JURI KOROLKOW
Geheime Verschlußsache ERSTER BAND
ROMAN
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1965
Russischer Origin...
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JURI KOROLKOW
Geheime Verschlußsache ERSTER BAND
ROMAN
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1965
Russischer Originaltitel: Тайны войны von Willi Hoepp
4. Auflage Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin L. N. 3-285/30/65 Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Printed in the German Democratic Republic Einband und Schutzumschlag: Lothar Reher Satz und Druck: Karl Marx-Werk Pößneck V 15/30
Meinem Sohn und seinen Altersgefährten auf allen Kontinenten der Erde gewidmet in der festen Überzeugung, daß sie ihr Leben in Frieden, Freundschaft und Arbeit verbringen werden.
ERSTER TEIL
Niemand nahm es wunder, daß der norwegische Schoner „Luise“, dessen Heimathafen Narvik war, in die Themsemündung einlief und dicht am Ufer Anker warf, warten doch an dieser Stelle immer Schiffe auf den Lotsen. Nur ein Angler, der barfuß auf morschen Pfählen stand, sagte träge zu seinem Freund: „Wetten, William, das ist ein Walfänger! Siehst du, wie niedrig das Deck ist? Wenn dort auf der Schanze eine Harpunenkanone postiert wäre, könnte man gleich zum Fang auslaufen.“ „Von mir aus soll es sein, was es will, ein Walfänger oder ein schwimmender Hühnerstall“, antwortete William gähnend. „Hier treibt sich ja so mancher Pott herum.“ „Du willst also nicht wetten? Wie wär’s denn – um ein Maß Bier?“ „Nein, John, ich hab das Wetten schon satt. Ein Danziger tut’s auch. Wir trinken nachher einen, wenn wir gehen… So eine Hitze!“ Die Angler vertieften sich wieder in ihre Beschäftigung. Weder das Schiff mit den gelben Masten noch der Lotsenkutter, der auf die niedrige Bordwand des Schoners zuhielt, schien ihnen beachtenswert. Auch der Umstand, daß der Schoner nur den Schiffseigner und Inhaber der Walfangfirma „Johansen und Sohn“ und dessen Tochter als Passagiere an Bord hatte, hätte unsere Angler kaum befremdet. Wer suchte in dem glühendheißen Sommer 1939 nicht alles auf einer Seereise Labung und Erholung! Ebensowenig wie alles andere hätte auch der Zweck Auf-
sehen erregt, zu dem Johansen die Nordsee durchkreuzt hatte und nach London gekommen war. Er sollte als norwegischer Delegierter an der Walfangkonferenz teilnehmen, die in diesem Jahr früher als sonst stattfand. Er hätte nach England natürlich auch fliegen können, aber er hatte seiner Tochter schon lange versprochen, sie auf eine Seereise mitzunehmen, und von Kopenhagen, das er ihr zeigen wollte, war es ja nur ein Katzensprung nach London. Mit dieser Reise verband Johansen eine geheime Absicht, von der nicht einmal seine Frau etwas wußte. Ihre Tochter Luise, auf deren Namen er den Schoner getauft hatte, war ein Mädchen von neunundzwanzig Jahren. Sie hatte die gleiche gedrungene Statur wie der Vater, den gleichen kurzen Hals, das gleiche rauhe, wetterharte Gesicht, als wäre sie ebenfalls jahrelang in der Antarktis zur See gefahren. Wie er selbst aussah, kümmerte Johansen wenig, aber bei einem Mädchen spielte das Äußere offenbar doch eine Rolle, kurzum, er machte sich Sorgen um die Zukunft seiner Tochter. Johansen hoffte insgeheim, Luise würde eher einen Freier finden, wenn sie ihn auf seinen vielen Geschäftsreisen begleitete, die ihn in andere europäische Länder führten. Er selbst hatte jedenfalls Gertrud, seine Frau, in Kiel kennengelernt, während sein Schoner dort zur Überholung lag… Mit solchen Gedanken hatte Johansen die Reise angetreten, und auch jetzt dachte er daran, da er neben Luise auf der Kommandobrücke stand. Hol’s der Teufel, allem Anschein nach mußte man lange auf den Lotsen warten, waren doch viele andere Schiffe vor ihm noch nicht an der Reihe! Martin Johansen war angenehm überrascht, als der Kutter an den anderen Schiffen vorüberfuhr und bereits nach einer
Viertelstunde längsseits der „Luise“ anlegte. Der Lotse, ein großer, hagerer Mann, kam herauf geklettert, begrüßte Johansen höflich und fragte, ob er seines Amtes walten könne. Auch das unerwartet rasche Auftauchen des Lotsen war schließlich nicht außergewöhnlich. Befremdlich hingegen war die Tatsache, daß man im britischen Außenministerium den Weg der „Luise“ von Narvik an sehr aufmerksam verfolgt hatte. Und gleich nachdem der Lotse an Bord des Schoners gestiegen war, um das Schiff themseaufwärts zu leiten, wurde Sir Horace Wilson, der engste Mitarbeiter des britischen Premierministers Neville Chamberlain, obwohl es Sonntag war, über seinen Hausanschluß telefonisch davon unterrichtet. Als der norwegische Schoner drei Stunden später unweit der Royal Docks an der granitenen Pier vertäut war, bat der Lotse den Walfangunternehmer, ihn einen Augenblick unter vier Augen sprechen zu dürfen. Der Lotse folgte Johansen in die Kajüte. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß die Bullaugen geschlossen waren und ihr Gespräch von niemand belauscht werden konnte, sagte er: „Mister Johansen, eine hochstehende Person möchte mit Ihnen sprechen. Könnten Sie heute, sagen wir um neun Uhr abends, an Bord des Schoners sein?“ Johansen verstand nicht gleich, was man von ihm wollte. Die Kombinationsgabe des norwegischen Walfangunternehmers war nicht sehr entwickelt. „Wozu denn?“ fragte er unsicher. „Die hochstehende Person bedarf Ihrer Dienste“, antwortete der Lotse. „Sie müssen aber wissen – die Zusammenkunft ist streng geheimzuhalten.“
Johansen strich sich mit der Hand über die Lippen. Er tat das immer, wenn er sich in einer schwierigen Situation befand wie auch jetzt. Während er sich die Lippen wischte, dämmerte ihm auf, um was es bei diesem Gespräch gehen konnte. Nicht umsonst hatte er seinerzeit neben Walfang gelegentlich auch Schmuggel betrieben. Offenbar handelte es sich um ein heikles Geschäft, auf das der Lotse anspielte. Johansen lächelte schlau – er glaubte begriffen zu haben. „Ich werde um neun in meiner Kajüte warten“, sagte er und warf einen Blick auf seine dicke goldene Taschenuhr, an deren Kette eine ganze Kollektion Berlocken baumelte. Der Lotse verabschiedete sich und ging. Punkt neun Uhr öffnete ein Mann in grauem Regenmantel die Kajütentür. Er hatte den Mantelkragen hochgeschlagen und den hellen Hut tief in die Stirn gedrückt. „Habe ich die Ehre mit Herrn Martin Johansen, dem Mitglied der Walfangkommission?“ fragte der Fremde und sah Johansen unverwandt an. Als er sich überzeugt hatte, daß er dem richtigen Mann gegenüberstand, schlug er den Mantelkragen zurück und bat um die Erlaubnis, Platz nehmen zu dürfen. „Ich werde mich kurz fassen und sofort zur Sache kommen“, sagte er. „Sie sind doch mit Herrn Ministerialdirektor Wohlthat bekannt, nicht wahr?“ Der Fremde, ein Mann Mitte der Vierzig, war merkwürdigerweise über Johansens Geschäftsverbindungen gut informiert. Johansen hatte in der Tat mehrere Zusammenkünfte mit Ministerialdirektor Helmut Wohlthat, Görings Sonderbeauftragten für den Vierjahresplan, gehabt. Sie waren einige Male in Berlin zusammengekommen, als Johansen wegen der Lieferung einer größeren Menge Waltran Besprechungen führte.
Zweimal hatten sie zusammen im Hotel Adlon diniert. Zum Abschluß der Verhandlungen hatte der Ministerialdirektor zu Ehren Martin Johansens ein Festessen gegeben, an dem auch Hermann Göring teilnahm. Wohlthat hatte ihm zwar eine ansehnliche Provision abgeknöpft, aber als Geschäftsmann nahm Johansen ihm das nicht weiter übel: Den sollte man erst suchen, der einen Geschäftsabschluß ohne eigenen Vorteil tätigt! Er selbst war dabei auch nicht zu kurz gekommen. „Jawohl, ich stehe mit Herrn Wohlthat in Geschäftsverbindung“, antwortete Johansen. Dabei überlegte er angestrengt, was diese Tatsache mit dem Besuch des Fremden zu tun haben könne. „Sie kennen ihn also persönlich?“ „Ja, ich habe die Ehre.“ „Ministerialdirektor Wohlthat befindet sich zur Zeit in London“, sagte der Gast. „Er wird an den Sitzungen Ihrer Walfangkonferenz teilnehmen.“ „Herr Wohlthat?“ fragte Johansen erstaunt. „Ja. Er wird sich einige Tage hier aufhalten. Könnten Sie sich während dieser Zeit mit ihm treffen?“ Der Fremde ignorierte die Verwunderung seines Gesprächspartners. Daß Herr Wohlthat an der Walfangkonferenz teilnehmen würde, befremdete Johansen in der Tat. Niemand hatte wohl weniger Beziehung zum Walfanggewerbe als Helmut Wohlthat. Gewiß konnte er kaum einen Wal von einem Delphin unterscheiden. Sonderbar! Johansen behielt diese Gedanken jedoch für sich. Er fragte lediglich: „Wieso?“ Diese Frage konnte sich sowohl auf die gewünschte Begeg-
nung als auch auf die Mitteilung beziehen, daß Wohlthat der Walfangkommission angehöre. „Ich glaube, diese Zusammenkunft dürfte Sie keine besondere Mühe kosten. Sie brauchen Herrn Wohlthat nur zu fragen, ob er bereit wäre, mit einer maßgebenden Persönlichkeit zu einer Aussprache zusammenzutreffen.“ Der Engländer stockte. „Kann man Ihnen ein Geheimnis anvertrauen?“ Johansen nickte. „Es handelt sich um Mister Hudson, den Überseehandelsminister. Er möchte mit Wohlthat über eine Frage sprechen, die den Ministerialdirektor zweifellos interessieren dürfte. Ich hoffe, unsere Bitte belastet Sie nicht allzusehr. Übrigens könnte Ihnen persönlich aus der Angelegenheit ein gewisser Vorteil erwachsen. Ich kann Ihnen als Gegenleistung für Ihren Dienst das Versprechen geben, daß die britische Seite beim Abschluß der Walfangkonvention nicht unerhebliche Zugeständnisse machen würde.“ Wie zuvor erfaßte Johansen auch diesmal die Zusammenhänge nicht. Was ging es ihn an, wer sich mit wem treffen wollte! Wenn es sich aber um die Konvention, um dabei zu erzielende Zugeständnisse handelte, war er einverstanden. „Wann soll ich mit Herrn Wohlthat zusammenkommen?“ „Sofort! Wir fahren zusammen in das Hotel, in dem die deutsche Delegation abgestiegen ist. Möglicherweise treffen wir den Herrn Ministerialdirektor im Restaurant an. Sie sind doch mit Ihrer Tochter hier, wie? Es wäre nicht schlecht, wenn sie auch mitkäme. Einverstanden? Ich hoffe, Sie schaffen es in zehn Minuten mit dem Umkleiden.“ Merkwürdig, dachte Johansen, woher weiß er denn, daß Luise hier ist? Na schön, soll sie auch mitfahren.
Er ließ seinen Gast allein und ging an Deck, wo Luise sich mit dem Koch unterhielt und zerstreut kleine Brotstücke ins Wasser warf. „Luise, wir fahren in die Stadt! Zieh dein Abendkleid an. Beeil dich aber um Gottes willen! Wir erwarten dich in zehn Minuten.“ Natürlich war das Mädchen nach zehn Minuten noch mitten in den Vorbereitungen. Lange nestelte sie an ihrem Kleid, zupfte an ihrer Frisur, und bis die passenden Klipps gefunden waren, verging auch noch einige Zeit. Der Gast begann nervös zu werden. Johansen war wütend. Gerade wollte er zum drittenmal nach seiner Tochter schikken, als diese endlich erschien. Die Sonne versteckte sich bereits hinter den gezackten Vierecktürmen der Westminster Abbey, als der Wagen des unbekannten Besuchers, eine schwarze, klobige Limousine, geräuschlos in Richtung West End fuhr. Sie ließ den Trafalgar Square mit seinen Bronzelöwen hinter sich, bog in die Piccadilly ein und hielt vor einem mit grauen Granitplatten verkleideten Hotel. Im Restaurant waren nahezu alle Tische besetzt. Doch für die Ankömmlinge war bereits gesorgt. Der herbeieilende Geschäftsführer geleitete sie zu einem Tisch, von dem aus man den ganzen Raum überblicken konnte, ohne selbst bemerkt zu werden. Der Tisch war für sieben Personen gedeckt. Der Fremde riß ein Blatt aus seinem Notizbuch, schrieb eine Zahl auf und reichte das Blatt dem Geschäftsführer mit den Worten: „Rufen Sie diese Nummer an, und sagen Sie, daß wir hier warten.“
Johansen fühlte sich ein wenig unbehaglich, wußte er doch nicht, wie er seinen neuen Bekannten, der sich noch nicht vorgestellt hatte, anreden sollte. „Es kommt wohl noch jemand an unseren Tisch?“ fragte er. „Ja, eine kleine Gesellschaft“, antwortete der Engländer und wandte sich Luise zu. Johansen hatte Wohlthat gleich beim Eintritt in das Restaurant bemerkt. Er saß am Tisch mit einer jungen Dame in Abendtoilette und einem hochgewachsenen Mann, der Johansen bekannt vorkam. Wahrscheinlich hatte er ihn in Görings Amt gesehen. Johansen verbeugte sich zu dem Ministerialdirektor hin. Dieser erwiderte den Gruß und setzte die Unterhaltung mit der Dame und ihrem Begleiter fort. Der neue Bekannte von Johansen war – so schien es jedenfalls – voll und ganz von dem Gespräch mit Luise in Anspruch genommen. Er zeigte sich sehr galant und erwies dem Mädchen alle erdenkliche Aufmerksamkeit. Johansen war mit dem Anfang des Abends zufrieden. Der neue Bekannte entpuppte sich als amüsanter Gesellschafter. Er erzählte von einer Indienreise, von den fremdartigen Sitten und dem mörderischen Klima. Luise war animiert, lachte fröhlich bei einem Scherz, reagierte auf geistreiche Bemerkungen, und Johansen dünkte es, sie sei weniger linkisch als sonst. Als das im Zwischenstock verborgene Orchester einen Foxtrott anstimmte, forderte der neue Bekannte Luise zum Tanz auf. Offensichtlich gefiel sie ihm. Johansen schaute auf das tanzende Paar und dachte: Einen solchen Schwiegersohn zu haben wäre nicht übel. Wie man sieht, gefällt ihr der Engländer auch. Geb’s Gott!
Von Zeit zu Zeit warf Johansen einen Blick zu dem Tisch hinüber, an dem Helmut Wohlthat saß. Jetzt ging dessen Begleiter mit der Dame zur Tanzfläche, und er blieb ebenfalls allein. Johansen trat an seinen Tisch. Sie begrüßten sich. „Ich habe Ihnen etwas auszurichten.“ Johansen beugte sich zu Wohlthat herab und sagte ihm beinahe ins Ohr: „Mister Hudson möchte sich mit Ihnen über eine Sie interessierende Angelegenheit unterhalten.“ Wohlthat warf einen raschen Blick in die Runde. Niemand beachtete sie. „Wann?“ „Jederzeit – wann es Ihnen paßt.“ „Gut. Morgen gebe ich Ihnen Antwort. Sie nehmen doch auch an der Konferenz teil?“ Die Kapelle hörte auf zu spielen, die Tanzpaare kehrten an die Tische zurück. Ebenso auch Johansen, der seinem Begleiter zuflüsterte: „Morgen erhalte ich Antwort, auf der Konferenz.“ Weiter wurde zwischen ihnen kein Wort mehr darüber gewechselt… Helmut Wohlthat verließ das Restaurant und begab sich unverzüglich zur Deutschen Botschaft, um sich mit dem deutschen Botschafter in London, von Dirksen, zu beraten. Noch in der gleichen Nacht wurde ein chiffriertes Telegramm nach Berlin geschickt. Dirksen teilte dem Auswärtigen Amt mit, daß die Versuche Helmut Wohlthats, mit führenden englischen Politikern in Kontakt zu kommen, bisher mißlungen seien, aber offensichtlich bemühten sich jetzt die Engländer selbst um eine solche Zusammenkunft. Der Botschafter berichtete von dem Anerbieten, das über den norwegischen
Walfänger gemacht worden war, und erbat Anweisungen des Reichsaußenministers. Dirksen ersuchte dringend um Antwort bis spätestens elf Uhr vormittags, zu welchem Zeitpunkt die Walfangkonferenz eröffnet werden sollte. Am nächsten Tag wandte sich Wohlthat selbst an den norwegischen Walfangunternehmer, den er in den Wandelgängen des Konferenzgebäudes traf, und teilte ihm vertraulich mit, er sei bereit, sich mit Mr. Hudson zu treffen. Der Ministerialdirektor hatte vor seinem Aufbruch zur Konferenz Antwort aus Berlin bekommen. Ribbentrop billigte die Unterredung, empfahl Wohlthat jedoch, sich nicht festzulegen, sich vielmehr rezeptiv zu verhalten und dem bevorstehenden Gespräch das Gepräge einer privaten Unterredung, einer Vorsondierung des Bodens zu geben. Am Nachmittag des gleichen Tages, an dem die Walfangkonferenz eröffnet wurde, begab sich Helmut Wohlthat zu dem Überseehandelsminister Mr. Hudson. Die Hitze hatte etwas nachgelassen, aber in der Stadt war es ungewöhnlich schwül. Der noch immer glühendheiße Asphalt und die noch warmen Hauswände gaben die Hitze wie Heizkörper ab. Um Gerüchten vorzubeugen, wollte Wohlthat nicht den Horch der Botschaft benutzen, sondern in der Stadt ein Taxi nehmen. Er verließ das Hotel mit dem Gebaren eines Menschen, der keine Eile hat, überquerte die Straße, mischte sich auf der Schattenseite unter die Fußgänger und schlenderte bis zur Themse. Auf diese Weise fand er Zeit, sich die bevorstehende Besprechung durch den Kopf gehen zu lassen. Der Wirtschaftsberater Görings hatte selber Begegnungen mit
einflußreichen Engländern gesucht. Aus diesem Grunde war er auch als Teilnehmer an der Walfangkonferenz nach der britischen Hauptstadt geflogen. Zwar hatte er auf eine bedeutsamere Unterredung gerechnet, aber fürs erste war es sicherlich auch ganz nützlich, wenn er mit Hudson ins Gespräch kam. Um so mehr, als dieser vor noch nicht langer Zeit in Moskau war und dort im Auftrag des britischen Premierministers gewisse Verhandlungen geführt hatte. In Berlin hatte die Reise Hudsons Beunruhigung ausgelöst – wer weiß, was die Engländer da wieder einmal ausheckten! Überhaupt hatte sich in der letzten Zeit in den englischdeutschen Beziehungen, die nach dem Münchener Abkommen ungeahnte Perspektiven erhoffen ließen, plötzlich eine Abkühlung bemerkbar gemacht. Etwas Störendes war zwischen die Partner getreten. Wohlthat führte das auf die Märzereignisse in der Tschechoslowakei zurück, als der Führer auf seine Münchener Versprechen, auf die Garantieerklärung gepfiffen und Prag besetzt hatte. Präsident Hacha war zur Unterzeichnung der Urkunde gezwungen worden, durch die der tschechoslowakische Staat seine Selbständigkeit verlor. Der Ministerialdirektor wußte noch sehr gut, wie alles vor sich ging. Der alte Emil Hacha – er hatte tatsächlich geglaubt, tschechoslowakischer Staatspräsident zu sein und sich weigern zu können, der Einladung des Führers nach Berlin Folge zu leisten. Hacha – man denke nur! – erklärte, es sei ihm peinlich, seine Verbindungen zu Berlin aufzudecken. So mußte denn der Alte ganz einfach an die Hand genommen und ins Flugzeug gesetzt werden. Er hatte sich übrigens nicht allzusehr ge-
sträubt. Dafür wurde auf dem Flugplatz Tempelhof ein prächtiger Empfang inszeniert – mit Orchester, einer Ehrenwache und den sonstigen für den Empfang von Ehrengästen unerläßlichen Attributen. Das war man der Öffentlichkeit schon schuldig. Hacha wurde feierlich zur Reichskanzlei geleitet. Dort ließ man ihn bis Mitternacht im Vorraum warten, bis Hitler geruhte, ihn in seinem Arbeitszimmer zu empfangen. Gleich bei den ersten Worten brüllte Hitler los, drohte und stampfte mit den Füßen auf. Schließlich warf er die vorbereitete Urkunde auf den Tisch und verließ das Zimmer. Seinen Platz nahm nun Göring ein. Der schrie den Präsidenten nicht an, sondern sagte nur: „Schade, daß Prag bombardiert werden muß, diese schöne Stadt… Ich bin gezwungen, den Befehl dazu zu erteilen“, und streckte die Hand nach dem Telefon aus. Da fiel Hacha in Ohnmacht. Als er wieder zu sich kam, unterzeichnete er mit zitternder Hand die Urkunde, die den „freiwilligen“ Anschluß der Tschechoslowakei ans Reich festlegte. Später erinnerte Hitler oft daran, was für einen Schreck er dem Präsidenten eingejagt hatte. Ein Lieblingsscherz von ihm, den er häufig anbrachte, war: „Jetzt weiß ich, wie man Staatsmänner hachaisiert!“ Dagegen war nichts zu sagen – auf solche Sachen verstand sich der Führer! Immerhin trübte das aber die Beziehungen zu den Franzosen und Engländern. Wohlthat war ehrlich davon überzeugt, dass ein dummes Mißverständnis vorlag, hatten doch die Engländer selber Hitler zu seinem Vorgehen ermuntert. Das Mißverständnis mußte aus dem Weg geräumt werden. Am gleichen Tag, als Prag eine deutsche Provinzstadt wurde, hatte in Düs-
seldorf eine geheime Beratung englischer und deutscher Unternehmer stattgefunden. Die Beratung hatte keinen besseren Verlauf nehmen können – es wurde einmütig beschlossen, die gegenseitigen Interessen zu achten. Darüber hinaus hatten die Vertreter der Geschäftswelt beider Länder vereinbart, ihre Regierungen notfalls um Unterstützung anzugehen, wenn von dritter Seite versucht werden sollte, Sand ins Getriebe zu streuen und die gemeinsamen Interessen zu schädigen. Aber Pustekuchen, alles war zusammengestürzt! Jetzt mußte wieder etwas unternommen werden. Eben zu diesem Zweck fuhr Wohlthat in einem unbequemen Taxi, in dem es stickig und heiß wie in einem Backofen war, zu der Zusammenkunft mit Mr. Hudson. Der Ministerialdirektor wischte sich den Schweiß vom Nakken, entlohnte den Schofför an einer Straßenecke und lenkte seine Schritte zu einer ebenerdigen Villa, mit einer kleinen, sorgfältig geschnittenen Rasenfläche davor. Hudson hatte für das Treffen seine Privatwohnung gewählt. Die Besprechung mit Hudson verlief freundschaftlich. Der Minister entwickelte zunächst den Plan einer englischdeutschen Zusammenarbeit auf den Weltmärkten und kam dann auf die Abgrenzung der Interessensphären beider Länder, auf die Ausschaltung unnötiger Konkurrenz zu sprechen. Wohlthat fiel auf, daß der Minister vieles von dem wiederholte, was die Vertreter des britischen Industriellenverbandes auf der Beratung in Düsseldorf gesagt und erklärt hatten. „Wir und Sie sind doch Geschäftsleute“, sagte der Minister in vertraulichem Ton. „Was könnten wir teilen? Die Welt ist doch wohl noch nicht zu eng geworden?“
Mr. Hudson deutete an, daß die englische Regierung bereit sei, Deutschland eine garantierte Anleihe in Höhe von etwa einer Milliarde Pfund Sterling zu gewähren, vorausgesetzt natürlich, es gelänge, in anderen Fragen übereinzukommen. Hudson wich politischen Themen aus, fragte aber Wohlthat nach einigem Zögern, ob er ein diesbezügliches ausführliches Gespräch mit Sir Horace Wilson, dem Berater des britischen Premiers, zu führen wünsche. Was sind die Engländer doch für vorsichtige Menschen, dachte Wohlthat, während er dem dahinplätschernden Redefluß des britischen Ministers lauschte. Es verdroß ihn ein wenig, daß es ihm nicht gelungen war, Näheres über Mr. Hudsons Reise nach der sowjetischen Hauptstadt in Erfahrung zu bringen. Überhaupt schien es ihm, das Gespräch sei auf einem toten Punkt angelangt. Vermutlich spielte auch Hudson nur die Rolle des norwegischen Walfängers. Aber Sir Horace Wilson – das war natürlich etwas anderes! Dessen Rolle bei den Münchener Verhandlungen war ihm gut bekannt. Wohlthat erkundigte sich, wann und wo die Begegnung mit Sir Horace Wilson stattfinden könne. „Wenn Sie wollen, schon heute“, antwortete Hudson und fügte lächelnd hinzu: „Ich hoffe, es wird Sie nicht allzusehr ärgern, wenn Sie die Abendsitzung der Walfänger versäumen.“ Der Ministerialdirektor tat, als hätte er die Anspielung nicht verstanden, und verabschiedete sich. Kaum hatte Hudson den Gast hinausgeleitet, als er auch schon den Hörer abnahm und Sir Horace Wilson anrief. Wilson dankte Hudson für seine Bemühungen und begab sich
sofort in das Arbeitszimmer des Premiers, das er gewöhnlich ohne vorherige Anmeldung betrat. Der Premierminister, ein großer und hagerer alter Mann mit eigensinnigem knochigem Gesicht und pergamentener Haut, hatte seinen Berater offensichtlich erwartet. Wilson war kaum in der Tür aufgetaucht, als der Premier den Sekretär hereinrief. „Lassen Sie niemand vor!“ sagte er und unterstrich seine Worte durch eine ausdrucksvolle Geste. „Zu sprechen bin ich nur für Seine Majestät. Gehen Sie!“ „Jawohl, Sir!“ Der Sekretär verneigte sich und ging. Der britische Premierminister, ein Sohn des ehrenwerten Joseph Chamberlain, war bereits hoch in Jahren. Er hatte den hohen Posten, den Traum seines Lebens, erst zwei Jahre zuvor erlangt. Zum Unterschied von seinem Vater fehlte ihm jedoch jegliches staatsmännisches Talent. Primitiv in der Politik und eigenwillig beschränkt in seinen Ansichten, erhob er sich nicht über das Niveau eines hochmütigen provinziellen Fabrikanten. Lediglich den Beziehungen seines Vaters und seiner Position unter den Birminghamer Industriellen hatte er es zu verdanken, daß er an die Oberfläche des politischen Lebens in England geschwemmt wurde. Der Posten des Generaldirektors der „Birmingham Small Arms Co.“, eines sehr bedeutenden Rüstungstrusts, ebnete ihm nicht nur den Weg in die Regierung, sondern ersetzte ihm auch den weiten Horizont und sonstige für Staatsoberhäupter erforderliche Eigenschaften. Sir Horace Wilson kannte die Schwächen des Premiers sehr gut, und er suchte sie so weit wie möglich zu mildern. Dies gelang ihm bisweilen auch, zumal der hochbetagte Premier
die Gabe besaß, sich die Gedanken anderer erstaunlich schnell anzueignen und sie im Handumdrehen als seine eigenen auszugeben. Sir Horace Wilson wußte diese Eigenschaft des Premiers recht geschickt zu nutzen. Ganz beiläufig äußerte er einen Gedanken, und wie ein Bumerang kehrte dieser in Gestalt einer Weisung des Premiers zu ihm zurück. So auch diesmal. Sir Horace Wilson und der Premierminister hatten sich bereits des öfteren mit dem verworrenen und komplizierten europäischen Problem beschäftigt. Nunmehr, da sich endlich die Möglichkeit zu neuen Verhandlungen mit Deutschland ergeben hatte, kam es nur noch darauf an, endgültige Beschlüsse zu formulieren und anzunehmen. Durch die voraufgegangenen Gespräche vorbereitet, unterwies Chamberlain seinen Berater, wie er sich dem deutschen Abgesandten gegenüber zu verhalten habe. Zwar gab er nur von sich, was ihm eingeflößt worden war, doch Wilson notierte ehrerbietig die Anweisungen des Premiers, obwohl sie lediglich seine eigenen Gedanken wiederholten. Vor allem müsse den Deutschen vorsichtig der Abschluß eines weitgehenden Abkommens auf wirtschaftlichem, politischem und militärischem Gebiet angeboten werden. Ein solches Abkommen würde das Empire stärken und die Aufmerksamkeit Hitlers in eine andere Richtung lenken. Sir Horace solle in Erfahrung bringen, was die Deutschen von dem Gedanken eines englisch-deutschen Nichtangriffspaktes und Nichteinmischungsvertrages hielten. Ein solcher Vertrag würde im Endeffekt eine Abgrenzung der Einflußsphären der beiden Länder ausgezeichnet tragen. Die Worte entströmten dem Munde des Premiers so lang-
sam, als überlege er laut, während er, die Beine übereinandergeschlagen und die Augen halb geschlossen, in seinem Sessel zurückgelehnt saß. „Mich wundert es nicht“, sagte er, „daß die Liquidierung der Tschechoslowakei in England Erregung hervorgerufen hat. Aber letztlich spielen doch die Tschechen an sich keine Rolle in der großen Politik. In der Welt gibt es Wichtigeres. Dadurch, daß Hitler Prag besetzt hat, ist er der russischen Grenze ein beträchtliches Stück näher gerückt…“ Das Gesicht des Premiers belebte sich merklich. Sekundenlang öffnete er die Augen. „Ich hoffe, Sie verstehen, wovon ich spreche.“ „Ja, gewiß…“ Auf Grund einer Assoziation, die leicht zu verfolgen war, fragte der Premier: „Und wie steht es dort bei ihnen am Buir-nor beziehungsweise am Halchin-Gol oder wie es sonst heißen mag – ich kann mir diese Namen schlecht merken… Halten sich die Japaner?“ „Ja, Sir, aber die Lage ist undurchsichtig. Man kann hier von wechselndem Kriegsglück sprechen. Mal haben es die Japaner, mal die Russen.“ „Nun, wir werden sehen. Ordnen Sie an, daß mir alle Nachrichten über den Verlauf der Kämpfe zugestellt werden. Das ist für uns sehr wichtig. Wir müssen endlich wissen, was Rußland ist – ein Koloß auf tönernen oder auf stählernen Füßen.“ „Ja, das ist wichtig, Sir, aber wenn ich mir eine Bemerkung gestatten darf – Ton oder Stahl kann lediglich unsere Strategie beeinflussen. Ich glaube, Herr Premierminister, Ihre
Sympathie für die Bolshies wird dadurch nicht steigen, daß sie vielleicht auf festeren Füßen stehen, als wir annehmen.“ „Ja, ja, Sie haben recht, Sir. Doch kommen wir zu unserem eigentlichen Thema zurück. Sie stimmen also mit mir überein, daß der Versuch, Hitler durch unsere Verhandlungen mit Moskau einzuschüchtern, die erwarteten Resultate vermissen läßt?“ Wilson nickte zustimmend. „Hitler ist nicht nachgiebiger geworden. Vielleicht ist er dahintergekommen, daß unser Liebäugeln mit den Russen nichts weiter als ein Bluff ist. Wie denken Sie darüber, Sir?“ „Das ist durchaus möglich. Wahrscheinlich wäre es jetzt verfehlt, diesen Trumpf auszuspielen.“ „Eben das ist es! Sie haben meine Gedanken erraten. Den Deutschen müßte man das unverbrämt sagen, sie durch Offenheit für uns gewinnen. Die Verhandlungen mit Moskau bereiten uns nur zusätzliche Schwierigkeiten. Viele Engländer nehmen sie für bare Münze. Sehen Sie nur, wie die Zeitungen schreien. Sie sind unzufrieden, daß sich die Verhandlungen in die Länge ziehen, daß Chamberlain zögert.“ Über das Gesicht des Premiers huschte ein Lächeln. „Ich habe nicht gezögert, wo es erforderlich war. Wissen Sie noch, Sir, München? Im vergangenen Jahr. Ich selber flog zu Hitler, benutzte ein Flugzeug, obwohl ich in den siebzig Jahren meines Lebens noch nie in die Lüfte aufgestiegen war. Ich ziehe die Postkutsche vor, die gute, alte Postkutsche. Mein Vater, Joseph Chamberlain, hat überhaupt keine anderen Verkehrsmittel benutzt und war dennoch ein großer Staatsmann. Ist es nicht so?“ „Ja, Sir, Ihr Vater war ein großer Staatsmann.“ „Ich danke Ihnen. Sie wissen auch, daß ich die Militär-
mission nach Moskau nicht zufällig mit einem kombinierten Passagier-Frachtdampfer auf den Weg geschickt habe. Das ist meine Postkutsche. Nicht immer ist Geschwindigkeit von Nutzen… Da fällt mir ein, sorgen Sie doch dafür, daß in der Stadt das Gerücht ausgesprengt wird, die Russen selbst verschleppten die Verhandlungen. Den Deutschen muß angedeutet werden, daß England Polen in der Danzig-Frage keineswegs unterstützt, sondern im Gegenteil die Garantien, die es seinerzeit den Polen geben mußte, als Last empfindet. Ein Nichtangriffspakt und ein Nichteinmischungsvertrag mit Hitler würden uns helfen, die überflüssigen Garantien loszuwerden. Sind Sie der gleichen Ansicht?“ „Ja, Sir, ich denke genauso.“ „Ausgezeichnet! Versuchen Sie, all das Herrn Wohlthat beizubringen. Führen Sie die Unterhaltung mit einem Schuß Herzenswärme. Sie können das sehr gut. Sammeln Sie jetzt Ihre Gedanken. Der Herr segne Sie!“ Sir Neville Chamberlain erhob sich, womit er zu verstehen gab, daß das Gespräch beendet sei. Schmerzvoll verzog er das pergamentene Gesicht – den Premier quälte ein altes Gichtleiden. Die Zusammenkunft mit Wohlthat fand noch am selben Abend statt, und zwar in der Downing Street, im Amtssitz des britischen Premiers. Sir Horace Wilson empfing den inoffiziellen Vertreter Deutschlands in seinem Arbeitszimmer. Er ging dem Gast entgegen, drückte ihm lange die Hand, forderte ihn liebenswürdig auf, in einem tiefen Lehnsessel Platz zu nehmen, und setzte sich selber ihm gegenüber. „Ich freue mich aufrichtig über Ihr Kommen, Herr Wohlthat,
wirklich aufrichtig. Wir werden uns sicherlich gut verstehen!“ Wilsons Gesicht drückte höchste Freude über die Zusammenkunft aus. Er erhob sich, brachte einen Aschbecher zu dem Rauchtisch und schob eine Kiste Zigarren näher heran. Der Berater des Premiers fragte den Gast, ob ihm London gefalle, ob er sich hier wohl fühle und ob er Herrn Hitler in jüngster Zeit gesehen habe. In München sei ihm Herr Hitler ein wenig übermüdet und nervös vorgekommen… Ja, ja, natürlich… Die große Verantwortung und die Staatsgeschäfte wirkten sich nun einmal unvermeidlich auf die Gesundheit aus. Das sei das Los aller großen Männer… „Ich sage Ihnen…“ Wilson berührte den Arm des Gastes ganz sacht mit den Fingerspitzen. „Für uns Briten wäre es die schönste und unvergeßlichste Stunde im Leben, wenn Ihr Führer an der Seite des Königs die Mall entlangfahren würde… Sie kennen doch London? Auf der Mall kommt man zum Buckingham Palace, der britischen Königsresidenz. Wir hoffen sehr auf einen offiziellen Besuch von Herrn Hitler. Daraus könnte eine sofortige Entspannung der politischen Lage resultieren. Meinen Sie nicht auch?“ Der Ministerialdirektor erinnerte sich an seine Instruktion, die ihm vorschrieb, mehr zuzuhören als zu reden. Daher antwortete er diplomatisch unverbindlich: „Ja, gewiß, das würde sehr ergreifend wirken.“ „Ja, ja! Das ist es – ergreifend! Ihre gemeinsame Fahrt in der Staatskarosse zum Buckingham Palace würde die Einmütigkeit unserer Länder, ihr gegenseitiges Verständnis symbolisieren. Wir Engländer hängen am alten und pflegen die Tradition. Ihnen ist sicherlich bekannt, daß man bei uns zum
Empfang beim König von jeher in einer Karosse fährt. Im Auto wird man einfach nicht vorgelassen. Ja, das sind so unsere Absonderlichkeiten… Aber eine Zusammenkunft mit Herrn Hitler wäre sehr nötig. Leider müssen wir uns jedoch einstweilen mit solchen Besprechungen wie der unseren begnügen. Oh, Sie verstehen mich doch richtig! Hoffen wir, daß diese freundschaftliche Unterredung uns helfen wird, eine gemeinsame Sprache zu finden.“ Horace Wilson leitete vorsichtig zum Hauptthema der Besprechung über. Wohlthat merkte das an einer kaum wahrnehmbaren Veränderung im Ton des Engländers. „Ich habe die letzte Rede des Herrn Hitler sehr aufmerksam gelesen“, fuhr Wilson fort. „Mir liegt es nicht, Komplimente zu machen, und doch muß ich sagen, daß mich die Rede bis ins Innerste bewegt hat. Seien wir offen zueinander!“ Der Berater des Premiers senkte die Stimme und unterstrich damit die Vertraulichkeit der nun folgenden Worte. „Herrn Hitlers Rede enthält eine ernsthafte Grundlage für weittragende Verhandlungen. Wir könnten uns über vieles unter dem Aspekt verständigen, von dem Herr Hitler ausgeht.“ Horace Wilson äußerte seine Gedanken so ungezwungen, als seien sie ihm eben erst in den Kopf gekommen. Zum Schluß sagte er: „Ich will rückhaltlos offen sein. Unter uns darf es keine Geheimnisse geben. Der Abschluß eines Nichteinmischungsvertrages würde es uns ermöglichen, von den Verpflichtungen gegenüber Polen loszukommen. Helfen Sie uns dabei. Der englisch-deutsche Vertrag könnte das Danziger Problem gewissermaßen chemisch auflösen. Wäre es denn für Herrn Hitler nicht günstig, im Osten Handlungsfreiheit zu erlangen?
Wie nennt man das auf deutsch? Es gibt da einen solchen Ausdruck bei den Autofahrern…“ „Freie Fahrt!“ warf Wohlthat ein. „Ja, richtig! Freie Fahrt – ohne Geschwindigkeitsbegrenzung… Ich sage sogar noch mehr, aber das ist absolut vertraulich.“ Wieder berührte die Hand des Engländers sacht den Arm Wohlthats. „Im Februar hat das britische Kabinett beschlossen, Deutschland einige seiner Kolonien zurückzugeben. Sie können Herrn Hitler davon Mitteilung machen. Es wird sich um das afrikanische Gebiet am Äquator bis Mocambique handeln. Können Sie sich vorstellen, wie das auf der Karte aussieht? Bedarf es noch eines weiteren Beweises, daß wir eine enge Zusammenarbeit mit Ihnen anstreben?“ Wilson, der leicht ermüdet schien, lehnte sich in seinen Sessel zurück, und es sah aus, als hätte er die Augen geschlossen. Er beobachtete, welchen Eindruck seine Worte auf den Ministerialdirektor gemacht hatten. Allein, Wohlthat zeigte keine Bewegung. „Das war alles, was ich Ihnen sagen wollte“, fuhr Wilson fort. „Ich habe Ihnen nichts verschwiegen. Allerdings sehe ich es als meine Pflicht an, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß die öffentliche Meinung Englands gegen eine Annäherung an Deutschland ist, deshalb müssen die Verhandlungen streng geheim geführt werden. Berücksichtigen Sie ferner den Umstand, daß wir vor Parlamentswahlen stehen. Wir müssen also doppelt vorsichtig sein.“ Wilson hatte eigentlich sagen wollen, daß er Hitler beneide, dem es gelungen war, die unverantwortlichen linken Elemente so schnell mundtot zu machen, aber das behielt er für sich. Wohlthat fragte:
„Haben Sie sich schon überlegt, welche Punkte auf einer vorbereitenden Konferenz beraten werden müßten?“ Statt einer Antwort erhob sich Wilson, nahm einen Bogen Papier vom Schreibtisch und setzte auf den unteren Teil seine Unterschrift. „Nehmen Sie das, Herr Wohlthat! Übergeben Sie es Herrn Hitler! Er möge hier eigenhändig eine beliebige Tagesordnung aufzeichnen, ich habe im voraus signiert…“ Der Ministerialdirektor, der bisher meist zugehört hatte, entschloß sich, noch eine Frage zu klären. „Ich vermute, Sie haben nur Ihren persönlichen Standpunkt dargelegt. Darf ich annehmen, daß er sich mit der Meinung anderer offizieller Persönlichkeiten deckt? Das zu wissen ist für meine Berichterstattung in Berlin äußerst wichtig.“ „Es wird Sie zufriedenstellen“, erwiderte Wilson lebhaft, „wenn ich Ihnen mit derselben Offenheit erkläre, daß Sir Neville Chamberlain meine Auffassung voll und ganz teilt. Sie können sich sofort davon überzeugen. Das Arbeitszimmer des Premiers befindet sich nebenan. Gehen wir zu ihm! Er wird das von mir Gesagte bestätigen.“ Horace Wilson streckte die Hand nach der Tür aus und forderte Wohlthat auf, ihm zu folgen. Unter einem passenden Vorwand entzog sich Wohlthat einer Rücksprache mit dem Premierminister. Die Besprechung hätte einen offiziellen Charakter angenommen. Der Ministerialdirektor dankte für die ihm gegebenen Informationen und verabschiedete sich. Von der Downing Street begab sich Wohlthat wieder zur Botschaft zurück, um Dirksen über den Verlauf der Bespre-
chung zu unterrichten. Er bemühte sich, kein Detail der Unterhaltung zu übergehen. Man kam überein, der Ministerialdirektor solle unverzüglich nach Berlin zurückkehren und über die englischen Vorschläge persönlich Bericht erstatten. Das Flugzeug nach Berlin startete um acht Uhr früh. Als der Ministerialdirektor gegangen war, rief Dirksen seine Sekretärin und diktierte ihr eine kurze Notiz über die Unterhaltung Wohlthats mit Sir Horace Wilson, Hierauf bat er sie, das Stenogramm sofort abzuschreiben. Er werde so lange warten. Die Sekretärin ging. Der Botschafter wandte sich wieder seiner Arbeit zu, spürte aber eine große Müdigkeit. Seit dem Morgen war er ununterbrochen in Anspruch genommen worden. Wenn er nicht auf die Stenogrammabschrift warten müßte, würde er jetzt schlafen gehen. Er legte die Hände auf die Armlehnen und ließ den Kopf gegen den geschnitzten Sesselrücken zurückfallen. In dieser Haltung verharrte er. Herbert von Dirksen entstammte einer deutschen Aristokraten- und Großgrundbesitzerfamilie, die sowohl mit dem Bankhaus Stein als auch – mütterlicherseits – mit den Kreisen der Monopolindustriellen des Ruhrgebiets versippt war. Viele behaupteten, von Dirksen sehe seinem Vetter Georg von Schnitzler, Direktionsmitglied des Chemiekonzerns I. G. Farbenindustrie, ähnlich. Er habe die dichten, halbkreisförmigen Brauen wie auch die traurigen Augen und die großen, breitlappigen Ohren aller Schnitzlers. Dirksen fand das zwar nicht, war aber stolz auf seine Verbindung zu dieser Familie. Dirksen war an die fünfzig Jahre alt, als ihm der Botschafterposten in London angetragen wurde, den bisher Ribbentrop bekleidet hatte. Das war nun gerade ein Jahr her, doch er
kannte sich in der europäischen Situation bereits gut aus. Eigentlich galt Herbert von Dirksen als Kenner der russischen Frage. Schon 1918, während des Bürgerkrieges in Rußland, hatte er die deutschen Interessen in der Ukraine beim Hetman Skoropadski zu vertreten. Damals, in Kiew, hatte er sich sehr geschickt des delikaten Auftrags entledigt, dem deutschen Agenten die Hetmanswürde zu verschaffen. Bedauerlicherweise blieb Skoropadski nicht lange Hetman. Viel später war Dirksen dann fünf Jahre hindurch deutscher Botschafter in Moskau. In dieser Zeit hatte er die Übermittlung von Nachrichten aus der Sowjetunion nicht schlecht in Gang gebracht. Für den Diplomaten arbeiteten nahezu fünftausend deutsche Fachleute, die die Bolschewiki ins Land gerufen hatten. In seiner Botschaft in der Leontjewski-Gasse liefen Informationen aus allen Teilen des Landes zusammen. Danach mußte er die Reise nach Japan antreten. Dirksen wurde Spezialist für fernöstliche Fragen. Schließlich sammelte er dort nicht nur japanische Nippsachen… Und nun hatte ihn sein neuer Posten zu einem Kenner der westeuropäischen Verhältnisse gemacht. In der Diplomatie muß man eben in allen Sätteln gerecht sein. Der Botschafter, ein Vertreter der alten deutschen diplomatischen Schule, war fest davon überzeugt, die menschlichen Beziehungen fußten allerorts auf diplomatischem Boden. Wie hätte er, Herbert von Dirksen, sonst so lange Erfolg haben und die hierarchische Stufenleiter emporklettern können! Er hatte unter Seiner Majestät Kaiser Wilhelm II. gedient, war in den Jahren der Weimarer Republik in Amt und Würden geblieben und machte nun auch unter Hitler Karriere. Gewiß, der Botschafter stimmte nicht in allem mit den Nazis überein,
genauso wie er auch in gewissen Fragen nicht mit der Weimarer Republik einverstanden gewesen war. Aber ist denn das für einen Diplomaten von Bedeutung? Dirksen hätte beispielsweise unbedingt diese geschmacklosen Teppiche mit dem eingewirkten Hakenkreuz entfernt ebenso wie die ungefügen Ledersofas und Mahagonischränke, die so sehr an Bauerntruhen erinnerten. War das etwa das richtige Mobiliar für die Botschaft in London! Aber so war nun einmal der Stil. Ribbentrop sagte, das Ausland müsse sich an den deutschen Stil gewöhnen – an das Gediegene, Dauerhafte, Jahrhunderte hindurch Bestehende. Nun, sollten sie; einer solchen Sache wegen zu streiten lohnte nicht… Die Sekretärin, Fräulein Luzie, trat ins Zimmer und brachte die maschinengeschriebene Aufzeichnung. Dirksen las sie durch, nahm einige Korrekturen vor und ordnete an, das Schriftstück als Eilsendung mit der Diplomatenpost nach Berlin zu schicken. Als der Botschafter wieder allein war, rekelte er sich zufrieden. Er liebte diese späten Stunden, da alle Angelegenheiten erledigt waren und man sich selbst gehören konnte. Dirksen ging zu dem Wandtresor in seinem Zimmer. Er entnahm ihm einen Aktendeckel mit der Aufschrift „Englische Vorschläge“ und heftete darin den Durchschlag der eben diktierten Aufzeichnung ab. „Die Kollektion füllt sich“, sagte er lächelnd vor sich hin und blätterte in dem Aktenstück. Bekannte Namen! Wahrlich, eine ganze Kollektion geheimer Gedanken britischer Diplomaten! Auf eine Kollektion dieser Art konnte man stolz sein. Talleyrand hatte einmal gesagt,
dem Menschen sei die Sprache gegeben, um seine Gedanken zu verhüllen. Das stimmte nicht ganz. Ja, auf den Konferenzen, bei offiziellen Gesprächen, da verhüllten sie ihre Gedanken, aber nicht in den Arbeitszimmern mit schalldichten Doppeltüren. Darin eben lag auch der Wert der Kollektion, daß hier, in diesem Aktendeckel, die Gedanken von Männern gesammelt waren, die sie um nichts in der Welt vor Außenstehenden geäußert hätten. Da – Lord Halifax, der britische Außenminister, der reinste Handelsreisende, wie er zwischen London und Berlin hin und her pendelte. Bei dieser Figur gab es nichts Unklares. Der Lord war fest in seinen Ansichten und stand unerschütterlich auf der Position der Cliveden-Gruppe. Freund der Lady Astor und Russenhasser durch und durch. Und wie er sich in Komplimenten für den Führer erging! Als ob er Ribbentrops Stellvertretung übernehmen wolle… Dirksen verweilte bei der Aufzeichnung über die Unterredung zwischen Hitler und Halifax und las: „Ich erkenne die großen Verdienste, die Sie sich um den Wiederaufbau Deutschlands erworben haben, voll und ganz an… Sie haben nicht nur in Deutschland selbst Großes geleistet, sondern durch die Vernichtung des Kommunismus im eigenen Lande diesem auch den Weg nach Westeuropa versperrt. Daher kann Deutschland mit Recht als Bollwerk des Westens gegen den Bolschewismus angesehen werden.“ Und hier hieß es: „Viele soziale Reformen des Herrn Hitler tragen hochdemokratischen Charakter, unbeschadet dessen, daß in ihnen die Denk-, Rede- und Handlungsfreiheit völlig ignoriert wird. Ihre Durchführung erfolgt für die hohen Ideale der Zivilisation und Humanität.“
Nicht schlecht! Er sprach wie ein waschechter Nazi! Dirksen blätterte einige Seiten weiter. Lord Lothian. Jetzt Botschafter in Washington. Eine alte Aufzeichnung. Wie war sie in die Akte geraten? Eine interessante Stelle: „Das deutsche Heer kann zu jedem Zeitpunkt die Reihen der russischen Armee mit der gleichen Leichtigkeit durchbrechen, wie ein Messer in Butter eindringt.“ Wo hatte er das nur gesagt? Ach ja, auf einer Konferenz in Berlin. Sie wollen uns auf die Russen hetzen, damit wir ihnen die Kastanien aus dem Feuer holen. Die alte britische Politik! Der Botschafter richtete nunmehr sein Augenmerk auf den Namen Cranfield. Wer war Cranfield? Richtig! Wie konnte ihm das nur entfallen! Ein Redakteur der Zeitung „The Daily Mail“. Der Mann, der in die Deutsche Botschaft Fahnenabzüge gewisser Artikel schickte, bevor sie in seiner Zeitung erschienen. Keine üble Sache, bei Gott. Man zahlte ja auch gut dafür. Er müßte nachprüfen, wann er ihm eigentlich das letzte Mal Anzeigenaufträge für die „Daily Mail“ gegeben hatte. Das war die bequemste Methode, Gefälligkeiten zu entgelten. Viele Zeitungen lebten ja nur von den Einnahmen, die die Anzeigen brachten. Dem Brief des Redakteurs war der Abzug eines Aufsatzes von Viscount Rothermere beigelegt unter dem Titel: „Die Tschechen gehen uns nichts an.“ Der Botschafter las einige Sätze daraus: „Die Tschechoslowakei geht uns nicht im geringsten an. Wenn Frankreich sich dort die Finger verbrennen will, so ist es seine Sache… Der tschechoslowakische Staat, der vor achtzehn Jahren durch die kurzsichtigen Verträge ins Leben gerufen wurde… Es ist wahrscheinlicher, daß Deutschland
mit dem Machtantritt einer nationalsozialistischen Regierung unter der energischen Leitung dieser Partei selber den Weg weisen wird, wie das himmelschreiende Unrecht sofort beseitigt werden soll… Das Ergebnis einer solchen Entwicklung könnte sein, daß die Tschechoslowakei… über Nacht zu existieren aufhören könnte.“ So kam es dann auch! Dirksen dachte mit Befriedigung daran zurück, was für einen großen Eindruck dieser von ihm inspirierte Artikel gemacht hatte, aus dem hervorging, daß die Engländer nicht daran dachten, sich in den Konflikt mit der Tschechoslowakei einzumischen. Dafür hatte ihm damals Ribbentrop seinen Dank ausgesprochen. Gewiß, die Veröffentlichung des Artikels hatte einiges gekostet – eine Menge unnötiger Inserate mußten in der „Daily Mail“ aufgegeben werden –, aber die Sache hatte sich gelohnt. Jetzt spielte Rothermere, der an der Spitze eines englischen Zeitungstrusts stand, eine noch bedeutendere Rolle – er war zum Leiter der Presseabteilung des britischen Informationsministeriums ernannt worden. Wenn man in einer solchen Stellung seinen Mann sitzen hatte, war das nicht zu verachten. Damit ließ sich etwas anfangen. Derselbe Rothermere könnte beispielsweise auch über Danzig schreiben. Wie nützlich es doch war, ab und zu das Archiv durchzusehen! Der Botschafter notierte sich etwas in sein Merkbuch und blätterte einige Seiten um. Da war das Memorandum über ein Interview Churchills. Dirksen hatte es zu seiner Information erhalten. Auf welchen Wegen es wohl der deutschen Spionage in die Hände gefallen war? Es war eine eigenhändige Aufzeichnung Churchills über seine Unterhaltung mit Albert Forster, dem Gauleiter der Nazipartei in Danzig.
Der Botschafter von Dirksen hielt Churchill für die undurchsichtigste Figur in seiner Kollektion. Ein schlauer Fuchs! sagte er sich. Steht in Opposition zu Chamberlain, tritt gegen Deutschland auf und denkt sich bei alledem was Drittes. Auch er sieht wohl im Wachen und Träumen, wie er uns auf die Russen hetzt. Dirksens Blick fiel auf einen Satz, der blau unterstrichen war. Er lautete: „Ich antwortete, daß es meiner Ansicht nach ganz gut möglich wäre, als Teil des allgemeinen europäischen Übereinkommens England und Frankreich zu verpflichten, Deutschland mit all ihrer Macht zu Hilfe zu kommen, falls es das Opfer eines nichtprovozierten Angriffes von Seiten Rußlands, durch die Tschechoslowakei oder auf eine andere Weise sein sollte.“ Der letzte Satzteil war doppelt unterstrichen. Geschickt und vorsichtig! setzte Dirksen seinen Gedankengang fort. Warum wendet er sich aber jetzt so aktiv gegen eine Annäherung an uns? Im übrigen hatte er sich auch gegen das Münchener Abkommen gewandt, obwohl er anders dachte. Man müßte sich seine Gedanken wieder ins Gedächtnis rufen. Bitte, hier steht’s ja! Der Botschafter überflog die folgenden Zeilen: „Es ist schlecht, daß die Sowjetunion in unserm Streit mit Deutschland nicht in die Waagschale geworfen wurde.“ Interessant, was er damit meinte. Dirksen klappte die Akte zu und legte sie wieder in den Panzerschrank. Der Botschafter war ein vorsichtiger Mann. Sorgfältig prüfte er die Schlösser des Safes, nahm dann das von der Sekretärin zurückgelassene Stenogramm und ging zum Kamin. Den Sims des mit rosa Marmor verkleideten Kamins schmückten hübsche geschnitzte Figürchen. Der Botschafter
liebte die japanischen Nippes. Er hielt sich für einen Kenner der alten japanischen Kunst. Auf seine Sammlung orientalischer Statuetten war er nicht minder stolz als auf das in seinem Besitz befindliche Aktenheft mit der Dokumentensammlung. Die in den Kamin geworfenen Blätter lohten gelblich auf. Dirksen stocherte mit der Feuerzange in der glimmenden Asche und nahm seine Lieblingsfigur vom Kamin, eine Darstellung Buddhas. Diese Statuette hatte er rein zufällig bei einem Wanderhändler in Tokio entdeckt. Wie wunderbar hatte der unbekannte Holzschnitzer die rätselhaften geheimnisvollen Züge Buddhas wiedergegeben! Die Statuette lenkte die Gedanken Dirksens wieder auf die im Safe eingeschlossene Akte. Churchill! Ebenfalls eine seltsame, nicht ganz enträtselte Figur. Er glich dem kleinen dicken Gott, der, ein unerklärliches Lächeln auf dem Gesicht, neben einer anderen Plastik stand. Ja, das Lächeln war undefinierbar – wie bei Churchill. Dahinter konnte sich sowohl Gutmütigkeit als auch Verschlagenheit verbergen. „Verschlagenheit!“ sagte Dirksen laut. „In unserem Metier gibt es keine Gutmütigkeit!“ Er stellte die Holzplastik an ihren Platz zurück, knipste das Licht aus und verließ das Zimmer. Seine Wohnung befand sich ebenfalls im Botschaftsgebäude. 2 Das gute, alte England hatte schon lange nicht eine Zeit so allgemeiner Erregung erlebt wie in diesem denkwürdigen, heißen Sommer. Allenthalben wurde diskutiert, im Parlament, in den Autobussen, am Mittagstisch in den Wohnungen
der Hafenarbeiter und in den Arbeitszimmern der Minister. Bis zu den Wahlen waren es noch einige Monate – sie sollten im November stattfinden –, aber schon jetzt erhitzten sich die Gemüter, als sei das ganze Land ein einziger Debattierklub oder ein Fußballstadion während der Halbzeitpause, da bekanntlich die Leidenschaften besonders heftig entbrennen. Polly, die emsige und stets besorgte Frau des Hafenarbeiters John Crawshow, gestand den Männern nur bei drei Gelegenheiten das Recht zu, sich aufzuregen und zu streiten – bei Pferderennen, während der Wahlen und auf dem Fußballplatz. Da ließ man sich das noch gefallen! Aber so wie jetzt, tagaus, tagein, das ging entschieden zu weit! Polly stand in ihrer winzigen Küche und plättete ein Oberhemd ihres Mannes – vielleicht würden sie heute ins Kino gehen und ein wenig im Park umherbummeln. Sie plauderte mit ihrer Nachbarin, Mrs. Parsons, die sich nur schnell mal die Kaffeemühle hatte ausleihen wollen und bei ihr hängengeblieben war. Nun sieh doch einer bloß ihren John an! Polly Crawshow setzte resolut das Bügeleisen ab und blickte aus dem Fenster auf die Straße. Da saß er nun seit dem frühen Morgen mit William auf der Vortreppe des Hauses und schwang Reden, als sei er der Außenminister! Polly war ihm heute einfach böse. Wie sollte sie es auch nicht sein, hatte sie doch zum Frühstück für ihn ein Omelette mit Schinken gebraten und Brot geröstet, hellkastanienbraun, so wie er es gern mochte, er aber hatte nicht aufgegessen, hatte alles stehen- und liegenlassen und war mit der Zeitung zu William gelaufen. Dabei konnte sie ihm doch nicht alle Tage ein solches Frühstück vorsetzen. Ihnen war kein Gold in die Wiege gelegt worden –
sie mußten sich ihren Lebensunterhalt hart erarbeiten. Die Kinder wuchsen heran – Virginia ging nun auch schon zur Schule –, man konnte sich noch so drehen und wenden, es langte nicht hin noch her. Jetzt wollte Robert auch noch heiraten, alles mußte wohl überlegt werden, aber John kümmerte es wenig. Danzig war ihm wichtiger! Auch was, Danzig! Polly wußte nicht einmal genau, wo dieses Danzig eigentlich lag… „Bei Ihrem Robert steht es also fest, daß er Kate heiratet?“ fragte Mrs. Parsons. „Ja, sie ist ein gutes Mädchen. Schade nur, daß Robert wegziehen wird. Von seinem Gesichtspunkt aus hat er ja recht. Sie wissen doch, wie beengt wir wohnen. Jetzt hat er aber scheint’s auch anderes im Sinn als die Heirat.“ Polly Crawshow lachte. „Er diskutiert, genau wie sein Vater. Gewiß, der Hitler nimmt sich allerhand heraus. Es wird Zeit, daß er eins auf die Finger bekommt. Darin hat John recht. Zuerst Österreich, dann Prag, jetzt Danzig. Läßt man ihn gewähren, dann kriegt er noch Appetit auf sonstwas. Bis er ganz außer Rand und Band ist.“ Die Frau des Hafenarbeiters stellte sich den deutschen „Führer“ als einen ungezogenen, verwöhnten Bengel vor, wie es zum Beispiel der älteste Sohn der Clerks war. Gerade gestern hatte ihr Mrs. Clerk erzählt, ein wahres Kreuz sei es mit dem Burschen gewesen, so sei er ihr über den Kopf gewachsen, bis ihn sich der Vater einmal ordentlich vorgeknöpft hatte. Nun habe er wohl wieder etwas Vernunft angenommen. Die Clerks wollten ihn zu einem Onkel nach Colombo schicken. Einen anderen Ausweg hatten sie nicht. Immerhin waren sie eine sechsköpfige Familie mit nur einem Verdiener. So wür-
den sie einen Esser weniger haben. Doch nicht alle hatten einen Onkel in den Kolonien. Robert hatte eigentlich auch fortfahren sollen – nach Indien. Ihm war sogar schon eine Stelle auf den Teeplantagen der Firma Lipton angeboten worden. Aber bei dem Klima dort hätte es der Junge schwer gehabt. Polly war einesteils ganz froh, daß die Reise wegen der Heirat ins Wasser gefallen war. Aber wie würden sie leben? Die Zeiten waren so unruhig. Was wollte dieser Hitler bloß? Er gab und gab keine Ruhe… Die Frauen wurden es selbst nicht gewahr, daß sie auf die Ereignisse zu sprechen gekommen waren, über die auf der Vortreppe des Hauses die beiden Männer so erregt diskutierten. „Ich würde diesem Schmierfinken das Schreiben glatt verbieten!“ sagte währenddessen John Crawshow entrüstet. „Einen Schaber sollte man ihm in die Hand drücken – dann mag er die Schiffsböden im Dock von den Muscheln säubern. Nicht etwa einen Dampfer, der wäre noch zu gut für ihn, den ältesten Themsekahn, den es gibt. Hast du das gelesen? ,Weshalb für Danzig sterben?’“ Er preßte die Zeitung so fest in seiner Hand, als schleife er den Verfasser des Artikels zu der ihm zugedachten Arbeit ins Dock. John hatte große, kräftige Hände. Seine Fingerspitzen, gelb vom Nikotin, sahen aus, als seien sie mit Jod betupft. „Man legt dir eine Schachtel Dynamit unter den Hintern“, fuhr er fort, „die Zündschnur raucht schon, und da kommen dir ein paar Gentlemen und fragen, ob es sich lohne, die Schachtel wegzunehmen. Genauso verhält es sich mit Danzig. Nein, wenn Chamberlain Premier bleiben will, dann muß er Hitler sagen: Schluß jetzt! Andernfalls werde ich nicht für ihn
stimmen, da kannst du Gift drauf nehmen, Bill!“ „Und was habe ich dir vorm Jahr hier an derselben Stelle gesagt? Man hat ihm in München den kleinen Finger gegeben, und er nimmt sich die ganze Hand.“ John entsann sich noch gut jenes Gesprächs. Wahrscheinlich hatte William recht, aber er wollte es nicht zugeben. „Damals war das eine andere Sache. Man mußte es versuchen. Alle haben gesagt: Da nun einmal in den Sudeten Deutsche leben, mögen sie selbst entscheiden, bei wem sie sein wollen – bei den Tschechen oder bei den Deutschen. Das ging uns nichts an.“ John und William saßen da in Hosenträgern und Unterhemd mit aufgekrempelten Ärmeln. Beide wohnten sie in demselben alten, schuppenartig langen Haus, in dem jeder eine kleine Wohnung gemietet hatte. Sie kannten sich von Kindesbeinen an, arbeiteten zusammen im Hafen und waren eng miteinander befreundet. Aber sie hatten ein verschiedenes Naturell und stritten sich ständig über all und jedes. Selbst beim Kartenspiel zankten sie sich, obwohl sie immer zusammenspielten und der eine sich nie ohne den andern an den Tisch setzte. Auch äußerlich waren sie sehr verschieden. John war stämmig und breit. Durch die schütteren Haare schimmerten am Haaransatz die Anfänge einer Glatze. Dadurch erschien die Stirn sehr hoch, beinahe halb so groß wie das ganze Gesicht. William dagegen war hager und sehnig, hatte dichtes, hartes Haar und dünne, spöttische Lippen. Beide gehörten keiner Partei an, doch John las ausschließlich den „Daily Herald“, das Organ der Labourpartei, während William gelegentlich auch noch einen Blick in den kom-
munistischen „Daily Worker“ warf. „In Danzig leben ebenfalls Deutsche, genau wie in den Sudeten“, erwiderte William. „Warum regst du dich also diesmal auf? Wo bleibt denn da bei dir die Logik?“ John dachte noch nach, was er dem Freund antworten könnte, als ein Wagen, der am Ende der Straße hielt, ihre Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Ihm entstiegen zwei Männer, der eine untersetzt, im Staubmantel, einen schweren braunen Spazierstock in der Hand, der andere – jünger und bedeutend größer als der erste – in Golfhosen und einem leichten Pullover ohne Jacke. Sie gingen langsam den Bürgersteig entlang, auf das Haus zu, vor dem die beiden Freunde auf der Treppe saßen, während ihnen der Wagen in einigem Abstand folgte. Die Fremden traten heran und grüßten. „Ruhen Sie sich aus?“ fragte der mit dem Spazierstock und lüftete höflich den Hut. „Eigentlich diskutieren wir mehr, als daß wir ausruhen. Heutzutage diskutieren alle, und alles ist für die Katz.“ „Worüber diskutieren Sie denn?“ „Nicht über einen Sieg des Fußballklubs ,Chelsea’, versteht sich. Jetzt ist ein anderes Spiel im Gange. Man sagt, unser Premier sei ein schöner Torwart. In München habe er selbst den Ball durchgelassen, weil er hoffte, die Deutschen würden nun am andern Platzende spielen – im Osten –, dabei ist der Ball schon wieder vor unserm Tor. Hitler schickt sich an, einen Elfmeter zu schießen – diesmal mit Danzig.“ „Ein interessanter Vergleich! Sehen Sie, diese Frage beschäftigt auch uns gerade. Wir möchten die Stimmung der Wähler kennenlernen.“ Das Parlamentsmitglied Lord Amery befand sich auf dem
Rückweg aus seinem Wahlkreis, wo er seine Kandidatur erneut aufstellen lassen wollte. Auf der Fahrt war ihm der Gedanke gekommen, einen Abstecher in eine Arbeitersiedlung zu machen, um seine Beobachtungen noch einmal zu überprüfen. Hier unterließ er es allerdings, seinen Namen zu nennen – das hielt er für besser. Die beiden auf der Treppe sitzenden Arbeiter würden ihre Meinung offener sagen. Der Sekretär des Lords, der hochgewachsene junge Mann, mischte sich in das Gespräch nicht ein. Auch John verhielt sich schweigend. Er diskutierte lieber mit seinesgleichen. Zudem war William schlagfertiger als er und brauchte nicht lange nach Worten zu suchen – sollte er sich also mit dem Gentleman befassen. „Geben Sie denn etwas auf die öffentliche Meinung?“ fragte William ironisch. „Aber gewiß doch! Was denken Sie über Danzig?“ „Dasselbe wie über München. Man schämt sich langsam seiner Regierung.“ „Aber das ist doch immer noch besser als Krieg!“ „Krieg? Ich habe drei Jahre gegen die Boches gekämpft. Ich weiß, was das heißt. Nur denke ich mir, auf einen groben Klotz gehört auch ein grober Keil, das ist alles. Wenn man Hitler anständig eins aufs Maul gibt, läßt sich der Krieg vermeiden. Jedenfalls, geradeheraus gesagt, hatten die Russen recht, nicht wir.“ „Verzeihen Sie, aber wieso hatten die Russen recht, als sie vorschlugen, die Tschechen zu verteidigen? Ist denn ein schlechter Friede nicht besser als ein gerechter Krieg?“ Statt zu antworten, fragte William seinerseits: „Warum führen wir eigentlich bis jetzt die Russen an der
Nase herum? Vielleicht können Sie uns das mal erklären.“ „Wie meinen Sie das?“ „Nun so. Wie viele Monate dauern bereits die Verhandlungen in Moskau? Und was ist dabei herausgekommen? Nicht so viel!“ William zeigte auf die Spitze seines Fingernagels. „Und wen hat man jetzt nach Moskau geschickt, um ein Militärabkommen zu schließen? Den Kommandanten von Portsmouth, einen abgetakelten Admiral. Aber von russischer Seite führt Woroschilow die Verhandlungen. Zudem brauchte unsere Delegation fast eine ganze Woche, bis sie nach Moskau kam. Den langsamsten Kahn, den man auftreiben konnte, hat man ihr gegeben. Glauben Sie, die Russen sind auf den Kopf gefallen und merken nicht, was gespielt wird? Die sehen sich die Sache noch eine Weile an, und dann husten sie uns was. Verlassen Sie sich darauf!“ „Ja, aber die Verhandlungen hängen nicht allein von uns ab. Von den Russen werden ebenfalls… Verzeihen Sie, was sind Sie von Beruf?“ „Schauermann.“ „Na, sehen Sie!“ sagte Amery, als freue er sich, ein Argument gefunden zu haben. „Die Diplomatie ist etwas anderes als Frachten löschen und laden. Ich möchte sagen, ein schwererer Beruf als der Ihre.“ William packte plötzlich Wut auf diesen Mann mit dem Spazierstock und dem Schmerbauch. Was war für den schon ein Hafenarbeiter? Ein Haufen Dreck, der nichts versteht… „In den diplomatischen Finessen findet sich unsereins allerdings nicht zurecht.“ William verzog ironisch die Lippen. „Aber eins kann ich Ihnen sagen, mit unseren Diplomaten bringen wir’s zu nichts. Die wollen einen Brand, entschuldi-
gen Sie, mit der Klistierspritze löschen…“ „Aber warum gleich so scharf?“ Lord Amery schockierte die Grobheit des Hafenarbeiters, der in gereiztem, spöttischem Ton sprach. „Denkt Ihr Kollege ebenso?“ John zeichnete mit einem Stock Schnörkel in den Sand. Jetzt hob er den Kopf. Sein Blick begegnete dem des Freundes, und er lächelte – so lächelte er ihm immer zu, wenn sie King spielten und ihm klar war, welche Karte er ausspielen mußte. „Ich bin auch kein Diplomat. Ich weiß nur, daß Chamberlain meine Stimme nicht mehr kriegt. Soll der da für ihn stimmen, der über Danzig schreibt.“ John bohrte den Finger in die Zeitung. „Bei uns in Glasgow sagt man: ,Spiel nicht den Gänserich!’ Das heißt, der Mensch soll sich nicht in eine dumme Lage begeben. Ich meine unseren Premierminister.“ Amery hatte es auf einmal sehr eilig. Neues ergab sich ja doch nicht. Es war Zeit zu fahren. Als sie im Wagen Platz genommen hatten und der Fahrer in der engen, holprigen Straße wendete, fragte der Sekretär: „Wollten Sie nicht noch woandershin fahren?“ „Nein, es ist überall dasselbe. Und vor allem sind es überall dieselben Reden. Dieser Hafenarbeiter mit dem spöttischen Gesicht hat, wenn auch primitiv, so doch mit tiefer Überzeugung den allgemeinen Standpunkt dargelegt.“ Und in Gedanken konstatierte der Lord: Mit dem Programm einer Befriedung Hitlers darf man zu den Wahlen nicht auftreten, das Wahlprogramm muß anders aussehen. Der Wagen hatte die Chaussee erreicht. Von hier aus konnte man zur Küste, zum Landgut Amerys, oder – links abbiegend – nach London fahren. „Wohin befehlen Sie, Sir?“ fragte der Fahrer.
