaiken, Fresken und Skulpturen geschmückt, wie beispielsweise in Nennig, Borg, Bierbach und Beckingen. Verwaltungsmäßig gehörte der Raum an Saar und Blies zur Provinz Gallia und nicht zu den Militärprovinzen am Rhein, die Verwaltungssitze für den untersuchten Raum waren Metz und Trier (Herrmann 1989). Zwischen dem 3. und 5. Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung kam es zu immer stärkeren Einfällen germanischer Stämme. Bei den Vici Halberg und Pachten wurde eine Sicherung durch Kastelle vorgenommen. Eine Ansiedlung germanischer Eindringlinge fand zunächst nicht statt. Die ehemals überwiegend landwirtschaftlich genutzten Landstriche des Landes an Saar und Blies wurden nahezu gänzlich siedlungsleer. Die Zeit des 5. Jahrhunderts stellt den radikalsten Bruch der Geschichte des Betrachtungsraumes dar. Um das Jahr 500 begann eine völlig neue Phase der Entwicklung des Landes an Saar und Blies, als ob es die vorausgehende keltische und römische Landschaftsgeschichte in diesem Raum gar nicht gegeben hätte (vgl. Quasten 2006). Zwischen 490 und 510 wurde die Region von Saar und Blies in den Machtbereich des Frankenkönigs Chlodwig einbezogen. In dieser Zeit begann die Neubesiedlung des Raumes durch die Franken. Die Franken zogen mosel- und saaraufwärts und wählten für ihre ersten Siedlungen Räume mit fruchtbaren Böden, die waldarm oder mit jungen, leicht zu rodenden Sukzessionswäldern bestockt waren, also im Bliesgau, dem Saargau und dem Tal der Saar und ihrer Nebenflüsse. Dieser Vorgang wird als die „fränkische Landnahme“ bezeichnet. Erst im 7. und 8. Jahrhundert erstreckte sich die Siedlungstätigkeit der Franken – im Zuge des Landesausbaus – auf weniger günstige Standorte. Bereits in römischer Zeit war das Christentum im Saarraum vereinzelt verbreitet, eine umfassende Christianisierung der Region fand jedoch erst in der Frankenzeit statt. Während die Volksüberlieferung diese den Heiligen Wendalinus, Ingobertus und Oranna zuschreibt, neigt die geschichtswissenschaftliche
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Forschung dazu, die Bedeutung hierbei eher den Bischöfen von Metz und Trier beizumessen. In diesen beiden Städten hatten christliche Gemeinden den Zusammenbruch des Römischen Reiches überdauert. Bereits im 7. Jahrhundert wurden im untersuchten Raum erste Stifte und Klöster errichtet. Ein Beispiel hierfür ist die Ersterwähnung des Stiftes Tholey, am Fuße des Schaumbergs (Herrmann 1989a).
Abbildung 2: Das Wappen des Saarlandes Infolge der karolingischen Teilungen des fränkischen Reiches wurde der Raum an Saar und Blies Teil des nach dem Enkel Karls des Großen und ältesten Sohn Ludwigs des Frommen Lothar „Lotharingien“ benannten Mittelreiches, das im Jahr 925 dauerhaft mit dem ostfränkischen (= deutschen) vereinigt wurde. Damit erhielt der betrachtete Raum eine politisch-geographische Randlage. Landesherrlich blieb das Land an Saar und Blies über Jahrhunderte zersplittert. An die vier größten Territorien jener Zeit erinnert das heutige Wappen des Saarlandes (Abbildung 2): Die Grafschaft Saarbrücken, das Kurfürstentum Tier sowie die Herzogtümer Lothringen und Pfalz-Zweibrücken. Lediglich die Grafen von Saarbrücken waren in der Region ansässig – auch wenn sie nicht zu den großen Territorialherren mit bedeutender politischer Macht zählten. Im Mittelalter vollzog sich eine Ergänzung des Netzes der zentralen Orte in 47
unserem Raum: Neben die alten Römerstädte Metz und Trier traten Nancy als herzoglich lothringische Haupt- und Residenzstadt, Wallerfangen als Verwaltungsmittelpunkt der deutschsprachigen Teile des Herzogtums Lothringen, Zweibrücken für das gleichnamige Herzogtum sowie Saarbrücken und Ottweiler für die Grafschaft Saarbrücken bzw. Nassau-Saarbrücken (Hoppstädter/ Herrmann/Klein 1977, Herrmann 1989a, Herrmann 2008). Die Wirtschaft der Saargegend im Mittelalter war durch Landwirtschaft und Holzwirtschaft geprägt. Ihre Produkte wurden insbesondere saarabwärts nach Trier verschifft. In der Landwirtschaft wurde vor allem auf dem Herrenland die Feldgraswechselwirtschaft ab dem 7. Jahrhundert zusehends durch die Dreifelderwirtschaft verdrängt. Dagegen wurde auf dem von den Kleinbauern selbst bewirtschafteten Hintersassenland die Feldgraswechselwirtschaft zunächst noch als die vorherrschende Bodennutzungsform beibehalten. Erst durch den Einfluss des Adels, der die Hintersassen in der Nähe von Fronhöfen ansiedelte, kam es zur Bildung von Dörfern, die Siedlungsstruktur infolge der fränkischen Landnahme war eher durch Einzel- und Streusiedlungen geprägt (Quasten 2006). Mit der Einführung der zelgengebundenen Bodennutzung wurde die Gemengelage des Besitzes, d.h. die verstreute Lage der Besitzparzellen, in erheblichem Maße verstärkt. Hinsichtlich der Flureinteilungen innerhalb der Zelgen ist davon auszugehen, dass zunächst Blockgemengefluren oder geteilte Streifenfluren vorherrschten, aus denen sich im Verlauf des Mittelalters komplexe Gewannfluren entwickelten. Im Saarraum bildeten sich – infolge der in späteren Jahrhunderten zunehmenden Besitzzersplitterung aufgrund der Realerbteilung – vorwiegend schmalstreifige Gewanne aus, die in Größe und Parzellierungsgrad relativ einheitlich waren (Müller 1976, Guth 2006). Im 15. und 16. Jahrhundert vollzog sich eine allmähliche Ergänzung der stark auf Land- und Holzwirtschaft ausgerichteten Ökonomie des Gebietes an Saar und Blies: Erste Kohlegruben wurden angelegt, Glashütten gegründet, bei Wallerfangen wurde Kupfererz abgebaut, Eisenerz wurde verhüttet. Ein wichtiger Standortvorteil für diese wirtschaftlichen Aktivitäten war das Vorhandensein von Holz: Sowohl für Eisenwerke als auch für Glashütten war es unerlässlicher Rohstoff. Die bescheidene wirtschaftliche und kulturelle Blüte der Saargegend, die sich in einer verhaltenen Urbanisierung, Werken der Baukunst und der Grabmalplastik äußerte, fand mit dem Übergriff des Dreißigjährigen Krieges auf diesen Raum ein jähes Ende. Die militärischen Operationen erreichten erst Mitte 1635 den Saarraum für etwa ein Jahr. Dabei wurde das Land in diesem brutalen und verlustreichen Krieg vollständig verwüstet. Die Siedlungen und Felder wurden niedergebrannt, Zugvieh und Saatgut gab es nach kurzer Zeit nicht mehr, jüngere männliche Bevölkerungsteile wurden zu einem der Heere rekrutiert. Menschen flohen in die Wälder, in kriegsentlegene Gebiete oder „werden von
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einer entmenschten Soldateska totgeschlagen oder sterben an Unterernährung und eingeschleppten Seuchen“ (Quasten 2006: 140). Über viele Jahre blieben vollständig zerstörte Siedlungen und ein fast menschenleeres Land zurück. Doch auch der Friede von Münster und Osnabrück (1648) bedeutete im Land an Saar und Blies noch kein Ende der Kampfhandlungen. Erst die Friedensschlüsse Frankreichs mit Spanien (1659) und Lothringen (1661) ermöglichten einen zaghaften Wiederaufbau, der jedoch durch die rasch folgenden Feldzüge König Ludwigs XIV. wieder unterbrochen wurde. Physischer Ausdruck des Expansionswillens Frankreichs in dieser Zeit ist die Gründung der Vaubanschen Festungsstadt Saarlouis, die mit der nun ausgebauten nassau-saarbrückischen Landfestung Homburg Teil eines vom Ärmelkanal bis Hünningen bei Basel reichenden Festungsgürtels waren. Doch schon bald gelangte – mit Ausnahme von Saarlouis und einem eng umgrenzten Umland – der größte Teil der Saarprovinz infolge des Friedens von Rijswijk im Jahr 1697 wiederum an das Deutsche Reich. Erst in den 1730er-Jahren fand eine politische, ökonomische, soziale und kulturelle Stabilisierung des Raumes an Saar und Blies statt. Diese wurde durch eine herrschaftlich gelenkte Ansiedlung von französischen Hugenotten, Tirolern und Schweizern flankiert (Müller 1976, Hoppstädter/Herrmann/ Klein 1977, Quasten 2006, Herrmann 2008). Bis zur im Herbst 1792 einsetzenden Besatzung des Landes an Saar und Blies durch französische Revolutionstruppen entwickelten sich seit den 1730erJahren die Territorien des Raumes unter dem Einfluss des Gedankengutes der Aufklärung und des wirtschaftlichen Aufschwungs. Herzog Christian IV. von Pfalz-Zweibrücken (1722-1775), Marianne von der Leyen (1745-1804) der Reichsritterschaft von der Leyen (insbesondere im Bliesgau), die Fürsten Wilhelm Heinrich (1718-1768) und Ludwig (1745-1794) bemühten sich um Verbesserungen in Verwaltung und Rechtspflege, im Bildungs-, Wohlfahrts- und Medizinalwesen. Im merkantilistischen Geist „nutzten sie intensiver die natürlichen Reichtümer des Landes und förderten das geistige und künstlerische Leben, indem sie das kirchliche, kommunale und private Bauen anregten, vor allem aber sich selbst prachtvolle Schlösser mit weitläufigen Gärten anlegen ließen, die heute bis auf wenige geringe Reste in Ottweiler, Saarbrücken und Gutenbrunn verschwunden sind“ (Herrmann 1989a: 18). Die barocken Altstädte von Alt-Saarbrücken (mit Schloss und Ludwigskirche; Abbildung 3), St. Johann und Blieskastel dokumentieren bis heute die kurze ambivalente ökonomische und städtebauliche Blüte jener Zeit (Hoppstädter/ Herrmann/Klein 1977). Infolge des Friedens von Lunéville von 1801 wurden der Bevölkerung der linksrheinischen Gebiete die vollen französischen Bürgerrechte gewährt – damit fand der Prozess der Bauernbefreiung im Raum an Saar und Blies seinen Ab-
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schluss. Die Verwaltung des Landes wurde nach französischem Vorbild organisiert und das Land an Saar und Blies vier verschiedenen Departements zugeteilt (dem Mosel-Departement mit Hauptstadt Metz, dem Saar-Departement mit Verwaltungssitz Trier, dem Departement Donnersberg mit Verwaltungssitz Mainz und dem Wälderdepartement). Dem Raum an Saar und Blies wurde schrittweise das französische Rechts-, Wirtschafts- und Sozialsystem mit folgenden Eckpunkten übertragen (Herrmann 2008):
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Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz und hinsichtlich der Besteuerung, Gleiches Recht für Stadt- und Landgemeinden, Neugliederung des Gerichtswesens, Einführung des öffentlichen und mündlichen Anklageprozesses, Schwurgerichte, besetzt mit Laienschöffen, Aufhebung des Zunftwesens und Einführung der Gewerbefreiheit, Abschaffung der Feudalrechte von Adel und Klerus.
Abbildung 3: Das Saarbrücker Schloss.3 (Foto: Olaf Kühne)
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Symbol für Macht, Feudalismus, „steinernen Beleg für die zeitweise Annäherung und Abhängigkeit von Frankreich […,] als Monument für das Selbstbewusstsein sowohl verantwortungslose als auch verantwortungsbewusster Regenten“ (Klimmt 2007: 77), für den Monarchisten „Symbol für vergangene bessere Zeiten“ (Klimmt 2007: 77) und – aufgrund des
Mit der Einführung des französischen code civil wurde in der Saargegend die Realerbteilung gefestigt, die zu einer weiteren Flurzersplitterung und Verarmung der ländlichen Bevölkerung führte.
3.2 Zwischen Preußen und Bayern, zwischen Agrarland und Industrierevier – die Entwicklung zwischen 1815 und 1918 Die staatliche Neuordnung des Raumes an Saar und Blies infolge des Zweiten Pariser Friedens von 1815 bedeutete eine Verringerung der Zahl der territorialen Zugehörigkeiten im Vergleich zur vornapoleonischen Zeit, jedoch noch keine territoriale Zusammenfassung des Raumes (Abbildungen 4a und 4b). Der Hauptteil des heutigen Saarlandes mit den Städten Saarbrücken und Saarlouis wurde dem Königreich Preußen zugeteilt, der östliche Teil des heutigen Saarlandes fiel an das Königreich Bayern, im Nordosten erhielt das oldenburgische Fürstentum Birkenfeld und das sachsen-coburgische Fürstentum Lichtenberg (mit Hauptort St. Wendel) Teile des heutigen Saarlandes. Diese territoriale Gliederung blieb – mit Ausnahme des Kaufs des Fürstentums Lichtenberg durch Preußen im Jahr 1834 – bis zum Inkrafttreten des Versailler Vertrages (1920) erhalten. Ein regionales oder nationales Bewusstsein war zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgeprägt, auch spielten „Sprache und Volkstum […] bei der neuen Grenzziehung noch keine Rolle“ (Herrmann 2008: 25). Die territoriale Neugliederung wurde jedoch durchaus kritisch aufgenommen, „da die Mehrheit der Bevölkerung in einen Staatsverband integriert wurde, dem sie geschichtlich nicht verbunden war und dessen Rechtswesen weniger fortschrittlich war als der im Linksrheinischen als Rheinisches Recht weiterbestehende französische Code civil“ (Paul 1989: 23). Wobei dies die preußischen Teile des heutigen Saarlandes betraf, nicht die bayerischen: Hier blieben die Errungenschaften der Französischen Revolution – die Trennung von Justiz und Verwaltung, die Aufhebung der Privilegien des Adels, die Einrichtung von Schwurgerichten – erhalten. So entwickelten sich auch die Städte Zweibrücken und Homburg früh zu Zentren der liberalen Bewegung im Südwesten Deutschlands. Der Übergang von der agrarisch-ständischen Gesellschaft zu einer modernen kapitalistischen Gesellschaft wies im preußischen Teil des Landes einen Sonderweg im Vergleich zu anderen Industrieregionen Deutschlands auf: Bereits im Jahr 1751 wurden die noch bescheidenen Kohlegruben von Nassau-Saar-
postmodernen Mittelrisaliten – Symbol für einen respektlosen Umgangs mit historischer Bausubstanz.
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brücken durch Wilhelm Heinrich verstaatlicht. Hierdurch wurde der preußische Staat 1815 mit einem Schlag größter Unternehmer an der Saar. Damit hatte der Saarbergbau zwar einerseits einen kapitalkräftigen Investor, andererseits verweigerte dieser eine Demokratisierung der Produktionsverhältnisse (Paul 1989).
Abbildung 4a: Wechselnde territoriale Zugehörigkeiten der Saarregion in der Geschichte – 1789. (nach Herrmann 1989a, S.19, verändert) 52
Abbildung 4b: Wechselnde territoriale Zugehörigkeiten der Saarregion in der Geschichte – 1817 (nach Herrmann 1989b, S.48, verändert) Die Unterordnung des Bergbaus unter preußisch-staatliche Kontrolle bedeutete eine Verzögerung der Differenzierung der Gesellschaft, zumal auch führende Industrielle (etwa Carl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg, der „König von Saarabien“, wie ihn der Liberale Friedrich Naumann nannte) ein nahezu symbiotisches Verhältnis zum preußischen Staat pflegten (vgl. Kühne 2008). Die Gesellschaft im preußischen Teil des Raumes an Saar und Blies begann sich zu dichotomisieren: Einer kleinen preußisch-protestantisch-bürgerlichen Oberschicht stand eine große katholisch-agroproletarische Unterschicht gegenüber. Erst seit den 1860er-Jahren wandelte sich der antipreußische Liberalismus „hin zum regierungsfreundlichen Nationalliberalismus“, der „in der Aussöhnung mit der preußischen Obrigkeit“ (Paul 1989: 26) einen vorläufigen Höhepunkt fand und im sogenannten „Spichern-Erlebnis“ und der nationalen Einigungseuphorie nach 1871 gipfelte. Nach der kurzzeitigen Besetzung Saarbrückens durch französische Truppen zu Beginn des Deutsch-Französischen Krieges im August
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1870 und dem Sieg preußischer Truppen am 6. August 1870 in der Schlacht bei dem benachbarten Spichern „wurde Preußen als Schutzmacht des saarländischen Bürgertums bejubelt“. Der Patriotismus wandelte sich zu einem (stark antifranzösischen) Nationalismus und überdeckte zunächst räumliche, ökonomische, konfessionelle und soziale Gegensätze. Nach der Reichsgründung von 1871 formierten sich die sozialen und konfessionellen Gegensätze jedoch sukzessive – verstärkt durch den Kulturkampf – zu parteipolitischen Lagern, mit jeweils eigenständigen Orientierungs- und Deutungsmustern. Durch das preußische Dreiklassenwahlrecht, ein System staatlicher und betrieblicher Wahlbeeinflussung, blieb der politische Einfluss des protestantisch-nationalliberalen Lagers überrepräsentiert, während das katholische Zentrum zur bedeutendsten Oppositionspartei wurde. Sozialdemokratische Tendenzen entwickelten sich – aufgrund einer repressiven Politik seitens des preußischen Staates und der Unternehmer – erst spät. Sie erlangten eine im Vergleich zu anderen Industrierevieren jedoch noch immer deutlich geringere Bedeutung (vgl. Herrmann/Sante 1972). Ein wesentliches Mittel, die Arbeiter einerseits zu immobilisieren, andererseits dem kapitalistischen Wirtschaftssystem der Moderne gefügig – und sozialdemokratischen, sozialistischen und kommunistischen Tendenzen schwerer zugänglich – zu machen, war in der Saarregion das System der Prämienhäuser. Durch den Arbeitgeber (ob nun als preußischer Staat oder Schwerindustrieller) wurde mittels Darlehen der Bau von Eigenheimen gefördert. Dadurch wurden Arbeiter an den eigenen Betrieb gebunden. Im Saarbergbau hatten „bereits 1893 […] zwei Drittel der Kameraden ein eigenes Haus“ (Slotta 2002: 125). Dabei war das eigene Haus mehr als eine bloße Unterkunft, es war vielmehr Statussymbol (Slotta 2002: 125): „Wer ein Haus besaß, galt etwas. War dies nicht der Fall, dann hieß es geringschätzig: ‚Der hat noch net emol e Haus’“. Die disziplinierende Wirkung des Prämienhausbaus wird aus den Vergabekriterien für Kredite deutlich: Die Prämien wurden nur bei guter Führung vergeben, bei Disziplinarvergehen, hierzu zählten auch Streiks, konnte die Summe zurückgefordert werden. Die Errichtung von Prämienhäusern zeigt einen Verbürgerlichungsprozess der Arbeiterklasse im Saarrevier bereits im 19. Jahrhundert, wie ihn Bourdieu (2002) allgemein im Zusammenhang mit Wohneigentumsbildung sowie Disziplinierung und Konformierung beschreibt.
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Abbildung 5a: Die topographische Lage Saarbrückens um die Zeit der Vereinigung der Stadt. 55
Abbildung 5b: Die topographische Lage Saarbrückens heute.
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Insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzog sich – auch im Zusammenhang mit der Ausbreitung von Prämienhauskolonien – eine rasante Verstädterung der Saarregion – bedingt durch eine rasante Industrialisierung des Raumes. So stieg die Einwohnerzahl des ehemaligen Dorfes Neunkirchen zwischen 1861 und 1900 von 5.587 auf 29.187, das damit zu dieser Zeit die einwohnerstärkste Siedlung im Raum an Saar und Blies war, wobei die funktionale Ausstattung der Siedlung Ende des 19. Jahrhunderts jedoch allenfalls Landstadtniveau aufwies (Frühauf 2005). Mit der raschen Verstädterung ging also noch keine wesentliche Urbanisierung einher. Diese erhielt erst einen Schub, als im Jahr 1909 die Saarstädte St. Johann, Malstatt-Burbach und Saarbrücken (heute Alt-Saarbrücken) zur Stadt Saarbrücken vereinigt wurden (Abbildung 5). Damit wurde die Stadt zur größten preußischen Siedlung zwischen Rhein und französischer Grenze und entfaltete zunehmend auch ökonomische, soziale und kulturelle Zentrumsqualitäten im Bereich des heutigen Saarlandes. Mit dem Bau von Eisenbahnlinien nach Saarbrücken einerseits und Ludwigshafen und Bingerbrück andererseits in den 1850er-Jahren ließen sich die Transportkosten drastisch senken. Der u.a. daraus erwachsende rasche Aufschwung der Industrie in der Saarregion zwischen 1849 und 1873 bedeutete eine radikale Veränderung der ökonomischen Grundlage der Region. Mit der Modernisierung der Wirtschaft verbunden war aber auch die der individuellen Lebenswelten. Zu Beginn dieser Periode gehörte die Mehrzahl der Bevölkerung zum primären Wirtschaftssektor, an ihrem Ende zum sekundären Wirtschaftssektor. Die Förderkapazität verachtfachte sich, die Roheisenproduktion verzwölffachte sich. Die extensive Akkumulation bedingte einen immer größeren, nahezu proportional steigenden Einsatz der Produktionsfaktoren (Krajewski 1984, Horch 1985, Karbach/Thomes 1994). Die Modernisierung der ländlichen Räume in der Saarregion vollzog sich rückgekoppelt mit der Modernisierung der industriellen Zentren unterschiedlich rasch und insgesamt eher schleppend. Die Agrarrevolution des 19. Jahrhunderts hatte die Voraussetzungen für die Entstehung einer künftigen Lohnarbeiterschaft geschaffen. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden in der Landwirtschaft in der Region von Saar und Blies mehr Arbeitskräfte freigesetzt als in der sich entwickelnden Industrie Beschäftigung finden konnten. Dadurch entstanden zwei Charakteristika des Saarreviers, denn einerseits entstand ein Konkurrenzdruck unter den Arbeitskräften, der eine gewerkschaftliche oder gewerkschaftsähnliche Solidarisierung erschwerte und andererseits wurde der Arbeitskräftebedarf – im Gegensatz zu anderen deutschen Industrierevieren, wie dem Ruhrgebiet oder Oberschlesien – durch Arbeitskräfte aus der Region gedeckt (Horch 1990, Ames 2007). Infolge der relativen Nähe zwischen Arbeits- und Wohnort wird die Landwirtschaft – auch bei Beschäftigung in der Industrie – zunächst
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nicht aufgegeben: Es entstand mit den Arbeiterbauern eine Übergangsform zwischen industriell-städtischer und ländlicher Lebenswelten, die sich als eine „unvollständige Urbanisierung der Arbeiterschaft“ (Häußermann / Siebel 1996) bezeichnen lässt. Dabei war die für die Modernisierung typische „doppelte Befreiung“ (Marx 1957) in der Saarregion deutlich modifiziert: Bereits durch die Flurzersplitterung aufgrund der Realerbteilung und die daraus erwachsende Konkurrenz um Boden sowie die sich sukzessive entwickelnde Tätigkeit außerhalb der Landwirtschaft war die Bevölkerung mit dem „grundlegenden Verhältnis einer kapitalistischen Industriegesellschaft, der Konkurrenz, bereits vertraut“ (Horch 1990: 53). Gleichzeitig waren große Teile der Arbeiter(bauern)schaft nicht frei von Grundeigentum. Durch Grundeigentum und die Rekrutierung des industriellen Arbeitskräftebedarfs innerhalb der Saarregion entstand ein Phänomen, das idealtypischerweise erst in der Phase des Massenkonsums der Moderne charakteristisch zu nennen ist: das Pendlerwesen. Bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts war es üblich, zwischen Wohnort und Arbeitsort täglich oder wöchentlich zu pendeln (Kühne 2007; vgl. auch Bierbrauer 1990). Ende des 19. Jahrhunderts wurden die negativen Folgen der nicht vollzogenen Differenzierung von preußischem Staat und Saarbergbau immer deutlicher: Auf Anzeichen einer strukturellen Krise reagierte der preußische Bergfiskus mit einer bürokratischen Betriebsführung und autoritärer Arbeitsverfassung, mit der er „in immer stärkeren Widerspruch zu modernen Abbautechniken“ (Horch 1989: 61) geriet: „Die Bergwerksdirektion versteifte sich jedoch auf ihre alten Prinzipien und glich Produktivitätsverluste dadurch aus, dass sie ihre Monopolposition zu Lasten der anderen Unternehmen stärker ausreizte“. Die ökonomische Lage der Arbeiterschaft im Land an Saar und Blies verbesserte sich erst zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, nachdem der Druck der Überbevölkerung nachließ und der Produktionsfaktor Arbeit einen gewissen Grad an Knappheit aufwies. Die mangelnden politischen und betrieblichen Einflussmöglichkeiten wurden in der Arbeiterschaft der Saarregion mit einem Rückzug in das Familiäre, die katholische Kirche, Vereine und Kirmes zu kompensieren versucht (Horch 1985, Karbach/Thomes 1994, Ames 2007, vgl. auch Krause 1990).
3.3 Zwischen Frankreich, Deutschland, Völkerbund, „Drittem Reich“ und Autonomie – die Entwicklung zwischen 1918 und 1957/1959 Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges begann für den Raum an Saar und Blies etwa ein halbes Jahrhundert der politischen, ökonomischen und sozialen Instabilität. Zu den allgemeinen nationalen, kontinentalen und globalen Phänomenen
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der Inflation, Weltwirtschaftskrise, NS-Diktatur und des Zweiten Weltkrieges treten für die Saargegend spezifische Faktoren (Herrmann 1989b):
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Die deutsche Regierungsgewalt wurde zugunsten einer fünfzehnjährigen Mandatsverwaltung durch eine vom Völkerbund eingesetzte internationale Regierungskommission suspendiert. Der Bevölkerung wurde dabei eine politische Partizipation in Form einer parlamentarischen Demokratie – wie sie damals in West- und Mitteleuropa üblich war – weitgehend verweigert. Die Zollgrenzen wurden zu dieser Zeit mehrfach verlegt – verbunden mit einer jeweiligen Umorientierung auf den deutschen bzw. französischen Markt. Die erst junge Großstadt Saarbrücken verlor einen großen Teil ihres Hinterlandes. Dadurch wurde ihr zentralörtlicher Verfechtungsraum auf das Industrierevier und die zugehörigen Arbeiterwohnsiedlungen beschränkt.
Durch die Regelungen des Versailler Vertrages wurde aus der Region an Saar und Blies erstmals ein einheitliches politisches Territorium geschaffen, wodurch die Region einen „kräftigen Identitätsschub“ (Paul 1989: 29) erlebte. Die Sonderentwicklung der Region war durch den Kompromisscharakter des Versailler Vertrages geprägt, der sowohl das nationale Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung als auch das französische Sicherheits- und Wirtschaftsinteresse berücksichtigte. Frankreich war mit seinem Ziel der Annexion des Saarindustriereviers gescheitert. Stattdessen sollte das Saarrevier 15 Jahre treuhänderisch durch den Völkerbund (durch eine Regierungskommission, der auch je ein Franzose und eine Person aus dem Saarrevier angehörten) verwaltet werden. Im Jahr 1935 sollte die Bevölkerung des solchermaßen entstandenen „Saargebietes“ zwischen dem Sonderstatus des Völkerbundes, der Vereinigung mit Frankreich oder Deutschland entscheiden. Die vormals preußischen und bayerischen Staatsgruben gingen einschließlich ihrer Nebenanlagen wie Kraftwerken, Werkstätten, Kokereien, Wohn- und Verwaltungsgebäuden sowie sozialen Einrichtungen frei von Schulden und Lasten nun als Reparationsleistungen für die Zerstörung der nordfranzösischen Zechen durch deutsche Truppen in den Besitz des französischen Staates über. Dies galt auch für alle Eisenbahnlinien links der Saar. Zu den existierenden inneren sozialen, konfessionellen und ökonomischen Gegensätzen im Saargebiet gesellten sich in der Völkerbundszeit auch politische und kulturelle im nationalen und internationalen Maßstab: Das Saargebiet blieb im Brennpunkt des deutsch-französischen Interessengegensatzes und hatte den Charakter einer 59
Kolonie, wobei die Entscheidungen über deren Entwicklung in Genf, Paris und Berlin gefasst wurden. Frankreich versuchte seinen Einfluss auf das Saargebiet in mehreren Dimensionen auszubauen (Paul 1989: 31): „Während es mit seiner Kulturpropaganda weitgehend erfolglos blieb, die französischen Dominialschulen quantitativ keinen Einfluss erreichten und der Plan einer Lösung des Saargebietes aus den Diözesen Trier und Speyer scheiterte, gelang es Paris, seinen wirtschaftlichen Einfluss zu stärken“. Dem gegenüber stand das Bemühen der Kommunen, Parteien und Gewerkschaften, die deutsche Kultur zu pflegen und zu fördern. So übernahm die Stadt Saarbrücken 1920 das Theater aus der Trägerschaft eines Theatervereins, gründete 1922 die Stadtbibliothek und 1924 ein städtisches Museum (Herrmann 2008). Zum 1. Juni 1923 wurde der französische Franc alleiniges Zahlungsmittel im Saargebiet. Damit wurde eine Zeit der unterschiedlichen Zahlungsmittel beendet: Die Bergleute in den an Frankreich gefallenen Gruben (und der Eisen schaffenden Industrie) wurden in Franken entlohnt, während bis zur Einführung der Frankenwährung zum 1. Juni 1923 weite Teile der übrigen Erwerbstätigen ihre Löhne und Gehälter in – zu dieser Zeit hochgradig inflationärer – Mark erhielten, wodurch soziale Spannungen zwischen Franken- und Markentlohnten nicht zu vermeiden waren. Mit rund 60 % der Aktienanteile befand sich die saarländische Industrie mehrheitlich in der Hand französischer Aktionäre. Von deutscher Seite aus bemühten sich deutsche Dienststellen und private Organisationen (wie der „Bund der Saarvereine“) unter Nutzung nationalistischer Propaganda um die Erhaltung und Verbreitung deutscher Identitätsbezüge im Saargebiet. Zwar sah der Versailler Vertrag keine politische Partizipation auf Landesebene während der Völkerbundszeit vor, doch wurde – nach Protesten beim Völkerbund in Genf – im Jahr 1922 der Landesrat geschaffen, eine Volksvertretung, die zwar aus allgemeinen, freien, gleichen, direkten und geheimen Wahlen hervorging, jedoch gegenüber der Regierungskommission lediglich über eingeschränkte beratende Rechte verfügte. Stärkste Partei im Landesrat war stets das katholische Zentrum, mit Stimmanteilen zwischen 43 und 48 %, während – mit der Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts – die Nachfolgepartei der Nationalliberalen – die Deutsch-Saarländische Volkspartei (DSVP) als bedeutendste Repräsentantin des protestantischen Wirtschaftsbürgertums – ihre vorherrschende politische Stellung verlor und auch in der Völkerbundszeit weitere Bedeutungsverluste hinnehmen musste; ihr Stimmenanteil ging zwischen 1924 und 1932 von 14,8 auf 6,7 % zurück. Die beiden reinen Arbeiterparteien SPD und KPD hatten in der gesamten Völkerbundzeit nur vergleichsweise geringe Stimmenanteile, zur Zeit der Weltwirtschafskrise konnte die KPD mit 23,2 % sogar zweitstärkste Partei werden, während die SPD
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lediglich knapp 10 % der Stimmen erreichte. Hinsichtlich des Bekenntnisses zur Rückgliederung des Saargebietes zu Deutschland und in ihrer Ablehnung des Saarstatus waren sich diese Parteien einig, auch wenn sie von ihrer politischen Grundüberzeugung unterschiedliche Ziele verfolgten (Paul 1989: 32): „Der saarländische Nationalismus der Völkerbundzeit überwölbte wie bisher die in verschiedene Teilkulturen und Milieus fragmentierte saarländische Gesellschaft, bezog die beiden linken Arbeiterparteien in den älteren nationalen Konsens des bürgerlichen Lagers ein und ließ dahinter die für die Weimarer Republik ansonsten typische Dialektik von Revolution und Gegenrevolution zurücktreten“. Die breite Akzeptanz der Rückgliederungsideologie und eine hohe Stabilität katholischer und proletarischer Milieus ließen sowohl autonomistischen als auch nationalsozialistischen Strömungen wenige Entfaltungsmöglichkeiten. So kam die seit Beginn der 1920er-Jahre existierende „NSDAP des Saargebietes“ 1932 auf lediglich 6,7 % der Stimmen. Ökonomisch wirkte die Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg mitprägend: Neben der Übertragung der Saargruben in den Besitz des französischen Staates bedeutete die Angliederung Elsass-Lothringens an Frankreich eine erhebliche Einschränkung der Wettbewerbsfähigkeit. Der Warenverkehr zwischen Saargebiet und Elsass-Lothringen wurde scharfen Kontrollen unterworfen, die saarländischen Unternehmen verloren ihre Eisenerzkonzessionen und ihre Hütten in Elsass-Lothringen (aber auch in den 1871 französisch gebliebenen Regionen). Von diesem Zeitpunkt an „trat für längere Zeit die Konkurrenz an Stelle der bisherigen Kooperation zwischen der lothringischen und der saarländischen Eisen erzeugenden Industrie“ (Herrmann 1989b: 63). Zudem schied das ökonomisch eng mit dem Saargebiet verflochtene Luxemburg aus dem Deutschen Zollverein aus und wurde somit Zollausland. Der Übergang der Saargruben in französischen Besitz lässt sich als problembehaftet charakterisieren. Zwar bedeutete die Verlagerung der auswärtigen Absatzmärkte durch die französische Grubenverwaltung – die Administration des Mines domaniales françaises de la Sarre – nach Frankreich zunächst hohe Absatzmengen, doch wurde die Einführung saarländischer Kohle nach Frankreich in ähnlichem Maße zurückgefahren wie die privaten nordfranzösischen Zechen nach Instandsetzung ihrer Kriegsschäden ihre Kohleförderung ausbauen konnten. Infolge dieser Absatzpolitik der französischen Grubenverwaltung gingen den saarländischen Gruben ihre süddeutschen Absatzmärkte verloren, ohne dass diese dauerhaft durch französische Absatzmärkte kompensiert worden wären. Auch nahm die zunächst große Investitionsbereitschaft des französischen Staates deutlich ab, nachdem deutlich wurde, dass die Bevölkerung des Saargebietes in der Abstimmung 1935 für eine Rückkehr in das Deutsche Reich votieren würde. So waren die Jahre seit 1930 „durch ständige Verluste, Aufzehrung
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der Reserven, technischen Stillstand, schließlich durch Stilllegung einiger Gruben gekennzeichnet“ (Herrmann 1989b: 64; Rechtschreibung angepasst). Die Eingliederung des Saargebietes in das französische Zollsystem erschwerte den Handel mit dem Deutschen Reich, ohne dass der Verlust durch einen Austausch mit Frankreich zu kompensieren gewesen wäre. Politisch bedeutete die Machteinsetzung Hitlers 1933 das Auseinanderbrechen der bisherigen Einmütigkeit hinsichtlich der nationalen Frage und „eine politische Sonderentwicklung […], deren Bedeutung erst nach dem Zweiten Weltkrieg offenkundig wurde“ (Paul 1989: 33). Die bürgerlich-liberalen Parteien und auch das katholische Zentrum schlossen sich zur „Deutschen Front“ zusammen, die – durch die NSDAP infiltriert – mit dem propagandistisch-euphemistischen Schlagwort „Deutsche Mutter – heim zu Dir!“ für eine Rückgliederung der Saar an das nationalsozialistische Deutschland eintrat, während für die Sozialdemokraten – angesichts der Entwicklungen in NaziDeutschland – eine Rückgliederung undenkbar schien und sie sich beim Völkerbund – letztlich erfolglos – für eine Verschiebung des Abstimmungstermins einsetzten. Die Kommunisten setzten währenddessen ihre Angriffe gegen Regierungskommission und Sozialdemokraten mit dem Ziel fort, eine Räterepublik zu etablieren. Erst Mitte 1934, nachdem der Völkerbundsrat den 13. Januar 1935 als Tag der Volksabstimmung festgelegt hatte, kam es zur Gründung eines Aktionsbündnisses zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten für ein Verbleiben des Saargebietes unter Völkerbundsmandat unter der Parole „Für Deutschland, gegen Hitler“. Die durch ein internationales Polizei-Kontingent überwachte und weitgehend korrekt durchgeführte Abstimmung am 13. Januar 1935 endete nach monatelanger durch Propaganda, Verunglimpfung und Terror geprägter Wahlbeeinflussung seitens der „Deutschen Front“ mit einer Zustimmung von 90,3 % für die Rückgliederung des Saargebietes an Deutschland. Damit war die nationale Einheit – auch von vielen Wählern von Sozialdemokraten und Kommunisten – höher bewertet worden als das Fehlen demokratischer Zustände in Deutschland. Mit der Rückgliederung am 1. März 1935 geriet das Saargebiet in den Zustand zentralistischer Fremdbestimmung durch Berlin und den pfälzischen NSDAP-Gauleiter Bürckel. Diese Fremdbestimmung, der nationalsozialistische Terror und Kriegsvorbereitungen provozierten die Entwicklung neuer „Gegenkräfte in Gestalt der rückblickenden Idealisierung der einst so verhassten Völkerbundszeit und in der Idee der Saar als Keimzelle eines vereinigten Europas“ (Paul 1989: 38). Infolge der Angst vor politischer oder rassischer Verfolgung emigrierten bis 1938 mindestens 6.000 Saarländerinnen und Saarländer.