„Nach London.“ „Jawohl, Sir.“ Der Lord sah auf die Uhr – es war fünf Minuten vor drei. Er würde sich noch umziehen und ein wenig ausruhen können. Sir Winston Churchill hatte ihn zum Nachmittagstee, das heißt zu fünf Uhr, eingeladen. Nach dem Lunch und dem Five o’clock tea kann man seine Uhr stellen. In ganz England setzt man sich Punkt fünf an den Teetisch. Lord Amery versank in Nachdenken. Wie er dasaß, den Kopf gegen die Sitzlehne zurückgeworfen, machte er den Eindruck eines Schlafenden. Doch er schlief nicht. Als erfahrener Parlamentarier, für den sich Lord Amery hielt, war er nur sich selbst gegenüber offen. Seine Gedanken sprangen von einem Gegenstand zum andern, kreisten aber hauptsächlich um die wichtigsten internationalen Ereignisse. Auch an die bevorstehende Zusammenkunft mit Churchill dachte Amery. Sie würde unmittelbare Beziehung zu den Vorgängen in der Welt haben. Die Parlamentsferien enden am Freitag, überlegte er. Auf der Tagesordnung stehen Debatten über die internationalen Fragen. Man müßte eine Anfrage vorbereiten, durch die der Premier überrumpelt wird. Darauf versteht sich niemand so gut wie Churchill. Man wird sich mit ihm beraten müssen… Was sagte doch dieser Hafenarbeiter über das Fußballspiel? Der Premier sei ein schlechter Torwart, er habe ein Selbsttor gemacht. Und dann noch: Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil. Gut gesagt! Kann man in der nächsten Rede verwerten… Aber wie verwickelt ist doch die politische Situation! Nein, mit der Münchener Befriedungspolitik darf man nicht zu den Wahlen auftreten, ausgeschlossen! Nicht einmal
zehn Prozent Stimmen würde man erhalten. Den Vorteil hätten nur die Kommunisten. Man muß sich einen anderen Zug ausdenken. Eben aus diesem Grunde fuhr Amery zu Churchill. Der Alte hatte versprochen, ihn in seine Pläne einzuweihen. Ja, wenn einer Erfahrung im Intrigieren hatte, dann der! Der Wagen fuhr von East End, dem Londoner Elendsviertel, her in die Stadt. Am Fenster flirrten ebenerdige Steinhäuschen, Wäsche auf Leinen, verrußte rote Backsteinfassaden und welke, graue Bäume vorbei, von denen man nicht wußte, wie sie hier überhaupt hatten wachsen können. Lord Amery öffnete für einen Moment die Augen, gab sich dann aber wieder seinen Gedanken hin. Natürlich, Chamberlain hat auf seine Art recht, Rußland ist eine ungeheure Gefahr. Aber wozu Hitler die Möglichkeit geben, stark zu werden? Das ist höchst unvernünftig! Churchill geht da klüger und weitsichtiger zu Werke. Haben wir denn nicht selbst Interessen in Rußland? Baku zum Beispiel. Die Nobel-Aktien liegen noch heute eingefroren bei der Schröder-Bank. Wahrhaftig, Öl ist das Blut der Erde. Viel würde er darum geben, könnte er so ein Aktienpaket auftauen und wieder aktivieren! Na und das Kupfer? Das Blei? Und Russisch-Zentralasien? Die Wälder des Nordens? Warum das alles Hitler überlassen? In Europa muß ein Kräftegleichgewicht bestehen, ein Gleichgewicht zugunsten Britanniens. Gewiß, Hitler ist ein ausgezeichnetes Bollwerk, das die Ausbreitung des Bolschewismus in Europa verhütet, und er kann als starker Mauerbrecher dienen, um eine Bresche nach Rußland zu schlagen – aber nicht mehr. Hitler selbst muß man im Zaum halten, sonst haben wir das Nachsehen… Wie sagte der
Hafenarbeiter? Wir führen die Russen an der Nase herum… Wenn das nur so leicht ginge! Aber mit dem Hafenarbeiter muß man rechnen, das ist eine Wählerstimme, eine kommunistisch gefärbte Stimme. Ja, das muß man Hitler lassen – er hat es fertiggebracht, den Roten den Mund zu stopfen. In England ist das schwieriger. Sieben Minuten vor fünf hielt der Wagen Lord Amerys vor der Auffahrt zu der alten Londoner Villa der Familie Churchill. Bevor Amery ausstieg, nahm er die an der Wagenwand in Metallklemmen steckende kleine Blumenvase ab. Er zog die frischeste Nelke heraus, trocknete den nassen Stengel mit einem Tuch und steckte sich die Blume an. Das war sein Stil – zu jeder Jahreszeit eine weiße Nelke im Knopfloch, möglichst groß und unbedingt frisch. Lord Amery rechnete mit einem längeren Besuch bei Churchill. Da er erwartet hatte, eine erlesene Gesellschaft vorzufinden, war er nicht wenig überrascht, als ihn der Kammerdiener in das Arbeitszimmer Churchills führte. Der Hausherr empfing den Gast in einem weiten, tabakbraunen Hausanzug, einer Art Pyjama, mit zahlreichen Reißverschlüssen von der gleichen Farbe. Zwischen den Zähnen hielt er die unvermeidliche Zigarre – er nahm sie auch nicht aus dem Mund, als er nun Amery entgegenging. „Ich freue mich sehr, Sie zu sehen, lieber Amery!“ rief Churchill und breitete die Arme zum Gruß aus. „Wie stets im vollen Glanz und mit der Nelke im Knopfloch. Etwas Reines und Makelloses muß ja ein Politiker haben, und sei es nur im Knopfloch. Ihnen gegenüber, Lord, darf ich mir wohl erlauben, Zyniker zu sein!“ Lord Amery war etwa fünfzehn Jahre jünger als Churchill.
Gleichwohl verband sie eine enge Freundschaft, eine Freundschaft, wie sie zuweilen zwischen Menschen verschiedenen Alters entsteht. Außerdem waren sie beide, wenn auch sehr entfernt, miteinander verwandt. Jedenfalls glaubte Lord Amery, gleich Churchill dem alten Geschlecht der Herzöge von Marlborough zu entstammen, allerdings von der mütterlichen Linie her. Ungeachtet der Tatsache, daß sich beide über das Wiedersehen freuten, war Amery ein wenig schockiert. Immer mußte Winston den Originellen spielen. Zum Five o’clock tea im Hausanzug zu erscheinen! Selbst wenn es im eigenen Haus ist… Und was für eine ausgefallene Farbe der Anzug hat -wie seine Zigarre. Wahrscheinlich schläft er auch nachts mit der Zigarre im Mund… „Nun, erzählen Sie“, sagte währenddessen Churchill, der den Gast sich gegenüber Platz nehmen ließ. „Ich habe Sie erwartet und deshalb niemand eingeladen. Fangen wir an!“ „Ich habe eine solche Erregung in England schon lange nicht erlebt“, begann Amery. „Ich muß gestehen, die Stimmung der Wähler ist offenkundig gegen den Premier. Die Sympathien sind auf seiten derer, die kompromißlose und entschlossene Aktionen gegen Hitler vorschlagen.“ „Das habe ich bereits in Betracht gezogen, mein lieber Lord“, entgegnete Churchill. Seine Stimme hatte einen tiefen, sonoren Klang; er knetete die Worte, daß sie wie in einem hohlen betonierten Schacht hallten. „Ja, das habe ich berücksichtigt. Mag der Premier zu den Wahlen ruhig mit der Besänftigungspolitik auftreten. Gerade deshalb werden unsere Losungen den seinen diametral entgegengesetzt sein. Wir werden ja sehen, wer wen schlägt! Man kann auf verschiedenen Wegen
zum gleichen Ziel gelangen. Notfalls muß man auch mal auf Wahlversammlungen den Wählern nach dem Munde reden. Das macht sich später bezahlt. Die Hauptsache – man kommt an die Macht. Ich brauche Macht!“ Churchill hob den Arm von der Schaukelstuhllehne und ließ die Faust schwer auf den Tisch fallen. In der Tür erschien der Diener mit Tee und Kognak auf einem Tablett. Der Hausherr schwieg, solange der Diener im Raum war. Die geballte Faust hatte er auf dem Tisch liegenlassen. „Ich brauche Macht!“ wiederholte er, als der Diener gegangen war. Sein Gesicht hatte einen gierigen Ausdruck angenommen. „Vor drei Jahrzehnten habe ich meine Ministerlaufbahn begonnen und bisher sieben Ministerposten bekleidet, aber noch nie bin ich Premierminister gewesen. Jetzt möchte ich es sein und werde es sein! Ich hole dem Empire den entschwundenen Ruhm zurück.“ Wieder schlug er mit der Faust auf den Tisch. Als er sich beruhigt hatte, fragte er: „Und wie steht man draußen zu den Russen?“ „Ich sprach mit Hafenarbeitern. Sie sind etwas geradezu in ihren Urteilen. Nach ihrer Meinung nehmen die Russen eine richtigere Haltung in bezug auf Hitler ein. Chamberlain nennen sie einen schlechten Torwart, der die Bälle ins eigene Tor schießt. Alle sind höchst unzufrieden mit dem schleppenden Gang der Moskauer Verhandlungen.“ Churchill trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. Nach einigem Nachdenken sagte er: „Pas ist eine sehr komplizierte Frage. Rätselhaft, woher die rußlandfreundlichen Stimmungen nach England infiltriert werden! Aber das wird sich nicht ändern, solange die Sowjets existieren. Erst wenn sie von der politischen Karte der Welt
getilgt sind, wird sich das Blatt wenden. Apropos, haben Sie die letzte Meldung aus Deutschland gelesen? Ich hatte angeordnet, daß sie Ihnen zugeschickt wird. Äh, äh… Wie heißt er doch gleich, unser Gewährsmann?“ Churchill schnippte mit den Fingern, bemüht, sich an den Decknamen des Mannes zu erinnern, kam aber nicht darauf und nannte deshalb den richtigen Namen: Gisevius. Amery half Churchills Gedächtnis nach: „Nummer einunddreißig, Deckname Valet.“ „Ganz richtig! Unsere Trumpfkarte in Deutschland. Entsinnen Sie sich, was er über die Stimmungen in den Kreisen der deutschen Geschäftsleute und Militärs mitteilt? Sie unterstützen Hitler in seiner ,Drang-nach-Osten’-Politik. Das kann uns nur recht sein. Die Militäropposition gegen den Führer muß wieder auf Eis gelegt werden, wie vor München. Ich habe Anweisung gegeben, Gisevius’ Anfrage unbeantwortet zu lassen. Sollen sich die Ereignisse selbst entwickeln. Von Danzig nach Moskau ist es näher als von Berlin aus. Glauben Sie mir, Hitler bleibt nicht auf halbem Wege stehen. Seine Kriegsmaschine hat eine große Schwungkraft, sie braucht nur in Bewegung gesetzt zu werden. Wir werden Hitler nicht hindern, soll er ruhig nach Osten marschieren – je weiter, desto besser. Lassen wir ihm dort Handlungsfreiheit, so wie Ribbentrop mich gebeten hat.“ Churchill besann sich noch gut auf das Gespräch, das vor zwei Jahren von ihm und Ribbentrop in seinem Arbeitszimmer geführt worden war. Ribbentrop war damals deutscher Botschafter in London. Sie standen beide vor der Karte Europas, und Ribbentrop legte seinen Standpunkt dar. Der deutsche Botschafter suchte zu beweisen, wie nötig ein englisch-
deutsches Bündnis, ja eine enge Freundschaft zwischen beiden Staaten sei. Deutschland könnte England Schutz bieten. Wichtig sei nur, daß England ihm in Osteuropa freie Hand lasse. Ribbentrop war offen, er sagte unverblümt: „Für den künftigen Bestand des Deutschen Reichs brauchen wir unbedingt die Ukraine und Weißrußland. Von Ihnen erwarten wir nur, daß Sie sich nicht einmischen.“ Churchill hatte ausweichend geantwortet. Er gab zu verstehen, daß alles von dem Nutzen abhinge, der England daraus ersprieße. Lord Amery wandte ein: „Sie wollen Hitler in Rußland einmarschieren lassen und seine Position dort stärken? Das dürfte kaum günstig für uns sein.“ Amery dachte an seine Aktien. „Hitler stärken?“ Churchill lachte laut auf. „Das sieht mir nicht ähnlich! Stark werden darf nur Britannien. Im Gegenteil, Hitler nach dem Osten lassen, heißt sowohl die Russen wie die Deutschen entkräften, sie schwächen. Erinnern Sie sich an das Jagdgemälde ,Der Zweikampf’ mit dem verendenden Krokodil, in dessen Rachen ein Tigerkopf steckt? Gerade so einen Zweikampf brauchen wir. Mögen sich die beiden selber aussuchen, wer von ihnen das Krokodil und wer der Tiger sein will. Das interessiert mich wenig. Für die öffentliche Meinung in England aber werden wir eine andere Haltung einnehmen – wir müssen gegen ein Abkommen mit Hitler auftreten. Im Wahlkampf ist ein solches Mittel erlaubt. Die Wähler sind das Pferd, auf das wir setzen müssen, als wären wir beim Rennen. Großbritannien braucht in der Regierung eine starke und doch gelenkige Hand! Erkennen Sie die meinem Plan zugrunde liegende Absicht?“ Im Grunde waren das auch die Gedanken von Amery. Chur-
chill hatte sie nur bündiger, konkreter und vielleicht zynischer ausgesprochen. Mit seinen dreiundzwanzig Jahren hatte Robert Crawshow es bereits fertiggebracht, seinen Beruf einige Male zu wechseln. Eine Zeitlang arbeitete er als Schiffsjunge auf dem Passagierdampfer „Antäus“, der die Strecke Le Havre-London fuhr, dann war er nacheinander Dockarbeiter und Taxischofför, und gegenwärtig – seit einem Jahr – arbeitete er auf einer Tankstelle. Man kann nicht gerade sagen, daß Robert mit seiner neuen Tätigkeit sehr zufrieden war. Es machte ihm keine große Freude, von morgens bis abends neben der Benzinsäule zu stehen, den Staub von den Autos zu wischen, Wasser in die Kühler zu gießen, Öl zu erneuern oder kleine Motordefekte zu beheben. Immerhin war es aber besser als nichts. Crawshow hatte seine zwei Pfund acht Schilling die Woche, nicht gerechnet die Trinkgelder, mit denen ihn die Autobesitzer zuweilen bedachten. Gewiß, sein Chef, der schweigsame Stone, der die Tankstelle gepachtet hatte, war auch nicht gerade ein Krösus. Ohne den kleinen Verkaufsstand, den Mrs. Stone auf dem Bahnhof hatte, würde der Alte kaum zurechtkommen. Aber das war Stones persönliche Angelegenheit. Robert beunruhigte etwas anderes – bei dieser Sachlage würde schwerlich etwas aus der versprochenen Lohnerhöhung werden. Hinzu kam noch der Umstand, daß Stone eines Tages verlangt hatte, Robert solle die Trinkgelder an ihn abliefern. Das ging denn doch zu weit! Robert lehnte das Ansinnen glattweg ab – der Tankstellenpächter zürnte ihm deswegen bis heute. Sollte er ruhig! Die Tankstelle mit dem orangefarbenen Reklameschild und der
Meermuschel darauf – dem Firmenzeichen der Ölgesellschaft – war ja nicht die ganze Welt. Diese Begebenheit bewog Robert auch, an eine neue Arbeitsstelle zu denken, was wiederum Geschehnisse zur Folge hatte, die sein ganzes Leben verändern sollten. Im Frühjahr, vor drei Monaten also, gleich nach dem unliebsamen Gespräch mit Mr. Stone, fuhr Robert mit einem Lastauto nach Hause, dessen Fahrer, ein Bekannter, ihn mitgenommen hatte. An der Omnibushaltestelle in der Siedlung sprang er aus dem Führerhäuschen. Da hörte er hinter seinem Rücken eine lustige Stimme rufen: „Hallo, Crawshow! Du fährst wohl schon ‘nen eigenen RollsRoyce?“ Robert blickte sich um. Auf dem Bürgersteig stand Jimmy Page, ein Schulkamerad von ihm, mit dem er früher befreundet war. In letzter Zeit hatten sie sich selten getroffen. Robert wußte, daß Jimmy im Hafen als Shipchandler arbeitete – er versorgte ausländische Dampfer mit Proviant. Page hatte sichtlich Erfolg im Leben – er trug einen piekfeinen Anzug und neue Schuhe. „Nanu, schlechte Laune heute? Paß auf, am Ende gerinnt noch die Milch von deiner Leichenbittermiene.“ Jimmy wies mit dem Kopf auf einen Milchlieferwagen. „Laß sein, Jimmy, meine Laune ist wirklich nicht die beste.“ „Was ist denn passiert, Bob?“ fragte Jimmy in verändertem Ton. „Ich muß mir einen neuen Job suchen.“ „Warum denn?“ Die ehemaligen Schulfreunde gingen zusammen weiter. Robert erzählte von den jüngsten Begebenheiten. „Wahrscheinlich kann ich dir helfen, Bob“, sagte Jimmy.
„Hast du Lust, nach Colombo zu fahren? Die Firma Lipton sucht Leute. Der Vertrag wird auf fünf Jahre geschlossen. Wenn du kein Dummkopf bist, wirst du dir ein Bankkonto zulegen können.“ „Augenblicklich bin ich bereit, selbst zu des Teufels Großmutter zu fahren. Meinetwegen kann’s auch Ceylon sein. Wie stellt man das an?“ „Weißt du“, erwiderte Jimmy, „ich habe mit der Firma Lipton zu tun. Wir bekommen jede Woche für unsere Kunden Tee von ihrem Lager. Das ist nicht weit von den Royal Docks. Ich habe dort einen Bekannten, der hat es mir erzählt. Und außerdem…“ Jimmy stockte. „Ach, das ist unwichtig… Wenn du willst, gebe ich dir die Adresse des Lagerleiters.“ Anderntags suchte Robert den ihm von Jimmy genannten Lagerleiter auf. Mit Mr. Stone hatte er vereinbart, daß er später zur Arbeit kommen würde. Das Liptonsche Großhandelslager zu finden war nicht schwer. Es zog sich am Kai, unmittelbar am Themseufer hin. Dagegen war es weit schwieriger, das kleine Kontor zu entdecken, von dem Jimmy gesprochen hatte. Schließlich fand er es in einer mit hohen Stapeln von Sperrholzkisten umstellten Ecke eines kühlen, halbdunklen Lagerschuppens. Robert trat durch die Glastür in einen winzigen Raum, dessen ganzes Mobiliar aus zwei Kontortischen und zwei Eichenstühlen bestand. Es war hier etwas heller als im Schuppen. Das Licht fiel von oben durch ein trübes, vergittertes Fenster herein. An einem der Tische saß ein hübsches, brünettes Mädchen. Sie hob den Kopf und blickte Robert fragend an. „Entschuldigen Sie, kann ich Mister Stinebock sprechen?“ fragte Robert unsicher. Ihm schien, er habe sich verirrt. Ein
Lagerleiter konnte doch unmöglich in einem solchen Loch hausen! „Nein, Mister Stinebock wird nicht vor einer Stunde dasein“, antwortete das Mädchen. „Wenn Sie wollen, können Sie hier warten. Er ist jetzt am Anlegeplatz.“ „Oh, das ist aber dumm!“ sagte Robert betrübt. „So lange werde ich nicht warten können.“ „Dann kommen Sie vielleicht ein anderes Mal wieder?“ Robert stand unentschlossen neben dem Tisch und überlegte, was er tun sollte. „Wenn Sie erlauben, warte ich ein wenig. Ich habe nicht viel Zeit, müssen Sie wissen.“ „Bitte sehr. Nehmen Sie Platz.“ Robert setzte sich und legte den Hut auf die Knie. Im stillen schalt er sich bereits seines plötzlichen Entschlusses wegen – nun konnte er hier vielleicht eine Ewigkeit sitzen. Und dann noch so blöde zu sagen, daß er wenig Zeit habe. Was sie das schon interessieren konnte! Hatte er keine Zeit, durfte er eben nicht warten… Zu dumm, da saß er nun wie ein Ölgötze auf der Stuhlkante und schwieg… Unauffällig beobachtete er das in seine Tätigkeit vertiefte Mädchen. Ab und zu fielen ihr die kastanienbraunen Haare ins Gesicht, die sie jedesmal mit einer Handbewegung wieder zurückwarf. Die leichte grüne Bluse paßte zu ihrem dunklen Gesicht mit dem weichen Kinn und dem geraden Näschen. Die Linien der kleinen Brüste markierten sich zart unter den Blusenfalten. Sie mußte wohl gefühlt haben, daß der junge Mann sie anstarrte, denn sie hob den Kopf. Ihre Blicke begegneten sich. Das Mädchen runzelte die Brauen, während Robert mit dem Stuhl rückte und fragte:
„Sagen Sie, könnte ich Mister Stinebock nicht am Anlegeplatz finden?“ Dabei wollte er Mr. Stinebock jetzt gar nicht mehr suchen, viel lieber wollte er hier sitzen bleiben, in dem kleinen, engen Kontor des Teelagers – aber irgend etwas mußte er doch sagen, also hatte er gesagt, was ihm gerade auf die Zunge gekommen war. „Nein, Sie werden ihn allein nicht finden“, antwortete das Mädchen. „Übrigens, wenn Sie wollen, kann ich Sie begleiten. Ich muß Papiere hinbringen.“ Sie verließen gemeinsam das Kontor und gingen zur Themse. Crawshow fühlte sich merkwürdig befangen. „Mister Stinebock muß dort sein“, sagte das Mädchen und wies auf einen Schoner. Leichtfüßig lief sie das Fallreep hinauf, einem Schauermann geschickt ausweichend, der ihr mit einer großen Kiste Tee entgegenkam. Robert wartete, bis der Schauermann unten war, und stieg dann ebenfalls zum Schoner hinauf. „Er steht neben der ersten Ladeluke. Den Rückweg werden Sie doch hoffentlich allein finden? Auf Wiedersehen!“ Robert sah dem sich entfernenden Mädchen in der grünen Bluse nach. Sie drehte sich noch einmal um und winkte ihm freundlich mit der Hand zu. Das ist nun alles, dachte Robert. Ihm war, als kenne er dieses Mädchen schon lange und müsse sich nun unbegreiflicherweise für immer von ihm trennen. Er unterdrückte einen Seufzer und machte sich auf die Suche nach Stinebock. Stinebock, ein hochgewachsener, schwachsichtiger Mann mit Hängeschultern und schlaffem, faltigem Gesicht, hörte Robert an, stellte ihm ein paar Fragen und versprach ihm
schließlich, sich der Sache anzunehmen. „Kommen Sie am Donnerstag wieder, um die gleiche Zeit“, sagte er, als Robert sich verabschiedete. „Ich werde versuchen, die Situation bis dahin zu klären. Aber machen Sie sich darauf gefaßt, daß Sie sehr bald fahren müßten, unter Umständen schon in der nächsten Woche. Alles Nähere wird Ihnen die Direktion mitteilen.“ Robert ging denselben Weg zurück, den er gekommen war. Nachdenklich schlenderte er den Kai entlang. Seltsam – obwohl er gar keinen Grund dazu hatte, empfand er eine innere Unruhe. Warum eigentlich? Alles war doch gut gegangen. Er hatte keine Absage bekommen – im Gegenteil! Wie die Bedingungen dort auch sein mochten, sie würden auf jeden Fall besser sein, als er sie hier in London hatte. Ob er wohl schon in einer Woche übers Meer fuhr? Sicherlich war das auch der Grund für die Unruhe in ihm, eine Unruhe, wie sie immer vor schwierigen Entschlüssen über einen kommt. Übrigens – interessant, wie dieses Mädchen wohl hieß. Robert kam an einer auf Stapeln liegenden Barkasse vorbei. Da erst merkte er, daß er etwas früher nach rechts hätte abbiegen müssen. Als er kehrtmachte, sah er das Mädchen in der grünen Bluse, das auf ihn zukam. Sie entdeckte ihn ebenfalls. „Also haben Sie sich doch verlaufen?“ Sie lachte. „Ich sehe schon, man darf Sie nicht sich selbst überlassen. Kommen Sie, ich führe Sie aus unserem Teereich heraus. Nun, haben Sie Mister Stinebock gefunden?“ „Ja, danke. Am Donnerstag soll ich wieder bei ihm vorsprechen. Er wird mir dann Positives mitteilen.“ „Etwa wegen Ceylon?“
„Ja. Woher wissen Sie?“ „Mein Onkel verspricht allen, sie unterzubringen. Er tut so, als hinge das von ihm ab. Aber sonst ist er ein guter alter Opa.“ „Dann heißen Sie also auch Stinebock?“ „Nein, er ist ein Bruder meiner Mutter. Mein Name ist Grey, Kate Grey.“ „Und ich heiße Robert. Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben.“ „Das sagen alle, wenn man sich vorstellt.“ „Nein, Ehrenwort. Wohnen Sie in East End?“ Sie gingen nebeneinander. Verglichen mit dem breitschultrigen Robert sah Kate wie ein kleines Mädchen aus. Er war einen Kopf größer als sie. „Ja, ich wohne ganz in der Nähe“, erwiderte Kate. „Fünf Minuten mit dem Omnibus. Ich fahre sogar zum Lunch nach Hause. Das ist angenehmer. Jetzt ist es scheint’s gerade wieder soweit. Mein Onkelchen ist sehr streng, er läßt mich nie früher weg. Mit Verwandten soll man besser nicht zusammen arbeiten. Meinen Sie nicht auch?“ „Ich weiß nicht. Ich habe mal mit meinem Vater zusammen gearbeitet, er war aber nicht mein Vorgesetzter.“ Robert und Kate überquerten den Damm einer Schmalspurbahn und gingen die mit Kopfsteinen gepflasterte Steigung hinauf. Robert wollte den kurzen Spaziergang vom Kai bis zur Tür des Lagerschuppens möglichst in die Länge ziehen. Doch schon waren sie an dem hohen gelben Tor, das Kate verschlucken würde. Da strauchelte das Mädchen plötzlich mit einem Aufschrei, tat noch ein paar unsichere Schritte und blieb stehen.
„Was ist mit Ihnen?“ fragte Robert, der sie gehalten hatte, erschrocken. Sie furchte die Stirn, biß sich vor Schmerz auf die Lippe, und in ihre Augenwinkel traten zwei Tränen. „Sagen Sie doch, was mit Ihnen ist!“ wiederholte er. „Ich weiß nicht. Ich glaube, ich habe mir den Fuß verstaucht…“ Kate erreichte mit Roberts Hilfe eine graue Steinbank, zog den Schuh aus und begann die schmerzende Stelle vorsichtig zu reiben. „Ach, es ist wohl nichts Schlimmes, es geht schon wieder. Nur im ersten Augenblick tat es so weh… Irgendwie schaff ich’s schon bis nach Hause. Es war vor allem der Schreck. Sie können sich ja nicht vorstellen, was für ein Hasenfuß ich bin. Was soll bloß mit mir werden, wenn es Krieg gibt?“ „Gestatten Sie, daß ich Sie begleite?“ fragte Robert. „Gern, aber nur, wenn es Ihnen keine Ungelegenheiten bereitet. Sie sagten doch, Sie hätten keine Zeit…“ Schelmisch blickte sie ihn an. Und als sie dann lächelte, zeigten sich auf ihren Wangen kleine längliche Grübchen. „Ach, macht nichts! Dann wird eben Mister Stone ein wenig brummen. Ich werd ja sowieso nicht mehr bei ihm arbeiten.“ „Wer ist denn dieser Stone?“ „Mein Chef. Ich arbeite bei ihm als Mechaniker.“ Robert sprach nur die halbe Wahrheit. Er hatte sich eigentlich noch nie seiner Arbeit geschämt, aber vor seiner neuen Bekannten wollte er zeigen, daß er in der Gesellschaft eine Stufe höher stand, als es tatsächlich der Fall war. Außerdem war er wirklich mal Mechaniker gewesen. Daß er jetzt wie ein ungelernter Arbeiter Wagen waschen und Benzin in Autotanks
füllen mußte, war schließlich eine vorübergehende Sache und nicht von Bedeutung. Sie saßen noch einige Minuten auf der von der Sonne erwärmten Steinbank und gingen dann zur Bushaltestelle. Kate, die hinkte, stützte sich vertrauensvoll auf den Arm des breitschultrigen jungen Mannes, und Robert war zufrieden, daß er Gelegenheit hatte, dem Mädchen einen wenn auch nur kleinen Dienst zu erweisen. Am Donnerstag war Robert wiederum in dem kleinen Kontor des Liptonschen Lagers, Es verdroß ihn, daß er dort nur Mr. Stinebock antraf. Vielleicht war Kate krank? „Na, junger Mann“, sagte Mr. Stinebock ohne weitere Einleitung, „Sie können mir dankbar sein. Ich habe mit dem Direktor gesprochen. Sie sollen in die Verwaltung kommen, den Vertrag abschließen. Montags ist dort Abfertigung.“ Da es sonst nichts zu besprechen gab, blieb Robert nichts anderes übrig, als sich zu verabschieden. Er scheute sich, nach Kate zu fragen, aber als er hinausging, wurde ihm klar, daß sie in der Nähe sein mußte, denn er sah auf ihrem Tisch nichtweggeräumte Papiere. Daß er das nicht früher gemerkt hatte! Seine Stimmung hob sich. Er beschloß, auf Kate zu warten. Langsamen Schrittes begab er sich zum Ausgang, um sich dann dem Fluß zuzuwenden und auf der Steinbank Platz zu nehmen. Hier mußte Kate unbedingt vorbeikommen. Wahrscheinlich war sie wieder zur Anlegestelle gegangen. Robert steckte sich eine Zigarette an und blickte ungeduldig auf das Ende des schmalen Durchgangs zwischen den Wellblechwänden. Aber Kate tauchte von der entgegengesetzten Seite her auf.
„Was machen Sie denn hier?“ Robert war so überrascht, daß er zusammenfuhr. Doch dann erhellte sein Gesicht ein offenes Lächeln. Er stand auf, um Kate entgegenzugehen. „Ich habe auf Sie gewartet, wollte mich nach Ihrem Befinden erkundigen…“ Die bräunlichen Wangen des Mädchens überlief eine leichte Röte. Robert sah es und freute sich darüber. Diesmal verabredeten sie, das nächste Weekend gemeinsam zu verbringen. Sie wollten am Sonntag eine Dampferfahrt nach Windsor machen. Kate war noch nie dort gewesen. Im Park von Windsor Castle gab es wundervolle Partien. Aber auch schon die Fahrt themseaufwärts würde bezaubernd sein. Am Samstagabend sagte Robert zu seiner Mutter: „Mam, heute kann ich dir nicht alles Geld geben. Ich möchte morgen nach Windsor fahren.“ Selbstverständlich war Mrs. Crawshow über diese Nachricht nicht sehr erbaut. Auf ein Pfund Sterling Haushaltsgeld zu verzichten, war keine Kleinigkeit. Da sie aber keine knauserige Natur war, bemühte sie sich, die Sache von der scherzhaften Seite zu nehmen. „Du willst doch nicht etwa dem König einen Besuch abstatten? Der ist doch diesen Sommer noch gar nicht dahin übergesiedelt. Oder erwartet dich am Ende eine Prinzessin dort?“ Ein verschmitztes Lächeln glitt über das Gesicht der Mutter. Robert und Kate verlebten zusammen einen wunderschönen Sonntag. Sie trafen sich zur verabredeten Zeit an der Dampferanlegestelle. Robert war früher gekommen, um die Fahrkarten zu lösen, und als Kate kam, gingen sie gleich auf den Dampfer. So belegten sie auch die besten Plätze – auf der
ersten Bank unter dem Sonnensegel. Von dort aus konnte man alles sehen. Kate freute sich wie ein Kind. In den drei Stunden, die der Dampfer bis nach Windsor brauchte, unterhielten sie sich so angeregt, daß sie gar nicht merkten, wie die Zeit verging. „Demnach ist Jimmy Page also ein guter Freund von Ihnen!“ erinnerte sich Kate. „Wie klein doch London ist! Überall findet man gemeinsame Bekannte!“ „Ja, Jimmy war es auch, der mich an Mister Stinebock verwies.“ „Ich kenne ihn auch, er ist häufig bei uns im Lager. Kommt ins Kontor, setzt sich hin und sitzt. Ein komischer Kauz…“ Robert war es, als hätte Kate noch etwas sagen wollen. „Warum komisch?“ „Ich weiß nicht. Als er vorgestern kam, lud er mich zu heute ins Kino ein, aber ich sagte ihm, daß ich mit Ihnen nach Windsor fahre. Ich schlug ihm vor mitzukommen, doch das wollte er nicht.“ „Tut Ihnen das leid?“ „Er ist so lustig.“ Roberts Gesicht hatte sich verfinstert. Wie schnell einem doch die Laune verdorben werden kann! Aber das währte nicht lange. Er konnte Kate nicht böse sein. Der Dampfer näherte sich Windsor. Die Fahrgäste waren aufgestanden und drängten sich am Ausstieg. Kate und Robert gingen als letzte an Land und wanderten das Ufer entlang, Robert bepackt mit Plaid und Picknickkörbchen, die Kate mitgenommen hatte. Dann genossen sie den Anblick des Königsschlosses mit den alten Türmen, sonnten sich am Strand und aßen belegte Brote aus Kates Picknick-
körbchen. Vorher hatte sich das Mädchen ein paar Minuten hinter die Weidenbüsche zurückgezogen und sich dann in einem hellblauen Badeanzug präsentiert, eine weiße Möwe mit entfalteten Schwingen auf der Brust. Kate wollte unbedingt baden, aber das Themsewasser war noch kalt, und Robert protestierte. Kate machte ein kokettes Schmollmündchen, gab aber nach und verschwand wieder hinter den Büschen, diesmal, um sich anzukleiden. Später durchstreiften sie die Landschaft um Windsor, gelangten an den Rand eines Eichenhains und hatten plötzlich freies Gelände vor sich. Eingebettet in Feldern, lag etwa eine Meile von ihnen entfernt ein winziges Dorf mit ziegelgedeckten Häuschen. „Sehen Sie nur, wie hübsch!“ rief Kate. „Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal in einem Dorf war. Gehen wir dorthin!“ Sie nahmen sich bei den Händen und schritten langsam einen Feldweg entlang. Der Frühling hatte gerade erst Einzug gehalten, und das Grün der Bäume ebenso wie das duftende Gras und die Wolken am durchsichtigen Himmel wirkten besonders zart. Die Augen geschlossen, das Gesicht der Sonne zugewandt, ging Kate an Roberts Seite, der darauf bedacht war, daß sie nicht fehltrat. „Sie sind wie eine Sonnenblume“, sagte er lachend. „Sie wenden sich dauernd der Sonne zu.“ „Ich habe die Sonne sehr gern, vor allem, wenn sie so schön warm ist.“ Kate schlug die Augen auf. „Sehen Sie nur, wie weit ich gegangen bin! Als Kind hat es mir großen Spaß gemacht, mit geschlossenen Augen zu gehen. Man geht und geht, ist dabei unruhig und ängstlich, fühlt sich dauernd ver-
sucht, die Augen zu öffnen, und tut man es schließlich, dann ist man ganz woanders, weit, weit weg…“ Als es Abend wurde, kehrten sie um. Sie gingen denselben Weg, den sie gekommen waren; erst dicht an der Themse bogen sie nach links ab und hielten sich längs der Einfriedung des Parks von Windsor Castle. Immer mehr Spaziergänger tauchten auf, aber Robert und Kate, ineinander versunken, achteten auf niemand. Ganz automatisch machten sie den Entgegenkommenden auf dem schmalen Parkweg Platz und merkten auch nicht, daß jemand sie raschen Schrittes überholte und schnell Abstand von ihnen gewann. „Das ist doch Jimmy!“ rief Kate plötzlich. „Jimmy! Jimmy, warten Sie!“ Der Mann vor ihnen blickte sich aber nicht um, er beschleunigte im Gegenteil seine Schritte. Robert hatte ebenfalls Jimmy Page erkannt. Kein Zweifel, das war er! Aber warum freute sich Kate so darüber? Robert überkam wieder Argwohn wie auf dem Dampfer. Unvermittelt gab er Kates Arm frei und schwenkte in einen Seitenpfad ein. Beide gingen eine Weile schweigend nebeneinander. „Robert, was haben Sie?“ fragte Kate schließlich. Er blieb stehen und kehrte sich ab. „Ich bin kein Spielzeug, Kate. Sie hätten mit Jimmy fahren sollen.“ „Bob, wie dumm Sie doch sind! Bob…“ Die Stimme des Mädchens klang flehentlich und gekränkt zugleich, aber auch noch etwas anderes hörte er aus ihr heraus. Robert sah Kate an. Sie stand vor ihm, ganz nah, ihr Kleid streifte ihn. Weshalb tat er ihr weh? Sein Herz erfüllte eine solche Zärtlichkeit, daß er sich nicht länger beherrschen
konnte – er umarmte Kate. Robert fühlte, wie Kate sich an ihn schmiegte, fühlte, daß ihre Lippen seinen Kuß erwiderten… Auf dem Deck des Dampfers war es kühl, und Robert schlug vor, in die Kajüte hinunterzugehen. Unten saßen sie dann nebeneinander. Kate, müde von dem erlebnisreichen Tag, lehnte sich an Roberts Schulter und schlief ein. Er aber saß während der ganzen Fahrt stocksteif da und wagte nicht, den erstarrten Arm zu bewegen, aus Angst, den Schlaf des Mädchens zu stören. Von nun an verbrachten sie jedes Wochenende gemeinsam. Obwohl Robert sich ein Leben ohne Kate nicht mehr vorstellen konnte, sprach er an einem der kommenden Montage in der Verwaltung der Firma Lipton vor. Er fand dort tatsächlich jenen Mann, dessen Namen Stinebock ihm genannt hatte, doch war das nicht einmal ein Namensvetter des Direktors. Robert wurde an einen Clerk verwiesen, dem es oblag, Besucher abzufertigen. Von Mr. Stinebock wollte der Clerk noch nie etwas gehört haben. Wer war er, daß er sich unterstand, den jungen Bewerber zu empfehlen? Dennoch hörte er ihn liebenswürdig an, vielleicht weil er eitel war – Robert hatte ihn versehentlich mit „Herr Direktor“ angeredet –, notierte seine Adresse und versprach zu tun, was in seiner Macht stand. Ein paar Wochen darauf, im Juli, erhielt Robert ein offizielles Schreiben mit der Nachricht, daß seiner Bitte entsprochen sei und er, Robert D. Crawshow, wohnhaft dort und dort, einen Vertrag für die Arbeit auf den Teeplantagen der Firma Lipton unterzeichnen könne. Damit begannen für ihn die Aufregungen. Kate auf fünf Jahre zu verlassen, wollte ihm einfach
nicht in den Kopf, anderseits mochte er aber auch nicht länger bei dem Geizkragen Stone bleiben. Mit den Bettelpfennigen, die er von diesem erhielt, konnte er sich nicht mehr zufriedengeben, und erst recht nicht, wenn er heiratete. Daran dachte er jetzt immer häufiger. Er mußte wählen – zwischen seiner Liebe und einem gesicherten Leben. Zwei Tage quälte er sich, hin und her gerissen zwischen dem einen und dem anderen, denn er wollte Kate, wenn er sie das nächstemal wiedersah, seinen endgültigen Entschluß mitteilen – so oder so. Es war ungefähr eine Stunde vor Arbeitsschluß, als Robert plötzlich die Entscheidung traf – er fährt nicht! Um sich der Sache ein für allemal zu entledigen, bat er die Tochter seines Chefs um Papier und einen Umschlag, setzte sich hin, schrieb an die Firma und steckte das Schreiben sofort in den Briefkasten. Als sie sich am Abend trafen, sagte Robert: „Weißt du, Kate, ich habe die Stelle in Colombo abgelehnt. Wir bleiben zusammen. Ich hab dich sehr lieb, Kate.“ Das Mädchen blickte ihn an. „Das war recht von dir, Bob. Aber was wirst du nun tun?“ „Ach, es wird sich schon alles finden, Kate. Wenigstens fühle ich mich jetzt frei, und ich behalte dich. Alles andere ist mir gleich. Wann heiraten wir, Kate?“ An jenem Abend kamen sie überein, Anfang September, an Kates Geburtstag, Verlobung zu feiern, die Hochzeit aber bis zum Winter aufzuschieben. Vielleicht würde Robert bis dahin auch eine bessere Arbeit finden. Einstweilen aber stand er weiterhin jeden Tag neben der Benzinsäule, wusch Wagen, goß Wasser in die Kühler und
reparierte Motorschäden. Was er an Trinkgeldern erhielt, lieferte er an Stone ab. Der Alte hatte seinen Kopf durchgesetzt, wollte es Robert doch jetzt nicht mehr darauf ankommen lassen, sich mit ihm endgültig zu überwerfen. Für Theo Kordt, den deutschen Botschaftsrat in London, war die Stellung des Diplomaten dasselbe wie seinerzeit, als er noch in den Straßen fremder Städte umherziehen mußte, der Beruf des Kesselflickers oder des Leierkastenmannes. Denn der diplomatische Dienst war für ihn nur der Deckmantel, unter dem er seine wahre Tätigkeit verbarg: Theo Kordt war berufsmäßiger Spion. Botschafter von Dirksen kannte den Charakter seines Botschaftsrats sehr gut. Kordt war ein Spieler, dem es gleich war, auf welches Pferd er setzte. Ob es Hindenburg oder Hitler, Ebert oder ein anderer war, interessierte ihn wenig. Hauptsache kein Roter! In dieser Hinsicht stimmten die Auffassungen Dirksens und seines Botschaftsrats überein. Im übrigen war es für Kordt wichtiger als alles andere, zu wissen, auf wen zu setzen am vorteilhaftesten war. Und dafür hatte er eine erstaunliche Nase. Seinen Londoner Aufenthalt verglich Kordt mit den vorgeschobenen Stellungen in Flandern oder an der Somme, wo er im ersten Weltkrieg vier Jahre lang Kompanieführer gewesen war. Er war nach wie vor Soldat. Zwar hatten sich die Methoden und die Umgebung geändert, nicht aber die Prinzipien. Kordt galt als erfahrener Diplomat; eben aus diesem Grunde entschloß sich Dirksen, ihn mit einem so delikaten Auftrag zu betrauen. Es handelte sich darum, daß der Botschafter kurz
nach Wohlthats Abreise nach Berlin ein chiffriertes Telegramm vom Auswärtigen Amt erhalten hatte, in dem Staatssekretär von Weizsäcker seiner Unzufriedenheit über das Gespräch mit Horace Wilson Ausdruck verlieh. Ob die britische Regierung die Verhandlungen mit Moskau einstellen würde oder nicht, war ja auch wirklich eine naheliegende Frage. Unverständlich, warum der Ministerialdirektor es unterlassen hatte, sie an Wilson zu richten. Ferner war Weizsäcker darüber ungehalten, daß Nachrichten über die Unterredung zwischen Wohlthat und Hudson in die Presse gesickert waren. Da sollte man nun dementieren und beweisen, daß die Sache sich anders verhielt, wo alle Zeitungen voll von Vermutungen und Gerüchten waren. Es war also nicht geglückt, die Verhandlungen geheimzuhalten. Einen Teil der Schuld nahm der Botschafter auf sich. Ein zu dummes Versäumnis! Wahrscheinlich hatte Wohlthat von Göring anständig eins auf den Kopf bekommen. Möglicherweise wußte auch schon der Führer davon. Das Versäumte mußte schnellstens nachgeholt werden. Wem, wenn nicht Kordt, sollte man diese Aufgabe anvertrauen! Der würde schon das Ungeklärte klären. Und was die Zeitungen betraf, so mußte er, Dirksen, den Viscount anrufen – die reinsten Klatschbasen sind doch diese englischen Diplomaten! Theo Kordt besaß die Ausdauer und Geduld eines Scharfschützen. Seine Tätigkeit war für ihn das reinste Vergnügen, er berauschte sich daran und zitterte innerlich vor Ungeduld, bevor er an die Ausführung einer Aufgabe ging. Wenn aber alles durchdacht und erwogen war, bewahrte er eisige Ruhe. Einige Tage ließ Kordt verstreichen, ohne das Geringste zu unternehmen. Er rechnete dabei so: Wenn die Engländer
wirklich Berührungspunkte suchen, werden sie nicht lange schweigen. Erhalten sie keine Antwort, dann werden sie selbst versuchen, mit den Deutschen in Kontakt zu kommen. Diese Erwägung erwies sich als richtig. Es war noch keine Woche vergangen, als in Kordts Wohnung ein ehrenwerter Quäker namens Charles Rhoden Buxton anrief. Kordt wußte, daß Buxton politische Gutachten für die Labourpartei ausarbeitete. Er hatte ihn mehrere Male auf offiziellen Empfängen getroffen, kannte ihn aber nicht näher. Zunächst wurden einige höfliche Worte gewechselt. Dann fragte Buxton, ob Herr Kordt nicht Lust habe, eine private Unterhaltung mit ihm zu führen, unter vier Augen und ganz unverbindlich. Aus welchem Anlaß? Einfach so, ohne besonderen Anlaß. Ein wenig plaudern und Gedanken austauschen, wie es gute, alte Freunde tun… Sie verabredeten sich für den nächsten Tag. Die Zusammenkunft fand in der Wohnung von Kordt statt. Der Botschaftsrat wohnte außerhalb der Botschaft, ja sogar in einem anderen Stadtteil. Für seine Arbeit war das günstiger. Der von Kordt instruierte Diener wies den Gast in den Salon, doch bevor Buxton diesen betrat, händigte er dem Diener seine Visitenkarte aus mit der Bitte, sie zu übergeben. Vor Kordt stand ein betagter Engländer mit einem schütte1ren grauen Löckchenkranz um den großen Kopf. Alles an ihm machte einen altmodischen Eindruck, von dem scheinheiligen Gesicht bis zu der gelbkarierten Weste und den engen braunen Hosen, die offenbar noch aus der Regierungszeit der Königin Viktoria stammten. Buxton nahm unweit vom Fenster Platz, und im Licht des Sommertages leuchtete der dünne Flaum auf seinem Kopf wie ein Heiligenschein.
„Mich beunruhigt die internationale Lage“, sagte Buxton, als er schließlich auf den Zweck seines Besuches zu sprechen kam. Seine Stimme, leise und einschmeichelnd, erinnerte an einen Prediger. „Glauben Sie gottbehüte nicht, ich sei im Namen der Regierung oder meiner Partei gekommen! Ich bin Quäker, und als Christ suche ich nach einem Weg zur Besänftigung der erregten Gemüter. Die Erregung der Völker ist derart angestiegen, daß jeder Ansatz unserer Seelenhirten – ich spreche von den Staatsmännern – zu einer vernünftigen Regelung den Unwillen und Zorn ihrer Gemeinde hervorruft. Die unvernünftigen, irregeleiteten Schafe! Verzeihen Sie diesen Vergleich… Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß eine öffentliche Erörterung der internationalen Probleme gegenwärtig eine noch größere, ich möchte sagen, tragische Erregtheit zur Folge haben würde. Nach meinem Dafürhalten ist es also nötig, zu einer Art Geheimdiplomatie zurückzukehren.“ Kordt sah forschend in die trüben Augen Buxtons. Wann würde dieser Scheinheilige endlich auspacken und das vorbringen, was Berlin interessierte? Bisher hatte er sich nur den Vorschlag abgerungen, Besprechungen unter völligem Ausschluß der Öffentlichkeit zu führen. „Entschuldigen Sie“, unterbrach Kordt Buxton, „man kann nicht gleichzeitig Gott und dem Mammon dienen. Sie schlagen Geheimbesprechungen mit dem Führer vor und liebäugeln zugleich mit den Russen.“ „Nein, nein! Damit habe ich nichts zu tun!“ Buxton hob abwehrend die Arme. „Natürlich nicht Sie. Ich spreche von der englischen Regierung.“ „Warten Sie, warten Sie! Darüber wollte ich gerade mit Ihnen
reden. Glauben Sie nicht, daß ich in allem mit unserem Kabinett einverstanden bin. In diesem Punkt habe ich meine eigene Meinung. Warum könnten England und Deutschland nicht ein Abkommen über die Abgrenzung von Interessensphären schließen? Zum Beispiel in der Weise: Sie mischen sich nicht in die Angelegenheiten des britischen Empire ein, und wir versprechen, Ihre Interessen in Ost- und Südosteuropa voll zu respektieren. Gemeinsam könnten wir auch dritte, in unseren Interessensphären liegende Staaten zwingen, ihre feindliche Politik aufzugeben.“ „Und was soll mit den Verhandlungen werden, die Sie in Moskau führen?“ Kordt wollte eine absolut klare Antwort haben. Es schien, als ginge Buxton etwas mehr aus sich heraus. Er leugnete nun nicht länger, die Unterredung im Auftrag der britischen Regierung zu führen. Buxton senkte die Stimme und sagte: „Sie können überzeugt sein, daß Großbritannien alle Paktverhandlungen mit der Sowjetunion abbrechen wird. Rußland soll doch zu Ihrer Interessensphäre gehören, nicht wahr?“ Kordt enthielt sich der Antwort. „Ferner könnten wir dahin wirken, daß Frankreich sein Bündnis mit den Sowjets löst.“ Aha, dachte Kordt, die Schnecke kriecht aus ihrem Haus. Er stellte noch eine Frage. „Ihr Plan ist interessant und verdient zweifellos Beachtung, aber wie wollen Sie ihn mit der englischen Politik in bezug auf Danzig in Einklang bringen?“ „Das ist eine andere Sache! Wir haben, wie Sie wissen, den Polen Sicherheit garantiert. Das britische Prestige erlaubt es uns nicht, abseits zu stehen, wenn man Polen überfiele. Etwas
anderes wäre es, wenn die Polen selber einen Konflikt hervorriefen oder provozierten. Nehmen wir an, ein verantwortungsloser polnischer Batteriekommandeur würde plötzlich ein deutsches Dorf beschießen. So was kann doch passieren! In einem solchen Fall hielten wir uns nicht für verpflichtet, für das abenteuerliche Treiben unverantwortlicher Elemente einzustehen…“ Buxton hob vorsichtig den Blick, um festzustellen, welchen Eindruck seine Worte auf Kordt gemacht hatten. Dieser lag innerlich auf der Lauer – so nannte er selber diesen Zustand – wie ein Jagdhund, der Wild gewittert hat. Jetzt war die Schnecke ihrem Haus entschlüpft! Das war’s also! Ein schöner Heiliger! Buxton schlug die Augen nieder. „Wenn sich in einem solchen Fall“, fuhr er fort, „die englische Öffentlichkeit von der Schuld Polens überzeugt hat, erwerben wir das moralische und juristische Recht, den Polen jede militärische Unterstützung zu versagen. Wir können doch unsere friedliebende Politik wahrhaftig nicht von Handlungen unverantwortlicher Elemente und Provokateure abhängig machen!“ Botschaftsrat Kordt war mit dem Ergebnis der Unterhaltung zufrieden: Das Mitglied der Labourpartei Buxton hatte weit offener gesprochen als der Konservative Wilson! Mit naiver Miene sagte Kordt zu Buxton: „Gewiß, Ihr Plan ist sehr interessant. Schade nur, daß das Ihre persönliche Meinung ist! Haben Sie eigentlich Ihre Gedanken mit Mitgliedern der britischen Regierung erörtert?“ Buxton hatte die Absicht seines Gesprächspartners erraten. Die Schnecke zog sich wieder in ihr Haus zurück. Von neu-
em verfiel der Quäker in den frömmelnden, salbungsvollen Ton. „Ich bin nur ein Christ, den nach Frieden dürstet. Der Herr segne Sie, wenn Sie mir helfen, meine Pflicht gegenüber der Menschheit zu erfüllen.“ Buxton hatte bei diesen Worten die Hände wie im Gebet gefaltet und glich nun einem Prediger, der von der Kanzel herab zu seinen verirrten Schäflein spricht. Amen! fügte der deutsche Botschaftsrat in Gedanken hinzu. An diesem Tag erweiterte sich die private Kollektion Dirksens um ein neues Dokument. 3 Seit einiger Zeit war das in den Bayrischen Alpen gelegene Städtchen Berchtesgaden der inoffizielle Mittelpunkt des politischen Lebens in Deutschland. Statt der üblichen Kurgäste beherbergten die Hotels hohe Stabsoffiziere, Befehlshaber von Wehrkreiskommandos, Industrielle und Diplomaten, die jeweils für kurze Zeit eintrafen. Auch namhafte Abgesandte des Auslands hielten sich nun vorübergehend in dem Städtchen auf, während die eigentliche Einwohnerschaft von Berchtesgaden merklich Zuwachs an SS-Führern und Zivilisten unbestimmten Berufs erhalten hatte, die allerorts auftauchten und Passanten wie Kaffeehausgäste mit argwöhnischen Blicken musterten. Äußerlich hatte sich an der Ortschaft Berchtesgaden nichts verändert. Hier waren keine grandiosen Bauten errichtet worden, wie beispielsweise das Braune Haus in München oder das nach Entwürfen Hitlers errichtete stadionartige Nürnberger Parteitagsgelände, ein Monumentalbau mit Steinpyrami-
den, ähnlich denen der Ägypter, mit Tribüne und Eisenbahngeleisen für die Anfahrt – die Stätte der Parteitage und der gesamtdeutschen Treffen der Hitlerjugend. Das alles kannte Berchtesgaden nicht. Somit überragte das viergeschossige Hotel Kaiserhof nach wie vor Berchtesgaden als höchstes Bauwerk. Das Städtchen lag in einem grünen Talkessel, umgeben von hohen Bergen. Wie ehedem zog es Sportler und Asthmatiker hierher, die sich an den orangegelben Sonnenaufgängen erfreuen und die durchsichtige klare Luft, die Ausblicke auf den dunklen Königssee ebenso wie die übrigen im Baedeker eingehend beschriebenen Naturschönheiten genießen wollten. Jedoch selbst der ausführlichste Baedeker neuesten Datums enthielt keine Angaben über die Veränderungen, die in der Umgebung von Berchtesgaden vor sich gegangen waren. Anscheinend war Herr Paul Müller, Inhaber einer Knopffabrik in Berlin-Pankow, der den Kurort vor etwa zwei Jahren besuchte, einer der ersten, der diese Veränderungen zu spüren bekam. Herr Müller selbst führte die Unannehmlichkeiten, die er damals hatte, auf die Unvollständigkeit des Baedekers zurück und war über diesen Umstand nicht weniger erregt als über den erzwungenen Besuch bei der Gestapo. Später wurden derartige Vorkommnisse zu einer gewohnten und alltäglichen Erscheinung in Berchtesgaden, aber in jenen Tagen versetzte das Mißgeschick des Herrn Müller das ganze Kurhaus, in dem er und seine Frau Quartier bezogen hatten, in ziemliche Erregung. Paul Müller hatte sich trotz eines verhältnismäßig guten Auskommens nicht jedes Jahr eine Vergnügungsreise leisten können. In jenem Sommer aber hatte sich seine Geschäftslage
gebessert. Müller war dazu übergegangen, Uniformknöpfe herzustellen. Die Nachfrage danach war groß, und der Inhaber der Knopffabrik konnte sich nun erlauben, die Geschäfte dem Sohn zu überlassen und mit seiner Frau für zehn Tage nach Berchtesgaden zu fahren. Allerdings hatte Herr Müller zuvor eingehend den Beadeker studiert, angefangen von den Adressen der Hotels bis zum Preis der Wiener Würstchen im Cafe Alpenrose. Er hatte darin auch alle Sehenswürdigkeiten verzeichnet gefunden, die den Gast erwarteten, und eine lyrische Beschreibung der Naturschönheiten gelesen, worauf er feststellte, daß die Reise seinen Mitteln durchaus entsprach. Der Zug kam gegen Abend in Berchtesgaden an, und nach einer Besichtigung der Stadt beschloß das Ehepaar Müller, gleich am nächsten Morgen die erste Wanderung zu unternehmen, versteht sich, unter der zuverlässigen Führung des Baedekers. Ausgerüstet mit Bergstöcken und dunklen Sonnenbrillen, verließen die Eheleute anderntags das Kurhaus und traten auf die Straße, wo sie sogleich – wie auch der Baedeker versprochen hatte – kristallklare morgendliche Frische umfing. Die Sonne kam gerade hinter den Bergen hervor, und ihr orangegelbes Licht floß weich über die Erde. Das Ehepaar Müller erreichte eine Brücke, ging die im Baedeker angegebenen tausendzweihundert Meter weiter und machte vor einer Anhöhe mit einem auffälligen Stein halt, der an den Kopf eines Ichthyosauriers erinnern sollte. Obwohl die Eheleute keine besondere Ähnlichkeit mit dem vorweltlichen Tier entdecken konnten, glaubten sie dem Baedeker aufs Wort und widmeten sich nun der Betrachtung der
Landschaft. Vor ihnen lag ein breites Gebirgstal mit Hügeln, Waldstücken und einem Dorf unter Ziegeldächern. Durch das Tal wand sich ein Flüßchen, daß man aber weniger sehen als im Gebräu des noch nicht aufgestiegenen milchigen Nebels erraten konnte. Paul Müller überließ seiner Frau großmütig das Fernglas, während er die Erklärungen des Reiseführers vorzulesen begann. Langsam führte Frau Elmire das Fernglas gemäß der Beschreibung des vor ihr ausgebreiteten Panoramas von links nach rechts. Es war wie im Kino bei der Vorführung eines Landschaftsfilms. Der Rundblick schloß mit dem Watzmann, von dessen Gipfel – der Beschreibung zufolge – nicht nur Österreich, sondern auch das befreundete Italien Benito Mussolinis zu sehen war. Die Eheleute Müller wendeten sich nunmehr dem Königssee zu. Von der Stelle aus, die der Baedeker den Touristen empfahl, war der See nicht zu sehen – ihn verdeckten Felsen und ein Teil des Berghanges. Aber die Autoren des Reiseführers legten dem Ehepaar so eindringlich ans Herz, den Königssee zu besuchen, wollten sie zu den wenigen Auserwählten des Schicksals zählen, daß Frau Elmire ihren vorlesenden Gatten unterbrach und sagte: „Paulchen, vielleicht sollten wir uns wirklich den Königssee aus der Nähe anschauen?“ „Wir werden sehen! Stör mich jetzt nicht beim Lesen.“ Er vertiefte sich wieder in den Baedeker, als überprüfe er eine Lagerbestandsaufnahme, und stellte mit Befriedigung fest, daß die Beschreibung haargenau der Wirklichkeit entsprach. Das Ehepaar stand noch immer vor dem Stein, der wie der Kopf eines Ichthyosauriers aussah. Gerade wollten sie sich zu
einem anderen im Baedeker bezeichneten Punkt begeben, als Frau Elmire fragte: „Paulchen, was ist denn das dort? Da auf dem Berg? Als ob Ameisen herumkriechen.“ „Der Baedeker sagt darüber nichts“, antwortete ihr Mann überlegen, „also ist dort auch nichts.“ „Aber sieh doch selbst! Ich kann es deutlich erkennen…“ Frau Elmire reichte ihrem Mann das Fernglas. Er veränderte die Schärfeneinstellung, wie er sie brauchte, und äugte zu dem Gipfel des steilen, felsigen Berges hinüber, auf den seine Frau gedeutet hatte. Dank der klaren Luft war alles, was im Blickfeld lag, mit stereoskopischer Schärfe zu erkennen. Paul Müller sah deutlich, daß auf dem Gipfel keine Ameisen, sondern Menschen umherkribbelten. Auf der äußersten Felsenspitze, in so schwindelnder Höhe, daß man sich fragte, wie Menschen überhaupt dort hinaufkraxeln konnten, arbeiteten sie an einem Bauwerk. Beim weiteren Absuchen der Gegend entdeckte Müller, daß auch in halber Höhe des Berges und an seinem Fuß gebaut wurde. Dort erhoben sich bereits einige Häuser, ja eine ganze Siedlung war es schon, aber im Baedeker stand von alledem kein Wort. Der Inhaber der Knopffabrik fühlte sich geprellt, übers Ohr gehauen, betrogen. Mit eigenen Augen sah er vor sich den unzugänglichen, mit bräunlichen Tannen bestandenen Berg und darauf Menschen, wie durch ein Wunder dorthin geraten, mit Schubkarren, Betonmischern und anderen unbegreiflichen Mechanismen; mit eigenen Augen sah er ein graues, fast fertiges niedriges Gebäude, das ebensogut ein mittelalterliches Schloß wie ein Luftschutzbunker sein konnte. Demnach war die Gegend hier gar nicht so menschenleer,
demnach lebten in dieser Abgeschiedenheit nicht nur Wildschweine und Gemsen! Müller fühlte sich in seinen besten Gefühlen gekränkt. Er hatte seinem Taschenreiseführer vertraut, sich ihm unterworfen wie ein Abc-Schütze seinem Lehrer – und da, bitte! Der Knopffabrikant schnaufte wütend und stiefelte schweigend los, auf den Berg zu, der sein Interesse geweckt hatte. Die Eheleute hatten bereits den größten Teil des Weges zurückgelegt, als Herr Müller seine Kamera zückte und das Objektiv auf die Felsen richtete. Am meisten interessierte ihn der auf einer Felsenstufe errichtete Betonbau. Er konnte ihn jetzt auch mit bloßem Auge erkennen, während er im Sucher den ganzen Berggipfel erfaßt hatte. Es kam Herrn Müller sogar vor, als trügen die Menschen da oben gestreifte Kleidung. Er knipste einmal, dann ein zweites Mal. In diesem Augenblick tauchte ein baumlanger SS-Mann auf, begleitet von einem mächtigen, grimmig aussehenden Hund. „Halt!“ sagte der SS-Mann mit schneidender Stimme, nicht laut, aber nachdrücklich. „Geben Sie den Apparat her. Was machen Sie hier?“ Er riß Müller den Apparat geradezu aus der Hand. Böse knurrend, fletschte der Hund die weißen Zähne. „Wir… Wir sind Kurgäste“, sagte Müller stotternd. „Ich bin Inhaber einer Knopffabrik. Das hier ist meine Frau.“ Er machte eine Handbewegung, als stelle er seine Frau einem Freund vor. Anscheinend faßte Frau Elmire die Situation auch so auf, denn sie verbeugte sich leicht und stammelte erschrocken: „Ja, ich bin Frau Müller… Sehr angenehm…“ „Folgen Sie mir!“ sagte der SS-Mann kalt.