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Die weitere Ausprägung einer saarländischen regionalen Identität wurde in der Zeit des Nationalsozialismus nicht nur nicht verhindert, sondern bisweilen – unbewusst – in mehreren Dimensionen gefördert (Paul 1989):
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Entgegen der vielfach geäußerten Erwartungen wurde das Land an Saar und Blies nicht wieder an die preußische Rheinprovinz und die bayerische Pfalz angegliedert, sondern blieb als territoriale Einheit mit dem neuen Namen „Saarland“ bestehen, die reichsunmittelbar dem pfälzischen Gauleiter Bürckel unterstellt wurde – was mit der Vertiefung der Animositäten zwischen Saarländern und Pfälzern verbunden war. Die Reduktion des Nationalsozialismus auf die nationale Frage im Abstimmungskampf erwies sich für eine dauerhafte Integration des liberal-bürgerlichen und des katholischen Milieus als nicht hinreichend tragfähig für deren Integration in die „NS-Volksgemeinschaft“. Die Erfüllung der propagandistischen Versprechen im Abstimmungskampf blieb aus – oder musste (wie das heutige Saarbrücker Staatstheater oder das Homburger Waldstadion) durch Eigenleistung der ansässigen Bevölkerung erbracht werden.
Die darauf folgende Desillusionierung gestaltete das Verhältnis zu den nationalsozialistischen Machthabern distanziert bis kritisch – der Spruch „Deutsch ist die Saar, wär’ sie nur wieder, was sie war“ fand eine weite Verbreitung. Die Entfaltung einer nationalsozialistischen Hegemonialkultur wurde durch das Fortbestehen katholischer und linksproletarischer Milieus erschwert, wie sich in Protesten gegen die Abschaffung des konfessionellen Schulwesens, gegen neue Devisenordnungen seitens saarländischer Lothringengänger und in der Verweigerung von Sonntagsschichten durch die saarländischen Bergmänner äußerte. Die Erfüllung der seitens Nazi-Deutschland geäußerten Versprechen hinsichtlich eines wirtschaftlichen Aufschwungs wurde durch den Rückgliederungsschock für die saarländische Wirtschaft unterminiert: Gegen die Zahlung von 900 Millionen Franken kaufte das Deutsche Reich die Saargruben samt Nebeneinrichtungen, Eisenbahnen und aller anderen unbeweglichen Güter von Frankreich – aufgebracht durch die Abzweigung von 95 % der im Saarland in Umlauf befindlichen Franken und anderen ausländischen Zahlungsmitteln sowie unentgeltliche Kohlelieferungen – zurück. Mit der Rückgliederung an Deutschland gingen auch die französischen Absatzmärkte verloren und konnten nur langsam durch den Aufbau von Absatzverbindungen nach Deutschland kompensiert werden. Die Investitionen des Deutschen Reiches in die veraltete saarländische Montanindustrie und die Vergabe von reichsverbürgten Kleinkrediten 63
an klein- und mittelständische Betriebe zur Überwindung der Rückgliederungskrise griffen erst zeitverzögert (Herrmann 1989b). Erst mit diesem wirtschaftlichen Aufschwung seit 1938 bei gleichzeitiger Integration saarländischer Jugendlicher in die nationalsozialistischen Jugendverbände gelang es dem NSRegime, sich im Saarland stärker zu etablieren. Infolge der Kriegsereignisse wurde das Saarland seiner territorialen Einheit beraubt und zunächst 1940 mit der Pfalz zwangsvereinigt und 1941, nach der Annexion des Moseldepartements, dem Gau Westmark unter dem zum „Reichsstatthalter in der Westmark und Chef der Zivilverwaltung Lothringens“ avancierten Gauleiters Bürckel zugeschlagen. Der Zweite Weltkrieg bedeutete für das schwerindustrialisierte Saarland zahlreiche Luftangriffe mit Zerstörungen von 60 % des Wohnraums, 40 % der öffentlichen Gebäude in den Städten und 55 % aller Brücken. Die Desillusionierung hinsichtlich der Rückgliederung des Saarlandes an Deutschland erreichte ihren Höhepunkt durch die vielfach unfreundliche bis feindliche Aufnahme der – zu Beginn und zum Ende des Krieges aus dem Operationsgebiet des Heeres, der sogenannten „Roten Zone“ – evakuierten saarländischen Bevölkerung in den „Bergungsgebieten“, in denen die Saarländerinnen und Saarländer als „Saarfranzosen“ beschimpft wurden. Diese Erfahrung trug wesentlich zur der Entwicklung einer regionalen Identität bei (Herrmann/Sante 1972, Paul 1989). Mit der Besetzung des Saarlandes durch amerikanische Streitkräfte bis zum 21. März 1945 wurde der nationalsozialistischen Herrschaft ein Ende gesetzt und es begann erneut ein regionaler Sonderweg, der in der Gründung eines autonomen Saarstaates gipfelte. Zunächst zielte die französische Politik – wie 1918 – auf die Annexion des Saarlandes, konnte ihre Forderungen allerdings nicht gegen die anderen Alliierten durchsetzen, sodass das Saarland lediglich unter französische Besatzung kam. Nach dem Scheitern der Annexionsbemühungen wurde es zum Ziel der französischen Saarpolitik, einen politischen und ökonomischen Sonderweg für das Saarland durchzusetzen. Wesentliche Schritte auf diesem Weg waren dabei (Paul 1989, Hudemann 1995):
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Die Unterstellung der Saargruben unter französische Verwaltung zu Beginn des Jahres 1946, die Mitteilung der französischen Regierung an die Siegermächte, das Saarland währungspolitisch und ökonomisch Frankreich anzugliedern, die Ausgliederung des Saarlandes aus der Zuständigkeit des Alliierten Kontrollrates, die Erweiterung des im Versailler Vertrag definierten Saargebietes um einige landwirtschaftlich geprägte Gebiete und
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die Errichtung französischer Zollgrenzkontrollstellen entlang der Grenze zur restlichen Besatzungszone.
Abbildung 6: Alltagsprodukte im Saarstaat. Dosen für Salzletten der Marke „STIXI“ Bedrucktes Weißblech, um 1952, Kleinbildkamera „Favor“ der Firma Dr. Wöhler“ – Optische Geräte, Objektiv Dr. Wöhler „Docar“, Seriennummer 1959, um 1952, Saarländisches Tabakerzeugnisse aus den Jahren 1950 bis 1954: 1950 bis 1954, „Niko“ Nicola Kockler St. Wendel, „Tula“ Wezet, Saarbrücken, „Sultan“ Tabakwarenfabrik Saarlouis GmbH, „Halbe Fünf“ Jyldis, Saarlouis, „Lasso“ Jyldis, Saarlouis (Historisches Museum Saar). Durch die Zollgrenze zwischen dem Saarland und der übrigen Besatzungszone wurde der freie Grenzverkehr für Waren, Personen und Geld unterbunden, wodurch die Möglichkeit der Bevölkerung zur eigenständigen Versorgung mit Lebensmitteln in den nördlich und östlich angrenzenden, agrarisch strukturierten Gebieten drastisch reduziert wurde. Ähnlich der Kulturpolitik der frühen 1920er-Jahre bemühte sich die französische Militärregierung darum, den franzö-
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sischen Einfluss auf das Schulwesen und das kulturelle Leben zu stärken (Herrmann/Sante 1972). Bereits am 15. September 1946 fanden die ersten freien Wahlen für die kommunalen Räte statt. Aus diesen Wahlen ging die an die Politik der Zentrumspartei anknüpfende „Christliche Volkspartei“ (CVP) mit 52,3 % der Stimmen als Siegerin hervor. Die sich 1947 von der SPD trennende „Sozialdemokratische Partei des Saarlandes“ (SPS) erreichte 25,2 %, die saarländischen Kommunisten 9,1 %. Im Gegensatz zur Situation nach dem Ersten Weltkrieg gab es sowohl bei der CVP als auch bei der SPS einen übergreifenden Konsens für die Idee eines vereinigten Europas, in dem ein autonomer Saar-Staat eine Brückenfunktion zwischen den ehemaligen „Erbfeinden“ Deutschland und Frankreich einnehmen sollte. Diese Funktion manifestierte sich auch in den Ergebnissen der Verfassunggebenden Versammlung vom 8. November 1947, die aus den Wahlen vom 5. Oktober 1947 hervorgegangen waren (CVP: 51,2 %, SPS 33,8 %, Kommunisten 8,4 %). Sie machte aus der einst diskreditierten Idee der Autonomie und der Verständigung zu Frankreich ein Verfassungsprinzip (Paul 1989). Am 31. Dezember 1947 endete die Zeit der französischen Regierung, nachdem sich am 15. November 1947 die Verfassunggebende Versammlung als Landtag mit Gesetzeskompetenz konstituiert und am 18. Dezember 1947 Johannes Hoffmann sein Kabinett, gebildet aus CVP- und SPS-Politikern, vorgestellt hatte. Trotz der gesetzgebenden Vollmacht des Landtages blieb der Einfluss Frankreichs erheblich: Gilbert Grandval, Hoher Kommissar Frankreichs an der Saar, besaß Verordnungsrecht und Einspruchsrecht gegen saarländische Gesetze, die in Widerspruch zu den Prinzipien der politischen Autonomie und der wirtschaftlichen Integration des Saarlandes in den französischen Wirtschaftsraum standen. Bis zum Jahr 1952 gründete sich die Autonomiepolitik der Regierung Johannes Hoffmanns und Richard Kirns auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens. In besagtem Jahr begann sich eine nationale Opposition gegen die enge Bindung an Frankreich zu organisieren, zunehmend wurde die beschränkte Meinungsfreiheit im Saarstaat kritisiert. Diese gesellschaftliche Entwicklung bildete sich auch in der sich revidierenden Parteienlandschaft ab. Sowohl im katholischen als auch im proletarischen Milieu bildeten sich – mit den saarstaatstreuen Parteien konkurrierende – die Rückgliederung an Deutschland favorisierende Parteien: Oppositionspartei des katholischen Milieus wurde die CDUSaar, Oppositionsbestrebungen des proletarischen Milieus wurden in der Gründung der „Deutschen Sozialdemokratischen Partei“ (DSP) vereinigt. Die bedeutendste Oppositionspartei war jedoch die rechtsbürgerliche „Demokratische Partei Saar“ (DPS) unter Leitung des ehemaligen Leiters der Saarstelle der NSDAP Heinrich Schneider. Das Verbot von CDU und DPS verhinderte eine
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demokratische Auseinandersetzung mit der sich erneut stellenden nationalen Frage. Der Stimmungswandel der Bevölkerung zeigte sich deutlich in den Ergebnissen zur Landtagswahl am 20. November 1952. Zwar erreichten CVP und SPS rund 87 % der abgegebenen gültigen Stimmen, doch verbarg sich hinter den 24,5 % der abgegebenen ungültigen Stimmen der sich demokratisch nicht zu artikulierende Protest gegen die Politik der Landesregierung hinsichtlich der nationalen Frage (Paul 1989, Hannig 1995, Heinen 1996).
Abbildung 7: Wahlplakat zur Landtagswahl 1952. „Hast du das bereits vergessen?“ Entwurf: Petre Frantzen Fotolitho u. Offsetdruck Klincke & Co. GmbH, Saarbrücken 88 x 63 cm (Historisches Museum Saar). Hinsichtlich der westeuropäischen Integration wurde der Saarstaat immer stärker von deren Keimzelle zu einem Hindernis: Die Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich fanden immer häufiger unter Umgehung des Saarlandes statt. Darüber hinaus wurde die Lösung der zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich noch immer strittigen Saarfrage 67
von französischer Seite als Bedingung für die vollständige Souveränität der Bundesrepublik Deutschland und deren Integration in die NATO. Am 23. Oktober 1954 fanden die bundesdeutsch-französischen Verhandlungen mit der Unterzeichnung des „Abkommens über das Statut der Saar“ ein vorläufiges Ende. Gemäß diesem Abkommen sollte das Saarland einen europäischen Kommissar mit jenen Rechten erhalten, die zuvor Frankreich zustanden. Für alle übrigen Fragen sollte weiterhin die autonome Landesregierung zuständig sein. Der wirtschaftliche Anschluss an Frankreich sollte bis zur Schaffung einer europäischen Wirtschaftsordnung beibehalten, ferner sollten die Nutzungsrechte der Saargruben und deren Verwaltung an das Saarland übertragen werden. Über die Annahme des Saarstatus sollte in einer Volksabstimmung entschieden werden (Paul 1989).
Abbildung 8: Abstimmungskampf. „Bilder der Gewalt“ (Landesarchiv Saarbrücken, Bildersammlung: Presse Photo Actuelle, Nr. 310) Als Tag des Referendums wurde der 23. Oktober 1955 festgelegt, die sich im „Deutschen Heimatbund“ zusammenfassenden Oppositionsparteien CDU, DPS und DSP wurden drei Monate vor dem Referendum zugelassen. Der Abstimmungskampf wurde leidenschaftlich geführt. Den Parteien des „Heimatbundes“ gelang es, durch eine emotionale Propaganda und persönliche Angriffe („Der Dicke muss weg“ – gemeint war Johannes Hoffmann) alte nationalistische Ressentiments zu mobilisieren. Die Anhänger des Saarstatuts wurden als Separatisten diffamiert (Paul 1989, Hannig 1995). In dieser emotionalisierten Stimmung, die nur noch wenige Bezüge zum eigentlichen Gegenstand des Referen68
dums aufwies, sprachen sich in der Volksabstimmung 67,7 % gegen die Annahme des Saarstatus und lediglich 32,3 % dafür aus. Ministerpräsident Johannes Hoffmann trat noch in der Wahlnacht zurück und mit ihm die „öffentlich und ständig präsente“ Geschichte der leidvollen Jahre zwischen 1935 und 1945, „in der man sich für etwas entschieden hatte, das zunächst nationale Erfüllung versprach, letztlich aber zur Selbstzerstörung führte“ (Hannig 1995: 396). Die auf die Regierung Hoffmann folgende Übergangsregierung verfolgte das Hauptziel, möglichst rasch Landtagsneuwahlen zu organisieren. Diese Landtagswahlen am 18. Dezember 1955 gewannen die prodeutschen Parteien mit 63,9 % deutlich, wobei die CDU mit 25,4 % als stärkste Partei aus den Wahlen hervorging und mit Hubert Ney den Ministerpräsidenten einer aus CDU, DSP und DPS gebildeten Regierung stellte. Die am 10. Januar 1956 gebildete Regierung strebte die Eingliederung des Saarlandes in die Bundesrepublik Deutschland, die Aufhebung der Wirtschaftsunion mit Frankreich, aber auch ein vertrauensvolles Verhältnis zu Frankreich an. Der in Luxemburg zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich am 27. Oktober 1956 unterzeichnete Saarvertrag beinhaltete die politische Eingliederung des Landes in die Bundesrepublik Deutschland zum 1. Januar 1957. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Saarland innerhalb von 15 Jahren drei unterschiedlichen Wirtschaftsordnungen unterworfen: zunächst dem Fortbestand der Kriegswirtschaft, dann der protektionistisch-dirigistischen Wirtschaftsordnung Frankreichs und schließlich der Eingliederung in die freie Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland. Die Eingliederung in das französische Wirtschaftssystem – inklusive der Einführung des französischen Franken anstelle der nur wenige Monate gültigen Saarmark – löste den Zustrom französischer Konsumgüter aus und bedeutete zunächst ein Wohlstandsgefälle zwischen Saarland und den Besatzungszonen in Deutschland. Jedoch erreichten staatliche französische Investitionen und Kredite das Saarland nur spärlich und auch die Marshallplanhilfe blieb deutlich hinter den saarländischen Erwartungen zurück. Dadurch wurde zwar ein Wiederaufbau der saarländischen Industrie möglich, nicht aber deren Modernisierung. Unter anderem war die saarländische Wirtschaft zum Zeitpunkt der Eingliederung in das bundesdeutsche Wirtschaftssystem kaum wettbewerbsfähig. Auch hatten zahlreiche Unternehmen ihre Absatzmärkte in Deutschland – infolge des hohen Kostenniveaus im Frankenraum – verloren. Zwar gewährte die Bundesrepublik zahlreiche Rückgliederungshilfen in Form staatlicher Förderungen und Steuerermäßigungen, dennoch blieb das Wohlstandsniveau aufgrund einer vergleichsweise geringen Produktivität im bundesrepublikanischen Vergleich gering (vgl. Herrmann/Sante 1972, Herrmann 1989, Heinen 1996, Herrmann 2008).
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Abbildung 9: Abstimmungsergebnis nach Gemeinden in Prozent der Stimmen gegen das Saarstatut und für eine Vereinigung mit der Bundesrepublik Deutschland. (nach Altmeyer/Sinnwell 1958, S.92)
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Mit der Eingliederung des Saarlandes endete eine mehr als 150 Jahre dauernde Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Deutschland um das Land an Saar und Blies. Diese Auseinandersetzung hat einen Sonderweg der gesellschaftlichen Entwicklung induziert: Die politischen Auseinandersetzungen entbrannten seit 1918 weniger an schicht- oder milieuspezifischen Identitäten, sondern vielmehr an der nationalen Frage.
3.4 Die Saarregion als deutsches Bundesland – zwischen 1959 und heute Weder die politische (zum 1. Januar 1957) noch die ökonomische Angliederung des Saarlandes an die Bundesrepublik Deutschland zum 6. Juli 1959 als elftes Bundesland, dem sogenannten „Tag X“, konnten die Besonderheiten der Region, die sich unter anderem aus der wechselvollen politischen und wirtschaftlichen Geschichte des Landes ergaben, ausräumen. Diese Besonderheiten, „die sich aus der Kombination von schwerindustrieller Konzentration und ländlicher Siedlungsweise ergaben, wirkten weiter; ebenso die Investitionsdefizite, die aus dem wiederholten Wechsel der politischen Zugehörigkeit herrührten, und die Mentalität der kurzen Wege, die es den Saarländern erleichtert, in den politischen und wirtschaftlichen Wechselfällen zu überleben“ (Loth 1989: 111). Die politische, ökonomische und soziale Integration in die Bundesrepublik Deutschland gestaltete sich schwierig. Frankreich erhielt das Recht, die Warndtkohle noch 25 Jahre von Frankreich aus anzufahren und 66 Mio. Tonnen fördern zu dürfen, darüber hinaus wurde Frankreich garantiert, ein Drittel der Gesamtförderung saarländischer Kohle zum Selbstkostenpreis erwerben zu können (vgl. Hahn 2003, Herrmann 2008). Des Weiteren verweigerte die Bundesregierung den Saarländerinnen und Saarländern eine Garantie des Niveaus ihrer Sozialleistungen und Einkommen, Adenauer hatte sein Ziel des politischen Anschlusses des Saarlandes an die Bundesrepublik erreicht und musste daher keine besondere Rücksicht mehr auf saarländische Interessen legen, weswegen sich die DPS bei der Abstimmung des saarländischen Landtages über die Beitrittserklärung zur Bundesrepublik Deutschland am 14. Dezember 1956 enthielt und aus der Koalition der „Heimatbund“-Parteien ausschied. Nach den – an alten Ressentiments aus der Volksabstimmungszeit – scheiternden Verhandlungen über den Eintritt der CVP in die Koalitionsregierung kam es am 4. Juni 1957 zur Neuauflage der Koalition der „Heimatbund“-Parteien. Gelang es dem christlichkonservativen Lager – trotz ähnlicher Programmatik – noch nicht, die Widersprüche des Abstimmungskampfes zu überwinden, hatte die SPS bereits im März 1956 ihre Selbstauflösung beschlossen, sodass das sozialdemokratische Lager allein durch die SPD repräsentiert wurde. Nach den Wahlen von 1960 zer-
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brach die Koalition der „Heimatbund“-Parteien und wurde durch die für die Bundesrepublik charakteristische Lagerbildung abgelöst: Die durch die Auflösung der SPS erstarkte SPD war nicht mehr in der Regierung vertreten, die von den bürgerlichen Parteien CDU und DPS getragen wurde. Die Wahlen vom Dezember 1960 brachte der – nun insbesondere aufgrund der drastischen Verluste der DPS (von den 24,2 % infolge des Abstimmungskampfes blieben noch 13,8 %) geschwächten – Koalition aus CDU und DPS im Landtag eine knappe Mehrheit von einer Stimme. Mit der Entscheidung, eine Koalition unter Ausschluss der SPD zu gründen, „waren die Weichen für eine Rechts-Links-Polarisierung des politischen Lebens gestellt, in deren Verlauf die CDU hoffen konnte, schließlich doch noch, wie auf Bundesebene, zum Sammelbecken der bürgerlichen Kräfte zu werden und die SPD als zweitstärkste Partei für lange Zeit auf die Oppositionsrolle zu verweisen“ (Loth 1989: 114). Die ökonomische Anpassung der saarländischen Wirtschaft an die Bundesrepublik Deutschland gestaltete sich ebenfalls als mit erheblichen Schwierigkeiten belastet. Das französische Wirtschaftssystem, in das die Saarwirtschaft bislang integriert war, hatte eine eher protektionistische Ausrichtung und wies einen hohen Stand an bedarfsbezogenen Sozialleistungen auf, während das leistungsbezogene marktwirtschaftliche System der Bundesrepublik Deutschland ein System der Sozialleistungen noch nicht vollständig ausgeprägt hatte. Zu diesen wirtschaftssystemstrukturellen Anpassungsschwierigkeiten trat eine inflationäre Entwicklung des französischen Francs. Aufgrund des Modernisierungsstaus in der saarländischen Wirtschaft sowie des höheren Kostenniveaus im Franc-Raum, gelang es den saarländischen Unternehmen nicht, sich auf dem deutschen Absatzmarkt zu etablieren. Die Abwertung des Franc Ende Dezember 1958 erfolgte für eine nachhaltige Absatzchancenverbesserung für die Saarwirtschaft zu spät. Waren die Absatzchancen der saarländischen Wirtschaft auf dem deutschen Markt eher von komparativen Nachteilen geprägt, drangen bundesdeutsche Unternehmen nach dem „Tag X“ gezielt auf den saarländischen Markt. Der Absatz der saarländischen Wirtschaft auf dem angestammten französischen Markt wiederum war durch ein starres System zollfreier Kontingente behindert. Zwar halfen Investitionshilfen des Bundes und des Landes sowie die Ermäßigung der Einkommens- und Körperschaftssteuer um 15 % in den ersten beiden Jahren nach dem wirtschaftlichen Anschluss, doch mussten in diesem Zeitraum rund 25 mittlere Betriebe und etwa 100 Kleinbetriebe schließen, womit ein Arbeitsplatzverlust von ca. 5.000 Arbeitsplätzen einherging (Loth 1989, Hahn 2003). Als gravierendstes Defizit der Übergangszeit führt Marcus Hahn (2003: 112) an, „dass keine konsistente und regionalpolitische Programmatik“ in der Wirtschaftspolitik entwickelt wurde, und dass statt dieser Programmatik die Formel der „Auflockerung der Industriestruktur“ verwendet wurde, unter der
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zahlreiche Maßnahmen zusammengefasst wurden, ohne dass jedoch deren Wirksamkeit hinreichend geprüft worden wäre. Die Integration in die bundesdeutsche Wirtschaft wurde durch die 1959 einsetzende Kohlekrise behindert (Braunshausen 1993: 8): „Die neuen Energieträger (Erdöl und Erdgas) waren nicht nur billiger, ihre Anwendung war oft die Voraussetzung für automatische Steuerungen der Heizungs- und Antriebsprozesse. Heizungen, Industriefeuerungen und Antriebsaggregate wurden nach entsprechenden Installationen auf Erdöl oder Erdgas umgestellt“. Im Saarland verminderte sich die Steinkohlenförderung entsprechend von 16,7 Millionen Tonnen im Jahr 1960 auf 11,3 Millionen Tonnen im Jahr 1968. Die Modernisierung der saarländischen Steinkohlewirtschaft brachte eine Verringerung von 18 Schachtanlagen 1960 auf sechs Anlagen im Jahr 1968. Während das klein- und mittelständische Gewerbe und der Bergbau mit erheblichen Anpassungs- und Strukturproblemen zu kämpfen hatten, war die Entwicklung der Stahlindustrie – als zweite Leitbranche der Saarwirtschaft – in der Angliederungsära durch Wachstum geprägt. Die Integration in den gemeinsamen Markt der Montanunion, die zunehmende Spezialisierung auf Sonderstähle und Weiterverarbeitung (die Rohstahlerzeugung stieg von 1958 bis 1967 von 3,1 auf 4,4 Millionen Tonnen) stabilisierte die ökonomischen Lebensbedingungen der Saarländerinnen und Saarländer und trug mit den Impulsen der Hochkonjunktur und großzügigen Wirtschaftsförderungsprogrammen zu einer Steigerung des Wohlstandes bei. Die 1960er-Jahre waren durch Strukturmaßnahmen geprägt: Die Universität des Saarlandes wurde ausgebaut, das Fortbestehen des Saarländischen Rundfunks gesichert, das Saarland wurde über Mannheim (bereits 1959 bis St. Ingbert, seit 1963 ab Saarbrücken) an das bundesdeutsche Autobahnnetz angeschlossen, das Eisenbahnnetz wurde sukzessive elektrifiziert, der Flughafen aus dem Saartal auf die höher gelegene Gemarkung von Ensheim verlegt und in das System der nationalen und internationalen Flugverbindungen integriert, im Jahr 1970 wurde in Saarbrücken eine Fachhochschule gegründet. Der mangelnde Wasserstraßenanschluss wurde zunächst durch die sogenannten „Als-ob-Tarife“ der Deutschen Bundesbahn kompensiert – Massengüter wurden zu Tarifen mit der Bahn transportiert, als ob sie per Binnenschiff transportiert worden wären. Diese „Als-ob-Tarife“ wurden allerdings infolge des Einspruchs der EWGKommission zwischen 1968 und 1984 schrittweise abgebaut; erst 1988 wurde der Ausbau der Saar bis Dillingen fertiggestellt. Insgesamt waren die 1960erJahre ökonomisch durch eine Verdopplung des Bruttosozialproduktes zwischen 1960 und 1970 geprägt, was zwar unter der Entwicklung anderer Bundesländer lag, den Menschen dennoch einen Wohlstand bescherte, den die Region noch nicht gekannt hatte und zu einer massenhaften Zunahme des Automobilverkehrs
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und einer weiten Verbreitung des Fernsehens führte (Fläschner/Hunsicker 2007). Die allmähliche Differenzierung der Saarwirtschaft sowie die Anhebung des allgemeinen Bildungs- und Wohlstandsniveaus äußerten sich in der Auflösung des traditionellen Milieugefüges im Saarland: „Das galt sowohl für das bemerkenswert dichte Milieu des politischen Katholizismus als auch für das Industriearbeitermilieu und das traditionelle nationalliberale Bürgertum in den Saar-Städten“ (Loth 1989: 117). Diese Auflösung der traditionellen Milieus war ein Element des rapiden Bedeutungsverlusts der DPS in den 1960er-Jahren: Ihr gelang es nicht, die über das nationalliberale Milieu hinaus im Abstimmungskampf gewonnene Wählerschaft zu binden. Im Gefolge des organisatorischen Anschlusses an die bundesdeutsche Freie Demokratische Partei und die Umbenennung in FDP/DPS im Mai 1964 bedeutete die Sozialliberale Koalition auf Bundesebene einen Bruch mit den nationalliberalen Traditionen der DPS. Die Krise der saarländischen Liberalen gipfelte in dem Scheitern an der 5 %-Hürde bei den Landtagswahlen im Juni 1970. Anders als die DPS und die KPD (bzw. DDU, Deutsche Demokratische Union, die anstelle der 1957 verbotenen KPD zu den Landtagswahlen im Saarland in den 1960er-Jahren antrat), hatte die CDU zunächst nicht unter dem Verlust der milieuspezifischen Bindungswirkungen zu leiden: Zwar sank der Einfluss religiöser Bindungen, doch honorierten die Wählerinnen und Wähler die Leistungen der Regierung Röder hinsichtlich der Integration des Saarlandes in die Bundesrepublik Deutschland. Darüber hinaus konnte die CDU von dem Bedeutungsverlust der SVP profitieren. Der CDU gelang es, ihren Stimmenanteil von 36,6 % im Jahr 1960 auf 47,8 % im Jahr 1970 zu steigern. Dennoch konnte „die zunehmende Popularität Röders, der die Erbfolge der Regierungsarbeit mit seiner Person zu verbinden verstand, […] den Niedergang des politischen Katholizismus wohl verdecken, aber letztlich doch nicht aufhalten“ (Loth 1989: 117). Wie der CDU gelang auch der SPD in den 1960er-Jahren ein Bedeutungszuwachs: Ihr Stimmenanteil stiegt von 30,0 % bei den Landtagswahlen von 1960 und blieb dann bei den Wahlen 1965 und 1970 konstant bei knapp 41 %. Die SPD profitierte – so Loth (1989) – von der allgemeinen Säkularisierung, die auch Wähler der ehemaligen CVP/SVP ebenso integriert, wie ehemalige DPSAnhänger der Zeit des Abstimmungskampfes. Damit vollzog sich in den 1960erJahren eine sukzessive Anpassung der Parteienstruktur an die bundesdeutschen Verhältnisse, die – bis zur Etablierung der Partei der Grünen – durch zwei Volksparteien und eine liberale Partei mit deutlich geringerem Stimmenanteil geprägt war (weder eine kommunistische noch eine nationale Partei konnte jemals im Saarland – zumindest auf Landesebene – nennenswerte Wahlerfolge erzielen).
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Abbildung 10: Gemeinden des Saarlandes vor und nach der Gebiets- und Verwaltungsreform 1974 (Minister für Umwelt, Raumordnung und Bauwesen 1974, verändert)
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Bereits die Rezession von 1966/67 hatte das Ende der Hochkonjunktur des „Wirtschaftswunders“ signalisiert und war Vorbote einer Strukturkrise im Saarland, deren Auswirkungen bis heute andauern. Hatten 1959 noch 56,7 % der im sekundären Wirtschaftssektor Erwerbstätigen in der Montanindustrie gearbeitet, waren es 1978 noch 36,4 %. Waren Mitte der 1960er-Jahre – auf Druck der Repräsentanten der Montanindustrie, die eine Konkurrenz um qualifizierte Arbeitskräfte und Lohnsteigerungen fürchteten – die Bemühungen um Ansiedlung von Nicht-Montan-Wirtschaftsbranchen im Saarland verringert worden, wurden – angesichts zurückgehender Erwerbstätigenzahlen in der Kohle- und Stahlindustrie – in den beginnenden 1970er-Jahren die Ansiedlungsbemühungen mit Erfolg verstärkt: Neben Ford in Saarlouis, dem Ausbau des 1960 durch die Übernahme einer feinmechanischen Fabrik etablierten Bosch-Werkes in Homburg und der Ansiedlung der Zahnradfabrik Friedrichshafen in Saarbrücken, wurden zwischen 1968 und 1975 nahezu 120 neue Industriebetriebe errichtet. Trotz dieser Ansiedlungserfolge blieb die Diversifizierung der Saarwirtschaft vor dem Hintergrund der heraufziehenden Stahlkrise und der zunehmenden Unwirtschaftlichkeit der Kohleförderung unzureichend: Ein autochthones Unternehmertum blieb unterentwickelt, die Diversifizierung der Saarwirtschaft wurde durch Zweigwerke auswärtiger Unternehmen getragen, teilweise in Branchen – wie der Textilindustrie – deren Produkte gleichfalls am Ende des Produktlebenszyklus standen. Die Zahl der qualifizierten und hochqualifizierten Arbeitsplätze blieb unterdurchschnittlich, qualifizierte Arbeitskräfte wanderten ab. Die Stahlkrise traf die saarländische Wirtschaft nahezu unvermittelt: Im Vergleich der Jahre 1974 und 1975 sank die Produktion infolge weltweiter Überproduktion, Senkung der Frachtkosten für Überseestähle und (eher mittelfristig) der Substitution von Stahl durch andere Werkstoffe um 30 bis 40 %. Betroffen waren insbesondere die Massenstahl produzierenden Hüttenstandorte Burbach und Neunkirchen. Von rund 40.000 Beschäftigten in den Hüttenwerken wurden etwa 7.000 entlassen. Anders als bei den Entlassungen im Bergbau konnten keine Ersatzarbeitsplätze durch Ansiedlungen geschaffen werden: Die Ölpreiskrise hatte die Investitionsbereitschaft sinken lassen, zudem wuchs die Bereitschaft der Unternehmen, in lohngünstigen Drittländern zu investieren, sodass die Arbeitslosenquote im Jahr 1977 auf 7,2 % anstieg (vgl. Loth 1989, Dörrenbächer 2007, Schulz/Dörrenbächer 2007). Der (unzureichende) Strukturwandel der 1970er-Jahre wurde von einer Modernisierung der politisch-administrativen Strukturen in Form einer Gebiets- und Verwaltungsreform flankiert: Am 19. Dezember 1973 wurde das Gesetz zur Neugliederung der Gemeinden und Landkreise verabschiedet. Dabei wurde die Zahl der Gemeinden von 345 auf 52 reduziert, die Kreisfreiheit der Stadt Saarbrücken aufgehoben und stattdessen das Stadtgebiet vergrößert und mit den Ge-
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meinden des ehemaligen Kreises Saarbrücken zum Stadtverband Saarbrücken zusammengefasst und das übrige Saarland in fünf Kreise gegliedert. Die mit dem Ziel der Steigerung der gemeindlichen Leistungsfähigkeit und Verbesserung der Infrastruktur vollzogene Gebiets- und Verwaltungsreform zeitigte allerdings unintendierte Nebenfolgen, die sich einerseits in einer regen kommunalen Bautätigkeit (insbesondere von Mehrzweckhallen und Schwimmbädern, deren Finanzierung dann der neuen Großgemeinde oblag) im Zeitraum vor der Gebiets- und Verwaltungsreform und andererseits in der Qualität der lokalen Selbstverwaltungsmöglichkeit und lokalen Identifikation äußerten. Ehemals eigenständige Dörfer (mit eigener Geschichte und Identität) wurden durch die Gebiets- und Verwaltungsreform zu Gemeinden zusammengefasst. Es blieben unselbstständige Ortsteile mit einer eingeschränkten Selbstverwaltungsfunktion mit negativen Folgen für die Qualität lokaler Politik, deren Aufgabe in Form des Ortsrates sich letztlich auf die Beratung des Gemeinderates, das Ausrichten von Festen und die Auswahl von Straßennamen (bisweilen auch in der Agitation gegen die Entscheidungen des Gemeinderates) beschränkt (vgl. auch Henkel 1996). Ende der 1970er-Jahre wurden – nach massiven Protesten der lokalen Politik und der Bevölkerung insbesondere im ehemals bayerisch-preußischen Grenzgebiet – zwar Modifikationen an den Gebietszuschnitten von Gemeinden und Kreisen vorgenommen, doch blieb die funktionale Aufgabenverteilung – und damit die Entmachtung des Lokalen – bestehen. Die ökonomische Krise der 1970er-Jahre wurde politisch durch eine zunehmend diffizile Machtkonstellation flankiert: Die Landtagswahl vom Mai 1975 brachte keine klaren Mehrheiten, zwar konnte die CDU ihren Stimmenanteil noch auf 49,1 % steigern, doch entstand aufgrund des Wiedererstarkens der FDP (7,4 %), die eine Koalitionsaussage zugunsten der SPD (die 41,8 % der Stimmen erreichte) gemacht hatte, eine Pattsituation im Landtag von 25 zu 25 Sitzen. Nachdem sich die Röder-Regierung im Vorfeld der Abstimmung für die Annahme der (leicht modifizierten) Polen-Verträge eingesetzt hatte, trat die FDP im März 1977 der Regierung Röder bei. Die saarländische Politik blieb jedoch weiterhin von der lähmenden Diskussion um die Rödernachfolge bis zu dessen Tod am 25. Juni 1979 dominiert (ein Tag zuvor hatte er seinen Rücktritt zum 31. Oktober 1979 bekannt gegeben). Nach dem Tode Röders wurde Werner Zeyer am 5. Juli 1979 zum Ministerpräsidenten gewählt. Seine CDU/FDP-Regierung wurde bei den Landtagswahlen zwar bestätigt, ging aber mit deutlichen Verlusten (die CDU erreichte lediglich 44,0 %, die FDP 6,9 %) aus den Wahlen hervor, während die SPD, die sich stark um die Klientel der FDP bemüht hatte, um diese aus dem Landtag zu drängen, mit 45,4 % stärkste Partei wurde. Die Regierung – des in der Bevölkerung als blass geltenden Zeyer – sah sich zu Beginn der 1980er-Jahre mit einer Verschärfung der Stahlkrise konfron-
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tiert. Seit Mitte 1980 gingen Absatz und Erlöse der europäischen Stahlindustrie drastisch zurück, die von der EG-Kommission festgelegten Produktionsquoten wurden heruntergesetzt und das seinerzeit hohe Zinsniveau verteuerte die Modernisierung der saarländischen Stahlindustrie. Die Hütten in Burbach und Völklingen wurden in den 1980er-Jahren ebenso geschlossen wie die Flüssigphase in Neunkirchen (Abb. 11). Die Subvention der saarländischen Stahlindustrie kumulierte zwischen 1980 und 1985 auf 1,45 Milliarden Deutsche Mark. Das Defizit des Landeshaushaltes stieg an: Bereits 1981 überstiegen die Schulden das Haushaltsvolumen, 1985 erreichten sie den Stand von 7,6 Milliarden DM, während der Haushalt 4,5 Milliarden DM auswies, nahezu 40 % des Haushaltsvolumens mussten durch Kredite finanziert werden, 25 % der Ausgaben waren durch Zins und Tilgung von Krediten gebunden (Loth 1989).