„Wir sind doch Kurgäste! Wir… Nein, ich protestiere!“ „Folgen Sie mir!“ wiederholte der SS-Mann mit der gleichen eiskalten und unbeteiligten Stimme. Dann rief er: „Rex!“, und der Hund ging langsam auf Müller zu und beschnupperte böse knurrend die nackten Knie des Besitzers der Knopffabrik. Schon die Berührung mit der rauhen, feuchten Nase des Tieres, schon der Anblick der weißen Reißzähne hatten zur Folge, daß Paul Müller das Herz im Leibe erstarrte. Er machte keine weiteren Einwendungen und ließ sich willenlos in ein Steinhäuschen abführen, das hinter einem Hügel stand. Weiterhin lösten sich die Ereignisse kaleidoskopartig ab. Die Eheleute wurden in einen leeren Raum gebracht, wo sie sich setzen und schweigend darauf warten mußten, daß man sie in ein Nebenzimmer rief, dessen Wände bis auf ein großes Himmlerbild kahl waren. Die schmalen Lippen fest zusammengepreßt, blickte der Reichsführer SS durch die Gläser seiner Brille verächtlich auf sie herab. Auf dem Tisch des Gestapobeamten lag ein entwickelter, noch nasser Film. Während er Müller vernahm, hielt er den Filmstreifen prüfend über seinem Kopf gegen das Licht. Immer größeres Entsetzen bemächtigte sich des Knopffabrikanten, der das Unglück unabwendbar näherkommen fühlte. Schon sah er sich in gestreifter Kleidung als Häftling im Konzentrationslager… Allein die Sache nahm eine andere Wendung. Der Beamte notierte die Berliner Adresse der Eheleute Müller, verfaßte ein Protokoll, ließ es Herrn Müller unterschreiben, nahm von beiden Fingerabdrücke und gab ihnen bekannt, sie hätten Berchtesgaden unverzüglich zu verlassen. Inzwischen war es Abend geworden. In Begleitung des SS-
Mannes, der sie festgenommen hatte, wurden Herr und Frau Müller mit dem Auto zum Kurhaus gefahren und von dort zum Nachtzug. Zwei Stunden später saß das Ehepaar im Zug, und Herr Müller, der seinen mit lila Stempelfarbe beschmierten Daumen betrachtete, sagte zu seiner Frau: „Da sind wir noch einmal gut davongekommen, Elmire…“ „Aber was haben wir denn verbrochen, Paulchen? Und dann, wer wird uns die Unkosten ersetzen?“ „Ich weiß es nicht… Wir wollen zu niemand darüber sprechen, hörst du? Haben wir nicht noch was zu essen da, Elmi?“ Der Knopffabrikant aus Pankow wußte tatsächlich nicht, wodurch er die Staatsordnung des Dritten Reiches gestört hatte. Doch jedes Übel hat auch sein Gutes – viele Jahre später, als es keine Gestapobeamten mehr gab und auch kein Obersalzberg, dieweil es Bomben zerstört hatten, und als der Führer selber nicht mehr existierte, erinnerte sich Paul Müller an den Vorfall in Berchtesgaden und verkündete allerorts, von den eigenen Worten fest überzeugt, auch er sei ein Opfer des Faschismus, ein Mensch, der unter den Nazis zu leiden hatte. Seither waren knapp zwei Jahre vergangen. Der Vorfall, der das Kurhaus in Atem gehalten hatte, war bald in Vergessenheit geraten, durch andere, bedeutendere Ereignisse überschattet worden. Zunächst war Österreich eine deutsche Provinz geworden, und man konnte nun ohne weiteres von Berchtesgaden nach Wien, Linz und sonstwohin reisen. Das hatte sich sehr einfach ergeben: Eines Tages schickte Hitler Truppen nach Österreich – er versicherte, daß er das
tue, weil die Österreicher selbst darum gebeten hätten –, und als die Österreicher am nächsten Morgen aufwachten, war ihr Land an Deutschland angeschlossen. Nicht weniger bedeutungsvoll war für die Berchtesgadener die Tatsache, daß der Reichskanzler ihre Stadt zu seiner ständigen Residenz auserkoren hatte. In diesem Zusammenhang lüftete sich auch ein wenig der Schleier, in den der geheime Bau inmitten der wilden, öden Felsen gehüllt war. Am Fuße des Berges war die Siedlung Obersalzberg mit dem Berghof Hitlers, einer großen Villa, entstanden. Auch der Bau auf dem Berggipfel, das sogenannte Teehaus, war zu Ende geführt. Berchtesgaden erlangte immer größere Berühmtheit, und in den Zeitungen klang der Name der Stadt nicht weniger gewichtig als Downing Street in London, Quai d’Orsay in Paris oder Weißes Haus in Washington. Berchtesgaden war das Symbol der deutschen Politik geworden. Einer der ersten Gäste Hitlers in Berchtesgaden war der hochbetagte britische Premierminister Neville Chamberlain, der den Berghof im Herbst des Vorjahres besucht hatte. Als Folge dieses Besuches sahen sich die eigensinnigen Tschechen zum Nachgeben genötigt – sie traten Hitler das Sudetenland ab. Einige Monate später wurde die ganze Tschechoslowakei, wie vordem Österreich, eine deutsche Provinz, der man den Namen „Protektorat Böhmen und Mähren“ gab. Die Einwohner von Berchtesgaden waren fest davon überzeugt, die Tschechen hätten dadurch nur gewonnen – hatten sie jetzt etwa nicht mehr Ruhe und Ordnung als zuvor? Überhaupt fühlten sich die Berchtesgadener Ladenbesitzer, Pensionsinhaber, Cafetiers und Bäckermeister, mit einem Wort alle Einwohner des vor kurzem noch stillen Kurorts
nunmehr am Weltgeschehen unmittelbar beteiligt. Es hatte in der Tat neuerdings in Europa kein einigermaßen bedeutsames Ereignis gegeben, das nicht in ihrer Stadt, unter den Augen der Bürger, aus der Taufe gehoben worden war. Die Angliederung der Tschechoslowakei hatte mit der Ankunft Chamberlains in Berchtesgaden begonnen. Man hatte den englischen Premier des öfteren im Kurort gesehen, schwarz gekleidet, mit hohem Zylinderhut wie bei einem Begräbnis. Manch einer wollte sogar bemerkt haben, daß er immer, selbst bei schönstem Wetter, einen schwarzen Regenschirm bei sich hatte. Was Österreich betrifft, so erinnerten sich die älteren Einwohner noch an die Ankunft Schuschniggs, des letzten österreichischen Kanzlers, der die Residenz Hitlers ziemlich schnell passierte und ohne Verzug nach Wien, mit dem kategorischen Anschluß-Ultimatum in der Tasche, zurückkehrte. Das Auftauchen Schuschniggs in Berchtesgaden brachten die Einwohner der Stadt mit einem anderen Ereignis in Zusammenhang. Lange Zeit hindurch hatte die „Österreichische Legion“ Hitlers in dem Kurort in Quartier gelegen. Unter Führung deutscher Offiziere waren die bewaffneten Legionäre offen durch die Straßen des Städtchens marschiert, um dann eines Nachts, bald nach dem Eintreffen Schuschniggs, von der Bildfläche zu verschwinden und auf geheimnisvolle Weise just am Tag vor dem Einmarsch der deutschen Truppen in Wien ebendaselbst, in der österreichischen Hauptstadt wieder aufzutauchen… Hier, in Berchtesgaden, wurde Benito Mussolini stets mit königlichen Ehren empfangen, und aus Ungarn begrüßte man
mehr als einmal den aufgeblasenen Reichsverweser Horthy in seiner mit Goldtressen reich besetzten Admiralsuniform. Selbst die Berchtesgadener Stammtischpolitiker sprachen von dem ungarischen Diktator mit leiser Ironie. Jedesmal, wenn er in Berchtesgaden erschien, fragten sie einander spöttisch, was für eine Flotte Horthy eigentlich befehlige und ob die Kriegsschiffe des Landadmirals vielleicht in seiner eigenen Badewanne schwammen. Aber Horthy hatte offenbar beim Führer einen Stein im Brett. Vor einiger Zeit schenkte dieser ihm sogar eine Luxusjacht, so daß der Reichsverweser fortan mit voller Berechtigung die Admiralsuniform mit dem Marinedolch trug, schwamm doch nun auf der Donau ein richtiges ungarisches Schiff. Viel Gesprächsstoff lieferte auch ein anderes Geschenk Hitlers, das allerdings etwas wertvoller als die Jacht war. Nach dem letzten Besuch Horthys in Berchtesgaden, der diesmal mit dem Einzug der deutschen Truppen in Prag zusammengefallen war, brachte die Presse die Meldung, daß die KarpatoUkraine den Anschluß an Ungarn vollzogen habe. Der Admiral war also gar nicht ungeschickt! Der Führer gliederte die Tschechoslowakei an Deutschland an, und Horthy, der alte Knacker, den bald die Würmer fressen würden, schnitt sich ein Stück tschechischen Territoriums mit einer Bevölkerung von einer Million ab! Hätte man diese Gebiete nicht besser Deutschland einverleiben sollen? Der Bäckermeister, dessen Laden sich neben dem Grand Hotel befand, konnte diese Freigebigkeit Hitlers absolut nicht verstehen, und ein Taxigaragenbesitzer behauptete tiefsinnig, Hitler mache solche Geschenke bestimmt nicht ohne Gegenleistung. Wie sich die Sache im gegebenen Fall verhielt, konnte er allerdings nicht
sagen. Gewöhnlich endeten die Diskussionen am Stammtisch mit dem Satz: „Der Führer denkt für uns, er muß es besser wissen.“ Ja, der Reichskanzler dachte für die Deutschen. Adolf Hitler stand auf einer Erhebung in seinem Felsenhorst und blickte gedankenverloren auf das unweit gelegene Berchtesgaden, auf die stellenweise mit Schnee bedeckten Berge, die Wolkenfetzen, die an den Felsen hingen, und auf das bräunlich getönte Grün des Tals. Hierher, zu den steinigen Bergeshängen, begab er sich, wenn er mit seinen Gedanken allein sein wollte. Ja, Hitler dachte für die Deutschen, für jene kleinbürgerlichen Kreise, aus deren Mitte er selbst hervorgegangen war und die er besser als sonstwer kannte. Er hielt sich für berechtigt, für die Nation zu denken, als von der Vorsehung bestimmter Mensch, als dem deutschen Volk vom Schicksal gesandter Führer. Er glaubte durch all seinen Kampf und seine Erniedrigungen, durch all seine Hoffnungen und seine Enttäuschungen dieses Recht erworben zu haben. Im Geiste sah Hitler die zu seinen Füßen liegende Welt. O ja, die Welt würde ihm in der Tat bald ganz zu Füßen liegen! Die Zeit war gekommen, daß er sie sich nahm als reife Frucht. Er mußte den Baum nur tüchtig schütteln, damit ihm der Apfel – die totale Macht – von selbst in die Hände fiel. Oh, er würde die Welt schon gehörig schütteln! Der Reichskanzler, versunken in seinen ehrgeizigen Träumen, berauscht von seiner Kraft und Macht, warf den Kopf in den Nacken, spreizte die Beine und stemmte die Fäuste in die Seiten. So stand er eine Weile, deutlich abgehoben von den
Wolken und Bergen, und lauschte. Selbst wenn er allein war, konnte er es nicht lassen, zu posieren und affektiert umherzustolzieren, um so weniger jetzt, da er wußte, daß er nicht allein war, daß seine Einsamkeit nur scheinbar war. Jedesmal, wenn er ein feines Klicken vernahm, das vom Verschluß einer Leica herrührte, warf er sich wie von ungefähr in Positur. Erstarrt in seiner exzellenten Haltung, wartete Hitler diesmal wieder, aber das gewohnte Klicken blieb aus. Er wandte unzufrieden den Kopf. Sein Leibfotograf Heinrich Hoffmann saß hinter einem Stein und hantierte an der Kamera. Jetzt klappte er den Deckel hastig zu und begegnete dem Blick Hitlers. „Ich habe doch gebeten, mich allein zu lassen. Warum sind Sie hier, Hoffmann?“ „Verzeihung, mein Führer, aber ich wollte Ihr Bild für die Nachwelt festhalten. Wer außer mir tut das?“ Die Stimme Hitlers hatte keineswegs ungnädig geklungen – Hoffmann wußte, daß es dem Führer beliebte, so zu tun, als bemerke er den Fotografen nicht. „Na gut, da Sie einmal da sind, machen Sie meinetwegen die Aufnahme für mich. Merken Sie sich das heutige Datum, Hoffrnann: Ich stehe vor großen Entscheidungen… Was ist denn mit Ihrem Apparat los?“ Die Stimme Hitlers verriet Unruhe. „Es ist alles in Ordnung, mein Führer, ich habe nur einen neuen Film eingelegt.“ Selbst unter Androhung schwerster Folterqualen hätte der Fotograf nicht eingestanden, daß seine Leica eben versagt hatte. Hoffmann wußte, wie abergläubisch sein Herr und Meister war.
Der Fotograf kletterte ein wenig tiefer und machte in halsbrecherischer Stellung mehrere Aufnahmen. „Und nun lassen Sie mich allein, sonst könnte Ihnen dasselbe zustoßen wie damals, als wir uns kennenlernten. Wissen Sie noch?“ Hitler lächelte düster über seinen Scherz. „War es damals etwa ein schlechtes Bild, mein Führer? Die Amerikaner haben mir tausend Dollar dafür bezahlt.“ „Ja, ja, das war das erste Bild von mir, das die amerikanische Presse brachte. Es kam in alle Zeitungen… Gehen Sie jetzt, Hoffmann! Jetzt ist nicht die Zeit, sich Erinnerungen hinzugeben, ich muß meine Gedanken auf die Zukunft konzentrieren.“ Der Fotograf ging, aber die Gedanken Hitlers beschäftigten sich weiter mit der Vergangenheit – es waren angenehme Erinnerungen. Wann war doch die Sache mit Hoffmann passiert? Vor sechs, sieben Jahren mochte es gewesen sein. Gerade in der schwersten Zeit, als die Partei auseinanderzufallen drohte. Wenn Kirdorf und Krupp kein Geld gegeben hätten – wer weiß, was dann passiert wäre! Jawohl, so war’s – damals hatte er Hoffmann kennengelernt. Die amerikanische Nachrichtenagentur United Press hatte ein Honorar von tausend Dollar für ein gutes Bild von Hitler ausgesetzt. Hoffmann hatte den Auftrag übernommen, obwohl er den späteren Beherrscher Deutschlands noch nicht persönlich kannte, und die SA-Männer aus Hitlers Leibwache hatten den Fotografen verprügelt, als er während einer Versammlung die Aufnahmen machte. Sie dachten, Hoffmann sei von den Linken geschickt worden. Sepp Dietrich hatte ihn damals ganz schön mit den Fäusten bearbeitet. Ein Glück nur, daß der Film bei der Rauferei unversehrt blieb. Wie wandelbar doch das
Schicksal ist! Und was für eine Rolle ein Stückchen Film spielen kann! Vielleicht hätten die Ruhrmagnaten kein Geld gegeben, wenn sie sein Bild nicht in den amerikanischen Zeitungen gesehen hätten. Welche Zeitung schrieb doch darunter: „Adolf Hitler, der kommende Mann Deutschlands?“ Waren es nicht die „New York Times“? Jedenfalls hatten die Amerikaner keine schlechte Reklame für ihn gemacht! Mit Heinrich Hoffmann verbanden ihn auch andere Erinnerungen, so frische, als sei es gestern gewesen. Es begab sich gleichfalls in München, in eben jenen Tagen. Er ging in das Fotogeschäft von Hoffmann, um das Bild zu holen. Das Bild war noch nicht fertig, und man bat ihn, ein Viertelstündchen zu warten. Nach Ablauf dieser Viertelstunde begegnete er dann zum erstenmal Eva Braun, die bei Hoffmann als Fotolaborantin beschäftigt war. Sie machte die Abzüge. Ja, Eva brachte ihm das Glück. Die junge Laborantin kam hinter dem Vorhang hervor und sagte zurückhaltend, beinahe schüchtern: „Bitte, mein Herr, die Bilder sind in diesem Umschlag.“ Sie musterte den Besucher abschätzend und reichte ihm einen festen schwarzen Umschlag, die übliche Verpackung für Fotopapier. Ja, das war die Zeit, da er seine Bilder von den Fotogeschäften noch selber abholen und sie sich in einem gebrauchten Umschlag aushändigen lassen mußte. Damals durfte er sich noch nicht an derlei Dingen stoßen. Die hübschen Beine und die hellen Haare der Laborantin faszinierten Hitler. Einfach reizend sah sie aus in dem eleganten grauen Kleid. Eva verstand sich schon damals zu kleiden. Ja, mit einer solchen Frau konnte man sich sehen lassen. Seiner Annäherung setzte Eva keinen Widerstand entgegen.
Sie gab sich nicht zimperlich und traf sich mit ihm in der Prinzregentenstraße, in seiner im zweiten Stock gelegenen Wohnung mit den niedrigen Zimmern, in die man nur über eine dunkle Treppe gelangen konnte. Hitler wußte nicht, daß Heinrich Hoffmann bei seiner Bekanntschaft mit Eva Braun eine bestimmte Rolle gespielt hatte – er hatte ihm seine Geliebte abgetreten. Dann kam eine Zeit, da sie sich monatelang nicht sahen. Während Eva auf ihn wartete und sich die Zeit mit Schneiderinnen vertrieb, war Hitler emsig tätig: Bald sprach er im „Herrenklub“ vor den Industriellen in Düsseldorf, bald fuhr er nach Berlin, wo er sich im Hotel Adlon mit Göring beriet und insgeheim mit ausländischen Diplomaten traf, denen er Versprechungen machte und von denen er Versprechungen erhielt, oder aber er tobte auf Versammlungen, beschaffte Geld und verteilte das eben Empfangene wieder unter Leuten, die er brauchte. Er intrigierte, bestach die einen und beseitigte die anderen. Doch sobald Hitler wieder in München war, verbrachte er die Abende wie vordem mit Eva in der Prinzregentenstraße. Diese Frau wurde ihm immer unentbehrlicher. Den Kopf geneigt, konnte sie sich, ohne ihn je zu unterbrechen, stundenlang die tiefsinnigsten Betrachtungen anhören – eine Eigenschaft, die man bei Frauen höchst selten findet… Hitler ging auf die andere Seite des Felsens und setzte sich auf einen bemoosten Stein. Das war sein Lieblingsplatz. Er bevorzugte überhaupt Stellen und Dinge, an die er sich einmal gewöhnt hatte, und duldete auch fast nie neue Menschen in seiner Umgebung. Schuld daran mochte sein, daß er mit den Jahren immer argwöhnischer geworden war oder aber,
daß er sich von den Deutungen seines Horoskops allzusehr beeinflussen ließ. Wie dem auch sei, er begegnete jedem neuen Gesicht mit Mißtrauen, wähnte er doch dahinter Gefahr. Die Sonne schien auf die Steine herab. Am Berghang wurde es spürbar wärmer. Der Himmel war klar, und auf dem Watzmann glitzerte Neuschnee. Obwohl der Morgen bereits zur Neige ging, hatte sich der Führer noch nicht den Gedanken zugewandt, derentwegen er, wie stets vor großen Entscheidungen, die Einsamkeit gesucht hatte. Übrigens stand sein Entschluß schon lange fest. Jetzt war der günstigste Augenblick, mit Polen abzurechnen. Die Sache weiter aufzuschieben wäre sinnlos. Generaloberst von Brauchitsch hatte versprochen, mit Polen in zwei Wochen fertig zu werden. Sechsundfünfzig Divisionen standen an der Grenze und warteten auf den Befehl. Er wird diesen Befehl am 25. erteilen. Nein, lieber nicht – heute war Dienstag… Hitler zählte an den Fingern ab – der 25. fiel auf einen Freitag. Das kam nicht in Frage. Schließlich mußte man sich an das alte Sprichwort halten: „Suchst am Freitag du dein Glück, bleibt dir Kummer nur zurück.“ Also dann am Sonnabend… Natürlich geht es nicht um Danzig. Damit fängt man Dumme. Deutschland braucht Lebensraum. Am Sonnabend wird eine neue Ära in der Geschichte beginnen. Die Deutschen werden den Vormarsch nach Osten antreten, werden den Spuren der alten Germanen folgen. Und an ihrer Spitze wird er, Adolf Hitler, stehen! Er wird den Ruhm Napoleons und Friedrichs des Großen in den Schatten stellen. Und was den Anlaß betrifft, der würde sich schon finden. Wie hieß doch dieser Engländer? Ach ja – Buxton. Keine schlechte Idee, deren Vater er war – sollen die Polen selber die Angreifer sein.
Hitler hatte Heydrich bereits beauftragt, polnische Uniformen zu beschaffen. Auf Heydrich war Verlaß – der riß polnischen Soldaten notfalls die Uniform mitsamt der Haut vom Leibe! Wer dann in sie hineinkroch und den Überfall ausführte, war nicht wichtig, Hauptsache, die Leute steckten in einer polnischen Uniform. Hinterher würde man sich ihrer leicht entledigen können. Tote sind bekanntlich schweigsam. Die Engländer haben also keine Lust, Polens wegen zu kämpfen, da sie uns solche Gedanken einflüstern, überlegte Hitler. Wir werden schon mit ihnen unter einen Hut kommen, sie können noch von Nutzen sein. Ihnen geht es nur darum, uns auf die Russen zu hetzen. Alles zu seiner Zeit, die Reihe kommt auch noch an die Russen. Wenn Moskau nur an die Ernsthaftigkeit unserer Absicht glauben wollte, einen Vertrag mit ihnen abzuschließen. Was ist schon ein Vertrag? Ein Fetzen Papier. Verträge schließt man, um sie zu brechen… Auch die Engländer werde ich ausnehmen, sie nach meiner Pfeife tanzen lassen wie Chamberlain. Diese dürre Hopfenstange meint, auch schlau zu sein! Macht den Vorschlag, uns die afrikanischen Kolonien zurückzugeben. Was für Kolonien? Deutschland braucht die deutschen Kolonien, er aber denkt an die belgischen. Ein schönes Angebot! Die belgischen Kolonien holen wir uns auch so. Aber das alles ist im Moment nicht wichtig – wichtig ist vielmehr, daß die Engländer die Welt friedlich und schiedlich und nur mit uns teilen wollen. Damit haben wir den Rücken frei. Heute wird er den Generalen auf der Besprechung seinen Entschluß mitteilen. Aufpulvern muß er sie, diese Neunmalklugen, bedächtig und übervorsichtig, wie sie sind, um nicht
zu sagen beschränkt. In der großen Politik geht es nun einmal ohne Kühnheit und Wagnis nicht. Wäre es sonst möglich gewesen, Österreich und die Tschechoslowaken zu unterwerfen? Natürlich hat man das auch Chamberlain zu verdanken. Den alten Dummkopf hat er ganz schön reingelegt! Die Sudetenbefestigungen zu durchbrechen ist schließlich kein Vergnügen. Dazu wären mindestens dreißig Divisionen nötig gewesen, eingesetzt waren aber nur dreizehn! Dennoch fiel die Tschechoslowakei ohne einen Schuß. Aber die Generale glauben noch immer nicht an sein Feldherrntalent. Diese Leisetreter, diese Banausen! Wollen immer nur ganz sichergehen. Haben nichts im Kopf als Beförderungen und Auszeichnungen. Er wird sie ihnen nicht vorenthalten, nur kämpfen sollen sie. Für die Generale ist er noch immer der einfache Gefreite, der Dreckstiebel, während sie selbst die Lackstiefel, die Blaublütigen sein wollen. Er wird sie schon dazu bringen, daß sie anderen Sinnes werden. Der Reichskanzler, erregt durch die eigenen Gedanken, hieb sich mit der Faust aufs Knie. Es machte ihn schon rasend, wenn er nur daran dachte, wie herablassend sich die Generale verhielten, wenngleich sie das hinter äußerlichem Respekt verbargen. Ihm konnten sie nichts vormachen. Er spürte das. Gut, daß General List heute an der Besprechung teilnimmt, dachte er. Sein Generalsdünkel wird ein wenig gedämpft werden. Das kann ihm nur nützen. Einst hatte der Gefreite Adolf Hitler in seinem Infanterieregiment gedient, jetzt aber… Ja, das Blatt hat sich gewendet. Hitlers Gedanken schweiften zurück zu seiner Dienstzeit in dem von List befehligten Regiment und zu den kalten, unbehaglichen Kasernen am Stadtrand von München. Dann ver-
weilten sie wieder bei der Wohnung in der Prinzregentenstraße. Im Vergleich mit der Kaserne war sie ihm damals wie ein Palast erschienen. Sie war ja auch das erste Anzeichen wachsenden Wohlstands gewesen. Anders in Wien, wo er bei Wind und Wetter vor der Tür des Obdachlosenheims in Meidling stehen und auf Einlaß warten mußte. Das Asyl glich der österreichischungarischen Monarchie, lebten doch auch an dieser Stätte, diesem Sammelplatz von tschechischen Betonstampfern, slowenischen Maurern und ungelernten kroatischen Arbeitern, notgedrungen Menschen verschiedener Nationalitäten zusammen. Hitler, der nie vergaß, daß in seinen Adern deutsches Blut floß, das ihn über all das Gesindel hinaushob, litt unter der Zwangsvorstellung, diese Andersstämmigen raubten ihm die Arbeit, stahlen ihm das tägliche Brot und belegten zudem die besten Bettplätze. Vielleicht war dort im Asyl von Meidling erstmals der Haß auf die Slawen und sonstigen Untermenschen in ihm erwacht, die den reinblütigen Ariern das Leben vergällen. Wien! Ja, stiefmütterlich hatte ihn die schöne Stadt behandelt, schlechte Zeiten hatte er als junger Mann in ihren Mauern durchgemacht. Oh, hätte er damals anders leben können! Wie hatte er die satten Bürger beneidet, die im Prater spazierengingen! Wie viele Demütigungen, wieviel Spott hatte er einstecken müssen, wie oft hatte man seine Hoffnungen zunichte gemacht, seine Eigenliebe verletzt! Nicht einmal über die Schwelle der Akademie der Künste hatte er treten dürfen, wo er doch von seiner Begabung so überzeugt war. Ja, verlacht hatten sie seine Zeichnungen, die manch großen Künstler beschämt hätten. Das sollten sie jetzt einmal wagen! Statt für die Akademie zu arbeiten, mußte er damals mit Bildchen
und Kärtchen handeln, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Das ging so lange, bis es eines Tages zwischen ihm und seinem Partner zu Differenzen kam, mit denen sich die Kriminalpolizei befassen mußte. Viele Jahre danach wollte ihn der Kanzler Dollfuß mit einem Protokoll aus den Wiener Polizeiarchiven erpressen. Er hatte geglaubt, ungestraft mit Italien liebäugeln und ihm, Hitler, insgeheim drohen zu können! Das sollte er mit seinem Leben büßen. Heß hatte die Sache damals gut arrangiert… Nein, es hatte ihn nicht gedrängt, wieder nach Wien zu kommen, um dem Asyl seinen Gruß zu entbieten und sich an die einstigen Demütigungen zu erinnern. Genugtuung hatte er sich verschaffen, die Anerkennung erringen wollen, die ihm so lange Zeit versagt geblieben war. Und er, Adolf Hitler, hatte erreicht, was er wollte. Gleich nach dem „Anschluß“ war er als Sieger in die Stadt eingezogen. Natürlich war das Leben in Wien an ihm nicht spurlos vorübergegangen. Es hatte ihm viel Neues vermittelt. Während des triumphalen Einzuges in die Stadt hatte man einen betagten Bücherantiquar zu ihm gebracht. Er war der einzige alte Bekannte Hitlers, der in Wien aufgestöbert werden konnte. Der Kopf zitterte ihm vor Altersschwäche – vielleicht auch vor Angst. Der Antiquar besann sich schließlich darauf, daß Herr Hitler zu ihm alte illustrierte Blätter lesen gekommen war. Mit Hilfe dieser Zeitschriften hatte Hitler die Kriegskunst studiert – er las die darin enthaltenen Berichte über den Deutsch-Französischen Krieg. Nicht jeder mußte also eine Kriegsakademie besuchen, die übrigens sogar ganz mittelmäßige Generale absolvierten. Nicht immer mußte man sich auf der Schulbank die Hosen durchscheuern, um Wissen
zu erlangen. Seiner Überzeugung nach war die Hauptsache in der Kriegskunst die Intuition. Er, Hitler, besaß sie, obgleich er nur die alten Zeitschriften am Bücherstand des Wiener Antiquars studiert hatte… In seiner sprunghaften Denkweise überließ sich Hitler nun den Erinnerungen an die früheste Zeit seines Lebens – er dachte an seinen Vater Alois Schicklgruber, der alles, selbst seinen Namen, geopfert hatte, um im Leben weiterzukommen. Erinnerungen an die Zeit, da sein Vater noch Schuhmacher war, hatte er nicht, denn er kam erst viel später zur Welt. Als er geboren wurde, war Alois Schicklgruber bereits ein wenn auch kleiner Zollbeamter, der sich durch seine Uniform von den Handwerkern unterschied. In den Jahren, in denen Adolf heranwuchs, hatte sein Vater bereits voll Verachtung auf die Hungerleider, die niederen Schichten herabgeblickt, zu denen die Menschen im Arbeitskleid gehörten. Adolf übernahm frühzeitig von seinem Vater die arrogante Einstellung der österreichischen Mittelständler zum „Pöbel“, und es bedrückte ihn, daß er inmitten dieser Leute leben mußte. Die beiden Generationen Hitler taten alles, um emporzukommen und etwas zu werden. Was dem Zollbeamten versagt blieb, gelang seinem Sohn. Den Weg zum heißersehnten Wohlstand, zu Macht und Ruhm, tastete Adolf bereits in Wien ab. Die Stadt lehrte ihn vieles. Erbost über seine Mißerfolge, trieb sich Hitler als junger Mann auf den Wiener Märkten und Versammlungen herum, mischte sich in Dispute ein, hörte sich Reden Georg von Schönerers an, des in Mode gekommenen Führers einer nationalistischen Partei, und fiel begeistert in die Pfuirufe gegen die Juden ein, mit denen die
Ladenbesitzer dem Redner beistimmten, der zur Zerstörung der jüdischen Zeitungsverlage und Geschäfte aufrief. Noch einen Redner hörte Hitler in seiner Jugend, Karl Lueger, den Bürgermeister der Stadt. Auch er brandmarkte die einen, während er die anderen aufhetzte und ihnen goldene Berge versprach. Auf fruchtbaren Boden fielen in der neiderfüllten Seele des verbitterten Jünglings die Worte Luegers: „Um den Sozialisten den Weg zu verlegen, muß man ihre Forderungen in das eigene Programm aufnehmen. Über das Programm machen Sie sich keine Sorge – es ist nur für die Wahlen bestimmt.“ Als der junge Hitler jede Hoffnung verloren hatte, in Wien vorwärtszukommen, entschloß er sich, sein Glück in Deutschland zu versuchen. Er übersiedelte nach München, zutiefst davon überzeugt, daß an allem Unglück der Welt die Juden, die Arbeiter und die Sozialisten schuld seien. Ebenso fest wurzelte in ihm die Überzeugung, daß die Menschen, in deren Adern deutsches Blut floß, die Herren der Welt sein müßten. Hitler traf in München kurz vor Kriegsausbruch ein, jedoch auch der Krieg änderte nichts an seinem persönlichen Schicksal. Er brachte es bis zum Dienstgrad eines Gefreiten. Die Glücksgöttin wandte ihm, dem Mißachteten, ihre Aufmerksamkeit erst viel später zu… Und nun saß er, der Auserwählte des Schicksals, am Vorabend großer Ereignisse hier auf dem Felsblock. Wenn ihn jetzt sein Vater, Alois Schicklgruber, sehen könnte! Er würde mit ihm zufrieden sein. Um persönlicher Vorteile willen hatte der Vater einst seinen Namen abgelegt. Adolf tat es ihm nach: Vor einigen Jahren hatte der Sohn des österreichischen
Zollbeamten die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen. Was bedeuteten schon Nationalität und Gewissen? Überflüssiger Plunder war das, der einem auf dem Weg zum Ziel nur hinderlich war. Für ihn, Hitler, gab es nichts als den Kampf Blut gegen Blut, Rasse gegen Rasse. Nur der Existenzkampf konnte die einen zu Herrschern, die andern zu Sklaven machen. Und zwang der natürliche Instinkt nicht jedes Lebewesen, den Feind nicht nur zu besiegen, sondern auch zu vernichten? Er, Hitler, war auf Grund langer reiflicher Überlegungen zu diesem Schluß gelangt. Nur im Verlauf eines Krieges konnte eine natürliche Auslese und eine Säuberung der Erde von minderwertigen und niederen Rassen erfolgen. Nur der Krieg sicherte der germanischen Rasse den ihr vorbestimmten Platz an der Sonne. Aber er mußte sich mit dem Krieg beeilen. Es galt, die versäumte Zeit aufzuholen. Alexander der Große war mit zwanzig Jahren Feldherr geworden, Napoleon und Friedrich begannen ihre Eroberungskriege mit achtundzwanzig Jahren, während Karl der XII. seinen ersten Krieg gar als Siebzehnjähriger führte. Er, Adolf Hitler, war mit seinen fünfzig Jahren hinter den großen Feldherren der Welt zurückgeblieben. Er mußte die verlorene Zeit aufholen, er mußte sich beeilen! Hitler erhob sich von dem bemoosten Stein und stieg raschen Schrittes den schmalen Pfad zum Berghof hinab, als wollte er die versäumte Zeit auf der Stelle aufholen. In einer knappen Stunde sollte die Besprechung mit den Generalen beginnen. Bis dahin erwartete er noch einen Anruf von Ribbentrop aus Moskau.
Der diensthabende Adjutant, Oberstleutnant Schmundt, bat die Generale in das Arbeitszimmer des Führers. Obwohl Hitler die Besprechung kurzfristig anberaumt hatte, waren die meisten eine Viertelstunde vor der angesetzten Zeit bereits an Ort und Stelle. Die Teilnehmerzahl war beschränkt – man hatte zu der Besprechung im ganzen etwa zwanzig Personen, vornehmlich die Armeebefehlshaber, Kommandeure von Panzerverbänden und Luftwaffengenerale, geladen. Von der „alten Garde“ waren außer Göring nur Bormann und Heß vertreten, aber die beiden letzten hatten sich sofort in die Wohnräume des Führers begeben und waren noch nicht zurückgekehrt. Die Generale hatten sich zuerst im Vorsaal versammelt, wo sie miteinander nichtssagende Worte wechselten, und betraten sodann die Halle, Hitlers Arbeitszimmer, wobei einer dem anderen zuvorkommend den Vortritt ließ. Gelassen, mit ruhiger Würde, nahmen sie an dem breiten, langen Tisch Platz, dessen Platte auf Hochglanz poliert war. Dicht beim Schreibtisch des Führers saß bereits kerzengerade aufgerichtet der grauköpfige Oberbefehlshaber des Heeres, von Brauchitsch. Sein eckiges Gesicht mit den geschwungenen Brauen und den wie mit dem Lineal gezogenen geraden Lippen war konzentriert. Er unterhielt sich halblaut mit Halder, dem erfolgreichen, rundlichen und pedantischen Artilleristen, der erst kürzlich zum Generalstabschef ernannt worden war. Neben dem Fenster, das die ganze Südwand des Arbeitszimmers einnahm und an ein Warenhausschaufenster erinnerte, stand Reichsmarschall Göring. In seinem grellen Aufputz, einer hellblauen Paradeuniform und hohen Stiefeln
mit vergoldeten Sporen, fiel er sofort unter den Anwesenden auf. Er hielt sich an der Stuhllehne fest und wußte sich vor Lachen kaum zu halten. Der Reichsmarschall war offensichtlich glänzend gelaunt und zog unaufhörlich Generaloberst Milch auf, mit dem er eng befreundet war. Dieser stand dicht neben ihm und Kaltenbrunner, dem Chef des Reichssicherheitshauptamtes. Görings massiger Körper bebte, da er sich kaum noch beherrschen konnte. Auch Kaltenbrunner lachte und entblößte dabei große, lange Zähne, während dem Generalobersten die Witze des Feldmarschalls offenbar gar nicht behagten. Die Hände auf dem Rücken, untersetzt und breitschultrig, stand er da und lachte gezwungen mit. Die Sticheleien betrafen die nichtarische Abstammung Milchs. Der General hatte sich mit Hilfe seiner beiden Gesprächspartner aus dieser Geschichte herausgewunden, aber seit dieser Zeit war sie ständiger Gegenstand der rohen, taktlosen Spaße Görings. „Schon gut, Hermann, wie kann man nur immer über ein und dasselbe reden?“ Das dunkle, dreist-hübsche Gesicht Milchs verriet, daß er gereizt war. „Nein, nein, gesteh es nur: Hat dein Mamachen mit einem Arier gesündigt oder nicht? Nun, sag’s uns schon!“ Göring wischte sich die Tränen aus den Augen. „Ich könnte ja auch verschiedene Fragen stellen.“ Milch blickte auf den „Pour le merite“, der zwischen anderen blitzenden Orden auf Görings Brust prangte. Auf diese Auszeichnung, die er im Weltkrieg bekommen hatte, war der Reichsmarschall besonders stolz. Milch wollte noch etwas sagen, unterdrückte es aber. Für die Menschen dieses Kreises war es ein ungeschriebenes
Gesetz, an bestimmte Dinge der Vergangenheit nicht zu rühren. Warum erinnerte ihn also Göring fortwährend an diese unselige Geschichte? Im übrigem sollte er tun, was er wollte, selber war man besser vorsichtig. Göring spürte weder den drohenden Unterton in den Worten Milchs noch dessen Gereiztheit und setzte ihm, während er sich noch immer die Augen wischte, weiter zu. „Du brauchst doch nur ja oder nein zu sagen, Erhard. Dann lassen wir dich in Frieden.“ „Hör endlich auf, Hermann, Ehrenwort, mir hängt es schon zum Halse raus!“ „Na schön!“ sagte Göring, der endlich gemerkt hatte, daß Milch aufs höchste gereizt war. „Danke deinem Mamachen, daß sie gesündigt hat… Hätten wir eigentlich nicht schon anfangen müssen?“ Der Reichsmarschall sah auf die Uhr. „Oho, wo bleibt denn der Führer?“ „Bormann und Heß sind bei ihm“, sagte Kaltenbrunner. Göring erhob sich unruhig und blickte argwöhnisch zur Tür die waren also schon dort! Er vertrug es nicht, daß ein anderer beim Führer war, dazu noch in seiner Abwesenheit. Jetzt heckten sie sicherlich wieder irgendeine Intrige aus. „Ich geh mal nachsehen, was los ist… Ist Bormann schon lange dort?“ „Nein, höchstens eine halbe Stunde, nicht länger.“ Der beunruhigte Reichsmarschall verließ die Halle durch eine Nebentür, die wie ein Teil des in die Wand eingelassenen Nußbaumschrankes aussah. Inzwischen hatte sich das geräumige Arbeitszimmer Hitlers mit den geladenen Generalen gefüllt. Auch Rommel war eingetroffen, der frühere Taktiklehrer bei der Leibstandarte
Adolf Hitler. Das Gesicht energisch, in seinen Manieren ungehobelt und schroff, hatte er geräuschvoll am Tisch Platz genommen. Erschienen war auch der hochgewachsene, hagere Paulus, von dem es hieß, er sei der künftige Oberquartiermeister des Generalstabs. Des weiteren hatte sich der korpulente Höppner, Kommandeur eines Panzerkorps, eingestellt. In seiner Begleitung befand sich Guderian, der Verfasser des soeben erschienenen sensationellen Buches „Achtung – Panzer!“. Der kleine Mund, die zusammengezogenen Brauen und die gerunzelte Stirn verliehen ihm das Aussehen eines ständig unzufriedenen, galligen Menschen. Aber Guderian hatte keinerlei Grund, gekränkt zu sein oder mit dem Schicksal zu hadern – Hitler stand vorbehaltlos hinter seiner Doktrin des Masseneinsatzes von Panzern beim Durchbruch und bei der Einkesselung des Gegners. Deshalb wurde Guderian auch der General „mit Perspektive“ genannt. Die Kriegsmarine war durch die Großadmirale Dönitz und Raeder vertreten. Bis zu einem gewissen Grade zählte auch Vizeadmiral Canaris zu den Vertretern der Flotte, zumindest seinem Dienstgrad und der Marineuniform nach. Wäre nicht die Admiralsuniform, die er übrigens nur zu außerordentlichen Anlässen anlegte, hätte man ihn mit seinem gutmütigen Gesicht und den weichen, lässigen Bewegungen für einen zerstreuten, etwas müden Professor halten können. Nur an den glühenden, durchdringenden Augen sah man, daß es in seinem Kopf unaufhörlich arbeitete und daß eiserne Energie in ihm steckte. Der Vizeadmiral oder der „kleine Grieche“ Wilhelm Canaris stand an der Spitze der Abwehr, das heißt der Militärspionage des Dritten Reiches.
Allgemeine Aufmerksamkeit hatte Generaloberst Gert von Rundstedt erregt. Sein Erscheinen galt als sicheres Anzeichen dafür, daß sich der alte General mit Hitler ausgesöhnt hatte. Er war ein Offizier der preußischen Schule, geradezu und arrogant, mit versteinertem, faltenlosem Gesicht. Ohne sich von dem plötzlich eingetretenen Schweigen und den neugierigen Blicken beeindrucken zu lassen, ging er zu einem freien Platz und setzte sich nieder. Als einzigen begrüßte er von Brauchitsch mit Handschlag, während er für die anderen nur ein nachlässiges Kopfnicken übrig hatte. Nun nahm auch der gesprächige Dietrich, bekannt unter seinem Vornamen Sepp, ein gutaussehender Mann von südländischem Typ, den man für einen Barbesitzer halten konnte, am Tisch Platz. Er trug die Uniform eines Obergruppenführers der SS, ein Dienstgrad, der dem Rang eines Generalobersten entsprach. Der ehemalige Kommandeur der Leibstandarte des Führers befehligte jetzt die SS-Division „Adolf Hitler“. Unter den Geladenen befanden sich ferner der Armeebefehlshaber von Kluge, ein Mann mit intelligentem, rassigem Gesicht und hoher Stirn, der Oberkommandierende der Fallschirmtruppen Kurt Student sowie General Schörner, dessen rauhes soldatisches Wesen Hitler außerordentlich imponierte. Im Berghof, der persönlichen Residenz Hitlers, war die militärische Elite Deutschlands zusammengekommen. Über dem Raum lag die Atmosphäre ungeduldiger Erwartung. Nicht alle kannten das Thema der Besprechung, aber an vielen Anzeichen war zu spüren, daß große Dinge bevorstanden. Die Spannung wuchs, als Keitel erschien, der nicht mehr junge Generaloberst mit dem gestutzten, grauen Schnurrbart und
den hohlen Wangen. Keitel war als Chef des OKW einer der nächsten militärischen Berater Hitlers. Die märchenhafte Karriere des Stabschefs hatte viele beeindruckt. Als Fünfzigjähriger war Wilhelm Keitel noch ein gewöhnlicher Major gewesen, was nicht gerade davon zeugte, daß er über geniale strategische Fähigkeiten verfügte. Aber als der Major der Vertraute des Führers geworden war, begann für ihn ein schwindelerregender Aufstieg. Im Laufe weniger Jahre hatte er es bis zum Generaloberst gebracht. Die übrigen Generale fürchteten den nachtragenden, gewandten und anpassungsfähigen militärischen Gehilfen des Führers, wenngleich sie ihn andererseits beneideten und insgeheim über ihn spotteten. Keitel hielt einen Aktendeckel mit Papieren in der Hand. Er suchte mit den Augen den Adjutanten Schmundt, rief ihn zu sich heran und überreichte ihm die Papiere mit den Worten: „Für den Führer! Eilt!“ Schmundt verschwand augenblicklich hinter der Tür, durch die soeben Göring gegangen war. Als letzter kam der Reichsführer SS Himmler, ein nicht großer, schwächlich aussehender Mann, der an einen Provinzlehrer erinnerte und im Dritten Reich außerordentliche Machtbefugnisse besaß. Er trug die schwarze SS-Uniform ohne Orden und Rangabzeichen – ein Himmler hatte es nicht nötig, sich damit zu schmücken. Himmler blieb an der Tür stehen, putzte die Brille und warf einen forschenden Blick auf die versammelten Generale. Er entdeckte unter ihnen weder Göring noch Bormann oder Heß und wußte sofort, daß sie in den oberen Räumen waren. Ruckartig drehte er sich auf dem Absatz herum und stapfte mit kurzen Schritten über den Parkettfußboden des Vorsaals
in die privaten Räume Hitlers. Himmler betrat das im ersten Stock gelegene kleine Arbeitszimmer des Führers. Den Telefonhörer am Ohr, saß Hitler über den Schreibtisch gebeugt im Sessel. Um ihn herum hatten sich Göring, Bormann und Heß gruppiert. Der breitschultrige, stiernackige Martin Bormann stand da, die Hände auf die Tischkante gestützt, das düstere Gesicht mit den hervortretenden Backenknochen und der breiten Nase voll brutaler Verschlagenheit. Göring lag mit dem Oberkörper auf dem Tisch und hörte gespannt zu. Hinter ihm stand Heß, hochgewachsen, von asketischem Aussehen, mit tiefliegenden Augen, die sich unter überhängenden buschigen Brauen verbargen, und hielt einen geöffneten Aktendeckel bereit, falls Hitler eine Auskunft benötigen sollte. Alle im Zimmer lauschten dem Gespräch mit verhaltenem Atem. Himmler hatte, als er eingetreten war, etwas sagen wollen, war aber mit heftigen Gebärden zum Schweigen gebracht worden. In der Leitung war Moskau. Am anderen Ende sprach Ribbentrop; er führte die Verhandlungen mit der Sowjetregierung. Der Außenminister teilte mit, daß die Verhandlungen erfolgreich verliefen, Einzelheiten würde er in einer bis anderthalb Stunden verschlüsselt übermitteln, einstweilen bemerkte er höchst zufrieden, daß die Russen einverstanden seien, einen Nichtangriffspakt zu unterzeichnen. Ribbentrop erklärte, über Moskau entzückt zu sein, und erging sich in Komplimenten an die Adresse der sowjetischen Staatsmänner, die sich nicht an Kleinigkeiten festbissen und deren Entschlußfreudigkeit ihn begeistere. Die etwas entstellte Stimme
des Ministers drang deutlich aus der Muschel. Alle konnten hören, in welch salbungsvollem Ton Ribbentrop sprach. Über ihre Gesichter glitt ein zufriedenes, schlaues Lächeln: Sicherlich hörten die Russen das Gespräch ab, das ja auch mehr für deren Ohren bestimmt war. „Die Russen wollen ebenso wie wir den Frieden“, schallte es aus dem Hörer. „Ich bin glücklich, mein Führer, daß Sie gerade mich mit dieser dankbaren Mission in Moskau betraut haben.“ Hitler antwortete Ribbentrop im selben Ton. Er gab zu verstehen, daß man den Russen in allem entgegenkommen und ihren Forderungen zustimmen müsse. „Erklären Sie in Moskau“, gurrte er, „daß ich mit dem erfolgreichen Gang der Verhandlungen höchst zufrieden bin. Von nun an werden unsere beiden großen Länder auf ewig miteinander in Frieden leben. Und dem Frieden zu dienen – Sie wissen das sehr gut – ist ja der Sinn meines Lebens…“ Hitler legte den Hörer auf, rieb sich die Hände und sah die Anwesenden triumphierend an. „Ich glaube, ich habe nicht nur die Engländer, sondern auch die Russen hereingelegt… Aber jetzt auf zur Besprechung. Die Generale warten bereits auf mich.“ „Das ist genial, mein Führer! Ein Muster für elastisches Denken!“ gelang es Göring noch anzubringen. Einen kurzen Moment zögerte Hitler vor der Tür, zog sich die Jacke straff, senkte den Kopf und trat dann raschen Schrittes in die Halle. Ohne die ihm geltenden Grüße zu erwidern, ging er zum Tisch, bedeutete allen durch ein Zeichen, Platz zu nehmen, und begann ohne jede Einleitung zu sprechen. Der Adjutant
schrieb hastig mit. „Ich habe Sie zusammengerufen“, sagte Hitler in der eingetretenen Stille sehr leise, „um Ihnen ein Bild der politischen Lage zu geben, damit Sie Einblick tun in die einzelnen Elemente, auf die sich mein Entschluß zu handeln aufbaut, und um Ihr Vertrauen zu stärken.“ Bei Besprechungen dieser Art verharrte Hitler, wenn er sprach, nie an einer Stelle. Auch diesmal ging er in dem Raum hin und her, blieb stehen, gestikulierte, kehrte zu seinem Schreibtisch zurück und begann von neuem durch die Halle zu wandern. „Die Natur ist grausam“, fuhr Hitler fort, „also dürfen auch wir grausam sein. Wenn ich die Blüte der deutschen Nation in die Hölle des Krieges schicke und ohne das geringste Bedauern kostbares deutsches Blut vergieße, so habe ich zweifellos das Recht, Millionen Menschen von niedriger Rasse zu vernichten, die sich wie Ungeziefer vermehren. Der Krieg, meine Herren, schafft eine natürliche Auslese, er reinigt die Erde von minderwertigen und niedrigen Rassen. Und der Staat selbst ist nichts anderes als eine Vereinigung von Männern für Kriegszwecke.“ Den Anfang seiner Rede hatte Hitler ausgearbeitet und nebst allen ihm besonders beachtlich erscheinenden Stellen, auf die sich die Aufmerksamkeit konzentrieren sollte, auswendig gelernt. Im übrigen verließ er sich auf seine Rednergabe. Er improvisierte häufig und brachte es fertig, seine Zuhörer in eine Art hypnotischen Zustand zu versetzen, nicht zuletzt durch ausgefallene Wendungen und jähe Gedankensprünge, die den logischen Gang der Rede unterbrachen. Er hatte dabei seine eigene, wohlerwogene Art: Zuerst sprach er leise,
schlug dann unvermittelt hohe hysterische Töne an, deren Wirkung er durch plötzliches heftiges Gestikulieren noch verstärkte, und senkte wieder die Stimme bis zu einem tragischen Flüstern, das er dann plötzlich zu einem sich überschlagenden wilden Aufheulen anschwellen ließ. So auch diesmal. Ohne die Stimme zu heben, sprach er von entsetzlichen Dingen, legte sein philosophisches Credo dar und fuhr, nachdem er mit der Hand so heftig auf den Tisch geschlagen hatte, daß viele Besprechungsteilnehmer zusammenzuckten, abgehackt und gurgelnd fort: „Es bleibt bei dem Entschluß, bei erster passender Gelegenheit Polen anzugreifen. Ich werde propagandistischen Anlaß zur Auslösung des Krieges geben, gleichgültig ob glaubhaft. Der Sieger wird später nicht danach gefragt, ob er die Wahrheit gesagt hat oder nicht. Bei Beginn und Führung des Krieges kommt es nicht auf das Recht an, sondern auf den Sieg! Der Stärkere hat das Recht. Unsere Stärke liegt in Schnelligkeit und Härte. Dschingis-Chan tötete leichten Herzens und aus freiem Entschluß eine Million Männer, Frauen und Kinder. Sagen Sie mir, wer denkt heute noch daran? Die Geschichte sieht in ihm nur den großen Staatsgründer. Ich habe im Osten meine Totenkopfverbände bereitgestellt mit dem Befehl, unbarmherzig und mitleidlos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken. Nur so können wir Deutsche Lebensraum gewinnen. Die Lösung dieser Frage verlangt Mut. Halten Sie sich vor Augen: Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht. Der Befehl zum Angriff wird Samstag gegeben, und ich lasse jeden füsilieren, der auch nur ein Wort der Kritik äußert!“ Die Stimme Hitlers schlug um und wurde schrill und durch-
dringend. Sein Gesicht hatte sich verzerrt und zuckte. Er spürte nach wie vor eisige Kälte zwischen den Generalen und sich, er fühlte, daß sie der eben umrissenen Mission mißtrauisch gegenüberstanden. Rundstedt und Brauchitsch, ja sogar Halder und Kluge verhielten sich noch immer reserviert. Vielleicht verachteten sie bis heute den früheren Gefreiten! Er, Hitler, hatte bereits so manchen auf seine Seite ziehen können. Viele hatte er dazu gebracht, an seinen unfehlbaren militärischen Genius zu glauben. Die Mauer, die ihn einst von den Generalen getrennt hatte, war gefallen, aber es gab offenbar noch Reste, Ruinen, die man bis auf den Grund niederreißen mußte. Gleich jetzt, sofort! Hitler sprach wieder leise und gequetscht. Er erinnerte an die Erfolge der vorangegangenen Jahre, an den Austritt aus dem Völkerbund, an die trotz des Versailler Vertrages eingeführte allgemeine Wehrpflicht, an die ersten neu aufgestellten Regimenter und die ersten Waffenlieferungen aus Amerika. Er hielt den Generalen vor Augen, wie er mit einem Bataillon Soldaten das von englischen und französischen Truppen besetzt gehaltene entmilitarisierte Rheinland ins Reich zurückgeholt hatte. Damals hatte Hitler besonders deutlich gespürt, daß ihn jemand im Ausland stark unterstützte. Wie wäre es sonst möglich gewesen, die gesamte neutrale Zone ohne einen Schuß zu besetzen! In den Hauptstädten Europas tat man, als sei nichts geschehen. In Wirklichkeit aber war etwas außerordentlich Bedeutungsvolles vor sich gegangen – das entmilitarisierte Rheinland hatte als solches aufgehört zu bestehen. Damit hatte man ihm, Hitler, gewissermaßen den Wink gegeben aufzurüsten. Ein Jahr später war die Reihe an Österreich, dann an der
Tschechoslowakei, und jetzt war Polen dran. „In all den Jahren“, sagte Hitler mit erhobener Stimme, „gab es viele Propheten, die Unglück und Mißlingen voraussagten, aber nur sehr wenige, die an mich glaubten. Und wer hat recht gehabt? Ich frage Sie, wer? Denken Sie an Österreich. Dieser Schritt von mir stieß auf große Bedenken. Doch er führte zur Stärkung des Reichs. Wer wird heute wohl behaupten wollen, daß ich mit den Tschechen hätte anders verfahren sollen? Mit einer Wiederholung der tschechischen Operation ist jetzt nicht zu rechnen. Der Konflikt mit Polen wird nur dann zum Erfolg führen, sofern der Westen außerhalb des Spiels bleibt. Jetzt ist die Wahrscheinlichkeit noch groß, daß der Westen nicht eingreift. Meine Eingebung trügt mich nicht. Ich habe lange Zeit überlegt und befürchtet, England, Rußland, Polen und Frankreich könnten mir Schwierigkeiten bereiten, indem sie sich zusammenschließen. Aber das ist nicht der Fall. Chamberlain will nicht gegen uns kämpfen, er wird auch nicht mit Rußland zusammengehen. Daladier und Chamberlain, diese kleinen Würmchen – ich sah sie in München –, sind viel zu zag für einen Angriff. Über eine Blockade gehen sie nicht hinaus. Wir werden keinen Zweifrontenkrieg zu führen brauchen. Polen wird entvölkert und mit Deutschen besiedelt werden. Mein Polenpakt war nur als Zeitgewinn gedacht. Letzten Endes wird mit Rußland dasselbe geschehen, meine Herren, was ich jetzt mit Polen mache. Ribbentrop ist heute erneut von mir angewiesen worden, alle Vorschläge Moskaus anzunehmen und sich mit allen Forderungen der Russen einverstanden zu erklären.“ Tiefe, atemlose Stille herrschte im Raum. Nichts war zu hören als die Stimme Hitlers, die, bald machtvoll und schrill,
bald schmeichelnd und gequetscht, alles erfüllte, jeden packte, bezwang, aufwühlte. Bei vielen hatten sich die Gesichter gerötet, ihre Augen glänzten. Eine Ausnahme bildeten wahrscheinlich nur Rundstedt und Brauchitsch. Sie saßen mit kühler, unbewegter Miene da. Aber der Schein trog. Brauchitsch drehte den Bleistift in seinen Fingern und dachte: Diesmal hat Hitler wohl recht. Mit der polnischen Grenze können wir uns nicht abfinden. Und dieser Danziger Korridor… Der Oberbefehlshaber des Heeres hatte persönliche Interessen in Polen. Als pommerscher Latifundienbesitzer konnte er sich nicht mit dem Gedanken aussöhnen, daß der durch Westpreußen führende polnische Korridor seine Ländereien wie ein Keil durchschnitt. General von Rundstedt bewegten andere Gedanken. Teufel noch mal, dachte er, vielleicht ist die ganze Kriegskunst bloß ein Zufall, eine reine Glückssache, und die großen Feldherren sind weiter nichts als Glückspilze? Wie sollte man sich sonst die Erfolge Hitlers erklären? Ein ehemaliger Gefreiter und… Unfaßbar! Vielleicht ist er wirklich der Mann, der für den verlorenen Krieg Revanche nimmt und das Prestige der deutschen Generalität wiederherstellt. Der Kampf mit Polen dürfte zwar nicht in zwei Wochen beendet sein, das ist absurd, aber das Spiel ist den Einsatz wert! Die Rede Hitlers verfehlte selbst bei den starrköpfigsten und unzugänglichsten Generalen nicht ihre Wirkung. Hitler fühlte intuitiv, daß er die Zuhörer jetzt in der Hand hatte. Die Suggestion hatte gewirkt. Das war ihm nicht leichtgefallen. Auf seinem Gesicht perlte Schweiß, sein Mund verzerrte sich in krampfartigen Zuckungen. Geradezu künstlich, wie ein Schamane, konnte er sich in bestimmten Augenblicken in eine
Erregung hineinsteigern, bei der er die Beherrschung über sich selbst verlor, in eine Art Trance fiel und einzelne Worte und Sätze keuchend, gleichsam willenlos hervorstieß. Seine Psychopathie beeinflußte unweigerlich sein Auditorium. „Für uns ist die Lage jetzt äußerst günstig. Ich habe nur Angst, daß mir noch im letzten Moment irgendein Schweinehund einen Vermittlungsplan vorlegt. Dann schmeiße ich ihn die Treppe hinunter, selbst wenn ich ihm vor einer Meute Bildberichterstatter höchstpersönlich in den Bauch treten müßte. Nein, jetzt ist es bereits zu spät! Uns wird niemand hindern. Die Vernichtung Polens beginnt am Samstagmorgen. Ich lasse ein paar Kompanien in polnischer Uniform einen Überfall auf unsere Grenze verüben. Ob die Welt das glaubt, ist mir scheißegal. Die Welt glaubt nur an den Erfolg. Meine Herren, auf Sie warten Ruhm und Ehre, wie es sie noch kein Jahrhundert zu vergeben hatte! Seien Sie hart und brutal! Handeln Sie schnell, und nehmen Sie keine Rücksicht! Die Bevölkerung Westeuropas muß vor Angst zittern! Wir stehen vor dem humansten aller Kriege – er wird ein Blitzkrieg sein und Schrecken verbreiten!… Und jetzt auf – gegen den Feind! In Warschau werden wir zu unserer Siegesfeier zusammenkommen!…“ Mit diesen Worten schloß Hitler seine Rede. Er war erschöpft. Die schlaffen Augensäcke waren angeschwollen, das Gesicht, erdfahl jetzt, war zusehends gealtert. Er ging zum Schreibtisch und ließ sich schwer in den Sessel fallen. Unter den Anwesenden gab es keinen, der Hitler widersprechen wollte. Die von ihm getroffene Entscheidung befriedigte alle. Krieg! Jedem versprach er etwas. Brauchitsch dachte wieder
an seine abgetrennten Güter, Rundstedt entsann sich, wie bitter die militärische Niederlage des kaiserlichen Deutschlands gewesen war – er lechzte nach Revanche, nach Wiederherstellung des verlorenen Prestiges. Andere wieder träumten von Ruhm, von neuem Landbesitz, von Reichtum und gesicherten Verhältnissen. Alle Zweifel und Bedenken, alle Vorsicht, jede kühle Überlegung wurden davon verdrängt. Erst viele Jahre später, als die Katastrophe unausbleiblich war, behauptete manch ein Teilnehmer der Besprechung in Obersalzberg, in Opposition zu Hitler gestanden zu haben. Aber das war, wie gesagt, viel später. An jenem Augusttag 1939 waren jedoch alle in ihrem Sinnen einig. Hitler saß müde da, die Arme auf die Sessellehnen gestützt. Auf seinem Gesicht lag ein rätselhaftes Lächeln. Er war zufrieden. Jetzt endlich glaubten die Generale an seine Unfehlbarkeit. Es war ihm also doch gelungen, sie aufzurütteln, sie dort zu packen, wo sie empfindlich waren! Oberstleutnant Schmundt schrieb hastig die letzten Zeilen des Protokolls nieder. Die Beratung trug so vertraulichen Charakter, daß selbst die zuverlässigsten Stenographen nicht hinzugezogen worden waren. Schmundt schrieb: „Die Rede des Führers wurde mit Enthusiasmus aufgenommen.“ Besprechungen dieser Art verliefen gewöhnlich ohne Diskussion. Der Führer ließ eine Pause einlegen und lud die Besprechungsteilnehmer zum Mittagessen im „Teehaus“ ein. Er wollte den Generalen seine uneingeschränkte Gunst bekunden. Jeder würde sich durch diese Einladung geehrt fühlen. Inmitten seiner Suite verließ Hitler die Villa. Vor der granitenen Freitreppe fuhr ein Maybach vor. Der Wagen wirkte
schwer und massig, war aber außerordentlich geräumig. Unmittelbar hinter dem Berghof wandte sich die asphaltierte Straße nach rechts, führte an Kasernen vorbei – die Villa wurde von einigen Hundert SS-Leuten bewacht – bergauf und verschwand zwischen den Felsen. Am Berghang lag Obersalzberg, eine aus rund zwanzig Häusern bestehende Siedlung mit den Villen von Göring, Ribbentrop, Goebbels und anderen Vertretern der „alten Garde“. Etwa auf halbem Wege zum „Teehaus“ mündete die Straße in eine von Felsen umringte Terrasse. Eine hohe Einfriedung aus roh behauenen Steinen umsäumte hier den Berg. Die Enden dieses Steingürtels, die bei der Terrasse aufeinandertrafen, verband wie eine Schnalle ein Eisentor, auf dem in Kunstschmiedearbeit das Hakenkreuz und ein Adler mit ausgebreiteten Schwingen dargestellt waren. Auf dem weiteren Weg gab es keine Bauwerke. Erst auf dem Gipfel, von dieser Stelle aus gut zu sehen, stand ein niedriger massiver Bau mit flachem Dach, der einer Bergfeste glich. Hinter dem Tor stieg der Weg noch steiler an und wand sich spiralförmig um den Berg. Die Wagen arbeiteten sich langsam im ersten Gang hinauf. Hitler fühlte sich noch immer matt. Die anfängliche Erregung und Hochstimmung hatte allmählich nachgelassen. Obwohl er noch unter dem Eindruck der eigenen Rede stand, hatten sich seiner andere Gedanken bemächtigt, die er seinen Begleitern nicht vorenthielt. „Wir können die große Auseinandersetzung auch aus einem weiteren Grund nicht hinausschieben. Niemand weiß, wie lange ich noch lebe, ohne mich wird die Lage auf lange Zeit hoffnungslos. Davon bin ich überzeugt. Mein Dasein ist also ein großer Wertfaktor. Ich kann aber jederzeit von einem
Verbrecher, von einem Idioten beseitigt werden. Deshalb muß unbedingt in diesem Jahr gehandelt werden.“ Hitler stockte, dachte nach und wiederholte: „Ja, man muß handeln, und nur jetzt, nur jetzt!“ „Mein Führer“, warf der neben Hitler sitzende Göring geistesgegenwärtig ein, „gestatten Sie, daß ich Ihnen widerspreche. Ich sage jetzt prophetische Worte: Von dieser Feste aus werden Sie noch einmal die Welt lenken und beherrschen! Sie brauchen nicht finster in die Zukunft zu blicken!“ Göring, der die ehrgeizigen Träume des Führers sehr gut kannte, traf mit derartigen Prophezeiungen immer das Richtige. Hitler hatte diese Gedanken gelegentlich selbst geäußert. Das Verdienst Görings bestand darin, daß er wußte, wann er sie zu wiederholen hatte. Spiegelte das in unzugänglicher Bergeshöhe erbaute Felsennest nicht etwa auch den Gedanken der Weltherrschaft wider? Hitler hatte den Bauplan des „Teehauses“ selbst entworfen. Die dicken mittelalterlichen Mauern, die eisenbeschlagenen eichenen Türen sollten die Festigkeit, die unbändige Urkraft des deutschen Geistes symbolisieren. Hier oben, umgeben von mittelalterlicher Romantik und unzugänglichen Bergketten, träumte Hitler davon, die Welt zu beherrschen. Das alles wußte Göring, und er ließ sich keine Gelegenheit entgehen, eine der schmeichelhaften Phrasen anzubringen. „Danke, Hermann! Du hast meine Gedanken erraten. Das ist das beste Anzeichen dafür, daß unsere Seelen verwandt sind. Bei aller Bescheidenheit, nur ich bin dazu berufen… Am Sonnabend beginnen wir mit dem Angriff, wenn… Im übrigen, es gibt kein ,Wenn’! Alfred“, wandte er sich an Rosenberg, der erst gegen Ende der Besprechung in Obersalzberg
eingetroffen war, „mach dich mit dem Gedanken vertraut, daß du Minister für die besetzten Gebiete wirst. Merke dir: Polen ist nur der Anfang. Für dich reicht die Arbeit, solange du lebst. Zum Generalgouverneur in Polen werden wir Frank ernennen, er wird den Polen schon das Fell gerben. Hast du nicht mal in Moskau studiert, Alfred?“ „Ja, mein Führer, ich kenne Rußland einigermaßen.“ Hitler wußte genau Bescheid über die Vergangenheit Rosenbergs. Ebensogut wie dieser hätte er alle Einzelheiten aus dem Lebenslauf dieses Baltendeutschen nennen können, aber die Gespräche über Moskau und Rußland kitzelten die Nerven, wirkten erregend wie ein Narkotikum, und gerade das hatte er jetzt sehr nötig. Hitler fragte: „Auf welche Weise bist du eigentlich aus dem Baltikum nach Moskau gekommen?“ „Die Rigaer Technische Hochschule wurde dorthin überführt. Ich habe sie während der Revolution absolviert.“ „Und dann?“ Dann floh Rosenberg aus Sowjetrußland, trieb sich in Paris, in den von Weißgardisten überfüllten Kneipen umher, intrigierte im Emigrantensumpf, führte ein Hungerleben, betätigte sich, allerdings nicht sehr erfolgreich, für den französischen Geheimdienst und schloß zu guter Letzt, in München, Bekanntschaft mit Hitler. Aus Rußland hatte er neben einem tödlichen Haß auf die Bolschewiki erzreaktionäre, den Führern der „Gemeinschaft des Erzengels Michael“ entlehnte Ansichten und die fixe Idee von einer Abtrennung der Ukraine mitgebracht. Rosenberg hatte sogar einige Schritte unternommen, um dieses heißersehnte Ziel zu verwirklichen. Nicht weit von hier, in Reichenhall, hatte er zusammen mit
dem Hetman Skoropadski, mit Sewruk, Poltawez-Ostraniza und anderen Säulen der ukrainischen Nationalisten an einer Konferenz der weißen Emigranten teilgenommen. Damals, im Jahre 1921 war aus der Abtrennung zwar nichts geworden, aber seit jener Zeit galt er als Spezialist für russische Fragen. All das jagte dem künftigen Minister für die besetzten Ostgebiete durch den Kopf. Hitler hingegen gab er lakonisch zur Antwort: „Dann, mein Führer, wurde mir das Glück zuteil, mit Ihnen zu arbeiten. Moskau habe ich vor genau zwanzig Jahren verlassen.“ „Ich verspreche dir, daß wir noch einmal zusammen in Moskau sein werden.“ Das Gespräch stockte. Mühsam erklomm der Maybach die oberste Plattform am Fuße eines überhängenden Felsens. Alle stiegen aus dem Auto und begaben sich zu der Öffnung eines gewölbten, mit rosaroten Granitplatten verkleideten Tunnels. Sosehr sich Göring auch beeilte, er konnte mit den anderen nicht Schritt halten. Seine korpulente Figur in dem gummierten aluminiumfarbenen Regenmantel, mit dem Offizierskoppel darüber, sah aus wie ein Fesselballon, der durch das Tor eines Hangars gezogen wird. Keuchend und als letzter wälzte er sich in den Tunnel. Schmiedeeiserne Leuchter, auf kunstvoll gearbeiteten Konsolen, wie man sie nur noch an den Portalen alter Kirchen sieht, erhellten den ins Innere des Felsens führenden Tunnel, der in einer ebenfalls mit Steinplatten verkleideten breiten Grotte endete. In der linken Wand sah man eine durch ein Bronzegitter gesicherte Fahrstuhltür.
Ein SS-Offizier riß die Tür auf und ließ Hitler und seine Begleiter in den Fahrstuhl treten. Gleichzeitig drückte er unauffällig auf den in der Wandverkleidung verborgenen Knopf einer elektrischen Signalanlage und lauschte: Von unten her drang gedämpftes Scharren an sein Ohr: Die Leibwache des Führers – zwölf SS-Männer – nahm ihren Platz in der unteren Hälfte des Fahrstuhls ein. Als es unten still geworden war, schloß der Offizier hinter sich die Tür und trat an das Schaltbrett des Fahrstuhls. Die mit spiegelblanken Messingwänden ausgestattete Kabine setzte sich in Bewegung. Der in den Fels getriebene senkrechte Stollen war über hundert Meter lang. Nur auf diesem Weg konnte man zum „Teehaus“ gelangen. Wenn der Aufzug oben war, war das Felsennest für die Außenwelt unerreichbar. Bald danach trafen auch die übrigen Gäste im „Teehaus“ ein. Das Mittagessen wurde in der Kaminhalle serviert, einem kreisrunden Saal. Außer einem riesigen, ebenfalls runden Tisch mit Stühlen, einigen unverständlichen Wandgemälden, die von der Hand Hitlers stammten, und einem über den ganzen Parkettfußboden ausgebreiteten Teppich wies der Raum keine Einrichtungsgegenstände auf. An der Tafel ging es munter zu, obwohl keine Damen anwesend waren. Eva Braun hatte sich vor Beginn des Mahls nur kurze Zeit den Gästen gezeigt. Sie trug ein schwarzes, hochgeschlossenes Kleid, das kurz genug war, um ihre wohlgeformten Beine voll zur Geltung zu bringen. Als Schmuck sah man an ihr nur Ringe und eine Perlenhalskette. Das von hellem Haar umrahmte Gesicht der Dreißigjährigen, deren Figur bereits vollere Formen annahm, hätte man schön nen-
nen können, wären nicht die beiden senkrechten Falten gewesen, die wie Klammern um ihren Mund lagen. Eva Braun begrüßte die Generale zurückhaltend, rief Hitler beiseite, flüsterte ihm etwas zu, nestelte an seinem Binder, fegte ein unsichtbares Stäubchen von seiner Jacke, lächelte ihm zu und verschwand wieder. Eva hatte sich erkundigt, ob sie Hoffmann rufen solle, solange die Tafel noch unberührt war. Hitler bat seine Gäste zu Tisch. Der Platz neben ihm blieb leer. Alle aßen und tranken mäßig – nach dem Mittagmahl sollte die Besprechung fortgesetzt werden –, aber auch ohne den Genuß von Wein waren sie innerlich erregt. Allein Göring, der sich durch einen unersättlichen Appetit auszeichnete, aß alles, was ihm gereicht wurde. Hitler beschränkte sich auf vegetarische Gerichte, Fleischspeisen verschmähte er. Während des Essens trank er ein Glas Rheinwein – er hatte es sich nur füllen lassen, um vor der Kamera Hoffmanns einen Toast auszubringen. Das Erscheinen des Fotografen hatte, wie meist in solchen Fällen, eine gezwungenere Atmosphäre geschaffen. Jeder wollte auf dem Bild möglichst vorteilhaft erscheinen. Während des Essens fand keine allgemeine Unterhaltung statt, man sprach mit den Tischnachbarn. Als der Mokka gereicht wurde und die Diener sich entfernt hatten, kam Hitler auf den während der Fahrt zum „Teehaus“ geäußerten Gedanken zurück. „Alles geht darauf hinaus, daß jetzt der Moment günstig ist“, sagte er. „Als einen Faktor muß ich in aller Bescheidenheit meine eigene Person nennen: unersetzbar. Ich bin überzeugt
von der Kraft meines Gehirns und von meiner Entschlußkraft. Ich werde den Krieg nicht beenden, bevor ich den Gegner zerschmettert habe. Ich kapituliere unter keinen Umständen. Das Schicksal des Reiches hängt von mir und nur von mir ab.“ Der Adjutant Schmundt schob die noch volle Tasse Mokka von sich und schrieb die Worte Hitlers mit. Dieser kam nun auf die Beziehungen zu England, auf die britischen Politiker zu sprechen. „Der Dicke will mich täuschen.“ Hitler meinte Churchill. „Gewiß, er ist schlauer als Chamberlain, aber eine Eigenschaft fehlt ihm – Mut, Letzten Endes wird er sich selbst überlisten. Churchill zieht es vor, heimlich zu wirken und sich von anderen die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen. Ich bin davon überzeugt, daß die Briten sich unserem Eindringen in Polen nicht entgegenstellen werden – wir sind dann näher an Rußland, und das ist ihnen gerade recht. Mit Churchill oder Chamberlain werden wir eher einig als mit den Russen. Unser gemeinsamer Feind ist der Bolschewismus, das eint uns mit dem Westen. Inzwischen bringen wir unter dem Deckmantel des Kampfes gegen die rote Gefahr Polen an uns. Wir werden ja sehen, wer wen überlistet!“ Göring fuhr mit der Hand in die Tasche, um sein Zigarrenetui herauszuholen, besann sich aber eines anderen – in Gegenwart Hitlers durfte nicht geraucht werden. Hitler äußerte noch einige Gedanken, die Oberstleutnant Schmundt notierte, und erinnerte dann daran, daß es Zeit sei, die Besprechung fortzusetzen. Der zweite Teil der Besprechung fand wieder in der großen Halle, dem Arbeitszimmer Hitlers, auf dem Berghof statt.
Von Brauchitsch hatte das Wort. Er bediente sich bei seinen Ausführungen einer strategischen Karte von Osteuropa, auf der Polen von farbigen Linien und Pfeilen durchschnitten war, die von der deutschen Grenzlinie ins Innere des Landes führten. Zu dem Vortrag Brauchitschs machte Hitler einige Bemerkungen, die ohne Einwände akzeptiert wurden. Er hatte bereits früher einen vom Generalstab vorgelegten Operationsplan verworfen, der ihm zu vorsichtig und zaghaft war: Die Truppen reichen nicht aus? Dann muß man eben welche von der Westgrenze abziehen. Die Franzosen werden nicht kämpfen. Die Polen zum Rückzug zwingen? Unsinn! Ziel ist Beseitigung der lebendigen Kräfte. Alle schnellen, motorisierten Divisionen sind auf dem linken Flügel zu konzentrieren, der Korridor ist abzuschneiden und der Schlag im Rükken des Gegners zu führen. Zu riskant? Unsinn! Im Westen wird kein Schuß fallen, da kann man unbesorgt sein. Die Besprechung zog sich bis Mitternacht hin. Es wurden Beschlüsse über technische Einzelheiten gefaßt und aufeinander abgestimmt. Die schon vor langem geschaffene Kriegsmaschine war einsatzbereit. Drückende Hitze weckte Karl Wilamzek am Tag nach seiner Hochzeit aus dem Schlaf. Unter dem leichten Federbett war es unwahrscheinlich heiß. Durch die Vorhänge drang gedämpftes Licht. Wilamzek stieß mit dem Bein das Deckbett fort und seufzte erleichtert auf. Neben ihm im Doppelbett lag Gerda, seine Frau. Auch ihr war sicherlich heiß. Sie warf sich im Schlaf von einer Seite auf die andere, und ihr gerötetes Gesicht bedeckten winzige
Schweißperlen. Karl Wilamzek schloß zufrieden die Augen. Alles in diesem Zimmer gehörte jetzt ihm. Er reckte sich und fuhr mit der Hand über die nackte Brust seiner Frau. Gerda war sein größter Besitz. Sie erwachte unter der Berührung und murmelte verschlafen: „Karlchen, mein Süßer!“ Aber kaum hatte Gerda die Augen geöffnet, als ihr Gesicht einen besorgten Ausdruck annahm. „Oh, mein Gott!“ rief sie erschrocken. „Wie spät es schon ist! Merke dir, Karlchen, wir werden immer sehr früh aufstehen. Sonst schaffen wir nichts. Heute darfst du übrigens länger liegenbleiben, wenn du willst…“ Sie stand hastig auf und schlüpfte in die Pantoffeln. Ohne sich ihrer Nacktheit zu schämen, als wäre Karl mindestens schon zehn Jahre ihr Mann, ging sie an den Kleiderschrank, warf sich einen Morgenrock über, ordnete ihr Haar und verließ das Schlafzimmer. Von draußen sagte sie noch: „Der Schlafanzug hängt überm Stuhl. Probier ihn mal an. Er müßte dir passen.“ Karl Wilamzek rekelte sich wohlig in dem zerwühlten Bett. Nach der gestrigen feuchtfröhlichen Feier brummte ihm ein wenig der Schädel. Aber das machte nichts. Dafür war das eine Hochzeit gewesen, die sich sehen lassen konnte. Alles war reichlich vorhanden, wie es sich für eine solche Gelegenheit schickt. Er hatte natürlich anständig in die Tasche greifen müssen. Aber das ließ sich nun einmal nicht ändern. Nicht alle Tage war Hochzeit! Und Gerda schien eine ordentliche Frau zu sein. Die hielt das Geld schon zusammen! Das war doch was anderes als die angemalten Dämchen bei Frau
Kunze im Album. Karl erinnerte sich an seinen erfolglosen Besuch in dem Eheanbahnungsinstitut. Vor einem Monat war seine Tochter zu ihm ins Dorf geradelt gekommen. Sie traf ihn im Hof an, als er gerade alte Treibhausfensterrahmen ausbesserte. Emmi übergab ihm die Adresse des Eheanbahnungsinstituts „Diana“ und legte ihm ans Herz, unbedingt dort hinzufahren. Vielleicht würde etwas dabei herauskommen, im übrigen verpflichte ihn der Besuch zu nichts. Emmi hatte schon des öfteren mit ihm darüber gesprochen, daß er sich wieder verheiraten solle, und Karl selber dachte jetzt auch immer öfter daran. Ohne eine Frau im Haus ging es einfach nicht mehr. Früher hatte die Tochter bisweilen mit angepackt, aber seitdem .sie verheiratet war, sah er sie nur noch selten. Karl hatte das Witwerdasein gründlich satt. Es reichte ihm! Wenn man einmal über die Fünfzig ist, sehnt man sich nach Behaglichkeit – und überdies zählte er sich noch gar nicht zum alten Eisen. Im Gegenteil… Das Eheanbahnungsinstitut befand sich am Kurfürstendamm. Frau Kunze, die Inhaberin, empfing ihn höflich, wenngleich ihr Blick ein wenig scheel seinen Anzug streifte, dem man ansah, daß Karl Wilamzek vom Lande kam. Im allgemeinen gehörten ihre Besucher vornehmeren Kreisen an. Die Heiratsvermittlerin säuselte Karl die Ohren voll von einer Diana, der Göttin der Jagd und der weiblichen Keuschheit, und versicherte ihm, daß et mit ihrer Hilfe – sei es der von Diana oder der von Frau Kunze – sein Glück finden werde. Dann führte ihn die Vermittlerin hinter einen Wandschirm und schlug ein Fotoalbum in blauem Samteinband auf – sie tat das mit einer Andacht, als läge vor ihr das Evangelium.
Auf jeder Seite blickten Karl Frauen verschiedenen Alters an. Mit Fingern, die ihm nicht gehorchten, hantierten sie doch meist mit Erde und Dünger, blätterte er in dem Album, während ihn Frau Kunze über die einzelnen Damen aufklärte und gleichzeitig fragte, was für Frauen der Herr bevorzuge. Falls sein Typ Blondinen seien, könne sie ihm dieses Fräulein empfehlen. Aus einer hochanständigen Familie… Oder vielleicht sage dem Herrn diese Dame mehr zu? Eine Witwe, zwar älter als die Blondine, aber noch prächtig beisammen. Gott gebe, daß jeder mit fünfundvierzig Jahren so aussehe! Sie besäße nicht nur ein kleines Kapital, sondern auch einen sehr guten Charakter. Letzteres spiele im Familienleben ja eine große Rolle… Karl verweilte bei dem Bild, das eine vollbusige Frau im Spitzenkleid zeigte. Sie hatte ein gezwungenes Lächeln und einen stechenden Blick. Irgendwie erinnerte sie ihn an seine verstorbene Frau. „Verzeihen Sie“, sagte Frau Kunze, „diese Dame hat bereits ihr Glück gefunden. Wären Sie nur etwas früher gekommen! Sie hat gerade vor einer Woche geheiratet. Wir haben es verabsäumt, ihr Bild aus dem Album herauszunehmen…“ In der feierlichen Stille des Eheanbahnungsinstituts fühlte sich Karl gar nicht wohl. Ihm gefiel keine der Frauen, und als er noch erfuhr, daß die Vermittlungsgebühren im voraus zu entrichten waren, verging ihm vollends der Appetit; er hatte es plötzlich sehr eilig. „Wollen Sie nicht ein Bild und ein paar Angaben über Ihre Person dalassen?“ fragte Frau Kunze. Karl Wilamzek versprach, gelegentlich vorbeizukommen und ein Foto mitzubringen. Und dabei blieb es. Die Heiratsver-
mittlerin am Kurfürstendamm bekam Wilamzek nicht mehr zu sehen. Manchmal weiß man selber nicht, woher das Glück kommt. Einige Zeit später fand Karl, was er suchte, in der Zeitung, unter den Heiratsanzeigen. Die Zeitung hatte er sich zur Erinnerung aufgehoben. In der Anzeige hieß es: „Witwe in den besten Jahren sucht Bekanntschaft mit charakterfestem Herrn. Gärtner, der einen Betrieb übernehmen kann, bevorzugt.“ Die Witwe Frau Müller wohnte an der Peripherie von Pankow, das heißt etwa zehn, zwölf Kilometer von seinem Dorf entfernt. Am nächsten Sonntag fuhr Karl zu der Witwe, und sie wurden sich bald einig. Gewiß, der Betrieb war nicht gerade groß und befand sich in nicht eben glänzendem Zustand. Da hieß es die morschen Rahmen auswechseln, den Zaun instand setzen und neue Kulturen anpflanzen, wenn er sich nicht nur auf Kohl legen wollte, wie es Frau Müller getan hatte. Wenn man die Hände rührte, würden die Gewächshäuser jedenfalls etwas abwerfen. Sie stießen an die Straße, gegenüber dem Häuschen, dessen eine Hälfte der Witwe gehörte. Von einem Kunden, der in der Schönhauser Allee ein Gemüsegeschäft hatte, lieh sich Karl Wilamzek einen Tempowagen, fuhr mit der Witwe in sein Dorf, zeigte ihr seinen Betrieb – er besaß ja auch eine Gärtnerei –, und beide kamen überein, ihr Schicksal zu vereinen. Das war eine Woche her, und heute lag Karl Wilamzek als frischgebackener Ehemann im Bett, während Gerda damit beschäftigt war, ihm Frühstück zu bereiten. Aus der Küche drang wohlriechender Kaffeeduft in seine Nase. „Karlchen!“ rief Gerda. „Das Frühstück ist fertig. Steh auf,
Manne!“ Ihre Stimme klang zärtlich und froh. Karl Wilamzek reckte sich noch einmal, stand auf, nahm den Schlafanzug vom Stuhl und probierte ihn an. Ja, Herr Müller war offensichtlich bedeutend dicker gewesen als er. Der Pyjama, besonders die Jacke, hing an ihm wie ein Sack. Man würde ihn ändern müssen. Dafür paßte ihm der Anzug, in dem er gestern zur Kirche gefahren war, wie angegossen. Und alles war fast noch neu – der Frack ebenso wie die Hosen. Sein verstorbener Vorgänger hatte die Sachen nach der Hochzeit nie wieder getragen. Wilamzek zog seine alten Hosen an – den Hochzeitsanzug hatte Gerda bereits vorm Schlafengehen in den Schrank gehängt –, spannte die Hosenträger nach und ging ins Bad. Alles blitzte hier vor Sauberkeit. Gegenüber dem Klosettbecken hing in dünnem Rahmen der Spruch: „Trautes Heim – Glück allein.“ Richtig. Nun hatte auch er sein trautes Heim. Darin blieb er jetzt bis zum Tode. Wilamzek liebte Sinnsprüche. Sie enthielten die biblische Weisheit und bestätigten unerschütterliche ewige Wahrheiten über Gut und Böse, über braves Tun und andere Tugenden. Zudem blieben sie einem so schön im Gedächtnis haften, und man mußte sich nicht erst den Kopf anstrengen, um festzustellen, was Gut und was Böse sei. In Gerdas Wohnung gab es an den Wänden viele solcher Sinnsprüche. Obwohl Karl ein Gefühl der Zufriedenheit erfüllte, wie man es nach einem guten Geschäftsabschluß empfindet, beunruhigte ihn etwas und drückte ihn wie ein Steinchen im Schuh. Er konnte und konnte nicht darauf kommen, was es war. Allein dieser Umstand verdarb ihm die Laune. Das Denken war nicht gerade seine starke Seite, dafür hatte er aber ein gutes
Gedächtnis, in dem er auch meist forschte, wenn er einer Sache auf die Spur kommen wollte. So auch jetzt, da er die Ursache für sein Unbehagen aufzudecken suchte. Was konnte es bloß sein? In der Kirche war alles programmgemäß verlaufen. Im Frack, mit der gestärkten Hemdbrust und dem Zylinderhut hatte er einen sehr seriösen Eindruck gemacht. Karl erinnerte sich noch selbstzufrieden an die Blicke der Gaffer vor der Kirche. Dann hatte er Gerda in die Kutsche geholfen, sich neben sie gesetzt, und sie waren nach Hause gefahren. Man hatte einen Fotografen aus Pankow zur Hochzeitsfeier bestellt. Der baute lange seinen Kasten auf, kroch unter das Tuch und gruppierte die Gäste, von denen jeder unbedingt ganz vorn und in der Nähe der Neuvermählten sitzen wollte, bald so und bald so. Dann nahm er das Brautpaar allein auf. Gerda hatte Karl zuerst den Kopf auf die Schulter legen wollen, aber er hatte sie angestoßen und ihr zugeflüstert, es sei besser, sich so wie alle aufnehmen zu lassen. Obwohl Wilamzek nicht Mitglied der Nationalsozialistischen Partei war – er hatte ohnehin viel zuviel in seiner Gärtnerei zu tun –, schmeichelte es ihm, daß man ihm auf dem Standesamt des Führers Buch „Mein Kampf“ überreicht hatte. Jetzt erhielten alle Brautpaare ein solches Geschenk. War das etwa kein Zeichen der Achtung und Aufmerksamkeit, die der Führer ihm und seiner Frau angediehen ließ? Das Buch im braunen Einband lag jetzt im Speisezimmer an sichtbarer Stelle. Diesen Platz sollte es auch zur Erinnerung behalten. Das Geschenk ging also bei Tisch von Hand zu Hand. Alle blätterten in dem Buch und taten höchst begeistert, obwohl keiner von ihnen darin las. Nur Willi, Karls
Schwiegersohn, schlug, als die Reihe an ihn kam, das Buch auf und begann laut zu lesen. Er saß in seiner SS-Uniform am anderen Tischende. Karl verstand zunächst gar nicht, warum es plötzlich am Tisch still geworden war. Willi war noch recht jung, nicht mal dreißig Jahre alt, hatte es aber schon bis zum Untersturmführer der SS gebracht. Und er brachte es bestimmt noch viel weiter. Emmi hatte sich nicht verrechnet, als sie ihn zum Mann nahm. Natürlich war eine Hochzeitsfeier nicht der richtige Ort, etwas vorzulesen, dazu noch aus einem solchen Buch. Alle warteten mit Ungeduld, daß Willi wieder aufhöre, alle wollten gern trinken, aber was sollte man tun. Willi las langsam und laut. Er hielt das Buch in der linken Hand, während er sich mit der Rechten ständig die in die Stirn fallende Haartolle zurückstrich. Jetzt war er bei der Stelle angelangt: „So wie unsere Vorfahren den Boden, auf dem wir heute leben, nicht vom Himmel geschenkt erhielten, sondern durch Lebenseinsatz erkämpfen mußten, so wird auch uns in Zukunft den Boden und damit das Leben für unser Volk keine völkische Gnade zuweisen, sondern nur die Gewalt eines siegreichen Schwertes… Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten… Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm Untertanen Randstaaten denken… Das Riesenreich im Osten ist reif zum Zusammenbruch. Und das Ende der Judenherrschaft in Rußland wird auch das Ende
Rußlands als Staat sein.“ Hier klappte Willi das Buch plötzlich zu, sprang auf, streckte den Arm vor und krähte mit einer Lautstärke, daß es allen durch Mark und Bein ging: „Heil Hitler!“ Am Tisch erhob sich ein unvorstellbarer Lärm. Als es wieder ruhig geworden war, sagte Karls jüngerer Bruder Franz, der immer zu ungelegener Zeit das Wort ergriff: „Rußland ist eine harte Nuß. Wenn wir uns nur nicht die Zähne daran ausbeißen. Das ist nicht Danzig.“ Franz arbeitete bei Siemens in Berlin. Immer, wenn er einen getrunken hatte, löste sich ihm die Zunge. Diesmal hatte er ja wieder was Schönes verzapft! Willi wandte sich jäh zu Franz um. „Was haben Sie gesagt?“ „Weiter nichts, als daß ich den Vertrag mit den Russen vor-. ziehe, den Ribbentrop vorgestern in Moskau unterschrieben hat.“ „Das eine schließt das andere nicht aus“, antwortete der Untersturmführer. „Sie sind überhaupt mit Ihren Äußerungen etwas unvorsichtig, Herr Wilamzek. Sie könnten sich leicht Unannehmlichkeiten zuziehen.“ „Ich? Was habe ich schon gesagt? Ich werde doch wohl auf der Hochzeit meines Bruders offen sprechen können.“ „Ja, aber jede Hochzeit geht einmal zu Ende.“ In den Worten Willis war ein drohender Unterton. Dann sah Karl, daß die beiden weiter miteinander stritten, aber was sie sagten, konnte er nicht verstehen. „Meine Herren“, bemerkte der Fotograf, den man zu Tisch hatte bitten müssen, „warum streiten wir uns denn! Ich schla-
ge vor, auf Danzig zu trinken. Glauben Sie mir, wir schaffen’s spielend, daß die Polen den Schwanz einklemmen. Der Führer weiß, was zu tun ist.“ „Ich werde dasselbe gleich noch mit den Belgiern machen. Überall stecken die ihre Nase rein. Auch ein Land! Mit einer Hand kannst du’s zudecken. Und mit den Holländern muß man auch Schluß machen – wie mit den Juden.“ Der dies sagte, schlug mit der Faust auf den Tisch. Es war Wilhelm Storch, Inhaber einer Blumenhandlung, ein dicker, schwammiger Mann mit Doppelkinn. Im vergangenen Jahr hatte Herr Storch nach der „Kristallnacht“, der Nacht der Judenpogrome, da die Straßen von Berlin übersät waren mit zerschlagenem Kristall und Splittern der zertrümmerten Schaufenster jüdischer Läden, es ganz gut verstanden, einiges für sich herauszuholen. Er bekam das Blumengeschäft eines jüdischen Konkurrenten. Seither stand es um die Geschäftslage des Herrn Storch bedeutend besser. Wenn ihm nur die belgischen Blumenzüchter nicht ins Handwerk pfuschen wollten! Auch im Gemüsehandel lagen die Dinge nicht anders. Diese Halunken brachten es fertig, frisches Gemüse eine Woche früher auf den Markt zu bringen als Wilamzek. Kurzum, die Worte Storchs fanden in der Tischrunde allgemein Beifall. Dann fiel die Unterhaltung auseinander, und es bildeten sich einzelne Grüppchen. Storch redete auf seinen Nachbarn ein, einen Mann mit großflächigem Gesicht, sanften Augen und grauem Haarschopf. Es war Paul Müller, der Bruder des verstorbenen Mannes von Gerda, Inhaber einer Knopffabrik. Gerda hielt große Stücke auf ihren Schwager, was seinen Geschäftssinn anging, und es war selbstverständlich, daß er sich
unter den Gästen befand. Müller nickte seinem Gesprächspartner zu und wiederholte in einem fort, da es ihm nicht gelang, den redseligen Blumenhändler zu unterbrechen: „Ja, ja, so ist’s… Aber gestatten Sie, ich meine… Ja, ja, ganz recht…“ Dann sprang Karls Schwiegersohn Willi wieder auf und klopfte mit unsicherer Hand auf den Tisch, um sich Gehör zu verschaffen. „Ich bin SS-Untersturmführer, ihr kennt mich“, lallte er. „Ich möchte einen Trinkspruch auf die Schaukelwiege ausbringen… Nach der Hochzeit wird immer eine Wiege gebraucht, und je eher, desto besser… Nicht wahr, Emmi?“ Willi beugte sich zu Emmi und blinzelte ihr zu. Da erst fiel es Karl auf, daß die Tochter in der Tat bald eine Wiege brauchen würde. Nein, so was? Das Enkelkind würde demnach früher da sein als seine Tochter oder sein Sohn. Er wollte doch unbedingt Kinder mit Gerda haben… Willi war noch immer bei seinem Trinkspruch. Am Tage zuvor hatte er in der Zeitung „Das Schwarze Korps“, dem Blatt der SS, einen Artikel gelesen, dessen Inhalt er jetzt wiederholte, allerdings als sein eigenes Produkt. Das wußte Karl aber nicht. Ihm selbst schwindelte der Kopf, und seinem Schwiegersohn ging es seiner Meinung nach kaum anders, da er nun sagte: „Meine Herrschaften, wir stehen an der Schwelle großer Ereignisse… Wir werden auf der Spur der Deutschritter gen Osten ziehen, auf daß deutsche Wiegen auf neuem Grund und Boden schaukeln. Der Osten bedeutet Brot, Speck und Kuchen auf unserm Tisch.
Wir brauchen Lebensraum, und wir werden ihn bekommen. Im Osten gewinnen wir Land, das wir mit Menschen deutschen Blutes besiedeln. Wir werden Herren, und die slawischen Untermenschen, diese Angehörigen einer niederen Rasse, werden für uns arbeiten. Selbst im Bett müssen wir für die Festigung des Sieges sorgen. Wir brauchen Kinder, um das neue Land mit ihnen zu besiedeln. Deshalb erhebe ich das Glas auf die deutschen Wiegen auf neuem Land! Heil Hitler!“ Wiederum lärmte und lachte alles. Storch machte einen drekkigen Witz, der Gerda galt. Aber wer achtete schon darauf! Karl war es im Tumult auch entgangen, daß Willi aufgestanden war und mit wütenden Blicken auf Franz das Zimmer verlassen hatte. Gleich nach ihm war auch Emmi hinausgegangen. Als Karl schließlich entdeckte, daß ihre beiden Stühle leer waren, glaubte er, Willi sei es übel geworden, und er eilte hinaus, um notfalls Hilfe zu leisten. Emmi und der Schwiegersohn standen in der Küche und unterhielten sich erregt. Daß der Vater in die Diele gekommen war, hatten sie überhört. „Aber er ist doch mein Onkel!“ sagte Emmi. Willi antwortete starrköpfig: „Wenn ich ihn nicht anzeige, tut es ein anderer. Du weißt doch selbst, wie viele Leute da sind! Mir wird man dann nur vorwerfen, ich hätte die Sache verschwiegen.“ „Aber das macht man doch nicht so mir nichts, dir nichts. Außerdem hast du ihn selbst herausgefordert.“ „Ach, Emmi, du verstehst nichts! Man muß ein Deutscher sein durch und durch.“ „Ich verstehe, aber…“ Emmi hielt inne, da sie den Vater in
der Tür erblickt hatte. „Wo willst du denn hin?“ fragte Karl, auf die Mütze in Willis Hand deutend. „Ich möchte nur ein bißchen frische Luft schnappen. Hab anscheinend zuviel getrunken. Es ist hier sehr heiß…“ Das war es also, was ihm Unbehagen bereitete! Jetzt sah Karl klar. Willi hatte seinen Bruder anzeigen wollen. Aber es war dann doch nicht dazu gekommen. Der Schwiegersohn hatte die Mütze wieder an den Garderobenständer gehängt und war zu der Hochzeitsgesellschaft zurückgekehrt. Na ja, im Suff verfiel einer ja auf mancherlei… Das mußte man nicht tragisch nehmen. Karl Wilamzek war mit dem Rasieren fertig, goß etwas Kölnischwasser in die gewölbte Hand und rieb sich das Gesicht ab. „Ich komme, ich komme schon!“ antwortete er auf Gerdas Rufe. „Bist du aber ungeduldig, Frauchen!“ Die Eheleute ließen sich am Frühstückstisch nieder und verzehrten die Reste des Hochzeitsmahles. Erna und Franz waren keineswegs ein Paar, dem man auf der Straße nachsah. In den zwei Jahren, die sie nun befreundet waren, hatte sich noch nie jemand nach ihnen umgedreht und begeistert gesagt: Ein hübsches Paar, die passen gut zueinander. Aber die Verliebten bekümmerte das wenig. Sie hatten sich gern, also gehörten sie zusammen. Erna Kreuz war siebenundzwanzig Jahre alt, doch eher hätte sie sich die Zunge abgebissen, als daß sie das jemand eingestanden hätte. Das ging niemand etwas an, nicht einmal
Franz. Dabei war Erna nicht etwa eine Lügnerin. Sie vertrat aber nur den Standpunkt, eine Frau sei so alt, wie sie aussehe. Aus Ernas Gesicht konnte man übrigens nicht auf ihr Alter schließen. Wenn sie von der Fabrik müde nach Hause kam, konnte man sie für älter als dreißig halten, aber an Sonntagen oder Samstagabenden, wenn sie ausgeruht und frisiert war und sich die Lippen ein wenig nachgezogen hatte, schätzte sie keiner auf mehr als dreiundzwanzig. Klein von Wuchs, mit großem Mund und Stupsnäschen, war Erna freilich keine Schönheit. Aber ihr Gesicht wurde belebt und verschönt von ihren Augen und ihrem Lächeln. Sie brauchte nur zu lächeln, und schon leuchteten ihre Augen, die sich etwas verengten, und ihr Gesicht wurde ungemein anziehend. Franz gefiel von den äußeren Vorzügen seiner Freundin am meisten ihr Lächeln. Natürlich spielte der Charakter auch eine Rolle, und keine kleine, zumal er sich bereits mit dem Gedanken trug, Erna zu heiraten. Franz Wilamzek ähnelte in vielem seinem Bruder Karl – er war ebenso stämmig und hatte dieselben rötlich-braunen Brauen und auf dem Kinn das gleiche tiefe Grübchen. Mit den Jahren hatte sich auch bei ihm der Rücken ein wenig gebeugt, so daß seine Arme nun zu lang wirkten. Diesen Haltungsfehler führte Franz auf seinen Beruf zurück – Apollo selbst wäre es nicht anders gegangen, hätte er an seiner Stelle in der Montageabteilung gesessen und ein Jahrzehnt lang Radioapparate zusammengebaut, ohne den Rücken gerade zu biegen. Jetzt zählte Franz dreißig Jahre. Als er bei Siemens angefangen hatte, war er zwanzig gewesen. Er hatte dem Kommunistischen Jugendverband und der Roten Jungfront angehört, wie mancher in der Begeiste-
rungsfähigkeit der Jugend. In seiner Betriebsgruppe hatte man die Mitgliedslisten rechtzeitig verbrennen können, als die Nazis an die Macht kamen. Möglicherweise verdankte er es diesem Umstand, daß sie ihn ungeschoren ließen. Von Natur aus wortkarg und verschlossen, war Franz nach dem Machtantritt der Nazis noch schweigsamer geworden. So hatte man doch mehr Ruhe. Er wußte selbst nicht, warum er sich auf der Hochzeit in den Streit mit Willi eingelassen hatte. Wie der Alkohol einem doch die Zunge lösen kann! Im allgemeinen verbarg Franz selbst vor Erna manche seiner Gedanken – Politik war nichts für Frauen. Er hörte sich lieber ihr lustiges Geplauder oder ihre Geschichten aus der Fabrik an und antwortete ihr auf Fragen, die sie ihm stellte. Aber meist schwieg er oder las Zeitung, während Erna ihm die Socken stopfte oder seine Junggesellenbude aufräumte. Gleich in den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft hatte Erna seinen kleinen Haushalt in ihre Hand genommen. Franz wohnte im Dachgeschoß eines vierstöckigen Hauses am Wedding, wo er ein kleines Zimmer gemietet hatte. Auch ein Mansardenstübchen hat seine Reize. Einmal war es hier am Tage viel heller als in den anderen, tiefer gelegenen Wohnungen, deren Fenster auf einen muffigen, schachtartigen Hof hinausgingen, und zum anderen hatte man oben natürlich mehr Luft. Außerdem war die Miete für die Dachkammer billiger. Zwar war das Zimmer nicht überall gleich hoch – in der Mitte konnte man aufrecht stehen, während die Decke beim Fenster entsprechend der Dachschräge geneigt war. Aber das hatte praktisch keine Bedeutung, denn neben dem Fenster stand der Tisch, an dem man sich bekanntlich sitzend aufhält.
Nur beim Aufstehen oder Platznehmen mußte man sich ein wenig bücken. Wenn Erna und Franz nicht ins Kino oder auf den Rummel gingen, fühlten sie sich in diesem Zimmerchen sehr wohl, und er dachte immer häufiger daran, daß es für sie beide an der Zeit sei, zu heiraten. Zwei Jahre waren genug Zeit, um einen Menschen kennenzulernen. Karl, sein Bruder, hatte sich sogar in einer Woche entschieden, und er bereute die getroffene Wahl offenbar nicht… Franz Wilamzek fuhr mit der Untergrundbahn nach Hause – er hatte sich heute länger als sonst im Betrieb aufgehalten. Erna würde sicherlich schon böse auf ihn sein – oder vielleicht auch nicht, sie wußte ja, wo der Schlüssel lag. Zu Hause angelangt, würde er ihr sagen: „Hör mal, Erna, ich denke, wir machen Schluß mit diesem Hin und Her, es ist Zeit, daß wir heiraten.“ Oder nein, besser so: „Erna, gefällt dir denn ein solches Leben? Ich bin es über, daß wir getrennt wohnen. Laß uns heiraten.“ Im Geiste sah er Erna hierauf lächeln und ihre Augen aufleuchten. In der Tat ärgerte sich seine Freundin inzwischen. Nun wartete sie über zwei Stunden, und Franz war noch immer nicht da. Vielleicht saß er mit Freunden in einem Lokal und hörte sich das Gefasel der anderen an? Er selber konnte ja stundenlang schweigen. In der letzten Zeit hatte Erna allen Grund, mit Franz unzufrieden zu sein. Sei es nur dieser Hochzeit wegen. Sie hatte ihm natürlich kein Wort gesagt, aber es gefiel ihr gar nicht, daß er allein hingegangen war. Natürlich genierte sich Franz, sie seinen Verwandten vorzustellen. Wer war sie schon? Nicht einmal seine Verlobte! Das mußte einen ja verstimmen.
Was dachte er sich eigentlich? Begriff er nicht, in was für einer zweifelhaften, unbestimmten Lage sie sich befand? So konnte man ein, zwei Monate leben, vielleicht auch ein halbes Jahr, aber doch nicht zwei Jahre! Und dann… Erna wußte es noch nicht mit Bestimmtheit, aber es konnte sehr gut möglich sein… Ihm hatte sie bisher noch nichts gesagt. Zuerst mußte sie erfahren, ob er überhaupt ans Heiraten dachte. Sie selbst hatte im Grunde genommen nichts gegen ein Kind. Da, endlich! Erna hörte, wie die Eingangstür ging und sich jemand im Flur die Füße abtrat. Das war bestimmt Franz, er hatte einen Schlüssel und klingelte nie. Aber was war denn das? Sie hörte die Nachbarin sagen: „Zweite Tür rechts. Klopfen Sie, vielleicht ist er zu Hause…“ Unmittelbar danach wurde vorsichtig an die Tür geklopft. Wer konnte das sein? Zu Franz kam sonst nie jemand. „Herein!“ Erna erhob sich. In der Tür zeigte sich ein Mann mittleren Alters. Im Dämmerlicht des Zimmers erkannte Erna zunächst nichts von ihm als eine hohe Stirn, ein eckiges Kinn und schwarzes Haar. Er trug einen dunklen Regenmantel und hielt einen Hut in der Hand. „Verzeihen Sie“, wandte er sich an Erna, „kann ich Franz sprechen?“ „Er ist noch nicht da, aber er muß jeden Augenblick kommen.“ „Er wohnt also immer noch hier? Wenn Sie nichts dagegen haben, warte ich. Sind Sie seine Frau?“ „Nein, nur seine Bekannte“, erwiderte Erna verlegen. „Oh, entschuldigen Sie… Ich bin ein Freund von Franz und habe ihn viele Jahre nicht gesehen. In einer so langen Zeit
kann sich ja vieles ändern. Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle? Erwin.“ Erna gab ihm die Hand. „Treten Sie doch näher und setzen Sie sich. Bitte hierher. Ich warte auch auf ihn.“ Erwin suchte nach, einem Platz für seinen Hut, warf ihn schließlich aufs Bett und trat zum Tisch. „Ja, bei Franz ist alles, wie es war. Sogar die Bettdecke ist die alte. Und wie sieht er selber aus?“ „Sie haben ihn schon lange nicht gesehen?“ „Ja, es geht. Wir waren einmal befreundet.“ Seine einfache, ungezwungene Art machte auf Erna einen guten Eindruck. Jetzt konnte sie ihn auch besser sehen. Er hatte ein ausdrucksvolles, schmales Gesicht und müde Augen; seine Stirn war indessen nicht so hoch, wie sie zuerst geglaubt hatte, und sein Haar schien sich vorn bereits zu lichten. Franz hatte ihr merkwürdigerweise nie von einem Freund erzählt, der Erwin hieß. Außerdem war es seltsam, daß er ihren Fragen auswich. In einer halben Stunde hatte sie ihm fast ihr ganzes Leben erzählt, während sie von ihm bis auf den Namen nichts wußte. „Entschuldigen Sie, ich rede und rede, und Sie sagen überhaupt nichts.“ Erwin erwiderte scherzhaft: „Oh, das macht nichts, jetzt werden wir uns öfter sehen, da werden Sie es schon noch satt bekommen, meine Geschichten zu hören.“ Im Flur klingelte es. „Das wird Franz sein! Wahrscheinlich hat er den Schlüssel vergessen. Ich gehe ihm aufmachen. Entschuldigen Sie…“
Erna ging hinaus und griff nach der Sicherheitskette. „Bist du’s, Franz?“ „Ein Telegramm für Herrn Wilamzek“, sagte ein Mann hinter der Tür in kühlem Beamtenton. Erna nahm die Kette ab. „Er ist aber nicht zu Hause…“ In die spaltbreit geöffnete Tür zwängte sich ein Fuß. „Das macht nichts, wir warten auf ihn!“ In die Wohnung stürzten drei Männer mit den Worten: „Geheime Staatspolizei.“ Erna wich betroffen zurück. „Was wünschen Sie? Es muß ein Irrtum sein…“ Erna war es, als schwanke der Boden unter den Füßen. „Schon gut. Wenn hier jemand Fragen stellt, dann wir. Wo ist sein Zimmer?“ „Hier. Aber…“ „Wer sind Sie, seine Frau?“ „Nein…“ „Dann ist das Zimmer also verschlossen?“ „Nein, nein. Ich warte selbst auf ihn. Und ein Freund von ihm auch… Aber vielleicht haben Sie sich doch geirrt…“ Erna hoffte noch immer, daß sich das Ganze als ein Mißverständnis herausstellen würde. „Die Staatspolizei irrt sich nicht… Gehen Sie voran. Wir wollen mal sehen, was für Freunde bei ihm sind.“ Die Gestapobeamten folgten Erna ins Zimmer. Die Schatten im Raum hatten sich mittlerweile verdichtet, das Zimmer lag im Halbdunkel, dennoch sah Erna auf den ersten Blick, daß es leer war. „Wo ist Ihr Bekannter?“
„Ich weiß nicht… Eben war er noch hier… Da liegt sein Hut.“ „Machen Sie Licht an. Aber schnell!“ Im Zimmer wurde es hell. Die Gestapoleute schnauften erregt. Einer von ihnen stürzte zum Fenster. Hinter seinem Rücken sah auch Erna hinaus. Ihr war, als huschte eine Gestalt im Regenmantel am Schornstein vorbei auf die andere Dachseite. Dann entdeckte sie, daß das Tischtuch verschoben und beschmutzt war. „Verdammt noch mal!“ schimpfte der Gestapomann. „Viereck, lassen Sie den Häuserblock abriegeln! Tempo, Tempo! Er kann noch nicht weit sein.“ „Jawohl!“ Der mit Viereck angeredete Gestapomann rannte aus dem Zimmer. „Sie haften mir für die Durchführung!“ rief ihm sein Vorgesetzter nach, und zu Erna gewandt, sagte er: „Wer war das?“ „Ich weiß nicht… Er sagte, er sei ein Freund von Franz.“ „Mach uns nichts vor!“ Der Gestapobeamte nahm den Hut vom Bett, musterte ihn und schleuderte ihn wütend zu Boden. „Wer bist du?“ „Ich heiße Erna Kreuz und arbeite in einer Textilfabrik. Das können Sie nachprüfen. Ich weiß wirklich nicht, wer das war…“ „Spiel nicht Theater! Diese Tricks kennen wir! Schulz, los an die Arbeit! Durchsuch den Bau!“ Der zweite Gestapobeamte öffnete den Wäscheschrank, rückte die Bettstelle ab und hob die Matratze hoch. Nach wenigen Minuten war im Zimmer das Unterste zuoberst gekehrt. Blaß, mit wild klopfendem Herzen stand Erna da. Endlich hatte sie
begriffen, daß über sie und Franz das Unglück hereingebrochen war. Die Haussuchung ergab nichts. Gerade wollte Schulz Meldung erstatten, als im Flur Getrampel hörbar wurde. Gleich darauf brachten zwei Männer Franz hereingeschleppt. Erna sah sein bestürztes Gesicht, den verrutschten Schlips – ihr letztes Geschenk – und stürzte auf Franz zu. „Franz, was ist los?“ „Maul halten!“ schrie sie der Gestapobeamte an. „Du bist Franz Wilamzek?“ „Ja, aber ich verstehe nichts…“ „Antworte auf meine Fragen! Wer war hier bei dir!“ „Ich weiß nicht. Zu mir kommt niemand.“ „Du lügst! Wem gehört der Hut?“ Der Gestapomann versetzte dem Hut einen Fußtritt. „Franz, dein Freund Erwin war hier. Er…“ „Halt die Schnauze, du Schlampe! Sonst stopfe ich dir einen Lappen ins Maul! – Wer ist Erwin? Wie heißt er?“ „Ich kenne keinen Erwin. Ich habe keinen solchen Freund.“ „Spar dir die Sperenzchen! Wir bringen dir sowieso bald das Reden bei!… Mach dich fertig!“ Der Gestapobeamte wandte sich Erna zu. „Du auch. Ihr seid verhaftet.“ „Sagen Sie mir doch bitte, worum es sich eigentlich handelt“, brachte Franz mit tonloser Stimme hervor. „Maul halten. Das erfährst du alles noch… Los, ab!“ Franz warf einen Blick auf das verwüstete Zimmer, machte das Fenster zu, ging hinaus und verschloß die Tür. Er tat das wie im Schlaf. Alles war so plötzlich gekommen, daß er keinen klaren Gedanken fassen konnte. Er drehte den Schlüssel in den Händen, wollte ihn in die Tasche stecken, besann sich
aber eines anderen. „Erna, ich leg ihn an die alte Stelle“, sagte er und steckte den Schlüssel in einen Spalt über den Türbalken, wie er es stets tat, wenn er zur Arbeit ging. In Begleitung der Gestapobeamten stiegen sie die Treppe hinunter. Vor dem Haus stand ein Wagen. Zuerst wurde Franz hineingestoßen, dann Erna. Der Leiter der Gruppe setzte sich neben den Fahrer. Die Sirene heulte auf, und das Auto bog um die Ecke. Zwischen Erna und Franz hatte sich ein Gestapomann gesetzt. Die Hände auf den Knien, saß Erna da, stumm und starr vor Entsetzen. Da hörte sie im Dunkeln Franz flüstern: „Erna, gerade heute wollte ich dir sagen, daß wir heiraten sollten…“ Der Gestapomann unterbrach ihn: „Mund halten! Verhaftete dürfen nicht sprechen!“ Erna bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und schluchzte. Die weitere Fahrt verlief schweigend. Rudolf Kübler bemühte sich, eine möglichst ruhige Haltung anzunehmen, trat aus dem Hausflur und überquerte die Straße. Aus den Augenwinkeln beobachtete er aufmerksam, was um ihn vorging. Er ahnte, daß die Gestapo bereits Alarm gegeben und den Häuserblock abgeriegelt hatte. Sekunden konnten ihn retten. Wäre er doch wenigstens schon an der Straßenbahnhaltestelle! Das verhängnisvolle Haus hinter sich lassend, schlenderte er wie ein Spaziergänger gemächlich die Straße entlang. Dabei juckte es ihn förmlich in den Beinen, so gern hätte er den
Schritt beschleunigt, und es kostete ihn große Anstrengung, sich zu bezwingen. Eine Straßenbahn näherte sich der Haltestelle; nur vierzig Meter waren es bis zu ihr. Kübler hätte sie leicht einholen und aufspringen können. Einen Augenblick lang wollte er es auch schon tun, doch dann bezwang er sich wieder. Eine einzige unvorsichtige Bewegung konnte ihn verraten. Es war besser, er wartete auf die nächste Bahn. Die Straßenlaternen leuchteten auf. Kübler wandte sich einem Schaufenster zu. Hinter der Scheibe lagen fächerartig ausgebreitet Bücher. Doch er interessierte sich nicht für ihre Titel. Seine Aufmerksamkeit hatten zwei Männer auf sich gezogen, die um die Ecke kamen. Sie prüften die Ausweise der Passanten. Man war ihm also bereits auf der Spur. Anders konnte es auch nicht sein. Kübler nahm sich vor, in den Hausflur nebenan zu schlüpfen, wenn die Gestapo auch diese Straße absperren sollte. Das Haus hatte anscheinend einen zweiten Ausgang. Wenn doch nur die Straßenbahn käme! An der Haltestelle warteten wenige Personen. Rudolf ließ zwei Damen den Vortritt und stieg als letzter ein. Offenbar war es ihm auch diesmal gelungen, aus der Falle zu entweichen. Was für Glück er doch hatte! Kübler löste einen Fahrschein und zog eine Zeitung aus der Tasche. Jetzt tat es ihm leid, daß er seinen Regenmantel im Hausflur hinter dem Heizkörper hatte zurücklassen müssen. Schade, aber es ließ sich nicht ändern! Aber wieso hatte die Gestapo seine Spur entdeckt? Er war doch so vorsichtig gewesen. Bevor er sich zu Franz hinauf begeben hatte, war er die Straße zweimal auf und ab gegangen. Er hatte nichts Verdächtiges bemerkt. Jedenfalls mußte die illegale Anlauf stelle, wenn auch nur vorübergehend, ge-
wechselt werden. Vielleicht war alles nur ein Zufall? Doch er hatte ja mit eigenen Ohren gehört, wie jemand hinter der Tür gesagt hatte: „Ein Telegramm für Herrn Wilamzek.“ Man wußte schon, was für Telegramme das waren! Aber woher hatte die Gestapo erfahren, daß er zu Franz gegangen war, den er so lange nicht gesehen hatte? Wie lange eigentlich? Sechs Jahre. Nein, noch länger. Im März neunzehnhundertdreiunddreißig hatte er Franz das letzte Mal aufgesucht, kurz nachdem die Nazis den Reichstag in Brand gesteckt hatten. Ja, es war gewiß nur ein dummer Zufall. Warum sollte die Gestapo gerade ihm auf die Spur gekommen sein? Sollten sie ruhig nach Erwin suchen! Was das wohl für eine Frau war, die er bei Franz getroffen hatte? Ach was, sie wußte ja von ihm nichts weiter als den falschen Namen. Die nüchternen Überlegungen beruhigten Kübler. Eigentlich war alles halb so schlimm, er mußte nur noch vorsichtiger sein. Ein Illegaler, dazu im Dritten Reich, kann – genau wie ein Minenentschärfer – nur einmal einen Fehler begehen… Auf jeden Fall war es schade, daß er Franz nicht gesehen hatte! Früher war Franz ein feiner Kerl. Natürlich konnte man nicht wissen, was für Ansichten er heute hatte. Der Nazismus hatte viele Menschen demoralisiert, verdorben und zu Schuften gemacht. Vielleicht war Franz auch einer geworden. Aber es gab ja auch noch anständige, ehrliche Deutsche, die den Nazismus haßten, und sei es nur insgeheim, im Herzen. Die mußte man finden. Doch wie schwer, wie irrsinnig schwer war das… Im übrigen, hatten es denn die russischen Genossen, die Bolschewiki, in der Illegalität leichter gehabt? Und doch erreichten sie ihr Ziel. Ja, auch wir werden es erreichen…
Kübler stieg nach ein paar Haltestellen in eine andere Straßenbahn um. Übernachten wollte er in Siemensstadt oder in Spandau – beide Stadtteile lagen in einer Richtung. Dort bestanden noch Verbindungen. Alte. Neue anzuknüpfen, war jetzt schwierig. Die Straßenbahn fuhr die Invalidenstraße entlang, überquerte die Sandkrugbrücke und kam am Lehrter Bahnhof mit seinem hohen Glasdach vorbei. Kübler blickte durch die Scheibe, achtete aber darauf, was im Wagen geschah. In dem dunklen Glas war alles wie in einem Spiegel zu sehen. Ohne den Kopf zu wenden, konnte er den Eingang im Auge behalten. Verdammt noch mal, wie satt hatte er dieses Leben eines gehetzten Tieres, ohne Unterkunft, ohne Freunde… Ja, das war das schwerste – ohne Freunde. Ihrer wurden immer weniger, und die wenigen, die noch da waren, mußte man schonen. Weder durfte er sich mit ihnen treffen noch zu ihnen gehen. Wie ein Aussätziger lebte er in der Heimatstadt. „Alt-Moabit!“ rief der Schaffner die nächste Haltestelle aus. Moabit? Dieses Wort weckte Erinnerungen. Kübler näherte sein Gesicht dem Wagenfenster. Im Licht der Straßenlaternen glitt die verwitterte Ziegelmauer mit den breiten Türmen des Moabiter Untersuchungsgefängnisses vorbei. Und dort war die Seitenstraße, wo sie auf Thälmann gewartet hatten! Kübler reckte sich, um besser sehen zu können, aber die Lichtreflexe von den oberen Wagenlampen hinderten ihn daran. Wie schnell doch die Zeit verflog! Ihm kam es vor, als sei es erst gestern gewesen. Kübler erinnerte sich an jene kalte, regnerische Nacht. Es war ein Jahr nach der Machtergreifung Hitlers. Der Reichstagsbrand war für Kübler ein finsteres Mal, ein Grenzstrich,
hinter dem ein mittelalterlicher Spuk begann. In der Weimarer Republik war das Leben auch kein Zuckerlecken gewesen, doch man hatte wenigstens reden, widerlegen, argumentieren können. Auch damals waren Menschen eingekerkert und Arbeiterdemonstrationen auseinandergeknüppelt worden, aber der Faschismus hatte die Willkür vervielfacht, ins Unermeßliche gesteigert und Konzentrationslager, Folterungen und Menschenmord zur einzigen Form des Überzeugens und der Beweisführung gemacht. Von jener Februarnacht an, da das Brandenburger Tor im Widerschein des Feuers loderte, begann Kübler die Zeit zu zählen. Ja, das war damals ein Jahr nach der Verhaftung Thälmanns. Die Straßenlaternen hatten genau wie heute gebrannt und sich im nassen Asphalt gespiegelt. Sie saßen, in SS-Uniformen gekleidet, zu dritt in einem Polizeiauto und warteten auf Thälmann. Jeden Augenblick mußte er in Begleitung von zwei Genossen erscheinen, die ebenfalls SS-Uniform trugen. Manchmal können einem Sekunden länger vorkommen als Jahrhunderte. Als das Warten unerträglich war, sagte Helmut zu ihm: „Rudi, mach die Tür auf, damit Teddy gleich einsteigen kann.“ „Siehst du denn nicht, daß sie schon lange offensteht“, antwortete er. Kübler saß am Lenkrad und sah auf die Uhr. Er begriff nicht, warum ihn so fror. War das feuchte Wetter daran schuld oder der Uhrzeiger, der so langsam von einer Ziffer zur anderen kroch?… Sie warteten ungeduldig, doch niemand zweifelte am Gelingen des Planes. Der Plan war einfach und kühn – Thälmann sollte aus dem
Gefängnis fortgebracht werden, angeblich zur Vernehmung zu Himmler ins Gestapohauptquartier in der Prinz-AlbrechtStraße. Unter dem Gefängnispersonal gab es einen zuverlässigen Mann. Und wie viele Monate hatte man warten müssen, bis dieser Wachtmeister den Gefängnisblock übernahm, in dem Thälmann saß! Und was für Mühe hatte es gekostet, die Aktion vorzubereiten und bis auf Sekunden festzulegen! Den Nachschlüssel zu Thälmanns Zelle hatte er, Kübler angefertigt. Aber zuerst hatte man einen Abdruck herstellen müssen. Der war im Gefängnis aus weichem Brot gemacht worden. Nie in seinem Leben – weder vorher noch nachher – hatte er an eine Schlosserarbeit soviel Mühe und Sorgfalt gewendet wie an diese, sollte sie doch eine Probe seines Könnens liefern, von der so viel abhing. Aber das war noch nicht alles. Das Polizeiauto und die SSUniformen mußten beschafft und Thälmann verständigt werden! Viel hatte Rosa, Thälmanns Frau, auf sich genommen. Nur sie durfte Thälmann besuchen, und sie brachte es fertig, ihm unter den Augen des Gefängnispersonals alles Notwendige zu übermitteln. Tüchtige Rosa! Wo mochte sie jetzt sein? Es hieß, im KZ Ravensbrück. Niemand zweifelte daran, daß die Flucht gelingen würde. Man hatte auch daran gedacht, was zu tun war, um die Gestapo hinterher irrezuführen. Thälmann sollte hier in Berlin in einer sicheren Wohnung untergebracht werden, und nach drei Tagen würde man verlauten lassen, der Führer der KPD, Ernst Thälmann, sei in Prag eingetroffen. Er würde sogar im Rundfunk sprechen, alle würden seine Stimme hören – allerdings nicht ihn persönlich: Das Tonband mit seiner Rede soll-
te den tschechischen Genossen in Prag zugehen, die es übernommen hatten, das „Auftreten“ Thälmanns im Rundfunk zu organisieren. Wenn sich die Gestapo schließlich beruhigt und mit der Flucht abgefunden hatte, würde man „Teddy“ über die Grenze schaffen. Aber die Flucht mißlang. Bis heute wußte Kübler nicht, was eigentlich in jener Nacht hinter den Gefängnismauern in Moabit vor sich gegangen war. Er erinnerte sich nur, so deutlich, wie er jetzt die regennasse Straße sah, an die Gefängnismauer und an zwei Männer in schwarzen SSRegenmänteln, auf die das Laternenlicht fiel. Sie kamen zu ihrem Wagen, aber ohne den Dritten, auf den sie so sehnsüchtig warteten. Beide setzten sich vorn neben ihn ins Auto, und der eine sagte: „Los, fahren wir! Es ist schiefgegangen…“ Erst nach einer Stunde, im illegalen Quartier, erfuhr Kübler Einzelheiten. Die beiden als SS-Leute uniformierten Genossen, die Thälmann begleiten sollten, waren zur vereinbarten Zeit zum Gefängnis gegangen, hatten aber lange auf den Wachtmeister warten müssen. Als dieser schließlich erschien, war er sehr aufgeregt und gab ihnen den Nachschlüssel zurück. Er konnte ihnen noch berichten, daß er eine halbe Stunde vor der beabsichtigten Flucht ein paar Tropfen Öl in das Schlüsselloch geträufelt hatte, damit das Schloß nicht knarre. Aber es war wohl ein Tropfen zuviel gewesen, er sickerte aus dem Schlüsselloch und rann außen die Tür herunter. Vor der Ablösung ging der Wachhabende die Zellen ab. Er entdeckte den unheilvollen Tropfen. Im Gefängnis wurde kein Alarm gegeben, aber Thälmann wurde sofort in einen anderen Block, in den gegenüberliegenden Flügel, überführt.