Abbildung 11: Völklinger Hütte. Die im Dezember 1994 zum Weltkulturerbe erklärte Völklinger Hütte. Sie symbolisiert die Verbundenheit des Saarlandes mit seiner schwerindustriellen Tradition und dokumentiert den gewandelten Umgang mit den physischen Relikten des Industriellen: Sie werden häufig nicht mehr einfach abgerissen, sondern als „Industriekultur“ im Sinne der von Émile Durkheim (1994) charakterisierten Sakralisierung des Profanen mit neuer Bedeutung aufgeladen. (Foto Olaf Kühne) Die Landtagswahl vom 10. März 1985 brachte einen politischen Richtungswechsel mit sich: Die SPD errang mit 49,2 % der Stimmen die absolute Mehrheit der Mandate im Landtag, die FDP erreichte zwar 10,0 % der Stimmen, doch 80
konnte sie die Verluste der CDU, die lediglich 37,3 % erreichte nicht kompensieren. Dieser Wahlerfolg der SPD war im wesentlichen auf das taktische Geschick des SPD-Spitzenkandidaten und Saarbrücker Oberbürgermeisters Oskar Lafontaine zurückzuführen, der zunächst die Grünen zu einer Koalitionsaussage drängte, als diese nicht zugunsten der SPD erfolgte, potenzielle Grüne Wähler dann mit der Aussage zur Stimmabgabe für die SPD gewann, jede Stimme für die Grünen stärke die Regierung Zeyer. Der Regierungswechsel zu einer SPD-Alleinregierung ging mit Umstrukturierungen der Landesverwaltung einher. Der Strukturwandel wurde durch staatliche Wachstumsimpulse bei Existenzgründungen und Betriebserweiterungen durch erhöhte Subventionen gefördert. Diese Politik bedeutete einerseits einen Zugewinn an Arbeitsplätzen und eine Steigerung des Wirtschaftswachstums über dem Bundesdurchschnitt (1988 von 4,1 % zu 3,5 %), andererseits auch einen Anstieg der Verschuldung, die im selben Jahr einen Stand von 10 Milliarden DM überschritt. Als Gegenmaßnahmen beschloss die Regierung Lafontaine den Stellenabbau im öffentlichen Dienst, die Schließung von Krankenhäusern und Schulen sowie 1993 eine Teilentschuldung des Landes. Einen wesentlichen Beitrag zur Umstrukturierung des Landes leistete die Technologiepolitik. Die Universität des Saarlandes erhielt eine Technische Fakultät, insgesamt zehn selbstständige Forschungseinrichtungen wurden gegründet, darunter das Max-Planck-Institut für Informatik, die Fraunhofer-Institute für Biomedizinische Forschung und zerstörungsfreie Prüfverfahren sowie das Institut für Neue Materialien. Mit dem Wechsel Oskar Lafontaines in das Bundeskabinett im Oktober 1998 wurde Reinhard Klimmt für rund ein Jahr Ministerpräsident des Saarlandes. Am 5. September 1999 gewann die CDU mit 45,5 % vor der SPD mit 44,4 % – aufgrund des Scheiterns der FDP und der Grünen an der 5 %-Hürde – die absolute Mehrheit der Mandate im saarländischen Landtag. Der Jurist Peter Müller wurde zum Ministerpräsidenten des Saarlandes gewählt und begann mit seinem Kabinett die Umsetzung eines Strategiewechsels, der sich insbesondere wirtschaftspolitisch im Auslaufen des Saarbergbaus anstelle eines „Montankerns“ als Energiereserve, der Einführung des achtjährigen Gymnasiums und der stärkeren Hinwendung zum Themas „Innere Sicherheit“ durch Restrukturierung und Verstärkung der Polizei ausdrückte. Eine Strategie, die auf das Wohlwollen der Wahlberechtigten stieß: am 5. September 2004 wurde die Regierung Müller gestärkt mit 47,5 % – trotz des Wiedereinzugs von FDP (5,2 %) und Grünen (5,6 %) in den Landtag – mit einer absoluten Mehrheit der Mandate wiedergewählt. Die SPD erhielt lediglich 30,8 % der Stimmen. Das Auslaufen des saarländischen Bergbaus erhält am 23. Februar 2008 neue Aktualität: Im Bereich von Saarwellingen kommt es zu Bergbau bedingten
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Erschütterungen einer Stärke von 4,0 auf der Richter-Skala. Nach einem vorläufigen Abbaustopp wird die Förderung allerdings mit verringerter Schichtleistung in einem anderen Flöz fortgesetzt. Dennoch stehen sich Bergbaubetroffene und Bergleute sowie die Beschäftigten der Bergbauzulieferbranchen nahezu unversöhnlich gegenüber. Seit den 1990er-Jahren intensivierte sich die Zusammenarbeit im SaarLorLux-Raum. Kooperationen wurden im Zuge der europäischen Binnenmarktliberalisierung verstärkt, mithilfe des europäischen Strukturfonds wurden Projekte aus den Bereichen Ausbildung, Tourismus, Transport, Telekommunikation, Forschung bis hin zu gemeinsamen Industrie- und Gewerbeflächen realisiert. Schulpartnerschaften sowie das gemeinsame SaarLorLux-Hochschulorchester symbolisieren die neue Dimension der Zusammenarbeit in der Grenzregion, deren ökonomischer Entwicklungspol das Großherzogtum Luxemburg als internationaler Finanzplatz darstellt (Niedermeyer/Moll 2007). Trotz des tief greifenden sektoralen Strukturwandels bleibt das verarbeitende Gewerbe zur Jahrhundertwende überrepräsentiert. Als wichtiger Zweig ist die Automobilindustrie zu nennen, die im Verbund mit der verbliebenen Montanindustrie einen gemeinsamen Arbeitsmarkt bildet, der jedoch sehr stark vom Export abhängt. Nachteilig für den weiteren Verlauf des Strukturwandels wirken sich Qualifikationsdefizite aus. Zum einen sind die fehlenden Sprachkenntnisse der jüngeren Generation in der Grenzregion zu nennen. Zum anderen bildet das Saarland zu wenig Hochschulabsolventen aus – und aufgrund mangelnder Erwerbs- und Karrierechancen wandern diese zudem häufig in andere Regionen ab. Als ein wirtschaftlicher Vorteil erweist sich das vergleichsweise niedrige Lohnniveau, das durch die Grenzlage und den benachbarten strukturschwachen lothringer Raum begründet werden kann (Otto/Schanne 2006).
3.5 Historische Bezüge von regionalen Identitäten und heimatlichen Orientierungen im Saarland Der ständige Wechsel der nationalen Zugehörigkeit, die Erfahrungen der militärischen Besatzung, wirtschaftlicher Ausbeutung und politischer Fremdbestimmung wirkten mitprägend für den Rückzug in familiäre, katholisch-milieubezogene Lebenswelten, aber auch für die Ausprägung einer regionalen Identität, die den saarländischen Sonderweg in der mitteleuropäischen Geschichte reflektiert (vgl. Krewer 1991, Klimmt 2004, Winterhoff-Spurk 2007). Gerhard Paul (1989: 23) identifiziert in der jüngeren Geschichte des Saarlandes „vier kräftige Identitätsschübe, die aus den Bewohnern entlang von Saar und Blies, von Prims und Nied allererst ‚Saarländer’ werden ließen“:
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1. 2. 3. 4.
Die Entwicklung der Region zu einem der führenden Industriereviere Europas, die Überwölbung einer fragmentierten Gesellschaft durch die nationale Frage, die Ausformung der Gesellschaft in zwei „sozialmoralische Milieus“ (Paul 1989: 23) gegenüber den Herrschenden, die Brückenfunktion zwischen Deutschland und Frankreich seit 1955.
Dabei hat sich – Kurt Bohr (1989) zufolge – ein pragmatisch-informeller Umgang mit der Administration entwickelt, der sich primär auf soziale Netze („Isch kenn do uffm Amt ähner, der do ähner kennt“) und weniger an Dienstwegen orientiert. Dabei käme es häufig zu „saarländischen Lösungen“, also „jene saarländische Form von pragmatischen Entscheidungen, bei denen stillschweigend prinzipielle Meinungsverschiedenheiten oder auch offizielle Vorschriften ausgeklammert werden, um eine Handlungsfähigkeit auf dem gemeinsamen Nenner herzustellen“ (Bohr 1989: 141). Dieser saarländische Pragmatismus – Krause (1990: 12) spricht in diesem Zusammenhang von Saarländern als „geborenen Diplomaten“ – lässt sich angesichts der wechselvollen Geschichte (wer vor dem Ersten Weltkrieg geboren worden war besaß oder besitzt möglicherweise fünf Pässe) und der andauernden Fremdbestimmung (die Führungskräfte aus Politik und Wirtschaft waren und sind teilweise bis heute aus anderen Regionen rekrutiert) als Überlebensstrategie deuten. Peter Winterhoff-Spurk (2007) deutet auch einen Hang zur Konfliktscheuheit der Saarländerinnen und Saarländer aus dieser Erfahrung: Wenn soziales Kapital (im Sinne von Bourdieu 1987) die Bedeutung ökonomischen Kapitals dominiere, so könne es sich niemand leisten, das „soziale Kapital mit Streitigkeiten zu gefährden“ (Winterhoff-Spurk 2007). Kurt Bohr (1989: 144) verdeutlicht die wechselnden Lebensbedingungen der Bewohner des Landes an Saar und Blies in den vergangenen zwei Jahrhunderten anhand der ihnen von außen oktroyierten offiziellen Leitbilder: 1.
2.
Das Leitbild des preußischen Bergarbeits“soldaten“, der – uniformiert – in die Hierarchie von militarisierten und reglementierten Staatsbetrieben eingebunden war und mittels Prämienhaus sesshaft und verbürgerlicht worden war. Das Leitbild des bodenständigen, nationalbewussten und arbeitssamen Bergmannsbauern, das im Zuge der industriekapitalistischen Orientierung des Reviers vor allem lohnpolitischen und herrschaftssichernden Zielen diente.
83
3.
4.
Das Leitbild des Bollwerks an der Grenze zur Zeit des „Dritten Reichs“ als „eine Wart Westwall gegen ein angeblich jüdisch-kapitalistisch verseuchtes Frankreich“. Das Leitbild des „Brückenschlägers“, der sich am Aufbau des neuen und friedlichen Europas beteiligen sollte.
Solche offiziellen Leitbilder haben sich in der Region nicht nachhaltig festsetzen können. Eine stärkere Integrationskraft fand sich im katholisch geprägten Sozialmilieu, in Primärgruppen und in einer starken Vereinstätigkeit, alles Elemente, die mit einer starken örtlichen Verbundenheit einhergehen, die sich auch in einer Eigenheimquote von rund 65 % und damit einer hohen Ausrichtung des Verkehrs auf das Automobil äußern (vgl. Fläschner/Hunsicker 2007). Diese Ortsbezogenheit äußert sich auch in einer starken Binnendifferenzierung. So bleibt die ehemals bayerisch-preußische Grenze noch immer identitätsstiftend, was auch in der Anhängerschaft der traditionsreichen saarländischen Fußballclubs von Homburg, Neunkirchen und Saarbrücken bis heute nachwirkt, schließlich ist die Heimat im Saarland „immer eng gefasst, zumeist dörflich und kleinstädtisch, das Land zerfällt in viele kleine Teilregionen“ (Klimmt 2004: 101), die sich auch in unterschiedlichen kleinräumigen Zugehörigkeitswechseln zur evangelischen und römisch-katholischen Interpretation des Christentums äußern (Klimmt 2007). Heute steht eine – an solchen historischen Bezügen konstruierte – orientierte regionale Identität im Saarland – Gerhard Ames (2007: 35) zufolge – vor der Herausforderung zweierlei gesellschaftliche Entwicklungen zu integrieren: Einerseits „die durch den Wegfall der Grenzen und die Herausbildung neuer supranationaler Gebilde in Gang gesetzte Herauslösung des Saarlandes aus seiner traditionellen Grenzlage“ und andererseits „der Prozess einer schrittweisen Deindustrialisierung, vor allem im Bereich der klassischen Schwerindustrie“. Diese beiden Entwicklungen träfen – so Ames – die Kernpunkte saarländischer Identitätskonstrukte, die industrielle Prägung – selbst als Basis der territorialen Einheit – und die „mit der Grenzlage unmittelbar zusammenhängende[n] häufige[n] Wechsel der politischen Zugehörigkeit“ (Ames 2007: 35).
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4 Ergebnisse des quantitativen Studienteils
Ziel des quantitativen Studienteils ist es, die emotionale Verbundenheit mit dem Saarland zu ermitteln und Informationen über das Heimatbewusstsein zu erlangen. Im Mittelpunkt steht dabei auch die Frage, wie stark sich Heimat an stereotypen Vorstellungen, wie z.B. schönen, romantischen Landschaften, oder an der aktuellen Wohnsituation orientiert. In diesem Zusammenhang sollen Konnotationen des Heimatbegriffs erhoben und sozialstrukturell differenziert analysiert werden. Folgende Fragen sollen in dieser Studie beantwortet werden: Welche Heimatbegriffe herrschen vor (Herkunfts-, Wahlheimat, Gemeinschaftserleben, geistige Heimat oder utopischer Sehnsuchtsbegriff)? Wie stark fühlen sich die Menschen mit dem jeweiligen Ort bzw. der jeweiligen Region verbunden? Wie sind Heimatbewusstsein und regionale Identität in verschiedenen Bevölkerungsgruppen ausgeprägt? Lassen sich typische Gruppen je nach Verbundenheit mit dem Saarland identifizieren? Wie stark sind die Menschen lokal und regional vernetzt? Welche Personen sind heimatlos, haben mehrere Heimaten oder verfügen über einen überörtlichen Heimatbegriff? Im Januar 2007 wurde eine quantitative, repräsentative Befragung der saarländischen Bevölkerung durchgeführt.4 Grundlage der Stichprobe war das elektronische Telefonbuch für Deutschland (CD), aus dem die saarländischen Telefonnummern extrahiert wurden und ausgehend von einer Zufallszahl jeder 80te Eintrag ausgewählt wurde (n= 5.378). Nach Ausschluss von gewerblichen Adressen verblieben 4.477 Adressen, die postalisch einen Fragebogen mit Anschreiben erhielten. Insgesamt 135 Briefe konnten nicht zugestellt werden, sodass eine Nettostichprobe von n= 4.342 verbleibt. Der Rücklauf lag mit 27 %
4
Unser Dank gilt Jens Kandt, der uns bei der Organisation, der Dateneingabe und der Auswertung der Umfrage kompetent unterstützt hat. Lynn Schelisch danken wir für Mithilfe bei der Erstellung des Textes, von Grafiken und Tabellen.
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weit über dem Durchschnitt einer postalischen Umfrage ohne Öffentlichkeitsarbeit und Anreize wie z. B. Preisausschreiben. Es lag demnach ein hohes Interesse an der Umfrage vor. Insgesamt konnten 1.189 ausgefüllte Fragebögen in die Auswertung einbezogen werden.
4.1 Sozialstruktureller und räumlicher Hintergrund der Befragten An der Befragung nahmen fast ausschließlich deutsche Personen teil, lediglich 13 Befragte hatten die italienische, französische, türkische oder kroatische Staatsangehörigkeit. Zum Thema Heimat wollte oder konnte die Mehrheit der zugewanderten Angeschriebenen offenbar nicht Auskunft geben. Das Durchschnittsalter liegt bei 57 Jahren, ist also vergleichsweise hoch, wobei die Altersspanne von 18 bis zu 93 Jahren reicht. Jüngere Gesellschaftsmitglieder verfügen häufig über Handys und melden immer seltener Festnetzanschlüsse an. Mehr als ein Drittel (35 %) ist älter als 65 Jahre. Es haben auch deutlich mehr Männer als Frauen an der Umfrage teilgenommen, 71 % der Befragten sind männlich. Dies mag auf die Stichprobenziehung aus dem Telefonbuch zurückzuführen sein, denn mehr Männer als Frauen melden einen Telefonanschluss an. Frauen und Jüngere sind damit unterrepräsentiert. Das Bildungsniveau liegt gerade vor dem Hintergrund der Altersstruktur über dem Durchschnitt: Über ein Drittel verfügt über den (Fach-)Hochschulabschluss und ein knappes Viertel über die Mittlere Reife. Maximal den Hauptschulabschluss haben 36 % der Befragten erreicht. Es ist also nicht der Fall, dass ein hohes Reflexionsvermögen sich negativ auf die Auskunftsbereitschaft zum Thema Heimat auswirkt. Die Einkommensverteilung ist breit gestreut, 14 % haben weniger als 1100 € netto im Monat zur Verfügung, zwei Drittel liegen im mittleren Bereich und bei 21 % beträgt das Einkommen über 3.000 € im Monat. Jeweils vier Fünftel haben eigene Kinder (zumeist mehrere) und wohnen im eigenen Haus. Entsprechend des höheren Alters der Stichprobe lebt ein vergleichsweise großer Anteil mit einer Partner/in im Haushalt zusammen (44 %). Der Anteil Alleinlebender beträgt 19 %, in vollständigen Familien leben 34 % und 4 % sind allein erziehend. Die Antwortenden stammen zu 55 % aus dem Kern des Verdichtungsraums, 16 % vom Rand des Verdichtungsraumes und 29 % aus den ländlichen Regionen des Saarlands nach der Einteilung der Landesplanung. In Abbildung 12 wird die breite Streuung der Wohnorte deutlich.
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Abbildung 12: Herkunft der Befragten Quelle: eigene Darstellung; Datenbasis: Heimatbefragung im Saarland 2007 Die repräsentierten Gemeinden wurden in vier Ortstypen kategorisiert, um verschiedene Verdichtungsräume klarer heraus zu stellen als dies in der Einteilung in Verdichtungsraum, Rand und ländlicher Raum geschieht (vgl. oben Abbildung 12). Die Verteilung der Befragten nach den in Abbildung 13 dargestellten Ortstypen entspricht sehr gut der tatsächlichen Bevölkerungsverteilung (vgl. Tabelle 1), sodass die Aussagen in räumlicher Hinsicht die Struktur des Saarlandes sehr gut abbilden.
87
Abbildung 13: Einteilung der Gemeinden in vier Ortstypen Quelle: eigene Darstellung Tab. 1: Einwohner und Befragte nach Ortstyp In Befragung Großstadt über 100.00 EW (Saarbrücken) Gemeinden zw. 30.000 und 100.000 EW Gemeinden über 250 EW/km² aber < 30.000 EW Landgemeinden unter 250 EW/km² (plus Oberthal und Namborn) Gesamt
In % (Spalten) 18 (209) 17 (182.505) 21 (244) 23 (246.642) 43 (488)
41 (440.992)
17 (198)
18 (194.849)
100 (1.139)
100 (1.064.988)
In Klammern die Anzahl der Befragten bzw. der Einwohner. Datenbasis: Heimatbefragung im Saarland 2007 88
Im Saarland
4.2 Wohndauer im Saarland Zum Einstieg in das Thema Heimat und regionale Identität wurde ermittelt, wie lange die Befragten im Saarland wohnen. Es ging dabei nicht nur um die Zahl der Jahre, sondern auch um die Spanne innerhalb des Lebens. Uns hat interessiert, ob die Befragten im Saarland geboren sind, ob außerhalb des Saarlandes gewohnt wurde und wenn ja, für welchen Zeitraum. Bei denjenigen, die nicht im Saarland geboren sind, wurde nach dem Zuzugszeitpunkt gefragt. Immerhin 82 % der Befragten sind im Saarland geboren. Von den insgesamt 967 im Saarland geborenen Befragten hat die Mehrheit nie außerhalb des Saarlandes gelebt (59 %; Durchschnittsalter 57 Jahre). Vier von zehn haben damit irgendwann im Laufe des Lebens außerhalb des Saarlandes gewohnt; diese im Saarland geborenen, die im Schnitt ebenso alt sind, verbrachten durchschnittlich nur sieben Jahre in anderen Bundesländern bzw. in anderen Staaten (Median: 4 Jahre; lediglich ein Viertel dieser Gruppe lebte länger als sieben Jahre außerhalb). Darüber hinaus wohnen die Befragten, die nicht im Saarland geboren sind, im Durchschnitt seit immerhin 39 Jahren hier - bei einem Durchschnittsalter von 59 Jahren. Im Mittel hat auch diese Gruppe damit knapp zwei Drittel (62 %) ihrer gesamten Lebenszeit im Saarland verbracht. Die letzte Gruppe derjenigen mit dem kürzesten Aufenthalt im Saarland ist auch die Jüngste mit 54 Jahren im Mittel. Die Studie fand im Ergebnis vor allem bei den Menschen Widerhall, die immer oder die überwiegende Zeit im Saarland gelebt haben und sich offensichtlich wegen ihrer Verbundenheit mit dem Saarland zur Teilnahme motiviert gefühlt haben. Wir haben vier Typen unterschieden und dabei die durchschnittliche Zeit der Abwesenheit als Schwellenwert genutzt: Tab. 2: Wohndauer im Saarland Typ I: Typ II: Typ III:
Typ IV:
Im Saarland geboren und nie außerhalb gelebt Im Saarland geboren, maximal sechs Jahre außerhalb gelebt Nicht im Saarland geboren, seit mindestens sieben Jahren hier wohnhaft Im Saarland geboren, mindestens sieben Jahre außerhalb gelebt bzw. nicht im Saarland geboren, seit maximal sechs Jahren hier wohnhaft
647 (59 %) 158 (15 %) 196 (19 %)
71 (7 %)
Datenbasis: Heimatbefragung im Saarland 2007 89
4.2.1
Wohndauer nach Ortsgröße
Aufgrund des höheren Anteils hochqualifizierter Arbeitsplätze in großen Städten als in kleineren Gemeinden und der Lokalisierung von Hochschulen, die Arbeitsplatz- und Bildungsmigration bewirken, ist davon auszugehen, dass in Saarbrücken die Wohndauer geringer ist als in den übrigen Orten. Auch das Durchschnittsalter dürfte aus diesen Gründen unter dem in kleineren Gemeinden liegen. Zunächst ist jedoch festzustellen, dass das Durchschnittsalter der Befragten nicht signifikant nach der Ortsgröße variiert, es schwankt zwischen 55 und 59 Jahre, wobei es in Saarbrücken 57 Jahre beträgt. Obwohl ein geringerer Teil der Befragten aus Saarbrücken im Saarland geboren ist (74 %) als in kleineren Gemeinden (86 % bzw. 83 %), zeigt sich auch bei den großstädtischen Befragten die überraschend lange Wohndauer. Die Hälfte der Saarbrücker Befragten hat ihr ganzes Leben im Saarland verbracht, ein Viertel ist zugezogen, lebt aber seit mehr als sieben Jahren hier, 16 % sind weniger als sieben Jahre weg gewesen und nur 8 % haben länger außerhalb gelebt bzw. sind kürzlich zugezogen (vor maximal sieben Jahren). Insbesondere in den kleineren Städten mit höchstens 30.000 Einwohnern und vergleichsweise hoher Einwohnerdichte, ist der Anteil der geborenen und gebliebenen Saarländer sehr hoch (68 %) und lediglich 4 % können als „Kurzzeit“-Saarländer gelten. Die Ortsgröße spielt bei dieser Heimatbefragung trotz der Variationen insgesamt eine geringere Rolle als zu erwarten war.
4.2.2
Räumliche Verteilung sozialer Netze
Um zu erfahren, wie stark die Befragten in soziale Netze in ihrer unmittelbaren Wohnumgebung eingebunden sind, wurde gefragt, ob Eltern, Kinder, Geschwister, sonstige Verwandte oder Bekannte im Viertel bzw. dem Dorf wohnen, ob sie in der gleichen Stadt wohnen, in Deutschland oder im Ausland. Es waren Mehrfachantworten möglich, sodass hier die am nächsten Wohnenden aufgelistet sind (vgl. Tab. 3). Bei nahezu jeder/m Dritten leben Eltern und Kinder im selben Viertel bzw. demselben Dorf – dies ist die häufigste Antwortkategorie. Geschwister und sonstige Verwandte wohnen häufiger in anderen saarländischen Gemeinden oder in Deutschland. Bemerkenswerterweise trifft dies auch für Freunde zu. Offensichtlich sind die Befragten aus dem Saarland häufiger nahräumlich in unmittelbare Verwandtschaftsnetze eingebettet.
90
Tab. 3: Wohnort von Verwandten und Bekannten Eltern Im selben Dorf bzw. Viertel In der gleichen Stadt Im Saarland In Deutschland Im Ausland Keine Antwort
Kind/er
Geschwis- Sonstige Freunde / ter Verwandte Bekannte In % (Spalten)
30
32
15
12
13
7
7
8
8
10
20
19
28
36
35
8
18
24
26
24
1
4
5
7
11
35
20
20
12
7
100
100
100
100
100
Datenbasis: Heimatbefragung im Saarland 2007 Werden die Angaben zu den sozialen Netzen typisiert, so ergibt sich folgendes Bild (vgl. Tab. 4): Tab. 4: Typen der räumlichen Sozialbeziehungen Stark lokal vernetzt: größter Anteil aller Nennungen bei 'Im selben Viertel / Dorf und 'In der selben Stadt'
540 (45 %)
Durchschnittlich lokal vernetzt: größter Anteil aller Nennungen bei 'Im Saarland' oder Anteil der Nennungen bei Typ stark verflechtet und schwach verflechtet gleich
427 (36%)
Schwach lokal vernetzt: größter Anteil aller Nennungen bei 'In Deutschland' und 'Im Ausland'
169 (14%)
Datenbasis: Heimatbefragung im Saarland 2007 91
Die Befragten sind mehrheitlich in den jeweiligen Dörfern und Quartieren vernetzt. Nur etwa jede/r Siebte verfügt über Sozialbeziehungen, deren Radius ausschließlich über das Saarland hinaus auf Deutschland oder das Ausland bezogen ist. Im Ergebnis deuten auch diese Verteilungen auf die ausgeprägte regionale Verankerung der Befragten hin.
4.2.3
Verbundenheit mit dem Wohnort
Da das Heimatgefühl als emotionaler Ausdruck der Identifikation mit dem Wohnort interpretiert werden kann, ist es wichtig zu erfahren, wie stark sich die Menschen mit ihrem Ort verbunden fühlen. Häufig wird in quantitativen Erhebungen abgefragt, inwieweit sich Befragte als z.B. Deutscher, Sachse oder Berliner fühlen und auch, inwieweit sie stolz sind, ein Deutscher usw. zu sein (Allbus 1991, Mühler, Opp 2004). Wir haben in der saarländischen Umfrage eine sehr starke Formulierung gewählt, weil auch Heimatgefühle eine Steigerung regionaler bzw. örtlicher Identifikation darstellen. Um die Stärke der Verbundenheit mit dem Wohnort zu messen, wurde die Zustimmung zum Statement erbeten: „Ich möchte eigentlich nie in einem anderen Ort leben“. Insgesamt stimmen sechs von zehn der Aussage zu, davon 29 % der Befragten voll und ganz, und nur insgesamt 39 % lehnen das Statement ab. Es ist also mehrheitlich von einer starken Identifikation mit dem Wohnort auszugehen. Die Angaben variieren signifikant mit der Dauer, in der im Saarland gelebt wird. Von den im Saarland geborenen und sesshaften Saarländern/innen stimmt mehr als ein Drittel der Aussage voll und ganz zu (35 %), während es von den vergleichsweise kurz im Saarland Lebenden nur 6 % sind, die nie woanders leben möchten. Ein starker Einfluss zeigt sich ebenfalls beim Alter, denn der Anteil der höchsten Zustimmung steigt auf 44 % bei den über 65jährigen, im Unterschied zu 18 % bei den bis zu 45 Jahre alten Befragten. Hier dürfte die generell geringere Umzugsneigung bei Senioren/innen beim Antwortmuster eine Rolle spielen. Aus diesem Grund wurde weiter nach der kombinierten Betrachtung von Alter und Zuzug differenziert: Von den sesshaften älteren Saarländern/innen (Typ 1) möchten immerhin 52 % nie woanders leben, im Unterschied zu 33 % bei den zugezogenen Älteren (die aber bereits länger als sieben Jahre im Saarland wohnen; Typ 3). Ein vorangegangener Lebensabschnitt außerhalb des Saarlandes lässt es eher möglich erscheinen, die Region zu verlassen als ein ganz im Saarland verbrachte Leben. Auch bei den jüngeren im Saarland geborenen Sesshaften ist eine häufigere Zustimmung zum Wohnort zu erkennen als bei Mobilen
92
(Typ 1 bis 45 Jahre: 21 % Zustimmung voll und ganz; Zugezogene, länger als 7 Jahre im Saarland (Typ 3): 11 %). Die Bindung an die Region ist damit eher vom Alter als von der Sesshaftigkeit abhängig. Jüngere Menschen sind offener für einen Ortswechsel. Oben wurde ausgeführt, dass kleinere Orte eher mit Heimat in Verbindung gebracht werden als Städte, weil sie überschaubarer sind und vermutet wird, dass nahräumliche soziale Netze häufiger vorkommen. Entsprechend lautet unsere Hypothese, dass die Zustimmung zum Statement „Ich möchte nie woanders leben“ in kleinen Orten größer ist als z.B. in Saarbrücken. Neben dem emotionalen Aspekt, der auf stabile soziale Beziehungen und starke Bindungen hindeutet, spielen kognitive Elemente eine Rolle. Die Lebensbedingungen am Wohnort müssen hoch bewertet werden, wenn ein anderer Ort als Wohnort nicht in Frage kommt. Empirischen Ergebnissen entsprechend ist die Zufriedenheit mit dem Wohnort in kleineren Orten höher als in größeren (Böltken, Schneider, Spellerberg 1999), sodass auch aus Zufriedenheitsgründen ein stärkerer Zusammenhang zwischen kleinen Gemeinden und Ortsbindung zu erwarten ist. Die Hypothese einer größeren Identifikation der Befragten mit kleineren Orten trifft zu, denn während die Hälfte der Großstädter der Aussage, nicht woanders wohnen zu wollen, zustimmen, sind es in Dörfern immerhin zwei Drittel der Befragten (vgl. Tab. 5). Trotz dieser Unterschiede bleibt festzuhalten, dass auch mehr als die Hälfte der Saarbrücker enge Bindungen zu ihrer Stadt aufweist, und 23 % nicht woanders wohnen möchten (35 % in Gemeinden < 250 EW/km²). Die Differenzierung nach Alter und auch nach der Sesshaftigkeit war deutlicher sichtbar als beim Wohnort. Zudem muss bei der Ortsgröße auch das Wohneigentum mitgedacht werden. Wir haben die These vertreten, dass auch das selbstgenutzte Wohneigentum für die Ausbildung von Heimatgefühlen eine besonders wichtige Rolle spielt. In Deutschland mit seiner geringen Wohnmobilität bindet vor allem das Eigentum, denn die Transferkosten sind im internationalen Maßstab vergleichsweise hoch. Wichtiger noch ist das Anliegen von Familien, Familienkapital aufzubauen und Kindern ein komfortables Aufwachsen mit viel Platz zum Spielen zu ermöglichen. Eine Lage im Grünen wird zumeist angestrebt – zum einen sind Bauplätze auf dem Land günstiger als in Städten – zum anderen wird die Lebensqualität höher erachtet. Häußermann und Siebel fassen wie folgt zusammen „Die komplexe Gesellschaft kann nur ertragen werden, wenn es eine soziale Zelle gibt, die Identität stiftet und sichert. Dies ist die Familienwohnung – am vollkommensten realisiert im Eigenheim, wo Person, Familie und Haus zu ‚Heimat‘ verschmelzen“ (Häußermann / Siebel 1996: 89). Das Saarland ist das Bundesland mit der höchsten Wohneigentumsquote (65 %) – und in dieser Be-
93
fragung ist der Anteil mit 82 % noch höher. Mieter betonen zu 21 % und Eigentümer zu 31 % voll und ganz, nicht woanders wohnen zu wollen. In der multivariaten Betrachtung (vgl. Tab. 6) zeigt sich jedoch, dass es sich um eine Scheinkorrelation handelt, hinter der sich Ortskenntnis, langjährige Vertrautheit und emotionale Nähe zu Gleichgesinnten verbergen. Im Saarland Geborene, die nie außerhalb gelebt haben, zeigen beispielsweise eine 8fach höhere Zustimmung zu diesem Statement als Personen, die erst seit wenigen Jahren hier wohnen und Befragte aus Saarbrücken haben eine 50%-Wahrscheinlichkeit im Vergleich zu Befragten aus ländlichen Gemeinden, dem Statement zuzustimmen, nie woanders wohnen zu wollen. Die Vertrautheit mit einem Ort und die sozialen Beziehungen zu Personen außerhalb des engeren Verwandtenkreises fördern eine starke Bindung. Die Geschlechtszugehörigkeit, der Status als Eigentümer/in oder Mieter/in ebenso wie die räumliche Nähe zu den Familienangehörigen haben keinen Einfluss auf die Aussage „Ich möchte nie an einem anderen Ort leben“. Es sind demnach die aktiv gestalteten sozialen Netze und Überblick über die sozialräumlichen Verhältnisse, die eine Beheimatung positiv beeinflussen. Tab. 5: Zustimmung „Ich möchte nie woanders leben“ nach Gemeindetyp Möchte nie woanders leben Trifft nicht zu
Trifft zu
In % (Zeilen) Großstadt über 100.000 EW (Saarbrücken)
48
52
Gemeinden zw. 30.000 und 100.000 EW
45
55
Gemeinden über 250 EW/km² aber < 30.000 EW
36
64
Landgemeinden unter 250 EW/km² plus Oberthal und Namborn
33
67
Gesamt
39
61
Signifikant p < 0.01
94
Tab. 6: „Ich möchte nie an einem anderen Ort leben“ (log. Regression) Alter Nachbarschaft Alleinlebend Geschlecht Mieter/Eigentümer Freunde am Ort Verwandte am Ort Kind am Ort Eltern am Ort Geschwister am Ort Ortstyp Ortstyp (1) Ortstyp (2) Ortstyp (3) Saarländer Saarländer (1) Saarländer (2) Saarländer (3) Konstante
Exp (B) 1,037 ,640 1,553 1,160 ,957 1,503 1,271 1,109 ,810 1,361
B ,036*** -,446*** ,440** ,148 -,044 ,408** ,240 ,104 -,211 ,308
,499 ,512 ,702
-,694** -,670*** -,354*
8,033 3,066 3,806 ,022 R²: ,21
2,084*** 1,121* 1,337** -3,802*** N = 977
Signifikanzniveaus: *p 250 EW/km² und < 30.000 EW Landgemeinden < 250 EW/km² Gesamt
Großstadt
Bilder der Wohnregion HalbIndusoffene Dorf trieland- Wald Landschaft schaft In % (Zeilen)
10
18
7
30
23
8
19
10
7
10
41
23
8
21
9
4
9
54
19
5
42
8
2
5
75
3
8
18
9
7
8
50
18
7
n=1067
Signifikant p < 0.01 Datenbasis: Heimatbefragung im Saarland 2007 98
Insgesamt
Tab. 8: Ortstyp nach idealer Heimat
keines
Großstadt > 100.000 EW Gemeinden 30.000 - 100.000 EW Gemeinden > 250 EW / km² und < 30.000 EW Landgemeinden < 250 EW / km² Gesamt
Großstadt
Bilder der idealen Region HalbIndusoffene trieDorf Landlandschaft schaft In % (Zeilen)
Wald
Insgesamt
30
6
5
48
3
3
18
19
2
8
57
4
8
21
15
1
6
65
4
6
42
16
1
4
72
3
4
18
19
2
6
62
4
5
n=1071
Signifikant p < 0.01; „städtische Straße“: zu geringe Fallzahl, nicht berücksichtigt. Datenbasis: Heimatbefragung im Saarland 2007 Tab. 9: Ist-Soll-Vergleich: Heimatregion und ideale Heimat
Keines Tatsächliche Region Keines Großstadt Dorf Halboffene Landschaft Industrielandschaft Wald
Großstadt
Bilder der idealen Region HalbIndusoffene trieDorf Landlandschaft schaft
Wald
Insgesamt
In % (Zeilen) 78 25 14
2 13 2
/ 3 25
16 54 53
1 3 2
1 / 2
9 7 8
11
0
5
75
2
6
51
18
3
5
61
5
6
18
16
4
3
51
7
18
6
Signifikant p < 0.01; „städtische Straße“: zu geringe Fallzahl, nicht berücksichtigt. Datenbasis: Heimatbefragung im Saarland 2007 99
Werden die Befragten nach der „Ist-Soll“-Situation unterschieden, ergibt sich entsprechend, dass nur bei wenigen Stadtbewohnern/innen eine ideale Heimat vorliegt (5 %), mehr als fünf Mal so viele möchten lieber naturnah wohnen. Ebenso zeigt sich, dass im ländlichen Raum die Stadt nur selten bevorzugt wird (Tab. 9). Entsprechend der allgemeinen Vorstellung stimmt bei denjenigen, die die hügelige Landschaft als Lebensraum nennen, auch häufig der Wunsch mit der Realität überein (50 % der Befragten). Ein geringer Teil der in halboffener Landschaft Wohnenden präferiert den Wald. Ein Viertel kann dieser Typologie nicht zugeordnet werden. In Tabelle 10 wird ein Überblick dargestellt. Tab. 10: Ist-Soll-Vergleich zwischen Region und idealer Heimat Typ I Typ II Typ III Typ IV Typ V Typ VI Typ VII
Übereinstimmung Ort: Real Ort, Ideal Ort Übereinstimmung Land: Real Landschaft, Ideal Landschaft Differenz Ort: Real Ort, Ideal anderes Ortsbild Differenz Land: Real Landschaft, Ideal andere Landschaft Differenz Ort-Land: Real Ort, Ideal Landschaft Differenz Land-Ort: Real Landschaft, Ideal Ort Real oder Ideal 'keines'
5% 50% 4% 8% 26% 7% 26%
Datenbasis: Heimatbefragung im Saarland 2007 Es ist anzunehmen, dass diejenigen, bei denen die Ist-Situation mit dem Idealbild übereinstimmt, zufriedener sind als diejenigen, bei denen Diskrepanzen zutreffen. Entsprechend dürften Typ I und II sehr zufrieden sein, Typ III und IV eher zufrieden sowie Typ V und VI nicht zufrieden. Diese These wird überprüft, indem die Antworten auf das Statement „Ich möchte eigentlich nie in einem anderen Ort leben“ analysiert werden. Die Unterschiede sind allerdings nicht signifikant. Offensichtlich wirkt sich die Vorstellung einer idealen Heimat, in der jedoch nicht gelebt werden kann, nicht auf die Bewertung des eigenen Wohnortes aus. Zusammenfassend wird Heimat unabhängig vom konkreten Wohnort mit romantischer Landschaft in Verbindung gebracht und eher selten mit städtischen Lebensräumen. Die Komponente von Sehnsucht und Utopie im Heimatbegriff kommt in diesen Antwortmustern zum Tragen.