Das war alles, was der Wachtmeister berichtet hatte. Bald danach schaffte man Kübler und die anderen Genossen, die die Flucht vorbereitet hatten, über die Grenze. Er lebte lange in Prag, arbeitete in der zentralen Parteileitung, und nun streifte er bereits seit Monaten durch Berlin, um Verbindungen aufzunehmen, verlorengegangene Anlauf stellen aufzusuchen und zuverlässige Leute ausfindig zu machen. Als die Nazis Prag an sich rissen, versetzten sie nicht nur der Tschechoslowakei, sondern auch dem deutschen Volk einen Schlag. Für die deutschen Kommunisten, die in Prag Zuflucht gefunden hatten, kam der Einmarsch der Nazitruppen nicht unerwartet. Viele waren bemüht gewesen, Prag zu verlassen und nach London zu fahren. Doch der britische Konsul hatte sich mit der Einreisegenehmigung Zeit gelassen. So kam es, daß nicht wenige deutsche Kommunisten in Prag steckenblieben und gleich nach der Besetzung der Stadt verhaftet wurden. Am bittersten war das Bewußtsein, daß viele Deutsche nicht einmal den Schlag bemerkten, der ihnen versetzt worden war. Die Nazis präsentierten Prag dem ganzen Volk als Geschenk – den Reichen wie den Armen, dem vornehmen Kurfürstendammpublikum wie den Arbeitern vom Wedding. Das verfing bei vielen. Die Leute hier in der Straßenbahn saßen seelenruhig da, als sei in der Welt nichts geschehen. Dabei geschah etwas Schreckliches – das Volk wurde zum Mitschuldigen an Verbrechen gemacht. Gerade jetzt wurde wieder etwas mit Polen ausgeheckt. Und welches Land war dann an der Reihe? Als Kübler in Prag arbeitete, war er mehrmals illegal nach Deutschland gereist. Voller Schmerz über die eigene Ohn-
macht stellte er jedesmal fest, daß die Nazis in Deutschland an Einfluß gewannen. Mit der Verhaftung der Kommunisten hatten sie in jener Nacht begonnen, in der der Reichstag in Flammen aufging. Danach hatten sie die Gewerkschaften aufgelöst und viele Funktionäre bis hinunter zum Kassierer ins Gefängnis gesteckt. Die Nächsten waren dann die Sozialdemokraten, das heißt jene, die für eine soziale Welt kämpften. Kubier entsann sich eines Gespräches mit seinem Vater, in dem dieser sagte, man dürfe keine übertriebenen Forderungen stellen, das würde die Massen abschrecken und die Lage unnötigerweise verschärfen. Währenddessen marschierte die SA bereits durch die Straßen von Köpenick und sprengte die Arbeiterversammlungen mit Tränen- und Niesgasbomben. Harmlose Scherze seien das, sagte der Vater, natürlich keine schönen, dennoch hätten sie, die Sozialdemokraten, mit den Kommunisten keinen gleichen Weg. Die „Scherze“ endeten schlimm, sie erwiesen sich als nicht so harmlos, wie der Vater angenommen hatte – auch er wurde verhaftet. Und Förderer der „sozialen Welt“ wurde Robert Ley, der Führer der Deutschen Arbeitsfront. Hitler führte das Führerprinzip ein – jeder Unternehmer, jeder Fabrikbesitzer wurde zum Betriebsführer und erhielt das Recht, für die Arbeiter und in ihrem Namen Entscheidungen zu fällen. Interessant, was der Vater zu einer solchen sozialen Welt sagen würde? Wo war er jetzt wohl in Buchenwald, in Dachau oder wo sonst? Nun hatte er doch, ob er wollte oder nicht, den gleichen Weg wie die Kommunisten gehen müssen – ins KZ. Die Straßenbahn hielt an einer Kreuzung. Trommelwirbel,
grelle Fanfarenstöße und Gesang. Über den Platz zog ein Fackelzug. Kübler vernahm die Worte: „Wir werden weiter marschieren, wenn alles in Scherben fällt, denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt.“ Das Lied riß ab, eine Zeitlang hörte man nur das Stampfen der Füße und abgehackten Trommelwirbel, dann begannen Stimmen im Takt der Schritte zu skandieren: „Dan-zig!… Dan-zig!… Dan-zig!…“ Die neben Kübler sitzende Dame wandte sich an ihn: „Ist das nicht schön, ist das nicht erhebend?“ Kübler tat, als hätte er nicht gehört. Wir stehen vorm Krieg, sagte eine Stimme in ihm. Er sah zu dem älteren Mann auf der Bank gegenüber hin. Seine Hände – braune, knotige Metallarbeiterhände – lagen auf den Knien. Sein Mund zuckte, er hatte der Frau antworten wollen, kaute aber nur wütend an den Lippen. Kübler begegnete seinem Blick, und beide senkten die Augen. Die Straßenbahn hielt nicht lange. Schaukelnd und polternd setzte sie ihren Weg durch die Straßen fort. Vielleicht wird auch mein Sohn bald durch die Straßen marschieren, fuhr es ihm durch den Kopf. Dieser bittere Gedanke führte ihn im Geiste nach Köpenick, in den am anderen Ende liegenden Stadtteil. Sein Sohn würde bald zwölf Jahre alt sein, und er kannte ihn kaum. Gertrud hatte er auch drei Jahre lang nicht gesehen. Sie war hier, ganz nah, nur eine knappe Stunde Fahrt trennte ihn von ihr, und doch war sie so fern, als lebte sie am anderen Ende der Welt. Vielleicht… Eifersucht regte sich in ihm. Er bemühte sich, sie niederzukämpfen.
Kübler faltete die Zeitung zusammen. An der nächsten Haltestelle stieg er aus. Hier hörte die eigentliche Stadt auf. Neben den großen Steinhäusern lag eine Arbeitersiedlung. Kübler ging den Drahtzaun entlang, bog nach rechts ab, blickte sich unauffällig um und näherte sich der Hinterfront eines kleinen Hauses. Seine Stimmung war nicht die beste, aber durch die trüben Gedanken hindurch leuchtete ein Hoffnungsstrahl. Was war das? Ach ja, der Fahrgast in der Straßenbahn. Was für wütende Blicke er auf die Frau geworfen und wie er ihn angesehen hatte! Das war ein stummer Protest. Den Nazis war es also nicht gelungen, alle zu verderben. Natürlich nicht! Und es wird ihnen auch nicht gelingen! Kübler öffnete die Gartenpforte, ging an den Beeten entlang und klopfte. In dem Häuschen war man noch auf. 5 Cavaliere Galeazzo Ciano Conte di Cortellazzo e di Buccari stand am Fenster des geräumigen Salonwagens und blickte nachdenklich auf die an seinen Augen vorüberziehende Landschaft. Der Zug hatte bereits im Morgengrauen das düstere Verona hinter sich gelassen. Tagsüber hatten sie in Florenz wegen eines Maschinenschadens längeren Aufenthalt gehabt, und jetzt brauste der Zug durch die glutheiße Toskana. Der Mann mit dem pompösen, langen Namen war nicht eben von hohem Wuchs, aber gut gebaut. Trotz der scharfen Linien, die kalte Berechnung und Selbstzufriedenheit in sein regelmäßiges, schönes Gesicht eingegraben hatten, sah er bedeutend jünger aus, als er war, und nur die Fältchen, die strahlenförmig von den Augenwinkeln zu den Schläfen liefen, verrieten, daß der Graf sich den Vierzigern näherte.
Der einzige Passagier des Salonwagens war unzweifelhaft stolz auf den Titel, den er von seinem Vater, einem Latifundienbesitzer aus Livorno, geerbt hatte. Aber das war nicht die Hauptsache, für ihn. Weit größere Bedeutung für die glänzende Karriere des Grafen hatten die verwandtschaftlichen Beziehungen zum Duce: Ciano war mit der ältesten Tochter Benito Mussolinis, des ersten Mannes in Italien, verheiratet. Schließlich war auch der hohe Posten eines Außenministers die Folge dieser vorteilhaften und vielversprechenden Verwandtschaft mit dem Duce. In dem Salonwagen war es heiß. Die geräuschlosen Ventilatoren kühlten kaum, dennoch konnte sich Ciano des Staubes wegen nicht entschließen, die Fenster zu öffnen. Wie schön kühl war es doch nachts auf dem Brenner gewesen, als sie die Alpen überquerten! Graf Ciano kehrte aus Salzburg zurück. Die Deutschen blieben bei ihrer Praxis, den italienischen Bundesgenossen vor vollendete Tatsachen zu stellen. Im März hatte Mussolini von der Besetzung Prags erst aus den Zeitungen erfahren, und nun bahnte sich etwas Ähnliches mit Polen an. Dabei hatte Ribbentrop noch die Stirn, die aktive Unterstützung Italiens zu fordern und ihm mangelndes Verständnis vorzuwerfen! Ribbentrop schien vergessen zu haben, daß er erst vor drei Monaten den „Stahlpakt“ eigenhändig unterschrieben hatte. Wenn es so war, wozu schloß man dann Geheimverträge? In dem genannten Pakt stand schwarz auf weiß: Beide Seiten – Deutschland und Italien – sind verpflichtet, sich über alle Fragen ihrer Außenpolitik vorher gegenseitig zu konsultieren. Eine schöne Konsultation – ihn wie einen Jungen nach Salzburg zu rufen, um ihm zu sagen: „Wir fangen Krieg an! Hal-
tet euch bereit, ihr seid verpflichtet, uns zu helfen…“ Natürlich hatten sich beide Länder im Falle eines Krieges verpflichtet, einander unverzüglich Hilfe zu leisten. Er, Ciano, hatte das seinerzeit unterzeichnet. Aber es gab dort eine Klausel, von der Ribbentrop jetzt nichts wissen wollte: Ein Krieg sollte nicht vor drei Jahren begonnen werden. Drei Jahre waren doch nicht drei Monate! Dennoch sollte man sofort gerüstet sein! Obwohl er Außenminister war, wußte er besser als sonstwer, wie es um die italienischen Streitkräfte stand. Mit solchen Truppen konnte man wohl gegen Albanien marschieren, aber hier, wo alles gut überlegt, gut abgewogen werden mußte… Zuerst hatte Ribbentrop weder ja noch nein gesagt. Darauf verstand er sich. Mit beleidigender Kälte suchte sich der Reichsaußenminister dem Gespräch über die weiteren Pläne Deutschlands zu entziehen, aber Ciano holte dennoch aus ihm heraus, was er wissen wollte. Vor dem Mittagessen waren die beiden Minister im Park des Schlosses Kleßheim spazierengegangen. Ribbentrop sprach von belanglosen Dingen. Ciano hörte höflich zu und warf von Zeit zu Zeit ein paar Worte ein, bemüht, das Gespräch in die gewünschte Bahn zu lenken. So schlenderten sie auf den verschwiegenen Parkwegen umher, wie zwei Freunde, denen es Vergnügen bereitet, sich über belanglose Dinge zu unterhalten, Am Hals des deutschen Außenministers glänzte der italienische Annunziatenorden mit dem Muttergottesbild, leuchtend wie die Darstellung von Maria Verkündigung auf Kirchenfenstern. Ciano hatte Ribbentrop diesen höchsten italienischen Orden, das Zeichen der Reinheit und Untadeligkeit, am Tage der Unterzeichnung des „Stahlpakts“ im Namen des
italienischen Königs überreicht. Es war schon paradox, daß diese Auszeichnung einem Ribbentrop zufiel. Aber vielleicht konnte er über den Orden das Gespräch auf das eigentliche Thema lenken? „Sie trennen sich wohl nie von dem königlichen Orden?“ fragte Ciano höflich. „Hab ich nicht recht, wenn ich sage, daß dies der schönste aller Orden ist?“ „O ja, ich gestehe, er gefällt mir sehr, und ich bin stolz auf ihn. Göring beneidet mich darum.“ Das Gespräch glitt wieder auf nebensächliche Dinge über. Ciano brachte es liebenswürdig, aber beharrlich auf das von ihm gewünschte Thema. Als er es endlich geschafft hatte, fragte er geradezu: „Sagen Sie mir offen: Was wollen Sie? Danzig und den Korridor?“ Eine Weile ging Ribbentrop schweigend weiter. Unter den Füßen knirschte der Kies. Ciano dachte schon: Hat der Reichsminister nicht gehört, oder will er nur wie üblich einer klaren Antwort ausweichen? Aber Ribbentrop wandte ihm plötzlich sein leidenschaftsloses, bleiches Gesicht zu, sah ihn mit kalten Augen an und antwortete deutlich: „Wir wollen Krieg!“ Danach wurde das Gespräch offener und schärfer. Ciano sagte eindringlich, Ribbentrop wisse zweifellos, daß der Duce ebenso denke wie der Führer, aber man müsse die innere Lage des Verbündeten berücksichtigen – Italien sei noch nicht auf den Krieg vorbereitet. Das Gespräch im Park verlief ergebnislos. Ciano sperrte sich und ließ sich auf Zusagen nicht ein. Die Unterhaltung wurde
abgebrochen, beim Mittagessen wechselte man kein Wort – sie waren miteinander unzufrieden. Ursprünglich hatten sich nur die beiden Minister des Auswärtigen – Ciano und Ribbentrop – treffen sollen, doch die Situation hatte sich geändert. Ribbentrop bat Hitler um Unterstützung. Am nächsten Tag wurde die Unterhaltung mit Hitler fortgeführt. Hitler sprach pausenlos fast zwei Stunden, ohne Ciano die Möglichkeit zu einer auch nur kurzen Erwiderung zu geben. Die Quintessenz seiner Ausführungen war, Deutschland und Italien hätten ihr Schicksal auf ewig verbunden und die Einflußsphären aufgeteilt: die der Italiener sei das Mittelmeer, während er, Hitler, nach Osten strebe. Jetzt seien beide Seiten verpflichtet, einander zu helfen. Zu diesem Zweck habe man auch den „Stahlpakt“ geschlossen, den unzerstörbaren heiligen Bund. Graf Ciano konnte lediglich die Bemerkung anbringen, daß die Forderung, sich an Aktionen gegen Polen zu beteiligen, sehr unerwartet komme. Wie der Führer sicherlich wisse, seien von deutscher Seite bislang nicht einmal Andeutungen gemacht worden, daß die Lage an der Ostgrenze des Dritten Reiches so ernst sei. Im Gegenteil, Herr Ribbentrop habe noch vor ganz kurzem versichert, das Danzig-Problem löse sich auf friedlichem Wege, sozusagen von selbst. Davon ausgehend, habe Mussolini angenommen, zwei, drei Jahre Zeit für die Kriegsvorbereitungen zu haben. Hitler brauste zuerst auf, fing sich aber gleich wieder. Ciano hatte diesen Umstand mit Genugtuung vermerkt, bedeutete er doch, daß die Deutschen an der italienischen Hilfe interessiert waren und ihre Politik des Vordringens nach Osten davon ab-
hängig machten. Somit ergab sich die Möglichkeit, bestimmte Vorteile auszuhandeln. Hitler betonte nun – allerdings in etwas gemäßigter Form –, daß es kein Zurück mehr gebe, daß die Ereignisse vielmehr forciert werden müßten. Er zog alle Register seiner Überredungskunst. Das polnische Problem müsse sofort gelöst werden, denn bereits in einem Monat verwandelten sich dort die Straßen mit dem Beginn des Herbstwetters in einen einzigen Morast. Er könne sein Vorhaben einfach nicht länger aufschieben. Ciano überlegte: Was gehen uns die herbstlichen Regenfälle in Polen an, schließlich und endlich hat Rom auch seine Sorgen! Wenn Hitler sich mit dem Beginn des Krieges nicht gedulden kann, soll er ihn allein führen… Aber laut versicherte der Graf dem deutschen Reichskanzler mit gewinnender Aufrichtigkeit, daß er seine klugen, genial durchdachten Pläne durchaus verstehe. Ciano umging geschickt eine direkte Antwort, unter Berufung darauf, daß er Mussolini informieren müsse. Man würde den Standpunkt der italienischen Regierung unverzüglich schriftlich darlegen, und notfalls mache es ihm nichts aus, sich noch einmal herzubemühen. Dann würden beide Seiten, nachdem alle Für und Wider gründlich erwogen wären, zweifellos zu einem einheitlichen Entschluß kommen. Hitler war, wie es schien, von dieser Antwort nicht begeistert. Noch am selben Tag hatte Ciano die Rückreise nach Rom angetreten. Er würde bei Tageslicht eintreffen und somit den Duce noch heute aufsuchen können. Von seiner Reise brachte der Graf einige nicht unwichtige Feststellungen mit. Mussolini mußte sofort davon unterrichtet
werden. Gegensätze hatte es auch schon früher zwischen den Bundesgenossen gegeben, und nicht das beunruhigte Ciano. Aber alarmierend und nicht nur aufreizend war der Ton, der herablassend-gönnerhafte Ton, den sich Ribbentrop in Salzburg angemaßt hatte. Das war unzweifelhaft etwas Neues. Und Hitler hatte wie ein Gerichtsvollzieher und nicht wie ein Bundesgenosse gesprochen. Er verwechselte wohl einen Vertrag mit einem Vollstreckungsbefehl. Überhaupt nahmen die Deutschen die Dinge nicht allzu genau. Mit Polen hatten sie ebenfalls einen Vertrag. Vielleicht verwandelte sich auch der „Stahlpakt“ eines Tages in einen nassen, sich auflösenden Fetzen Papier. Auf dem Nordbahnhof, in den der Sonderzug einlief, begrüßte den Minister ein kleiner Kreis von Leuten. Seine Anordnung hatte ja auch gelautet: kein pomphafter Empfang; man mußte den sachlichen, dienstlichen Charakter der Reise unterstreichen. Auf dem Bahnsteig standen nur einige Mitarbeiter aus seinem Ministerium, die unvermeidlichen Bildberichter und selbstverständlich Edda, seine Frau, mit einem Blumenstrauß. Es war noch nie vorgekommen, daß Edda ihn nicht auf dem Bahnhof oder auf dem Flugplatz begrüßt hätte, wenn er von einer Reise, und selbst der kürzesten, zurückgekehrt war. Der Minister wußte, daß dabei weniger Liebe, als Eitelkeit mitsprach. Aber er verzieh ihr diese Schwäche. Vom Fenster her sah er die hohe, aufrechte Gestalt seiner von Fotografen umringten Frau. Auch hier mußte sie den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit bilden. Der Graf lächelte nachsichtig. Wie Edda doch ihrem Vater ähnelte! Auch Mussolini konnte nicht im Schatten bleiben, aber bei ihr wirkte das so
herzig naiv und ungemein fraulich. Cianos Gesicht nahm einen herrisch stolzen Ausdruck an. Ohne es selbst zu merken, kopierte er in dieser Beziehung den Duce. Er trat auf den Bahnsteig und küßte seine Frau, die übrigen begrüßte er zurückhaltend. Dann ging der Graf, von den Objektiven der Fotografen verfolgt, auf den Bahnhofsplatz. Auf dem Wege zum Auto versuchte jemand, den Minister zu interviewen. Aber Ciano beschränkte sich auf den vorbereiteten lakonischen Satz: „Wir sind wie immer mit dem Führer eines Sinnes.“ Im Auto sagte er zu Edda: „Ich muß sofort zum Duce. Kommst du mit zum Palazzo Venezia?“ „Nein, ich möchte nicht mit Clara zusammentreffen. Ich bin überzeugt, daß sie schon wieder dort steckt.“ Edda konnte Clara Petacci, die intime Freundin des Vaters, eine laute, gewandte Dame, die aus allem für sich und ihre Familie Nutzen zu ziehen wußte, nicht ausstehen. „Dann fahr zu deiner Mutter, ich hole dich von Donna Rachele ab… Wann? Sobald ich frei bin.“ Ciano stieg bei der Auffahrt vor dem Palazzo Venezia aus dem Wagen. Er warf den Kopf in den Nacken und ging an den Soldaten der Leibwache Mussolinis vorbei die Treppe empor. Nachdem der Graf eine Flucht von Räumen durchschritten hatte, gelangte er in einen Saal, dessen Balkon auf den Platz San Marco ging. Vor der hohen Glastür hingen schwere blaue Portieren. Von diesem Balkon aus pflegte Benito Mussolini zu den Römern zu sprechen, so wie es die antiken Redner getan hatten. Der Privatsekretär des Duce
eröffnete Ciano, Mussolini sei von seiner Ankunft bereits unterrichtet und erwarte ihn. Doch er müsse ihn erst beim Duce anmelden, was der Herr Minister gnädigst entschuldigen möge. An den Wänden des Saales hingen Bilder alter italienischer Meister und dunkel gewordene Bronzeleuchter im Frührenaissancestil. Kostbare altertümliche Teppiche und Gobelins in gedämpften Farben bedeckten den Fußboden und die Wände. Ciano blieb vor der Ruhenden Venus von Tizian stehen. Er liebte diesen Meister und begeisterte sich immer von neuem an dessen Malweise, an der Frische der Farben, dem Kastanienrot der Haare und der Schönheit der weiblichen Körper, die auf des Künstlers Bildern Jahrhunderte hindurch lebten, ohne zu altern. Der Minister besaß eine erstaunliche Gabe – er konnte tiefgerührt, mit Tränen in den Augen, Werke der reinen Kunst betrachten und sich im nächsten Moment ohne Schwierigkeiten den prosaischsten, nicht immer sauberen Alltagsgeschäften zuwenden. So auch diesmal. Der Sekretär des Duce bat ihn ins Arbeitszimmer. Galeazzo Ciano riß sich von den Bildern Tizians los und folgte ihm. Unhörbar schloß der Sekretär hinter ihm die Tür. Als Graf Ciano die älteste Tochter Mussolinis geheiratet hatte, entwickelten sich zwischen ihm und dem Duce nicht nur verwandtschaftliche Beziehungen, sondern es entstand auch eine anfangs zurückhaltende und vielleicht nicht ganz aufrichtige Freundschaft, bei der Edda das Bindeglied war. Doch mit den Jahren hatte der Duce immer mehr Vertrauen zu dem jungen Juristen mit dem sympathischen Äußeren gefaßt, der
eine ausgezeichnete Bildung und Erziehung genossen hatte. Dem launenhaften, unbeherrschten und von sich eingenommenen Mussolini imponierte das Auftreten des Schwiegersohnes. Ciano wußte dem Schwiegervater zur rechten Zeit zu schmeicheln, er war zuvorkommend und bekundete eine taktvolle, durchaus nicht aufdringliche Begeisterung für den Duce. Doch vor allem hatten es Mussolini die rasche Auffassungsgabe des Schwiegersohnes sowie die erstaunliche Übereinstimmung ihrer beider Ansichten angetan. Deshalb fiel Mussolinis Wahl, als der Außenministerposten neu zu besetzen war, sofort auf Ciano. Ihn beseelte der ehrgeizige Gedanke, Stammvater einer neuen Dynastie, der Dynastie Mussolini, zu werden. Alle maßgeblichen Posten im Staat sollten Mitglieder seiner Familie einnehmen. Was für eine Rolle spielte schon der schlappe König Viktor Emanuel, der Vertreter des Hauses Savoyen, dem jede Entschlußkraft fehlte! Nachdem Ciano Außenminister geworden war, wurden seine Beziehungen zum Schwiegervater noch enger. Mussolini hatte fast keine Geheimnisse vor Ciano, was der neue Minister von sich nicht sagen konnte. Ihre Gespräche zeichneten sich durch rückhaltlose Offenheit aus, und sie nannten die Dinge ungeniert beim Namen. Als Ciano in das Arbeitszimmer Mussolinis trat, stand dieser am Tisch vor einem aufgeschlagenen Atlas. „Nun, welche Seite unseres Atlas werden wir jetzt aufschlagen?“ fragte er an Stelle einer Begrüßung, als er die weichen Schritte des Schwiegersohnes hörte. „Ebendeshalb komme ich zu Ihnen, Duce. Direkt vom Bahnhof. Hitler will uns wieder übers Ohr hauen.“
„Das werden wir noch sehen! So leicht dürfte ihm das nicht gelingen! Auf politischem Gebiet bin ich ihm immerhin überlegen.“ Ciano hatte offenbar den richtigen Zeitpunkt für sein Kommen gewählt: Wenn der Duce prahlte, war er bei guter Laune. „Sie haben recht, Duce“, antwortete der Graf, „aber Hitler besteht darauf, daß wir zusammen mit ihm in den Krieg ziehen. Ich glaube allerdings, daß das Land noch nicht vorbereitet ist…“ „Über den Krieg entscheiden wir selbst. Ich gestatte nicht, daß jemand einen Druck auf mich ausübt. Wir haben unsere eigenen Interessen.“ Mussolini reckte sich. Er hatte eine ungleichmäßige Stimme, bald tief und kehlig, bald durchdringend und schrill, je nach seiner inneren Verfassung. Im Augenblick klang sie weich, die Worte strömten frei und sicher aus seinem Munde. „Das Prinzip unserer Politik ist Selbständigkeit und Ausdauer. Schauen Sie hier.“ Mussolini zeigte auf den geöffneten Atlas. „Nachdem wir Abessinien erobert hatten, habe ich drei Jahre lang die Karte von Spanien aufgeklappt gelassen. Meine Bersaglieri haben die Seite umgeschlagen, und mein Blick blieb auf der Karte von Albanien haften. Die nächste Seite wird Griechenland oder Jugoslawien sein. Vielleicht fällt uns auch von Hitler etwas zu. Was hat er gesagt? Hat er Sie wieder nicht zu Worte kommen lassen?“ Ciano berichtete ausführlich über die Besprechungen, machte auf Ribbentrops Worte „Wir wollen Krieg!“ aufmerksam und sagte zum Schluß: „Die Deutschen sind unbedingt an unserer Teilnahme interessiert. Ich deutete kurz an, daß wir nicht auf Deutschlands Seite am Krieg teilnehmen können, wenn wir nicht die nöti-
gen Rohstoffe, Kohlen und Waffen erhalten.“ „Und was hat der Führer geantwortet?“ „Er runzelte die Stirn und wollte es sich überlegen. Er bat, ihm eine Aufstellung der benötigten strategischen Materialien zu geben. Natürlich interessiert ihn die Menge.“ „Ja, aber ich bin dennoch geneigt, am Krieg teilzunehmen. Sonst läßt er uns nur schäbige Reste übrig. Die werden nicht gerade fett sein.“ „Aber leider sind wir auf den Krieg nicht vorbereitet, Duce. Und nicht nur in militärischer Hinsicht. Mir gefällt die Stimmung der Italiener nicht. Sie sind derart stumpfsinnig, daß sie ihre historische Mission einfach nicht begreifen.“ „Das ist Sache von Starace – er leitet die Partei“, wehrte der Duce ab. „Er hat dafür zu sorgen, daß das Volk kämpft. Ich stimme ihm bei, daß zumindest die italienischen Frauen sich über den Krieg freuen werden. Jede Soldatenfrau wird sechs Lire pro Tag bekommen und außerdem der Sorge enthoben sein, dem Mann ein Mittagessen vorsetzen zu müssen.“ „Mir scheint, Starace sieht die Sache ein bißchen zu optimistisch. Wir werden einige Schwierigkeiten erleben.“ „Ich weiß nicht. Wir müssen den italienischen Plebejern ihre angeborene geistige Trägheit austreiben.“ Mussolinis Stimme klang jetzt schrill. „Das Volk muß Prüfungen unterzogen werden. Zu seinem eigenen Nutzen. Ich werde die Italiener in den Waffenrock stecken. Um ein Volk groß zu machen, muß man es in Schlachten schicken, selbst dann, wenn es mit Fußtritten in den Hintern angetrieben werden muß.“ Der Duce winkelte das Bein im Knie, als wollte er in der Tat jemand einen Fußtritt versetzen. „Ich werde das Volk zwingen zu kämpfen. Niemals verzeihe ich ihm das Jahr achtzehn, nie
werde ich vergessen, daß Italien damals fünfhundertvierzigtausend Deserteure hatte… Im Grunde gleicht das Volk einer verwöhnten Frau – es gibt dem Sieger den Vorzug.“ „Leider hat unser Sieg in Albanien die Stimmung im Volk nicht gehoben, obgleich wir die Operation so geschickt durchführten, daß der Patient nicht mal piepste.“ „Gut gesagt!“ Mussolini lachte. „Aber sprechen wir von etwas anderem. Jetzt muß man den Jugoslawen eine anständige Dosis Chloroform geben – sie sollen in Belgrad keinen Verdacht schöpfen –, und wir befassen uns einstweilen mit dem rumänischen Öl.“ „Aber wie werden sich unsere Beziehungen zum Westen gestalten?“ „Raten Sie nicht herum! Es kommt alles auf die Haltung der betreffenden Länder an. Die machen mir keine Sorge. Wissen Sie noch, was die Leutchen aus der englischen Botschaft auf dem Bahnhof sangen, als Chamberlain im Winter Rom verließ? Wie war das doch gleich?“ Der Duce schnippte mit den Fingern und dachte nach. „Ach ja, ich hab’s: ,For He’s a Jolly Good Fellow…’ Ich hätte am liebsten mitgesungen. Inzwischen hat sich Chamberlain nicht verändert, er ist ein ,jolly good fellow’ geblieben! Und wie gefällt Ihnen, daß er mir seine Rede, die er im Parlament halten wollte, vorher zugehen ließ? Ich sollte sie billigen, er sei bereit, Korrekturen anzubringen. Der reinste Witz, was? Aber jetzt im Ernst: Zum erstenmal in der Geschichte hat das Haupt des britischen Kabinetts der Regierung eines anderen Staates den Text einer Parlamentsrede zur Bestätigung vorgelegt. Für die Engländer ist das ein schlechtes Zeichen, lieber Galeazzo.“ „Wir müssen also wie ein Tintenfisch das Wasser trüben…“
„Genau das! Das Wasser trüben – darauf kommt es an! Der Westen wird zweifellos nachgeben und die Pille schlucken. Hitlers Spekulation ist schon richtig, und wir werden die Deutschen unterstützen, um unseren Teil zu bekommen. Gleichzeitig rechnen wir mit Belgrad ab. Wir müssen hier im Atlas wohl die Seite Jugoslawien aufschlagen… Was aber, wenn die Franzosen und Engländer doch für Polen eintreten sollten?“ fragte Mussolini und beantwortete sich die Frage selbst: „Dann verdrückt sich eben der Tintenfisch, das heißt, wir ziehen uns von den Deutschen zurück. Das wäre das richtige, nicht wahr?“ Mussolini verbrachte noch eine Stunde mit dem Schwiegersohn, indem er alle möglichen diplomatischen Schachzüge präzisierte und erwog. Die Hauptsache war, man enthüllte seine Pläne nicht vorzeitig. „Ich bin vorsichtig und abwägend wie eine Katze“, schloß Mussolini, „aber wenn ich springe, weiß ich, daß ich dort lande, wo ich hinwollte. Wir werden in den Krieg eintreten, jedoch zu uns genehmer Zeit.“ Ciano verließ den Palazzo Venezia erst spät am Abend, als die Laternen in den Straßen schon lange angezündet waren. Bei Donna Rachele, wo er seine Frau abholte, hielt er sich nicht lange auf. Mit der Erklärung, von der Reise müde zu sein, drängte er zur Heimfahrt. Er wollte noch die frische Nachtluft genießen. Der Graf fuhr mit seiner Frau an den Tiber und bog in die Via Michelangelo ein, auf der sie das Kolosseum erreichten. Von Scheinwerfern beleuchtet, die ihr zuckendes, grelles Licht auf das Bauwerk der Alten warfen, erhob sich die großartige Ruine des Amphitheaters.
Edda saß neben ihm im Wagen und berichtete von den neuesten Streichen der Familie Petacci. Zerstreut hörte sich Ciano die alten Geschichten an und dachte dabei an die einstige Größe des Römischen Reiches. Daran erinnerten ihn die Mauern des Kolosseums, die wie angestrahlte Theaterdekorationen aussahen. Ja, das Römische Reich sollte wieder erstehen, mächtiger als einst. Vielleicht würde es sich dann auch lohnen, das Kolosseum – das Symbol der früheren Größe, das Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft – wieder aufzubauen. Wie vieles sagten doch die Ruinen den stolzen Herzen! Nicht umsonst hatte der Duce befohlen, das Kolosseum mit Scheinwerfern anzustrahlen. Das war das Licht der Geschichte… Da wurden der Graf und seine Gemahlin auf ein Bild aufmerksam, das ihr ästhetisches Gefühl verletzte – inmitten der Ruinen stand im bläulichen Strahlenschein ein ganz prosaischer Plebejer in kariertem Hemd und hielt ein Mädchen eng umschlungen. Die Verliebten kümmerten sich um nichts auf der Welt, am allerwenigsten um Betrachtungen über das Schicksal des Römischen Reiches und seine künftige Weltherrschaft. „Pfui, wie trivial!“ rief Edda empört aus. Ciano drehte die Scheibe herunter, die das Wageninnere vom Fahrersitz trennte, und ordnete an, nach Hause zu fahren. Der Zauber der Vergangenheit war zerstört. Kein heraldisches Kollegium, das die Wappen der vornehmen europäischen Adelsfamilien studiert oder genealogisch begründete Ahnentafeln aufstellt, würde sich der Mühe unterziehen, den Stammbaum des Antonio Celino festzuhal-
ten, der vor rund fünfzehn Jahren nach Rom gekommen war. Das Geschlecht der Celino verlor sich bereits rettungslos in der Tiefe des zweiten Gliedes. Selbst Antonio hätte es, wenn er noch am Leben wäre, nicht gewagt, so er keine Sünde auf sein Haupt laden wollte, bei der heiligen Madonna zu schwören, daß er genau wisse, von wem sein Vater oder Großvater abstamme. Und wer brauchte übrigens den Stammbaum eines italienischen Tagelöhners, der voller Verzweiflung die Landschaft Toskana verließ und auf der Suche nach dem Stückchen täglich Brot in die Ewige Stadt zog! Antonio hatte sich beispielsweise nie mit dem alten Grafen Ciano verglichen. Bei dem zeugte bereits der Name von kriegerischer Tapferkeit – Conte di Cortellazzo e di Buccari. Wer kannte all die Orte, wo sich sein Gutsherr ausgezeichnet hatte! Als Antonio von der königlichen Order erfuhr, durch die der Name Ciano so erheblich verlängert wurde, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln zu seiner Frau: „Paß auf, Carmelina, jetzt kriegen wir auch bald eine Order. Stell dir vor, der König verleiht mir den Titel Graf Celino di Caporetto! Du weißt doch sicherlich nicht mal, wo Caporetto liegt. Dort haben wir anständig eins hinten draufgekriegt. Wie die Hasen sind wir auf und davon gehoppelt, und ich bin danach zum dritten- und letztenmal aus der Armee getürmt. Weißt du noch, du hast mir doch dann die teuflische Brühe gebraut, von der ich die Dämpfe einatmen mußte…“ Ohne die leiseste Scham gedachte Antonio seiner mißlichen Kriegserlebnisse; die dreimalige Flucht aus der Fronttruppe belastete sein Gewissen nicht im geringsten. Er erzählte gern, freilich nicht auf der Polizei, daß seine Ansichten denen des
Papstes und des Königs nicht entsprochen hatten: Jene riefen ihn zum Krieg, er aber zog es vor, ihm fernzubleiben. In allem übrigen hielt sich Celino für einen braven Katholiken und Untertan des Königs. Der toskanische Tagelöhner zitierte mit Vorliebe die Worte seines Freundes Giuliano, eines römischen Müllkärrners, mit dem er aus Caporetto getürmt war. „Besser ein Leben lang als Feigling gelten“, hatte Giuliano philosophiert, als sie der Front den Rücken kehrten, „als auch nur einmal eine Leiche sein.“ Die Ankunft Antonios in Rom wurde von den Chronisten nicht festgehalten, doch im Leben der Celinos bedeutete sie einen wichtigen Wendepunkt. Was Bruno, den jüngsten Sproß der Familie Celino, betraf, so blieb in seinem Gedächtnis nur der glühendheiße Asphalt auf dem Bahnhofsplatz haften, der so weich war, daß er darin mit der nackten Ferse eine Vertiefung für seinen Ball eindrücken konnte. Der barfüßige, zerlumpte Junge mit dem großen Mund und dem blauschwarzen Strubbelkopf zählte damals noch keine acht Jahre. Zu viert saßen sie auf dem Bürgersteig – der Vater, die Mutter, Luigi und er. Luigi war sein fünfzehnjähriger Stiefbruder, von der ersten Frau des Vaters. Sie saßen vor dem Bahnhof und aßen Apfelsinen mit Brot. Die Familie hatte ihre Mahlzeit eben beendet, als ein Polizist auf sie zutrat, der wie der Pfau im Garten des Signore Ciano einherstolzierte. Der Polizist ließ sich tatsächlich zu einer Unterhaltung mit ihnen herab. Zuerst bedeutete er ihnen durch eine Handbewegung, sie sollten sich fortscheren, dann zischte er durch die Zähne, daß es verboten sei, sich mit Gepäck auf dem Platz aufzuhalten. Ohne zu widersprechen, raff-
te der Vater eilig ihre Habe zusammen. Sie schleppten die Sachen in eine nahe Seitenstraße und luden sie am Abend auf einen Handwagen, den ein breitschultriger, Bruno damals noch unbekannter Mann, dem Vater gebracht hatte. Sie beide, der Vater und sein Kriegskamerad – denn dieser war es –, plauderten den ganzen Weg über und waren nur dann still, wenn sie den Wagen bergan schoben. Hielten sie an, um zu verschnaufen, dann klopften sie einander auf den Rücken, und der Vater sagte immer wieder: „Weißt du noch, Giuliano… Weißt du noch…“ In der ersten Zeit wohnten sie bei Giuliano. Doch bald fanden sie ganz in der Nähe eine Kammer, und der Vater fing an zu arbeiten. Noch viele Jahre später klang Bruno das harte Rumpeln der eisenbeschlagenen Räder des Handwagens in den Ohren, der über die Steine des schmalen Gäßchens holperte, in dem die Häuser wie vielstöckige Hühnerställe aussahen. Die Sonnenstrahlen drangen nur in aller Frühe hierher, wenn das Holpern der eisenbeschlagenen Räder Bruno aus dem Schlaf weckte – sonst lag die Gasse im Schatten. Der Vater hatte sich genauso einen Karren angeschafft, wie ihn Onkel Giuliano besaß, und rumpelte täglich damit ins Zentrum der Ewigen Stadt, um Müll abzufahren. Zuerst begriff Bruno nicht, warum er so weit fuhr, wo doch in ihrer Straße genug Kehricht lag. Aber bei ihnen kümmerte sich niemand um die Abfallhaufen. Das Rumpeln der Räder unter ihrem Fenster hörte auch nach Antonios Tod nicht auf. Der Vater war lungenkrank gewesen und im März gestorben, in dem Monat, da die dichten, giftigen Nebel über dem Tiber die Brustkranken dahinraffen. Bald darauf spannte sich die Mutter selber vor den Karren,
und Bruno half ihr zuweilen den Müll aus den breiten, schönen Straßen mit ihren Marmorpalästen abfahren. Zum erstenmal tat sich damals die Welt vor dem Jungen auf; sie war weit interessanter als der Bezirk, in dem er wohnte, mit den schmutzigen, krummen Gassen und den finsteren, grauen Häusern, von denen der Putz abgeplatzt war. Nach dem Tode des Vaters war die Mutter noch mürrischer geworden, und Luigi ließ sich kaum noch zu Hause sehen; nur zur Nacht kam er heim und auch dann nicht immer. Er vertrug sich mit der Stiefmutter nicht. Bruno und Luigi hingegen waren stets gute Freunde, und der ältere verwöhnte den jüngeren ab und zu mit gerösteten Kastanien oder billigem Zuckerwerk. Bruno schwärmte schon immer für seinen Bruder, und erst recht, als Luigi anfing, in die Fabrik zu gehen, und den herben Geruch von Maschinenöl und rostigem Eisen mit nach Hause brachte. In jenen Jahren erfuhr Bruno, daß der Vater nicht eines natürlichen Todes, sondern an einem Zaubermittel gestorben war, dessen Dämpfe er vor vielen Jahren eingeatmet hatte, um vom Militärdienst loszukommen. Aber Bruno pflichtete der Mutter darin bei, daß der Vater dennoch gute zwölf Jahre länger gelebt hatte, als ihm möglicherweise das Schicksal im Krieg vergönnt hätte. Carmelina hatte das Rezept selbst besorgt, sie kochte aus Kräutern eine dicke, zähe Brühe, goß sie auf glühende Kohlen, und Antonio mußte den giftigen Geruch einatmen. Fast wäre Antonio erstickt, den Magen kehrte es ihm um, und am nächsten Tag hatte er Fieber. Doch der heiligen Madonna sei Dank – es half! Die Karabinieri, die in Erfahrung gebracht hatten, daß der hartnäckige Deserteur zum drittenmal von der
Front geflohen war, nahmen Antonio fest, doch nicht für lange. Wegen seines Gesundheitszustandes ließen sie ihn wieder laufen – just am Tage von Maria Verkündigung. Fortan feierte Carmelina diesen Tag jedes Jahr – sie ging in die Kirche, um zur Muttergottes zu beten und ihr zu danken. Carmelina kannte noch ein Mittel – von ihm schwoll das Bein an und wurde schwer wie ein Klotz. Selbst der gestrengste Arzt schrieb einen dienstuntauglich, wenn er einen nicht gar ins Krankenhaus einwies. Der jüngere Celino half also der Mutter, zog mit dem Handwagen durch die Stadt, lernte die Welt kennen, und bald wurde die Ewige Stadt für ihn zur Quelle seines Lebensunterhaltes. Er wurde Fremdenführer. Natürlich erst nach und nach. Zuerst hatte er den Führern zugehört, einfach so, aus Neugier – war es etwa nicht interessant zu erfahren, was hier vor tausend Jahren war? Zusammen mit anderen, ebenso zerlumpten Burschen folgte er den Touristen zu den Sehenswürdigkeiten, bettelte und lauschte den spannenden Geschichten aus dem Leben der Ewigen Stadt. Mit zwanzig Jahren war Bruno ein erfahrener Fremdenführer, der das ganze geheimnisvolle Rom, seine Geschichte, die großen Künstler und Baumeister kannte. So hätte er auch weiter gelebt, stundenlang an den Hotelauffahrten in Erwartung von Touristen gestanden oder ihnen am Portal der Peterskirche aufgelauert, wenn der Gestellungsbefehl das Schicksal des Fremdenführers nicht verändert hätte – im siebzehnten Jahr der neuen Ära wurde der jüngere Celino Soldat in einem Bersaglieri-Regiment. Das Regiment war am Stadtrand von Tarent in Apulien kaserniert. Das war besser, als in Spanien zu kämpfen, wo sich
die Roten, obwohl sie besiegt wurden, mit grimmiger Wut schlugen. Bruno versah seinen Dienst einwandfrei, wenn auch ohne besonderen Eifer. Doch als sich die Wolken über dem Adriatischen Meer verdunkelten, erinnerte er sich an seinen verstorbenen Vater. Mitte März, kurz nachdem Hitler eines Frühlingsmorgens in Prag eingerückt war, begannen die Soldaten in Tarent von Albanien zu sprechen. Die einen behaupteten, der Duce würde das durch die Besetzung Prags entstandene Durcheinander ausnutzen und mit König Achmed Zogu Schluß machen. Andere wieder wollten aus zuverlässigen Quellen wissen, daß ein Passagierdampfer im Hafen eingelaufen sei, aber keine neue Reise angetreten habe, sondern an der Pier bei der Werft von Franco Tosi ohne Passagiere liege und auf etwas warte – auf was wohl, wenn nicht auf Landungstruppen? Es gab auch noch andere Anzeichen, an denen ein Soldat erkannte, daß sich die Gewitterwolken ballten. Bruno erwog genau, was alles eintreten konnte, und zögerte nicht lange. Ganz unerwartet schwoll das Bein des Soldaten Celino ohne sichtbare Ursache an, man legte ihn ins Krankenrevier, und der Regimentsarzt konstatierte Wundrose. Bruno erwirkte einen Genesungsurlaub. Er traf in Rom an dem Tag ein, an dem sein Regiment in Durazzo an Land ging. Den Rucksack über der Schulter, ging er hinkend die vertraute, enge Straße entlang und hörte die Zeitungsjungen ausrufen: „,Popolo d’Italia’! ,Popolo d’Italia’! Letzte Neuigkeiten! Flucht des albanischen Königs! Unsere Bersaglieri in Durazzo gelandet! Letzte Neuigkeiten! ,Popolo d’Italia’!“
Bruno kaufte von einem wieselflinken Bengel eine Zeitung und blieb auf dem Bürgersteig stehen. Auf der ersten Seite sah man die Bersaglieri in geschlossener Marschordnung durch die Straßen von Durazzo ziehen. Das Bild daneben zeigte Graf Ciano beim Verlassen des Flugzeuges auf dem Flugplatz der albanischen Hauptstadt. Mit der Zeitung in der Hand stieg Bruno auch die ausgetretene Treppe zum ersten Stock hoch. Die Mutter war zu Hause. Sie war gerade heimgekommen und hantierte am Herd. „Heilige Jungfrau Maria! Wie ist denn das möglich?“ Carmelina warf sich dem Sohn an den Hals, um dann, nach der ersten Begrüßung, aufgeregt hin und her zu laufen, wie das alle Mütter der Welt tun, wenn ihre Söhne nach längerer Abwesenheit unerwartet heimkehren. In der letzten Zeit hatte Carmelina allein gelebt, denn auch Luigi hatte das Haus verlassen. Anderthalb Jahre war es nun her, daß er ihr eines Tages gesagt hatte: „Ich gehe fort. Mach dir keine Sorgen, Mutter. Wenn ich überhaupt zurückkomme, dann nicht so bald. Sollte jemand nach mir fragen, dann sage, ich hätte Arbeit in Frankreich angenommen.“ „Hast du was von Luigi gehört?“ erkundigte sich Bruno. „Gibt es Nachrichten von ihm?“ „Nein. Anderthalb Jahre schweigt er nun schon. Hat er denn dir nicht geschrieben?“ „Nein, Mama, ich habe auch nichts von ihm. Woher sollte er auch meine Adresse kennen?“ Immerhin wußte Bruno mehr von Luigi als die Mutter, aber er sagte nichts. Nachrichten hatte er allerdings auch keine. Doch was ihm von früher her bekannt war, durfte die Mutter
nicht wissen – darum hatte ihn Luigi vor der Abreise gebeten. Bruno war jetzt beinahe davon überzeugt, daß der Bruder in Spanien auf der Seite der Roten gekämpft hatte. Das hätte er, Bruno, nie gemacht! Als Luigi aus Abessinien zurückkam, hatte er gesagt, er werde nie mehr gegen jemand kämpfen, und dann war er selber in den Krieg gegangen. Am letzten Abend hatte Luigi zu ihm gesagt: „Komm, Bruno, bring mich bis zur Ecke.“ Bruno begleitete ihn fast bis zur Fabrik. Das Gespräch war seltsam. Luigi schien ihm etwas sagen zu wollen, scheute sich aber. „Fährst du wirklich nach Frankreich?“ fragte Bruno. „Natürlich, du hast doch gehört, wie ich es Mutter gesagt habe.“ „Aber warum ist alles so geheimnisvoll? Bleibst du lange weg?“ „Ich weiß nicht, Brüderchen. Alles ist möglich.“ Er umfaßte seine Schulter. „Vielleicht sehr lange, unter Umständen auch ganz… Ich danke dir, jetzt gehe ich allein weiter.“ Die Brüder verabschiedeten sich herzlich, und Luigi bog in eine Seitenstraße ein. „Geh mir nicht nach!“ rief er ihm zu, als er merkte, daß Bruno ihm folgte. Luigi blieb auf der anderen Straßenseite unter einer Laterne stehen, winkte mit der Hand und setzte dann, ohne sich umzudrehen, seinen Weg fort. Mit dem Beutel unterm Arm und der Wolldecke über der Schulter sah er wie einer der vielen Saisonarbeiter aus, die regelmäßig das Land verließen, um Arbeit zu suchen. Aber etwas im Verhalten des Bruders blieb doch unverständlich.
Wozu wollte er sich Arbeit in Frankreich suchen, wo er doch hier sein Auskommen hatte? Als Bruno sich alles noch einmal durch den Kopf gehen ließ, was mit dem Abschied des Bruders zusammenhing, erinnerte er sich auch an ein anderes Gespräch. Es hatte ungefähr zwei Wochen nach Luigis Rückkehr aus Abessinien zwischen ihnen stattgefunden. Luigi erzählte ihm, wie sie auf einem Truppentransporter über das Mittelmeer und durch den Suezkanal gefahren waren, den Kielraum vollgestopft mit Waffen und Munition, im Zwischendeck aber Maulesel, die nicht weniger als die Soldaten unter der Hitze litten. Luigi war nur kurze Zeit in Abessinien gewesen. Auf dem Marsch wurde ihm aus Buschwerk hervor eine Ladung Schrot in die linke Hüfte gejagt. Der Schütze war ein kleiner Somalijunge mit schüchtern-zartem Gesicht und traurigen Augen. Er hatte den Schuß aus einer alten Steinschloßflinte abgefeuert. Während Luigi auf dem glutheißen Boden lag und die Soldaten wie wild nach den Sanitätern riefen, wurde der Junge aus dem Busch hervorgeschleift und an Ort und Stelle ohne Gerichtsverhandlung erschossen. Er hatte auch gar nicht geleugnet, auf den italienischen Soldaten angelegt zu haben. „Ich komme davon nicht los, daß ich am Tode des Jungen schuld bin. Als man ihn anbrachte, begegneten sich unsere Blicke – ich sah in seinen Augen keinen Haß, nur kindliche Neugier. Es ist furchtbar, wenn deinetwegen ein Kind umgebracht wird…“ „Aber er hatte es doch gar nicht auf dich allein abgesehen, du warst ihm nur zufällig vor die Flinte gekommen.“ Bruno wollte den Bruder aufmuntern.
„Das ist es ja eben, Bruno! Du verstehst das noch nicht. Schließlich ist nicht er zu uns nach Rom gekommen, sondern ich bin nach Abessinien gekommen – darin besteht meine Schuld! Der Junge war im Recht, als er schoß.“ „Ich begreife nicht, warum du schuld haben sollst.“ „Nicht ich, wir alle. Weil wir diesen schmutzigen Krieg gegen ein unbewaffnetes Volk angezettelt haben. Mussolini nimmt alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Dafür wird man uns hassen.“ Die Mutter war ins Zimmer getreten und hatte die letzten Worte Luigis gehört. „Allerheiligste Maria!“ rief sie aus, mitten im Zimmer stehenbleibend. „Bist du denn bei Verstand, Luigi, so über den Duce zu sprechen? Siehst du denn nicht, daß die Fenster offenstehen?“ „Die Fenster machen mir keine Sorgen, in unserer Straße denken viele so wie ich. Ich bin gegen den Krieg, Mutter.“ „Unser Vater war auch gegen den Krieg, aber er ließ die königliche Familie aus dem Spiel.“ „Ist es denn heutzutage damit getan, sich zu verstümmeln, um dadurch dem Krieg zu entgehen? So rettet man sich nicht vorm Krieg.“ „Was soll man denn machen?“ fragte Bruno. „Was man machen soll? Nicht das, was Vater gemacht hat. Er dachte nur an sich. Dabei müssen alle eingreifen, damit es gar nicht erst zum Krieg kommt.“ Noch kein Jahr war nach diesem Gespräch vergangen, als Luigi wiederum Italien verließ. Carmelina wartete ein paar Monate auf ihn, schlief nach wie vor auf der Truhe und verlegte schließlich ihr Nachtlager in sein Bett – es stand dichter
beim Ofen, und in den feuchten Winternächten war es dort wärmer. Nunmehr traf die Mutter Anstalten, das Bett Bruno zu überlassen, doch dieser wollte nichts davon hören. Er brauchte ja nur einen Stuhl an die Truhe heranzurücken, damit die Beine nicht herunterhingen. So war nun der jüngere Celino aus der Armee zurückgekehrt, ohne den Krieg gekostet zu haben. In seinem Urlaubsschein malte er noch einen Strich hinzu und war auf diese Weise einen weiteren Monat von der Pflicht entbunden, sich beim Kommissariat zu melden. Dann mußte er von Zeit zu Zeit, zweimal im Monat, in einem Lazarett am anderen Ende von Rom zur ärztlichen Nachuntersuchung erscheinen. Aber es war eigenartig – jedesmal, wenn Bruno zur Nachuntersuchung gehen mußte, schwoll sein Bein von neuem an, und die Haut färbte sich blaurot, so daß der Vorsitzende der Ärztekommission dem erkrankten Bersagliere bedenkenlos den Urlaubsschein verlängerte. Leider eben nur verlängerte, wo es doch dem Bersagliere darum ging, ganz freigestellt zu werden. Der Kampf Carmelinas mit dem Kommissariat zog sich entschieden in die Länge, aber weder die Dienststelle noch der Bersagliere und seine bejahrte Mutter wollten die Waffen strecken. Carmelina besorgte ein neues Mittel. Die Schwellung ergriff jetzt auch die Partie über dem Knie, das Bein wurde dunkelrot, glänzte und brannte wie Feuer. Einem solchen Angriff war selbst der Inspektor im Kommissariat nicht gewachsen. Er prüfte den Paragraphen, nach dem die Ärztekommission es für möglich hielt, den Bersagliere in die Reserve zu überführen, und unterschrieb schließlich den
Schein. Jetzt konnte Bruno auch an eine ständige Arbeit denken. Die Überführung in die Reserve hatte eine wundersame Heilwirkung. Binnen einer Woche fühlte sich Bruno kerngesund ungehindert konnte er mit Angelina nach der Drehorgelmusik auf der Straße tanzen. Es paßte ihm nun nicht mehr, Fremdenführer zu sein. Jedenfalls war es keine schöne Beschäftigung, vor den Sehenswürdigkeiten auf und ab zu spazieren und wie ein Jagdhund unter den Passanten die Müßiggänger, die Touristen, herauszuschnüffeln. Deren Zahl hatte sich übrigens erheblich vermindert – wer wollte schon die Ewige Stadt besichtigen, wo alle Welt nur noch vom Krieg sprach! Angelina kam ihm zu Hilfe. Sie arbeitete in der Makkaronifabrik der Signora Rienza. Fürs erste konnte er in der Versandabteilung unterkommen. Der Lohn würde niedrig sein, aber doch nur vorübergehend, dafür würden sie zusammen zur Arbeit radeln, mit dem Fahrrad brauchte man nicht mehr als zehn Minuten. Ja, das Mädchen schien ihn wirklich zu lieben. Kaum war er aus der Armee zurück, gab sie ihrem Verehrer Giuseppe den Laufpaß – wahrscheinlich war zwischen ihnen auch gar nichts Ernstes gewesen. Bruno Celino war übrigens zur rechten Zeit in die Reserve überführt worden – einen Monat später wäre es ihm nicht mehr geglückt. Immer beängstigender klangen die Gerüchte über den Ausbruch eines Krieges, jeden Tag konnte er entflammen, Bruno fühlte sich indessen ungefährdet. Eines Sonntags Ende August 1939 schlenderten Bruno und seine Freundin Arm in Arm durch die Stadt. Kurze Zeit blieben sie bei einem Straßenmusikanten stehen, dessen Leierka-
sten einer großen, sinnreich verzierten Torte glich. Sie tanzten auch ein wenig und schlenderten dann weiter in Richtung des Kolosseums. Sie gingen langsam, etwas müde, waren sie doch den ganzen Tag unentwegt auf den Beinen gewesen, bis auf das halbe Stündchen Rast, das sie sich auf dem Gipfel des grünen Pinciohügels gegönnt hatten. Sie hatten an der Balustrade vor der Steilwand gesessen und den Anblick der Alleen zu ihren Füßen genossen, mit den steinernen Standbildern der vornehmen Römer. Bruno war hier schon oft mit Touristen gewesen, aber noch nie hatte er mit solchem Feuer von der Vergangenheit der Ewigen Stadt gesprochen wie heute vor seiner einzigen, bezaubernden Zuhörerin mit dem feinen, kecken Naschen und den glänzenden, von dichten langen Wimpern beschatteten braunen Augen. Angelina sah in ihrem Kleid wie ein kleines Mädchen aus. Ihre Taille umschnürte ein breiter, dunkler Gürtel mit einer drachenkopfartigen Bronzeschnalle. Ihr weiter blauer Rock flatterte bei jedem Windhauch und schlug gegen Brunos Beine. Das erregte ihn nicht weniger als die Berührung ihres Ellbogens an seinem nackten Arm – der Bersagliere-Reservist trug ein kariertes ärmelloses Hemd mit offenem Kragen. Ende August senkt sich die Dunkelheit erst spät über Rom herab. Wie immer, wenn sie zusammen waren, bemerkten Bruno und Angelina auch heute nicht, daß es dunkel geworden war. Auf den Treppenstufen der Kirchen, unter den Rundbögen, in den Hauseingängen küßten sich ungeniert die Liebespärchen, und niemand achtete auf sie. Wen ging es auch etwas an! Gut hatten es jene, die in den vornehmen Straßen wohnten – die wußten, wo sie sich küssen konnten.