100
4.3.2
Charakterisierung der Heimat
Wir haben anhand einzelner Merkmale erhoben, wie die befragten Saarländer und Saarländerinnen ihren Ort bzw. ihr Stadtviertel beschreiben. Dazu haben wir Eigenschaften aus dem sozialen Bereich, des Erscheinungsbildes und des sozialen Umgangs in Form von Polaritäten erhoben. In der Abbildung 14 ist die Rangfolge der Bewertungen dargestellt, wobei kleine Werte die größte Zustimmung für die positive Eigenschaft bedeuten. Die Mittelwerte auf einer Skala von eins bis fünf zeigen, dass Befragte ihr Dorf bzw. ihren Stadtteil als vertraut, übersichtlich und sauber, gesellig und schön einschätzen. Das Gegensatzpaar „modern – traditionell“ erreicht die höchsten Werte – es ist bei diesem Merkmal jedoch am ehesten eine Frage der Perspektive, ob modern oder traditionell höher bewertet wird. Insgesamt werden eher positive Adjektive mit dem jeweiligen Dorf bzw. dem Stadtteil in Verbindung gebracht. Häufiger zutreffende negative Attribute sind langweilig, leblos, ungepflegt und laut.
Abbildung 15: Beschreibung der Heimat Datenbasis: Heimatbefragung im Saarland 2007 In einem nächsten Schritt wurde eine Hauptkomponentenanalyse berechnet, die einer weitergehenden Clusteranalyse zugrunde lag, um Meinungstypen zu ermit101
teln. Dieses Verfahren hatte zum Ziel, typische Gruppen der Bewertung zu ermitteln, die in sich homogen sind und sich zugleich deutlich voneinander unterscheiden. Es haben sich zwei Typen herauskristallisiert, von denen die erste Gruppe ihrem jeweiligen Wohnort etwas skeptischer gegenüber steht als die zweite Gruppe, die sehr gute Bewertungen abgibt. Im folgenden Polaritätenprofil (Abb. 16) sind die einzelnen Merkmale, die durchschnittliche Verteilung und die Angaben der beiden Typen dargestellt.
Abbildung 16: Polaritätenprofil Merkmale des Wohnortes nach Bewertungstypen Quelle: eigene Darstellung Datenbasis: Heimatbefragung im Saarland 2007 Die Werte in Abbildung 16 zeigen, dass sich die Skeptiker generell bei den Antworten zurückhaltender zeigen, sie kreuzen häufiger im mittleren Bereich an und zeigen damit weniger deutliche Ausschläge als bei der positiv gestimmten 102
Gruppe. Deutlich wird, dass den positiv Gestimmten ihr Dorf bzw. ihr Stadtteil sehr vertraut ist, und es einladend, schön und gesellig erscheint. Die Fähigkeit zur Orientierung, soziale Kontakte und ästhetische Komponenten wirken zusammen bei der Befürwortung einer Gemeinde. Die Streuungen der Angaben der beiden Vergleichsgruppen für die Gegensatzpaare reichen bis zu 1,2 Punkten (auf einer Skala von 1 bis 5) und liegen bei dem Gegensatzpaar „einladend – abweisend“ am deutlichsten auseinander. Hierbei sehen die Skeptiker ihr Dorf bzw. ihren Stadtteil durchschnittlich weder einladend noch abweisend (2,98), die positiv Gestimmten jedoch ausgesprochen einladend (1,77). Ein ähnlich großer Unterschied lässt sich beim Gegensatzpaar „abwechslungsreich – langweilig“ erkennen, wobei die Skeptiker ihren Wohnort eher als langweilig beurteilen (Skeptiker: 3,39 / positiv Gestimmte: 2,24). Die Skeptiker sehen ihr Dorf bzw. ihren Stadtteil im Gegensatz zu den positiv Gestimmten daneben auch ungepflegter, ungeselliger, hässlicher, grauer und lebloser. Auf sie wirkt ihr Dorf bzw. ihr Stadtteil weniger anziehend, schmutziger und etwas unübersichtlicher. Die größten Übereinstimmungen sind beim Gegensatzpaar „modern – traditionell“ zu erkennen. Dieses wird bei den Skeptikern und den positiv Gestimmten nahezu gleich gewichtet (Skeptiker: 2,66 / positiv Gestimmte: 2,53). Werden die beiden Gruppen nach den bisher untersuchten Merkmalen unterschieden, so zeigt sich kein Unterschied beim Geschlecht und beim Status als Mieter oder Eigentümer. Es wäre zu erwarten gewesen, dass Mieter dem Ort etwas skeptischer gegenüber stehen als Eigentümer, die sich lange an einen Ort gebunden haben. Der Bildungsabschluss ist relevant, weil der Anteil Befragter mit Abitur und Fachabitur in der Gruppe der Skeptiker höher liegt (44 % im Vergleich zu 37 %; signifikant p < 0.04). Ein vergleichbarer Zusammenhang ist mit dem Alter feststellbar, weil der Anteil Älterer bei den Skeptikern geringer ist (älter 65 Jahre: 22 % zu 30 %). Allerdings ist es unerheblich, ob jemand im Saarland geboren ist oder nur eine eher kurze Wohndauer hier aufweisen kann. Auch das Vorhandensein von Verwandten aller Art in Wohnortnähe spielt keine Rolle – aber Freunde am Ort sind relevant, d.h. die selbst gewählten Kontakte. Entsprechend der vorher präsentierten Ergebnisse sind die Skeptiker häufiger unter Stadt- als unter Dorfbewohner/innen zu finden, denn 25 % der Skeptiker wohnen in Saarbrücken, während es von den Befürwortern nur 14 % sind. Die Wohndauer, die auf eine Gewöhnung an Mängel oder Eigentumsbildung, die auf eine positive Entscheidung und damit Dissonanzreduktion hindeuten, sind entgegen der Erwartungen keine relevanten Größen. Höhere Bildungsabschlüsse und städtisches Leben führen zu weniger positiven Einschätzungen, während das persönliche Involviertsein am Wohnort mit positiven Gemeindebewertungen einhergeht.
103
4.3.3
Typisches für die Region
Auf die offen gestellte Frage, was typisch für die jeweilige Region und die Menschen ist, haben über 80 % geantwortet. Die Befragten wurden gebeten anzugeben, welche Merkmale sie für typisch für die Region und die Menschen, die dort leben, erachten. Hierbei wurden keine Antwortmöglichkeiten vorgegeben, vielmehr konnten die Befragten offen antworten. Insgesamt wurden 2873 positive und 1246 negative Merkmale genannt. Bei den positiven Aspekten wurden im Schnitt knapp drei Dinge genannt (Mittelwert aller Fragebögen, einschließlich der Nicht-Antwortenden: 2,6). Bei den negativen Äußerungen zeigt sich ein anderes Bild, weil mehr als vier von zehn (44 %) keinerlei Negatives aufschrieben und von den Antwortenden im Mittel nur ein Bereich genannt wurde. Zunächst fällt also auf, dass insgesamt mehr als doppelt so viele positive wie negative Angaben gemacht werden, und positive Beschreibungen sich auch häufiger wiederholen, während bei den negativen Merkmalen inhaltliche Einzelaussagen überwiegen (vgl. auch Kapitel 5.4). Tab. 11a: Die zehn am meisten genannten positiven Merkmale Positive Merkmale
Anzahl der Nennungen
Gesellig
271
Landschaft / Natur / Wald
229
Freundlich
226
Offen, aufgeschlossen
206
Hilfsbereit
177
Essen / Trinken / Schwenken / Gastronomie / Küche
109
Vereinswesen
65
Heimatverbunden
58
Fleißig, arbeitsam
58
Gastfreundlich, fremdenfreundlich
56
104
Tab. 11b: Die zehn am meisten genannten negativen Merkmale Negative Merkmale
Anzahl der Nennungen
Arbeitslosigkeit / Berufschancen
84
Autoverkehr / schlechte Straßen
84
Bergbau/ -schäden (Kohle, Montan…)
71
Wenig Einkaufsmöglichkeiten / schlechte Infrastruktur / Geschäfte schließen
67
ÖPNV
29
Geschwätzig / redselig / Tratsch
26
Luft- / Umweltverschmutzung
26
Politik (u.a. Vetternwirtschaft)
22
Stur
21
Sprache / Dialekt / Mundart
21
Datenbasis: Heimatbefragung im Saarland 2007 Die Auflistung zeigt deutlich, dass vor allem der Umgang mit Fremden und Freunden sowie soziale und gemeinschaftliche Aktivitäten positiv hervorgehoben werden (s.u. Kap. 5.2.1). Über 200 Mal wird jeweils genannt, die Menschen in der Region seien gesellig, freundlich, offen und aufgeschlossen sowie (177 Mal) hilfsbereit. Zudem wird das Vereinswesen von den Befragten als positiv in der jeweiligen Region betrachtet. Diese Angaben unterscheiden sich nicht von im Saarland Geborenen und vergleichsweise frisch Zugezogenen, es gibt also auf Basis dieser Daten keinen Hinweis darauf, dass Fremde in die sozialen Netzwerke nicht integriert würden. An zweiter Stelle der positiven Merkmale werden Aspekte genannt, die die Natur und die Landschaft in der Region betreffen, d.h. eine reizvolle, schöne und abwechslungsreiche Landschaft oder naturbelassene Wälder. Insgesamt ein Fünftel (19 %) aller Befragten hebt diese Merkmale hervor. Weitere knapp 5 % aller Befragten nennen die Heimatverbundenheit der Saarländer als eine positive Eigenschaft. Auch die saarländische Küche inklusive dem „Schwenken“ (grillen 105
mithilfe eines an einer Kette befestigten schwenkbaren Rostes, zumeist an einem Dreibeingestell aufgehängt) wird von immerhin 9 % der Befragten hervorgehoben.
Abbildung 17: Schwenken. Das Zubereiten von Fleisch auf einem schwenkbaren Grill, aufgehängt an einem Dreibeingestell, das so genannte „Schwenken“ gilt als Ausdruck einer „typisch saarländischen“ Geselligkeit. (Foto: Antje Schönwald) Eine hohe Arbeitslosigkeit bzw. mangelnde Aussichtschancen auf dem Arbeitsmarkt und die Verkehrssituation werden am häufigsten als negatives Merkmal genannt. Hierbei ist jedoch anzumerken, dass das Saarland im Hinblick auf die Arbeitslosenquote im Ländervergleich mit 8 %8 verhältnismäßig gut abschneidet. Es kann angenommen werden, dass der ökonomische Strukturwandel und der qualitative Umbau des Arbeitsmarktes eine Rolle bei den Angaben gespielt haben. Die mangelnden finanziellen Mittel für Infrastrukturleistungen kommen in den Angaben zum Straßenzustand zum Ausdruck. Die Luft- bzw. Umweltverschmutzung (26 Nennungen), der Lärm (19 Nennungen) sowie der Bergbau und dessen Folgen (71 Nennungen) werden ebenfalls als negativ angegeben. Unter den elf meist genannten negativen Assoziationen befinden sich nur drei personenbezogene Eigenschaften (geschwätzig, stur und neugierig), die
8
106
http://www.saarland.de/SID-3E724395-CB566CC0/7213_33780.htm; Stand Oktober 2009.
übrigen beziehen sich vielmehr auf strukturelle Schwachpunkte im Saarland wie z.B. mangelnde Infrastruktureinrichtungen oder den Kohleabbau und dessen Folgen. An dieser Stelle wird vor allem der Mangel an Geschäften – insbesondere auf dem Land – angeführt. Geschwätzig und neugierig (20 Nennungen, nicht aufgelistet) können als die Kehrseiten der geäußerten Haltung "Jede/r kennt Jede/n" im Saarland gelten9. Trotz der Tatsache, dass die Befragten insgesamt weniger negative als positive Assoziationen mit ihrer Region verbinden, lässt sich feststellen, dass sich die Befragten der Probleme im Saarland durchaus bewusst sind. Bemerkenswert erscheint auch, dass 20 Personen einen hohen Ausländeranteil im Saarland beklagen (nicht tabellarisch ausgewiesen, Platz 11), der offiziell bei 8,5 % liegt. Es ist anzunehmen, dass von einem Teil der Befragten Heimat als Heimat für einen eingeschränkten – weißen, deutsch sprechenden – Bevölkerungskreis verstanden wird. Offenheit für Fremde ist hier nicht erkennbar. Als typisch saarländisch können die in der „Negativspalte“ aufgelisteten Bemerkungen „hauptsach' gudd gess“ (Hauptsache gut gegessen) und "HeinzBecker" (Kabarettist) angeführt werden. Zusammenfassend nannten bei den positiv Antwortenden mehr als neun von zehn eine mentale Eigenschaft (93 %; z. B. offen, fleißig, wandlungsfähig), und weitere 86 % soziale Merkmale (z.B. gesellig, gastfreundlich), während äußere Lebensbedingungen wie Infrastruktur und Wirtschaft nur bei 10 % bzw. 3 % der Antwortenden relevant waren (vgl. Tab. 12). Bei den negativen Dingen liegt zwar auch mit der Hälfte der Fälle der mentale Bereich vorne (51 %; z. B. provinziell, konservativ), aber mit 50 % folgt sofort die infrastrukturelle Versorgung (Schulen, Verkehrsverbindungen, Einkaufsmöglichkeiten). Tab. 12a: Positive Merkmale der Region Positive Merkmale Mentale Eigenschaft Soziale Eigenschaft Kulturelle Eigenschaft Umwelt und Erholung Funktionale Infrastruktur Wirtschaftliche Faktoren Gesamt 9
Anteil der Antworten in %
Anteil der Befragten in %
32 29 18 17 3 1 100
93 86 59 50 10 3
s. u. Kap. 5.4.1
107
Die Angaben sind unabhängig von der Geschlechtszugehörigkeit und dem Ortstyp, in dem gelebt wird. Mit steigender Schulbildung werden differenziert die genannten Eigenschaften der Saarländer/innen angeführt (erste positive Nennung mentale Eigenschaft z.B. 24 % der Hauptschulabgänger und 30 % derjenigen mit (Fach-)Abitur, zweite Nennung: 15 % zu 30 %). Auch bei den negativen Aspekten äußern sich die besser gebildeten Befragten dezidierter. Tab. 12b: Negative Merkmale der Region Negative Merkmale Mentale Eigenschaft Soziale Eigenschaft Kulturelle Eigenschaft Zustand der Umwelt Infrastruktur und Versorgung Wirtschaftliche Situation Gesamt
Anteil der Antworten in %
Anteil der Befragten in %
26 14 7 13 26 14 100
51 27 13 26 50 27
Datenbasis: Heimatbefragung im Saarland 2007
4.3.4
Bedeutung der Heimat
Heimat ist ein vielschichtiger Begriff, der sowohl mit der Herkunftsfamilie und dem Herkunftsort konnotiert ist, als auch mit freiwilligen Bindungen und Netzwerken, die ein Zugehörigkeitsgefühl, Gemeinschaft und Schutz vermitteln. Mit der deutschen Wiedervereinigung, der Globalisierung, Mobilität und Flexibilität scheint es jedoch angemessen, den Heimatbegriff „hybrider“ und offener zu fassen als es mit der bisherigen Ortsbezogenheit möglich ist (Gebhard et al. 2007: 47). Einer SPIEGEL-Umfrage entsprechend ist Heimat für 31 % der Bevölkerung der Wohnort, für 27 % der Geburtsort, für 25 % die Familie, für 11 % das Land und für 6 % Freunde (Schlink 2000: 23). Die Bindung an bestimmte Orte und soziale Beziehungen in einem bestimmten Raum sind mit diesen Heimatvorstellungen verbunden. Wenn nach dem Verlassen der Heimat eine Anpassung an die neuen Lebensumstände nicht gelingt, setzt häufig das Gefühl von Heimweh ein, das zu psychischer Erkrankung führen kann (Jaspers 1963, zitiert nach Bernet 2006: 87). Es handelt sich um ein Gefühl, das sich unmittelbar auf einen Raum bezieht und 108
als Distanz zum Heimatort erlebt wird. Dieser Ort ist häufig der Herkunftsort und damit der Ort, an dem der persönliche Ursprung liegt und zu dem man quasi naturgemäß gehört. Heimweh bedeutet eine tiefe Sehnsucht nach diesem Ort mit seiner Topographie, Landmarken, Bräuchen und Sozialbeziehungen einerseits, bei unfreiwilligem Verlassen der Heimat möglicherweise auch das Vermissen einer sinnvollen, adäquaten Betätigungsmöglichkeit andererseits (Bernet 2006; Greverus 1979). Neben diesen pragmatischen Gründen bedeutet Heimweh aber auch, einen Ort aus der Distanz mit einer neuen, gesteigerten Bedeutung zu belegen: „Eigentlich liebenswert wird die Heimat erst im Heimweh“ (Bernet 2006: 92). Die Rückkehr an den vermissten Ort ist häufig von Enttäuschungen begleitet, weil der tatsächliche Ort sich verändert hat oder schlicht nicht identisch ist mit den Vorstellungen, die während der Abwesenheit vorherrschten. Und weil in der Heimat unerfüllbare Wünsche, Hoffnungen und Sehnsüchte liegen, kann Heimat auch als „Nichtort“, als Utopie begriffen werden (Schlink 2000). Auf die im Saarland gestellte Frage: „Was macht für Sie Heimat aus? (Mehrfachnennungen möglich)“ ergab sich folgende Verteilung: Tab. 13: Bedeutung von Heimat (Mehrfachnennungen) Heimat ist da, wo… ich mich geborgen fühle. ich meine Kindheit verbracht habe. mein Haus steht, wo ich wohne. meine Freunde sind. meine Sprache / mein Dialekt gesprochen wird. meine vertraute Landschaft ist. Leute leben, die so denken und fühlen wie ich. Bräuche gelten, die mir vertraut sind. ein Gefühl von Sehnsucht. ein idealer Ort, den es nicht gibt. Gesamt
Anteil der Antworten in % 15 15 15 14
Anteil der Befragten in % 77 76 76 74
11
59
11
58
9
45
7 3 1 100 % n=6205
38 16 5 524 % n=1185
Datenbasis: Heimatbefragung im Saarland 2007.
109
Aus der Tabelle kann abgelesen werden, dass der überwiegende Teil der Befragten mehr als eine Dimension von Heimat für relevant erachtet, 85 % stimmen bei drei und mehr Bedeutungen zu. Im Durchschnitt werden immerhin 4,5 Merkmale für relevant erachtet. Den ersten drei Nennungen stimmen etwa 900 der knapp 1.200 Befragten zu: Nahezu gleichauf liegen die Bedeutungen Kindheit, Wohnort und Geborgenheit auf Platz eins. Das vertraute Gefühl, Schutz und Sicherheit sowie die langjährige Verwurzelung sind mit dem Heimatbegriff eng verbunden. Freunde als selbst gewählte soziale Bindungen und belastbare Netzwerke bedeuten ebenfalls für knapp drei Viertel der Befragten Heimat. Die Muttersprache bzw. der Dialekt folgt auf dem nächsten Rang und verweist auf die Kommunikations- und Ausdrucksmöglichkeiten, die für soziale Integration zentrale Komponenten sind. An fünfter Stelle steht die vertraute Landschaft, die wiederum auf den Ortsbezug aufmerksam macht. Das Aufgehen in einer Gemeinschaft und das Selbstverständliche der Lebenswelt werden mit „wo Leute leben, die so denken und fühlen wie ich“ sowie „wo Bräuche gelten, die mir vertraut sind“ angesprochen (etwa vier von zehn Befragte). Die abstrakteren Vorgaben, die auf Heimat als Nichtort oder Sehnsuchtsvorstellung abzielen, werden nur von einer Minderheit angekreuzt, wobei das Gefühl von Sehnsucht immerhin noch von jedem/r Sechsten angegeben wird. Auch wenn wie bei der SPIEGEL-Umfrage, die Bindung an einen bestimmten Ort durch lange bzw. erste Wohndauer im Mittelpunkt stehen, so sind Freunde heute offensichtlich wichtiger für die Beheimatung geworden. Auch wenn theoretisch drei Dimensionen unterschieden werden können, eine ortsgebundene Dimension (Bräuche, Dialekt, Landschaft und Kindheit), eine soziale Dimension (Geborgenheit, soziale Identifikation und Freunde) sowie eine abstrakte Dimension (Sehnsucht und Utopie), so zeigen sich keine klaren Muster der Beantwortung, die es ermöglichen würde, Typen zu bilden, die in sich homogen sind. Dies liegt an der hohen Anzahl von Mehrfachnennungen (ein knappes Drittel der Befragten hat sechs und mehr Merkmale angegeben) und den verbreiteten Korrelationen. Die Vielfalt des Heimatbegriffs wird von den Befragten durchaus wahrgenommen und zeigt sich in der Breite der Antwortmuster.
4.3.5
Bewertung der eigenen Heimat
Bewertungen von Heimat haben wir anhand der Gegensatzpaare modern – altmodisch, wahr – falsch, sachlich – gefühlsbetont, sympathisch – unsympathisch
110
sowie wichtig – unwichtig erhoben, die auf einer Fünferskala angegeben werden konnten (vgl. Tab. 14). Tab. 14: Bewertung von Heimat ++
+
0
+
++
In % modern
8
26
48
15
3
altmodisch
wahr
29
47
2
/
/
falsch
sachlich
7
15
21
41
16
sympathisch
48
45
5
1
/
unsympathisch
wichtig
46
43
9
1
/
unwichtig
gefühlsbetont
Datenbasis: Heimatbefragung im Saarland 2007 Die Verteilungen zeigen, dass Heimat von nahezu allen Befragten für sympathisch und wichtig erachtet wird. Auch bei dem Begriffspaar wahr – falsch, das auf eine ungesunde, weil nicht zu befriedigende Sehnsucht abzielt, entscheiden sich drei Viertel der Befragten für die positive Anschauung, die übrigen wählen die mittlere, neutrale Kategorie. Die Mehrheit meint darüber hinaus, Heimat habe eher eine gefühlsbetonte als sachliche Bedeutung. Und weniger als jede/r Fünfte meint, Heimat sei altmodisch, fast doppelt so viele erachten Heimat als modern. Hier enthält sich allerdings knapp die Hälfte der Befragten. Heimat scheint damit ein zeitloses, sehr positiv bewertetes Phänomen zu sein. Hinzuweisen bleibt auf die vergleichsweise hohe Anzahl von missings auf diese Frage, die zwischen 7 % (wichtig – unwichtig, sympathisch – unsympathisch) und 15 % (wahr – falsch) liegt. Je nach sozialstruktureller Kategorie ergeben sich signifikant unterschiedliche Bewertungsmuster: Frauen finden Heimat zu 57 % sehr wichtig, während es bei den Männern 41 % sind. Im Unterschied hierzu sehen 25 % der Männer im Unterschied zu 15 % der Frauen Heimat als sachlich bzw. eher sachlich. Bildung differenziert ebenfalls deutlich: Befragte Saarländer mit Hauptschulabschluss finden Heimat zu 12 % modern, während dies 7 % mit mittlerer
111
Reife und nur 4 % derjenigen mit (Fach-)Abitur so bewerten. Umgekehrt ist es bei der Zustimmung zu gefühlsbetont, bei dem die Verteilungen etwa 30 % zu 40 % zu 50 % bei Hauptschule, Realschule und (Fach-)Abitur betragen. Heimat ist für Personen mit Hauptschule wichtiger als für die besser Gebildeten (55 % zu 36 %), obwohl der hohe Anteil von Befragten mit höheren Bildungsabschlüssen nahe legt, dass auch bei dieser Gruppe Resonanz findet. Das Alter steht erwartungsgemäß in einem engen Zusammenhang mit den Einschätzungen von Heimat: Jüngere haben geringere Werte bei modern (2 % bis 45 Jahre, 5 % bis 65 Jahre, 16 % über 65 Jahre) und sachlich (0 % zu 4 % zu 17 %). Es zeigen sich aber auch kurvenförmige Antwortmuster, nach denen sich Jüngere und Ältere ähnlich sind, während die mittlere Altersgruppe abweicht. Die Verteilungen beim Kriterium "wahr" sind 30 % zu 23 % zu 37 %, bei "sympathisch" 54 % zu 41 % zu 53 % und bei wichtig 47 % zu 40 % zu 53 %. Es scheint, als ob die jüngere Generation einen emphatischeren Heimatbegriff hat als die mittlere, heutige Babyboomer-Generation, die den sozialen Aufbruch der 60er- und 70er-Jahre miterlebt und gestaltet hat, und zugleich nicht den Flexibilitätserwartungen der jüngeren Altersgruppen unterliegt.
4.3.6
Vorhandensein einer weiteren Heimat
Eine Minderheit von etwas mehr als einem Viertel (28 %) der Teilnehmer/innen gibt an, dass sie eine zweite Heimat hat, dementsprechend verneinen dies fast drei Viertel (72 %) der Befragten. 58 Personen (5 %) machen hierzu keine Angaben. Fast die Hälfte derjenigen mit zweiter Heimat gibt auf die offene Frage als ihre zweite Heimat einen Ort oder eine Gemeinde an. Jeweils jeder sechste (jeweils 16 %) bezeichnet entweder ein Land oder eine Region als seine zweite Heimat. Von denjenigen, die auf die Frage antworten, was mit der zweiten Heimat assoziiert wird, geben die meisten Familie und Freunde, Kindheit und Erinnerungen an. Es folgen die Merkmale Landschaft und Umwelt – häufig werden Urlaubsorte als zweite Heimat genannt (etwa ein Fünftel). Die übrigen Angaben verteilen sich größtenteils auf bestimmte biographische Etappen (Ausbildung und Studium, Heimat des Partners, ehemaliger Wohnort) sowie feste Bezugspunkte an einem anderen Ort (Arbeitsplatz). Wenig überraschend ist, dass der Ort der Familie und von festen Freunden eine sehr große Rolle spielt. Bemerkenswert ist jedoch, dass bestimmte Landschaften Heimatgefühle wecken, und auch der wiederkehrende Urlaubsort eine sehr große emotionale Bedeutung für Ortsbindungen aufweist.
112
Tab. 15: Bezeichnungen der zweiten Heimat Ort / Gemeinde Region Land Bundesland Landesteil Kontinent Sonstiges Bestimmte Landschaft
46 % (146) 17 % (52) 16 % (49) 10 % (31) 4 % (14) 3 % (9) 3 % (9) 2 % (6)
Datenbasis: Heimatbefragung im Saarland 2007 Tab. 16: Assoziationen mit der zweiten Heimat
Familie und Freunde Kindheit und Erinnerungen Landschaft und Umwelt Mentalität Urlaub und Freizeit ehemaliger Wohnort Arbeitsplatz Heimat des Partners Ausbildung und Studium Sonstiges Gesamt
Anteil der Antworten in % 33 23 15 8 6 5 4 3 2 2 100 % n=362
Anteil der Befragten in % 42 30 19 10 8 6 5 4 3 2 128 %
Datenbasis: Heimatbefragung im Saarland 2007 Unter denjenigen, die eine zweite Heimat angegeben haben, ist der Abiturientenanteil deutlich höher, nämlich etwa doppelt so hoch, wie bei jenen ohne zweite Heimat. Der Anteil der Hauptschulabgänger mit zweiter Heimat ist unterdurchschnittlich. Dementsprechend ist der Anteil starker Einkommensgruppen unter jenen mit zweiter Heimat etwas höher. Es ist auch aus den aufgeführten Assoziationen zu schließen, dass die Mobilität bei denjenigen mit Abitur höher ist und deshalb mehrere Orte mit entsprechenden Möglichkeiten der Freundeswahl, des Eingewöhnens in fremde Landschaften und Institutionen in der Wohnbiographie aufgeführt werden können.
113
Dies wird auch bestätigt durch die Tatsache, dass der Anteil jener, die im Saarland geboren sind und nie woanders gelebt haben, mit 71 % bei den Teilnehmer/innen ohne zweite Heimat doppelt so hoch ist, wie bei jenen mit zweiter Heimat. Ebenso ist der Anteil derer mit starken sozialen Verflechtungen bei den Ablehnern einer zweiten Heimat doppelt so hoch (55 %). Der Anteil jener mit schwachen Verflechtungen ist höher bei jenen mit zweiter Heimat und liegt bei 35 % (Ø 15 %). Unerheblich in Bezug auf eine zweite Heimat sind dagegen Alter, Geschlecht, Kinderzahl, Wohnstatus, Ortstyp, Orts- und Nachbarschaftskenntnis sowie Engagement. Auf die Frage, ob sich die Teilnehmer/innen eine dritte oder vierte Heimat vorstellen könnten, stimmt immerhin ein Viertel (25 %) zu. 74 % können sich keine dritte oder vierte Heimat vorstellen. Der Anteil derjenigen mit einer zweiten Heimat ist nur geringfügig größer (28 %), was darin begründet liegt, dass direkt gefragt wurde, ob der/die Befragte eine zweite Heimat habe, während die Frage nach einer dritten bzw. vierten Heimat vage gehalten ist und auf die Vorstellung abzielt. Es hat zwar die Mehrheit derjenigen mit einer zweiten Heimat geantwortet, sich auch eine weitere vorstellen zu können (54 %), aber 46 % haben hier verneint – sie haben zu der zweiten Heimat offensichtlich so starke Beziehungen, dass eine weitere nicht in Frage kommt. Personen ohne zweite Heimat haben zu 85 % bekundet, sich auch keine weitere als die erste vorstellen zu können. Unter den Personen, die sich keine dritte oder vierte Heimat vorstellen können, befinden sich viele Ältere (Median 58 Jahre im Vergleich zu 51,5 Jahren). Jene, die sich keine dritte oder vierte Heimat vorstellen können, sind – auch aufgrund der Altersverteilung – häufig weniger gebildet. Der Abiturentenanteil bei denjenigen mit mehr als zwei Heimaten ist doppelt bzw. der Hauptschulabgängeranteil nur halb so hoch. Dementsprechend sind unter jenen, die sich keine dritte oder vierte Heimat vorstellen können, häufiger Einkommensschwache (etwa jeder sechste) zu finden. Bei den Personen mit mehreren Heimaten ist nur jeder zwanzigste einkommensschwach. Antwortende, die sich eine dritte oder vierte Heimat vorstellen können, haben häufiger bereits außerhalb des Saarlandes gelebt und sind weniger stark in die Gemeinde eingebunden.
4.3.7
Verortung von Heimat
Die Teilnehmer/innen wurden gebeten, eine räumliche Abgrenzung ihrer Heimat vorzunehmen. Erstaunlich ist, dass sechs von zehn das gesamte Saarland als ihre Heimat ansehen, obwohl ein klarer Ortsbezug bei der räumlichen Identifikation erkennbar ist (s. u. Kap. 5.2.6). Dies bestätigt das vorne ausgeführte, hohe Zu-
114
sammengehörigkeitsgefühl der Menschen innerhalb des historisch gewachsenen, besonderen Saarlandes. Etwas weniger Befragte bezeichnen ihre Wohnung (55 %), ihre Region (54 %) oder ihr Dorf / Quartier einer Stadt (49 %) als ihre Heimat. Die jeweilige Gesamtstadt wird nur von 28 % der Befragten als Heimat bezeichnet, was auch daran liegt, dass viele nicht in einer Stadt wohnen. Tab. 17: Bezeichnungen für Heimat (Mehrfachnennungen)
Das Saarland Meine Wohnung Meine Region Mein Dorf / Quartier einer Stadt Meine Stadt Eine andere Region, etwas anderes Ich habe keine Heimat Gesamt
Anteil der Antworten in % 24 22 21 20 11 2 0 100 % n=2969
Anteil der Befragten in % 61 55 54 49 28 5 0 252 %
Datenbasis: Heimatbefragung im Saarland 2007 Eine andere Region geben nur rund 5 % als ihre Heimat an. Hier werden die Herkunft bzw. der Ort der Kindheit (15 Nennungen), eine andere Region (11) oder Gemeinde (4) und ein anderes Bundesland (8) genannt. Weitere sehen ihre Heimat in Europa, der Welt, Deutschland oder dort, wo sich Familie, Freunde und Gleichgesinnte aufhalten. Mit nur zwei Befragten ist der Anteil derjenigen, die von sich behaupten, keine Heimat zu haben, verschwindend gering. Die Teilnehmer/innen wurden gebeten, auf einer beigelegten Karte des Saarlandes und der umgrenzenden Regionen ihre Heimat bzw. ihren Heimatort einzuzeichnen. 917 Teilnehmer/innen (77 %) nahmen dies zum Anlass um in verschiedenen Formen ihre Heimat darzustellen, darunter auch 31 Personen, die zwei Heimaten einzeichneten. Über ein Drittel (38 %) derjenigen, die mindestens eine Heimat eingezeichnet haben, haben ihre (erste) Heimat in Form eines Punktes gesetzt und damit ihre Heimat mit ihrer Wohnung, einem bestimmten Ort oder maximal ihrem Straßenzug gleichgesetzt. In den überwiegenden Fällen wurde der jeweilige Wohnort in der Darstellung mit eingeschlossen, wenn nicht sogar als Punkt markiert. Etwas weniger als ein Drittel (32 %) umkreisten ihre Heimat (zumeist der 115
Wohnort), rund ein Fünftel (21 %) markiert ihre Heimat elliptisch. Bei letzteren könnte abgeleitet werden, dass diese Teilnehmer/innen durch ihre spezielle Formgebung einen besonderen Bezug zu spezifischen Orten der Umgebung haben. Andere Formen sind seltener. Die Größen der Formen der ersten Heimat sind zu 48 % zwischen wenigen Millimetern und unter 3 cm groß. Diese Heimaten entsprechen demnach in etwa der Größe einer Stadt bzw. eines Dorfes und den umliegenden Gemeinden. Um zu ermitteln, ob für die Befragten Heimat auch abstrakt, ohne Ortsbezug vorstellbar ist, wurde nach Heimat als gemeinsame Weltanschauung gefragt. Diese Möglichkeit bejahten immerhin ein Drittel der im Saarland Befragten (31 %). Die Übrigen (69 %) können sich dies nicht vorstellen. Jene, die sich Heimat als eine gemeinsame Weltanschauung vorstellen können, haben häufiger die Hochschulreife (mehr als jeder vierte) und leben auch häufiger in der Stadt (63 %). Die sozialen Verflechtungen am Ort sind bei dieser Gruppe eher schwächer ausgeprägt. Keine Rolle spielen im Hinblick auf die Heimat als eine gemeinsame Weltanschauung das Alter, das Geschlecht, die Kinder, der Wohnstatus, das Einkommen, der Wohnbezug, die Orts- oder Nachbarschaftskenntnis und das soziale Engagement.
4.3.8
Ursachen für Heimatlosigkeit
Angesichts der ausgeprägten Heimatorientierung, wäre ein Heimatverlust eine starke emotionale Beeinträchtigung für die Teilnehmer/innen der Umfrage. Um die Einflussfaktoren der Ortsbindung weiter zu ermitteln, wurde gefragt, welche Faktoren die Teilnehmer/innen heimatlos machen würden. Hierzu wurden sechs (Mehrfach-) Antwortmöglichkeiten gegeben, die sowohl Erwerbsmöglichkeiten, eine sichere Wohnung, ästhetische Aspekte sowie die soziale Einbettung umfassen: Arbeitslosigkeit, Vertreibung, anders denkende Menschen, Einsamkeit, Arbeitsplatz in der Fremde und „Hässlichkeit“ der Wohnumgebung. Vertreibung vom Wohnort ist für über die Hälfte der Befragten (62 %) ein Grund für den Verlust von Heimat. Dieser Grund rangiert weit abgeschlagen auf Platz eins und stellt zum Glück in der aktuellen Gesellschaft kein Gefahrenpotential dar. Untersuchungen zeigen jedoch, dass die nach dem zweiten Weltkrieg aus dem Sudentenland, Schlesien und Ostpreußen Vertriebenen dieses Schicksal erleiden mussten: „Viele klagen jedoch über chronisches Heimweh. Die Unmöglichkeit, jemals wieder für immer an den Ort der Kindheit zurückzukehren, beschreiben sie oft als eine ihrer größten Sorgen“ (Kuwert in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 5.7. 2009). Und auch die seit dem Mauerfall als sogenannte Russlanddeutsche immigrierten Menschen
116
vermissen ihre Herkunftsregion, denn dort bestanden Arbeitsplätze, häufig sehr qualifizierte, vor allem für Frauen, während in Deutschland rechtliche, sprachliche, schulische und berufliche Probleme zu meistern sind und Diskriminierungserfahrungen gemacht werden: „Dabei pendeln viele, das haben unsere Gespräche über „Heimat“ deutlich gemacht, zwischen Russland als der eher realen und Deutschland als der stärker idealen Heimat. Und Hand in Hand mit der Integration in Deutschland geht das Heimweh nach Russland.“ (Wierling 2004: 207) Tab. 18: Faktoren der Heimatlosigkeit Anteil der Antworten in %
Anteil der Befragten in %
Vertreibung
32
62
„Hässlichkeit“ der Wohnumgebung
18
35
Arbeitsplatz in der Fremde
16
30
Einsamkeit
15
28
Arbeitslosigkeit
12
22
Andersdenkende
8
14
100 % n=2122
190 %
Gesamt
Datenbasis: Heimatbefragung im Saarland 2007 Bemerkenswert ist weiterhin, dass eine hässliche Wohnumgebung für ein Drittel (35 %) auslösend für Heimatlosigkeit sein kann. Dies könnte durch einen Verlust von Identität begründet sein und bestärkt im Nachhinein die Kritik von Alexander Mitscherlich (1965) an der „Unwirtlichkeit der Städte“. Ästhetische Kriterien und subjektive Maßstäbe bei der Beurteilung von Häusern und Wohnumfeldern sind diesen Ergebnissen entsprechend für den Beheimatungsprozess besonders wichtig. Ein Arbeitsplatz in der Fremde, zu dem gependelt werden muss, oder der zu einem Zwangsumzug führt, ist für 30 % der Teilnehmer/Innen ein Grund für den Verlust von Heimat. Und die Arbeitslosigkeit führt bei rund einem Fünftel (22 %) zur Heimatlosigkeit. Diese vergleichsweise hohen Werte sprechen tat-
117
sächlich für die These, dass erzwungene Mobilität in Zeiten der Globalisierung zu psychischen und sozialen Beeinträchtigungen führt. Heimat wird von den Befragten für ausgesprochen wichtig erachtet und ein Verlust käme einer Einbuße an Lebensqualität gleich – auch wenn das Einkommen durch den Wechsel des Arbeitsortes gesichert werden könnte. Wie wichtig die Arbeit als solches, also eine als befriedigend erlebte Arbeit, ist, wird an den hohen Werten deutlich, die Arbeitslosigkeit für Heimatlosigkeit einnimmt. Ein Teil der Befragten – und hier wurden die Erwerbstätigen nicht separat betrachtet – folgt damit auch implizit dem Konzept von Ina-Maria Greverus, die eine sinnerfüllte Tätigkeit als Bestandteil des Heimatkonzeptes begreift. Die soziale Einbindung liegt im Mittelfeld, denn Einsamkeit würde mehr als ein Viertel der Befragten heimatlos machen (28 %). Die als positiv genannten Merkmale Geselligkeit, Offenheit und Aufgeschlossenheit weisen auf die besonders hohe Bedeutung der sozialen Integration hin – aber auch auf die Chancen, an einem anderen Ort im Saarland gut aufgenommen werden zu können. An diesen Angaben zeigt sich besonders, dass eine Ausweitung der Studie auf andere Regionen in der Bundesrepublik eine Einordnung der Ergebnisse und weitere Vergleiche ermöglichen würde. Anders denkend zu sein, ist für rund 14 % ausschlaggebend für Heimatlosigkeit. Eine gemeinsame Weltanschauung und geteilte Werte erleichtern den Umgang miteinander und fördern Identifikationsmöglichkeiten im Wohngebiet. Aus diesem Grund streben viele Menschen danach, unter „Ihresgleichen“ zu wohnen, sei es nach dem Kriterium des Lebensstils, der Familienform, der sozialen Lage oder des ethnischen Hintergrunds. Trotz der aktuellen Diskussionen um das Thema der Homogenität bzw. Heterogenität von Wohnquartieren, ist dieses Kriterium für das Heimatgefühl offensichtlich für die Mehrheit nicht entscheidend. In einer abschließenden Frage wurden die Teilnehmer/innen gebeten anzugeben, was sie empfinden, wenn sie während einer Reise zufällig jemanden aus der eigenen Gegend treffen. Hierbei gab es drei Antwortmöglichkeiten: Der überwiegende Teil (89 %) würde sich über den Zufall freuen, aber nicht weiter darüber nachdenken. 7 % der Befragten befiele Heimweh und 4 % würden sich freuen, in der Fremde zu sein. Der Abiturientenanteil steigt, je mehr die Teilnehmer/innen der Heimat abgeneigt sind. D.h., dass höher Gebildete auch in der Fremde weniger Heimatempfinden haben. Das Engagement und die sozialen Verflechtungen am Wohnort sind bei jenen, die Heimweh empfinden, tendenziell höher, als bei den beiden anderen Gruppen. Am geringsten sind soziale Verflechtungen bei jenen, die sich darüber freuen, in der Fremde zu sein.