Was sollten aber Pärchen wie Bruno und Angelina machen, die in den Wanzenburgen der engen, übelriechenden Außenbezirke zu Hause waren? Wohin sollten die gehen? Bruno zum Beispiel zog sich am liebsten mit seiner Freundin in die Ruinen des Kolosseums zurück. Zweifellos ist die Liebe älter als die Ewige Stadt. Nichts als Ruinen sind vom Kolosseum übriggeblieben. Aber die Leidenschaft junger Herzen erfüllt in den Dämmerstunden die gastlichen Ruinen genauso wie Jahrhunderte zuvor. Bruno umarmte Angelina, sie erwiderte seinen Kuß… Zwischen den Säulenresten und zerstörten Galerien war es mittlerweile ganz dunkel geworden. Als sie zurückgingen, sagte Angelina: „Sieh mal, die Scheinwerfer brennen noch gar nicht.“ Erst jetzt merkte Bruno, daß die Scheinwerfer auf dem Kapitol nicht wie sonst ihre Lichtbündel auf die Ruinen des Amphitheaters warfen. Auch die Straßen, durch die sie kamen, lagen im Dunkeln. „Da ist was passiert. Vielleicht in den Elektrizitätswerken.“ „Nein, dort im Fenster brennt doch Licht… Und dort auch!“ Von der gegenüberliegenden Straßenseite ertönte die Stimme eines Karabiniere: „He, Sie da oben, löschen Sie das Licht! Oder brauchen Sie einen Extrabefehl?“ „Was für einen Befehl meint er denn?“ fragte Angelina. „Ich weiß nicht… Wir haben irgendwas verpaßt.“ Hinter dem Fenster erlosch das Licht, und ein Mann in weißem Hemd schaute auf die Straße hinunter. „Entschuldigen Sie, Signore, meine Frau hat meine Hausschuhe irgendwo hingesteckt.“
„Das interessiert mich nicht, und wenn’s die eigene Frau ist, die Sie im Dunkeln verlieren…“ Bruno und Angelina wollten noch zu einem kleinen Imbiß in einer Trattoria einkehren. Doch auch die Fenster der Trattoria waren dunkel, und an der Tür hing ein Zettel. Breitbeinig stand davor ein anderer Karabiniere und sprach mit ein paar angeheiterten Passanten. „Darf man rein?“ fragte Bruno. „Du hast mir gerade noch gefehlt! Wie oft soll ich denn noch sagen, daß heute alle Gaststätten geschlossen bleiben! Morgen ist Mobilmachung!“ Der Karabiniere hatte Angelina entdeckt, beugte sich herab und sah ihr ins Gesicht. „Du wirst dich von deinem Freundchen trennen müssen, Puppe! Willst du mir nicht deine Adresse geben, damit ich dich trösten kann?“ Der Karabiniere lachte, Angelina indessen blieb ihm die Antwort nicht schuldig. „Lach mal nicht zu früh!“ entgegnete sie schlagfertig. „Vielleicht bist du eher dran!“ Ein Gaffer, der sich eine Zigarette ansteckte, beleuchtete mit dem brennenden Streichholz den Zettel an der Tür. Das Streichholz brannte ab, bevor man die Bekanntmachung richtig lesen konnte. So viel hatte man jedenfalls begriffen, daß Interessenten zu günstigen Bedingungen nach Deutschland arbeiten fahren konnten. „Immer was Neues, und nie was Gescheites!“ murmelte jemand im Dunkeln. „Sollen doch die für Hitler arbeiten, die solche Wische schreiben. Einen schönen Verbündeten haben wir uns eingehandelt!“ „Na, na!“ warnte der Karabiniere. „Scher dich heim, wenn du
einen zuviel getrunken hast, und red keinen Unsinn!“ „Erstens trinke ich nicht für dein Geld, und zweitens fehlt mir gerade noch ein Gläschen.“ „Verschwinde!“ Bruno und Angelina gingen weiter. Der Karabiniere rief ihnen nach: „Also, komm zu mir, Puppe, wenn du dich langweilst. Solche wie du gefallen mir…“ „Geh zu meiner Großmutter“, rief Angelina wütend zurück. „Die paßt besser zu dir!“ Die Straße hatte sich geleert, nur noch in den Hauseingängen standen kleine Gruppen beisammen und diskutierten erregt. An einer Hauswand beteten Frauen vor einem Heiligenbild mit einem Lämpchen. Im trüben Licht des Lämpchens sah man gramvolle Gesichter. Bruno brachte Angelina nach Hause und ging dann selber heim. In der Küchentür stieß er mit einer Frau zusammen, die so flink an ihm vorbeihuschte, daß er sie nicht erkannte. Im Zimmer unterhielt sich die Mutter leise mit jemand. „Legen Sie das sofort auf die Wade, Signora Anna. So Gott will, schwillt das Bein bis zum Morgen an.“ „Und wenn nicht? Mein Leo muß doch schon morgen zur Kommission… Signora Carmelina, könnten Sie mir nicht das geben, was Ihr seliger Antonio eingeatmet hat? Vielleicht wirkt das sicherer.“ „Nein, nein, Signora Anna, übereilen Sie nichts. Wozu den Jungen ruinieren! Vielleicht kommt es gar nicht zum Krieg.“ „Oh, allerheiligste Madonna! Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht, was soll ich nur tun… Haben Sie schon gehört, dass man Karten einführt? Wie werden wir jetzt leben? Und
dunkel ist’s in der Stadt, wie im Grab. Man rechnet mit Fliegerangriffen. Das heißt…“ Die folgenden Tage waren für Galeazzo Ciano mit vielen wichtigen und dringenden Staatsgeschäften angefüllt. Hitler hatte sich mit der kürzlichen Unterredung nicht zufriedengegeben und schriftlich noch einmal um Entschlossenheit in der Auffassung der gemeinsamen Aufgaben gebeten. Er spielte dabei auf in nächster Zukunft zu erwartende militärische Operationen und daraus entspringende beiderseitige Vorteile an. Die Antwort darauf wurde lange und eingehend durchgesprochen, man erwog jedes Wort. Schließlich hatte sie, wie es schien, die geeignete Fassung. Mussolini schrieb eigenhändig an Hitler, daß er einen der schwersten Momente in seinem Leben durchmache. Italien sei auf den Krieg nicht vorbereitet. Seine Benzinvorräte reichten nicht länger als zwei Wochen, das gleiche sei mit anderen Rohstoffen der Fall. Zu seinem größten Bedauern könne Italien, da es nicht über die genügende Menge Rohstoffe und Waffen verfüge, nicht in den Krieg eintreten. Dann folgten Freundschafts- und Treueversicherungen, Worte über die Einheit beider faschistischen Systeme und andere tönende Phrasen. Ciano ließ sich mit Berlin verbinden und ersuchte Botschafter Attolico, das Schreiben des Duce sofort nach Empfang an Hitler weiterzugeben. Die neue Botschaft Hitlers traf noch in dieser Nacht in Rom ein. Das Schreiben war in einem kühl-ironischen Ton gehalten. Hitler bat, ihm sofort eine Aufstellung der benötigten Rohstoffe und Waffen zu geben. Er teilte mit, Deutschland
werde seinem Verbündeten wahrscheinlich helfen können. Gleichzeitig bat er den Duce, keine Neutralitätsabsichten verlauten zu lassen. Die Engländer sollten glauben, Italien trete in den Krieg ein. Weiter fragte Hitler an, ob der Duce nicht italienische Industrie- und Landarbeiter nach Deutschland schicken könne, wenigstens hunderttausend fürs erste. Der Ton des Briefes gefiel Graf Ciano nicht, doch daß die Antwort so schnell erfolgt war, bestärkte ihn darin, daß Hitler an der italienischen Hilfe sehr interessiert war. Mussolini erwiderte Ciano darauf: „Wir werden nichts überstürzen. Lassen Sie sich die Aufstellung geben. Sie ist sicherlich schon fertig. Im übrigen werde ich selbst den Generalstab anrufen und feststellen, ob nichts vergessen worden ist.“ Ciano kannte seinen Schwiegervater – wurde ihm etwas versprochen, dann forderte er gleich mehr. Die Aufstellung mit den benötigten Waffen und strategischen Rohstoffen legte der Generalstabschef am folgenden Tag vor. Man überprüfte und studierte sie im Arbeitszimmer des Duce im Palazzo Venezia. Das Verzeichnis war lang und außerordentlich gehaltvoll. Nach Meinung des Stabes sollten die Lieferungen im Laufe eines Jahres durchgeführt werden. „Glauben Sie, daß wir die Sachen bekommen werden?“ fragte Mussolini nicht ganz überzeugt. „Man muß sie uns geben!“ antwortete Ciano. „Natürlich könnte eine solche Liste sogar einen Stier erschlagen, falls er zu lesen verstünde.“ „Gut, Galeazzo, überprüfen Sie alles noch einmal… Und was die Arbeitskräfte angeht, so denke ich, die werden wir hinschicken können. Wir haben dann im Lande weniger Müßig-
gänger.“ Hierauf blätterte Mussolini selbst die Liste durch und verbesserte darin einige Zahlen, so daß sich etliche Posten der Anforderung schließlich fast verdoppelten. Ciano rechnete inzwischen aus, wieviel Güterzüge erforderlich waren, um die Materialien zu befördern. Er hatte nie eine Vorliebe für Mathematik gehabt, zudem war er ein schlechter Rechner. Eine phantastische Zahl kam heraus – an die zwanzigtausend Güterzüge. Der Graf rechnete noch einmal nach: Ja, es stimmte. „Hitler wird so lange Kohlen nach Italien befördern müssen“, schmunzelte Ciano, „bis der Moment für uns günstig ist… Und für Chamberlain findet sich auch noch etwas.“ Zufrieden mit seinem Trick, durch den der Eintritt in den Krieg hinausgezögert wurde, fuhr Graf Ciano in bester Laune nach Hause. Nach dem Essen wollte er einen Mann empfangen, der seine Interessen in Albanien wahrnahm. Buffolino war ein Meister seines Faches! Überhaupt hatte Galeazzo in den letzten Jahren viel Glück, angefangen vom Sieg über Abessinien und besonders seit den Ereignissen in Spanien. Zweifelsohne würde er in der nächsten Zeit einer der reichsten Männer Italiens sein. Mit Buffolinos Hilfe ließ sich noch vieles erreichen. Signor Buffolino, ein Männlein mit dunklem Teint, schmalem Schnurrbartchen, flinken Äuglein und kleinem Schmerbauch, erschien pünktlich. Ohne die halbgeöffnete Tür zu berühren, schlängelte er sich seitlich in das Arbeitszimmer Cianos und näherte sich ihm unter ständigen Verbeugungen. Buffolino, der den Adelstitel „Cavaliere“ seinen verarmten
Eltern verdankte, hatte schon lange nichts mehr mit der aristokratischen Welt gemein – er lebte von Börsenspekulationen, dunklen Geschäften und delikaten Diensten für vornehme Personen. „Ich kann Ihnen mitteilen, Cavaliere“ – Buffolino zerfloß in einem zuvorkommenden Lächeln –, „Ihr ergebener Diener hat die Hände nicht in den Schoß gelegt. Geruhen Sie sich zu überzeugen!“ Mit einer effektvollen Geste löste er den Riemen von seiner Aktentasche, zog einen Packen Papiere heraus und überreichte ihn Ciano. „Die Aktien der AIPA befinden sich ab heute im Besitz Ihrer Familie, Cavaliere. Ich habe alles Ihrer Anordnung gemäß ausgeführt – fünfundfünfzig Prozent der Aktien gehören Ihnen, fünfundzwanzig Ihrer Frau Gemahlin und fünfzehn den lieben Kindern. Das ist fast das gesamte albanische Erdöl…“ „Gut, und wie steht es mit den Schürfarbeiten?“ „Oh, ausgezeichnet! Ich habe die besten Nachrichten. In Albanien sind neue Lagerstätten erschlossen worden. Die Gruben haben die ersten acht Millionen Tonnen Eisenerz geliefert. Glauben Sie mir, Cavaliere, das ist ein schöner Anfangserfolg! Die Aktien Ihrer AMMI steigen mit jedem Tag. Sehen Sie sich hier diese Aufstellung an. Ich habe sie vom Direktor der Bergwerke anfertigen lassen.“ Buffolino wollte dem Grafen behilflich sein, sich in der Aufstellung zurechtzufinden, und näherte sich ihm zu diesem Zweck. Ciano runzelte die Stirn. „Bleiben Sie an Ihrem Platz! Ich finde mich selbst…“ „Wie Sie wünschen, Cavaliere Ciano!… Ich hätte Ihnen gern noch einen Rat gegeben. Wollen Sie mich bitte gnädigst an-
hören.“ Der Minister hob den Kopf. Es kam nicht selten vor, daß er sich der Ratschläge dieses devoten, unangenehmen, aber schlauen Jobbers bediente. „Wie Sie sicherlich wissen, hat der Duce in der für den Hotelbau in Albanien gegründeten Gesellschaft eine Million Lire angelegt. Signor Mussolini wirft das Geld nicht zum Fenster hinaus. Mit dem Bauen ist bereits begonnen worden, und ich garantiere Ihnen einen netten Gewinn. Um so mehr“ – Buffolino beugte sich zu dem Grafen vor und senkte die Stimme –, „als die gleiche Firma für die Offiziere unseres Freiwilligenkorps, das in Spanien eingesetzt war, Landhäuser bauen wird. Das Kriegsministerium hat große Summen dafür bewilligt. Sie können mir glauben, ich. habe meine Informationen aus erster Hand. Es ist noch nicht zu spät, Aktien zu kaufen…“ Buffolino begann seinen Plan im einzelnen darzulegen, aber Ciano unterbrach ihn. „Das ist mir alles bekannt, Buffolino. Sie können anderthalb Millionen Lire in das Geschäft stecken, aber lassen Sie nirgends ein Wort darüber verlauten! Verstanden?“ „Cavaliere Ciano!“ rief Buffolino beleidigt aus und legte die Hand aufs Herz. „Ich bin Ihnen ergeben wie meinem leiblichen Vater. Ich…“ Buffolino konnte reden und reden. Ciano unterbrach brüsk seinen Wortschwall. „Machen Sie sich nun an die Arbeit, Buffolino. Ich habe zu tun.“ Der Vertrauensmann des Ministers zog sich eilends zurück. Ebenso seitlich, wie er hereingekommen war, schlüpfte der
Cavaliere durch die nur halbgeöffnete Tür hinaus. Der Stern Buffolinos war vor einem halben Jahr aufgegangen, als er den Grafen Ciano kennenlernte. Der Minister suchte in jener Zeit für Albanien Leute, die nicht von allzuviel Skrupeln geplagt wurden, und seine Wahl fiel unter anderem auch auf den Cavaliere. Die Rolle des geheimen Verschwörers war indessen nicht nach Buffolinos Geschmack. Er bekam es bald mit der Angst zu tun und kehrte unter einem passenden Vorwand lange vor den albanischen Ereignissen nach Rom zurück. Wie ein geprügelter Hund war Buffolino damals vor Ciano erschienen. Sein Gesicht hatte so viel Demut, so viel Bereitschaft zu jeder Gemeinheit ausgedrückt, wenn man ihm nur die feige Flucht aus der albanischen Hauptstadt verziehe, daß der Minister ihn insgeheim bedauerte. Zudem unterbreitete Buffolino dem Minister bei dieser Gelegenheit eine Idee, die letzteren bewog, seine Meinung über ihn zu ändern. Allein wegen dieser einen Idee verzieh ihm Ciano alle seine Sünden. Mitten in seiner langen und verworrenen Erzählung über die Gründe seiner Flucht aus Albanien hatte der Geheimagent auf einmal gespürt, daß ihn der allmächtige Minister im nächsten Augenblick ohne viel Gerede ein für allemal vor die Tür setzen würde. Da entschloß er sich zu einem letzten Mittel. Er lief um den Tisch herum, beugte sich zu Ciano vor und flüsterte ihm ins Ohr: „Cavaliere Ciano, ich weiß, Sie sind mit mir unzufrieden, aber um des heiligen Dominikus, des Schutzpatrons der Römer, willen, jagen Sie mich nicht fort, ich kann Ihnen noch nützlich sein…“ „Was haben Sie mir vorzuschlagen?“
„Oh, ich könnte Ihnen eine fabelhafte Idee unterbreiten! Schenken Sie mir Ihr geneigtes Ohr… Ich möchte Sie davon in Kenntnis setzen, daß Königin Geraldine Zogu bald niederkommt.“ „Na und? Ich verstehe nicht“, sagte Ciano befremdet. „Einen Augenblick, gleich erzähle ich alles“, versicherte Buffolino eilfertig. „Mir ist klar, daß der Duce uns Albanien schenken will. Hierfür wäre die Zeit kurz vor der Geburt des Kindes am günstigsten. Achmed Zogu kann Tirana nicht verlassen, nie im Leben wird er mit der hochschwangeren Geraldine über die Berge fliehen. Der König liebt sie und wird in alles einwilligen. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill? Gerade jetzt dürfte der König besonders nachgiebig sein. Außerdem könnte ich noch vorteilhaft Erdölaktien aufkaufen. Versteht sich, nur für Sie, Herr Minister, zum Zeichen meiner Ergebenheit…“ Ciano lauschte seinen Worten mit steigendem Interesse. Der feige Agent war wirklich nicht dumm. Sogar schwangere Königinnen konnten also in der großen Politik eine Rolle spielen… Der Minister lächelte. Achmed Zogu hatte den albanischen Thron nicht ohne Mussolinis Hilfe bestiegen. Jetzt brauchte ihn niemand mehr, also konnte er gehen. Warum er, Ciano, nicht selbst darauf gekommen war – der König gäbe kaum sein Familienglück preis, wenn man ihm mit einer militärischen Intervention drohte. Es würde ihm auch leichter fallen, sein Land abzutreten. In der Tat, das war keine schlechte Idee! „Wann soll die Königin entbinden?“ fragte der Außenminister. „In den ersten Apriltagen, mein Cavaliere. Jetzt verstehen Sie
doch, was ich, meine?“ Ja, Ciano hatte verstanden. Buffolino nahm wieder seinen Platz ein. Über die Familienangelegenheiten des albanischen Königs wurde weiter kein Wort gewechselt. Ciano stellte noch einige Fragen in bezug auf die Erdölaktien und erkundigte sich insbesondere nach ihrem Preis. Dann entließ er Buffolino wohlwollend. Am gleichen Abend kehrte Buffolino nach Tirana zurück, mietete sich ein Hotelzimmer und fing an, ein unsichtbares Netz zu spinnen. Nach einigen Wochen waren alle freien Kapitalien des Grafen Galeazzo Ciano in albanischen Montan- und Erdölaktien angelegt. Die weiteren Ereignisse zeigten, daß Buffolino, der in der Börse auf der Piazza Colonna ein und aus ging, recht gehabt hatte. Hitler hatte gerade Prag besetzt. Trotz aller Freundschaftsbeteuerungen schien er etwas gegen den italienischen Bundesgenossen zu planen. Die italienischen Geheimagenten meldeten eine Aktivierung der deutschen Residenten in den Balkanländern. Nach einer unruhevollen Nacht rief Mussolini seinen Schwiegersohn an. Er bat ihn, sofort nach seiner Villa Torlonia zu kommen. „Mit Albanien muß Schluß gemacht werden!“ rief Mussolini gereizt, als Ciano bei ihm eintrat. „Warum soll mir nicht erlaubt sein, was Hitler erlaubt ist. Ich frage – warum? In einer einzigen Nacht macht er die Tschechoslowakei zu seiner Provinz, während wir uns Albanien angucken und warten, bis er es eines Tages auch an sich reißt!“ Ciano pflichtete ihm bei und goß noch mehr Öl ins Feuer. „Ich glaube auch, Duce, die Deutschen haben eigene Absichten auf dem Balkan. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Hitler
versuchen wird, uns mit Gewalt an der Besetzung Albaniens zu hindern.“ „Daran habe ich auch schon gedacht. Zwar bezweifle ich, daß Hitler sich zu ernsthaften Aktionen entschließen wird, aber ich werde immerhin den Befehl geben, an der venezianischen Grenze Truppen zu konzentrieren. Sofort, schon morgen! Sollte es den Deutschen einfallen, sich uns entgegenzustellen, dann werden wir auf sie schießen. Jawohl, schießen!“ Der Duce hieb mit der Faust auf den Tisch. „Wir werden mit aller Entschlossenheit handeln! Ich kann nicht ruhig bleiben, wenn der Nachbar sich die Taschen vollstopft, während wir aus dem Nachbargarten keinerlei Nutzen ziehen. Uns wird niemand daran hindern, mit Albanien aufzuräumen. Sie sehen doch auch, wie gleichgültig die Engländer und Franzosen sind. Die werden keinen Finger rühren. Sie verlangen nur, daß alles wohlanständig zugeht. Im übrigen waschen sie ihre Hände in Unschuld. Chamberlain hat andere Pläne. Er blickt wie Hitler nach dem Osten.“ „Wenn es so ist, dann mache ich den Vorschlag, Albanien am Donnerstag oder Freitag nächster Woche zu besetzen.“ Ciano erzählte dem Duce von der bevorstehenden Niederkunft der albanischen Königin. Mussolini war entzückt. Das war es, was er brauchte! Seine Stimmung hob sich, er wurde munterer und begann zu scherzen. Dann machte er sich daran, den Text eines Abkommens aufzusetzen, das den Albanern zur Unterzeichnung vorgelegt werden sollte. „Ich werde gern Taufpate bei Zogu sein!“ rief er. „Wir erwarten schon mit Ungeduld das freudige Ereignis! Wie sagten Sie, am Donnerstag? Das ist…“ „… der sechste April“, warf Ciano ein. „Er fällt in die Kar-
woche.“ „Das paßt ja ausgezeichnet! Der Herrgott wird uns verzeihen… Dann beginnen wir unsere Aktion am Karfreitag, wenn die Blicke der Katholiken auf den Himmel gerichtet sind. Ist’s nicht so?“ Mussolini lachte über seinen Witz. „Gehen wir ans Werk! Und Hitler – dem werden wir auf dem Balkan ein Bein stellen. Ansonsten halten Sie sich an die Verschleierungstaktik. Wir sprachen bereits darüber. Der Weg zum rumänischen Erdöl führt über Albanien. Warten wir ab, wer zuerst bei den Bohrtürmen ist. Die Engländer führen gleichfalls was im Schilde, ganz zu schweigen von den Amerikanern. Aber wir müssen allen anderen zuvorkommen. Albanien wird unser Aufmarschraum sein.“ Von diesem Tage an konzentrierte sich die ganze Aufmerksamkeit des Außenministers, des Generalstabs und natürlich auch Mussolinis selbst auf Albanien. Ende März machte Ciano folgende Eintragungen in seinem Tagebuch, dem er seine geheimsten Gedanken anvertraute: „Der Duce hat beschlossen, in der albanischen Frage möglichst schnell zu handeln. Er selbst hat den Plan für ein Protektoratsabkommen entworfen, das sehr kurz, ist – es besteht aus drei Punkten und gleicht eher einem Tribunalsspruch als einem internationalen Pakt. Entweder nimmt Zogu unsere Bedingungen an, oder wir besetzen das Land militärisch. Zu diesem Zweck konzentrieren wir in Apulien vier BersaglieriRegimenter, eine Infanteriedivision und das erste Marinegeschwader. Wenn König Zogu zustimmt, fahre ich nach Tirana zur feierlichen Unterzeichnung des Paktes. Mich wird eine Staffel Kampfflugzeuge begleiten – eine kleine Demonstration zur
Bekräftigung dessen, daß Albanien unsere Provinz ist. Wenn Zogu nicht zustimmt, dann brechen am Donnerstag in ganz Albanien Unruhen aus, und wir werden gezwungen sein einzugreifen. In diesem Fall landen wir am Freitag. Ich bin dabei, noch eine kleine Gruppe unternehmungslustiger Männer nach Tirana zu schicken, die Donnerstag abend Zwischenfälle inszenieren. Bei Tagesanbruch sollen sie sich in die Wälder zurückziehen und auf unsere Truppen warten.“ Die Entsendung von Truppen erübrigte sich. Achmed Zogu zog es vor, dem vorgeschlagenen Pakt zuzustimmen. Bei Tagesanbruch wurde ihm ein Sohn geboren, und am Mittag lief die Frist des italienischen Ultimatums ab. Am folgenden Tag traf der Außenminister mit einer Flugzeugstaffel frühmorgens in Durazzo ein. Sein Flugzeug steuerte er selbst – in den Studentenjahren war er Mitglied eines Sportfliegerklubs gewesen. Erst als Durazzo in Sicht kam, setzte sich der Pilot ans Steuer und führte die Landung durch. Die Besetzung des Landes verlief ohne größere Zwischenfälle, dennoch war an einigen Stellen Widerstand geleistet worden. Im Hafenbezirk von Durazzo fielen Schüsse und knatterten Maschinengewehre. In einer Fischersiedlung unweit des Flughafens wurde aus Fenstern gefeuert. Bald hier, bald dort pufften Rauchwölkchen auf, die wie Watteflocken aussahen. Das Schießen dauerte an, einzelne Kugeln flogen bis zum Flugplatz. Ciano hielt sich gar nicht erst in Durazzo auf, sondern flog gleich nach Tirana weiter. Ihn begleitete eine Staffel Kampfflugzeuge der königlich-italienischen Luftflotte. Der Minister beeilte sich, die Angelegenheiten in Tirana schnell abzuschließen, denn er wollte noch zur Frühmesse in
der Kirche Trinita del Monti zurechtkommen. Alles Weitere ging wie am Schnürchen. Wenn auch widerwillig, erklärten sich die Albaner bereit, die Krone in König Viktor Emanuels Hände zu legen, um so mehr, als Achmed Zogu nach seiner Abdankung mit Frau und Kind nach Griechenland geflohen war. In Albanien wußte kaum jemand, daß Zogu auf Anraten und mit Hilfe Galeazzo Cianos das Land verlassen hatte. Nach Ansicht des Ministers hatte der Exkönig nichts mehr in Albanien zu suchen. Er garantierte ihm eine gefahrlose, ja sogar komfortable Flucht. Zur feierlichen Übergabe der Krone reiste eine in aller Eile zusammengestellte Delegation albanischer Parlamentsmitglieder nach Rom. Zunächst hielt ihnen Mussolini im Palazzo Venezia eine Ansprache. Mit Pathos und ausdrucksvollen Gesten verbreitete er sich über die antike Geschichte, über das Römische Imperium, das einstmals auch die albanischen Gebiete zu seinem Territorium gezählt hatte. Die niedergeschlagenen und verwirrten Delegationsmitglieder hatten gehofft, aus seinem Munde das Wort „Unabhängigkeit“ zu hören, doch vergebens. Dann brachte man die Delegationsmitglieder in den Quirinal, die Residenz des Königs. Dort, in den pompösen Palastgemächern, verloren sie sich vollends. Viktor Emanuel thronte auf einem vergoldeten Sessel. Die Abgeordneten, von denen einer die albanische Krone in den Händen hielt, drängten sich schüchtern aneinander. Neben dem königlichen Thron stand eine Statue von Mussolini, die auf seinen eigenen Vorschlag hier aufgestellt worden war. Das klobige Standbild bedrückte die Delegationsmitglieder noch mehr als die Pracht des Quirinals.
Viktor Emanuel nahm die Krone gnädig an, und die Abgeordneten fuhren ins Hotel. Damit endete die albanische Operation, die Ciano mit einem treffenden, aber nicht ganz salonfähigen Namen belegt hatte. Einige Komplikationen ergaben sich mit den Engländern. Vor der Einverleibung Albaniens hatte sich eine Flut von chiffrierten Telegrammen aus der britischen Botschaft in Rom nach London ergossen. Zweifellos informierte der britische Botschafter seine Regierung über die bevorstehenden Ereignisse. Wer konnte wissen, was die Engländer tun würden, wenn sie alles erfuhren – womöglich würden sie noch Krach schlagen und Protest einlegen. Es galt, koste es, was es wolle, Zeit zu gewinnen, und seien es nur Stunden. Ciano überlegte – ja, man mußte auf dem Telegrafenamt die Ziffernserien der chiffrierten Meldungen durcheinanderbringen und entstellen. Bis die Engländer dahinterkämen, bis sie den Text noch mal anforderten, ihn wieder dechiffrierten und vortrugen, würde die Aktion bereits beendet sein. Die Schuld könnte man dann jederzeit auf die Telegrafisten schieben. So war es denn auch geschehen. Das Memorandum der Engländer über das eigenmächtige Vorgehen der Italiener in Albanien traf in Rom kurz nach Zogus Flucht ein. Es hätte ebensogut in der Kanzlei des italienischen Außenministers entworfen und abgefaßt worden sein, so zurückhaltend und wohlgesinnt war sein Ton. In London ließ man durchblicken, daß man wegen der Ereignisse auf dem Balkan ein Auge zudrücken würde. Komplikationen ergaben sich aus einem anderen Anlaß. In Rom war eben der neue britische Botschafter, Sir Percy Loraine, eingetroffen. Er hatte dem König sein Beglaubigungsschreiben
noch nicht überreicht. In der Botschaft bereitete man sich auf den feierlichen Akt vor, aber der Geschehnisse in Albanien wegen sah man sich gezwungen, die festgelegte Etikette zu verletzen. Bei der Überreichung seines Beglaubigungsschreibens im Quirinal hätte Loraine den vollen Titel Viktor Emanuels nennen müssen, der nun aber auch den heiklen Zusatz „König von Albanien“ enthielt. Der neue Botschafter suchte um eine Audienz nach. Er versicherte Ciano seiner Hochachtung und erklärte, daß die Regierung Seiner Majestät des Königs von Großbritannien Glicht die Absicht habe, sich in den italienisch-albanischen Konflikt einzumischen, zumal dieser Konflikt bereits seine konstruktive Lösung gefunden habe. Indessen könne er, wenn er König Viktor Emanuel sein Beglaubigungsschreiben aushändige, dessen Titel nicht voll nennen, weil das Haupt des Hauses Savoyen sich König von Albanien nenne. Wenn er, Sir Percy Loraine, dies täte, würde er die britische Regierung kompromittieren. In diplomatischen Kreisen könnte man diesen Akt als De-jure-Anerkennung der nicht ganz gesetzlichen Eingliederung Albaniens in das italienische Königreich werten. Und eine De-jure-Anerkennung sei, wie der Herr Minister wisse, immerhin etwas anderes als eine De-factoAnerkennung. Aus den geschraubten, langen Sätzen des Botschafters ließ sich der Sinn nicht leicht entnehmen, doch so viel begriff Ciano, daß es den Briten nur um ihr Prestige nach außen hin ging. Der Duce äußerte sich diesbezüglich wie folgt: „Albanien ist mir mehr wert als alle Titel. Mögen sie sich im Quirinal ausdrücken, wie sie wollen. Ich habe ja gleich gesagt, daß sie sich nicht einmischen werden. Sie spielen ihr
eigenes Spiel…“ Bei der Zeremonie im Quirinal ließ Loraine den Titel „König von Albanien“ unerwähnt. Die britische Regierung hatte somit ihr Prestige bewahrt, und Mussolini hatte Albanien bekommen. Wie Mussolini auch erwartet hatte, gab Hitler auf das Schreiben mit der Liste der benötigten Materialien umgehend Antwort. Er versprach vieles, bat aber, die Lieferungen nicht abzuwarten, sondern sich unverzüglich auf die Seite Deutschlands zu stellen. Mussolini antwortete wieder ausweichend und erhielt wieder einen Brief, diesmal mit Zugeständnissen. Hitler bat nunmehr nur darum, geheimzuhalten, daß Italien Neutralität wahren wolle. Die Westmächte sollten glauben, Italien werde im Krieg an der Seite Deutschlands stehen. Dieser Vorschlag wollte gut überlegt sein. Mussolini gab nüchtern zu bedenken, was sein würde, wenn die Engländer seine Absicht, sich auf Hitlers Seite zu stellen, ernst nähmen. Konnte es in diesem Falle nicht passieren, daß sie als erste angriffen? Hitler würde natürlich zufrieden sein, aber… Graf Ciano schlug vor, er würde den Engländern zu verstehen geben, daß Italien nicht gegen sie kämpfen wolle und werde. Auf welche Weise? Sehr einfach! Er würde Sir Percy Loraine einladen und sich gewissermaßen in einer Verfassung nervlicher Überanstrengung „verplappern“. Auch Hitler könnte man das Gewünschte versprechen, ja, man könnte sogar zu seiner Irreführung etwas unternehmen, zum Beispiel Lebensmittelkarten einführen, die Mobilmachung einleiten, die Straßen verdunkeln. Kurz und gut: bluffen wie beim Poker –
die einen wie die anderen bluffen. Bis Ende August wich Ciano einer Begegnung mit dem britischen Botschafter aus. Sir Percy Loraine rief den Minister mehrere Male an, aber der Graf ließ sich nicht sprechen. Er wartete noch. Aus Deutschland trafen Gratislieferungen ein, übrigens doch nicht ganz gratis, Mussolini erfüllte seine Versprechungen. Er erklärte die Mobilmachung, ließ Plakate ankleben, auf denen Arbeitskräfte für Deutschland geworben wurden, und schloß die Vergnügungsstätten. In den großen Städten waren die Straßen nachts in Finsternis getaucht. Der Rundfunk gab Anweisungen durch, wie die Verdunklungsvorschriften zu befolgen seien. Die Lebensmittel wurden rationiert. Sofort bildete sich auch der Schwarze Markt, die Preise stiegen, und die Schlangen vor den Bäckereien wurden länger. Mussolini war zufrieden: Die ganze Welt glaubte, er sei willens, Krieg zu führen. Wenn es nur so wäre! Leider mußte man sich damit begnügen zu bluffen – die Armee war nicht auf den Krieg vorbereitet. Sollten aber die Westmächte Hitler wiederum nachgeben, so würde für die Italiener auch etwas vom Gewinn abfallen. Einstweilen behielt Mussolini seine Politik bei – am Fenster zu stehen und den Zuschauer zu spielen. Da brach London am 31. August plötzlich die Telefonverbindung mit Rom ab. Auf dem Postamt hatte man die Zeit genau festgehalten: Es war zwanzig Uhr zwanzig Minuten mitteleuropäischer Zeit. Ciano befand sich gerade im Palazzo Venezia, als ihm die Postdirektion davon Mitteilung machte. Mussolini sagte: „Vielleicht haben die Engländer das Spiel tatsächlich ernst genommen.“
Die Nachricht war alarmierend. „Das bedeutet Krieg“, fuhr Mussolini fort. „Morgen erklären wir, daß Italien neutral bleibt. Leider…“ „Und wenn es morgen schon zu spät ist?“ Ciano schien es, alles breche zusammen. Hatte er nicht vielleicht des Guten zuviel getan? Mussolini war überzeugt, Hitler würde am folgenden Tag in Polen einmarschieren. Wenn nun die Franzosen und Engländer alle diese Verdunklungsmaßnahmen und die Mobilmachung doch für bare Münze genommen hatten? Wenn sie wirklich Italien angriffen? Vielleicht hängte man jetzt auf französischen Flugplätzen bereits Bomben unter die Flugzeuge? Das wäre schrecklich – in keiner italienischen Stadt gab es Luftschutzbunker. Was hieß in keiner Stadt? Nicht einmal um die eigene Sicherheit hatte sich der Graf gekümmert, nicht einmal seine eigene Villa besaß einen Luftschutzkeller. Es mußte sofort etwas unternommen werden. Ciano ließ den britischen Botschafter ins Ministerium rufen. Loraine kam unverzüglich. Fast wäre Ciano aus dem Palazzo Venezia später als er eingetroffen. Gleich nach ihm betrat der britische Botschafter sein Arbeitszimmer. Ciano gab sich aufgeregt, rauchte eine Zigarette nach der anderen, goß mehrmals mit zittrigen Händen Wasser in ein Glas und verschüttete sogar etwas davon auf dem Tischtuch, Man sah ihm an, daß er sich kaum in der Gewalt hatte. Sie unterhielten sich über die unterbrochene Verbindung zwischen London und der italienischen Hauptstadt. Die Hände an den Schläfen, rief Ciano „ganz in Gedanken“: „Aber warum wollt ihr Engländer einen nicht wiedergutzumachenden Fehler begehen! Begreift ihr denn nicht, daß wir
nie einen Krieg gegen England und Frankreich beginnen werden?! Nie!!“ Hier hielt Ciano inne. Er tat, als hätte er bemerkt, daß er sich verplappert hatte, und schwieg verwirrt. Ciano hatte die Szene glänzend gespielt. Weitere Besprechungen erübrigten sich. Sir Percy Loraine verließ ihn in der festen Überzeugung, daß Italien außerhalb des Konfliktes bleibe. Als er gegangen war, nahm der Minister den Hörer ab und rief im Palazzo Venezia an. Er berichtete Mussolini über den Verlauf der letzten halben Stunde. Man beschloß, die Besprechung Cianos mit dem britischen Botschafter durch einen weiteren Trick zu untermauern – die Straßenbeleuchtung in der Stadt sollte wieder eingeschaltet werden. Die Einwohner von Rom sahen die Laternen in den Straßen plötzlich aufflammen und lächelten voller Freude und Hoffnung. Aber die Verschwörer spielten nur mit dem Frieden. 6 Jules Benoit hatte Mme. de Chacigne schon lange nicht gesehen. Nach einigem Zögern rief er sie an. Wenn ihn sein Chef nicht beauftragt hätte, hätte er es um nichts in der Welt getan -alte Geschichten sollte man nicht wieder aufwärmen. Aber Zeitung blieb Zeitung, und Mme. de Chatigne konnte ihm zu einer Begegnung mit dem Ministerpräsidenten verhelfen. Verdammt noch mal, Frankreich wurde tatsächlich von Weiberröcken regiert! Zum Ministerpräsidenten konnte man nur über seine Geliebte gelangen… Benoit wählte die Nummer und nannte seinen Namen. „Ah, Jules! Endlich! Wo hast du so lange gesteckt? Ich freue mich sehr, wirklich sehr. Du hast mich also nicht verges-
sen?… Stimmt es, daß du geheiratet hast?“ Mme. de Chatigne überschüttete ihn mit Fragen und ließ ihn nicht zu Worte kommen. Sie sprach mit girrender Stimme, kokett-schmachtend, als wolle sie unterstreichen, daß sie das Recht habe, so zu sprechen. Gerade diesen Ton hatte Jules gefürchtet. Er bemühte sich, einem intimen Gespräch auszuweichen. „Davon später, Marot. Ich erzähle dir alles, wenn wir uns sehen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie mir zumute ist! Ich brauche deine Hilfe.“ „Wobei, mein Lieber? Ich bin immer bereit, dir zu helfen. Bist du vielleicht wieder einmal in Geldnöten? Dann muß dich deine Marot schelten, aber sie wird dir helfen. Na, beichte schon, Bruder Leichtfuß! Ich…“ „Nein, nein.“ Jules wurde ärgerlich. „Es handelt sich nicht um Geld! Sag mal, du bist doch mit Madame de Crussol bekannt?“ „Ah, ich verstehe! Du willst wohl etwas vom Ministerpräsidenten? Natürlich, ich weiß. Marie Louise ist eine Freundin von mir, sogar eine sehr gute Freundin.“ „Du hast es erraten, Marot, ich muß wirklich dringend mit dem Ministerpräsidenten zusammenkommen, aber er empfängt ja nie. Meine einzige Hoffnung ist Madame de Crussol. Hilf mir, Marot!“ „Jules, du bist einfach ein Glückspilz! Ich habe schon immer gesagt, daß dir alles im Leben gelingt. Gerade heute wird Marie Louise zu mir kommen und womöglich auch der Ministerpräsident. Er folgt ihr doch stets auf dem Fuße. Du weißt, ich habe jeden Donnerstag Gesellschaft.“ „Das ist ja großartig…“
„Und ob! Komm gegen neun. Übrigens, nein, besser etwas früher, damit ich dich noch küssen kann. Ich hoffe, deine Frau ist auf alte Freunde nicht eifersüchtig… Du hast es sehr eilig?… Verstehe, verstehe! Ja, die Lage ist sehr verwickelt. Ich werde dich nicht aufhalten! Weißt du übrigens, ich lese immer deine Artikel. Ich gratuliere dir von Herzen! Du hast bereits einen Namen!… Wie gefällt dir Hitler? Du kannst mir glauben, er wird Polen schon an die Kandare nehmen. Soll er ruhig, dann wird in Europa mehr Ordnung sein. Hab ich nicht recht?“ Marot hätte endlos weitergeplappert – es machte ihr nichts aus, von modischen Hüten unmittelbar auf das DanzigProblem überzuspringen. Aber Benoit murmelte etwas Unverständliches und legte den Hörer auf. Wenn es ihm heute gelänge, den Ministerpräsidenten zu sprechen, könnte er morgen einen guten Beitrag bringen. Der käme gerade jetzt zur rechten Zeit. Die rußlandfreundlichen Stimmungen, die erneut in der Presse durchsickerten, ließen sich nur durch schlagkräftige Artikel neutralisieren. Gut, wenn man sich dabei auf die Meinung des Ministerpräsidenten berufen konnte… Mit der Chatigne mußte er sich allerdings wohl oder übel treffen. Zum Teufel mit ihr, aber man durfte nicht undankbar sein. Sie hatte zuviel für ihn getan… Jules Benoit hatte seine Karriere bei einer vielgelesenen Frauenzeitschrift als Mitarbeiter der Abteilung „Leserbriefkasten“ begonnen. In dieser Eigenschaft beantwortete er vornehmlich die Briefe junger Leserinnen, die Sexualprobleme sowie die Komplexe ewige Liebe, selbstlose Freundschaft und eheliche Treue bewegten. Einmal hatte er sogar eine kleine Abhandlung verfaßt, in der
er die Frage anschnitt, ob es besser sei, zu warten und seine Hoffnung nicht erfüllt zu sehen, oder etwas zu besitzen und es wieder zu verlieren. Aber eine Diskussion in der Zeitschrift kam nicht zustande, und so mußte Benoit selber unter allerlei Pseudonymen die verschiedensten Meinungen von sich geben, bis er es satt hatte und wieder dazu überging, Leserbriefe zu beantworten. Dem Herausgeber gefiel der sentimentale, etwas lehrhafte Stil Benoits. Jules’ Antworten mußten wohl auch dem Geschmack der zahlreichen Leserinnen entsprochen haben, denn sie überhäuften ihn mit Briefen voller Dankbarkeit und intimer Geständnisse. Welche von den entzückenden anonymen Abonnentinnen der Zeitschrift hatte ahnen können, daß sich hinter der „Traumkönigin“ auf der letzten Seite, die ihnen ihre Briefe beantwortete, ein ausgewachsener Mann verbarg, mit dunkelbraunem assyrischem Spitzbart und dreist glänzenden, ebenso braunen Augen. Jules Benoit hatte sichtlich Erfolg im Leben. Ein glücklicher Zufall half ihm, der Frauenzeitschrift Valet zu sagen. Dieser Zufall ergab sich, als er vor Jahren die Bekanntschaft der Gräfin Marot de Chatigne machte, der Frau eines prominenten Politikers und Mitglieds des französischen Kabinetts. Sie kam in die Redaktion, um die „Traumkönigin“ persönlich kennenzulernen und in ihrem Salon als fällige Attraktion einzuführen. Es fiel Jules nicht leicht, sich aus der schwierigen Situation herauszuwinden und das Geheimnis zu wahren, daß er höchstpersönlich in unmittelbarer Beziehung zu dem romantischen Pseudonym stand. Doch es gelang ihm. So lernte die Dame zwar nicht die „Traumkönigin“ kennen, wurde aber
bald die Geliebte des pfiffigen Journalisten. Marot de Chatigne, nicht mehr eine der Jüngsten, erinnerte an eine verlebte, ehemals glanzvolle Ballerina, die sich an ihren einstigen Ruhm klammert und nicht wahrhaben will, daß sie von der Bühne abtreten sollte, weil ihr Zauber längst dahin ist. Möglich, daß sie einst hübsch war und den Männern den Kopf verdreht hatte, aber das mochte schon lange her sein. Die Liebeskünste der Ministergattin bereiteten Benoit zwar kein großes Vergnügen, aber Mme. de Chatigne erwies sich als eine zuverlässige, wenn auch auf den ersten Blick etwas unsichere Brücke, mit deren Hilfe Jules Benoit auf ein anderes Tätigkeitsgebiet hinüberwechselte. Marot de Chatigne protegierte ihren neuen Freund auf jede Weise, indem sie die weitreichenden Beziehungen ihres Gatten ausnutzte. Zunächst wurde Jules Reporter und bald darauf außenpolitischer Redakteur einer einflußreichen Zeitung, die das halbamtliche Blatt des Außenministeriums war. Der assyrische Bart von Benoit ward nun häufig in den Vorzimmern des Quai d’Orsay, in den Wandelgängen des Parlaments und unbedingt auf allen Pressekonferenzen gesehen. Er hatte Zutritt zu den vornehmen, diplomatischen Salons, knüpfte ausgedehnte Beziehungen an und galt in Journalistenkreisen als einer der bestinformierten Männer. Seine persönliche Freundschaft mit Georges Bonnet, dem Außenminister, brachte ihm viel Neid und Intrigen ein. Aber Jules kümmerte sich wenig darum. Seiner Meinung nach verbürgten gute Geschäftsverbindungen in der journalistischen Tätigkeit nicht minder als im Handel bereits den halben Erfolg. Die andere Hälfte des Erfolges schrieb er der persönlichen Initiative, einer raschen Auffassungsgabe und der Fähigkeit zu, den richtigen Leuten
zu gefallen. In den vorangegangenen Jahren hatten die französischen Regierungskabinette öfter gewechselt, als Jules die Reifen an seinem Auto wechselte. Den Wagen hatte er sich zugelegt, nachdem er bei dem offiziösen Blatt angestellt worden war. Was die Minister betraf, so wechselten diese sogar noch häufiger, als er seine Geliebten wechselte; in dieser Beziehung war Jules weder wählerisch noch beständig. Der greise Gemahl der Gräfin de Chatigne war schon lange nicht mehr Minister – er hatte sich der Opposition angeschlossen –, aber Benoit hatte inzwischen bereits im Leben Wurzeln geschlagen wie das Samenkorn einer dekorativen Schlingpflanze, die mit Hilfe ihrer Saugnäpfe an senkrechten Wänden emporklettert. Was für politische Stürme auch über das Parlament hinweggebraust waren, wie oft die Zusammensetzung des Kabinetts auch gewechselt hatte – Jules Benoit blieb für sich selbst stets die zuverlässige Wetterfahne, die seinem Lebensschiff unveränderlich den günstigen Wind anzeigte. Er schrieb in den Zeitungen unter einem Pseudonym, verschaffte sich ein gewisses Ansehen und brachte es sogar so weit, daß man sich gelegentlich schon auf ihn berief. Dabei kannten viele, genau wie bei der Frauenzeitschrift, nicht einmal seinen richtigen Namen. Für das breite Leserpublikum war Jules nach wie vor eine Art „Traumkönigin“, jetzt allerdings auf internationaler Ebene. Vor zwei Jahren hatte Benoit Liliane Boisson geheiratet, die einzige Tochter eines mittleren Weinhändlers. Als Vierzigjähriger entdeckte er eines Tages, daß selbst ein erfolgreicher Journalist einen eigenen Winkel brauche. Der Winkel, in dem
sich die Jungvermählten niederließen, war zauberhaft. Der Schwiegervater hatte ihnen ein liebes Hochzeitsgeschenk gemacht – er richtete ihnen am Quai d’Orsay, in der Nähe des Außenministeriums, eine gemütliche kleine Vierzimmerwohnung ein. Das war in jeder Beziehung günstig. Benoit brauchte nur noch wenig Geld anzulegen, um die Einrichtung zu vervollständigen. Auf diese Weise konnte er über einige tausend Franc, die er für die Anschaffung der Wohnungseinrichtung zurückgelegt hatte, frei verfügen. Das war gleichfalls eine angenehme Überraschung. Bei der Wahl des Mädchens, das Jules zu seiner Lebensgefährtin auserkor, spielte die Position des Schwiegervaters in der kommerziellen Welt keine geringe Rolle, Wohl galt Monsieur Boisson nicht als Multimillionär, aber er hatte ein gesichertes Einkommen, und sein Unternehmen florierte. Der Schwiegervater hatte dem Schwiegersohn nun schon des öfteren angeboten, als Kompagnon in die Firma einzutreten, damit er dereinst – der Alte dachte bereits an das unausbleibliche Ende – die Leitung des Geschäftes übernehme. Bestimmt war Monsieur Boisson mit Jules’ Stellung in der Pariser Gesellschaft zufrieden, sonst hätte er ihm seine Tochter schwerlich zur Frau gegeben. Dennoch war für den Schwiegervater ein Fäßchen guten Weins etwas entschieden Reelleres als ein Zeitungsblatt, selbst wenn es die Unterschrift des Schwiegersohns aufwies. Zeitungsarbeit war immerhin weit mehr Zufälligkeiten unterworfen als der Weinhandel. Benoit fand in den Überlegungen des Schwiegervaters viel Richtiges. Mit der Zeit fragte er sich auch immer öfter, ob er den zwar hochinteressanten und einträglichen, aber unsiche-
ren Beruf eines außenpolitischen Redakteurs nicht doch mit der ruhigeren und ehrbaren Rolle des Mitinhabers einer Weinfirma vertauschen sollte. War es denn schließlich nicht gleich, wo sein Name stand – unter einem Zeitungsartikel oder auf dem Firmenschild des Schwiegervaters, das Goldmedaillenpreise und die eindrucksvollen Worte „Gegründet 1843“ zierten? In den Weinkellern des Schwiegervaters lagerten Fässer mit hundertjährigem Wein – wer aber würde seine Artikel noch nach zwei Monaten, geschweige denn nach Jahren lesen?! Er selbst konnte sich ja nicht immer erinnern, was er vor einem Monat geschrieben und verteidigt hatte. Im übrigen hatte er noch Zeit, über all das nachzudenken. Er brauchte sich damit nicht zu beeilen. Nach wie vor war Jules im Außenministerium gut angeschrieben, man rechnete mit ihm auf dem Quai d’Orsay – nur zum Ministerpräsidenten hatte er bisher die notwendigen Beziehungen nicht herstellen können. Ebendeshalb versprach sich Jules so viel von dem Besuch des Salons der Gräfin de Chatigne. Jules Benoit richtete es so ein, daß er zusammen mit den ersten Gästen eintraf. Später, wenn alle da waren, hätte er sich im Gedränge leicht verlieren können, so daß sein Name unter den in der Zeitungschronik aufgezählten Gästen dieses Abends womöglich unerwähnt blieb. Die Gastgeberin hieß die Gäste herzlich willkommen. In dem tief ausgeschnittenen Abendkleid erschien sie Jules noch ungefüger und größer als sonst. Die mageren, nackten Arme mit den spitzen Ellbogen waren im Licht der Lüster von milchig-
weißer Farbe. „Ah, Monsieur Benoit!“ rief Mme. de Chatigne aus, als Jules zu ihr trat und sich zurückhaltend verneigte: „Der glückliche junge Ehemann! Wie schön, daß Sie Ihrem Einsiedlerleben einmal entsagt haben, um unser bescheidenes Haus zu beehren! Aber warum verbergen Sie denn Ihr Kleinod vor uns und kommen allein?“ Dieser Satz war für die Umstehenden bestimmt. „Kommen Sie, ich mache Sie mit der Marquise de Crussol bekannt. Sie wird gewiß nicht zulassen, daß Sie sich langweilen.“ Sie gingen durch die Menge der Gäste. Mme. de Chatigne, die hier und da stehenblieb, um ein paar liebenswürdige Worte zu wechseln, flüsterte Jules in einem passenden Moment zu: „Du scheußlicher Mensch, ich hatte dich früher erwartet! Wo warst du? Auf diese Weise riskierst du noch, alle Verbindungen und meine Zuneigung zu verlieren! Heute sei dir noch einmal verziehen, aber das nächste Mal… Rechtfertige dich nicht! Dort ist die Marquise de Crussol. Gehen wir! Denk daran, heute regiert sie Frankreich, aber morgen wird es die da sein – Helene de Portes, die Freundin des kommenden Mannes. Siehst du, sie steht dort, neben dem in Mode gekommenen Deutschen – Otto Abetz. Ganz Paris schwänzelt um ihn herum. Mir ist es gelungen, ihn heute für meinen Abend zu gewinnen. Nicht schlecht, wie?“ Sie gingen ins Rauchzimmer. An dem weitgeöffneten Fenster, das auf den Wintergarten hinausging, stand eine jugendliche, kokett dreinschauende Blondine mit hübschem, launisch herrschsüchtigem Gesicht. Sie war umringt von mehre-
ren Herren, unter denen sich der Außenminister Georges Bonnet befand, ein hagerer Mann mit erdfahler Haut und unmäßig großer Nase, die ihm Ähnlichkeit mit einem Vogel verlieh. „Marie“, sagte die Dame des Hauses, „gestatte, daß ich dir einen Verehrer des Ministerpräsidenten vorstelle. Machen Sie sich bekannt, meine Herrschaften!“ Verschwenderisch lächelnd und Komplimente austeilend, entfernte sich Mme. de Chatigne. Ihr Dekollete sah man bald hier, bald dort aufleuchten. Die Diener mit weißen Chemisetts boten Wein und Sandwiches an. Bonnet wiederholte den Satz, den er wohl unterbrochen hatte, als Benoit hinzugetreten war. „Ich versichere Ihnen noch einmal, daß Hitler die Beziehungen zu Frankreich nicht verschlechtern will. Die Marquise de Crussol hat völlig recht.“ Bonnet lächelte der Blondine zu. „Hitlers Blick ist nach dem Osten gerichtet. Wir können absolut ruhig schlafen, meine Herren, absolut ruhig.“ „Ja“, unterstützte ihn die Marquise de Crussol, „solange Hitler in Europa ist, brauchen wir keine Revolution in Paris zu befürchten. Er wird die Bolschewisten nicht nach dem Westen lassen.“ „Entschuldigen Sie, aber welchen Sinn hat es dann für uns, mit den Russen Verhandlungen zu führen? Die Marquise möge mir verzeihen, daß ich widerspreche.“ Der Sprecher verneigte sich achtungsvoll vor der Marquise. Benoit kannte ihn, es war der Journalist Terzie, der gern verfängliche Fragen stellte. Sie waren sich oft auf Pressekonferenzen begegnet. Terzie schien etwas angeheitert. „Die Russen“, fuhr er fort, „nehmen die Verhandlungen
ernst. Sie hoffen Hitler mit vereinten Kräften zu zügeln.“ Bonnet wandte sich unzufrieden dem Sprecher zu. „Was die Russen hoffen, ist ihre Sache. Meine Aufgabe ist es, auf diplomatischem Wege die Sicherheit Frankreichs zu gewährleisten.“ „Selbst um den Preis eines Krieges?“ „Was für einen Krieg meinen Sie, Monsieur Terzie? Haben wir denn den Frieden in München nicht gerettet, als wir in den Konflikt Zwischen den Tschechen und Hitler eingriffen?“ „Ja, aber danach hörte die Tschechoslowakei auf zu existieren, und der Krieg ist trotzdem, wie Sie sehen, nicht hinter den Bergen.“ Über das ausdrucksvolle Gesicht des Journalisten glitt ein ironisches Lächeln. „Doch, gerade hinter den Bergen!“ Bonnet lachte über seinen Witz. „Uns sichern die Ardennen und die diplomatische Erfahrung. Glauben Sie mir, wegen Danzig wird es nicht zum Krieg kommen! Der Krieg ist da, wenn die Deutschen in die Ukraine einfallen. Aber das berührt uns wenig. Ist es nicht so, Marquise?“ Jules bemerkte, daß die Marquise während des Gesprächs ihre Blicke verstohlen durch den Saal schweifen ließ, dorthin, wo Helene de Portes stand und sich lebhaft mit Abetz unterhielt, dem Deutschen mit dem rötlichen Haar und dem ewigen Lächeln. Die blonde Freundin des Ministerpräsidenten schien gereizt und beunruhigt; unbeherrscht biß sie sich von Zeit zu Zeit auf die Lippen. Bonnets an sie gerichtete Frage hatte sie überhört. „Was sagten Sie? Ja, ja! Wir können die eigene Sicherheit wegen Polen nicht aufs Spiel setzen. Der Ministerpräsident
ist derselben Meinung, Ich weiß, daß die Deutschen auf Seiten der westlichen Kultur sind. Nehmen Sie zum Beispiel Abetz. Ein sehr interessanter Gesprächspartner! Er hat viel für die gegenseitige Annäherung unserer Länder getan.“ Die Marquise blickte jetzt ganz offen hinüber. Helene de Portes faßte Abetz gerade unter den Arm und führte ihn in einen anderen Saal. Das Gesicht der Marquise verfinsterte sich. „Herr Benoit“, sagte sie mit einem Lächeln zu Jules, „würden Sie mir einen Gefallen tun?“ „Mit größtem Vergnügen, bitte befehlen Sie!“ Bei sich dachte Jules: Ihr gefällig zu sein müßte angenehmer sein als der dürren Marot. Laut sagte er: „Was soll ich tun?“ „Mit dem Krieg beginnen und Abetz gefangennehmen! Aber unbedingt sofort!“ „Erlauben Sie, daß auch ich an den Kriegshandlungen teilnehme?“ Der Journalist mit dem ausdrucksvollen Gesicht und dem dichten Haarschopf verneigte sich vor Mme. de Crussol. „Als Verstärkung? Gehen Sie! Nehmen Sie notfalls unsere ganze Armee mit Gamelin an der Spitze zu Hilfe, aber setzen Sie Abetz gefangen.“ Die Marquise lachte, dann sagte sie leise: „Denken Sie aber daran, Abetz muß allein sein, schnappen Sie ihn dieser Kurtisane weg.“ „Wird gemacht!“ Die Journalisten entfernten sich. „Ich wette, Jules“, sagte Terzie, als sie das Rauchzimmer verließen, „Sie sind hergekommen, um den Ministerpräsidenten zu interviewen. Hab ich recht?“ „Woher wollen Sie das wissen?“ „Gestehen Sie’s nur! Ich schwänzle auch schon immer um die Crussol herum. Aber wissen Sie – das Interview liegt
schon fix und fertig in meiner Tasche.“ „Wie denn das?“ „Ganz einfach: die Crussol redet haargenau dasselbe wie der Ministerpräsident. Was sie sagt, ist nur ein Abklatsch seiner Gedanken.“ „Ich möchte dennoch den Ministerpräsidenten selbst sprechen.“ „Ich auch. Die Marquise wird uns helfen. Ich brauche ihn nur, um mich in meinem Artikel auf ihn persönlich berufen zu können. Neues sagt er ja doch nicht… Nanu, mir scheint, wir haben die Feindberührung verloren. Wo steckt Abetz? Sind Sie mit ihm bekannt?… Ausgezeichnet! Entführen Sie ihn, ich lenke inzwischen die Gräfin de Portes ab. Ich hätte gern gewußt, was hinter der Stirn des Deutschen vor sich geht, woran er denken mag!“ „Wie alle – an die Karriere.“ „Nicht nur daran. Ich weiß, daß er den Redakteuren hohe Summen für deutschfreundliche Artikel zahlt.“ „Ist es nicht gleich, wer zahlt? Die Politik ist ja nichts anderes als ein Geschäft.“ Auch für Jules Benoit war etwas von den Abetzschen Geldern abgefallen. „Sie sind sehr zynisch, Jules. Kommen Sie, fangen wir mit unserem Krieg an.“ Inzwischen hatten sich die Säle gefüllt. Unter Entschuldigungen und Verbeugungen schoben sich die Journalisten an den Gästen vorbei, die plaudernd beieinanderstanden. Die Gestalt Abetz’ tauchte vor ihnen auf, um gleich wieder hinter der Tür zum Nebenraurn zu verschwinden. Schließlich hatten sie auch diesen Raum durchschritten und sich bis zu Helene de Portes vorgearbeitet. Terzie stellte ihr
Jules vor. Mit Abetz waren beide bereits bekannt. Der Deutsche sprach recht gewandt französisch und begrüßte die Journalisten wohlgelaunt. „Meine Herren“, rief er, „lassen Sie uns auf die Freundschaft, auf die Einheit der Kultur des Westens gegen die östliche Barbarei das Glas erheben! Ich weiß nicht warum, aber gerade heute bin ich wie nie zuvor von unserer Freundschaft überzeugt. Mir ist, als sei ich hier mehr Franzose denn Deutscher. Darf ich bitten, meine Herren! Sie lehnen es doch nicht ab, mit uns zu trinken, Madame de Portes?“ Abetz hatte Gläser vom Tablett eines Dieners genommen und reichte sie nun zuvorkommend Helene de Portes, Terzie und Benoit. Er nahm einen kleinen Schluck, die zarte Blume des Weins genießerisch kostend. In Paris erfüllte Abetz ganz rätselhafte Funktionen – er saß in den Pariser Salons herum und kämpfte für die kulturelle Annäherung der Franzosen an Deutschland. Während Terzie Helene de Portes mit Komplimenten bedachte, lud Jules den Deutschen ein, mit ihm zur Marquise de Crussol zu gehen. „Wo sind sie denn hingegangen?“ fragte Mme. de Portes unzufrieden, als sie entdeckt hatte, daß der von ihr mit Beschlag belegte Deutsche verschwunden war. Terzie konnte es sich nicht verkneifen zu sagen: „Ich habe gehört, daß die Marquise de Crussol darum bat, Abetz zu ihr zu bringen…“ „Dann ist sie also hier, die Intrigantin!“ Die Gräfin bekam rosarote Flecke im Gesicht. „Begleiten Sie mich, ich möchte nicht mit ihr unter einem Dach sein! Diesem Assyrer werde ich seine Hinterhältigkeit nie vergessen! Sagen Sie ihm das!“
„Sie sind zu hart, Gräfin… Ach, da ist ja auch Monsieur Reynaud!“ unterbrach sich Terzie selbst. Vor ihnen war die zierliche Gestalt eines brünetten Mannes aufgetaucht, der entfernt an einen Japaner erinnerte. Das Gesicht Paul Reynauds zerfloß in einem Lächeln, das aber gleich wieder erstarb. Er sah, daß seine Freundin schlecht gelaunt war. „Ich bin eben erst frei geworden. Helene. Jetzt können wir hier ein Stündchen zusammen verbringen.“ „Nein, wir müssen fort von hier! Sofort! Ich will nicht länger bleiben.“ „Ausgezeichnet!“ stimmte Reynaud sogleich zu. „Ich wollte Ihnen gerade vorschlagen, ein bißchen durch die Stadt zu fahren. Heute ist ein wunderbarer Abend.“ „Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, Monsieur Terzie.“ Mit diesen Worten wandte sich Mme. de Portes an den Journalisten. „Bemühen Sie sich nicht weiter. Kommen Sie am Dienstag zu mir, in meinem Haus wird nicht so ein Gedränge sein.“ Die Gräfin reichte ihm die ringgeschmückte Hand. „Wenn Sie Herrn Abetz treffen, dann sagen Sie ihm bitte, daß ich ihn einlade. Leider habe ich es ihm nicht persönlich mitteilen können. Vergessen Sie nicht: Dienstag um sechs Uhr. Auf Wiedersehen |“ Die Gräfin nahm Reynaud beim Arm, und sie gingen in die Halle. Terzie sah noch, daß Mme. de Portes mit allen Zeichen der Entrüstung etwas zum „Dauphin“ sagte. Reynaud galt als erster Nachfolger des Ministerpräsidenten. In politischen Kreisen rechnete man mit seiner baldigen Ernennung. Ach, diese gierigen Spinnen! dachte Terzie belustigt. Er trank noch ein Glas Wein, das er vom Tablett eines Dieners nahm,
und begab sich dann rasch wieder ins Rauchzimmer – er wollte bei der Unterhaltung der Marquise de Crussol mit dem Deutschen zugegen sein. Terzie traf alle vor dem Wintergartenfenster an. Der Gruppe hatten sich nun noch Abetz und der Ministerpräsident zugesellt, der, wohlbeleibt und mit buschigen Brauen, neben der Marquise stand und sie mit verliebten Augen ansah. „Zerstreuen Sie unsere Zweifel, Monsieur Abetz“, sagte die Blondine mit verführerischem Lächeln. „Will Hitler sich wirklich mit Frankreich überwerfen? Ich kann das einfach nicht glauben!“ „Ich bin Künstler, Marquise, und kein Politiker. Dennoch weiß ich, daß der Führer sehr freundschaftliche Gefühle für Frankreich hegt. Ist Danzig denn wert, daß wir uns entzweien?!“ „Eben, eben! Hören Sie es, meine Herren? Und was meinen Sie, Herr Botschafter?“ wandte sich Mme. de Crussol an William Bullitt, der eben hinzugetreten war. „Was denkt man bei Ihnen in Amerika? Wir sprechen über den Krieg.“ Bullitt begrüßte die Dame höflich und machte vor den Herren eine Verbeugung. „Ich ziehe es vor, über den Frieden zu sprechen“, antwortete er ausweichend. „Mich bindet meine offizielle Stellung…“ „Nein, nein“, entgegnete die Marquise lebhaft. „Wir unterhalten uns ganz privatim! Sie befinden sich unter Freunden.“ Terzie sah, daß Abetz aufhorchte, aber gleich wieder sein unbekümmertes, leichtsinniges Lächeln aufsetzte. „Ich kann einer schönen, interessanten Frau keinen Wunsch abschlagen. Also meinetwegen. Sollte in Europa ein Krieg ausbrechen, so bezweifle ich, daß sich die Vereinigten Staa-
ten einmischen werden. Das habe ich bereits bei der Enthüllung des Denkmals des amerikanischen Soldaten in Pointe de Grave geäußert. Auf jeden Fall ist der Senat in die Ferien gegangen und hat darauf verzichtet, die Frage der amerikanischen Neutralität zu prüfen. Der Senatsausschuß hat beschlossen, sich mit dieser Frage erst im Januar zu beschäftigen, nicht früher. Wir wollen uns nicht in die europäischen Angelegenheiten einmischen. Was den Osten betrifft“ – Bullitt senkte die Stimme –, „so kennen Sie mein Verhältnis zu den Russen. Uns interessiert nicht, was im Osten vor sich geht.“ „Und wie denken Sie darüber, Herr Ministerpräsident?“ warf Benoit ein. „Schreiben Sie auf, was Sie gehört haben. Ihren Lesern dürfte es nicht schaden, das zu erfahren.“ Durch das Dazwischentreten der Gastgeberin wurde das Gespräch unterbrochen. „Meine Herrschaften, ich hoffe, Sie bleiben zum Abendessen?“ Mme. de Chatigne sagte das gerade so laut, daß sie von denen gehört wurde, die sie hören sollten. Ihr Blick begegnete dem Jules’, sie machte ihm ein Zeichen und zog sich zurück. Jules folgte ihr. „Entschuldige, Jules, du bleibst besser nicht zum Abendessen. Es ist nicht nötig, daß unsere Beziehungen bekannt werden. Aber morgen erwarte ich dich in den ChampsElysees. Du weißt doch noch, wo wir uns immer getroffen haben? Sei vernünftig, Jules!“ Benoit verbarg, daß er gekränkt war. „Natürlich, Marot, ich verstehe, aber ich rufe vorher an. Ich kann noch nicht mit Bestimmtheit sagen, ob ich frei sein wer-
de…“ Jules verließ das Haus zusammen mit Leon Terzie, der nicht mehr fest auf den Beinen stand. „Möchten Sie, daß ich Sie nach Hause bringe?“ fragte Benoit, dem der Kopf auch ein wenig schwindelte. „Mein Wagen steht draußen.“ „Bitte schön“, antwortete Terzie gleichgültig. Sie gingen zum Auto. Jules öffnete den Schlag, zog Handschuhe an und setzte sich ans Lenkrad. Der Wagen brauste die an der Seine liegende Straße entlang. „Es gibt also Krieg“, sagte Terzie nach einigem Schweigen. Sein Hut war ihm in den Nacken gerutscht. „Woraus entnehmen Sie das? Im Gegenteil.“ „Gar nicht im Gegenteil! Haben Sie denn nicht verstanden, was Bullitt sagte? Die Amerikaner lassen Hitler freie Hand. Abetz wird schon heute darüber nach Berlin berichten. Solche Gespräche beschleunigen den Krieg… Oh, ich glaube, ich hab zuviel getrunken…“ „Mich regt das nicht auf. Soll Hitler ruhig mit den Polen kämpfen. Deswegen wird man mir meine Artikel auch nicht niedriger honorieren.“ „Sie sind der reinste Geschäftsmann, Jules.“ „Und Sie ein Anarchist. Sie glauben an nichts und erkennen keine Autorität an. Überall suchen Sie Schmutz.“ „Lassen Sie doch die Heuchelei, Jules. Den Schmutz braucht man nicht erst zu suchen, er springt einem überall in die Augen.“ Terzie schüttelte trunken den Kopf. Er geriet immer mehr in Fahrt. „Sie sagen, ich sei Anarchist. Bin ich das? Nein, mich widert es nur an, wenn ich sehe, wie sich Gauner und Spitzbuben als Patrioten herausputzen. Und überhaupt
bin ich ein Zeuge – ,Der Augenzeuge’… Ich weiß sehr viel, Jules. Sie würden vor Neid platzen, wenn Sie… Übrigens, wissen Sie, warum sich Bonnet so eifrig für die Freundschaft mit Hitler einsetzt?“ „Will ich gar nicht wissen! Mit Hitler in Freundschaft leben heißt den Krieg von sich fernhalten.“ „Jules, stecken Sie nicht den Kopf in den Sand!“ Terzie schlug Benoit mit der Hand auf die Schulter. „Nein, Sie begreifen nichts. Aber ich werde es Ihnen sagen. Es ist ja doch alles gleich… Manchmal muß ich mit mir selber sprechen. Hören Sie zu! Bonnet lügt. Der Minister hat sich in Bankspekulationen verstrickt, Herr Abetz aber weiß das und erpreßt ihn. Bonnet muß vor Berlin auf dem Bauch kriechen, sonst entlarvt man ihn…“ Jules rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her. Ihm mißfiel die Wendung, die das Gespräch genommen hatte. „Dann ist er ein Trottel. Er hätte es besser machen müssen.“ „Nicht besser, sondern ehrlicher.“ „Das sind relative Begriffe.“ „Schön, aber wo ist dann hier der Patriotismus, mit dem sich Bonnet so brüstet?“ „Weiß ich nicht. Was heißt überhaupt Patriotismus? Das ist auch ein relativer Begriff.“ „Ich glaube, wir geraten noch aneinander, Jules. Wozu übrigens? Ist doch ganz überflüssig! Sie sind genauso ein Krämer und Spießer wie die andern. Ringsum Schmutz und Verrat. Manchmal möchte ich so sein wie Sie…“ „Was meinen Sie damit?“ „Mir über nichts Gedanken machen.“ „Sie sind betrunken, Leon. Aber ich will es Ihnen nicht übel-
nehmen.“ „Das glaube ich gern. Sie kann man gar nicht beleidigen. Außerdem brauchen Sie mich mitunter. Es ist unvorteilhaft für Sie, etwas übelzunehmen… Jawohl!“ Terzie begann Jules plötzlich zu duzen. „Warum hat dich deine Geliebte nicht zum Abendessen eingeladen? Warum hast du’s ihr wohl übelgenommen?“ „Woher wollen Sie wissen, daß sie meine Geliebte ist? Da irren Sie sich…“ „Na, zumindest war sie es… Ich habe dein verdutztes Gesicht gesehen – so sieht mein Dackel aus, wenn er ins Zimmer gemacht hat.“ „Hören Sie, Terzie, mißbrauchen Sie nicht meine Gastfreundschaft! Sie sitzen in meinem Wagen!“ „Ich kann ja aussteigen, wenn Sie wollen“, lallte Terzie. „Halten Sie an, ich gehe zu Fuß weiter.“ „Sie sind doch total blau!“ „Das geht Sie nichts an. Halten Sie!“ Sie waren in der Nähe des Louvre. Jules hielt an der Ecke der Rue de Rivoli. Terzie stieg aus und torkelte auf dem Bürgersteig weiter. „Wo wollen Sie hin? Ich bringe Sie nach Hause!“ rief Jules ihm nach. „Gehen Sie zum Teufel, ich hasse Sie…“ Terzie lehnte sich mit dem Rücken an eine Hauswand, drehte sich dann vorsichtig um und wankte, mühsam das Gleichgewicht haltend, um die Ecke. Hol ihn der Henker, soll er laufen! entschied Benoit und gab Gas. Aber dann besann er sich eines anderen – Terzie konnte ihm wirklich nützlich sein. Ich nehme ihn mit zu mir nach
Hause, überlegte er, da kann er in meinem Arbeitszimmer schlafen. Jules holte Leon ein und zerrte ihn ins Auto. Terzie war sich nicht recht bewußt, was mit ihm geschah. Schließlich wußte keiner mehr, was vor sich ging! Westeuropa schien sich in ein Tollhaus verwandelt zu haben. Alles ging drunter und drüber: Danzig, Moskau, London, Warschau, Verträge, Verhandlungen, Ultimaten, Pakte und wieder etwas anderes, wieder etwas Neues… Der Kopf schwindelte einem! Und alles wegen der Russen. Wenn die nicht wären, würde alles sein, wie es war. Jawohl… Jules war zumute, als hätten ihn die Russen persönlich gekränkt. Mit Hitler hatten sie einen Vertrag geschlossen. Wie sollte man sich das erklären? Er, Benoit, hatte doch selber geschrieben, Hitlerdeutschland sei die beste Barriere gegen die Ausbreitung des Bolschewismus, ein kriegerischer Konflikt könne nur zwischen Deutschland und Rußland entstehen. Alles steuerte darauf zu, und da, bitte schön, dieser Nichtangriffspakt! Gut, er selbst hätte sich irren können, wie es ihm auch schon anderweitig passiert war. Aber die Gedanken in seinen Artikeln stammten doch gar nicht von ihm – sie stammten von Männern, die an der Macht waren. Ihm gegenüber hatten sie sich zwar viel klarer und freimütiger ausgesprochen, aber nicht alles konnte man den Leuten in der Zeitung vorsetzen. Lange Zeit hindurch galt ein Schema: Hitler drängt nach dem Osten, dort liegen seine Interessen, er haßt die Bolschewisten. Soll er sie ruhig hassen, soll er ruhig nach dem Osten drängen! Wenn die Deutschen und die Russen sich die Köpfe einrennen, bleibt der Westen aus dem Spiel. Alles war klar.
Natürlich durfte man das eine oder andere nur andeuten und mußte manches unausgesprochen lassen. Wer wollte, der verstand. Im Kampf mit den Russen hätte auch Hitler seine Kräfte verbraucht, er wäre schwächer und nachgiebiger geworden. War da nicht alles klar? Jules Benoit fabrizierte solche Artikel am laufenden Band und war selbst fest davon überzeugt, daß alles diesen Gang gehen würde. Der Spezialist für internationale Fragen war in seiner Meinung noch durch andere, indirekte Umstände bestärkt worden. Erstens schrieb nicht er allein so, fast alle Zeitungen stießen in das gleiche Hörn. Zweitens hätte ihm Bonnet, wenn er nicht so geschrieben hätte, wie es erwünscht war, sofort die über das übliche Honorar hinausgehenden Gelder gestrichen. Für nichts ist noch niemand bezahlt worden. Wer hatte ahnen können, daß die Dinge diese Wendung nehmen würden! Erst gestern hatte Bonnet zu ihm gesagt: „Hitler ist groß im Bluffen, er feilscht mit uns und wird keinen Krieg beginnen.“ In diesem Sinne hatte Jules auch seinen Artikel verfaßt. Was sollte er jetzt tun? Wen sollte er fragen? Nirgends war jemand zu erreichen, alle waren auf Sitzungen… Jules las noch einmal das Telegramm des Deutschen Nachrichtenbüros vom 31. August. Darin wurde gemeldet, daß polnische Insurgenten den Sender Gleiwitz überfallen und besetzt hätten, jedoch kurz darauf von alarmierter Polizei mit Waffengewalt gefangengenommen worden seien. Unter den Angreifern habe es einen Toten gegeben. Der Überfall auf den Sender Gleiwitz sei aller Wahrscheinlichkeit nach das Signal für einen allgemeinen Angriff polnischer Banden auf deutsches Gebiet gewesen. Die Polen hätten gleichzeitig an zwei weiteren Stellen die deutsche Grenze überschritten. Die-
se Vorausabteilungen stützten sich offenbar auf reguläre Einheiten. Truppen der den Grenzdienst versehenden Sicherheitspolizei hätten den Kampf mit den Aufständischen aufgenommen. Die Kämpfe hielten an. Das bedeutete bereits Krieg. Jules überflog noch weitere Telegramme. Die Handelsschiffsreedereien funkten ihren Kapitänen, sie sollten mit ihren Schiffen in den Häfen bleiben. Wie vor einem Sturm, dachte er und legte die Zeitung weg. Nein, zu Hause bleiben war unerträglich! Jules steckte sich die Zeitung in die Manteltasche und ging auf die Straße. Er begab sich zu Fuß ins Außenministerium. Bonnet war nicht da. Er hatte das Ministerium heute noch gar nicht betreten. Seit dem frühen Morgen befand er sich, wie sein gefälliger Sekretär Jules mitteilte, im Palais de l’Elysee auf einer Kabinettssitzung. Auf der Jagd nach Neuigkeiten streifte Benoit durch das Labyrinth der engen, muffigen Korridore des Ministeriums. Doch die Beamten, mit denen er sprach, waren selber auf Neuigkeiten erpicht. Der Leiter der Protokollabteilung, ein älterer Mann mit grauen Koteletten, erzählte Jules – er tat es wer weiß warum im Flüsterton –, daß ganze Kolonnen von Autos aus der Stadt rollten und auf den Bahnhöfen die Fahrkartenschalter gestürmt würden. Zweihundertfünfzigtausend Einwohner sollten die Stadt bereits verlassen haben. „Monsieur Benoit“, sagte der alte Beamte und sah ihn erwartungsvoll an, „können Sie als ein Mann, der über beste Informationen verfügt, mir nicht sagen, ob es tatsächlich zum Krieg kommt? Vielleicht ist es wirklich besser, man schickt
seine Familie aufs Land? Ich habe eine Frau und zwei Söhne. Wie denken Sie darüber, Monsieur Benoit?“ „Bis morgen wird sich alles klären. Vorläufig liegt kein Grund für eine Panik vor.“ „Ich danke Ihnen, Monsieur Benoit, Sie haben mich beruhigt.“ Vom Ministerium lenkte Jules seine Schritte heimwärts. Er ging indessen nicht in die Wohnung hinauf, sondern holte nur seinen Wagen aus der Garage und fuhr ins Palais de l’Elysee. Vielleicht konnte er dort etwas erfahren. Es war ein klarer Sonnentag. Auf den Boulevards spielten Kinder, auf den Bürgersteigen hasteten Passanten hin und her. Jules erschienen die Straßen belebter als sonst. Das Gespräch mit dem Beamten hatte ihn beunruhigt. Vielleicht sollte er Liliane doch lieber nach Falaise zum Schwiegervater schicken? In der Provinz war es immerhin stiller. Sonderbar – den Beamten hatte er beruhigt, aber er selber war nun besorgt. Man verstand überhaupt nichts mehr! In der großen Vorhalle des Palais drängten sich Journalisten. Wie Jules waren sie hierhergeeilt, um aus erster Hand Informationen zu erhalten. Auch Leon Terzie befand sich unter ihnen. Benoit hatte ihn seit dem Abend bei Mme. de Chatigne, da er ihn in trunkenem Zustand zu sich nach Hause mitnahm, nicht wiedergesehen. Mit zerzausten Haaren und dem Gesicht eines Mephisto saß Terzie rittlings auf einem Stuhl, die Hände und das Kinn auf die Lehne gestützt. „Da kommt einer, der alles weiß“, sagte Terzie ironisch, als er Benoit erblickte. „Jules, was halten Sie von der Lage?“ „Ja, einiges weiß ich schon“, antwortete Benoit zurückhaltend. Er wollte den Wissenden spielen, der es vorzieht zu
schweigen. Die Journalisten wurden aufmerksam. „Was wissen Sie? Ist aus Berlin Genaueres bekannt? Man sagt, Hitler habe heute im Reichstag gesprochen.“ Der die Frage stellte, ein temperamentvoller, junger Reporter, wollte zugleich zeigen, daß er gut unterrichtet war. „Davon ist mir nichts bekannt. Ich weiß nur, daß die Russen einen geschickten Trick gestartet haben.“ „Wollen Sie damit sagen, daß sie uns zum Narren gehalten haben?“ Terzie erhob sich vom Stuhl. „Noch viel mehr: Sie haben uns durch den Vertrag mit den Deutschen verraten.“ „Wie sagten Sie? Verraten? Nein, was für Bösewichter!“ Terzie sprach unverhohlen spöttisch, aber Benoit merkte es nicht. „Man wollte die Russen in eine Falle locken, aber sie sind nicht reingegangen – solche Bösewichter!“ Der junge Reporter von vorhin mischte sich erregt ein. „Man darf die Sache nicht so simplifizieren. Das Verhalten der Russen fordert einen direkt zum Protest heraus. Ist es nicht so, Monsieur Benoit?“ „Gewiß.“ Jules nickte. „Man darf die Sache nicht simplifizieren.“ Der junge Reporter war selig: Benoit selber hatte sich seiner Meinung angeschlossen! Er errötete sogar. Aber Terzie sagte: „Simplifizieren tun die da – die suchen Dumme.“ Er wies auf die hohe geschlossene Tür, hinter der das Kabinett tagte. „Die Russen haben recht, ich hätte an ihrer Stelle auch nicht anders gehandelt. Wir haben sie lange genug an der Nase herumgeführt.“ „Das geht entschieden zu weit! Sie wollen immer originell
sein.“ „Und dann, dann müssen Sie auch zugeben, daß die Russen den demokratischen Westen verraten haben!“ sagte der junge Reporter kampflustig und blickte dabei zu Jules hinüber. „Na schon. Wollen wir ernsthaft reden.“ Terzies Gesicht hatte sich verfinstert. „Verraten wurden nicht wir, sondern die Russen. Haben wir nicht selber gleich nach München einen Nichtangriffspakt mit den Deutschen unterzeichnet? Die Russen sind nur unserm Beispiel gefolgt. Jedermann hat doch gesehn, daß unsere Verhandlungen mit den Russen Bluff waren, nichts weiter als diplomatische Winkelzüge. Wir wollten Hitler ein wenig Angst einjagen, ihn gefügiger machen. Hab ich nicht recht? Es gibt das schöne Wort: Der französische Soldat kann den englischen König nicht verraten. Warum sollen die Russen für uns Krieg führen? Wir wollten uns die Kastanien von anderen aus dem Feuer holen lassen.“ „Verzeihung, worauf spielen Sie eigentlich an? Unsere Freundschaft mit England steht außer jedem Zweifel, sie ist unverbrüchlich.“ „Das bestreite ich gar nicht, aber die Polen sind auch unsere Freunde, und doch haben wir sie jetzt ihrem Schicksal überlassen. Wir hoffen, uns um die versprochene Hilfe herumdrücken zu können.“ Stimmen des Protestes wurden laut. Wenn es so sei, warum hätten sich dann die Journalisten hier versammelt? Im Gegenteil, jeden Augenblick würden die Minister von der Sitzung kommen und mitteilen, daß Frankreich in den Krieg eintritt. Die Sympathien waren eindeutig auf Seiten des jungen Reporters. „Das stimmt nicht!“ rief dieser nun, ermuntert durch die Un-
terstützung der anderen. „Noch heute wird der Krieg erklärt werden. Wir lassen Polen nicht im Stich. Es ist unpatriotisch von Ihnen, so zu reden, Monsieur Terzie!“ Jules beteiligte sich nicht mehr an der Diskussion. Er hörte sich nur an, wie der zerzauste Terzie seine Widersacher abwehrte. Plötzlich kam ihm ein origineller Gedanke, der sich weder mit der Meinung Terzies noch mit den Vermutungen der anderen Journalisten deckte. Dieser Gedanke verblüffte ihn derart, daß er sich nicht enthalten konnte, ihn laut auszusprechen: „Streiten Sie nicht, meine Herren, es kommt nicht zum Krieg. Wir werden ihn verhüten, wie im vergangenen Jahr in München.“ Offenen Mundes starrte der junge Reporter Jules an. Sein Gesicht drückte Erstaunen aus. Viele Anwesende wollten ebenfalls protestieren, aber das Erscheinen der Minister, die von der Kabinettssitzung kamen, beendete den Meinungsstreit. Die Journalisten stürzten sich auf den Ministerpräsidenten und auf Georges Bonnet. Unter den ihnen folgenden übrigen Ministern stach General Gamelin hervor – er war in voller Paradeuniform und trug alle Orden. „Herr Ministerpräsident, ist die Kriegserklärung ausgesprochen?“ „Haben Sie ein Ultimatum beschlossen?“ „Haben die Truppen Einsatzbefehl bekommen?“ Von allen Seiten hagelte es Fragen. Die Korrespondenten zückten ihre Notizbücher, doch der Ministerpräsident gebot ihnen Einhalt. „Immer mit der Ruhe, meine Herren, immer mit der Ruhe!“ Der Ministerpräsident hatte müde Augen, unter denen die
Tränensäcke geschwollen waren. „Monsieur Bonnet wird Ihnen alles sagen. Das fällt in sein Ressort. Ja, ja… Auf Wiedersehen, meine Herren, auf Wiedersehen!“ Die Journalisten wandten sich Bonnet zu. „Immer sachte! Ich erkläre Ihnen alles. Nur ruhig!“ Bonnet trat wie ein Apostel unter die Zeitungsleute. Bald zur einen, bald zur anderen Seite gewandt, ließ er ihnen den Segen der Information zuteil werden. Allein, seine Auskunft war unbestimmt und verschwommen. Aus ihr ging nur eines hervor – der Krieg war noch nicht erklärt. „Wir geben die Hoffnung auf einen friedlichen Ausgang nicht auf“, sagte Bonnet. „Schreiben Sie auch so… Was sagen sie? Ja, dafür ist Grund vorhanden. Gestern hat Mussolini den Vorschlag gemacht, eine Konferenz einzuberufen, um die Forderungen Deutschlands an Polen zu behandeln. Wir haben unsere Zustimmung bereits nach Rom mitgeteilt!“ „Gestern war auch noch nicht Krieg, aber heute hat Hitler Polen überfallen. Wie gedenkt der Herr Minister unsere internationalen Verpflichtungen zu erfüllen? Werden wir Deutschland den Krieg erklären? Haben wir ein Ultimatum gestellt?“ Der junge Reporter stieß seine Fragen in einem Atemzug hervor. Bonnet lächelte nachsichtig. „Sehen Sie, mein junger Freund, mir gefällt Ihr hitziges Temperament, aber Beschlüsse wollen gut durchdacht sein, bevor man sie faßt. Zunächst muß untersucht werden, wer wen überfallen hat. Ich hoffe, Sie haben die Meldung aus Gleiwitz gelesen. Gewiß, das erfordert eine Prüfung. Möglich, daß wir Deutschland ein Ultimatum übergeben müssen, aber alles zu seiner Zeit. Wir können nicht gegen die Verfas-
sung verstoßen, meine Herren, die Demokratie ist für uns heilig.“ Nach einer Pause fuhr Bonnet fort: „Die Verfassung verlangt, daß das Parlament ein solches Ultimatum vorher billigt. Außerdem sind wir verpflichtet, unsere Handlungen mit dem britischen Bundesgenossen abzustimmen. Höchstwahrscheinlich tritt das Parlament morgen zusammen. Wie Sie sehen, verliert die Regierung in diesem so verantwortungsvollen Augenblick keine Zeit, sie ist sich ihrer hohen Verantwortung vor der Geschichte durchaus bewußt. Ich gebe die Hoffnung auf einen friedlichen Ausgang nicht auf, liebe Freunde. Und einen solchen wünscht die Nation!“ Die letzten Sätze hatte Bonnet in feierlich-pathetischem Ton gesprochen. Er verließ das Palais. Die Journalisten standen da wie vor den Kopf geschlagen. Benoit freute sich, daß er mit seiner Prognose ins Schwarze getroffen hatte. Auf der Straße rief Terzie seinen Kollegen Benoit beiseite. „Auf eine Minute, Jules! Warum haben Sie mich damals in einem solchen Zustand zu sich nach Hause gefahren?“ „Hätten Sie lieber auf dem Pflaster genächtigt?“ „Das nicht, aber es ist mir Ihrer Frau gegenüber peinlich. Sie kannte mich doch gar nicht.“ „Oh, Liliane kennt Sie gut!“ „Wieso?“ „Ich habe ihr erzählt, daß Sie ein Säufer sind.“ Leon fühlte sich seit jenem Tag nicht wohl in seiner Haut. Er hatte damals bis zum Mittag durchgeschlafen, ohne zu wissen, wo er war. Als er aufwachte, sah er sich in Kleidern
auf einer Couch liegen. Verkatert, in zerdrücktem Anzug stand er auf, blickte verwundert um sich und ging in das Zimmer nebenan. „Guten Morgen, Monsieur!“ Durch eine zweite Tür war eine junge Dame mit glatt gekämmtem Haar und dunklem Flaum auf der Oberlippe ins Zimmer getreten. Ihr Gesicht drückte, wie es Leon schien, Mißbilligung aus. „Jules hat mich gebeten, ihn zu entschuldigen, er ist in die Redaktion gefahren. Möchten Sie sich waschen?“ „Danke, ja.“ Jetzt wußte er endlich, wo er sich befand – bei Jules. Und die junge Dame war dessen Frau. Aber er war doch nach dem Streit mit Benoit beim Louvre aus dem Wagen gestiegen? Peinlich, daß er der jungen Frau einen solchen Anblick bot. Wie hübsch sie war! Leon brachte sein Äußeres notdürftig in Ordnung, säuberte seinen Anzug mit einer Kleiderbürste, die er im Schrank fand, und ging zurück ins Eßzimmer. Liliane bot ihm Kaffee an. Leon lehnte ab. Draußen, auf der Diele, sagte Liliane lächelnd: „Auf Wiedersehen, Monsieur Terzie! Besuchen Sie uns mal wieder.“ Diese Frau machte einen allein schon durch ihr Aussehen verlegen. Terzie murmelte eine Entschuldigung, war auf sich wütend und verschwand hinter der Tür. Das Ganze sah nach einer überstürzten Flucht aus. Er ärgerte sich jetzt maßlos, daß Jules ihn vor dieser Frau zum notorischen Säufer gestempelt hatte. „So ein Quatsch!“ entgegnete er Benoit wütend.
Der folgende Tag war ein Sonnabend, der 2. September 1939. Er war zwar ausgefüllt mit Dauersitzungen, Konsultationen und Beratungen, verlief aber ganz ungewiß. Das Ministerkabinett war bereits in aller Frühe zusammengetreten. Bonnet berichtete über die Ereignisse des vorangegangenen Tages: Die deutschen Truppen setzten ihre Offensive in Polen fort, Mussolini habe sein Angebot zur Einberufung einer Konferenz bestätigt, aber die öffentliche Meinung in Frankreich sei strikt gegen Verhandlungen und fordere entschlossene Aktionen. Das erschwere die Lage im Innern. Zum tiefen Bedauern des Ministers verlange auch die öffentliche Meinung in England, die in bezug auf Polen übernommenen Verpflichtungen zu erfüllen. Das aber bedeute Krieg. Während Bonnet dem Kabinett Bericht erstattete, verfolgte er aufmerksam den Eindruck, den nicht nur seine Worte, sondern auch das von Hand zu Hand gehende Dokument, das er dem Safe entnommen hatte, auf seine Ministerkollegen machte. Es handelte sich dabei um einen Brief von Coulondre, dem französischen Botschafter in Berlin. Robert Coulondre teilte streng geheim seine Beobachtungen aus Berlin mit. Es hieß in dem Schreiben: „Der Expansionsdrang des Dritten Reiches nach Osten scheint mir ebenso unbestreitbar wie ein Verzicht auf alle Gebietsansprüche im Westen, zumindest im gegenwärtigen Augenblick; eins schließt das andere aus… Mir ist absolut klar, daß Deutschland keinerlei Ansprüche in bezug auf Frankreich hat… Alle meine Gesprächspartner, mit Ausnahme von Hitler, haben mir in dieser oder jener Form die Notwendigkeit
einer Expansion Deutschlands nach Osteuropa auseinandergesetzt. Mir scheint, man kann hierin die allmählich sich abzeichnenden Umrisse eines gewaltigen, von den Deutschen geplanten Unternehmens erkennen. Nach Unterwerfung der Tschechoslowakei und Ungarns Herr von Mitteleuropa zu werden und hierauf eine Großukraine unter der Hegemonie Deutschlands zu schaffen – das ist wahrscheinlich die Konzeption, an die sich die Führer Deutschlands und zweifellos auch Hitler selbst halten. Wenn die Wege und Mittel auch noch nicht endgültig feststehen, ist das Ziel doch fest umrissen – eine Großukraine zu schaffen, die die Kornkammer Deutschlands werden soll. Zu diesem Zweck müßte Rumänien unterworfen, Polen erobert und ein Teil der UdSSR abgetrennt werden; die deutsche Dynamik macht vor keiner dieser Schwierigkeiten halt, und in militärischen Kreisen spricht man sogar von einem Marsch nach dem Kaukasus und nach Baku. So wird heute durch ein seltsames Spiel des Schicksals die Tschechoslowakei, die den Druck Deutschlands als Bastion abfangen sollte, vom Dritten Reich als Rammbock angesehen, mit dessen Hilfe es das Tor nach dem Osten aufstoßen will.“ Der Bericht Coulondres klang ermutigend. Die Minister atmeten sichtlich auf. So Gott will, lief vielleicht alles noch gut aus. Wenn Hitler nur ein bißchen nachgiebiger wäre. Weshalb ging er so offen vor? Frankreich drohte demnach keine Gefahr. Aber was sollte man jetzt tun? Die Belebung auf den Gesichtern der Minister wich dem Ausdruck angespannter Gedankenarbeit. Jeder suchte nach einem Vorwand, um die Entscheidung der Frage hinauszu-
zögern. Seitdem Coulondre den Bericht geschrieben hatte, war immerhin einiges anders geworden. Man brauchte nur an die militärische Auseinandersetzung im Osten Rußlands, am Halchin-Gol, zu denken. Die Japaner hatten den ersten Schritt gegen die Russen gewagt – keinen glücklichen Schritt. Damals schien das der Anfang großer Ereignisse zu sein. Klar war, daß die Japaner ihr Unternehmen nicht ohne Wissen Hitlers gestartet hatten. Aber was bedeutete dann sein Vertrag mit den Russen? Er hatte alle Karten durcheinandergebracht. Und nun noch dieser Brief von Coulondre… Das alles bereitete natürlich Kopfzerbrechen. Ein bedrücktes Schweigen war eingetreten. Es gab Dinge, über die man nicht einmal auf Ministerratssitzungen sprechen konnte. Reynaud malte auf einem Blatt Papier Ornamente und Männlein. Der Ministerpräsident saß mit mürrischem Gesicht auf dem Platz des Vorsitzenden. Schließlich ergriff er das Wort. Er beschränkte sich allerdings nur auf eine Frage an den Generalstabschef, der zu der Sitzung hinzugezogen worden war. Und sogleich erfüllte alle die Hoffnung, daß sich mit Hilfe von Maurice Gamelin ein Ausweg finden ließe. Der Ministerpräsident fragte: „Ist die Armee genügend vorbereitet, um hinter unserem Ultimatum an Deutschland zu stehen? Ich bitte den verehrten Generalstabschef, sich dazu zu äußern.“ General Gamelin erhob sich von seinem Platz. Auf seinem kindlich rosigen Gesicht traten feine lila Äderchen hervor. „Meine Herren Minister“, begann er leise, „mit soldatischer Offenheit muß ich Sie die harte Wahrheit wissen lassen.“ Gamelin machte eine Pause und wölbte martialisch die Brust. „Unser militärisches Potential hat sich in diesem Jahr, seit-
dem die Tschechoslowakei von den Deutschen besetzt wurde, beträchtlich verringert. Zusammen mit der Tschechoslowakei haben wir einundzwanzig reguläre Divisionen der mit uns verbündeten tschechoslowakischen Armee und überdies mindestens sechzehn Divisionen des zweiten Aufgebotes verloren, die die Tschechen zusätzlich hätten mobilisieren können. Ich möchte daran erinnern, was Herr Hitler vor einem halben Jahr sagte, als die deutschen Truppen in Prag einmarschierten. Wir haben keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln. Er teilte mit, daß an die deutsche Wehrmacht anderthalbtausend tschechoslowakische Kampfflugzeuge, zweitausend Geschütze, fünfhundert Panzer, nahezu fünfzigtausend Maschinengewehre und über eine Million Gewehre übergegangen seien. Ich kann dem noch hinzufügen, meine Herren, daß die tschechischen Skoda-Werke, die ebenfalls den Deutschen zugefallen sind, ihrer Kapazität nach der Leistungsfähigkeit sämtlicher englischer Rüstungsfabriken entsprechen. Demnach haben wir den politischen Zielen einen beträchtlichen Teil unseres eigenen militärischen Potentials zum Opfer gebracht und das Kriegspotential Deutschlands um die gleiche Menge vergrößert.“ Was faselt er da? dachte der Ministerpräsident besorgt. Sein Stiernacken war rot angelaufen. Das gilt doch mir! Die übrigen Minister, soweit sie am Münchener Abkommen beteiligt waren, fühlten sich ebenfalls nicht wohl in ihrer Haut. Die Worte Gamelins schienen ihnen geradezu anstößig. Der Ministerpräsident stand auf – er wollte den Redner ermahnen, zur Sache zu sprechen –, setzte sich aber gleich wieder: Gamelin war selber zum Thema gekommen.
„Meine Herren Minister“, fuhr er fort, „die Besetzung der Tschechoslowakei durch die Deutschen hat uns in eine schwierige Lage gebracht. Einerseits sind wir vertraglich verpflichtet, der polnischen Regierung unverzüglich Hilfe zu leisten, andererseits müssen hinter jedem Wort der französischen Nation, die wir hier vertreten, um so mehr aber hinter einem Ultimatum reale Kräfte stehen. Darauf beruht das Prestige Frankreichs. Und wenn Sie mir heute die Frage vorlegen, ob die französische Armee darauf vorbereitet sei, Ihrem gewichtigen Wort mit militärischer Kraft Nachdruck zu verleihen, so antworte ich mit ja. Sie ist bereit, einem Ultimatum Nachdruck zu verleihen, aber dazu ist Zeit erforderlich. Die französische Armee kann nicht vor Montag abend in Aktion treten. Jedoch raten die Militärkapazitäten der Vergangenheit, eine Schlacht nicht abends zu beginnen. Deshalb ist es realer, als Termin für die Einsatzbereitschaft der Armee den Dienstagmorgen zu nennen. Heute haben wir bekanntlich Sonnabend…“ Das hat er prima gedeichselt! sagte sich Bonnet. Er ist gar nicht so dumm, wie es auf den ersten Blick scheint. Bonnet entschloß sich, unverzüglich zu handeln, solange die Minister noch unter dem Eindruck der Ausführungen des Generals standen. In der Tat – Ultimatum schön und gut, aber wenn nun mal nichts da war, womit man ihm den nötigen Nachdruck verleihen konnte! „Meine Herren!“ Bonnet drehte die Nase wie ein Steuer nach rechts und nach links. „In dieser Stunde, meine Herren, ist es unsere Pflicht, entschlossen und einig zu sein. Ich verstehe die Stimmung der Öffentlichkeit in unserem Lande. Ich verstehe und teile sie – die deutsche Aggression muß zum Ste-
hen gebracht werden. Aber wir müssen vernünftig sein, meine Herren. Ich nehme an – und davon hat mich die Erklärung des Befehlshabers der bewaffneten Kräfte Frankreichs überzeugt –, daß es die beste Lösung ist, mit dem Ultimatum bis Montag zu warten. Inzwischen warnen wir Herrn Hitler in sanfterer Form. Jawohl, ich scheue mich nicht, in dieser ernsten Stunde dieses Wort auszusprechen. Sanftheit, meine Herren, ist noch kein Zeichen von Schwäche. Solange die Kanonen schweigen, haben wir die Möglichkeit, diplomatische Schritte zu unternehmen. Dann brauchen wir vielleicht auch kein Ultimatum zu stellen.“ Bonnet entnahm den Gesichtern der um den Tisch sitzenden Minister, daß sie seinen Standpunkt akzeptierten. Vor der Abstimmung mußte er noch einen Trumpf ausspielen, und der Außenminister warf diesen Trumpf auf den Tisch. „Ich habe reale Gründe, optimistisch zu sein“, sagte er. „Ich kann dem Kabinett die streng geheime Mitteilung machen, daß Italien sich nicht auf die Seite Deutschlands stellt. Das heißt, Hitler bleibt allein, ohne Unterstützung. Er wird Zugeständnisse machen. Die absolut zuverlässige Information ist mir über London aus Rom, vom britischen Botschafter Sir Percy Loraine, zugegangen. Ciano hat dem Botschafter gegenüber fallen lassen, daß die Italiener weder kämpfen werden noch kämpfen wollen. Das ändert die Sache zu unseren Gunsten. Die Grundlage unserer Politik muß Elastizität und noch einmal Elastizität sein. Nach dieser Information habe ich der italienischen Regierung versprochen, Deutschland vor Montag kein Ultimatum zu stellen. Ich appelliere an Ihre Vernunft, meine Herren, und bitte, über die Frage abzustimmen.“
Die Minister erklärten sich mit der Meinung Bonnets einverstanden. Spätabends schloß der Ministerpräsident die Sitzung. In der Hoffnung, daß es vielleicht doch noch gelingen würde, Hitler umzustimmen, gingen die Kabinettsmitglieder auseinander. Nach der Sitzung des Ministerrats rief Bonnets Sekretär Jules Benoit in der Redaktion an und teilte ihm mit, daß der Minister ihn am nächsten Tag auf dem Quai d’Orsay erwarte. Wann? Je früher, desto besser, jedenfalls am Morgen. Es war noch nicht neun Uhr, als Jules im Vorzimmer erschien. Der Sekretär ließ ihn sofort zum Minister vor. Bonnet machte einen mißmutigen Eindruck. Er blätterte in Meldungen, die er von der Polizei erhalten hatte. „Ich habe heute nacht fast kein Auge zugetan“, sagte er müde. „Die Lage ist verteufelt kompliziert. Nehmen Sie Platz. Sie müssen entschuldigen, ich habe keine Zeit, mich Ihnen lange zu widmen.“ Bonnet nahm einen Packen Blätter vom Tisch. „Sehen Sie, das sind Polizeimeldungen. Ich zerbreche mir ihretwegen den Kopf: Allenthalben fordert man aktive Handlungen. Vor München war die Stimmung ganz anders.“ Der Minister sprach mit Benoit wie mit einem in alle Geheimnisse eingeweihten Gesinnungsfreund. „Damals spielten, wie Sie sich erinnern werden, die Verdunklung, die Mobilmachung, die Truppenverschiebungen, einfache Sandsäcke auf den Straßen und sonstige Attribute eines nahen Krieges eine gewisse Rolle. Ich habe die Psychologie der Herde studiert – auf die Menschen wirkt die Kriegsdrohung stärker als der Krieg selbst. Als wir in München das Abkommen mit Hitler
erzielten, ließen wir sofort die Sandsäcke aus den Straßen entfernen. Das wirkte. Der Ministerpräsident kehrte aus München als Friedensengel zurück. Aber heute ist das Volk wie ausgetauscht, man erkennt es nicht wieder.“ Bonnet beugte sich zu Jules vor. „Aus diesem Grunde habe ich Sie auch hergebeten. Diese Stimmungen dürfen nicht anhalten. Bitte schreiben Sie einen guten Artikel – Sie wissen schon, wie. Die Leser müssen erkennen, daß der Krieg eine ernste Angelegenheit ist. Das mögen sie sich durch den Kopf gehen lassen, bevor sie von der Regierung aktive Handlungen verlangen. Wenn Sie wollen, machen Sie ihnen ein bißchen angst, deuten Sie an, Deutschland sei stärker als wir, und dergleichen mehr. Sie verstehen, was ich meine? Halten Sie sich an die Konzeption Ihrer früheren Artikel. Philosophieren Sie – Sie wissen doch noch, wie Sie über die Tschechoslowakei schrieben: Was ist besser – Opfer im Namen des Friedens oder Krieg ohne Opfer? Die Leser lieben solche Betrachtungen. Halten Sie sich vor Augen, daß wir uns nicht in den Konflikt einmischen wollen. Gestern hat das Kabinett praktisch einen solchen Beschluß gefaßt… Ja, was ich noch sagen wollte…“ Der Minister nahm aus einem Schreibtischfach einen prall gefüllten Umschlag und reichte ihn Jules. „Hier, die Hälfte ist für Sie, den Rest geben Sie Ihren Kollegen. Informieren Sie sie, was geschrieben werden muß. Jetzt können Sie großzügiger sein. Ich hoffe… Verzeihung!“ Das Telefon schnarrte. Der Minister wurde aus London verlangt. Jules versenkte den Umschlag in seiner Brusttasche. Mit der Hand strich er über die Stelle, die sich nun bauschte. So viel Geld hatte ihm Bonnet noch nie gegeben.
Etwa eine Minute war vergangen. Bonnet wartete gespannt mit dem Hörer in der Hand. Plötzlich zerfloß sein Gesicht in einem Lächeln. „Lord Halifax?… Ja, ja, ich bin es, Bonnet… Ich danke Ihnen!… Ach, Sie haben auch nicht geschlafen?… Was soll man machen, der Friede ist kostbarer als der Schlaf… Wie? Wie?… Heute?… Wie stellen Sie sich das vor?“ Sosehr Jules sich auch anstrengte, er konnte nur einzelne Worte des Londoner Gesprächspartners verstehen. Aber den Antworten und Ausrufen des aufgeregten Bonnet, der bisweilen ganze Sätze von Halifax wiederholte, konnte er nicht nur den Zusammenhang entnehmen, sondern später auch das ganze Gespräch mit stenographischer Genauigkeit rekonstruieren. „Heute um elf Uhr tritt England in den Krieg?“ wiederholte Bonnet mit tonloser Stimme. „Aber… Verstehe, verstehe… So… So… Wenn Sie Deutschland das Ultimatum nicht stellen, kann die Regierung gestürzt werden?… Verstehe. Die öffentliche Meinung in Frankreich ist bedauerlicherweise auch nicht anders… Sie wollen das Ultimatum noch vor der nächsten Parlamentstagung aushändigen?… Sie sind gezwungen, das zu tun? Schade… Die Opposition ist zu stark?… Was wir machen? Wir sind durch die Zusage an die italienische Regierung gebunden… Ja, das ist es eben… Leider habe ich meinem Botschafter bereits entsprechende Anweisung gegeben… Ja, Coulondre… Ach, wie peinlich!…“ Es trat eine lange Pause ein. Bonnet lauschte aufmerksam, tat den Mund zu einer Entgegnung auf, schloß ihn wieder und hörte weiter zu. Schließlich sagte er: „Ich werde gleich die nötigen Maßnahmen treffen… Unver-
züglich… Ich danke Ihnen!“ Der Minister legte den Hörer auf und senkte müde den Kopf. Jules hatte ihn noch nie so fassungslos gesehen. Bonnet drückte auf den Knopf der Tischklingel; sofort erschien sein Sekretär. „Stellen Sie unverzüglich eine Verbindung mit Berlin her und lassen Sie den Botschafter an den Apparat rufen. Haben Sie verstanden? Sofort! Und inzwischen verbinden Sie mich mit dem Ministerpräsidenten.“ Der Sekretär schloß unhörbar die Tür. Bonnet legte den Stoß Meldungen von einem Platz auf den anderen, rückte das Schreibservice gerade. Er tat das ganz mechanisch. „Haben Sie mitbekommen, was Halifax gesagt hat?“ wandte er sich an Jules. „Es ist schrecklich! Chamberlain sieht sich gezwungen, Deutschland das Ultimatum sofort zu übergeben, sonst ist er die längste Zeit Premier gewesen. Vor das Parlament kann er nur mit der Nachricht treten, daß das Ultimatum gestellt ist. Ihre Parlamentssitzung beginnt um zehn.“ Bonnet sah auf die Uhr. „Mein Gott, was sollen wir nur machen? Nicht mal eine Stunde mehr bis dahin. Wir sind verpflichtet, dasselbe zu tun…“ Der Sekretär erschien mit der Mitteilung, daß der Ministerpräsident am Apparat sei. „Herr Ministerpräsident?… Neuigkeiten aus London… Ja, soeben erst… Lord Halifax hat mir mitgeteilt, sie müßten das Ultimatum sofort aushändigen, sonst werde die Regierung gestürzt. Im Parlament sitzt eine starke Opposition… Ja, aber Coulondre hat andre Instruktionen bekommen – er soll das letzte Wort hinauszögern… Ganz recht, unserem Kabinett
droht das gleiche… Ich denke auch so… Ich werde unverzüglich mit Berlin sprechen.“ Bonnet ging in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Jeden Augenblick rief er den Sekretär und fragte ihn, wann endlich die Verbindung mit Berlin komme. Kaum war der Sekretär wieder draußen, betätigte er das Klingelzeichen von neuem. Schließlich war Berlin in der Leitung. Die Botschaftssekretärin meldete sich, „Wo ist der Botschafter?“ Jules hörte nicht, was in Berlin geantwortet wurde. Offenbar war die Sekretärin dabei, eine lange Erklärung abzugeben. Bonnets Gesicht lief dunkel an. „Fassen Sie sich kurz! Halten Sie ihn sofort auf… Rufen Sie ihn aus dem Fenster zurück… Machen Sie, was Sie wollen… Aber so hören Sie doch, zum Donnerwetter!… Sie sollen Coulondre zurückholen… Laufen Sie selbst… Ja, ja, ja!…“ Bonnet schlug mit der Faust auf den Tisch. Dann trat eine unwahrscheinlich lange Pause ein. Bonnet biß sich auf die Lippen und sah auf die Uhr. Er pustete in den Hörer. Am anderen Ende blieb alles still. Plötzlich ertönte die Stimme von Coulondre. „Wie?… Sie waren bereits unterwegs?… Saßen schon im Wagen? Sehr gut! Die Situation hat sich geändert… Hören Sie! Das vorbereitete Dokument – übergeben Sie es… Nun ja!… Wir können uns das Chiffrieren jetzt wirklich ersparen. Wir brauchen aus unserem Gespräch kein Geheimnis zu machen. Übergeben Sie das Ultimatum sofort und erklären Sie, daß es heute um siebzehn Uhr abläuft… Nein doch, nicht am Montag, sondern heute… Ich wiederhole: Wenn Hitler seine Truppen aus Polen nicht zurückzieht, befinden wir uns ab
heute, siebzehn Uhr, im Kriegszustand mit Deutschland… Ganz recht… Mussolini habe ich versprochen, bis siebzehn Uhr zu warten… Aber nein doch, heute… Wir erfüllen unser Versprechen… Fahren Sie los 1“ Bonnet atmete erleichtert auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Erst jetzt fiel ihm ein, daß er dem vor ihm sitzenden Journalisten das Geld zu früh gegeben hatte. Benoit dachte gleichfalls an das Geld, das bereits bei ihm in der Tasche steckte. Er wartete auf die Entscheidung des Ministers. „Hm, ja!… Sie sehen, Benoit, die Situation hat sich geändert.“ Bonnet schwieg. Er überlegte, ob er das Geld zurückfordern solle. „Übrigens“, sagte er dann, „unsere Abmachung bleibt bestehen. Es ist nicht nötig, mit dem Säbel zu rasseln. Wir erklären den Krieg symbolisch. Schreiben Sie so, wie wir es vereinbart haben: Wenn schon Krieg, dann ohne Opfer.“ 7 Es geschah am zweiten oder dritten Tag nach der Hochzeitsfeier seines Schwiegervaters, an der Willi Gniffke teilgenommen hatte. Am Abend zuvor hatte er bei der zuständigen Stelle über das Gespräch mit Franz Wilamzek Meldung erstattet. Auch seinem Vorgesetzten hatte er davon berichtet. Dieser machte sich ein paar Notizen, sprach Gniffke seinen Dank aus und sagte, er sei ein wahrer Deutscher. Am nächsten Tag bestellte ihn sein Vorgesetzter zu sich. Willi dachte, es handle sich um die gleiche Angelegenheit, aber es ging um etwas anderes. Gniffke erhielt den Befehl, mit einem geschlossenen Lkw in die und die Straße zu fahren, dort eine Ladung zu übernehmen und sie in der Prinz-Albrecht-Straße abzuliefern. „Merken Sie sich, es handelt sich um einen höchst verant-
wortungsvollen Auftrag“, sagte sein Vorgesetzter. „Deshalb betraue ich gerade Sie damit. Ich denke dabei an unser gestriges Gespräch. Wir brauchen treu ergebene Männer.“ „Heil Hitler!“ antwortete Willi, machte eine zackige Kehrtwendung und verließ das Zimmer. Angesichts des verantwortungsvollen Auftrags stieg Willi Gniffke in der eigenen Hochachtung. Selbstbewußt ging der Untersturmführer an die Ausführung des Befehls. Gniffke übergab auf der Kleiderkammer, die er schon des öfteren aufgesucht hatte, den Bestellschein. Während zwei SS-Männer den recht umfangreichen Ballen zum Lkw schleppten, quittierte er den Empfang der Ladung. Der Lagerverwalter lachte. „Du bist wohl Lumpenhändler geworden? Wohin willst du mit den Klamotten?“ Gniffke warf einen Blick auf den Ballen. Die Zeltleinewand war an einer Stelle verrutscht, man sah einen abgetretenen Stiefelabsatz und den Schirm einer polnischen Soldatenmütze. „Das geht dich nichts an. Laß das Zeug besser verpacken!“ Der Ballen wurde aufgeladen, der Untersturmführer setzte sich neben den Fahrer und knallte die Tür zu. Eine schöne verantwortungsvolle Sache hatte man ihm da aufgetragen! Sein Vorgesetzter wollte sich wohl einen Jux mit ihm machen, ihn nach diesem Plunder zu schicken! Das hätte jeder einfache SS-Mann erledigen können und nicht ausgerechnet er, ein Untersturmführer. Auch ein Vertrauensbeweis, einen nach Lumpen zu schicken! Der Lkw jagte durch die Straßen der Stadt. Es war gegen Abend. Unter den Fußgängern auf den Bürgersteigen sah man
viele Soldaten, weit mehr als sonst. An einer Stelle mußte der Lkw halten und eine Marschkolonne vorbeilassen. Also kommt es doch zum Krieg, dachte Gniffke. Wie die Zeitungen schrieben, hatte Polen die Generalmobilmachung angeordnet. Gniffke ließ sich darüber aus. Der Fahrer entgegnete: „Was wollen die Polacken eigentlich? Die sollen man nur stille sein.“ Der Untersturmführer war derselben Meinung. Es hieß, die Polen hätten geprahlt, ihre Kavallerie wurde über kurz oder lang durch das Brandenburger Tor reiten. Das hatten die sich so gedacht! Eins zwischen die Zähne müßte man ihnen geben… Der Untersturmführer und der Fahrer wechselten ein paar Sätze und rieten herum, wann der Führer den Polen eine Lektion erteilen würde. Woher sollte Gniffke wissen, daß er, gerade er, in diesem Augenblick einen Auftrag erfüllte, der in unmittelbarer Beziehung zu dem bevorstehenden Krieg stand. Woher sollte er wissen, daß der Ballen schmutziger, durchschwitzter Kleidungsstücke, der den Spott des Kammerbullen hervorgerufen hatte, alle diese polnischen Soldatenmützen, alten Stiefel, Feldblusen und Koppel, die hinter ihm im Wagenkasten lagen, eine Art Zünder werden sollten, der die gewaltige Explosion des zweiten Weltkrieges auslösen würde… Der Lkw fuhr an der neuen Reichskanzlei vorbei, bog in die einsame, stille Prinz-Albrecht-Straße ein und hielt vor dem Haus Nummer acht. Das Tor wurde geöffnet, der Wagen fuhr auf den Hof. Ihm stürzte ein Mann in der Uniform eines Sturmbannführers der Waffen-SS entgegen. „Wo haben Sie so lange gesteckt, verdammt noch mal!“ fiel er über Gniffke her. „Wir haben uns schon tottelefoniert. Wo
sind die Sachen?“ „Im Wagen, Sturmbannführer.“ Gniffke war aus dem Fahrerhäuschen gesprungen und stand stramm. Der Sturmbannführer befahl ein paar SS-Leuten, den Ballen in ein anderes Auto umzuladen. Um Gniffke kümmerte er sich nicht mehr. Unter lauten Zurufen trieb er die Leute zu Eile an, als müßte ein Brand gelöscht werden. Als der Ballen umgeladen war, gab der Fahrer Gas, der Motor heulte auf, und der Wagen rollte zum Tor hinaus. Durch den Motorenlärm hindurch hörte Gniffke noch die Worte des Sturmbannführers: „Fahren Sie mit Höchstgeschwindigkeit! Wenn Sie an Ort und Stelle sind, melden Sie sich sofort telefonisch.“ Die Situation hatte sich geändert. Alleingeblieben, kaute Hitler nervös an seinen Fingernägeln. Jeden Abend machte ihm Eva deshalb Vorwürfe. Als spreche sie zu einem Kind, das sich eine Unsitte angewöhnt hat, sagte sie zu ihm: „Du hast doch heute schon wieder die Nägel geknabbert! Das ist eine üble Angewohnheit. Man darf nicht so nervös sein.“ Aber wie sollte er nicht nervös sein, wenn Mussolini sich wie ein Aal wand, Ausflüchte machte und nicht an den Apparat kam! Makkaronifresser! Anscheinend hatte er keine Lust, Krieg zu führen. Und auch sonst ging nicht alles so, wie er es sich gedacht hatte. Hitler rief bei Göring an. „Ich habe meinen Entschluß geändert. Morgen unterbleiben alle Aktionen.“ „Steht das fest, mein Führer?“ fragte Göring. „Ja, ja! Wir werden sehen, was später sein wird.“ Alles
brachte Hitler jetzt in Rage, sogar solche Fragen. „Lassen Sie keine Flugzeuge aufsteigen! Heben Sie den Befehl auf!“ Gleich danach beorderte er Keitel in die Reichskanzlei. „Der Angriffsbefehl ist aufgehoben. Halten Sie die Truppen an.“ „Aber…“ „Kein ,Aber’, hören Sie, Keitel?“ „Jawohl, mein Führer.“ Dies trug sich am 25. August abends zu, als die Truppen bereits den Befehl hatten, am frühen Morgen mit dem Angriff zu beginnen. Die Kriegsmaschine war in Gang gekommen – sie anzuhalten bedurfte großer Anstrengungen. Keitel selber setzte sich ans Feldtelefon, um die Truppenbewegung zu stoppen. Manche Einheiten erhielten den Befehl erst um drei Uhr morgens. Doch von dem gesamten, sechsundfünfzig Divisionen starken Heer überschritt lediglich ein vor der Vorhut losgelöster Spähtrupp die Grenze und verwickelte sich in ein Geplänkel mit den Polen. Der Krieg fand nicht statt. Auch der nächste Tag brachte nichts als Zweifel. Hitler hockte in seinem Arbeitszimmer. Was dachte Chamberlain? Ob er Polen ernsthaft verteidigen wollte? Warum hätte er sonst den Bündnisvertrag mit Polen unterzeichnet?… Und Mussolini feilschte. Etwas würde man ihm geben müssen… Hitler ließ sich mit Ciano verbinden. Aus Rom kam die Antwort, der Minister sei nicht da… Hol sie der Henker, er wird eben ohne die Italiener kämpfen. Wenn sie nur nicht ausposaunten, daß sie sich vorm Krieg drücken wollten. Er schrieb einen Brief an Mussolini. Höflich mußte er sein, beinahe bitten, obwohl es in ihm kochte. Oh, wenn er schreiben könnte, was er dachte!
Gegen Abend begann sich die Lage zu klären. Admiral Canaris überbrachte die Meldung eines zuverlässigen Geheimagenten aus Washington, der ein chiffriertes Telegramm aus London abgefangen hatte. Darin übermittelte der amerikanische Botschafter Kennedy nach Washington die persönliche Bitte Chamberlains, die Polen unter Druck zu setzen, damit sie mit Hitler Verhandlungen aufnähmen. „Das habe ich erwartet! Meine Eingebung hat mich nicht getäuscht! Genial!“ Hitler ging erregt auf und ab. Dem Zustand tiefer Niedergeschlagenheit war ein stürmischer Begeisterungsausbruch gefolgt. Er rieb sich die Finger, klatschte in die Hände, blieb stehen, stampfte mit dem Fuß auf. Canaris saß gelassen im Sessel und verfolgte Hitlers Bewegungen allein mit den Augen. Sein schmales, dunkles Gesicht drückte nichts als ehrerbietige Aufmerksamkeit aus. „Kann man sich auch wirklich darauf verlassen, Canaris? Kann man es glauben?“ Hitler blieb vor dem Chef des militärischen Geheimdienstes stehen. „Jawohl, mein Führer. Wir haben auch noch andere Informationen, die das indirekt bestätigen. Als in Polen die Mobilmachung angeordnet wurde, empfahlen der britische und der französische Botschafter in Warschau, von dieser Maßnahme nicht zu viel Aufhebens zu machen. Also…“ „Ausgezeichnet, Admiral! Nie, nie vergesse ich Ihnen diesen Dienst. Halten Sie mich stündlich auf dem laufenden.“ Ohne sich zu verabschieden, verließ Hitler das Zimmer. Canaris stand langsam auf und schritt mit lässigem, müdem Gang zur Tür. Am späten Abend überbrachte er eine neue Nachricht – in Rom war der Befehl zur Verdunklung der Stadt ausgegeben,
seit den Morgenstunden wurde mobilisiert. Diese Mitteilungen erfreuten Hitler und bestätigten seine Prognose, aber er brauchte weitere Bestätigungen. Eine Möglichkeit gab es noch, die Stimmung in London zu prüfen. In Berlin weilte seit Tagen der schwedische Industrielle Dahlerus, der der Familie von Görings erster Frau nahestand. Dahlerus verfügte über große Beziehungen zur Londoner Geschäftswelt. Um Mitternacht saß Dahlerus im Arbeitszimmer von Hitler. Hitler sprach lange, beklagte sich über die Engländer, drohte mit Krieg, forderte Verständnis. Zum Schluß fragte er: „Will sich denn das britische Kabinett mit mir wegen Danzig in einen Streit einlassen? Das wäre doch unsinnig… Herr Dahlerus, ich bitte Sie, fahren Sie nach London und überbringen Sie meine letzten Vorschläge. England möge mir helfen, Danzig zu bekommen, und soll sich nicht in den Konflikt mit Polen einmischen. Dafür verspreche ich, das britische Empire mit der deutschen Wehrmacht zu schützen. Sagen Sie Herrn Chamberlain, ich ziehe die Freundschaft vor… Seien Sie überzeugt, Ihre Mission wird in die Geschichte eingehen! Sie können mein Flugzeug benutzen.“ Am frühen Morgen flog Dahlerus vom Flugplatz Tempelhof ab. Zwei Stunden später landete er in London. Dem Sondergesandten Hitlers öffneten sich alle Türen, man hatte den Besuch erwartet. Am selben Abend kehrte er nach Berlin zurück. An den folgenden Tagen fanden in unaufhörlicher Folgebesprechungen mit Diplomaten und Generalen statt. Hitler wurde wieder zuversichtlich. Er hatte das schlaue Spiel von Chamberlain durchschaut. Das britische Kabinett gab Polen
auf. Man mußte es sich nehmen. Das englische Beistandsabkommen mit Polen sollte den Leuten nur Sand in die Augen streuen. Das war die wichtigste Erkenntnis, die er gewonnen hatte. Dahlerus reiste zwar noch immer zwischen Berlin und London hin und her, aber Hitler bedurfte seiner Dienste nicht mehr. Der 31. August 1939, ein Donnerstag, war angebrochen. Länger durfte er nicht warten – womöglich kamen die Polen doch noch mit Verhandlungen. Gegen Mittag befand sich Hitler allein in seinem Zimmer in der neuen Reichskanzlei. Er schlug den Notizblock auf dem Tisch auf und schrieb nieder: „Weisung Nr. 1 für die Kriegführung.“ An den Fingernägeln kauend, dachte er nach. Dann begann er hastig seine Gedanken niederzuschreiben. „Nachdem alle politischen Möglichkeiten erschöpft sind, um auf friedlichem Wege eine für Deutschland unerträgliche Lage an seiner Ostgrenze zu beseitigen, habe ich mich zur gewaltsamen Lösung entschlossen… Die deutsche Westgrenze ist zu Lande an keiner Stelle ohne meine ausdrückliche Genehmigung zu überschreiten. Zur See gilt das gleiche für alle kriegerischen oder als solche zu deutenden Handlungen.“ Den letzten Satz unterstrich er zweimal. Mit den Engländern würde er sich vorerst nicht überwerfen. Hitler schrieb den Befehl zu Ende und klappte den Block zu. Hierauf nahm er sich den Terminkalender vor, blätterte eine Seite um und umrandete das Datum – den 1. September 1939 – mit einer dicken Linie. Nun war es beschlossen! Er klopfte mit der Längsseite des Bleistiftes auf den Tisch. In der Stille des Zimmers klang das wie der erste Schuß. Hitler rief den Adjutanten, übergab ihm den Befehl und ord-
nete an, ihn mit dem Auslandsgeheimdienst zu verbinden. „Alles bleibt unverändert“, sagte er zu Schellenberg. „Der Befehl ist unterzeichnet. Sie können handeln. Sorgen Sie dafür, daß Fotografen zur Stelle sind.“ Ein paar Stunden später überfiel eine Gruppe Soldaten in polnischer Uniform den Rundfunksender Gleiwitz. Gleichzeitig sprengten unbekannte Diversanten eine Brücke in der Nähe von Dirschau. Im Morgengrauen des 1. September überschritten deutsche Truppen an der gesamten Front die polnische Grenze. Wie Hitler vermutet hatte, erfolgten am Freitag und Sonnabend seitens der Franzosen und Engländer keine entscheidenden Schritte zur Unterstützung Polens. Am Samstagabend versammelte sich im Salon des Reichskanzlers eine kleine Gesellschaft. Außer Eva Braun waren auch noch andere Damen erschienen. „Was habe ich Ihnen gesagt!“ Hitler triumphierte. „Lesen Sie ,Mein Kampf’! Meine Voraussagen treffen zu. Wir werden die Beherrscher der Welt. Ist es nicht so? Meinen Kalender werden wir als geschichtliche Denkwürdigkeit aufbewahren, ich habe darin das gestrige Datum angestrichen.“ Da fiel Hitler ein: Gestern war ja Freitag. Einen Augenblick lang trübte dieser Gedanke seine Stimmung. Doch er vertrieb die abergläubische Furcht – schließlich hatte er den Krieg an diesem Tag begonnen, weil die Vorsehung ihn dazu gezwungen hatte. Den ganzen Abend war er guter Stimmung: Die Nachrichten aus Polen konnten nicht besser sein. Am Sonntag allerdings war er nicht wenig überrascht, als Ribbentrop ihm telefonisch mitteilte, der britische Botschafter habe ein Ultimatum seiner
Regierung abgegeben. Wenn die deutsche Regierung bis elf Uhr die Feindseligkeiten nicht einstelle, würde sich Großbritannien als mit Deutschland im Kriegszustand befindlich betrachten. „Sie hätten den Botschafter nicht empfangen sollen!“ „Das konnte ich nicht tun, mein Führer.“ Mehrere Stunden später erschien der Franzose Coulondre mit einem ähnlichen Ultimatum. „Demnach haben sie sich doch entschlossen, gegen mich zu kämpfen“, sagte Hitler nachdenklich. „Hier stimmt was nicht. Wieviel Divisionen haben wir in Polen eingesetzt?“ wandte er sich an Keitel. „Sechsundfünfzig, mein Führer, einschließlich der neun Panzerdivisionen.“ „Und wieviel stehen im Westen?“ „An der Westgrenze haben wir noch rund zwanzig Divisionen, mein Führer.“ „Werfen Sie die Hälfte davon nach Polen.“ „Wie meinen Sie, mein Führer?“ Keitel sah Hitler erstaunt an. „Habe ich recht verstanden? Die Franzosen erklären uns auch den Krieg. Nach unserer Kenntnis können sie mindestens hundertzehn Divisionen an der Westgrenze aufmarschieren lassen. Unter diesen Bedingungen…“ „Sie haben richtig gehört. Ich wiederhole: Werfen Sie die Hälfte der im Westen stehenden Divisionen nach Osten. Ist das klar?“ Hitler verblüffte seine Gesprächspartner gern durch plötzliche kühne Entschlüsse, um sich dann an dem Eindruck zu weiden, den seine Worte hervorgerufen hatten. Selbstgefällig sah er Keitel an, verschränkte die Arme auf der
Brust und wiegte sich auf den Absätzen. „Sie sind ausschließlich Soldat, Herr Keitel, aber ich bin außerdem Politiker. Das ist der Unterschied zwischen uns. Sie vergessen Amerika. Dort gibt es Kreise, die uns unterstützen. Der Westen macht mir keine Sorgen. Den Krieg erklären heißt noch nicht ihn beginnen. Das britische und das französische Kabinett kommen mir vor wie zwei auf einem Beet nebeneinanderliegende überreife Kürbisse, die man nicht aufheben kann, weil sie auseinanderfallen. Sie haben nicht den geringsten Wunsch zu kämpfen. Deshalb können Sie an der Westgrenze ruhig Nachtwächter belassen, das genügt schon… Doch jetzt muß ich gehen, meine Berliner erwarten mich.“ An diesem Sonntag hatten sich vor der neuen Reichskanzlei viele Menschen angesammelt. Amtlich war von einem öffentlichen Auftreten Hitlers nichts bekannt geworden, aber viele wußten davon, und das Gerücht verbreitete sich schnell in der ganzen Stadt. Zum Platz vor dem Gebäude strömte eine bunte Menschenmenge. SS-Männer forderten zum Weitergehen auf. Die summende Menge wogte hin und her, alle wandten das Gesicht dem Balkon zu, auf dem Hitler erscheinen mußte. Erna Kreuz war rein zufällig hierhergeraten. In der derben, grünen Jacke mit den blauen Applikationen und in dem zerdrückten Hut wirkte sie alles andere als elegant. Den Hut hätte sie natürlich aufdämpfen und bügeln können, aber sie hatte jetzt andere Sorgen. Eigentlich war er noch fast neu, und er hätte sein Ansehen auch behalten, wenn er ihr damals bei der Gestapo, wo sie die ganze Nacht über auf einer Holz-
pritsche im Gang gesessen hatte und vor Müdigkeit eingeschlafen war, nicht heruntergefallen und zerdrückt worden wäre. Der Beamte hatte sich bei der Vernehmung höflich benommen. Er bekundete sogar Mitleid. Doch wollte er unbedingt wissen, wer an jenem Abend bei ihnen war. Was konnte Erna schon sagen? Sie wußte doch selber nichts, im Dämmerlicht hatte sie den Fremden nicht einmal genau sehen können. Erna antwortete immer wieder, wenn sie etwas wüßte, hätte sie keinen Grund, es zu verheimlichen. Der Beamte versprach ihr, dafür zu sorgen, daß Franz bald freigelassen werde, jedoch unter der Bedingung, daß Erna ihrerseits auch ihm entgegenkomme. Wenn sie etwas erfahre, solle sie sofort die Gestapo benachrichtigen. Er gab ihr die Telefonnummer. Selbstverständlich war Erna einverstanden, sie selbst hatte das größte Interesse an der Aufklärung der Angelegenheit, wo es doch um Franz ging. Sie wußte genau, daß er unschuldig war. Erna durfte nach Hause gehen. Sie dankte dem Beamten, faltete das Zettelchen mit der Telefonnummer zusammen und begab sich sofort in die Wohnung von Franz. Dort blieb sie auch – zu Hause hätten ihr die Eltern, namentlich der Vater, das Leben ja doch nur zur Hölle gemacht, sobald ihr Zustand sichtbar wurde. Überhaupt hatte alles eine Wendung genommen, wie sie schlimmer nicht hätte sein können… Erfüllt von ihren Sorgen, drängte sich Erna durch die Menge. Plötzlich erblickte sie in der Nähe einen Mann mit hoher Stirn und eckigem Kinn. Nur wenige Menschen trennten sie von ihm – ein älteres Paar, ein dicker Mann und ein Mädchen. Erna hatte ihn sofort erkannt – er sah sie auch, wandte
aber den Blick sofort wieder ab. Kein Zweifel, das war der Fremde, für den Franz leiden mußte! Erna stürzte schreiend nach vorn, aber in diesem Augenblick brüllte der ganze Platz auf, ein Ruck ging durch die Menge, und die junge Frau in der grünen Jacke wurde abgedrängt. Hitler war auf dem Balkon erschienen. Betäubt vom Geschrei der Menge, zwängte sich Erna verzweifelt dorthin durch, wo sie eben den hochgewachsenen Mann mit dem welligen Haar und dem hageren Gesicht gesehen hatte. Sein Gesicht leuchtete noch einmal auf, aber bereits viel weiter von ihr entfernt als vorhin. Dann verlor sie ihn vollends aus den Augen. Die Menschenwoge hatte die junge Frau wieder gefaßt, warf sie dem Balkon entgegen und kam dann zum Stehen. Hitler begann zu sprechen. Erna sah Hitler nun ganz aus der Nähe: Sie sah sein wutschnaubendes Gesicht, die in die Stirn fallende Haarsträhne, den kleinen Schnurrbart, den weit aufgerissenen Mund und die schroffen, fast krampfhaften Armbewegungen. Hitler stieß schreiend einige Worte hervor – sein ganzer Körper krümmte sich dabei –, aber was er gesagt hatte, begriff sie nicht. Sie drehte, auf den Zehenspitzen stehend, den Kopf nach allen Seiten und suchte sich mit den Ellbogen aus der Menge herauszuarbeiten. Erst als jemand sie drohend anzischte, er werde die Polizei rufen, hielt sie erschrocken inne. Mit seiner Raserei hatte Hitler die Menge elektrisiert, angesteckt. In seine Worte mischten sich bald leise, bald laute Schreie und begeistertes Geheul. Als Hitler seine Rede beendet hatte, streckte er den Arm vor und verließ den Balkon. Die Menge zerstreute sich. Erna suchte noch immer den Fremden mit der hohen Stirn, konnte ihn aber nirgends fin-
den… Gegen neun Uhr abends fuhr Hitler in einem Sonderzug vom Anhalter Bahnhof ab. Der Krieg währte nun den dritten Tag, und er wollte lieber dort sein, wo sich die entscheidenden Ereignisse abspielten. In der Hauptstadt hielt ihn nichts zurück: Die Franzosen und die Engländer konnten den Krieg ja nicht zweimal erklären.
ZWEITER TEIL
1 Andrej hatte sich von einem Munitionsauto zur Division mitnehmen lassen. In der Politabteilung traf er niemand an – alle waren bei den Einheiten. Er fragte nach Post, aber für ihn war nichts da. „Es wird schon noch was kommen, Genosse Politleiter“, tröstete ihn der Schreiber. Andrej beschloß, den Divisionskommandeur aufzusuchen – ohne besonderen Grund, nur weil sie sich lange nicht gesehen hatten. Es dunkelte schon, als er den Unterstand erreichte. Vor dem Eingang stapfte ein Posten frierend auf und ab. Zwischen hohen Fichten erhoben sich zottige schneebepuderte Tannen. Andrej stieg die glatten, vereisten Stufen hinab und öffnete die Brettertür, die von innen mit einer Zeltbahn verhängt war. Er hatte Mühe, sich in seinem Halbpelz durch die schmale Öffnung hindurchzuzwängen. An der Decke des Unterstandes brannte eine winzige elektrische Birne aus einem Autoscheinwerfer. Die Leitung führte von ihr längs der Wand zu einem pechschwarzen Kasten, dem Akkumulatorbehälter. Neben dem Kasten hockte ein Nachrichtenmann vor dem Feldfernsprecher. Auf der anderen Seite stand ein Ofen, gefertigt aus einer Eisentonne. Das Holz im Ofen brannte mit heller Flamme, und auf dem nach oben gekehrten rot glühenden Tonnenboden summte ein Teekessel. Wohlige Wärme umfing Andrej. Sein Stahlhelm, das Leibriemenschloß, die Karabinerhaken und das Fensterchen seiner Kartentasche überzogen sich augenblicklich mit einem matten Silberglanz aus Reif. In Socken und mit offenem Kragen, die Beine angezogen, hockte der Divisionskommandeur auf einem alten Holzstuhl,
der noch aus dem Winterquartier bei Leningrad stammte. Er spielte mit einem Major Schach. Der Divisionskommandeur war ein hagerer Mann mit scharf vorstehenden Backenknochen und schroffen Bewegungen. Im Stab des Militärkreiskommandos galt er als schrullig und streitlustig. Den Vorgesetzten gegenüber bewahrte er eine unabhängige Haltung. Möglich, daß ihn deshalb manche Leute nicht mochten. Man machte ihm den Vorwurf, er stehe mit seinen Soldaten auf zu vertrautem Fuß. Andrej teilte diese Meinung nicht. In der Division liebte man den Oberst wegen seines geraden, offenen Wesens. „Und ich mache diesen Zug. Gefällt er Ihnen?“ Der Divisionskommandeur wandte den Kopf, erkannte Andrej und sagte freundlich lächelnd: „Ah, auch du! Weißt du, der wievielte du heute bist? Der siebente. Vom Frontstab ist alles komplett da, die Korrespondenten sind auch eingetroffen. Das heißt, es wird was geben – ich hab dafür untrügliche Anzeichen. Man bereitet wohl eine Offensive vor, was?… Mach dir keine Illusionen, bei uns kannst du nirgends übernachten.“ „Ich werde nicht lange dableiben, Stepan Petrowitsch. Ich muß zum Regiment weiter.“ „So, so! Na, dann zieh dich erst mal aus, wir trinken Tee. Kalt draußen?“ „Ja, zweiundvierzig Grad. Übrigens, Ihre Anzeichen stimmen tatsächlich.“ „Was du nicht sagst! Ei, ei, ei! Und ich mache hier ein Spielchen.“ Der Divisionskommandeur tat naiv erstaunt. „Drushin“, wandte er sich an den Nachrichtenmann, „lauf mal schnell zum Stabschef, sag ihm, der Oberst läßt ihn rufen.