118
Tab. 19: Bedeutung der Heimat in der Fremde Heimweh Freude über Zufall
7 % (84) 89 % (1042)
Freude in der Fremde zu sein
4 % (52)
Datenbasis: Heimatbefragung im Saarland 2007
4.4 Heimatbewusstsein und Engagement in der Gemeinde 4.4.1
Ortskenntnis
In der Regionalplanung werden Heimatorientierungen und regionale Identität genutzt, um regionale Wirtschaftskreisläufe in Gang zu setzen und Vermarktungsstrategien zu begründen. In diesem Abschnitt soll geklärt werden, ob ein starkes Heimatgefühl mit verstärktem Engagement am Wohnort einhergeht. Die „Kraft des Lokalen“ dient und diente als kritische Antwort auf Industrialisierung, Bürokratisierung und Technisierung sowie als Motor für zivilgesellschaftliches Engagement. Im Ergebnis zeigt sich, dass knapp neun von zehn der Befragten angeben, sich in ihrer Gemeinde sehr gut bzw. ziemlich gut auszukennen (35 % sehr gut, 52 % ziemlich gut). Dies sind vor allem Ältere, häufiger Männer, Personen mit Kindern und Hauseigentümer. Befragte, die sich schlechter auskennen, haben einen schwächeren Wohnbezug, d.h. sind entweder erst kürzlich hergezogen oder haben eine lange Zeit außerhalb des Saarlandes gelebt. Darüber hinaus haben wir nach dem politischen Engagement, ehrenamtlichen Beschäftigungen und Vereinsmitgliedschaften gefragt. Auch die Lektüre der Lokalzeitung als vergleichsweise einfache Aktivität wurde einbezogen, weil sie ein Interesse am örtlichen Geschehen dokumentiert. Diejenigen mit geringeren Ortskenntnissen kennen ihre Nachbarn nicht so gut, sind seltener in einem Verein, zeigen weniger Engagement am Wohnort, lesen auch den Lokalteil der Zeitung seltener und leben nicht so häufig am gleichen Ort wie Eltern oder Geschwister. Auch Befragte aus der Stadt Saarbrücken geben zumeist an, die Stadt sehr gut bzw. gut zu kennen (27 % bzw. 51 %). In ländlichen Gemeinden steigt der Anteil auf insgesamt neun von zehn der Antwortenden.
119
Tab. 20: Kenntnis der Gemeinde nach sozialstrukturellen Merkmalen
Alter
Bildung
Haushalt*
Status
< 30 31-45 46-65 >65 max. Hauptschulabschluss Mittlere Reife Hochschulreife sonstiger Abschluss leben allein leben mit Partner/in leben mit Partner/in und Kind/ern Eigentümer Mieter
Geschlecht
Weiblich Männlich
Wohndauer im Saarland
Typ I (im SL geboren, nie woanders gewohnt) Typ II (im SL geboren, max. 6 Jahre außerhalb gewohnt) Typ III (mindestens 7 Jahre im SL) Typ IV (< 7 Jahre im SL, oder länger woanders gelebt)
Ortstyp
Großstadt über 100.000 EW Siedlungen zw. 30.000 und 100.000 EW Siedlungen über 250 EW/km², aber < 30.000 EW Gemeinden unter 250 EW/km² (plus Oberthal und Namborn)
Ortskenntnis weniger gut gut In % (Spalten) 4 9 17 31 43 36 36 24 100 100 37 28 21 25 35 44 7 3 100 100 18 27 45 33 33 35 84 15 100 26 74 100 62 15 17 6 100 79 88 90 90 100
68 32 100 48 52 100 47 12 30 12 100 21 12 10 10 100
*: Kategorie „Sonstige“ nicht ausgewiesen, die Werte addieren sich nicht auf 100 Alle Wert signifikant p < 0.01
120
4.4.2
Nähe zu Nachbarn
Die Teilnehmer der Studie betonen auch sehr häufig, ihre Nachbarn „sehr gut“ bzw. „gut“ zu kennen (76 %), und nur knapp ein Viertel antwortet mit „teils/teils“, „Weniger gut“, oder „Gar nicht“ (24 %), wobei nur 1,3 % „gar nicht“ oder „weniger gut“ angibt. Tab.21: Kenntnis der Nachbarn nach Merkmalen der sozialen Integration Kenne Nachbarn…
Wohndauer
Engagement
Soziale Netze
Typ I (im SL geboren, nie woanders gelebt) Typ II (im SL geboren, max. 6 Jahre außerhalb gewohnt) Typ III (mind. 7 Jahre im SL) Typ IV (< 7 Jahre im SL, oder länger woanders gelebt) Mitglied in einem Verein politisch aktiv ehrenamtlich tätig lesen regelmäßig den Lokalteil der Zeitung wohnen im selben Dorf bzw. Viertel wie die Eltern wohnen im selben Dorf bzw. Viertel wie die Kinder wohnen im selben Dorf bzw. Viertel wie die Geschwister wohnen im selben Dorf bzw. Viertel wie andere Verwandte wohnen im selben Dorf bzw. Viertel wie wichtige Bekannte
weniger gut in % (Spalten)
gut
62
54
15
13
18
22
5
11
73 14 34
49 8 16
86
73
35
24
49
33
29
14
26
11
40
21
Alle Wert signifikant p < 0.05 Datenbasis: Heimatbefragung im Saarland 2007
121
Nach sozialstrukturellen Merkmalen differenziert, zeigt sich ein ähnliches Bild wie bei der Kenntnis der Gemeinde:
-
-
Jene, die Nachbarn gut kennen, sind eher älter. Geschlechtsbezogene Unterschiede gibt es hier nicht! Der Schulabschluss und das Einkommen spielen für die Kenntnis von Nachbarn keine Rolle. Der Anteil der Kinderlosen ist bei jenen, die ihre Nachbarn eher schlecht kennen, doppelt so hoch (33 %). Der Anteil der Mieter bei denselben liegt fast dreimal so hoch wie bei Eigentümern (35 %). Mit der Größe der Stadt sinkt der Anteil der Befragten, die ihre Nachbarn gut kennen (von 83 % in ländlichen Gemeinden auf 63 % in Saarbrücken). Aber auch in der Großstadt betont die Mehrheit, Nachbarn gut zu kennen. Jene, die Nachbarn nicht gut kennen, leben seit kürzerer Zeit im Saarland, sind weniger engagiert, weniger am Ort vernetzt und kennen sich weniger gut in der Gemeinde aus.
In Tabelle 21 ist dargestellt, dass diejenigen, die ihre Nachbarn nicht sehr gut kennen einen geringeren Wohnbezug aufweisen, weniger engagiert sind und weniger Kontaktpersonen am Ort nennen.
4.4.3
Engagement und Beteiligung am Wohnort
Nachdem nun bereits mehrfach das Engagement im Wohnort erwähnt wurde, sollen nun die Einzelergebnisse für die Frage der Ortsverbundenheit präsentiert werden. Wir haben nach dem politischen Engagement, ehrenamtlichen Beschäftigungen, Vereinsmitgliedschaften sowie der Lektüre der Lokalzeitung gefragt. Erwartungsgemäß weist die politische Betätigung die geringsten Werte auf, wohingegen immerhin zwei Drittel der über tausend Befragten in einem Verein aktiv sind. 9 % der Antwortenden verneinen jede der genannten Aktivitäten und immerhin 6 % bejahen alle vier Möglichkeiten. Die einzelnen Betätigungsmöglichkeiten wurden auch multivariat in Form eines zusammenfassenden Indexes nach erklärenden sozialstrukturellen Merkmalen untersucht. Dazu wurde das Engagement zunächst in eine Rangfolge gebracht und unterschieden zwischen anspruchsvollem politischen Engagement (13 %, die teilweise auch im Verein aktiv und ehrenamtlich engagiert sind), über ehrenamtliche Tätigkeiten (20 %; 122
kein politisches Engagement, teilweise Vereinsmitglieder), Vereinsmitgliedschaften (35 %, ohne politische oder ehrenamtliche Aktivitäten) und pure Leser des Lokalteils der regionalen Zeitung (23 %) sowie diejenigen ohne lokales Engagement (9 %). Tab.22: Örtliches Interesse und Engagement (Mehrfachnennungen) Lokalteil der Zeitung lesen
83 %
Mitglied in einem Verein
67 %
Ehrenamt in einer lokalen Einrichtung
29 %
Politisch aktiv in Gemeinde
13 %
Keine der genannten Möglichkeiten
9%
Datenbasis: Heimatbefragung im Saarland 2007 Diejenigen, die überhaupt nicht in der Gemeinde aktiv sind und auch nicht den Lokalteil der Zeitung lesen, gehören eher zu den Jüngeren (Median 47 Jahre, arithmetisches Mittel 56) und häufiger zu den Frauen. Wird die lokale Zeitung gelesen, dann ist der Frauenanteil allerdings höher als bei den Männern. Bei den politisch Aktiven zeigt sich hingegen ein geringer Frauenanteil. Kinder erhöhen die Chancen auf lokales Engagement, denn der Anteil mit Kindern ist bei denjenigen höher, die sich in einem der genannten Bereiche betätigen. Auch in der multivariaten Analyse bleibt der Einfluss hochsignifikant (vgl. Tab 24). In der bivariaten Betrachtung spielt auch das Bildungsniveau eine Rolle, denn je höher das Engagement in jedem der aufgeführten Bereiche, desto höher ist der Anteil von Personen mit Abitur und desto niedriger ist der Anteil von Hauptschulabgängern. Dies gilt allerdings nicht für die Gruppe, die sich überhaupt nicht für die genannten örtlichen Dinge interessiert, denn auch hier liegt der Anteil der besser Gebildeten über dem Durchschnitt. Der Bildungseffekt tritt jedoch hinter andere Einflussfaktoren zurück, wie die multivariate Analyse zeigt. Auch das Einkommen steht in einem Zusammenhang mit dem Engagement, denn die besser Verdienenden sind aktiver als diejenigen mit geringem Einkommen. Entsprechend der sozialstrukturellen Hintergründe ist auch der Anteil der Aktiven bei den Hausbesitzern höher als bei den Mietern. 123
Tab. 23: Hierarchie des Engagements nach Bildung kein lokales Engagement
Lesen nur den Lokalteil der Zeitung
Maximal Verein
Ehrenamt ohne Politik*
Politisch aktiv*
In % (Zeilen) Max. Hauptschulabschluss
7
27
39
18
9
Mittlere Reife
7
22
38
21
12
Hochschulreife
13
21
29
21
17
Gesamt
9
23
35
20
13
*: Die Befragten sind teilweise auch im Verein, die politisch Aktiven betreiben teilweise auch ein Ehrenamt. Datenbasis: Heimatbefragung im Saarland 2007 Befragte mit geringem Engagement kennen erwartungsgemäß ihre Umgebung und ihre Nachbarn deutlich schlechter als die Aktiven und sind auch weniger stark vernetzt. Die Lektüre einer Zeitung oder politische Aktivitäten sind dabei unabhängig von der Gemeindegröße. Ehrenamtliches Engagement steht in keinem signifikanten Zusammenhang mit dem Ortstyp, auch wenn Unterschiede erkennbar werden: Etwa ein Viertel der Saarbrücker und Saarländer/innen aus größeren Städten üben ein Ehrenamt aus, in kleineren Orten sind es knapp ein Drittel. Kein Engagement ist bei jedem siebten Saarbrücker festzustellen und bei jeder/m Elften aus kleineren Orten. In der folgenden Tabelle 24 sind die Ergebnisse der multivariaten Betrachtung, bei der die ehrenamtlich und politisch Aktiven den übrigen Befragten gegenüber gestellt wurden, zusammengefasst.
124
Tab.24: Ehrenamtlich oder politisch aktiv nach Einflussfaktoren Eigentümer/Mieter Alleinlebend Freunde am Ort Kind am Ort Eltern am Ort Nie wegziehen wollen Ortstyp Ortstyp(1) Ortstyp(2) Ortstyp(3) Geschlecht Alter Bildung Bildung: max. Hauptschule Bildung: Mittlere Reife Saarländer Saarländer(1) Saarländer(2) Saarländer(3) Konstante
Exp(B) ,45 -,14 ,52 ,43 ,41 ,36
B 1,58** 0,87 1,69*** 1,54*** 1,51** 1,44**
-,39 -,30 -,04 ,28 ,02
0,68 0,74 0,96 1,32* 1,02***
-,44 -,05
0,64* 0,95
,03 ,15 -,26 -1,83 R²: ,12
1,03 1,16 0,77 0,161*** N=903
Variablenkonstruktion: Ich möchte nie an einem anderen Ort leben: 1= trifft voll und ganz zu. Geschlecht: 0= männlich und 1= weiblich; Saarländer Typ 1: hier geboren, nie weg =1, 2: hier geboren und < 7 Jahre weg, 3: nicht im S. geboren, länger als 6 Jahre hier, Referenzkategorie: nicht im S. geboren und < 7 Jahre hier; Ortstyp 1: Saarbrücken, 2: größere Städte 100.000 und > 30.000, 3: < 30.000, 4: Referenzkategorie: Landgemeinden; Hausbesitzer=1 und Mieter=0; Eltern usw. im gleichen Ort=1. Bildung: Referenzkategorie (Fach-)Hochschulreife. Datenbasis: Heimatbefragung im Saarland 2007 125
4.5 Fazit des quantitativen Studienteils Heimat wird zwar in der Wissenschaft oder in vielen Teilen der Öffentlichkeit, als altmodischer Begriff wahrgenommen, angesichts erhöhter Flexibilitäts- und Individualisierungstendenzen stellt sich aber die Frage, ob er für die Menschen wichtig ist. Ziel der Studie war es, die Bedeutung und Wahrnehmung von Heimat empirisch zu untersuchen. Als Untersuchungsgebiet wurde das Saarland ausgewählt, das für diese Fragestellung besonders interessant ist, weil es erst 50 Jahre zur Bundesrepublik gehört und eine wechselvolle Geschichte zwischen den Nationen Frankreich und Deutschland aufweist. Die Saarländerinnen und Saarländer sind für ihre regionale Identität und das Einrichten als "Häuslebauer" bekannt (die Eigentumsquote ist im Ländervergleich am höchsten). An einer repräsentativen, postalischen Befragung mit einem ordentlichen Rücklauf von 27 % nahmen über 1.100 Personen teil, die regional ein sehr gutes Abbild des Saarlandes darstellen. Die Bevölkerungsstruktur ist allerdings weniger gut abgebildet, weil Frauen und jüngere Saarländer unterrepräsentiert sind. Die Antwortenden weisen eine ausgesprochen lange Wohndauer auf, zum überwiegenden Teil haben sie nie außerhalb des Saarlandes gewohnt, und diejenigen, die außerhalb geboren sind, leben im Mittel knapp 40 Jahre hier, das sind zwei Drittel des gesamten Lebens. Die Ergebnisse zeigen, dass für die im Saarland Befragten die regionale Bindung von großer Bedeutung ist. Die Ortskenntnis, die Nähe zu Nachbarn, die verwandtschaftlichen Netze und das Engagement in Vereinen und Ehrenamt sind ausgesprochen stark ausgeprägt. Das Alter, Bildungsabschluss und die Größe des Wohnortes haben einen signifikanten Einfluss auf die Verbundenheit zu Heimat, während die Geschlechtszugehörigkeit keine Rolle spielt. Städter, Befragte ohne Kinder und jüngere Menschen stufen ihre Umgebung häufiger als negativ ein und haben einen schwächeren Heimatbezug. Der Bildungsabschluss zeigt erwartungsgemäß, dass mit der Schulbildung die Unabhängigkeit von der Heimat zunimmt. Da aber auch häufig das Einkommen der „Unabhängigen“ höher ist, kann man vermuten, dass die „Abhängigen“ nicht so oft ihre Heimatregion oder ihren Wohnort verlassen und stärker auf ihre Umgebung fixiert sind. Immerhin stimmen über die Hälfte der befragten Saarbrücker der Aussage zu, sie möchten nie woanders leben (61 % im Durchschnitt, zwei Drittel in ländlichen Gemeinden). Besonders positiv werden die Wohnorte von denjenigen bewertet, die sich in Vereinen und Organisationen ehrenamtlich engagieren, die sozialstrukturellen Merkmale sind hier kaum relevant. Da die antwortenden Landbewohner/innen häufiger involviert sind, sind im Endeffekt Stadtbewohner/innen etwas zurückhaltender in ihrer Bewertung. Diese Angaben
126
zeigen, dass ein positives Engagement zur Beheimatungsstrategie werden kann, und Heimat durch Aneignungsmöglichkeiten erreichbar wird. Als typisch für die Wohngegend werden in positiver Hinsicht die Umgangsweisen genannt, denn die Saarländer/innen werden als besonders gesellig, freundlich und aufgeschlossen dargestellt. Umgekehrt wird als negativ das Bild "Jeder kennt Jeden" bestätigt und kritisiert. Neben dem kontaktfreudigen Charakter wird insbesondere die schöne Landschaft und gutes Essen betont – also die hohe Lebensqualität in den Regionen. Umgekehrt zeigen sich Probleme mit den Umweltbedingungen, die vor allem aus dem Verkehr und dem Bergbau resultieren, und zunehmende Defizite bei der Infrastruktur (Straßen, Schulen, Versorgung, Arbeitsplätze). Auf der Mikroebene sozialen Handelns liegen besondere Stärken und auf der Makroebene der Wirtschaftskraft, der Demographie und der Versorgung im Land liegen Schwächen im Saarland.
Abbildung 18: Idealbild einer saarländischen Heimat. Der Bliesgau repräsentiert das Idealbild einer Heimat der Saarländerinnen und Saarländer. Heute ist er als UNESCO-Biosphärenreservat anerkannt. (Foto: Olaf Kühne) Als Idealbild von Heimat schwebt den meisten Befragten – auch den Städtern – eine halboffene, hügelige Landschaft vor (Abbildung 18). Das heißt, dass auch heute noch Stadt und Land unterschiedliche Wertschätzung in der Bevölkerung genießen, und die Landschaft als romantische Vorstellung eines „heilen“ Lebens
127
interpretiert wird. Mit der offenen Landschaft wird ein Sehnsuchtsgefühl angesprochen, das mit Heimat verbunden wird, und auf die Utopie einer „anderen“, besser geordneten Welt verweist. Hierzu gehört auch das Eigenheim. Leben in Eigentum auf großer Fläche und einigem Abstand zu Nachbarn erlaubt mehr Freiheiten und Betätigungsmöglichkeiten als in Geschosswohnungen mit höherer Dichte. Auch ästhetische Vorstellungen können in den eigenen vier Wänden besser realisiert werden – sie nehmen für die Ausbildung von Heimatgefühlen einen vorderen Platz ein. Kleine Gebäude, die deutlich voneinander zu unterscheiden sind, werden in ästhetischer Hinsicht höher bewertet als Mehrfamilienhäuser, die vor allem als Nachkriegsbauten geringere Individualität ausstrahlen. Als Heimat bezeichnen die meisten Befragten das Saarland, gefolgt von der eigenen Wohnung und Region – und fast niemand gibt an, keine Heimat zu besitzen. Bemerkenswert ist die Vielschichtigkeit des Heimatbegriffs für die hier Befragten. Nicht nur das Geborgenheitsgefühl und der Herkunfts- bzw. Kindheitsort werden mit dem Heimatbegriff assoziiert, sondern auch der aktuelle Wohnort und die gemeinsame Sprache und der Freundeskreis. Nach Greverus umfasst der Heimatbegriff sinnvolle Betätigungsmöglichkeiten bei emotionaler und sozialer Einbettung – auch dieser Aspekt spiegelt sich in den Antworten, weil der Verlust des Arbeitsplatzes häufig als Heimatverlust interpretiert wird. Lediglich etwas mehr als ein Viertel der Befragten haben eine zweite Heimat, die wiederum auf den Herkunftsort der Familie verweist, sich aber auch auf bestimmte Landschaften, Mentalitäten und Urlaubsorte bezieht. Ausbildungsorte spielen hingegen nur selten eine Rolle. Die Ergebnisse belegen, dass Heimat heute ein aktuelles Thema ist, das zumeist örtlich bzw. regional und nicht überörtlich interpretiert wird. Ein utopischer oder abstrakter Heimatbegriff liegt nur in Ausnahmefällen vor und korreliert stark mit dem Bildungsabschluss der Befragten. Typische Gruppen lassen sich entsprechend des Alters, der Bildung und des Wohnortes identifizieren, die jedoch durchbrochen werden durch das persönliche Engagement. Die theoretische Unschärfe und die fluiden Konnotationen des Heimatbegriffs sind eine besondere Chance der Bezeichnung. Sie erlauben es, offen zu sein für neue Entwicklungen (vgl. Hüppauf 2007). Heimat wird von den Saarländern nicht als etwas Rückwärtsgewandtes, Bedrohtes wahrgenommen, sondern als eine zeitgemäße, positive Erscheinung, die auf ein hohes Maß an Lebensqualität verweist. Besonders die soziale Integration und eine intakte Umwelt werden bei den hier Befragten angesprochen. Typische Gruppen mit spezifischen Einstellungen zur Heimat lassen sich auf dieser Datenbasis damit kaum ermitteln. Wegen der positiven und vielschichtigen Bedeutung von Heimat bei den im Saarland Befragten wäre ein
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Vergleich mit anderen Regionen in der Bundesrepublik und auch im Ausland ein vielversprechendes Forschungsunternehmen.
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5 Ergebnisse des qualitativen Studienteils
5.1 Forschungsinteresse und Methodik des qualitativen Studienteils Die qualitative Befragung dient einerseits dem Ziel einer selektiven Verdichtung und Vertiefung der in der quantitativen Studie gewonnenen Ergebnisse und andererseits der verstehenden Deutung individueller und kollektiver Heimatbezüge. Schließlich liegt das Ziel der qualitativen Sozialforschung in der Erfassung subjektiver Elemente, wie Werten, Absichten, Wahrnehmungen und Interpretationen von Handelnden. Hierzu wurden zwischen Anfang August und Mitte September 2008 17 Personen mit unterschiedlichen soziodemographischen Merkmalen befragt. Sie variieren nach Alter, Haushaltsgröße, Bildungsabschluss und Wohnort hinsichtlich den Raumkategorien Kernzone, Randzone des Verdichtungsraumes und ländlicher Raum (gemäß Ministerium für Umwelt 2006). Die Auswahl der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner erfolgte durch persönliche Bekanntheit (n=3) bzw. durch die Vermittlung Dritter (n=14). Die Befragungen orientierten sich an einem Interviewleitfaden (siehe Anhang), der sich nach der Vorstellung der Person des Interviewers und des Forschungsinteresses sowie des Hinweises zur Anonymität der Auswertung der Interviews in folgende Themenkomplexe gliederte: 1. 2. 3.
4. 5. 6.
biographische Bezüge des Interviewten, allgemeine Fragen zum Begriff der Heimat, spezielle Fragen zur Deutung bestimmter wesentlicher Bestandteile des Heimatbegriffs (gemäß quantitativer Befragung, wie z.B. Dialekt oder Vereinswesen), Fragen zu emotionalen Bezügen zu Heimat, Fragen bezüglich des Verhältnisses zwischen Alteingesessenen und Fremden, Fragen zu Spezifika des Saarlandes und der (Selbst)Beschreibung seiner Bewohner.
Die Auswertung der Interviews folgte einer interpretativen Auswertungsstrategie, in der weniger die Sequenzialität von Aussagen, sondern vielmehr die thematische Einheit von Aussagen im Zentrum des Interesses standen (Meuser / 131
Nagel 1991). Dabei wurde in vier Auswertungsphasen unterschieden (Meuser / Nagel 1991, Flick 2002, Lütteken 2002, Kühne 2006): 1. Die Interviews wurden digital aufgezeichnet, gespeichert und später vollständig transkribiert. 2. Die transkribierten Interviews wurden einer Einzelanalyse unterzogen. Diese bezog sich – unter Nutzung der Techniken qualitativer Inhaltsanalyse – auf die Streichung weniger relevanter und bedeutungsgleicher Paraphrasen (erste Reduktion) sowie die Bündelung und Zusammenfassung ähnlicher Paraphrasen (zweite Reduktion). 3. In der generalisierenden Analyse wurden die einzelnen Interviews miteinander in Beziehung gesetzt und dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede hinsichtlich der Deutungsmuster ermittelt. Diese Auswertung stellte die Basis für eine initial theoretisierende Auswertung dar. 4. In der rückgekoppelten Kontrolle wurde der entstandene Text mit den ausführlichen Originaltexten erneut abgeglichen, um so Verkürzungen und Fehlinterpretationen zu vermeiden. Die Interviews lassen folgende Interpretationen zu:
5.2 Heimatbegriff Die Vieldeutigkeit des Heimatbegriffs, die auch als ein großer semantischer Hof bezeichnet werden kann, wie ihn Hard (1969) für Landschaft nachgewiesen hat, zeigt sich auch in der qualitativen Befragung. Neben den im quantitativen Studienteil dargestellten Bedeutungen von Heimat, die in unterschiedlicher Zusammensetzung auch die Deutungen der qualitativ Befragten durchziehen, werden auch teilweise sehr persönliche Deutungen zum Begriff der Heimat geäußert. Zusammengefasst lassen sich sieben Dimensionen des Heimatlichen nachweisen: Soziales, Wohlbefinden, Zeitlicher Aspekt, Ort bzw. Landschaft, geistige Heimat, Ab- und Ausgrenzung und synthetische Dimension der Funktion der Vereinfachung von Welt durch Heimat. Die unterschiedlichen Dimensionen des Heimatlichen transzendieren dabei, so wird die Dimension der Zeit als Erinnerung häufig an Orten festgemacht, an denen mit anderen Menschen agiert wurde. Im Folgenden werden die sieben Dimensionen des Heimatlichen kurz konkretisiert.
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5.2.1
Soziales
Als konstitutiv für Heimat ist das Soziale zu bezeichnen. Am Sozialen werden direkt oder indirekt die Bezüge zu Heimat fixiert. Die emotionale, soziale und kulturelle Bindung wird vor allem in der sozialen Kommunikation erlebt. Möglichkeiten für sinnvolle Betätigung und eine aktive Aneignung eines Raumes sind ebenfalls wesentliche Bestandteile, um Heimatgefühle ausbilden zu können. „Heimat wären dann solche Räume, in denen die Bedürfnisse der Menschen - aller einzelnen - qualitativ am meisten befriedigt werden können.“ (Greverus 1979: 16). Die soziale Bindung von Heimat wird beispielsweise in der Antwort von Herrn A. deutlich, wenn der auf die Frage, woran er Heimat binde, entgegnet: „Heimat ist dort, wo mein Lebensinhalt ist, wo meine Familie, meine Freunde … und auch wo ich beruflich tätig war die ganze Zeit … und das ist für mich uneingeschränkt meine Heimat.“ (Herr A.; S. 1, 33-34) 10 Familie, Freunde, Bekannte und Kollegen bilden ein Netz von Sozialkontakten, die in unterschiedlicher Weise reproduziert und aktualisiert werden, beispielsweise bei unterschiedlichen Festen, beginnend beim Dorffest bis hin zu familiären Traditionen wie dem gemeinsamen Weihnachtsfest11.
5.2.2
Wohlbefinden
Zentrales Element von Heimat ist die Dimension des Wohlbefindens und der Geborgenheit, und auch des Rückzugs, wie aus dem Interviewausschnitt mit Frau C. deutlich wird, in dem sie auf die Frage antwortet, was für sie Heimat sei:
10
11
Die Zitierweise der Transkripte ist wie folgt angelegt: Herr/Frau X. Y. = Name des Interviewpartners und zugleich Name des Transkriptes; S. X = Seite des Transkriptes, aus welcher das Zitat stammt; x-y = Zeilen des Transkriptes, aus welchen das Zitat stammt. Der Dialekt einiger Interviewter wurde zum Zwecke der Allgemeinverständlichkeit behutsam an das Hochdeutsche angenähert. Für Jugendliche stellt Julia Junge (2005) beispielsweise fest, Heimat konstituiere sich in sozialen Netzwerken von Freundschaften und Personen gleicher oder ähnlicher Einstellung zu politischen Fragen.
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„Wo man sich wohl fühlt, vielleicht wo man geborgen ist. Wo man seine Freunde hat, seine Wurzeln, wenn man das so versteht. Wohin ich, wenn ich weg bin, wieder zurück will.“ (Frau C.; S. 46, 12-13) Konstitutiv für Wohlbefinden und Geborgenheit ist wiederum das Vorhandensein geliebter bzw. zumindest gemochter Menschen. Mit dem Gefühl der Übereinstimmung zwischen einem Individuum und seiner Umgebung geht einher, die Lebenswelt als Eigenwelt zu erleben (Bausinger 1978). Die Bedeutung eines solchen Netzes stabiler lebensweltlicher Einbettung verdeutlicht Frau E. auf die Frage, ob Heimat für sie wichtig sei: „Ich denke schon, dass es wichtig ist, das Gefühl zu haben, dass es Orte gibt, an denen man ganz man selbst ist, an denen man zuhause ist. Und ich denke, das spielt auch immer bei der Definition von Heimat mit rein.“ (Frau E.; S. 31, 21-23) Heimat lässt sich also – in der Terminologie von Habermas (1985a und 1985b) – auch als Refugium des Lebensweltlichen deuten. Diese Bindungen an signifikante Personen vollziehen sich im Prozess der Sozialisation und Identitätsbildung (Chawla 1992).
5.2.3
Zeitliches
Heimatliche Bindungen entwickeln sich sukzessiv und haben einen deutlichen Bezug zur eigenen Kindheit, wie sich in der Antwort des Ende 60-jährigen Herrn A. zeigt, der als Kind ins Saarland zugezogen ist, auf die Frage, wann er zum ersten Mal bewusst über Heimat nachgedacht habe: „Bewusst über Heimat denke ich nach, wenn ich z.B. Verwandte in [Region in Österreich] besuche, wo auch meine Mutter und meine Großmutter beerdigt sind und dort denke ich dann schon über Heimat nach … und vor allem über die Zeiten, wie sie früher waren, was ich alles erlebt habe, was mich mit der einen Seite verbindet, was mich mit der anderen Seite verbindet.“ (Herr A.; S. 2, 12-15) Die reflektierte Zeit bezieht sich dabei teilweise nicht nur auf das eigene Leben, sondern auch auf verschiedene Generationen der eigenen Familie. Dies zeigt auch der Ausschnitt aus dem Interview mit Herrn I. zur Frage, was er mit Heimat verbinde:
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„Für mich ist Heimat die Verwurzelung mit der Familie … Ich will das jetzt nicht so definieren, sondern nur so ein paar Stichworte geben, was alles für mich dazugehört. Mit den Ahnen, den Eltern, den Großeltern … mit allem möglichen, was man so auch erlebt hat. Das Gebiet, wo ich früher mal gewohnt habe.“ (Herr I.; S. 56, 12-15)
5.2.4
Ort bzw. Landschaft
Neben dem deutlichen Zeitbezug von Heimat wird aus dem oben zitierten Interviewausschnitt auch die örtliche Dimension des Heimatlichen – hier als Ort an dem Herr I. gelebt hat – deutlich. Um von Heimat zu sprechen, reicht es offensichtlich hier nicht aus, als Kind zugezogen zu sein, sondern der „angestammte“ Familiensitz sollte sich über mindestens zwei Generationen an einem Ort erstrecken. Vielfach erhält der Ort der Kindheit eine besondere Bedeutung in der Konstitution heimatlicher Orientierung, insbesondere das Elternhaus, die Siedlung, in der die ersten Lebensjahre verbracht wurden, die Parks, Wälder, Wiesen, Felder oder das „Niemandsland“ (im Sinne von Ipsen 2002), die sich spielerisch angeeignet wurden, oder aber auch besonders symbolisch besetzte Orte, in unterschiedlicher Gewichtung, wie der Interviewausschnitt von Frau E., die zu den ins Saarland Zugezogenen zählt, auf die Frage, was sie mit Heimat verbinde, deutlich macht: „Also ich finde, Heimat ist eher ein diffuses Gefühl, ich verbinde mit Heimat nicht unbedingt einen Ort, also `ne Stadt, sondern eher z.B. den Kölner Dom oder eben die Menschen, die ich liebe.“ (Frau E.; S. 31, 810) Hier wird der Kölner Dom zum Symbol, zum Markenzeichen der eigenen Zugehörigkeit, zum besonderen, das Heimatliche repräsentierenden Ort und erhält dadurch eine ähnliche Bedeutung wie die geliebten Menschen. Im weiteren Interviewverlauf dieser Person wird ein räumlich sehr eng gefasster Heimatbegriff deutlich, der neben dem Kölner Dom als örtliches Symbol auch die eigene Wohnung (im Saarland) und das Elternhaus (im Rheinland) einbezieht. Andere Befragte wiederum weisen einen sehr viel weiteren räumlichen Heimatbezug auf, der sich über die Grenzen des Saarlandes hinaus über den gesamten südwestdeutschen Raum bzw. die Großregion SaarLorLux erstrecken kann.
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5.2.5
Geistige Heimat
Die Dimension der geistigen Heimat transzendiert die Erzählungen der anderen Dimensionen des Heimatlichen. Sie reicht dabei von der Einbettung in lokale oder regionale Traditionen, die dann häufig über die Konstitution sozialer Netze angesprochen werden, über Bezüge zur lokalen und regionalen Sagenwelt, die Einbettung in religiöse Institutionen bis hin zur Fähigkeit in einer gemeinsamen Sprache zu kommunizieren – sowohl als Hochsprache als auch als Dialekt –, wie aus folgendem Interviewausschnitt von Herrn W. auf die Frage deutlich wird, wie er reagiere, wenn ein Dunkelhäutiger, radebrechend Deutsch sprechend, ihm mitteile, das Saarland sei seine Heimat: „Ähhm … wenn er radebricht, dann muss ich ihm sagen, dann hat er noch nicht ein Haupt … eine Hauptmöglichkeit, wirklich Heimat zu finden erkannt, oder erworben, dass ist nämlich die Sprache selbst …“ (Herr W.; S. 70, 1-10)
5.2.6
Ab- und Ausgrenzung
Sprache hat nicht allein im nationalen, sondern auch im lokalen und regionalen Kontext eine Funktion der Konstituierung und Symbolisierung des Gemeinschaftlichen. Insbesondere die Dialektgemeinschaft grenzt die Sprecher eines bestimmten Dialekts von Hochdeutschsprechern und Sprechern eines anderen Dialekts ab. Die Abgrenzung kann auch nach innen durch Abgrenzung jener erfolgen, die nicht den lokalen Normen der Herkunft (lange Ortsansässigkeit der vorhergehenden Generationen), des Praktizierens lokaler Traditionen u.a. entsprechen, und nach außen durch eine teilweise stark stereotypisierende regionale Abgrenzung. Im Saarland bedeutet dies, sich zumeist gegen die pfälzischen Nachbarn im Osten abzugrenzen, weniger gegenüber den westlich und südlich lokalisierten Lothringern. Die Abgrenzung gegen die Nachbarn äußert sich in despektierlichen Witzen. Um über eine Äußerung oder ein Wortspiel gemeinsam lachen zu können, bedarf es dabei eines Grundkonsenses über den angesprochenen Sachverhalt. Die Verständigung über und die Zuschreibung bestimmter Merkmale bzw. Charaktereigenschaften ergeben eine Basis, über die gelacht werden kann (Ostfriesen, Professoren, Psychologen, etc.). Das Lachen über die Pfälzer zieht Grenzen und stiftet Identität nach innen.
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5.2.7
Die synthetische Dimension der Funktion der Vereinfachung von Welt durch Heimat
Die synthetische Dimension der Vereinfachung stellt die verbindende Abstraktion der übrigen Dimensionen des Heimatlichen dar. Diese entkomplexisierende Dimension des Heimatlichen entsteht durch Handlungs- und Deutungsroutinen von Welt und vollzieht sich durch Personen ähnlicher Lebenswelt und Weltanschauung. Herr E. antwortet auf die Frage, ob er eine oder mehrere Heimaten habe, aus lebensweltlicher Perspektive und belegt damit die These: „Ich habe eine Heimat. Das ist in erster Linie hier der Heimatort, wo man ganz zu Anfang in die Schule gegangen ist, wo man Schulkameraden hat, wo man Spielkameraden hat, wo man nachher in Vereinen Kameraden, Freunde gefunden hat, die die gleichen Vorstellungen, die gleichen Lebensauffassungen gehabt haben. Und das ist für das Wohlfühlen wichtig. Dass man dann, wenn man mal in Probleme kommt, dass man dann auch auf Leute zurückgreifen kann, die einen unterstützen.“ (Herr E.; S. 20, 19-24) Um Unterstützungsleistungen zu erhalten, bedarf es offensichtlich langjähriger vorbewusster sozialer Beziehungen. Aus dieser Antwort wird neben der entkomplexisierenden Dimension des Heimatlichen auch deren synthetische Funktion deutlich: Heimat setzt sich aus den oben genannten unterschiedlichen Dimensionen zusammen und produziert zugleich einen darüber hinaus weisenden Bedeutungsgehalt. Diese synthetische Bedeutung, die sowohl Identifikation wie auch Raum der Geborgenheit umfasst, wird auch aus der Antwort von Herrn W. deutlich, wenn er auf die Frage, was er mit Heimat verbinde, im Begriff des „Gehegnisses“ subsumiert: „Ich verbinde mit Heimat das Wort ‚Geheichtnis’ und dieses Wort kommt von ‚Gehegnis’, also einhegt, d.h. es gibt einen Bereich, den man von Kindheit gelernt hat, das ist der eigene Bereich, der Person ist, auch der Familie ist, auch der Sippe ist … und dieses Gehegnis kann man auch noch ausbauen und ich habe dieses Gehegnis hier im Saarraum mir aufgebaut, auch mit der Familie und da fühle ich mich zunächst einmal fähig, mich zurückzuziehen, und das ist für mich Heimat.“ (Herr W.; S. 65, 13-18) Diese Art Rückzug differiert bei Menschen, die sich vorwiegend in ihrer Geburtsheimat aufgehalten haben (im Folgenden: Eingesessene) und jenen, die
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mehr oder minder häufig (insbesondere interregional) den Wohnort gewechselt haben (im Folgenden: Zugezogene) sehr deutlich: Eingesessene neigen eher dazu, Heimat stärker an Orten (und intergenerationeller Ortsansässigkeit) zu orientieren, Zugezogene konturieren hingegen die (Wahl)Heimat eher anhand landschaftlicher Reize. Zugleich ist der Zugang zur (Wahl)Heimat bei Zugezogenen eher an Faktenwissen orientiert als emotional, während Eingesessene tendenziell eine stärkere emotionale Bindung bei gleichzeitiger Dominanz lebensweltlichen Wissens aufweisen. Dies wird auch aus dem Interviewausschnitt mit dem Zugezogenen Herrn P. deutlich, der auf die Frage, ob es bestimmte Personengruppen gibt, die einen besonderen Bezug zu Heimat hätten, antwortet: „Also, ich denk` schon, dass die hier geborenen Älteren einen sehr starken Bezug zur Heimat haben und ich denke auch, dass da auch Zugereiste sind, mit einem gewissen intellektuellen Anspruch, die sich drum Bemühen … so war’s ja auch bei mir … sich halt hier zurecht zu finden, herauszukriegen, wo sie jetzt im Einzelnen gelandet sind. Wobei die Qualitäten und auch Formen der Auseinandersetzung mit Heimat der Erstbeschriebenen Gruppe jetzt `ne ganz andere ist. Ich sag` ja auch, dass ich häufig erschrocken bin, wie wenig alte, gestandene Saarländer über das Saarland wissen. Wie erstaunlich es ist, dass eigentlich Zugereiste das in kürzester Zeit aufgeholt haben und dann auch überholt haben. Aber es sind natürlich auch Unterschiede im Kennen des Saarlandes. Oft sind es auch – zum Beispiel bei der Gruppe, die ich jetzt repräsentiere – die harten Fakten, die diese Gruppe jetzt kennt, während die gestandenen einheimischen Menschen, gerade wenn sie älter sind, aufgrund dieses Heimvorteils, den sie halt haben, was anderes über Heimat wissen. Das geht los über Sitten und Gebräuche, das geht weiter mit der Sprache und dann natürlich auch dieses über lange Zeit viele Leute kennen, das bringt dann natürlich dann auch wieder viele Informationen über Heimat.“ (Herr P.; S. 88, 15-29) Durchaus erwähnenswert erscheint in der Betrachtung dieses Interviewteils, dass bei Herrn P. auch das Heimatbewusstsein der Eingesessenen einer analysierenden Betrachtung und Beurteilung unterzogen wird. Dieser evaluative Ansatz bei Zugezogenen resultiert auch aus dem lebensweltlichen Vergleich der Herkunftsheimat und der neuen (Wahl)Heimat, der häufig durch Vergleiche der unterschiedlichen (räumlichen und sozialen) Heimaten geschärft wird, während der kognitivere Zugang bei Eingesessenen sich häufig an Urlaubsreisen konturiert, insgesamt aber aufgrund einer stärkeren unhinterfragten, zumeist lokalen bisweilen regionalen Einbettung weniger stark ausgeprägt ist. Durch den Orts-
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wechsel bei Zugezogenen wird Heimat auch stärker als zeitlich-räumlich-sozial divergentes biographisches Phänomen erlebt, während bei Eingesessenen Heimat tendenziell als biographische Einheit erlebt wird.
5.3 Deutungen und Bedeutungen 5.3.1
Biographische Aspekte von Heimat
Die Frage, ob von den Interviewten Heimat für wichtig gehalten werde, wird von Einheimischen und Zugezogenen völlig unterschiedlich beantwortet. Dies bezieht sich einerseits auf den Inhalt der Antworten, insbesondere aber andererseits auf deren Umfang. Die umfangreichste Antwort auf diese Frage stammt von Frau B.: „Ja, ja. Weil irgendwie da so’n Bezugspunkt ist, zu dem man zurückkehren kann und wo man irgendwie weiß: Da bin ich zuhause. Doch das finde ich schon wichtig!“ (Frau B.; S. 7, 27-28) Charakteristischer auf die Frage nach der Wichtigkeit von Heimat sind jedoch Antworten wie folgende: „Sehr.“ (Herr E.; S. 20, 28) „Ja.“ (Frau C.; S. 46, 24) „Sehr wichtig.“ (Herr I.; S. 57, 11) „Klar!“ (Frau L.; S. 74, 4) Bei den befragten Eingesessenen dominiert also unhinterfragt die Deutung, Heimat sei von großer Bedeutung. Dabei wird diese Einschätzung als nicht hinterfragungsbedürftig angesehen. Diese geringe Hinterfragungsbedürftigkeit von Heimat wird auch aus Antworten zur Frage, wann zum ersten Mal bewusst über Heimat nachgedacht wurde, deutlich: „Ich habe eigentlich nie bewusst über Heimat nachgedacht. Ich hab es einfach so verinnerlicht, hab’s eigentlich nie so als Problem gesehen und hab nie mit dem Begriff Heimat Schwierigkeiten gehabt.“ (Herr I.; S. 57, 16-18) Neben der fraglosen Eingebettetheit in den lokalen bzw. regionalen sozialen Kontext wird hier auch die – für Eingesessene durchaus charakteristische –
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geringe kritische Distanz zum Begriff der Heimat deutlich. Defizite und Mängel treten offensichtlich ins Bewusstsein und zwingen zum Nachdenken, während Positives unbemerkt bleibt, entsprechend wird Heimat bei positiver Besetzung nicht reflektiert. Ein etwas anderes Deutungsmuster der Eingebettetheit in den lokalen und regionalen Kontext wird bei Frau L. deutlich, wenn sie auf die Frage antwortet, wann sie zum ersten Mal bewusst über Heimat nachgedacht habe, und bei der Antwort auf die Alteingesessenheit ihrer Familie rekurriert: „Ohh, Gott, woher soll ich das noch wissen? Immer eigentlich … meine ganze Familie ist eigentlich sehr bodenständig, Bergleut`, klar, Handwerker, das war immer … alle wollten heim ins Reich oder dann Saarländer sein, also nix mitte Franzosen, doo, das ganze Gedöns was da immer gemacht wird … das wird übertrieb’ denk’ ich.“ (Frau L.; 74, 913) Diese Deutungsmuster der Alteingesessenheit, der Einbettung in seit Generationen bestehende Heimatdefinitionsmuster als regionale „Eigenmythen“ (Kovács 2000: 255) ist hier verknüpft mit der Ablehnung des Versuchs der Neuinterpretation und -definition des Saarlandes als (positiv) kulturell von Frankreich beeinflusst, einem Versuch der Imagewandlung des Saarlandes, der insbesondere von der saarländischen Landesregierung betrieben wurde und wird – und besonders von Zugezogenen aufgegriffen wird (hierzu siehe auch Krewer 1991). Konturiert wird der Heimatbegriff eigens in der Konfrontation mit dem Fremden. Dies kann sich – wie in Abschnitt 5.3.6 Heimat und Fremde genauer zu erläutern sein wird – auf die Fremden im heimatlichen Ort bzw. der Region, an Stereotypen von Fremden (in der eigenen Region oder darüber hinaus), aber auch infolge der Konfrontation mit dem Fremden außerhalb der eigenen Region vollziehen, wie der Interviewausschnitt von Frau B., einer Eingesessenen, auf die Frage, wann sie zum ersten mal Heimat bewusst wahrgenommen habe, zeigt: „Also ich kann nicht so genau datieren, wann das war, aber ich weiß es, dass es öfter so war, als wir aus dem Urlaub zurückgekommen sind. Dass ich mich gefreut hab, noch mal in Saarbrücken zu sein. Also, nach Hause zu kommen. Also wir sind viel in den Urlaub gefahren, und das war so … wie alt war ich denn da? So zwölf … dreizehn, wo das so angefangen hat, wo ich mich so gefreut habe, wieder nach Hause zu kommen … so da ist es mir bewusst geworden, das ist meine Heimat, das ist mein Zuhause!“ (Frau B.; S. 8, 12-17)
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Bisweilen wird Heimat von Eingesessenen eine normative Bedeutung zugeschrieben. So antwortet Herr E. auf die Frage, ob aus seiner Erfahrung bestimmte Gruppen (Junge, Alte, Gebildete, Ungebildete o.ä.) ein besonderes Heimatgefühl hätten: „Also diejenigen, die durch persönliche Möglichkeiten, ob das jetzt Geld ist, oder ob das berufliche Aussichten sind, die die größeren Möglichkeiten haben, die sind natürlich auch am ehesten, ich sag an der Stelle jetzt gefährdet, die Heimat zu vergessen und sich in den Kreisen niederzulassen, in denen sie von ihrer Ausbildung her, von ihrem Habitus her hingehören. Es gibt da nur wenige, die sich da an die Heimat, an die Zelle ihres Entstehens zurückerinnern und sich dort festmachen. Das ist dann schon schwierig.“ (Herr E.; S. 23, 1-6) Heimatliche Bindungen werden durch Bildung und Milieuwechsel geschwächt. Mit dem Nachsatz „Das ist dann schon schwierig“ wird dieser Milieuwechsel negativ gewertet. Wird Heimat bei Eingesessenen häufig als wichtig, aber keiner Reflexion bedürftig betrachtet, so wird Heimat von Zugezogenen in der Regel stärker einer evaluativen Beurteilung unterzogen, wie das Beispiel Herr W. zeigt, der auf die Frage, ob Heimat für ihn wichtig sei, wie folgt antwortet: „So wie ich es interpretiert habe, dass Heimat ein Gehegnis sein kann, das halte ich für außerordentlich wichtig. Weil man einen Punkt hat, in den man sich geistig zurückziehen kann, der nichts kostet, in dem man seine Kraft neu aufbauen kann und insofern halte ich Heimat für außerordentlich wichtig.“ (Herr W.; S. 65, 29-32) Bemerkenswert ist, dass Heimat außerhalb des Waren- und Güterverkehrs oder der natürlichen und materiellen Güter angesiedelt wird. Als Geistes- und Ideenwelt ist Heimat nicht käuflich zu erwerben, sondern steht als Raum der Besinnung und Selbstvergewisserung zur Verfügung. Sie wird damit als immaterielles Kulturgut charakterisiert. Neben der evaluativen Distanz der Antwort ist auch die Betrachtung der Dimension der geistigen Heimat bemerkenswert, die – aufgrund des Eingebettet-Seins von Einheimischen – selten bei Einheimischen, häufiger bei Zugezogenen auftritt. Ebenfalls affirmativ und evaluativ antwortet Herr P., wobei hier die Komponente der kognitiven Auseinandersetzung mit der (Wahl)Heimat noch stärker hervortritt: „Für mich ist … bei Heimat wichtig … Menschen, mit denen ich mich gut verstehe … die immer um mich haben zu können. Für mich bedeutet
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Heimat darüber hinaus ein Landschaftsraum, der mich interessiert, wo ich mich auch aufhalten kann, wo ich mich bilden kann, wo ich mich auch auseinandersetzen kann. Für mich bedeutet Heimat auch, mich in Bereichen aufzuhalten, wo ich arbeiten kann. In einer Art und Weise, die mich auch erfüllt und weiter bringt.“ (Herr P.; S. 85, 30-34) Überwiegt bei Einheimischen die Deutung, Heimat sei wichtig, findet sich bei Zugezogenen – insbesondere jenen, für die das Saarland bzw. der Wohnort weniger eine Wahl-Heimat, denn eine Region oder ein Ort des „Geworfenseins“ ist, Personen also, die ohne eigene Motivation (mitziehende Ehefrauen und Kinder) ins Saarland kamen – eine durchaus kritische Position zum Thema Heimat, wie aus dem Interviewausschnitt mit Herrn N. deutlich wird, der als Kind mit seinen Eltern an seinen späteren Wohnort kam: „Für mich ist Heimat jetzt weniger wichtig. Ich kenne natürlich auch Leute, für die das sehr wichtig ist. Gerade wenn man jetzt auch vom Land kommt. In [Ort im ländlichen Raum] hier ist es jetzt so, dass viele Leute so jetzt am Ort hängen. Auch teilweise überhaupt nicht aus dem Ort rauskommen, triviales Beispiel: Mein ehemaliger Fußballtrainer, der sagt, dass er vielleicht drei, vier Tage in seinem ganzen Leben aus [Ort im ländlichen Raum] drauß` war und für den ist Saarbrücken `ne Weltreise. Und ich denk`, wenn man den an irgendeine andere Stelle setzen würde, der würd` da gar nicht zurechtkommen.“ (Herr N.; S. 36, 28-34) Dieser Interviewausschnitt zeigt deutlich die evaluative Konturierung des eigenen Nicht-Eingebettet-Seins, obwohl bereits als Kind zugezogen, im Vergleich zu dem in den lokalen, aber nicht regionalen Kontext eingebetteten Fußballtrainer. Die evaluative Auseinandersetzung mit der (Wahl)Heimat bzw. dem Ort/der Region des Geworfenseins basiert auf der Erfahrung der Differenz der eigenen Sozialisation mit den Werten und Normen der neuen Umgebung. So berichtet Herr P., der ebenfalls bereits als Kind ins Saarland kam, von einer für ihn prägenden Erfahrung als Schulkind: „Da wurde man manchmal auch in der Schule ein bisschen gehänselt … also ich hab zu dem, was da aus dem Schornstein rauskam, ‚Roß’ gesagt, während das hier also ‚Ruß’ heißt. Und da ham die gesacht: ‚der kann ja noch nich ma deitsch schwätze’.“ (Herr P.; S. 86, 18-21)
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Etwas distanzierter schildert Frau O. das Erlebnis ihres Geworfenseins, indem sie die sozialen Bezüge ihrer Herkunftsheimat mit jenen ihres aktuellen Wohnortes vergleicht: „Vielleicht schon als ich hierher gezogen bin. Das war nämlich dieser Menschenschlag. In der Pfalz und im Saarland. Das ist unterschiedlich. Obwohl es jetzt so nah ist.“ (Frau O.; S. 80, 29-30) Das Ergebnis der Vergegenwärtigung des Anders-Seins, also der bewussten Erfahrung des Nicht-fraglos-Eingebettet-Seins, kann emotionale Folgen zeitigen. Dies zeigt der Interviewausschnitt mit Frau C., ihre Antwort auf die Frage nach dem ersten Zeitpunkt des Nachdenkens über Heimat belegt die enge Verbindung von Heimat und von deren Verlust, der typischerweise als Heimweh wahrgenommen wird: „Ähh, ich denke. In Verbindung mit Heimweh. Und das hatte ich so als ich in [neuer Wohnort in Rheinland-Pfalz] war. Da war ich 15, 16 und weil ich da nicht die Freiheiten hatte wie hier. Und in der Schule hatten wir das Thema mal gehabt. Im Zusammenhang mit `nem Lied, aber …“ (Frau C.; S. 46, 29-31) Verlustempfinden und die Erfahrung, nicht fraglos in den lokalen oder regionalen Kontext eingebettet zu sein, hat eine evaluative, vielfach durchaus kritische Auseinandersetzung mit Heimat zur Folge, wie in den folgenden Abschnitten noch genauer zu beleuchten sein wird.
5.3.2
Die Bedeutung von Dialekt für den Heimatbezug
Eine positive Bewertung von Dialekt findet sich erwartungsgemäß insbesondere bei Eingesessenen, wie der Interviewausschnitt von Frau L. zeigt: „Klar. Ich steh dazu! Das gehört zusammen. Die im Hochwald haben ja dieses moselfränkisch, diesen Hochwald-Dialekt, das verstehen die nur untereinander. Da versteht der eine Ort den anderen nett. Also die aus Wahlen, die werden in Wadern schon nicht mehr verstanden. Und da gehen halt viele dazu über, ihren Kindern Hochdeutsch beizubringen, die dann keinen Dialekt haben. Also mich stört das. Ich finde, man sollt schon zweisprachig groß werden.“ (Frau L.; S. 70, 24-28)
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Ähnlich äußerst sich Herr E.: „Das [Dialekt; Anm. O.K./A.S.] gehört dazu! Das gehört einfach dazu! In einem persönlichen Umfeld wende ich diesen Dialekt auch durchaus an. Wobei man aber durchaus in einem Umfeld, wo’s gefordert ist die … sich in Richtung Hochsprache ausdrücken muss. Aber zu einem Saarländer gehört ein Dialekt, und dass er sich nicht schämen muss … Ein Bayer oder ein Schwabe würde sich nie um eine andere Ausdrucksweise bemühen. Die haben das Selbstbewusstsein. Unsereiner meint, wenn er in Urlaub fährt, dass er auswärts den Dialekt nicht mehr anwenden darf. Isch seh das net so. Man sollte dort durchaus von seinem Dialekt Gebrauch machen. Das wirkt irgendwo auch sympathisch.“ (Herr E.; S. 21, 26-32) Dialekt erhält eine nahezu konstitutive Bedeutung der Selbstvergewisserung im lokalen bzw. regionalen Kontext, ohne dass die Bedeutung der Hochsprache bei offiziellen Anlässen negiert wird. Im Alltagsleben mit seiner ganzen Trivialität und Spontaneität, beim alltäglichen Dasein, bei Arbeit und Erholung im lokalen Kontext wird die Sprache gesprochen, die das Gemeinwesen auszeichnet, also Dialekt. Bei offiziellen Anlässen, die über das „Gewöhnliche“ hinausgehen, wird die Sprache gebraucht, die dem überörtlichen Charakter und damit dem Ausdruck der größeren Einheit angemessen ist. Bemerkenswert ist der Vergleich mit anderen, der in zahlreichen weiteren Interviews auch mit den genannten Beispielen gezogen wird. Dabei wird den Saarländern hinsichtlich ihres Dialektes ein mangelndes Selbstbewusstsein – insbesondere bei Reisen außerhalb des Saarlandes – unterstellt, ein Deutungsmuster, das sich sehr häufig bei stark auf den lokalen bzw. regionalen Kontext bezogenen Eingesessenen findet, aber durchaus nicht von allen Eingesessenen und insbesondere Zugezogenen geteilt wird (dieses Thema wird in Abschnitt Das Konstrukt des „typisch Saarländischen“ zum Konstrukt des „typisch Saarländischen“ noch einmal vertiefend aufgegriffen). Auf die – insbesondere von Eingesessenen wahrgenommene – Differenzierung des Saarlandes rekurriert Frau G., wenn sie über das eigene Erleben der unterschiedlichen Dialekte im Saarland berichtet: „Dass ich grundsätzlich in Saarbrücken aufgezogen wird`, weil ich moselfränkisch red und in Merzig, weil ich rheinfränkisch red. In Merzig krieg ich immer gesagt: ,Du hörschd dich an wie a Sabrigga’ und in Saarbrücken ,Du hörschd Dich an wie a Merzischa’. Ich find das angenehm,
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wenn jemand Dialekt redet. Außer es ist dann so extrem, wo du dann nichts mehr verstehst. Nee, generell angenehm.“ (Frau G.; S. 51, 18-22) Bei Zugezogenen finden sich sehr unterschiedliche Bezüge zu Dialekt. Eine ablehnende Position findet sich bei Frau D.: „Dialekt find ich grauselig. Weil ich immer das Problem habe, Dialekt zu verstehen. Seit 1979 leben wir jetzt hier, und ich kann das immer noch nicht verstehen.“ (Frau D.; S. 27, 32-33) Während Frau D., selbst hochdeutsch sprechend, Dialekt ablehnt, zeigt sich bei der Pfälzisch sprechenden Frau O. eine Sehnsucht nach der Hochsprache: „Dialekt ist auch wieder so`n bisschen Heimat. Ich wär` froh, ich würd Hochdeutsch sprechen … weil … mir fällt das unheimlich schwer, hochdeutsch zu sprechen, durch den Dialekt. Oft bringt man alles durcheinander. Also … ich wohn’ ja jetzt schon so lange im Saarland … meinen Pfälzer Dialekt, das kann ich ja nicht verleugnen. Das krieg’ ich auch immer wieder gesagt: ,Ach, Sie sinn aber nett ausm Saarland`, ,woher sinn Sie?`, ob ich aus der Pfalz bin … ob man das hört, weiß ich nicht, aber man merkt, dass ich einen anderen Dialekt habe als die Saarländer.“ (Frau O.; S. 81, 21-27) Das Gefühl des Ausgeschlossen-Seins durch ihren Dialekt erzeugt bei Frau O. eine emotionale Belastung. Anders stellt sich der Bezug zum Dialekt bei Frau Z. dar, die – ähnlich wie Frau O. – die Bedeutung von Dialekt für die Integration in die lokal-sozial definierte Gemeinschaft erkennt, aber daraus ein anderes Verhältnis aufbaut. Dies dürfte auf ihre beruflichen Tätigkeit im akademischen Kontext und dem Wohnort in der Kernzone des Verdichtungsraumes zurückzuführen sein, während Frau O. im hausfraulichen Kontext im ländlichen Raum lebt: „Dialekt? [lacht] Dialekt scheint mir ein sehr wichtiges Identifikationsmerkmal gewisser Regionen zu sein. Da ich aber, weil ich zugezogen bin, mit verschiedenen Dialekten aufgewachsen bin, muss ich feststellen, dass ich sehr adaptiv geworden bin. Dass ich mich sehr schnell an neue Dialekte gewöhne. Meine Eltern kommen aus dem Ruhrgebiet, das heißt, sie sprechen mit leichtem Einschlag Hochdeutsch. Bei uns wurde zuhause Hochdeutsch gesprochen. Ich habe sehr schnell als Kind – ich bin mit zwei Jahren ins Saarland gekommen – den saarländischen Dialekt
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gelernt und auch in meinem Freundeskreis, in der Schule – nicht im Unterricht, aber sonst in allen Bereichen – sehr stark benutzt. Mir ist der Dialekt aber nach der Schulzeit wieder abhanden gekommen, sobald ich mit Leuten aus anderen Teilen Deutschlands zusammen war und die von überall herkamen. Und heute habe ich so ein bisschen ein zwiespältiges Verhältnis zu dem Dialekt. Ich empfinde den Dialekt hier als sehr … na ja … er klingt doch sehr proletenhaft … manchmal … aber gleichzeitig merke ich auch: Er verbindet mich auch mit dem Saarland. Also: Ich kann ihn manchmal nicht ganz ernst nehmen, aber manchmal mach’ ich das so, mal so’n Satz auf Saarländisch fallen zu lassen.“ (Frau Z.; S. 1314, 30-34 u. 1-10) Insbesondere in den letzten Passagen des Interviewausschnittes wird ein ambivalentes Verhältnis zum (saarländischen) Dialekt deutlich, wie es charakteristisch ist für viele, die in ihrer Kindheit oder Jugend mit den Eltern zugezogen sind. Die Befragte zeigt einen souveränen Umgang, denn auch bei einem Milieuwechsel leugnet sie ihre Verbundenheit nicht, eine innere Distanz ist möglich, ohne die Herkunft abzulehnen.
5.3.3
Die Bedeutung von Vereinen für den Heimatbezug
Noch uneinheitlicher sind die Deutungsmuster der Befragten hinsichtlich der Bedeutung von Vereinen, sowohl bei Eingesessenen als auch bei Zugezogenen. Als konstitutiv für Heimat sieht Herr E. Vereine an: „Das macht mit die Heimat aus. Denn in Vereinen finden sich die zusammen, die die gleiche Freizeitbeschäftigung suchen, die das gleiche Talent haben … und all diese Dinge. Und das gehört einfach dazu, da fühlt man sich wohl, dort findet man die, die einem auch dann am ehesten in der verbleibenden Freizeit auch Freude machen können.“ (Herr E.; S. 22, 36) Dabei wird deutlich, dass auch die Dimensionen des Sozialen und des Wohlbefindens rekurrieren. Eine affirmative Haltung gegenüber Vereinen vertritt auch Herr N. Allerdings geht er stärker noch als Herr E. auf die Bedeutung von Vereinen für die Identitätskonstruktion durch Gemeinschaftserfahrung ein. Im Gegensatz zu Herrn E. ist der Duktus der Ausführungen von Herrn N. jedoch – durchaus charakteristisch, wie bereits gezeigt wurde – stärker evaluativ geprägt.
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Darüber hinaus nimmt Herr N. deutlich Bezug auf die Dimension der Ab- und Ausgrenzung – insbesondere der Abgrenzung: „Und ich find’: das ist schon wichtig, wenn man dann mit dem Trikot mit dem Wappen vom Heimatort dort aufläuft usw., dann kämpft man dann auch – in Anführungszeichen – für den Ort und für die Gemeinschaft und das hat `ne Riesenbedeutung. Gut, das gibt ja da auch Konkurrenz zwischen den einzelnen Dörfern und dass man dann sagt: So, ich bin ein [Bewohner eines Ortes], das ist ein [Bewohner eines zweiten Ortes], wir spielen gegeneinander … das hat ja schon fast Volksfestcharakter, wenn dann die Derbys sinn unn … seit der Verein da nicht mehr besteht in [erstgenannter Ort] kann man feststellen, dass das Dorfgemeinschaftsleben da sehr stark abgenommen hat. Also noch viel mehr als das vorher der Fall war. Bestes Indiz dafür ist der Weiher in [erstgenannter Ort], der war früher noch relativ gut in Schuss, als das noch mit dem Verein geklappt hat … aber seit dieser Verein nicht mehr is … ist das also auch komplett gestorben. Und die Dorfgemeinschaft leidet darunter.“ (Herr N.; S. 39, 8-19) Nach Auffassung von Herrn N. bedeutet also der Verlust des Vereins – hier nicht explizit genannt: infolge des demographischen Wandels – auch den Verlust an gemeinschaftsstiftenden Bindungen im örtlichen Kontext. Die Gemeinschaftsbildung, die im vorangegangenen Interviewausschnitt so positiv geschildert wurde, wird von anderen Interviewten ambivalent beurteilt: „Nee, also ich war schon in Vereinen. Ich war mal im Kirchenchor, ich war mal in `nem Musikverein. Das war ganz schön, aber das ist auch `ne starke soziale Kontrolle. Also, das muss nicht sein.“ (Frau C.; S. 47, 7-9)
5.3.4
Die Bedeutung von Traditionen für den Heimatbezug
Ähnlich wie Vereinsleben und Dialekt wird auch die Frage, welche Bedeutung Traditionen haben, häufig als Basis moralischer Bewertungen und normativer Aussagen genutzt. Dabei wird sehr häufig auf nationale Traditionen rekurriert, wie dies auch bei Herrn A. der Fall ist: „Traditionen sollte man dort bewahren, wo sie entstanden sind. Und sollte auch nicht versuchen, sie in den Hintergrund zu drängen. Denn Tradition hängt sehr häufig auch mit Nationalitätsbewusstsein zusammen.
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Und das ist etwas, was in Deutschland nicht so deutlich ausgeprägt ist, wie z.B. in Österreich. Und da könnten wir ruhig noch ein bisschen dran arbeiten.“ (Herr A.; S. 3, 4-8) Traditionen erscheinen hier nicht hinterfragungsbedürftig und werden eher auf nationaler Ebene verortet, da regionale Traditionen nicht mehr im Alltag verankert sind. Regionale Traditionen sind hier offenbar durch Massenkultur und durch Massenkonsum nivelliert und überholt, also sozial funktionslos geworden. Ein Deutungsmuster, das bei jenen sehr häufig Verwendung findet, die sich affirmativ zu Traditionen äußern, wird bei Herrn A. deutlich, nämlich jenes, dass lediglich authentische Traditionen und Bräuche erstrebenswert seien. Dieses Deutungsmuster findet sich auch bei Herrn N. im folgenden Interviewausschnitt: „Also ich finde halt zunächst mal, dass solche Bräuche interessant sind … auch die verschiedenen Herkünfte sind zu unterscheiden, die verschiedenen Orte … es darf halt nicht zu gekünstelt sein, weil dann wird’s dann schon wieder `n bisschen abstrakt … und so’n bisschen gewollt halt irgendwie, aufgesetzt wirkt`s dann halt. Aber ich find` das ist schon wichtig, dass man weiß, wo die Leute herkommen, ihre Bräuche … in anderen Ländern ist das ja noch viel stärker ausgeprägt wie bei uns.“ (Herr N.; S. 38, 2-7) Sowohl bei Herrn N. als auch bei Herrn A. wird der Vergleich zu anderen Regionen gezogen, die eine stärkere Verbundenheit mit den jeweiligen Traditionen hätten. Häufig wird dieser Vergleich bei jenen, denen Traditionen wichtig sind, mit einem Ausdruck des Bedauerns aufgenommen (wie auch bei Herrn A.). Bemerkenswert erscheint, dass es bei der Wertung der Bedeutung von Traditionen keine deutlichen Unterschiede zwischen Eingesessenen und Zugezogenen gibt: Sowohl Zugezogene als auch Eingesessene halten Traditionen und Bräuche für wichtig, aber auch für weniger bedeutsam bis unbedeutend.
5.3.5
Die Bedeutung von Landschaft für den Heimatbezug
Wie in Abschnitt 5.2.4 festgestellt wurde und auch Kühne (2006b) auf Grundlage qualitativer und quantitativer Erhebungen nachvollzogen hat, gibt es einen Bezug zwischen Landschaft und Heimat, Landschaft ist also ein Teil des Heimatbegriffs. Darüber hinaus lassen sich jedoch zwischen Eingesessenen und Zugezogenen unterschiedliche Deutungs- und Zuschreibungsmuster hinsichtlich
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dieses Zusammenhangs nachvollziehen. Landschaft ist nicht gleich Heimat, sie ist entweder Kulisse für Heimat oder wird symbolisch zum besonderen Ort. Eine wichtige Bedeutung hat Landschaft für Eingesessene in der Ableitung der sozialen Dimension des Heimatlichen. Dies zeigt das Beispiel von Herrn E., der auf die Frage, welche Bedeutung Landschaft für sein Heimatempfinden habe, wie folgt antwortet: „Gut, hängt einfach mit dem, was den Heimatort mit den Menschen, die ja dahinter stehen, angeht, unmittelbar zusammen. Zu [Ortsname] gehört nun mal das Umfeld: Grube [Ortsname II] mit den Halden und dem Förderturm, genauso wie das Waldgebiet um [Name eines Sees], genauso wie die Grünlandschaft im Bereich [Bachname], [Bachname II] usw. Diese Natur-Umgebung gehört einfach dazu.“ (Herr E.; S. 22, 25-29) Die Aneignung dieser heimatlichen Normallandschaft (Kühne 2008) verläuft durch ungesteuerte individuelle Aneignung in der Gleichaltrigengruppe oder durch Landschaftsdeutung durch signifikante Andere in Kindheit und Jugend (vgl. Ahrend 1997, Kühne 2006). Die heimatliche Normallandschaft bezieht das Umfeld des elterlichen Wohnstandortes ein. In der Regel wird sie unhinterfragt akzeptiert und nicht an (stereotypen) Schönheitsansprüchen gemessen, Vertrautheit ist hier bedeutsamer als die Übereinstimmung mit sozialen Schönheitsnormen. Die Konstitution der heimatlichen Normallandschaft wird auch bei Frau C. in folgendem Interviewausschnitt deutlich: „Auf jeden Fall. Das schon. Ja … viel grün, etwas hügelig, abwechslungsreich, Wasser … klar, das sind so die Sachen, wo man als Kind `rumstreunt. Über Wald und über Wiesen, im Bach, wir hatten einen Bach hinterm Haus. Ja, das hat ganz viel für mich mit Heimat zu tun.“ (Frau C.; S.47, 17-19) Diese heimatliche Landschaft bietet – so Gerhard Hard (1969a: 11) ironisierend – als „mütterliche Landschaft doch immer Heimat und Geborgenheit“ und ist „erfüllt von ersten Erinnerungen an regionale Sprache, Geräusche, Gerüche, Farben, Gesten, Stimmungen und sprechende[n] Dinge[n] und tief im Gedächtnis verankert“ (Hüppauf 2007: 112). Die heimatliche Normallandschaft zeigt – neben stereotypen (in der Regel romantisch idealisierten) Landschaftsdeutungsmustern – ein Vergleichsmuster für die Beurteilung von Landschaften. Aus der Differenz zwischen der primärsozialisierten heimatlichen Normallandschaft und den Landschaften der (Wahl)Heimat und den Orten und Regionen des
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Geworfenseins können durchaus Verlusterfahrungen resultieren, wie dies bei Frau O. der Fall ist: „Ich bin a aarich [sehr] naturverbundener Mensch … also ich lieb Gaaade [Garten]… ohne könnt` isch gar nicht sinn. Stadtleben möchte ich nett. Mir isses anfangs schwer gefallen hier, weil … wo ich herkomme ist viel Wald und hier ist kein Waldgebiet … hier ist alles nur Felder … aber man gewöhnt sich dran. Ich finde, es hat auch Vorteile jetzt … bei uns war alles so hügelig. Und hier ist alles eben, man kann Radtouren machen. Man sieht dann halt die Vorteile wieder.“ (Frau O.; S. 82, 9-13) Die Verlusterfahrung der primärsozialisierten heimatlichen Normallandschaft versucht Frau O. dadurch zu kompensieren, dass sie im Vergleich zu dieser die eigentlich fremd erscheinende Landschaft ihrer aktuellen Wohnregion kognitiv neu positiv besetzt. Im Gegensatz zur heimatlichen Normallandschaft werden an Landschaften in dem Umfeld von Wohnorten außerhalb der heimatlichen Normallandschaft Ansprüche gemäß (stereotyper) Landschaftsschönheitsnormen gestellt. Während also heimatliche Normallandschaften zumeist als gegeben hingenommen und hinsichtlich ihrer (stereotypen) Schönheit nicht hinterfragt werden, wird an Wahl-Wohnorte sehr wohl der Anspruch gestellt, das diese (stereotypen) sozialen Schönheitsansprüchen genügen müssen (Kühne 2006 und 2008). Insgesamt scheint es so, dass der Zugang von Zugezogenen zu der neuen (Wahl)Heimat bzw. dem Ort/der Region des Geworfenseins stärker über die Dimension der Landschaft, denn über die des Sozialen verläuft. Dies zeigt auch der Interviewausschnitt von Frau D., die mit Heimat weder Dialekt und Verein noch Traditionen oder Personen verbindet: „Ja, das schon eher. Landschaft ist mir wichtig. Und `ne Umgebung, zu der ich eine Beziehung aufbauen kann, die ich schön finde … Ich möchte schon immer da wohnen, wo ich es schön finde.“ (Frau D.; S. 28, 12-14) Hier spielt die Dimension einer schönen Landschaft in die Dimension des Wohlbefindens hinein. Dieses Wohlbefinden ist dabei jedoch nicht an bestimmte Landschaften einer Region gebunden, sondern bezieht sich eher auf Landschafts(stereo)typen, wie der Interviewausschnitt von Herrn J. exemplarisch darstellt: „Die Landschaft ist das hauptsächliche, was ich mit Heimat verbinde. `Ne Landschaft, die ich kenne, gerade hier so Mittelgebirgslandschaft mit vielen Dörfern, Flüssen in der Nähe. Und dann die deutsche Sprache.
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Dann auch an der Donau, da an der Wachau … die Landschaft ist ähnlich, die Leute verstehen mich, ich verstehe die Leute, da fühle ich mich dann gleich wie zuhause.“ (Herr J.; S. 62, 15-19) Für jene, die sich weniger an einen heimischen Ort gebunden fühlen, erlangt also neben der Dimension der (schönen) Landschaft auch die Dimension der (gemeinsamen) Sprache als Teil der geistigen Heimat eine größere Bedeutung. Die Urlaubslandschaft wird entsprechend der gewohnten Landschaft ausgesucht – ein Urlaubsmotiv, das in Tourismusstudien kaum erwähnt wird. Die bisherigen Betrachtungen der heimatlichen Bezüge und heimatbezogenen Deutungsmuster zeigen deutliche Unterschiede in der Wahrnehmung von Heimat bei Eingesessenen und Zugezogenen. Diese werden im nachstehenden Abschnitt hinsichtlich ihrer sozialen Gründe, Folgen und Nebenfolgen untersucht.
5.3.6
Heimat und Fremde
Heimat und Fremde sind zwei sich gegenseitig konstituierende und konturierende Prinzipien. Die Konstituierung und Konturierung des Heimatlichen verläuft einerseits – wie bereits besprochen – durch eine Abgrenzung vom äußeren Fremden, insbesondere durch Abgrenzung von anderen Regionen (wie der Pfalz oder Lothringen), anderseits aber auch durch die eigene Verwurzelung und gleichzeitige Abgrenzung von Fremdem innerhalb einer lokalen oder regionalen Gesellschaft. Umgang mit und Definition von Heimatlichem und Fremdem wird in diesem Abschnitt behandelt. Im Zusammenhang mit dem sozialen Umgang mit Heimatlichem und Fremdem ist die Frage, ob und in welcher Form sich Zugezogene in bestehende soziale Strukturen integrieren sollten. Zumeist wird von den Befragten festgestellt, dass die Integration von Allochthonem und Autochthonem ein gegenseitiger Prozess sei. Jedoch unterscheiden sich die Deutungsmuster im Detail sehr deutlich. So stellt der Eingesessene Herr E. auf die Frage hin, wie Alteingesessene und Fremde miteinander umgehen sollten, fest: „Das ist ein beidseitiger Integrationsprozess. Auf der einen Seite gehört es dazu, dass derjenige, der neu dazukommt, der also meint, hier seinen Lebensmittelpunkt zu finden ... aus unterschiedlichen Gründen … dass der sich auch in der Nachbarschaft, in Vereinen, bei seiner Freizeitbeschäftigung oder auch im Religiösen sich hier wieder findet. Also das ist auf der einen Seite die Bereitschaft, das zu tun, auf der anderen Seite auch das von den hier ansässigen Bewohnern, das Entgegenkommen, auf
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die neuen … denen da Heimischfühlen hier so angenehm wie möglich zu machen, so schnell wie möglich, dass das denen gelingt.“ (Herr E.; S. 24, 1-7) Bei dieser Antwort wird die Erwartung einer Integration in die autochthonen Rollen-, Normen- und Wertesysteme durch Zuwanderer deutlich. Von Eingesessenen hingegen wird die Bereitschaft erwartet, die Zugezogenen in die autochthonen Rollen-, Normen- und Wertesysteme durch deren Vermittlung zu integrieren, nicht jedoch diese Systeme aufgrund der Konfrontation mit dem Allochthonen anzupassen. Die Perspektive einer um Integration in die Strukturen des bestehenden Lokalen bemühten Zugezogenen verdeutlicht Frau O.: „Also ich finn, wenn man in so e Dorf zuzieht, dann muss man sisch erstemol mit denne Gegebenheiten abfinne, da kann man nett als Zugezogener die Strukture ännere. Man kann ja, wenn man also wirklich in Vereine is. Da kann man ja irgendwie seine Meinungen innbringe. Was vielleicht gar nicht so schlecht ist. Aber das man das total umkrempelt, finn isch nicht für richtig. Isch glaub auch nicht, dass man da durchkommt. Also in [Ortsname] mol nett. Das sind so starke Gruppen, da hätten sie kenn Chance als Zugezogener.“ (Frau O.; S. 83, 7-12) In diesem Interviewausschnitt wird aus lebensweltlicher Perspektive deutlich, wie fest gefügt autochthone soziale Strukturen durch Zugezogene wahrgenommen werden können. Zu diesem Thema äußert sich auch Herr W. aus evaluativer Distanziertheit in folgendem Interviewausschnitt, in dem er insbesondere eine Begründung für die Geschlossenheit lokaler Gesellschaften – insbesondere in ländlicher strukturierten Räumen – liefert: „Also ich beschäftige mich sehr viel, seit Jahrzehnten mit den unterschiedlichen Sozialschichten, die wir haben, nicht nur im Saarland … also von reichen Bauersfamilien über Arbeiterkulturen bis zu den Vaganten. Ich weiß auch, dass sich diese Schichten sich immer wieder mit der Zeit auch ändern und Wandel und ich kann nicht sagen, dass es eine Sozialschicht gibt, die in besonderer Weise sich mit dem Land verbunden sieht. Man darf einen Fehler nicht machen: Das konservative aus der bäuerlichen Kultur … verbliebene Schichten sich besonders mit der Heimat verbunden fühlen, genau genommen tun es auch die Arbeiter, nur die Art und Weise, wie sie mit der Heimat umgehen, ist eine ganz andere. In der Bauernkultur, die weisen nach, dass ihre Familien seit 200 oder
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250 Jahren im gleichen Ort wohnen, den gleichen Namen tragen, sie weisen nach, dass sie entweder katholisch oder evangelisch sind, ohne Unterbrechung, keine Mischehen, und so etwas. Sie weisen nach, dass sie so lange eine alte Berufstradition haben. Nämlich das Bauerntum, aber ich weiß nicht, ob das erstrebenswert ist, so etwas zu sein … so etwas zu denken …“ (Herr W.; S. 68, 10-22) Wie auch andere Studien zeigen (Herrenknecht 2004, Kühne 2006b) gilt insbesondere in ländlicher geprägten Räumen Alteingesessenheit – insbesondere über Generationen hinweg – neben Landbesitz als ein Medium der Generierung sozialer Anerkennung in dörflichen Anerkennungskontexten, während bei Zugezogenen eher Anerkennungsmuster zu finden sind, die auf dem Wertesystem einer posttraditionalen Gesellschaft (z.B. Beruf, akademische Grade, Einkommen, Hobbys) begründet sind. Insbesondere Personen, die als Kind ins Saarland kamen oder von zugewanderten Eltern abstammen, beurteilen das Heimatbewusstsein der Eingesessen vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen sehr ambivalent. So antwortet Frau Z. evaluativ, gemischt mit lebensweltlichen Bezügen auf die Frage, wie sie das Heimatgefühl der eingesessenen Saarländer erlebe: „Mir scheint, dass die, die schon länger als ich im Saarland verwurzelt sind, ein deutlich größeres Heimatgefühl haben als ich. Und dass ich mit meiner Zwiespältigkeit hier relativ alleine bin im Vergleich zu Freunden auch aus dem Studium, die aber aus dem Saarland kommen, aber eine längere Zeit außerhalb des Saarlandes gelebt haben, aber wieder zurückgekommen sind und die sagen: Das ist es, wo ich bleiben will. Das kann ich für mich so nicht sagen.“ (Frau Z.; S. 17, 14-19) Alteingesessenheit gilt als – vielfach allgemeingültig sozial definiertes – Medium zur Gewährung oder Entzug sozialer Anerkennung durch die Alteingesessenen. Das Heimatgefühl wird dabei durch einen zeitweiligen Wohnortwechsel nicht tangiert, denn eine Bildungswanderung scheint das "Drinnen" und "Draußen" nicht zu berühren. Damit stellt sich die Frage, wie Menschen reagieren, die mit einer angeblich nicht hinreichenden Alteingesessenheit konfrontiert werden. Auf die (hypothetische) Aussage, sich nicht als vollwertiges Mitglied der lokalen oder regionalen Gesellschaft bezeichnen zu dürfen, antwortet Herr E.: „Das kann mir nicht vorkommen, dass ich schon von Großvaters her aus [Ortsname] stamme und diejenigen, die sich noch weiter zurückerinnern
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können, die sind alle nicht mehr da! [lacht] Meine Ahnen stammen aus der Pfalz. Das habe ich also zurückverfolgt. Der Vater meines Großvaters ist also nach [Nachbarort] gezogen und der hat dann in [Ortsname] gebaut und von daher kenne ich das Geburtshaus … ist auch mein Geburtshaus.“ (Herr E.; S. 25, 1-5) Die Antwort von Herrn E. impliziert einerseits das grundsätzliche Einverständnis mit dem Prinzip der Anerkennungszuweisung durch Alteingesessenheit über Generationen hinweg. Das selbstironische Eingeständnis, dem Idealbild möglicherweise nicht zu entsprechen, weil "erst" seit etwa 100 Jahren am Ort gewohnt wird, belegt zugleich, dass es sich bei der lokalen Akzeptanz um eine schwierige und ungenaue Kategorie handelt. Eine andere Strategie des Umgangs mit der oben genannten Provokation findet sich bei Frau C.: „Dann soll er das so sehen. Wär` für mich nett schlimm, dann soll er das so denken. Also, ich muss nicht Saarländerin sein, ich muss nett … also ich fand` es toll, dass ich im Lauf der Zeit mehrere Dialekte so gekannt hab und auch mehrere Wörter so gekannt hab` …“ (Frau C.; S. 48, 17-19) Frau C., zwar selbst eine Eingesessene, entkräftet das Prinzip der Alteingesessenheit dadurch, dass es nicht zwingend erstrebenswert sei, als Saarländerin anerkannt zu werden. Insbesondere jene, die im Kinder- oder Jugendalter ins Saarland kamen, suchen nach Erklärungen, warum sie nicht unhinterfragt als Teil der lokalen oder regionalen Gesellschaft anerkannt werden. So stellt Herr J. auf die Frage, wie er reagiere, wenn ein alteingesessener Saarländer ihm sage, er könne sich nicht als Saarländer bezeichnen, da seine Eltern nicht aus dem Saarland stammten, fest: „Mag sein, dass das ein Grund ist. Ich glaub`s zwar nicht so ganz … aber vielleicht … dass meine Sprache … ja und dass meine Erziehung auf rheinländischem Temperament fußte … mag sein, dass das eine Rolle spielt.“ (Herr J.; S. 63, 16-18) Bei aller evaluativen Bemühung, die gespürte versagte Anerkennung als Saarländer zu deuten, ist auch eine gewisse Resignation zu erkennen. Diese Kombination von Resignation und der Bemühung, die geringe eigene Integration zu deuten, findet sich auch bei Frau Z., denn ihre Sozialisation in Rheinland-Pfalz ist abgeschlossen und nicht umkehrbar:
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„Ja, das Argument kenne ich immer wieder mehr oder weniger deutlich ausgesprochen. Das ist mir sicherlich schon begegnet und dann in der eigenen Erfahrung … was eben typisch für diese Region – möglicherweise auch für andere Regionen – ist: Man kennt einen, der einen kennt, der einen kennt, der einen kennt, der kann einem mal eben was helfen. Das fehlt einem eben, wenn man nicht über mehrere Generationen hier verwurzelt ist. Insofern habe ich schon häufig das Gefühl gehabt, ich bin eigentlich nicht wirklich hier zuhause. Aber ohne, dass mir das jemand so explizit gesagt hat. Wenn er es mir sagen würde, fände ich das zum einen unverschämt, zum anderen müsste ich sagen: Er hat leider recht.“ (Frau Z.; S. 17-18, 33-34 und 1-6) Bemerkenswert ist auch hier, dass funktionale Unterstützung vom Status des Alteingesessenseins abhängig ist. Die Befragte empfindet dies als Zumutung, resigniert jedoch an den etablierten sozialen Handlungsmustern. Deutlicher äußert sich Herr N. über die emotionalen Belastungen einer verweigerten Teilhabe am lokalen sozialen Bezugssystem: „Ja genau, das ist mir ja schon öfters passiert usw. … und da habe ich als Kind oder gerade als Schüler noch sehr drunter gelitten, weil … dann … dann … hat man mir immer gesagt: ,Du gehörst nicht zu uns’ und so … ‚wir wollen mit Dir nichts zu tun haben’ … das … das war bei mir also ganz krass … da wurde ich dann wirklich ausgeschlossen aus der Gemeinschaft. Das hat sich dann mit der Zeit ein bisschen gelegt, weil ich dann auch mit Leut` von außerhalb Kontakt hatte. Aber ich mein`: Im Grund` genommen ist das bis heute so geblieben. Also wenn ich durch [Ortsname] laufe, werde ich nicht als [Zugehöriger des Ortes] geachtet oder verstanden oder geführt … da heißt es immer: ‚Das sind doch Zugezogene’, obwohl ich doch seit 25 Jahren hier wohne … und es ist halt furchtbar … vor allem für Leut` … für Kinder, deren Charakter noch nicht so weit ausgeprägt ist … dass die damit leben können … das ist schon schlimm.“ (Herr N.; S. 43, 18-27) Die mangelnde Bereitschaft, die eigene Heimat auch für Zugezogene zur Heimat werden zu lassen, indem Respekt und Verständnis entgegen gebracht wird, zeugt von deutlichen Abgrenzungs- und Verteidigungsbemühungen eines besonderen Lokalkolorits. Auffällig ist, dass sozialer, kultureller, ökonomischer und technischer Wandel keinen wesentlichen Einfluss auf diese tief sitzende, quasi vorbewusste Weltanschauung ausüben konnten. Aus den letzten drei Interviewausschnitten wird die soziale Definition von Heimat deutlich: Wer sich
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widerspruchslos im Saarland Saarländer, in Saarbrücken Saarbrücker, in Wochern Wocherner nennen darf, entscheiden diejenigen, die sich bereits widerspruchsfrei als solche bezeichnen dürfen, also die Alteingesessenen. Doch diese Deutungs- und Zuschreibungsmuster der Alteingesessenheit werden herausgefordert, wie die Äußerungen von Herrn W. und Herrn P. zeigen. Die beiden Zugezogenen setzten dem heimatlichen Anerkennungsmuster des Alteingesessenseins eine stärker kognitiv ausgerichtete Alternative gegenüber. So antwortet Herr W. auf die oben genannte Frage: „Auch da will ich ein Beispiel bringen: Ich habe an einem Buch mitgearbeitet, wo der Herausgeber [Name I], [Name II] und [Name III] waren und als das Buch vorgestellt wurde, war der Vorgänger von [Name IV] in der Lotto- und Totogesellschaft derjenige, der zu mir gesagt hat, wo ich denn geboren wäre. Ich habe dann gesagt: In [Ort außerhalb des Saarlandes], daraufhin wurde mir geantwortet, ich sei ja kein richtiger Saarländer. Hab` ich drüber lachen müssen. Ich hab` so viel Selbstbewusstsein, dass ich den Saarländern oft sagen muss, was das Saarland ist und ich hab da gar keine Probleme, wenn da jemand so etwas zu mir sagt.“ (Herr W.; S. 70, 23-29) In ähnlicher Weise argumentiert Herr P.: „Das macht mir überhaupt nichts aus. Das ist etwas, das erzeugt eher Kampfeslust und führt dazu, dass man versucht mit demjenigen ins Gespräch zu kommen und dann vielleicht auch erstmal klarzumachen, wie wenig er – wenn er dieses Prädikat Saarländer zu sein für sich in Anspruch nimmt – dann über das eigene Land weiß. Da denke ich, da entsteht dann so etwas wie … ja … Gesprächslust, die dann auch lange anhält.“ (Herr P.; S. 90, 4-8) An anderer – bereits in anderem Kontext zitierter – Stelle macht dies Herr P. noch deutlicher, als er auf die Frage antwortet, welche Bevölkerungsgruppen seiner Beobachtung nach einen besonderen Heimatbezug aufwiesen: „Also, ich denk schon, dass die hier geborenen Älteren einen sehr starken Bezug zur Heimat haben und ich denke auch, dass das auch Zugereiste sind, mit einem gewissen intellektuellen Anspruch, die sich drum bemühen … so war’s ja auch bei mir … sich halt hier zurecht zu finden, herauszukriegen, wo sie jetzt im Einzelnen gelandet sind. Wobei die Qualitäten und auch Formen der Auseinandersetzung mit Heimat der erstbe-
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schriebenen Gruppe jetzt `ne ganz andere ist. Ich sag ja auch, dass ich häufig erschrocken bin, wie wenig alte, gestandene Saarländer über das Saarland wissen. Wie erstaunlich es ist, dass eigentlich Zugereiste das in kürzester Zeit aufgeholt haben und dann auch überholt haben. Aber es sind natürlich auch Unterschiede im Kennen des Saarlandes. Oft sind es auch – zum Beispiel bei der Gruppe, die ich jetzt repräsentiere – die harten Fakten, die diese Gruppe jetzt kennt, während die gestandenen einheimischen Menschen, gerade wenn sie älter sind, aufgrund dieses Heimvorteils, den sie halt haben, was anderes über Heimat wissen. Das geht los über Sitten und Gebräuche, das geht weiter mit der Sprache und dann natürlich auch dieses über lange Zeit viele Leute kennen, das bringt dann natürlich dann auch wieder viele Informationen über Heimat.“ (Herr P.; S. 88, 15-29) Das hier zur Alteingesessenheit formulierte Alternativkonstrukt der Akzeptanz und Anerkennung heimatlicher Bindung rekurriert auf landes- bzw. volkskundliche Kenntnisse. Gegenüber lebensweltlichen und auf vormodernen Prinzipien der Orts- bzw. Regionalansässigkeit beruhenden Akzeptanz- und Anerkennungsmustern der Heimatlichkeit bezieht sich dieses kognitive Konstrukt auf einen modernen (wissenschaftlichen) Erwerb von Kenntnissen über die (saarländische) Heimat. Heimisch kann sich hier der nennen, der sich durch profunde Kenntnisse zum Thema Saarland äußern kann und durch diese Äußerungen von bereits anerkannten Experten des Regionalen (oder Lokalen) anerkannt wird. Verläuft der Distinktionsmechanismus bei dem Prinzip der Alteingesessenheit gemäß der habitualisierten und langjährigen, bewusst-unbewusst angeeigneten Lebenswelt, an der Zugezogene oder von Zugezogenen Abstammende nicht teilhaben konnten, bekommen sie einen geringeren Sozialstatus zugewiesen. Der Distinktionsmechanismus der Fachkenntnis beruht auf abstrahierten Kenntnissen über die Region und der Alteingesessene bekommt rational-pragmatisch die Rolle des lebensweltlichen Informanten und Forschungsobjektes zugewiesen. Deutlich wird das unterschiedliche Verständnis vom Saarland als Heimat wenn man die beiden letzten Zitate von Herrn P. mit dem folgenden von Frau L. vergleicht: „Isch denk` schon eher im ländlichen Raum … Ungebildete kenn ich eigentlich hauptsächlich Ausländer. Da fällt es mir schon schwer: Sind die Ausländer oder die Zugereisten, hier Lebenden, Eingebürgerten … sind das jetzt Saarländer? Also Russlanddeutsche im Saarland … schwierig. Zigeuner im Saarland. Sind das Saarländer? Wie fühlen die sich? Türken, Kurden …“ (Frau L.; S. 75, 29-33)
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Argumentiert Herr P. in seiner Zuschreibung von legitimer heimatlicher Verbundenheit intellektualisiert, so argumentiert Frau L. ethnisch und mit kultureller Vielfalt, die selbstverständlich auch im Saarland existiert. Hinsichtlich des Prinzips der Alteingesessenheit lässt sich also eine Matrix des stereotyp Heimatlichen des Eingesessenen, gebildet aus einem Amalgam von Dialekt, ethnischer Zugehörigkeit, dokumentiert durch Ortansässigkeit der Vorfahren, Heterosexualität, Religion sowie lokalen und regionalen Traditionen, formulieren. Allgemeiner ausgedrückt lässt sich formulieren: Bei dem ethnischen Prinzip der Alteingesessenheit liegt die Heimatdefinitionshoheit bei den Alteingesessenen, bei dem intellektualisierten Prinzip der Kenntnisse über den Ort oder die Region bei den Experten. Dabei gibt es durchaus die Schnittmenge der alteingesessenen Experten, die gemäß beiden Differenzschemata mit einem hohen Grad an Anerkennung ausgestattet sind. Dabei sind die Träger beider Deutungsschemata darum bemüht, ihre distinktiv wirkende Exklusivität durch möglichst strikte Anforderungen aufrecht zu erhalten (vgl. das Prinzip der akademischen Abschlüsse bei Bourdieu 1983 und 1992, ähnlich Sofsky/Paris 1994, Weingart 2003). Jene, die die Definitionshoheit über das Heimatliche der Alteingesessenen haben, werden also die Anerkennungsgrenze von Heimat diskursiv so festlegen, dass ihr Exklusivitätsstatus gewahrt bleibt, indem die Zeit des Lebens in der Region in Jahrzehnten oder Generationen definiert wird.12 Jene, die die Definitionshoheit über das Heimatliche der Experten innehaben, werden durch Institutionalisierung und Organisation die Zugangsvoraussetzungen zum Diskurs der Experten, z.B. durch Gründung von heimatkundlichen Vereinen bis hin zu landes- und volkskundlichen Forschungsinstituten und Publikationsorganen, reglementieren. Dabei stellt die dichotome Strukturierung in heimisch und fremd (nach welcher Kategorisierung auch immer) ein handlungsvereinfachendes Bewertungsschema dar, das auf Prozessen der Stereotypisierung und Selbststereotypisierung – im Sinne einer Komplexitätsreduzierung von Welt – beruht. Dies bringt Herr W. zum Ausdruck, wenn er über die Integration von Fremden unterschiedlicher Kulturen spricht: „Wir sind aber gewohnt, dass sich Fremde aus anderen Kontinenten nicht integrieren lassen wollen, umgekehrt ist es auch so, dass wir sie gerne als
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So wurde ein Autor [Kühne] auf einer landesplanerischen Fachsitzung mit deutschlandweiter Beteiligung Zeuge der folgenden Bemerkung des Bürgermeisters einer saarländischen Stadt: Es sei eine Auszeichnung sich als Saarländer bezeichnen zu dürfen, dieses Privileg würde für Zugezogene zunächst nach 30 Jahren auf Probe verliehen. Vollsaarländer werde man nur durch Geburtsrecht. Sicherlich war diese Bemerkung nicht ohne Ironie, dokumentiert aber sehr deutlich das Prinzip der Alteingesessenheit bis in die Spitzen der (Kommunal)Politik hinein.
Fremde weiter sehen wollen und wir uns von denen abwenden.“ (Herr W.; S. 69, 24-26) Aus der Betrachtung des Heimischen und des Fremden lassen sich – jeweils bezogen auf das Prinzip der Alteingesessenheit und der Fachkenntnis von Heimat vier empirische Typen identifizieren, die sich nach den Prinzipien der Anerkennung von Heimat unterscheiden: 1.
2.
3.
4.
Die Eingebetteten: Hierbei handelt es sich um jene, die sich in völligem oder weitgehendem Einklang mit dem für sie als relevant geltenden Anerkennungsprinzip (in Sonderfällen auch beider Anerkennungsprinzipien) befinden. Hierzu zählen Herr A., Frau G., Frau L., Herr E. und Frau B., die sich jeweils auf das Prinzip der Alteingesessenheit beziehen. Die gescheiterten Integrationswilligen: Bei diesem Typus handelt es sich um Personen, deren Integrationsbemühungen nicht mit der Erteilung des erstrebten heimatbezogenen Status verbunden waren (wie bei Frau O. und Herrn N. in Bezug auf das Prinzip der Alteingesessenheit). Die Ambivalenten: Dieser Typus umfasst Personen, die den Statusunterschied zwischen den beiden Prinzipien problematisieren, d.h. hier Personen, deren Status bezüglich ihrer Fachkenntnisse hoch ist, die allerdings nicht oder nur teilweise der Matrix der Alteingesessenheit entsprechen. In dieser Untersuchung gehören Frau Z., Herr W., Herr I., und Herr P. zu diesem Typus (mit hohem Status der Anerkennung der Fachkenntnis und geringem Status bezüglich der Alteingesessenheit) sowie Frau C., die das Prinzip der Alteingesessenheit nicht anerkennt, jedoch jenes der Fachkenntnis, ohne hier auf einen hohen Status zu verweisen. Die Integrationsverweigerer: Hierbei handelt es sich um Personen, die die Prinzipien der Statuszuweisung des Heimatlichen kennen, aber keine Einbettung anstreben, bzw. diese für irrelevant erklären, beispielsweise, weil die für sie relevanten sozialen Netzwerke keine Verdichtung an ihrem Wohnort oder der Wohnregion aufweisen. Beispiele für diesen Typus sind Frau D., Frau E. und Herr J.
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5.4 Aspekte des Saarländischen 5.4.1
Das Konstrukt des „typisch Saarländischen“
Bereits im quantitativen Studienteil wurde das Konstrukt des „typisch Saarländischen“ behandelt (vgl. auch Krewer 1991). Im qualitativen Studienteil erfolgt nun die weitergehende Untersuchung der Deutungsmuster des typisch Saarländischen, wobei sich diese Deutungsmuster zwischen den vier empirischen Typen der Anerkennung der Prinzipien des Heimatlichen differenzieren lassen. Den Eingebetteten ist ein Deutungsmuster gemein, das das typisch Saarländische sehr affirmativ beschreibt. So wird der Bergbau als typisch saarländisch charakterisiert, dessen Auslaufen angesichts seiner konstitutiven Bedeutung für das Land bedauert wird (Herr A.) oder es wird der Stolz auf das eigene Land ebenso als typisch saarländisch (Frau B.) charakterisiert wie die kulinarischen Besonderheiten (Frau B., Frau G., Frau L.). Ferner gelten der Eigenheimbau bei den Eingebetteten (Frau G.), der Dialekt (Herr E.) und die hohe Bedeutung des Gemeinschaftlichen als typisch, wie aus folgendem Interviewausschnitt von Herrn E. deutlich wird: „Typisch saarländisch würde ich sagen ist: Tagsüber arbeiten und die Freizeit gemeinsam verbringen im familiären Bereich oder im Kameradenkreis … jedenfalls: die Gemeinschaft pflegen. Es ist jetzt egal, welche Gemeinschaft. Und die Gemeinschaft pflegen, in der Zeit, in der man nicht arbeitet. Das ist glaube ich das Typische. Und dabei auch auf andere zugehen, nett nur für sich alleine: Zaun um sein eigenes herum und keinen reinlassen, sondern durchaus die Gemeinschaft pflegen, den Austausch mit anderen.“ (Herr E.; S. 25, 9-14) In dem Deutungsmuster des typisch Saarländischen dominieren bei den Eingebetteten also die Dimensionen des Sozialen, des Wohlbefindens, des Ortes und der geistigen Heimat. Charakteristisch für das Deutungsmuster des typisch Saarländischen bei den Eingebetteten ist dabei eine innere, also sub-regionale Differenzierung der Zuschreibung – durchaus idealisierter – sogenannter typischer regionaler, aber zugleich saarländischer Eigenschaften, wie dies bei Frau L. geschieht, wenn sie auf die Frage antwortet, ob es ihrer Meinung nach eine saarländische Mentalität gebe: „Die ist regional unterschiedlich. Im Bliesgau, die sinn … ums positiv auszudrücken, eher selbstbewusst. Annere sinn eher offener. Im Hoch-
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wald sinn se eher a bissje eigenbrüdlerisch. Saargau, wees isch nett, do kenn isch keena … Saarlouis sinn se eigentlisch ganz logga, mir faschd a bissje zu logga. Saarbrücken … da weiß isch nett, ob das überhaupt Saarlänner sinn, da is jo so a durscheinanda hier. Homburger … das gehört zum Bliesgau. St. Ingberter, die sinn aach schon a bissje logga. Ja, isch denk … vielleicht ist das schon a bissje der pfälzer Einfluss … Neunkircher … das ist aach mehr industriegeprägt … da hann isch auch Verwandtschaft … hannisch awwer kenn Kontakt meh … kannisch gar nett mehr so saan. Isch hann do mohl geschafft … das waren dann eher so Prolos. Awwa.“ (Frau L.; S. 77, 24-32) Die gescheiterten Integrationswilligen beziehen sich dagegen insbesondere auf die Funktion der Vereinfachung von Welt durch Heimat, indem insbesondere auf Ab- und Ausgrenzung – aus dem eigenen Erleben heraus –, aber auch auf die Dimensionen der Zeit und des Ortes in Synthese mit der (ausschließenden) sozialen Dimension rekurriert wird. So erklärt beispielsweise Herr N. auf die Frage, was er für typisch saarländisch halte: „Für mich ist ein richtiger Saarländer wirklich jemand, der hier geboren ist, der kaum aus der Region rauskam, der auch keinen wirklichen Weitblick hat, der nur Dialekt spricht – sei’s mal drum, welcher – und der auch gegenüber anderen Landstrichen und anderen Ländern eine relativ negative Meinung hat. Das sind halt so typische Saarländer, wie ich sie kenne. Und die auch sagen: Alles was für mich über die Grenze über Waldmohr hinaus geht, ist für mich tabu … da gibt es ja einige … und das ist für mich so der Prototyp.“ (Herr N.; S. 44, 4-10) Dominiert bei den gescheiterten Integrationswilligen hinsichtlich der Frage des typisch Saarländischen die Dimension der Ab- und Ausgrenzung, der andere Interpretationsmuster untergeordnet werden, zeigen sich bei den Ambivalenten durchaus Zuschreibungen typischer Eigenschaften, die auch von den Eingebetteten gewählt werden, die Wertung dieser Zuschreibungen ist jedoch eine andere. Ein Beispiel hierfür ist Frau Z.: „Typisch saarländisch ist für mich: Neben ‚hauptsach gudd gess’ und ein sehr starkes Sozialgefüge eben ‚man kennt einen, der kennt einen, der kann mal eben’ und sehr viel Vetternwirtschaft, die aber vielleicht in anderen Regionen nicht anders ist, ein sehr starkes Auf-das-SaarlandBezogen-Sein, ein Sehr-wenig-nach-außen-gehen-Wollen, was sich sehr
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zu verstärken scheint und was ich auch sehr schade finde. Weil sich der Saarländer sich damit sehr abschließt, finde ich.“ (Frau Z.; S. 18, 10-15) Während von den Eingebetteten saarländische Zuschreibungen positiv bewertet wurden, weisen die Ambivalenten auf negative Seiten hin: Bei Frau Z. zeigt sich das am Beispiel des Kulinarischen, das von den Eingebetteten als positiv gewertet wird, und durch Frau Z. als gewisse hedonistische Einseitigkeit interpretiert wird. Gleiches gilt für den Aspekt des Gemeinschaftlichen als typisch saarländisch, wie es sich auch bei Herrn E. gefunden hat – hier wird es jedoch weniger positiv gewertet. Der dem Heimatlichen ambivalent eingestellte Herr P. interpretiert den als typisch saarländisch gedeuteten Binnenbezug im Saarland mit der Historie des Landes: „Typisch saarländisch ist für mich dieses sich sehr stark auf sich beziehen. Ich führ` das darauf zurück, dass dieses Land in der Tat eine ganz eigene Entstehung hat, eine eigene Geschichte in den letzten 250 Jahren genommen hat. Das hat dazu geführt, dass sich die Menschen wohl sehr stark hin- und hergestoßen gefühlt haben. Daraus resultieren … das ist eine ganz psychologische Geschichte … hat man sich wohl sehr stark untereinander gebündelt, oder aber man verlässt sich sehr, sehr gerne auf sich selber. Die vielen Talente, die die Saarländer angeblich haben, wie am Haus angeblich alles machen zu können, oder auch dieses ausgeprägte Vereinswesen, auch dieses manchmal nicht besonders ausgeprägte offen sein ... also ehrlich offen Seiende gegenüber ganz anderen Dingen als sie hier üblich sind … das führe ich darauf zurück.“ (Herr P.; S. 90, 21-30) Auch hier wird die Dimension der Ab- und Ausgrenzung des Heimatlichen deutlich, die bereits für die gescheiterten Integrationswilligen festgestellt wurde, auch wenn sie hier nicht diese konstitutive Dominanz in der Interpretation des typisch Saarländischen hat. Neben der hier kritisch gedeuteten und als angeblich interpretierten Offenheit der Saarländerinnen und Saarländer (die die Eingebetteten für sich in Anspruch nehmen) wird auch das angeblich typische Vereinswesen in seiner Bedeutung kritisch hinterfragt. Noch kritischer setzt sich der Experte Herr W. mit dem Typischen oder vielmehr dem Stereotypischen des Saarländischen auseinander: „Also typisch saarländisch ist, dass es auffallend viele Leute gibt, die das Saarland eigentlich falsch sehen. Typisch saarländisch ist eine Konzentration einer ganz bestimmten Arbeiterkultur, die durch verschiedene poli-
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tische Zeitläufe geprägt worden ist, nämlich den Ersten Weltkrieg und den Zweiten Weltkrieg, die Nachkriegszeit, wo wir ja französisch besetzt waren … typisch saarländisch ist, dass das Saarland als Ganzes überhaupt nicht existiert: Wir haben verschiedene Volksstämme, die sich oft nicht grün waren und sich auch nicht verstehen und das ist etwas ganz typisch saarländisches. Und typisch saarländisch ist auch seit den 1970er-Jahren, dass es Leute gegeben hat, wie eben auch Bungart und Lehnert, die gemeint haben, sie müssten eine saarländische Identität gründen. Das ist in anderen Bundesländern, in anderen Städten nicht möglich gewesen, im Saarland hat’s funktioniert, indem man das St. Johanner-Markt-Kneipenmilieu zum Mittelpunkt des saarländischen Eventerlebnisses gemacht hat. Und das wissenschaftlich fundiert. Was ich als wirklich saarländisch ansehe, was mich auch fasziniert, dass es einen sehr großen geographischen Raum gibt, nämlich der zwischen Trier und Kaiserslautern, zwischen Hunsrück und Lothringen, wo Leute mit der aufsteigenden Industrie besonders seit dem frühen 19. Jahrhundert in Marsch gesetzt hat, im Saarland eine Arbeitsstelle zu finden … und in diesem Saarland zu leben, auch umzuziehen. Und das Interessante daran ist, dass diese Leute, die keine direkten Saarländer waren, das eigentliche Saarland erst gebildet haben und gleichzeitig immer wieder hin und her sind in ihre alten, angestammten Dörfer und haben diese Dörfer mit verändert. Und das ist auch eine Faszination, was auch ganz typisch saarländisch ist … und das auch in anderen großen Industriegesellschaften … weil das Umland so arm war, gab es unwahrscheinlich viele arme Leute, Tagelöhner vor allem, auch sogar Vaganten, die dann hier eine Arbeit gefunden haben und einen unheimlichen sozialen Aufstieg gehabt haben. Wir haben einen relativ kleinen Teil an Fremdzuwanderungen aus anderen europäischen Ländern in der Industrialisierung gehabt. Also das sind ganz typische saarländische Dinge.“ (Herr W.; S. 70-71, 33-34 und 1-23) Herr W. argumentiert in zweierlei Richtung. Einerseits charakterisiert er das stereotypisch Saarländische, das auf einer willentlich konstruierten hedonistischen Vereinheitlichung mit dem Symbol des Kneipenmilieus des St. Johanner Marktes (Abbildung 19) basiert. Andererseits sucht er die historischen Spezifika, die konstitutiv für die Entwicklung der Region und ihres Sozialgefüges waren. Die bewusste Inszenierung des Heimatlichen und Selbstverstärkung durch z.B. regionale Medienberichte relativieren die Bedeutung des „Alteingesessenseins“. Auch die besonderen Zuzugsströme aus den Nachbarregionen relativieren die Bedeutung einer lang verwurzelten Herkunft. Der großräumigere regionale Kontext, vergleichsweise wenig
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international geprägte Migration und rasanter sozialer Aufstieg - auch durch Eigenheimbau - erklären die besondere Abgeschlossenheit aus heutiger Sicht. Charakteristisch für die Ambivalenten ist eine starke, durchaus kritische, selten aber eindeutig ablehnende Haltung gegenüber jenen Eigenschaften, die als typisch saarländisch interpretiert werden. Bei der Zuschreibung des Typischen werden alle Dimensionen des Heimatlichen gewürdigt.
Abbildung 19: Der St. Johanner Markt in Saarbrücken. (Foto: Olaf Kühne) Die Integrationsverweigerer weisen gegenüber den Ambivalenten eine geringere Bereitschaft zur Abwägung in der Wertung des als typisch saarländisch Konstruierten und gegenüber den gescheiteten Integrationswilligen eine von vornherein kritischere Haltung gegenüber dem auf, was für typisch saarländisch gehalten wird. So erklärt Herr J. auf die Frage, was für ihn typisch saarländisch sei knapp: „Ich sag’s mal etwas grob: etwas primitiv!“ (Herr J.; S. 66, 22) Zur Frage, ob es eine saarländische Mentalität gäbe, bezieht auch er sich auf die zeitliche Dimension des Heimatlichen in Form der Deutung seiner vorherigen Aussage durch historisch-konstitutive Ereignisse, wenn auch deutlich weniger abgewogen als es bei den Ambivalenten charakteristisch ist:
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„Ja, die ist schon verankert mit diesem Bergbau und dem Hüttenwesen, dass es da eine starke Schicht von Arbeitern gegeben hat … zumindest in den 50er-, 60er-Jahren … und das prägt bis heute. Das Primitive, das Proletariat. Und das ist bis heute die saarländische Mentalität.“ (Herr J.; S. 63, 26-28) Ähnlich kurz und das als typisch saarländisch Interpretierte ablehnend erklärt Frau D.: „Abgesehen von dem furchtbaren Dialekt … aber ich find Dialekt allgemein nicht so toll. Abgesehen von dem Dialekt? Diese Vereinsmeierei.“ (Frau D.; S. 30, 4-5) Diese Aussage deutet auf eine wenig kompromissbereite und wenig positive Wertung der als typisch saarländisch interpretierten Eigenschaften. Eine weitere – als negativ eingeschätzte – Eigenschaft nennt Frau E., indem sie eine konservative Grundeinstellung feststellt (auch wenn diese sogleich relativiert wird): „Typisch saarländisch? Ich befürchte, typisch saarländisch ist die Einstellung: So war’s, so isses schon immer gewesen und so isses auch gut. Aber ich denke, das findet man in allen anderen Bundesländern auch. Typisch saarländisch ist es auch zu sagen: ‚Stressen wir uns mal nicht, das gehen wir mal ganz entspannt an, und überhaupt: Waren wir schon essen?’“ (Frau E.; S. 34, 24-27) Hier wird bereits eine aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtete hedonistische Einstellung als typisch saarländisch – durchaus distinktiv – ironisiert.
5.4.2
Die Eigenständigkeit des Bundeslandes Saarland in der Beurteilung der Befragten
Insbesondere im politischen Diskurs wird immer wieder die Frage nach der Erhaltung oder Nicht-Erhaltung des Saarlandes als eigenständiges Bundesland aufgegriffen. Eine Frage, die von den Befragten sehr unterschiedlich diskutiert wurde, auf die bisweilen auch explizit eingegangen wurde, wie aus der Antwort von Herrn I. auf die Frage deutlich wird, was er für typisch saarländisch halte: „Typisch saarländisch für mich ist so eine Eigenart … so eine Provinzhaftigkeit. Das erleb’ ich immer, dass man zwar anerkannt wird, aber
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immer auch belächelt wird. Weil: Das Saarland ist nicht der Nabel der Welt. Da frag` ich mich dann häufig: Ist das Saarland überhaupt noch notwendig. Für mich ist das ganze Geklüngel im Saarland, das ich auch als Nachteil sehe … ich habe immer wieder gehadert … auch mit der Landesregierung … ich finde, das hier ist eine Provinzposse, deshalb bin ich für die Auflösung des Saarlandes.“ (Herr I.; S. 60, 7-12) Aufgrund des Amalgams von Provinzhaftigkeit und Geklüngel (bei anderen alternativ: Vetternwirtschaft) fordert Herr I. also die Auflösung des eigenständigen Bundeslandes Saarland, eine Position, die andere Ambivalente, aber auch gescheiterte Integrationswillige und Integrationsverweigerer teilen. Hinsichtlich der Frage, ob mit dem Verlust des Status als Bundesland auch ein Verlust an heimatlicher Bindung an die Region verbunden sei, antwortet der gescheiterte Integrationswillige Herr N.: „Ich seh` das unabhängig voneinander. Ja, wär` für mich kein Problem, wenn das Saarland ein Teil von Rheinland-Pfalz wäre.“ (Herr N.; S. 49, 14-15) Etwas ausführlicher – aber mit ähnlicher Grundaussage – argumentiert der Ambivalente Herr W., wenn er die regionale Identität von Saarländern mit jenen regionalen Gesellschaften vergleicht, die nicht in einem eigenen, abgeschlossenen eigenständigen Bundesland leben: „Also ich glaube das kaum. Wir haben ja auch ein Bundesland, das zusammengewürfelt wurde nach dem Zweiten Weltkrieg, nämlich Rheinland-Pfalz, unser Nachbar. Und da gibt es immer noch die Leute, die sagen: ‚Ich bin Eifelaner’, ‚Ich bin Trierer’, ‚Ich bin Hochwälder’, ‚Ich bin Pfälzer’, also … und damit meint man ‚die Heckepfalz’, also das Pfälzer Bergland, und selbst da sagen die Vorderpfälzer ‚Wir sind etwas anderes als die Heckepfälzer oder die Hinterpfälzer’. Die Saarländer werden sich immer daran erinnern, dass sie eine gemeinsame Vergangenheit … politische Vergangenheit gehabt haben. Und würden als solche auch zusammen halten und sie würden auch in einem anderen Bundesland existieren können. Ich sehe eigentlich auch nur die Möglichkeit mit einem Bundesland mit dem man eine gemeinsame Grenze bildet, also Rheinland-Pfalz. Aber da habe ich gar keine Probleme. Auch die PfälzerWitze zeigen eher etwas Harmonisches als etwas Disharmonisches. Man könnte sehr gut miteinander leben. Politisch gesehen ist es eine Frage der Finanzierung, volkswirtschaftlich ist das Saarland im Grunde genommen
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fast am Ende und da muss man sich überlegen, ob man das den Steuerzahlern zutraut, dass sie weiterhin ein Saarland finanzieren.“ (Herr W.; S. 72, 4-18) Das beide Interviewbeispiele illustrierende Deutungsmuster, ist das der Unabhängigkeit von spezifisch saarländischer Kultur und der politischen Existenz eines eigenen Bundeslandes. Die Frage der Eigenständigkeit des Saarlandes wird damit als eine politische bzw. volkswirtschaftliche, nicht aber als eine kulturelle gedeutet. Wodurch – wie aus den drei bisherigen Interviewbeispielen deutlich wird – aus unterschiedlichen politischen („Klüngel“/„Vetternwirtschaft“) oder wirtschaftlichen Motiven (Verschuldung des Landes/Ineffizienz der Strukturen) ein Anschluss an andere Bundesländer, hier eigens Rheinland-Pfalz, gefordert oder zumindest nicht abgelehnt wird. Insbesondere bei den Eingebetteten findet sich jedoch eine andere Deutung. So wägt Herr A. zwar ebenfalls die politischen und volkswirtschaftlichen Aspekte der Eigenständigkeit des Saarlandes als Bundesland ab, kommt jedoch zu einem anderen Deutungsmuster als das gezeigte: „Mit Sicherheit würde sich das sehr, sehr verändern. Denn selbst wenn man heute sagt: Ich bin ein Zugereister … für mich wäre das Saarland nicht mehr das Saarland, wenn wir zu einem anderen Bundesland … oder wenn wir mit einem anderen Bundesland zusammengelegt würden. Überlegen Sie mal: Wir würden mit Rheinland-Pfalz zusammengelegt … das wär` … das wär` … das ist ein unerträglicher Gedanke. Also das Saarland sollte seine Eigenständigkeit bewahren. Ob`s wirtschaftlich oder politisch machbar ist, ist eine andere Geschichte, aber man sollte wirklich versuchen, was auch unsere Landesregierung jetzt macht … dass man schaut, dass man einen Finanzausgleich schafft, der unser Überleben gewährleistet. Das wär` für mich das Wichtigste. Alles andere wär` bei mir zweitrangig. Wenn das dann auch nicht funktionieren sollte, dann kann man als Einzelner nichts dagegen machen. Dann muss man das der Politik überlassen. Aber es wäre schade. Es würde es mir aber sicher etwas erleichtern, mich aus dem Saarland zu verabschieden. Denn dann ist das Saarland nicht mehr das, was es mal war. Und ich glaube, ich stehe nicht alleine da. Und dann wär` die Gefahr der Abwanderung sehr, sehr stark. Gerade für die Jungen … und das habe ich auch schon aus Gesprächen mit anderen mitbekommen, die es genauso sehen. Also: Das Saarland sollte das Saarland bleiben, so lange wie möglich. Unter allen Umständen und mit allen Mitteln sollte man das versuchen. Und das
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sollte das oberste Ziel der Landesregierung sein.“ (Herr A.; S. 5-6, 28-34 und 1-10) Herr A. macht in seiner Argumentation eine bemerkenswerte Verknüpfung: Er verbindet die Frage der kulturellen Eigenständigkeit mit der politischen Existenz des Saarlandes als Bundesland. Er knüpft heimatliche Bindungen also auch an die politische Einheit, nicht nur an ein kulturelles und soziales Eingebettet-Sein. Seine Forderung, das Saarland als eigenständiges Bundesland zu erhalten, knüpft er an eine dezidierte Forderung an die Landesregierung, hierfür tätig zu werden. Eine politische Deutung findet sich auch bei Herrn E., wobei er auf das Verfahren der Bundesländerneugliederung mit Volksentscheid rekurriert: „Ja. Ich halte das für wichtig, das wird auch … wenn`s einmal einer wagt an die Selbstständigkeit des Saarlandes zu gehen und daraus eine Volksbefragung zu machen und allein eine Volksabstimmung ist ja das Verfahren … um so etwas überhaupt erfolgreich zu machen … Ich glaube, dass sich immer mehr als 50% für die Selbstständigkeit des Saarlandes entschließen werden.“ (Herr E.; S. 26, 1-5) Der Gedanke an eine Auflösung des Saarlandes als eigenständiges Bundesland erhält für Herrn E. eine beinah moralische Dimension, die einen solchen Vorgang nahezu in den Bereich des Undenkbaren verweist. Wie für die überwiegende Zahl der Eingebetteten, wird das Saarland als kulturelle, soziale, wirtschaftliche und politische Einheit gesehen, die außerhalb der Begründungsnotwendigkeit quasi als Selbstzweck gesehen wird.
5.5 Fazit des qualitativen Studienteils Der Begriff der Heimat ist mit unterschiedlichen Assoziationen, Sinnzuschreibungen und Deutungsmustern verbunden. Im Wesentlichen lassen sich sieben Dimensionen von Heimat ermitteln: 1.
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Die Dimension des Sozialen bezieht sich einerseits auf Personen, die in die persönliche Heimat inkludiert sind, also Familie, Freunde, Verwandte, Bekannte, Kameraden etc., andererseits weist die soziale Dimension auch eine Heimat definierende und exkludierende Bedeutung hinsichtlich der Frage, wer sich ohne Anerkennungsverlust als Teil einer lokalen oder regionalen Einheit bezeichnen darf, auf.
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3.
4.
5.
6.
7.
Die Dimension des Wohlbefindens transzendiert insbesondere die Dimension des Sozialen. Heimat wird zum Ort, an dem sich Menschen geborgen fühlen, wo sie in das Lebensweltliche eingebettet sind. Die Dimension der Zeit hat mehrere Bedeutungen, zum einen entwickeln sich soziale Bindungen, aber auch heimatliche Ortsbindungen, im zeitlichen Kontext, zum anderen bildet die vielfach romantisierende Rückbesinnung auf die eigene Vergangenheit insbesondere im sozialen, aber auch örtlichen Kontext ein wesentliches Element heimatlicher Bindungen. Darüber hinaus stellt Zeit auch den Kontext des Vergleichs von Früher und Heute dar, an dem sich Heimat konturieren kann. Die Dimension des Ortes bzw. der Landschaft verweist auf die Ebene der symbolischen Besetzung von Objekten als Heimat. Orte und Landschaften im physischen Raum als Nebenfolgen sozialen Handelns dienen als physische Anhaltspunkte insbesondere der sozialen Dimension von Heimat (z.B. als elterlicher Garten), aber auch des Wohlbefindens (als physischer Ort, dem Geborgenheit zugeschrieben wird) und der Zeit (bauliche Veränderungen des Ortes, in dem die primäre Sozialisation vollzogen wurde). Die Dimension der geistigen Heimat bezieht sich auf einen bestimmten unhinterfragten Kanon an Grundkenntnissen von Rollen, Werten und Normen, von Sprache und kognitiven Kenntnissen. Dieser Kanon ist in unterschiedlichen Milieus sehr ungleich und verweist somit wiederum auf seine soziale Bedingtheit. Die Dimension der Ab- und Ausgrenzung definiert Heimat durch Prozesse der Inklusion und der Exklusion. Diese Abgrenzung kann räumlich lokal (Ort), regional (z.B. Bundesland), national (Staat), aber auch milieuspezifisch (insbesondere in der Dimension der geistigen Heimat), kulturell bzw. ethnisch nach außen wie innen erfolgen. Der Prozess der Ausgrenzung wird dabei vielfach als emotional belastend empfunden. Die Dimension der Vereinfachung von Welt durch Heimat stellt eine Synthese der anderen Dimensionen dar. Durch die Selektion von Personen, Objekten, Zeitpunkten und -abschnitten und bestimmten Kenntnissen wird Welt durch Einschluss und Ausschluss (interpretierbar als Systembildung) einem Prozess der Vereinfachung unterworfen. Dieser Prozess der Vereinfachung beinhaltet die Schaffung und Perpetuierung von Stereotypen des Heimatlichen und des Fremden, die selten hinterfragt, vielmehr durch rekursive Prozesse der Selbst- und Fremdvergewisserung (z.B. durch immer dieselben Witze) aktualisiert und gefestigt werden.
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Eine – trotz Globalisierungen, intra- und interregionaler Wanderung – dominierende Vorstellung des Heimatlichen lässt sich als Matrix des stereotyp Heimatlichen des Eingesessenen formulieren: Dialekt, ethnische Zugehörigkeit (dokumentiert durch Ortansässigkeit der Vorfahren), Heterosexualität, Religion sowie lokale und regionale Traditionen. Hinsichtlich der Problematisierung von Heimat im sozialen Kontext wird Heimat bei Eingesessenen, die eine große Übereinstimmung mit dieser Matrix aufweisen, in der Regel als wichtig und nicht hinterfragungsbedürftig betrachtet. Jene, die dieser Matrix nicht oder nur teilweise entsprechen (im Kontext dieser Untersuchung insbesondere Zugezogene), unterziehen den Begriff der Heimat in ihren unterschiedlichen Dimensionen häufig einer evaluativen Beurteilung. Diese evaluative Betrachtung von Heimat kann in der Formulierung eines alternativen Konzeptes des Heimatlichen münden, das – auf kognitive Kenntnisse des Heimatlichen gestützt und häufig durch akademische Institutionen abgesichert – über eigene Anerkennungsmechanismen verfügt. Diese heterodoxe Sichtweise (im Sinne von Bourdieu 1987) macht die Lebenswelt der Eingesessenen zum Objekt systematischer Betrachtungen. Hinsichtlich der Integration in einen heimatlichen Kontext lassen sich vier empirische Typen der Anerkennung der Prinzipien des Heimatlichen bilden. Diese Typisierung weist – obwohl empirisch gewonnen – durchaus Idealisierungen auf. Die vier empirischen Typen vertreten gegenüber (a) den Fragen der Integration in einen lokalen und regionalen gesellschaftlichen Kontext, (b) der Bewertung der Konstrukte regionaler Spezifika und (c) der Definition politischräumlich-administrativer Einheiten (hier des Saarlandes als Bundesland) deutlich konturierte Positionen: 1.
2.
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Bei den Eingebetteten handelt es sich um Personen, die den ihnen zugewiesenen Status gemäß des für sie als relevant geltenden Anerkennungsprinzips (in Sonderfällen auch beider Anerkenntnisprinzipien) völlig oder teilweise billigen und dieses Anerkennungsprinzip bzw. diese Anerkennungsprinzipien als gültige Muster der Zuweisung von Anerkennung akzeptieren. Bei den Eingebetteten dominieren die heimatlichen Dimensionen des Sozialen, des Wohlbefindens, des Ortes und der geistigen Heimat. Die als typisch saarländisch bezeichneten Eigenschaftskonstrukte werden positiv gewertet, das Saarland als politische Einheit wird auf Grundlage einer unhinterfragten Einheit von regionaler Kultur (z.T. auch Ethnie) und politischem Territorium nahezu als Selbstzweck idealisiert. Bei den gescheiterten Integrationswilligen handelt es sich um Personen, deren Integrationsbemühungen gemäß eines der beiden oder bei-
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der Anerkennungsprinzipien nicht mit der Erteilung des erstrebten heimatbezogenen Status verbunden waren. Zentrale Dimension des Heimatlichen ist bei den gescheiterten Integrationswilligen jene der Abund Ausgrenzung. Die Dominanz dieser Dimension des Heimatlichen korrespondiert mit einer kritischen Betrachtung der zugeschriebenen regionalen und lokalen Spezifika und der Ablehnung oder zumindest der Indifferenz gegenüber lokaler und regionaler Kultur wie auch der politischen Eigenständigkeit des Saarlandes als eigenständiges Bundesland. Bei den Ambivalenten handelt es sich um Personen, die den (insbesondere ihren) Statusunterschied gemäß den Prinzipien der Alteingesessenheit und des intellektualisierten Heimatbezugs problematisieren. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Personen, deren Status bezüglich ihrer Fachkenntnisse hoch ist, die allerdings nicht oder nur teilweise der Matrix der Alteingesessenheit entsprechen. Die Ambivalenten reflektieren das als (stereo)typisch saarländisch erkannte und neigen zu einer intellektualisierten Hinterfragung und Deutung saarländischer Spezifika, insbesondere aus der regionalen Geschichte heraus. Die Ambivalenten vertreten eine abwägende Position hinsichtlich der Erhaltung der politischen Eigenständigkeit des Saarlandes als eigenes Bundesland auf Grundlage der Ansicht, kulturelle Spezifika benötigten nicht den Rahmen einer eigenständigen politischen Einheit. Bei den Integrationsverweigerern handelt es sich um Personen, die entweder die Prinzipien der Statuszuweisung des Heimatlichen insgesamt oder eines der beiden Anerkennungsprinzipien ablehnen, oder aber zumindest eines der beiden anerkennen, aber keine Einbettung anstreben, oder die Anerkennungsprinzipien in Gänze für ihren Lebensstil für irrelevant erklären. Die Integrationsverweigerer lehnen das, was als typisch saarländisch gilt ebenso ab wie die Erhaltung der Eigenständigkeit des Saarlandes.
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6 Fazit
Regionales Bewusstsein und Heimat lassen sich durchaus als identitätsstiftende Eigenheiten in einer sich zunehmend differenzierenden Gesellschaft verstehen. Heimatbewusstsein ist ein Element bei der Identitätsausbildung, die hilfreich ist, um den zahlreichen Rollen-, Wert- und Normstrukturen der Gegenwartsgesellschaft gerecht zu werden. Die Sehnsucht nach Einbettung in einen lokalen oder regionalen Kontext lässt sich als Reaktion auf Flexibilisierungs- und Globalisierungsprozesse deuten. Das Heimatliche wird als Gegenentwurf zum Globalen dargestellt: Dort die kalte, globale Ökonomie, hier die „Nestwärme des Heimatlichen“ (Bausinger 2004: 27). Von den im Saarland schriftlich Befragten wird Heimat nicht als etwas Rückwärtsgewandtes, Bedrohtes wahrgenommen, sondern als eine zeitgemäße, positive Erscheinung, die auf ein hohes Maß an Lebensqualität verweist. Die Beurteilung von Heimat ist dabei hinsichtlich soziodemographischer Variablen differenziert: Städter, Befragte ohne Kinder sowie jüngere Menschen beurteilen ihre Umgebung häufiger negativ und haben einen schwächeren Heimatbezug, mit steigender Schulbildung nimmt die Unabhängigkeit von der Heimat zu. Die empirischen Ergebnisse haben gezeigt, dass Heimatgefühle weit verbreitet und intensiv vorhanden sind, sie jedoch in der Regel jenen vorbehalten bleiben, die vormodernen Kriterien des stereotyp Heimatlichen entsprechen, also des Eingesessenen, gebildet aus einem Amalgam von Dialekt, ethnischer Zugehörigkeit, dokumentiert durch Ortansässigkeit der Vorfahren, Heterosexualität, Religion sowie lokalen und regionalen Traditionen. Zugezogenen wird eine „Wiedereinbettung“ sozial häufig verwehrt. Heimatbewusstsein hat durchaus ambivalente soziale Folgen im Wohnort: Einerseits wirkt Heimat ausschließend, andererseits mobilisiert sie zugleich auch Engagement für einen Ort und eine Region und kann damit Entwicklungsimpulse setzen. Insbesondere der überörtliche Bezug unterliegt einem Konstitutionsprozess, der durch Intellektualität geprägt ist: Sie vermittelt den Bewohnern eine Deutung der Zusammengehörigkeit, indem ihnen verdeutlich wird, worin das Gemeinsame besteht – und auch, worin eben nicht. Sowohl bei den Alteingesessenen als auch bei den Zugezogenen dienen dabei (stereotype) landschaftliche Reize als Anker für das Heimatgefühl.
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Auf Grundlage des qualitativen und des quantitativen Studienteils und unter Hinzuziehung der einschlägigen Fachliteratur lassen sich sechs verschiedene Typen von Heimat unterscheiden: 1.
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5.
6.
Die eingebettete Heimat wird durch historische Kontinuität und emotionale Bindung dominiert. Soziale Vertrautheit erlangt sie durch das Hineinwachsen in die örtliche Gemeinschaft, die identitätsprägend wirkt. Sie ist geprägt von örtlicher Fixierung aller Dimensionen des Heimatlichen. Heimat gilt als selbstverständlich und nicht bzw. affirmativ reflektiert. Die erklärte Heimat ist kognitiv und weniger emotional geprägt, soziale Bezüge werden intellektualisiert, wie auch die objekt- und subjektvermittelten Spezifika des Ortes oder der Region. Die sozial dominierte Heimat definiert sich durch das Leben in Gemeinschaft von Menschen, in deren Gegenwart man sich wohl fühlt. Diese Heimat hat keine zwingende örtliche Zentrierung, sie ist vielmehr durch Netzwerke von Familie, Freunden, Kollegen und/oder Vereinen mit unterschiedlichen, durchaus auch individualisierten Traditionen geprägt. Die landschaftszentrierte Heimat ist weniger an Personen orientiert, sondern an Objekten, die insbesondere als schöne Landschaften zusammengefasst werden. Diese Landschaften, die ein Wohlbefinden auslösen, weisen häufig ein ähnliches Gepräge wie die Landschaft der primären Sozialisation auf. Die landschaftszentrierte Heimat findet sich auch häufig als Restheimatsbezug bei Personen, die einer sozialen und kulturellen Fixierung ablehnend gegenüberstehen. Die Sehnsuchtsheimat hat die Diskontinuitäten des Räumlichen, des Zeitlichen, des Sozialen u.a. zur Grundlage. Die Sehnsuchtsheimat ist in der Regel ein romantisch verklärter Zustand von Zeit, Raum und sozialem Gefüge, der vielfach utopische Züge annehmen bzw. in der Verklärung der Geburtsheimat und der Heimat der Kindheit zum Ausdruck kommen kann. Die Heimat als Reich der Ideen weist nur eine indirekte soziale und kulturelle Verortung auf. Es handelt sich bei dieser Heimat um ein Gefüge von Weltinterpretationsmustern, die als Deutungsgrundlage für Welt bestehen. So kann das Christentum diese Dimension von Heimat darstellen wie die Philosophie Nietzsches.
Das Saarland als Heimat wird ambivalent wahrgenommen. So werden im quantitativen Studienteil im Wesentlichen die Geselligkeit, Landschaft/ Natur/Wald,
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Freundlichkeit, Offenheit, Aufgeschlossenheit und Hilfsbereitschaft positiv hervorgehoben, während Arbeitslosigkeit/Berufschancen, Autoverkehr/ schlechte Straßen, Bergbau / -schäden (Kohle, Montan, …) und wenige Einkaufsmöglichkeiten/schlechte Infrastruktur/Geschäftsaufgaben als negativ betrachtet werden (vgl. auch die Untersuchung von Krewer 1991). Für das Heimatgefühl sind die persönlichen Eigenschaften und Bindungen von großer Bedeutung, während die strukturellen Probleme unwichtig sind. Heimat wird von den Saarländern selbst nicht als etwas Rückwärtsgewandtes wahrgenommen, sondern als eine zeitgemäße, positive Erscheinung, die auf ein hohes Maß an Umweltqualität verweist. Ein im qualitativen wie im quantitativen Studienteil negativ gewichteter Aspekt ist die – historisch durch die zahlreichen Wechsel der nationalen Zugehörigkeit und der ökonomischen Fremdbestimmung erklärbaren – Vetternwirtschaft, das Prinzip des Ich-kenne-einen-der-einen-kennt-der-mal-macht (vgl. auch Krause 1990). Vetternwirtschaft wird – neben der hohen Verschuldung des Landes – auch als wesentliches Argument jener angeführt, die die territoriale Eigenständigkeit des Saarlandes ablehnen. Gerade im Zuge der Globalisierung, dem ökonomischen Imperativ der Mobilität bildet Heimat einerseits die Möglichkeit der lokalen bzw. regionalen Selbstvergewisserung, andererseits schließt sie vielfach Fremde aus. Daher erscheint es notwendig, den Heimatbegriff inklusivistisch zu verwenden und Heimat nicht mehr exklusivistisch durch Abgrenzung des Fremden zu definieren (im Sinne Bausingers, der das Recht auf Heimat nicht den Ahnenpässen zuschreiben möchte). Dies bedeutet auch eine Abkehr von dem Prinzip der Höherschätzung des Einheimischen gegenüber dem Zugezogenen. Das Saarland mit seiner europäisch geprägten Geschichte hat die Sesshaften jedoch offensichtlich sehr stark zusammen geschweißt. Angesichts der Erfordernisse in der internationalisierten Welt, globale Einflüsse lokal aufzugreifen und zu vermitteln, zeigen sich Widerstände, fremde Aspekte des Lebens integrieren zu wollen. Die mangelnde Bereitschaft, die eigene Heimat auch für Zugezogene zur Heimat werden zu lassen, denen Respekt und Verständnis entgegen gebracht wird, zeugt von deutlichen Abgrenzungs- und Verteidigungsbemühungen. Ein den gegenwärtigen Herausforderungen gerecht werdendes Heimatverständnis stellt die Anforderung, sinnvolle Betätigung, tragfähige soziale Beziehungen und ästhetisches Wohlbefinden für Menschen mit langer wie mit kurzer Wohndauer zu ermöglichen und die Kreuzung sozialer Kreise (Simmel) auszudehnen. Stabile soziale Beziehungen, Vertrauen, Anerkennung und das Erlebnis von Gemeinschaft sind notwendige Bedingungen, um sich an einem Ort beheimaten zu können. Das Potential für eine größere Offenheit ist im Saarland wegen der ausgeprägten Geselligkeit, Kontaktfreudigkeit und der hohen Lebens-
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qualität vorhanden. Auch im Saarland sollte es Neuankömmlingen demnach häufiger gelingen können, individuell variierende Beheimatungsstrategien erfolgreich einzusetzen. Hemmnisse bilden jedoch nicht nur die routinisierten, alltäglichen Gepflogenheiten, sondern strukturelle Probleme wie der ökonomische und der demographische Wandel, die eine Verfestigung typisch saarländischer Milieus bewirken können. Die Überhöhung angeblich überlegener Eigenschaften der eigenen Gruppe kaschiert Verunsicherungen gerade in Zeiten der sozialen und wirtschaftlichen Umstrukturierungen und fördert zudem den inneren Zusammenhalt. Heimat bezeichnet nach Bloch (1977) einen Idealzustand oder Sehnsuchtsort, der als eine verlorene, ursprüngliche Situation und sinnvolle Ordnung erscheint, die aber in der Zukunft liegt und aktiv hergestellt werden muss. Je höher die Chancen auf eine aktive, sichere und identitätsfördernde Teilhabe, desto eher bauen sich Heimatgefühle auf, die auch im Sinne erhöhten zivilgesellschaftlichen Engagements zum Einsatz kommen, wie die emprischen Ergebnisse erbracht haben. Typische Gruppen von Heimatbefürwortern und –skeptikern lassen sich entsprechend des Alters, der Bildung und der Ortsgröße identifizieren – die jedoch durchbrochen werden durch die Intensität persönlichen Engagements am Wohnort. Neben biographischen, reflexiven und Umgebungsfaktoren spielen daher persönliche Aktivitätsniveaus eine wesentliche Rolle für die Bewertung der Heimat. Heimat ist dort, wo sich Personen als tätige, mitgestaltende Gesellschaftsmitglieder erleben – im Saarland gelingt dies den lang Ansässigen im besonderen Maße und – so wäre zu wünschen – häufiger auch den Zugezogenen. Als weitere Forschungsfrage bleibt offen, welche Bedeutung Heimat in angrenzenden Regionen, die z.T. mit ähnlichen Strukturproblemen konfrontiert sind, wie z.B. die Westpfalz, und in prosperierenden Regionen, wie im Rheingebiet und in Südhessen, erlangt, die nicht die wechselvolle Geschichte wie das Saarland erlebt haben. Auch in Ostdeutschland wäre die Bedeutung von Heimat zu klären, angesichts der sozialistischen Tradition, der Deökonomisierung in weiten Teilen des Landes sowie des demographischen und sozialen Wandels. Die globalen Einflüsse, gewachsene Mobilität, das Internet und generelle Individualisierungsprozesse haben der vorliegenden Studie entsprechend keineswegs zum Verlust von Heimatgefühlen geführt. Eine Modernisierung des Heimatverständnisses ist jedoch verlangt, um einen produktiven Umgang mit Entbettungsprozessen und neuen Beheimatungsversuchen zu ermöglichen.
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Anhang
Leitfaden qualitative Interviews Einleitung
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Vorstellung meiner Person und meines Interesses am Thema. Können Sie zunächst etwas über Ihre Person, Ihr Alter, Ihren Familienstand, die Größe Ihres Haushaltes sagen? Was ist Ihr beruflicher Hintergrund, welche Ausbildung haben Sie absolviert?
Fragen zum Thema 1. 2. 3. 4. 5. 6.
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Was verbinden Sie mit Heimat? Haben Sie Heimat oder Heimaten? Welche? Woran binden Sie Heimat? Woran machen Sie Heimat fest? Was fällt Ihnen zu Ihrer persönlichen Heimat ein? Halten Sie Heimat für wichtig? Haben Sie schon einmal bewusst über Heimat nachgedacht? (Wann haben Sie Heimat zuerst bewusst wahrgenommen?) Können Sie sich noch erinnern, zu welchem Anlass oder aus welchem Grund Ihnen Heimat in den Sinn gekommen ist? Welche Bedeutung hat Dialekt für Sie? Und was bedeutet für Sie Vereinsarbeit? Welche Bedeutung haben Traditionen für Sie in Bezug auf Heimat? Welche Bedeutung hat Landschaft auf Ihren Heimatbezug? Gehören Ihrer Meinung nach auch Personen zu einer Heimat?
12. Welche Bevölkerungsgruppen (Junge, Reiche, Gebildete etc.) haben Ihrer Meinung nach einen besonderen Heimatbezug? 13. Wie reagieren Sie, wenn sich wesentliche Veränderungen an Ihrem Heimatort vollziehen, z.B. Abriss alter Gebäude? 14. Sollten sich Fremde in bestehende Strukturen integrieren? Warum?
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15. Haben Sie schon einmal außerhalb Ihrer Herkunftsheimat gelebt? Wenn ja: Welchen Einfluss hat der Aufenthalt an einem anderen Ort auf Ihre Bindung zur ersten Heimat gehabt? Ist Ihnen die neue Umgebung zur zweiten Heimat geworden? Wie erleben Sie bzw. erlebten Sie das Heimatgefühl der Alteingesessenen? Wenn nein: Können Sie sich vorstellen, außerhalb des Saarlandes zu leben? Können Sie sich vorstellen, eine andere oder zweite Heimat zu finden? Unter welchen Umständen? 16. Wie reagieren Sie, wenn eine Person dunkler Hautfarbe radebrechend deutsch sprechend Ihnen gegenüber äußert, das Saarland sei seine Heimat? 17. Wie reagieren Sie, wenn Ihnen ein Alteingesessener darlegt, die von Ihnen als solche empfundene Heimat sei nicht ihre Heimat, weil ihre Vorfahren nicht von hier stammten? 18. Was ist Ihrer Meinung nach typisch saarländisch? 19. Gibt es Ihrer Meinung nach eine saarländische Mentalität? -Wenn ja, welchen Einfluss hat die saarländische Geschichte auf diese? -Wenn nein - warum gibt es die nicht? 20. Haben Saarländer Ihrer Meinung nach ein anderes Heimatgefühl als andere, z.B. Hessen? 21. Welche Bedeutung hat die Eigenständigkeit des Saarlandes Ihrer Meinung nach für das Heimatgefühl der Saarländerinnen und Saarländer?
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Verbundenheit mit dem Saarland Sehr geehrte Damen und Herren, das Institut für Landeskunde im Saarland führt zusammen mit der TU Kaiserslautern eine Untersuchung zum Thema Heimat und regionale Identität durch. Wir möchten wissen, wie stark Sie sich mit dem Wohnort und der Region verbunden fühlen, welche Eigenschaften Sie schätzen und was Sie ablehnen. Sie sind zufällig ausgewählt worden und Ihre Meinung ist uns sehr wichtig – sie steht für viele andere Menschen, die nicht befragt werden können. Wir bitten Sie daher, sich etwa 10 Minuten Zeit zu nehmen und den Fragebogen auszufüllen. Die Fragebögen werden streng vertraulich und nach den Vorschriften des Datenschutzes behandelt. Die Teilnahme ist freiwillig. _________________________________________________________________________________ 1. Sind Sie im Saarland geboren? Ja Æ Haben Sie schon mal längere Zeit außerhalb des Saarlandes gewohnt? Ja und zwar für insgesamt _____ Jahre.
Nein
Nein Seit wann wohnen Sie im Saarland? Seit: ____________ (Jahr/en) 2. Fühlen Sie sich mit der Region, in der Sie wohnen, verbunden? ja nein, weil ___________________________________________________ 3. Um dem Fremden einen Eindruck von Ihrer Region zu vermitteln, können Sie eines der folgenden Fotos vorzeigen. Welches wählen Sie aus? Foto Nr. ____
trifft nicht zu
4. Welches Photo stellt für Sie eine ideale Heimat dar? Foto Nr. ____
trifft nicht zu
5. Wie gut kennen Sie sich in Ihrem Gemeindegebiet aus? sehr gut
ziemlich gut
teils/teils
weniger gut
gar nicht
weniger gut
gar nicht
6. Wie gut kennen Sie Ihre unmittelbaren Nachbarn? sehr gut
ziemlich gut
teils/teils
7. Sind Sie… … Mitglied in einem Verein in Ihrer Gemeinde? … in Ihrer Gemeinde politisch aktiv? … in einer lokalen Einrichtung ehrenamtlich tätig? … jemand, der regelmäßig den Lokalteil der Zeitung liest?
Ja Ja Ja Ja
Nein Nein Nein Nein
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8. Wo wohnen folgende Personen?
Ihre Eltern Ihre Kinder Ihre Geschwister Andere Verwandte mit häufigem Kontakt Wichtige Bekannte
Im selben In der Viertel/ Dorf selben Stadt
Im Saarland
In Deutschland
In einem anderen Land
9. Wie stark stimmen Sie den folgenden Aussagen zu?
Ich möchte eigentlich nie in einem anderen Ort leben. Ich könnte mir gut vorstellen, eine Weile woanders zu leben, aber irgendwann möchte ich doch wieder an diesen Ort zurück. Ich weiß eine Menge von diesem Ort durch Erzählungen meiner Eltern, Großeltern, usw.
trifft überhaupt nicht zu
trifft eher nicht zu
trifft eher zu
trifft voll und ganz zu
10. Bitte geben Sie an, wie Sie Ihr Dorf/Ihren Stadtteil in Bezug auf die folgenden Gegensatzpaare einschätzen. ++ + 0 + ++ Bunt Grau Fremd Vertraut Einladend Abweisend Geschäftig Leblos Gesellig Ungesellig Abstoßend Anziehend Unübersichtlich Übersichtlich Laut Leise Abwechslungsreich Langweilig Gepflegt Ungepflegt Schön Hässlich Schmutzig Sauber Künstlich Natürlich Traditionell Modern 11. Stellen Sie sich bitte vor, Sie werden gefragt, was typisch für Ihre Region und die Menschen, die hier leben ist. Welche Stichworte fallen Ihnen ein? positive Merkmale
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weniger gute Merkmale
__________________________________
__________________________________
__________________________________
__________________________________
__________________________________
__________________________________
__________________________________
__________________________________
__________________________________
__________________________________
12. Was macht für Sie Heimat aus? (Mehrfachnennungen möglich) Heimat ist da, wo ... ich meine Kindheit verbracht habe. meine Sprache/mein Dialekt gesprochen wird. mein Haus steht, wo ich wohne ich mich geborgen fühle. meine vertraute Landschaft ist. Bräuche gelten, die mir vertraut sind meine Freunde sind. Leute leben, die so denken und fühlen wie ich. ein Gefühl von Sehnsucht ein idealer Ort ist, den es nicht gibt.
13. Bitte geben Sie an, was Heimat für Sie bedeutet anhand der folgenden Gegensatzpaare. 1 2 3 4 5 Modern Altmodisch Wahr Falsch Sachlich Gefühlsbetont Sympathisch Unsympathisch Wichtig Unwichtig 14. Was würden Sie als Ihre Heimat bezeichnen? (Mehrfachnennungen möglich) habe keine Heimat (weiter mit 19) meine Wohnung das Saarland weiter mit Fr. 16 eine andere Region, etwas mein Dorf/ Quartier einer Stadt anderes, und zwar weiter mit Fr. 16 meine Stadt meine Region ______________________________ 15. Bitte zeichnen Sie auf der beiliegenden Karte Ihre Heimat oder ihren Heimatort ein.
16. Was würde Sie heimatlos machen? Arbeitslosigkeit Vertreibung anders denkende Menschen
Einsamkeit Arbeitsplatz in der Fremde Hässlichkeit der Wohnumgebung
17. Haben Sie eine zweite Heimat? Ja Æ Welche?: ___________________________ (Stadt, Land, Region) Æ Warum?: _________________________________________________________ Nein 18. Können Sie sich eine dritte, vierte Heimat vorstellen? Ja Nein 19. Wo empfängt Sie am ehesten das Gefühl in der Heimat zu sein? trifft nicht zu 20. Kann für Sie eine gemeinsame Weltanschauung zu einer Heimat werden? Ja
Nein
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21. Stellen Sie sich vor, Sie treffen während einer Reise zufällig jemanden, der aus Ihrer Gegend stammt. Was empfinden Sie? Mich befällt Heimweh. Ich freue mich über den Zufall, denke aber nicht weiter darüber nach. Ich freue mich in der Fremde zu sein. Allgemeine Fragen 1. Sind Sie weiblich oder männlich? weiblich männlich 2. In welchem Jahr sind Sie geboren?
Æ Jahr ________
3. Welche Staatsangehörigkeit besitzen Sie? deutsch andere: __________________ 4. Welches ist Ihre Muttersprache? deutsch andere: __________________ 5. Haben Sie Kinder? Ja Æ Wie viele: ________
Nein
6. Mit wem leben Sie zusammen in einem Haushalt? lebe allein´ mit Partner/in mit Partner/in und Kindern mit Kind/ern mit anderen erwachsenen Personen 7. Wohnen Sie hier zur Miete oder im Eigentum? Miete Eigentum 8. Welchen Schulabschluss haben Sie? ohne Abschluss Volks-/Hauptschule Mittlere Reife Fachhochschulreife Hochschulreife sonstiger Abschluss 9. Bitte geben Sie an, wie hoch in etwa Ihr monatliches Haushaltsnettoeinkommen ist. bis 500 € 1501 – 2000 € 3501 – 4000 €
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501 – 800 € 2001 – 2500 € 4501 – 5000 €
801 – 1100 € 2501 – 3000 € 5001 – 5500 €
1101 – 1500 € 3001 – 3500 € 5501 € und mehr
4. Welches Photo stellt für Sie eine ideale Heimat dar?
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15. Bitte zeichnen Sie auf der folgenden Karte Ihre Heimat ein
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