Aber fix!“ Der Nachrichtenmann stülpte sich die Fellmütze auf und ging. In dem über die Watteweste gezogenen Mantel sah er dick und plump aus. Der Divisionskommandeur blickte ihm nach. „Kalt ist’s. Sieh, wie er sich eingemummelt hat. Wie werden wir bloß morgen kämpfen? Zweiundvierzig sagst du? Dann geht’s in der Nacht bis auf fünfundvierzig runter. Was uns doch diese verdammte Landenge zu schaffen macht! Wie ist deine werte Meinung?“ „Es muß nun mal sein, Stepan Petrowitsch.“ Andrej schnallte den Leibriemen ab und zog den Pelz aus. „Hab ich etwa gesagt, daß es nicht sein muß? Ich weiß selbst, was los ist, immerhin wohne ich in Leningrad. Ein Katzensprung ist das von hier. Das heißt – wir leben dort direkt unter den Geschützmündungen.“ Der Major – er trug eine Fliegeruniform – brach die Partie ab. „Ich gebe auf, Stepan Petrowitsch! Es ist nichts mehr zu machen.“ Er legte seinen König um. „Eben, eben! Mit mir darfst du nicht spielen, wenn ich wütend bin.“ Der Divisionskommandeur schob die Figuren mit der Hand beiseite. „Das ist dir was andres als ein Blindflug im Nebel. Hier muß man überlegen… Hör mal, Woronzow“, wandte er sich an Andrej, „er ist hierhergekommen, um die Flugeinsätze zu koordinieren, dabei sagt er selber, die Flugzeuge könnten nicht fliegen, es sei keine Sicht. Wozu zum Teufel brauche ich einen solchen Koordinator? Das sag mir mal bitte.“ „Ja, die Wettervoraussagen sind nicht günstig. Aber der Gegner ist in der gleichen Lage, Genosse Oberst. Sie haben auch
kein Flugwetter.“ Der Divisionskommandeur wurde plötzlich wütend und zog die Brauen zusammen. „Danke für den Trost! Sie sind eben nicht in der gleichen Lage: Wer soll denn die Mannerheimlinie durchbrechen – ich oder die Finnen? Ich! Die sitzen in Gefechtsbunkern, und in was für welchen! Deutsche Spezialisten haben sie ihnen gebaut. Und meine Soldaten liegen demgegenüber in Löchern, in richtigen Löchern. Steckst du den Kopf weg, bleibt der Hintern draußen. Mach mir mal vor, wie du da kämpfst und durchbrichst. Und dazu noch die Hundekälte! Da vergleich uns lieber nicht mit dem Gegner, mein Bester… Und wieviel Flugzeuge haben sie? Hast doch selber gesagt, nicht mehr als hundertfünfzig. Und bei uns stehen Tausende rum. Für wen ist nun der Nebel von Vorteil? Na also!… Nehmt euch bitte selber Tee.“ „Das stimmt schon alles, Genosse Oberst, aber doch nicht ganz.“ Der Major packte die Schachfiguren ein. „In bezug auf die finnischen Luftstreitkräfte irren Sie sich. Daß sie nur über hundertfünfzig, höchstens zweihundert Kampfmaschinen verfügen, die zudem nicht mal ihre eigenen sind, ist richtig – sie haben französische und englische Flugzeuge, dieser Tage wurde gerade in Ihrem Abschnitt, bei Boboschino, auch eine italienische Maschine abgeschossen –, vergessen Sie aber nicht, die Finnen haben in der letzten Zeit über vierzig Flugplätze gebaut. Vierzig Flugplätze! Wozu, fragt man sich? Wenn sie keine eigenen Luftstreitkräfte besitzen, dann heißt das, daß sie sie für andere vorbereiten, sie ihnen verpachten wollen. Den Franzosen und Engländern, vielleicht auch den Deutschen.“
„Willst du mir etwa politischen Unterricht erteilen, Major?“ unterbrach ihn der Divisionskommandeur. „Das weiß ich besser als du. Ich weiß sogar noch, daß die Amerikaner Mannerheim eine Anleihe gegeben haben, was heißen soll: Kämpft gegen die Russen, wir unterstützen euch. Zweieinhalb Milliarden Finnmark! Das ist kein Pappenstiel, das ist das halbe finnische Jahresbudget… Diese Anleihen kosten meine Leute das Leben. Frag den da“ – der Divisionskommandeur wies mit dem Finger auf Andrej –, „er war Pionier, er weiß Bescheid. Sag, Woronzow, wieviel Minen hast du im Vorfeld herausgeholt?“ „Es hat gelangt. Siebzig Prozent davon waren englische.“ „Siehst du! Die führen sie für amerikanische Dollars ein. Und Panzer und Geschütze… Und du willst es besser wissen.“ „Aber ich spreche ja gerade davon.“ „Und ich nicht. Wer weiß denn nicht, daß die Finnen in diesen Krieg hineingehetzt wurden. Das wissen alle. Und daß die Sicherheit Leningrads gewährleistet sein muß, ist auch allen klar, klarer als Ihnen. Ich, mein Bester, war im Bürgerkrieg Kavallerist bei Semjon Michailowitsch Budjonny. Wenn ich damals auch kaum lesen und schreiben konnte, wußte ich doch sehr gut, was die Entente war. Sie haben das in den Politzirkeln gelernt, aber ich hab die Intervention der vierzehn Staaten am eigenen Leib zu spüren bekommen. Gekämpft muß werden, wenn es auch schwer ist. Nicht mir, den Soldaten. Wir sitzen hier im Unterstand und trinken Tee, aber die Infanterie muß den Schnee mit ihrem Bauch auftauen. Wir sind hier schon warm geworden, da, seht ihr, wächst bereits Gras durch.“ Der Divisionskommandeur wies auf ein blaßgrünes Hälmchen, das durch die Bretterverschalung hin-
durchgewachsen war. „Zwei Monate hocken wir schon auf demselben Fleck. Wir sollen eine befestigte Linie durchbrechen, jawohl! Bald ist’s Frühling – was werden wir da machen? In den Seen baden? Und der erzählt mir, es sei kein Flugwetter.“ „Jetzt brauchen wir nicht mehr lange zu warten“, lenkte Andrej ein. Er goß sich Tee in einen Becher und schlürfte genießerisch das heiße Getränk. „Morgen geht’s los. Wann haben Sie den Befehl bekommen, Stepan Petrowitsch?“ „Rechtzeitig. Ich hab gestern davon im Kriegsrat gehört. Heute ist er eingegangen.“ Der Divisionskommandeur beruhigte sich wieder. Vor anderthalb Monaten hatte Andrej die Division verlassen, gleich nach der Einnahme von Boboschino, als sie vor der Mannerheimlinie steckenblieben. Er war damals Kommissar in einem Pionierbataillon. Kaum hatte er sich dort eingelebt und heimisch gefühlt, wurde er als Instrukteur in die Politabteilung des Armeekorps versetzt. Dennoch sah Woronzow die Division wie ehedem als die seine an, und in der Division galt er als einer der Ihren. Es dauerte nicht lange, da erschien im Unterstand der Stabschef. Andrej trank seinen Tee aus. Ihm war inzwischen warm geworden, und er wollte aufbrechen. „Du gehst also ins Regiment, zu Mogutny?“ fragte der Divisionskommandeur. „Ja, ich werde im dritten Bataillon übernachten.“ „Ich weiß, ich weiß, du hast dort einen Freund. Bist du morgen auf dem Regimentskommandopunkt? Da werden wir uns sehen. Oh, wie es da mal wieder von Vertretern aller möglichen Stäbe wimmeln wird! Sei so gut und sag mir: Habt ihr
denn gar nichts zu tun?“ „Wie meinen Sie das?“ „Na so. Du kommst vom Korps, nicht wahr? Eins.“ Der Divisionskommandeur begann an den Fingern abzuzählen. „Nicht nur ich, in alle Regimenter sind welche geschickt worden.“ „Um so schlimmer. Aus der Politabteilung der Armee hat man zwei geschickt. Vom Stab des Militärkreises einen. Macht drei… Du wirst ja sehen, was sich morgen bei mir auf dem Divisionskommandopunkt tun wird – soll man kämpfen oder Vertreter empfangen? Ich weiß schon im voraus, was sie sagen werden: Bei dir wird der Hauptstoß geführt, also muß man dafür sorgen, daß politisch alles klappt. Heißt das sorgen, auf dem Kommandopunkt herumsitzen und Material für Meldungen sammeln? Die können sie alle großartig schreiben, besonders wenn gesiegt wird. Nein, wenn du schon Politarbeiter bist, dann geh gefälligst zu den Soldaten. Lebe bei ihnen, sei ihnen nah und setze ihnen auseinander, wofür sie ihr Blut vergießen, wofür sie vielleicht auch ihr Leben lassen… Hab ich nicht recht? Antworte in aller Offenheit, nicht wie für eine Meldung!“ „Nun, nicht alle sind so, nicht alle sitzen die Zeit auf dem Kommandopunkt ab.“ „Du sollst das nicht auf dich beziehen, Woronzow. Ich spreche auch nicht von meinen Politleitern. Die kriechen bei uns mitunter sogar dorthin, wo sie nichts zu suchen haben. Sie sind bei den Kompanien. Aber eure Vertreter, die kommen mir vor wie die gemieteten Hochzeitsgenerale von anno dazumal. Sie sitzen ihre Zeit ab und heidi!“ Andrej hatte bereits den Halbpelz an und zog den Riemen
straff. Er wollte keinen Streit. „Wer Sie nicht kennt“, sagte er, „könnte meinen, Sie hätten unsereins gefressen… Nun, ich gehe. Besten Dank für den Tee!“ „Red kein dummes Zeug!“ Der Divisionskommandeur wurde wieder wütend. „Ich bin selber Kommunist. Aber im Krieg hat man nicht herumzusitzen! Nimm den Melder mit, bei uns geht man nicht allein.“ „Nicht nötig, ich kenne den Weg, ich finde schon hin.“ „Keine Widerrede! Befehl ist Befehl. Beim Figurnaja-Wäldchen kühlen sich Scharfschützen ihr Mütchen. Abends ist es zwar nicht so gefährlich, aber trotzdem.“ Der Melder war zufällig aus dem Bataillon, in dem Andrej übernachten wollte. Er schritt rasch aus, Andrej konnte ihm kaum folgen. Vorn, auf finnischer Seite, stiegen Leuchtkugeln auf und sanken langsam nieder. „Da, sie haben Laternen aufgehängt. Es scheint ihnen nicht ganz geheuer zu sein, den Finnen“, sagte der Melder, der bislang geschwiegen hatte. Im mondfahlen Licht der Leuchtkugeln sah man eine stellenweise mit Buschwerk bestandene trostlose Niederung. Als am Himmel gleichzeitig zwei Leuchtkugeln aufflammten, verhielt der Melder den Schritt und ging neben Andrej weiter. „Vielleicht warten wir ein bißchen, Genosse Kommandeur? Am Tag schießen hier Scharfschützen aus dem Sumpf.“ Der Soldat sah Andrej prüfend an – er wollte feststellen, ob sein Begleiter Angst hatte. Andrej verstand. „Und was meinst du?“ fragte er. „Ach, unsereins ist’s gewohnt!“
„Dann laß uns weitergehen, wir sind ja gleich da.“ Der Soldat rückte das Gewehr auf der Schulter zurecht und ging wieder vornweg. Nach einiger Zeit fragte er: „Sie waren also schon mal bei uns, Genosse Kommandeur? Wer hier neu ist, dem ist nämlich immer ein bißchen bange…“ „Ja, ich war schon hier. Wohnt der Bataillonskommandeur noch am alten Platz?“ „Ja. Wir wohnen alle in Unterständen. Da kann man sich doch wenigstens wo aufwärmen.“ Der Melder sprach mit Andrej bereits in vertraulichem Ton; mit dem Instinkt des Soldaten hatte er herausgespürt, daß neben ihm ein Mann mit Fronterfahrung ging. „Wenn man sich’s so besieht, Genosse Kommandeur, ist das hier doch ‘ne ulkige Gegend. Eine Kälte zum Gotterbarmen, dabei frieren die fauligen Sümpfe nicht zu… Unsre Aufklärer werden immer pitschnaß. Bis sie zurückkommen, sind die Sachen an ihnen steifgefroren wie ein Panzer.“ Sie passierten eine Panzersperre aus Pfosten, deren spitze Zähne einen halben Meter aus dem Schnee ragten, und stiegen in einen Graben. Hinter einer Biegung wären sie im Dunkeln beinahe mit zwei Soldaten zusammengeprallt. Der eine fluchte. „Was bellst du?“ sagte der Melder beleidigt. „Rennst selber drauflos wie ‘n Verrückter! Wer seid ihr?“ Eine neue Leuchtkugel flammte auf. „Ach, du bist’s, Tichon Wassilitsch?“ „Wer sonst! Wen hast du bei dir?“ „Ich begleite einen Politleiter, er geht zu unserm Bataillonskommandeur.“
Die Soldaten nahmen Haltung an. Der eine, der geflucht hatte, musterte Andrej scharf. „Ach, das ist ja der Genosse Kommissar! Verzeihung, es ist mir so rausgerutscht… Im Dunkeln sieht man ja nicht… Da wird sich unser Hauptmann aber freuen. Sie waren schon lange nicht mehr bei uns!“ Der Soldat druckste verlegen. Andrej hatte in ihm Tichon Wassiljewitsch, Nikolais Ordonnanz, erkannt. „Bitte, hier lang!“ sagte er zu Andrej. „Stolpern Sie nicht.“ Sie stiegen die in die Grabenböschung gehauenen Stufen hoch. Vor ihnen schimmerte im Schein einer Leuchtkugel Jungwald. „Du kannst gehn, wir begleiten den Genossen Kommissar selber.“ Der Melder blieb unschlüssig stehen. „Geh nur ruhig! Tichon Wassiljewitsch wird mich schon ordnungsgemäß abliefern.“ Hauptmann Sanin saß in einem Mannschaftsunterstand beim Feuer und wärmte die steifen Finger. Der Unterstand war groß und rund. Auf die vier Lagen dicker Kiefernstämme, mit denen er abgedeckt war, hatten die Finnen noch Steinbrocken gewälzt. Der Bataillonskommandeur war eben aus den Schützengräben gekommen, wo er die Posten kontrolliert und alle entbehrlichen Leute in die Unterstände geschickt hatte. Die Männer sollten sich vor dem Kampf ausruhen. Sie lagen nebeneinander auf Zeltbahnen, die über Tannenzweige gebreitet waren. Tichon Wassiljewitsch ließ Andrej vorangehen. „Besuch für Sie, Genosse Hauptmann. Ich habe einen Gast mitgebracht“, meldete er.
Nikolai schirmte mit der Hand den Feuerschein ab, erkannte Andrej aber erst, als dieser dicht vor ihm stand. „Andrej! Junge, wie kommst du denn hierher?“ Sanin war aufgesprungen und schloß den Freund in die Arme. „Bleibst du lange?“ „Eine ganze Nacht. Man hat mich zu euch ins Regiment geschickt. Morgen früh muß ich auf dem Kommandopunkt sein.“ „Prima! Morgen wird’s einen heißen Tag geben.“ „Genosse Hauptmann“, warf Tichon Wassiljewitsch ein, „gehen Sie in Ihren Unterstand? Ich bringe Ihnen Tee hin.“ „Tee ist mir zu schwach. Ist nichts Stärkeres da?“ „Warum nicht! Wir haben doch die Woroschilow-Ration. Der Hauptfeldwebel hat sie gebracht, als Sie nicht da waren. Kliment Jefremytsch vergißt uns nicht.“ „Dann los. Außerdem werden wir die Genossen Soldaten nicht stören.“ Nikolai nickte den Männern zu, die am Feuer saßen und schrieben. „Ich gehe nur noch mal flink durch die Unterstände. Du kannst dich inzwischen aufwärmen, Andrej. Tichon Wassiljewitsch wird dich begleiten.“ „Genosse Hauptmann, Sie können auch gleich mitkommen. Ich habe Ihnen noch nicht gemeldet – unser Politleiter hat gesagt, Sie sollen sich nach der Postenkontrolle ausruhen. Er geht selber die Unterstände ab.“ „Na schön, wenn es so ist! Komm, altes Haus! Habe richtig Sehnsucht nach dir gehabt. Es stimmt schon, daß man seine Freunde entweder in der Kindheit oder im Krieg findet.“ Von neuem preßte er Andrej die Schultern. „Laß los, du Bär! Eigentlich solltest du nichts anderes tun als Kanonen schieben. Wählst dir immer den falschen Beruf –
mal Architekt, mal Infanterist.“ Nikolai lachte schallend auf. Sein Lachen klang übermütig und ansteckend fröhlich. „Na, was ist, hast du endlich Post bekommen? Was schreibt deine Sina?“ Die Freunde betraten den Unterstand. Andrejs Miene hatte sich verdüstert. „Nein, ich habe noch immer nichts. Nun ist es schon einen Monat her. Dabei habe ich ihr meine neue Adresse geschickt.“ Nikolai war ernst geworden. „Entschuldige, Andrej, ich bin ein richtiger Tolpatsch, so blöd zu fragen. Aber ich verstehe deine Sinaida nicht. Was denkt sie sich eigentlich?“ „Offen gesagt, deswegen bin ich auch zu dir gekommen. Zuerst wollte ich über Nacht im Stab bleiben. Aber ich bin so unruhig. Ich wollte mich wenigstens mit jemand aussprechen.“ „Vielen Dank für das Vertrauen! Leg ab. Wir haben eine lange Nacht vor uns.“ Obwohl der Unterstand kaum als gemütlich bezeichnet werden konnte, fühlte sich Andrej von Wärme und Behaglichkeit umgeben. Ihn umgab die freundschaftliche Fürsorge, nach der er sich in der letzten Zeit ganz besonders gesehnt hatte. Seitdem Andrej beim Korps war und die Möglichkeit hatte, nachts zu schlafen, wachte er jeden Morgen mit der quälenden Frage auf: Ob heute ein Brief kommt? Den letzten Brief von Sina hatte er kurz nach Neujahr erhalten. Auch damals hatte sie fast einen Monat geschwiegen.
Der Brief war kurz und erweckte den Eindruck, als habe ihn Sina in großer Verwirrung geschrieben. Im übrigen enthielt er nichts Bemerkenswertes: ihre Entschuldigung, daß sie ihm zu Neujahr kein Telegramm geschickt habe, weil sie sehr beschäftigt gewesen sei, und ein paar Neuigkeiten. Am Schluß waren zwei Zeilen ausgestrichen. Dann folgte der Satz: „Ich liebe Dich, was immer mit mir sei.“ Damit brach der Brief ab. Natürlich erregten die beiden sorgsam durchgestrichenen Zeilen Andrejs besonderes Interesse. Was hatte Sina ihm mitteilen wollen und es dann doch nicht gewagt? Er versuchte das Durchgestrichene zu lesen, hielt den Brief gegen das Licht, konnte aber nichts entziffern. Doch der letzte Satz hatte sich in seinem Kopf festgesetzt. „Ich liebe Dich, was immer mit mir sei.“ Was sollte denn mit ihr sein? Worauf spielte sie an? Nikolai riß ihn aus seinen Gedanken. „Laß das Grübeln, sag ich! Trinken wir!“ Die Freunde stießen an. „Worauf?“ „Auf die Freundschaft, Andrej.“ „Gut. Und auf die Treue derer, die uns lieben.“ „Gut.“ Beide leerten die Becher. Sanin schüttelte den Kopf, prustete, verzog komisch das Gesicht und schob sich ein Stück Speck in den Mund. „Möchte wissen, wie die Leute das Zeug bloß trinken!“ Andrej seinerseits hatte keine Miene verzogen. Er griff nach seinem Messer am Gürtel, belegte sich Brot mit Konservenfleisch und begann langsam zu essen.
„Weißt du noch, Nikolai, wie wir uns kennengelernt haben? Es fing mit dem gleichen Satz an. Weißt du noch?“ „Na klar, du hast mich im Dunkeln mit Wodka bewirtet, dann sind wir ins Gespräch gekommen. Als ich morgens aufwachte, suchte ich den Mann, dem ich in der Nacht mein Herz ausgeschüttet hatte. Ich konnte ihn unter den zwanzig Mann im Unterstand nicht herausfinden. Dann sah ich, daß ein Politleiter sich auch nach allen Seiten umguckte. Na, dachte ich bei mir, der ist’s!“ „Ja, der Ofen war ausgegangen, alles ringsum schlief, und wir unterhielten uns im Dunkeln. Ich hab dich am Morgen an der Stimme wiedererkannt. Wir haben uns damals gut unterhalten.“ In jener Nacht am ersten Kriegstag hatte ihre Freundschaft begonnen. Beide hatten sich dem Stab des Leningrader Militärkreises zur Verfügung zu stellen, aber dessen Standort befand sich bereits außerhalb der Stadt, irgendwo hinter Tschornaja Retschka. Jeder gelangte dorthin, so gut es ging: mit der Straßenbahn, dem Autobus oder per Anhalter. An Ort und Stelle faßte man dann alle Nachzügler zusammen, nannte sie Reserve und schickte sie zum Übernachten in einen Unterstand. Bei ihrem nächtlichen Gespräch kam heraus, daß beide in demselben Jahr die Hochschule absolviert hatten – Nikolai das Bautechnikum, Andrej das Maschinenbauinstitut, Bald danach waren sie im Rahmen des Parteiaufgebots zur Armee gekommen – Andrej aus Sibirien, wo er bereits arbeitete, und Nikolai aus Moskau. Ihm war gerade angeboten worden, in die Aspirantur einzutreten. Das hatte sich nun zerschlagen. Wie Nikolai erzählte, war er seit vorigem Jahr verheiratet. Er
hatte ein Töchterchen – Marinka. Wera, seine Frau, sei nicht nur ein prachtvoller Mensch, wie er sagte, sondern auch bildhübsch. Schade, daß es dunkel sei, sonst hätte er Andrej ihr Bild gezeigt. Sie liebe ihn und schreibe ihm fast täglich. Daß sie getrennt leben müßten, falle beiden schwer. Andrej sah später Weras Bild. Ihm erschien sie nicht so hübsch. Sina war viel hübscher. Natürlich sagte er Nikolai nichts davon – es hätte ihn bestimmt gekränkt. Sollte sie ruhig für ihn schön sein – wen störte es! In jener Nacht war Andrej zuerst nicht aus sich herausgegangen, aber es bereitete ihm Vergnügen, dem unbekannten Gesprächspartner im Dunkeln zuzuhören. Ihm gefiel es, wie aufgeschlossen dieser war und mit wieviel Liebe er von seiner Frau und seinem Töchterchen sprach. Dann begann auch er zu reden. Möglicherweise hatte ihm der Wodka die Zunge gelöst. Er erzählte, daß er eine Frau liebe, aber noch nicht verheiratet sei. Das heißt offiziell nicht. Er sei sich mit Sina über alles einig. Das Standesamt sei nur noch eine Formalität. Sina habe im Frühjahr ihr Medizinstudium beendet, arbeite aber noch nicht in ihrem Beruf. Wenn kein Krieg wäre, hätte er jetzt gerade Urlaub. Sie hatten ihn zusammen verleben wollen. Dann hätte er auch Wowka adoptiert. Sina hatte nämlich einen Sohn… Daß Sina selten und unregelmäßig schrieb, hatte Andrej damals verschwiegen. Er beneidete beinah seinen neuen Freund. Bei dem war alles glatt und unkompliziert. Es widerstrebte ihm, seinen Kummer zu beichten: Wozu das Innerste nach außen kehren? Von den Sorgen des Freundes erfuhr Nikolai erst später, als beide derselben Division zugeteilt wurden. Sie trafen sich oft
– die Pioniere gehörten zu dem Regiment, in dem Nikolai Bataillonskommandeur war. Sie krochen in den Nächten nebeneinander im Vorfeld umher, erkundeten die feindlichen Befestigungen, sprengten Sperren und schufen Durchgänge. Frühmorgens kehrten sie müde Zurück, und Andrej blieb häufig in der Stellung des Bataillons. Den Kommissar kannten hier alle. Seitdem Andrej in der Politabteilung des Korps arbeitete, war er noch nicht bei Sanin gewesen. Immer fügte es sich so, daß er andere Einheiten aufsuchen mußte. Erst die bevorstehende Offensive hatte die Freunde auf ein paar Stunden zusammengeführt. Als sie ihre Becher zweimal gefüllt hatten, war die Feldflasche leer. Nikolai drückte sie mit seinen Pranken, als könne er noch ein paar Tropfen aus ihr herauspressen. Er erbot sich, eine zweite zu holen – Tichon Wassiljewitsch habe etliche in Reserve. Aber Andrej lehnte ab – morgen sei ein schwerer Tag. Nur einmal, und auch da nur flüchtig, kamen sie während ihres Beisammenseins auf den bevorstehenden Kampf zu sprechen. Wie auf Verabredung vermieden es beide, ihn zu erwähnen. Im Krieg war nichts unmöglich. Man dachte am besten nicht daran… Und doch kam man davon nicht los. Der bevorstehende Kampf gab dem Gespräch gewissermaßen die Prägung, schuf eine besondere Atmosphäre, stärkte das Gefühl der Verbundenheit. „Weißt du, Andrej“, begann Sanin und nahm schnell die Flasche vom Tisch: Ihm war, als käme jemand in den Unterstand. „Der Mensch hat eine komische Natur. Wir beide sind doch wohl Freunde, wie’s keine besseren gibt. Als Freund
müßte ich mich aber hinsetzen und an deine Sinaida schreiben: So und so, meine Liebe, du machst hier einem von uns das Kämpfen schwer.“ „Das hätte noch gefehlt!“ „Nein, wirklich, hör zu. Wir können offen miteinander sprechen, wir wissen, was der Krieg bedeutet, was für Kräfteanspannung er vom Menschen verlangt. Wenn zu dieser Anspannung noch etwas hinzukommt, was überflüssig, sinnlos ist, sagen wir mal, Gefühle, wie du sie durchmachst…“ Andrej unterbrach ihn. „Deiner Meinung nach darf ich wohl keine Gefühle haben? Wenn man Politarbeiter ist, hat man wohl kein Recht, eifersüchtig zu sein, zu leiden und an etwas anderes zu denken als an Sperren und den moralisch-politischen Zustand der dir anvertrauten Einheit! Ich rede absichtlich so in der trockenen militärisch-bürokratischen Sprache, aber unser Herz ist doch anders.“ „Darüber wollte ich gerade mit dir sprechen. Bei uns heißt es: Alles für die Front. Richtig. Und was heißt ,alles’? Munition, Verpflegung, hundert Gramm Wodka täglich, Zusatzration für die Offiziere? Ist denn das alles? Die innere Ruhe des Soldaten streichen wir wohl von der Rechnung? Sollte das deine Sina nicht begreifen?“ „Vielleicht hast du recht. Ich denke an was anderes. Ach, nein… Weißt du, Nikolai“, Andrej faßte den Freund am Ellbogen, „manchmal denke ich, wenn ich verwundet wäre und Sina würde davon erfahren, dann würde sie vielleicht öfter schreiben. Im übrigen…“ „Ach, du Dummkopf! Das sind mir ja die richtigen Gedanken, mit denen du in den Kampf gehst! So langsam gerate ich
in Wut und werde deiner Sina wirklich einen Brief hinfeuern… Sag mal, liebst du sie sehr?“ „Das weiß ich ja selber nicht… Eins habe ich dir bisher nicht erzählt. Jetzt werd ich’s dir sagen… Du weißt doch, ich bin neunzehnhundertsechsunddreißig vom Institut abgegangen, machte dann mein Diplom und fuhr nach dem Süden. Anderthalb Monate war ich auf der Krim. Dort hab ich ein Mädchen kennengelernt. Sie hieß Inge. Sie war hübsch und hatte etwas ganz Besonderes an sich. Eigenartig war allein schon das Gesicht mit dem leicht spöttischen Mund und den großen, schwermütigen Augen – ich weiß nicht, ob sie einen Kummer hatte. Sie war die Tochter eines Schutzbündlers, der aus Österreich emigrieren mußte. Das Rote-Hilfe-Sanatorium lag neben dem unseren, dort lernten wir uns auch kennen. Inge war in die Sowjetunion geradezu verliebt. Vielleicht hatte sie auch mich deswegen ins Herz geschlossen.“ „Halt mal. Wozu erzählst du mir das? Ich verstehe nicht, was das soll.“ „Warte. Ich komme gerade darauf zu sprechen. Drei Wochen waren wir zusammen. Ich fuhr dann zur Arbeit ins Uralmasch – ich wurde telegrafisch abberufen –, und sie reiste zu ihrem Vater, wenn ich nicht irre, in die Schweiz, Das ist alles. Manchmal kommt es mir vor, als sei Sina ihr ähnlich. Vielleicht liebe ich sie deswegen. Siehst du, was ich für einen Unsinn rede… Ja, ich liebe Sina. Aber Inge hätte sich anders verhalten. Sie sind verschieden. Sina weiß heute nicht, was sie morgen tut… Bitte, Nikolai, lies mir doch einen Brief von Wera vor.“ „Wie du willst! Vielleicht den letzten, ich hab ihn vorgestern bekommen.“ Nikolai griff nach der Kartentasche, löste den
Riemen und zog einen Stoß Briefe hervor. „Wenn es dich interessiert…“ Sanin begann zu lesen. Sein Gesicht hellte sich auf, wurde gutmütig und weich. Der Brief war voll lieber Nichtigkeiten, ein echter Frauenbrief. Wera schrieb, daß Marinka die ersten Zähnchen bekomme, alles in den Mund stecke, was sie grapschen könne, daß sie, Wera, Sehnsucht nach ihm habe und Tichon Wassiljewitsch, seinen „Leibwächter“, herzlich grüßen lasse. Andrej hörte nachdenklich zu, und wieder überkam ihn tiefe Niedergeschlagenheit. „Nun, wie ist’s“, fragte Nikolai, „bist du zufriedengestellt?“ „Ja. Ich habe eben überlegt, Nikolai, warum du immer so lustig bist. Jetzt weiß ich es. Wenn man solche Briefe bekommt, kann man leichter kämpfen.“ Die beiden brachen das Gespräch ab: In den Unterstand war der Politleiter Silkin gekommen. „Na, wie’s scheint, ist alles in Ordnung“, sagte er mit heiserer Stimme. „Jetzt muß man noch auf die Spähtrupps warten.“ Nikolai sah auf die Uhr. „Ja, eigentlich müßten sie schon dasein. Vielleicht sollten wir in die erste Kompanie gehen?“ „Ich habe bereits dort angerufen – sie sind noch nicht zurück. Gehen wir aber trotzdem hin, da können wir unterwegs die Posten noch mal kontrollieren. Ich bleibe morgen bei der ersten Kompanie.“ Der Bataillonskommandeur warf den Halbpelz mit dem grünen Zeltbahnschutz über, hängte sich die an einer Schnur baumelnden Fäustlinge um den Hals und steckte die Pistole zu sich.
„Wir gehen, Andrej. Leg dich inzwischen hin!“ Woronzow wollte schon den Rat Nikolais befolgen, besann sich aber eines andern. Er wollte nicht mit seinen Gedanken allein bleiben. „Ich gehe mit euch.“ Sie kehrten nach Mitternacht zurück und legten sich sofort nieder. Als Andrej am Morgen aufwachte, sah er weder Nikolai noch Silkin. Geweckt hatte ihn Tichon Wassiljewitsch, der mit dem Teekessel an den eisernen Ofen gestoßen war. „Ach, du Tolpatsch!“ schimpfte Tichon Wassiljewitsch leise auf sich, fügte dann aber, als er merkte, daß Woronzow aufgewacht war, laut hinzu: „Nikolai Gawrilowitsch läßt Ihnen sagen, daß sie zu den Kompanien gegangen sind, Sie möchten nicht warten. Ich bringe Sie zum Kommandopunkt. Wenn ich hier fertig bin, muß ich auch hin. Stehen Sie auf, Sie können frühstücken.“ Andrej blickte erschrocken auf die Uhr. Es war kurz nach acht. „Verdammt, jetzt hab ich’s verschlafen! Nein, gefrühstückt wird nicht, wir gehen gleich. Ich wasche mich nur schnell.“ „Soll ich Schnee oder Wasser bringen?“ „Schnee… Laß, ich mache das selbst.“ Andrej lief aus dem Unterstand. Beißende Kälte umfing ihn. Ein grauer, nebliger Tag war angebrochen. Erfrischt und naß kam er in den warmen Unterstand zurück. Tichon Wassiljewitsch erwartete ihn mit dem Handtuch. Sie machten sich fertig und brachen zum Regimentskommandopunkt auf. Im weißlichen Dunst sah man nur ein paar Meter weit. Hinter
ihnen her eilten zwei im Nebel verschwimmende Gestalten. Sonst war alles still. Plötzlich zerriß ein einzelner Schuß aus einem schweren Geschütz die diesige Stille. Das Geschoß knirschte in der Luft und explodierte weit vorn. Gleich danach brauste es wie ein Orkan über den Köpfen hin. Die Luft erfüllte das Krachen von Detonationen, der Lärm von Geschützfeuer und das Pfeifen und Heulen fliegender Geschosse. Dabei war ringsum nach wie vor nichts zu sehen. Nur rechter Hand, wo die Batterie stehen mußte, sah man von Zeit zu Zeit im Nebel eine trübe Flamme aufzucken, und jedesmal verspürte Andrej mit dem ganzen Körper einen leichten Stoß. Es war acht Uhr fünfundvierzig. Der Angriff hatte pünktlich begonnen, man konnte die Uhr danach stellen. Andrej war über sich ärgerlich, daß er es verpaßt hatte, vor Beginn der Artillerievorbereitung auf dem Kommandopunkt zu sein. Er schritt rascher aus. Bis zum Kommandopunkt waren es nur einige hundert Meter. Wie sehr er sich aber beeilte, die Männer hinter ihm holten ihn dennoch ein. Andrej hörte eine ängstliche Stimme sagen: „Kennst du den Weg auch gut? Sonst bringst du uns noch zu den Finnen.“ Eine zweite Stimme antwortete: „Da können Sie ganz ruhig sein, ich führe Sie schon richtig. Wir kennen hier jeden Fußbreit.“ Andrej drehte sich um. Beinah im Laufschritt näherte sich ihm ein Mann, so tief gebückt, daß sich sein Oberkörper parallel zur Erde fortbewegte. Mit den Händen berührte er fast die ausgefahrene Radspur. Ihm folgte keuchend ein Soldat mit umgehängtem Gewehr. Woronzow erkannte in ihm den
Melder von gestern. Der Soldat erkannte seinerseits Andrej. „Schönen guten Tag, Genosse Politleiter!“ begrüßte er Woronzow herzlich und gar nicht soldatisch. „Wollen Sie auch zum Kommandopunkt?“ „Wohin willst denn du?“ antwortete Andrej, nachdem er ihn begrüßt hatte, mit einer Gegenfrage. „Ich soll ihn zu Genossen Mogutny bringen.“ Der Melder wies verächtlich mit dem Kopf auf seinen Gefährten. Der Mann mit dem vorgebeugten Oberkörper hob den Kopf. Auch ihn kannte Andrej. Es war Rosanow. Sie waren zusammen bei der Reserve gewesen. Alle wurden seinerzeit in Einheiten geschickt, nur Rosanow, der sich in der Kaderabteilung eingenistet hatte, wo er die Ordenslisten führte, blieb beim Stab. Sonst unverschämt und überheblich, bot er jetzt den jammervollen Anblick eines zu Tode erschrockenen Menschen. „Sagen Sie, gehen wir hier richtig? Wir müssen zum Regimentskommandopunkt… Ah, Sie sind’s, Genosse Woronzow. Guten Tag. Ich gehe als Bevollmächtigter des Militärkreisstabs dorthin. Und Sie?“ „Von der Politabteilung des Korps.“ „Ja, ja, ich erinnere mich! Meine Gratulation zur Beförderung! Ich habe Ihre Papiere fertiggemacht. Eine positive Charakteristik. Ich freue mich für Sie!“ Rosanow hatte seinen gewohnten hochmütig-herablassenden Ton zurückgewonnen. Er hatte sich schon wieder aufgerichtet, als die unsichtbare Batterie von neuem losballerte. Rosanow zog augenblicklich den Kopf ein, bückte sich aufs neue und sprang zur Seite. Wenn er sich wenigstens vor den Soldaten zusammennehmen
würde, dachte Andrej feindselig. Dieser Angeber! Bevollmächtigter des Militärkreises! Der ist doch unterwegs schon zehnmal vor Angst gestorben… „Was haben Sie denn, Genosse Rosanow, Ischias oder einen Rückenschuß?“ Rosanow entging die Ironie. „Nein, wissen Sie, es sind die Nerven. Ich müßte eigentlich eine Kur machen, aber wer kann jetzt an so was denken. Da müssen wir erst mal den Krieg hinter uns gebracht haben.“ Rosanow ging bis zum Regimentskommandopunkt gebückt. Bei nahen Abschüssen fuhr er zusammen, zog den Kopf ein und sprang zur Seite. Wie zur Entschuldigung sagte er jedesmal: „Diese Nerven! Wie kaputt sie sind.“ Die unverhohlene Feigheit Rosanows reizte Andrej immer mehr. Er konnte sich kaum noch beherrschen. Am liebsten hätte er ihm offen ins Gesicht gesagt, was er von ihm dachte. Die Soldaten – Tichon Wassiljewitsch und der Melder gingen hinter ihnen und taten, als merkten sie nichts. Andrej schämte sich für Rosanow in Grund und Boden. Als sie durch den Laufgraben gingen, sagte der Melder, auf das Artilleriefeuer lauschend: „Wahrhaftig, sie dreschen drauflos wie auf der Tenne! Mordskerle sind das!“ Dann wandte er sich über Rosanows Kopf hinweg an Andrej und fragte: „Dürfen wir gehen, Genosse Politleiter?“ „Ja, geht nur. Und du, Tichon Wassiljewitsch, bestell dem Hauptmann einen Gruß von mir. Auf Wiedersehn!“ „Zu Befehl!“ Zu jeder anderen Zeit hätte Rosanow es bestimmt nicht unter-
lassen, den vertraulichen Ton zwischen einem Kommandeur und Soldaten zu rügen, aber im Moment hatte er andere Sorgen – er wollte möglichst schnell in den Unterstand kommen. Sie hatten den Kommandopunkt erreicht. Beim Anblick des leichten Bauwerks, das der erstbeste Treffer zerfetzen konnte, äußerte Rosanow sein Mißfallen. „Nein, wir verstehen nicht zu kämpfen! Die Finnen haben bestimmt nicht so eine schlechte Deckung.“ Tief seufzend schlüpfte er in den Unterstand – unweit explodierte gerade ein finnisches Geschoß. Rosanow meldete sich beim Regimentskommandeur Major Mogutny, setzte sich auf eine Pritsche in der Ecke und stand bis zum Abend nicht mehr auf. Der Kommandopunkt, ein kleiner Unterstand aus roh behauenen Balken, befand sich in einem Schützengraben in der vordersten Kampflinie. Wie Schweißperlen traten auf den Balken durchsichtige Harztropfen hervor. In dem Unterstand war es zwar hell, aber kalt. Den Kommandopunkt verdeckte ein Erdwall, und der Regimentskommandeur ging häufig in den Schützengraben hinaus, um das Schlachtfeld zu beobachten. Aber vorerst hatte der Kampf noch nicht begonnen, nur die Artillerievorbereitung war im Gang. Andrej folgte Major Mogutny nach draußen in den Graben. Der Nebel schien sich aufzulösen. In der ersten halben Stunde beantworteten die Finnen noch den Beschuß, doch die Intensität ihres Feuers ließ bald nach. Eine feindliche Batterie nach der anderen verstummte. Major Mogutny, dem die Beobachtungspunkte meldeten, was für Batterien außer Gefecht gesetzt worden waren, nahm auf seiner Karte befriedigt ent-
sprechende Vermerke vor. Immer noch brauste der Orkan über den Köpfen dahin. Raschelnd fegte eine Eisenwolke über die Schützengräben und schlug vorn ein, wo sich die Erde bäumte. Andrej ließ sich ein Fernglas geben, stieg auf die Brustwehr und blickte nach vorn. Die finnischen Stellungen auf der berühmten und lange nicht erkannten Höhe 65,5 waren in dichte Rauchschwaden gehüllt. Weiter rechts erstreckte sich der faulige, nicht zugefrorene Sumpf Munasuo. Von dort aus sollte der Angriff vorgetragen werden. In der Niederung lag Schnee, grau von den Einschlägen. Der Zugang zur Höhe war eine glatte Schneefläche ohne Strauch und Stumpf. Jetzt konnte man nach den Einschlägen leicht erkennen, wie die vorderste befestigte Linie der Finnen verlief. Auf einmal mischten sich in den Lärm der Kanonade neue Geräusche. Sie kamen von oben. Andrej lauschte lächelnd – die Flugzeuge waren also trotz allem aufgestiegen. Böse summend flogen sie die vorderste Linie des Gegners an, von ihren Rümpfen lösten sich schwarze Punkte. Andrej wurde vom Kampfeifer gepackt. Dieses Gefühl verdrängte alles andere, selbst das Persönliche, das er noch gestern so schmerzlich empfunden hatte. Die Artillerievorbereitung dauerte über zwei Stunden. Zweimal verlegten die Batterien das Feuer, um den Gegner zu täuschen, und entluden dann wieder ihren Feuerhagel auf die vorderste Linie. Punkt elf schraubte sich eine große gelbe Leuchtkugel in die Luft – der Sturm begann. Nun kam Mogutny kaum noch von den Feldtelefonen fort. Unaufhörlich klingelten die Apparate, wenn er sich nicht selbst mit einem Bataillon verbinden ließ.
Die Ereignisse entwickelten sich rasch. Nach zehn Minuten kam aus Sanins Bataillon die Meldung: „Sperren überwunden. Werden von rechts durch Scharfschützen behindert.“ Eine Minute darauf erfolgte ein Anruf über den anderen Apparat – das zweite Bataillon, das gegen die feindlichen Schützengräben vorrückte, wurde durch Beschuß aus MG-Nestern aufgehalten. Immer neue Meldungen gingen ein. „Schützengräben eingenommen…“ „Nähern uns der Höhe…“ „Erstürmen MG-Bunker null null sechs…“ Um elf Uhr vierundzwanzig Minuten – der Stabschef hatte die Zeit genau notiert – wurde von Sanins Bataillon gemeldet: „MG-Bunker besetzt. Über der Höhe fünfundsechzig Komma fünf weht die rote Fahne.“ Andrej war wieder in den Graben gegangen und schaute durch das Fernglas. Den Stahlhelm, der ihn störte, hatte er abgenommen. Eine dünne Schützenkette bewegte sich auf die Höhe zu. In ihren Tarnmänteln kaum sichtbar, nahmen sich die Soldaten inmitten der weiten Fläche des Munasuo wie winzige, weiße Sandkörnchen aus. Weiter vorn erhob sich die abschüssige kahle Höhe. Die Feuerwoge hatte Bäume und Sträucher wegrasiert und die Schneedecke zerwühlt. Auf dem Hügel traten die Konturen niedriger Befestigungsbauten mit schmalen Schießscharten hervor. Die Kette überwand die Sperre. Andrej sah die Soldaten über den Drahtverhau hinwegsteigen oder unter ihm hindurchkriechen. Jetzt warfen sich die Männer hin – offenbar hatte
sie ein MG von der Flanke her unter Beschuß genommen. Auf der versengten, schwarz gewordenen Erde boten ihnen die weißen Mäntel keinen Schutz mehr. Sie waren deutlich zu sehen. Ebenfalls weiß getarnt, umgingen Panzer, über Ödland kriechend, die Höhe. Ihnen folgten im Laufschritt einige Infanteristen. Andrej mutete es sonderbar an, daß bei der Erstürmung einer so starken Befestigungsanlage wie der Mannerheimlinie, um die nun bereits zwei Monate lang heftige Kämpfe tobten, fast keine Menschen zu sehen waren. Durch die offene Tür des Unterstandes hörte Andrej die Stimme des Stabschefs. Er nahm eine Meldung entgegen und wiederholte laut: „Ja, ja, verstanden… Hain Molotok ist besetzt… Ja. Das Bataillon rückt gegen den Figurnaja-Südrand vor… Verluste?… Wie? Wie? Der Bataillonskommandeur ist verwundet? Schwer?… Einen Augenblick…“ Andrej wandte sich jäh zur Tür um und sah das bestürzte Gesicht des Stabschefs. Dieser hatte den Hörer auf den Tisch gelegt und meldete Mogutny: „Genosse Major, soeben ist mitgeteilt worden, daß Hauptmann Sanin schwer verwundet wurde.“ „Wie?“ „Der Bataillonskommandeur ist kampfunfähig.“ In Mogutnys Gesicht zuckte es schmerzlich, unter der Haut seiner Backenknochen bewegten sich harte Knötchen. „Fragen Sie, wer das Bataillon übernommen hat.“ Der Stabschef wiederholte die Frage des Regimentskommandeurs in die Muschel. „Wer? Politleiter Silkin?… Ich habe verstanden. Der Kom-
missar… Leisten Sie dem Bataillonskommandeur Hilfe, schaffen Sie ihn nach hinten. Wie ist sein Zustand?… Bewußtlos?…“ Andrej biß die Zähne zusammen. Sein Herz schlug schwer und dumpf. An den Major richtete er die Frage: „Wäre es nicht besser, ich ginge zum Bataillon?“ Mogutny zögerte mit der Antwort. Eine Weile sah er Andrej verständnislos an. Als gebe er sich einen Ruck, antwortete er dann: „Ja, ich bitte Sie darum, wenn Sie können… Sie unterstehen mir ja nicht. Unterrichten Sie mich über die dortige Lage. Ach, Sanin, Sanin! Sie sind doch sein Freund?… Setzen Sie den Stahlhelm auf.“ „Jawohl! Ich gehe also.“ Und wieder ging er mit dem Melder zum Bataillon, aber diesmal den kürzeren Weg von gestern – durch die Sperren und den Panzerabwehrgraben. Sie schnitten in gerader Linie den Rand des Munasuo ab, erreichten eine Anhäufung vereister Findlingsblöcke und befanden sich in der Stellung des Bataillons. Die Schützengräben waren leer, die Kompanien hatten bereits mit ihren Geräten weiter vorn Stellung bezogen. Nur die Feldküchen rauchten noch neben den Unterständen. Sie krochen über die Brustwehr, klopften sich mechanisch ab und gingen auf einem nicht ausgetretenen Pfad weiter. Dem Schußwechsel nach wurde der Kampf jetzt weiter nördlich geführt, jedoch höchstens einen bis anderthalb Kilometer von ihnen entfernt. Längs des Pfades zog ein Nachrichtentrupp eine Leitung. Argwöhnisch tasteten die Männer mit den Blikken den Boden zu ihren Füßen ab: Lag da nicht vielleicht
eine Mine? Während sie dem vorgerückten Bataillon nacheilten, beherrschte Andrej ein merkwürdiges Gefühl. Ihm war, als steckten in seinem Halbpelz zwei Menschen. Der eine litt unsäglich unter der drückenden Sorge um Nikolai, den er als lebensfrohen, kerngesunden Menschen liebgewonnen hatte und den er sich nun nicht kraftlos, verblutend oder gar sterbend vorstellen konnte. Der andere in ihm hielt gleichzeitig mit fotografischer Präzision alles im Gedächtnis fest, was auf dem Weg geschah. Seine Sinne hatten sich unwahrscheinlich geschärft. Nichts vermochte sie abzustumpfen, weder der Schmerz über die Verwundung des Freundes noch die vom Pfeifen der Kugeln und Bersten der unweit krepierenden Granaten herrührende Kälte in der Brust. Später konnte er alles, was ihm unterwegs begegnet war, bis ins kleinste Detail rekonstruieren, alles – vom Saum des Taschentuchs auf dem Gesicht eines toten Soldaten bis zu der zersplitterten hundertjährigen Kiefer, die, von einem Einschlag entwurzelt, auf der Erde lag. Als Andrej noch beim Pionierbataillon war, hatte er die finnischen Befestigungen gesehen. Natürlich nur flüchtig, im schimmernden Licht der Leuchtkugeln, wenn er im Niemandsland mit einem Pionierspähtrupp umherkroch. Er hatte oftmals stundenlang über der Karte gesessen und die Anlagen der Mannerheimlinie studiert. Mit geschlossenen Augen konnte er das Schema der Verteidigungsanlagen von Hotinen aufzeichnen. Er kannte alle siebzehn befestigten Punkte, die dem drei Kilometer langen Abschnitt seiner Division gegenüber lagen – vom See Summajärvi bis zum Sumpf Munasuo.
Die ganze Mannerheimlinie erstreckte sich vom Ladogasee bis zum Finnischen Meerbusen, quer über die Karelische Landenge. Andrej kannte die Lage eines jeden der siebzehn Bunker, die auf der Karte mit Zahlen vermerkt waren: 006, 008, 0011… Doppelte Nullen bedeuteten Eisenbeton, eine Null bedeutete Erde und Stein. Jeder davon mußte durch Spähtrupps, wenn nicht im Kampf erkundet werden, indem man die Bunker zum Sprechen brachte. Aber wie viele Opfer hatte das gekostet! Als Kommissar des Pionierbataillons hatte Woronzow geglaubt, das System und die Stärke der finnischen Befestigungsanlagen gut zu kennen. Dennoch hatte er nicht die richtige Vorstellung davon gehabt, was sich seinen Augen bieten würde. Sie erreichten die Höhe, um die sich ein Netz von Drahtverhauen mit mehreren Reihen Panzersperren zog. Stellenweise bildeten die Drahthindernisse einen hohen Zaun, stellenweise zogen sie sich tückisch auf dem Schnee hin. Die Panzersperren ähnelten arktischen Eisblöcken. Ihre Reihen waren aus aschgrauen, fest in die Erde gegrabenen Steinen angelegt. Sie reichten Andrej bis zum Gürtel. Welcher Panzer hätte diese Steinzähne bezwingen und überwinden können? Auf den Zugängen zur Höhe zählte Andrej zweiundvierzig Reihen Drahthindernisse, unterbrochen durch zwölf Reihen Panzersperren. „Donnerwetter!“ stöhnte der Melder, den weniger das verwunderte, was er sah, als die Tatsache, daß diese unbezwingbare Verteidigungsanlage genommen worden war. Nach Bauernart maß er auch den Krieg mit den Augen des
Landmannes. Das friedliche Leben beherrschte seine Gedanken mehr als der Krieg. Den zerschossenen und zerfetzten Wald mit den abgenagten Wipfeln verglich er mit einem von Pferden zertrampelten Wintersaatfeld. Und von einem Trichter, neben dem er stehenblieb, sagte er mit abwägendem Blick: „Da gehen gut und gern zwei Hocken Korn rein.“ Von neuem wogte Nebel heran. Es war, als bildete er sich hier auf dem freien Feld: Eben war noch alles klar, dann umwölkte plötzlich leichter Dunst das Buschwerk, und schon konnte man weder die beiden Soldaten, die einen Schlitten mit Verwundeten zogen, noch die zurückgebliebenen Männer vom Nachrichtentrupp sehen. Ihnen entgegen kamen Verwundete. Die einen wurden geführt, die anderen getragen, wieder andere gingen zu Fuß und erzählten mit der Erregung von Menschen, die eben einer Gefahr entronnen sind, daß die verdammte Mannerheimlinie endlich durchbrochen sei und die Finnen fliehen. Zehn, wenn nicht gar zwölf Kilometer sollten deren Truppen zurückgegangen sein. Der Durchbruch war indessen noch lange nicht vollendet, nur die ersten Befestigungen waren gefallen. Den Bataillonskommandopunkt fand Andrej in einem eroberten MGBunker. Der Graben, durch den sie, über umherliegende Mäntel, Tarnkittel und Waffen hinweg, gegangen waren, führte zu einer halboffenen Stahltür. Der erste, den Andrej hier traf, war Tichon Wassiljewitsch. Er stand vor dem Eingang zu dem MG-Bunker. Tichon schien in diesen wenigen Stunden abgemagert und gealtert.
„Wo ist der Hauptmann?“ fragte ihn Woronzow. „Ist er ins Lazarett gebracht worden?“ ‘ „Jawohl, Genosse Kommissar, es ist noch keine halbe Stunde her. Beinahe hätten Sie ihn hier noch angetroffen… Sie wissen also schon…“ „Was ist mit ihm? Ist er schwer verwundet?“ „Es steht schlecht. Ich weiß nicht, ob er durchkommt. Seitdem er verletzt wurde, hat er noch nicht das Bewußtsein wiedererlangt. Brustschuß. Ich war dicht bei ihm, mir ist nichts passiert, aber er…“ Tichon Wassiljewitsch rieb sich mit dem Zeigefinger eine Träne aus den Augen. „Aber wir haben noch ein Unglück, Genosse Kommissar – unser Politleiter Silkin ist gefallen. Jetzt eben.“ „Wie?… Wer führt denn jetzt das Bataillon?“ „Weiß ich selber nicht. Ich glaube, der Adjutant will…“ Andrej sah das hagere, kränklich müde Gesicht von Silkin vor sich mit den tief eingesunkenen, glühenden Augen. Er hatte oft Fieber; man sagte, er habe sich die Schwindsucht geholt. Silkin verbarg sein Leiden sorgsam vor den Kameraden und verheimlichte es auch vor seiner Familie. Man hatte ihm Urlaub versprochen. Silkin wartete von Tag zu Tag auf den Einweisungsschein in ein Sanatorium. Er war fest davon überzeugt, die Krimsonne würde sein Leiden heilen. Jetzt war das alles nicht mehr nötig… Im Bunker traf Andrej den Bataillonsadjutanten an, der gerade telefonierte. Das Licht von draußen fiel durch eine Schießscharte in der dicken Wand herein. Der im Rang eines Leutnants stehende Adjutant sah mit seiner zarten Gesichtshaut und dem ersten Flaum auf der Oberlippe wie ein großer Jun-
ge aus. Er sprach erregt und nestelte mit den Fingern der freien Hand nervös an der Telefonschnur. „Jawohl“, sagte er mit heiserer Stimme. „Wir sind jetzt am Südrand des Figurnaja-Wäldchens… Der Gegner?… Leistet Widerstand. Silkin hatte einen Gegenstoß befürchtet. Wir sollten Ihnen melden, er bitte um Erlaubnis, daß sich das Bataillon verschanze… Wer, Silkin?… Jawohl, gefallen. Vor einer Viertelstunde… Wie? Ich – das Bataillon?… Zu Befehl!… Nein, ich habe noch keine Einheit geführt…“ Der Adjutant war rot geworden und sah verwirrt auf die Anwesenden. Andrej bat ihn leise, ihm den Hörer zu geben. Der Leutnant brach erleichtert das Gespräch ab. „Einen Moment bitte. Genosse Woronzow möchte mit Ihnen sprechen.“ Andrej erkannte Major Mogutny an der Stimme. Er meldete, daß er in der Stellung des Bataillons angekommen sei, und bat darum, als Rangältester das Kommando des Bataillons übernehmen zu dürfen. Er kenne die Leute, und die Lage sei ihm bekannt. Der Regimentskommandeur erklärte sich einverstanden. „Gut, übernehmen Sie das Kommando. Morgen lösen wir Sie ab. Machen Sie sich persönlich mit der Lage bekannt und erstatten Sie Meldung.“ Mogutny riet ihm noch, auf die Flanken zu achten, das Bataillon sei weit vorgedrungen und habe sich tief in die Verteidigung des Gegners eingekeilt. Die Finnen könnten es leicht abschneiden und umzingeln. Der junge Leutnant folgte aufmerksam dem Gespräch. Sein Gesichtsausdruck, der seine Gefühle lebhaft widerspiegelte, wechselte ständig. Einerseits scheute er sich vor der Verantwortung – er hatte noch zu wenig Erfahrung –, anderseits war
er stolz darauf, daß man ihm die Führung des Bataillons anvertraute. Dann atmete er erleichtert auf – ein anderer würde das Kommando übernehmen. Dann wieder kamen ihm Zweifel: Würde man ihm nicht Feigheit vorwerfen? „Es ist richtig, Genosse Politleiter, daß Sie das Bataillon übernehmen, dabei kommt mehr heraus“, sagte er schüchtern, als Andrej das Gespräch mit dem Regimentskommandeur beendet hatte. „Ich hätte es natürlich nicht gekonnt… Aber ich gehe mit Ihnen, ich war schon dort“, beeilte er sich, Andrej zu versichern, bevor dieser auf den Gedanken kommen könnte, er habe Angst. „Gehen wir, da Sie schon dort waren“, stimmte ihm der neue Bataillonskommandeur zu. „Lassen Sie eine Leitung zum Figurnaja-Wäldchen ziehen.“ „Und was soll ich tun?“ fragte der verwaiste Tichon Wassiljewitsch, der Woronzow in den Bunker gefolgt war. „Gestatten Sie, daß ich bei Ihnen bleibe?“ „Gut, gehen wir. Dann bleiben Sie hier, Genosse Leutnant. Verlegen Sie den Kommandopunkt an eine andere Stelle.“ Zwei Stunden später kam ein Melder zu Woronzow in die vorderste Linie gelaufen. Der Divisionskommandeur sei am Apparat und wolle ihn sprechen. Andrej kletterte in den Unterstand. Durch das Piepen der Summer, durch fernes Rauschen, Knistern und gedämpfte Stimmen hindurch drang zu ihm die Stimme des Divisionskommandeurs. Er hatte ihn bereits zum zweitenmal verlangt. „Du hast das Kommando übernommen?“ fragte der Divisionskommandeur. „Wie ist die Lage? Hältst du dich?“ „Jawohl, Genosse Divisionskommandeur. Ich habe Befehl zum Eingraben gegeben. Ein Gegenangriff wurde abgeschla-
gen, uns helfen die Panzer.“ „Schön. Und was machst du mit den Bunkern?“ „Mit den Bunkern? Die brauchen wir doch für unsere Leute zum Schutz und zum Aufwärmen. Sie sind erstklassig.“ „Also hör zu! Alle finnischen Befestigungen sind sofort zu sprengen.“ Der Divisionskommandeur sprach die Worte akzentuiert aus. Andrej kannte diese Gewohnheit von Stepan Petrowitsch. „Alles ist zu sprengen! Du bist mir dafür verantwortlich. Ich schicke dir Leute, sie sind in einer halben Stunde da. Die Ausführung ist mir unverzüglich zu melden.“ „Genosse Divisionskommandeur, könnten wir nicht wenigstens einen stehenlassen? Für die Verwundeten. Es ist doch so kalt.“ Diese Bitte brachte Stepan Petrowitsch ganz außer sich. Alle Bataillonskommandeure bliesen in dasselbe Horn. Als ob er nicht selber wüßte, wie schwer es in der Kälte war! Verwundete… Aber versuch einer mal im Fall der Fälle, den Gegner ein zweites Mal herauszuschlagen! Woronzow sollte das begreifen! Wo er überdies Politarbeiter war! Er hob die Stimme: „Keine Widerrede! Im Krieg kommt einem Mitleid teuer zu stehen. Wir dürfen es nicht darauf ankommen lassen. Verstanden? Lassen Sie sofort sprengen!“ Andrej antwortete mit dem üblichen: „Zu Befehl!“ Gewiß, er verstand den Divisionskommandeur, aber Stepan Petrowitsch sollte mal selber in der Soldatenhaut stecken. Dabei behauptete er doch immer, er wisse, wie schwer es die Soldaten haben. Im MG-Bunker fand Andrej die inzwischen eingetroffenen Pioniere vor. Sie warteten auf Soldaten, die ihnen helfen soll-
ten, die Sprengstoffkisten zu tragen. Der Kommandeur der Pionierkompanie, ein Oberleutnant – Andrej kannte ihn vom Bataillon her –, besah sich beim Schein einer Taschenlampe die unterirdische Befestigungsanlage. Mit den Fingerknöcheln klopfte er die rauhen Betonwände ab, wohl um festzustellen, wieviel Sprengstoff er dafür brauche. „Mindestens eine Tonne.“ Der Sprengstoff wurde längs der Stirnwand gestapelt. Die Männer arbeiteten schweigend, nur die Dynamos der Taschenlampen summten wie Brummer, die gegen Fensterscheiben stoßen. Als die Soldaten fertig waren, gingen sie in Deckung. Das Gelände wurde abgesperrt. Im Bunker blieben nur Andrej und der Kommandeur der Pionierkompanie. Der Oberleutnant maß die Zündschnur ab. „Genügt ein halber Meter?“ „Ich denke, ja. Lassen Sie’s mich machen.“ Andrej nahm ein paar Zündhölzer, strich damit über die Reibfläche der Schachtel und legte die brennenden Hölzer ans Ende der Schnur. Gleich einer trüb leuchtenden Erbse lief das Flämmchen knisternd zu den Kästen hin – in fünfzig Sekunden mußte die Explosion erfolgen. Die beiden Männer sprangen wie der Blitz aus dem Bunker. Andrej wollte noch die Tür schließen, aber sie war schwer und gab nicht nach. „Zum Teufel damit, Genosse Kommissar! Laufen wir!“ rief der Kommandeur der Pionierkompanie und zog Andrej am Ärmel. Sie liefen, ohne auf den Weg zu achten, stolperten über Steine und fielen hin. Aus dem Dunkeln rief ihnen jemand zu: „Hierher! Kommen Sie hierher!“
Beide stürzten kopfüber in einen tiefen Trichter – im selben Augenblick erschütterte eine Detonation die Luft. Andrej spürte, wie die Erde schwankte. Er hörte eine Stimme rufen: „Oho! Jetzt hat sich’s dort schön ausgebunkert! Futsch ist das amerikanische Geld!“ Nach einiger Zeit kehrten sie zu der Höhe zurück, auf der der „Millionär“ gestanden hatte. „Millionäre“ nannten die Finnen Betonfestungen, die sie mehr als eine Million Dollar gekostet hatten. Mitten auf der Höhe gähnte kraterartig ein breites Loch voller Betonbrocken und verbogenen Armierungsstäben, die aufragten wie die verfitzten Wurzeln des unweit aus dem Erdreich gerissenen Baumes – mehr war von dem Bunker nicht übrig geblieben. Aller Sprengstoff war verbraucht. Die Sprengung der übrigen Anlagen wurde bis zum nächsten Morgen aufgeschoben. Bald ertönten nahezu gleichzeitig noch zwei dumpfe, grollende Explosionen. Zwei weitere Bunker – auf der Höhe Jasyk und im Hain Molotok – flogen in die Luft. Wie Andrej befohlen hatte, war der Bataillonskommandopunkt näher an die vordere Linie verlegt worden. Er fand ihn in einem Trichter, über den auf Stangen eine Zeltbahn gezogen war. Tichon Wassiljewitsch erwartete ihn dort. „Man hat das Essen gebracht, aber es ist kalt geworden. Ich kann es nirgends aufwärmen.“ Woronzow verzichtete aufs Essen, er fiel vor Müdigkeit fast um. Er kroch in das Loch, griff nach dem Telefon und verlangte den Divisionskommandeur. „Und ob ich’s gehört habe!“ ertönte dessen Stimme. „So gut
habt ihr’s gemacht, daß mir der Teekessel vom Ofen gefallen ist. Jetzt sind wir um unseren Tee gekommen, ihr Satansbrut! Meinen Dank für die Erfüllung des Auftrages!“ Nach seiner Stimme zu schließen, war er guter Laune. „Komm übermorgen mal rüber zu mir eine Partie Schach spielen. Weißt du, von siebzehn Bunkern haben wir heute acht genommen. Morgen steht uns noch ein schönes Stück Arbeit bevor. Ruh dich aus, wenn du kannst.“ Woronzow fühlte unter sich ein Häuflein Tannenzweige. Ein fürsorglicher Mensch, dieser Tichon Wassiljewitsch, dachte er. Seine Gedanken verwirrten sich. Er erinnerte sich an Nikolai. Wie es ihm wohl ging? Ob er noch am Leben war?… Und wieder kein Brief. Ach, Sina, Sina!… Wie in einen Abgrund, sank Andrej in Schlaf. Als ihn jemand wachrüttelte, hatte er etwa eine Stunde geschlafen, dabei war ihm, als habe er eben erst die Augen geschlossen. Neben ihm stand der junge Leutnant. „Genosse Kommissar, stehen Sie auf! Genosse Kommissar! Der Feind setzt zum Gegenangriff an!“ Andrej schüttelte den Schlaf ab und kletterte aus dem Trichter. Grau dämmerte der Morgen herauf. Der zweite Tag der Durchbruchskämpfe an der Mannerheimlinie hatte begonnen. 2 „Massa Coughlin! Einen Augenblick nur, Massa Coughlin! Bitte!“ Die alte Negerin mit dem breiten Gesicht und den aschgrauen Haaren, die unter dem übergeworfenen Tuch hervorquollen, trippelte hinter dem Geistlichen her und wiederholte mit verzweifelter Hartnäckigkeit: „Massa Coughlin! Nur eine Minute, Massa Coughlin!“
Der Priester tat, als bemerke er die Frau nicht, die hinter ihm herlief, und überquerte die Straße. Im festen Glauben, der in sich versunkene Priester habe sie in der Tat nicht gehört, berührte die Negerin vorsichtig seine Soutane. „Massa Coughlin!“ „Na, was gibt’s denn?“ Coughlin schob die Hand weg, seine Lippen kräuselten sich verächtlich, er wandte den Kopf der Frau zu. „Was willst du? Siehst du denn nicht, daß ich keine Zeit habe… Komm später.“ „Nein, Massa Coughlin, das geht nicht!“ sagte die Frau erschrocken. „Um John steht es sehr schlecht, vielleicht lebt er bis zum Abend nicht mehr. Ich hätte Sie sonst nicht belästigt, Massa Coughlin.“ „Also, was willst du?“ „John geht es sehr schlecht, Massa, er hat mich gebeten, den Priester zu holen.“ „Als ob ich nichts anderes zu tun hätte, als euch Negern die Sünden zu vergeben! Ich kann nicht. Ich verreise.“ „Aber was soll ich denn machen?“ „Ich weiß nicht. Geh weg!“ Die Frau blieb mitten auf der Straße stehen, sie spürte den feuchten, durchdringenden Februarwind nicht. Sie sah den Geistlichen zur Garage gehen, wo seine Soutane noch einmal hinter der Glastür auftauchte und dann für lange verschwand. Als sie schließlich wieder sichtbar wurde, lief die alte Negerin zur Garage. „Du bist ja noch immer hier?“ Coughlins Gesicht hatte sich verfinstert. „Ja, euch wird man nicht so leicht los. Wo wohnst du?“ „Oh, ganz in der Nähe, Massa, gleich hinter der Kirche.“ Sie
nannte Straße und Hausnummer. „Na gut, spute dich! Ich fahre voraus.“ Die Negerin in seinem Wagen mitzunehmen, wäre Coughlin nicht im Traume eingefallen. Der kleine Ford fuhr an, glitt um die Ecke, und die Frau mit den kranken Füßen humpelte watschelnd hinterher. John ging es tatsächlich schlecht. Sein Gesicht war grau. Mit Lumpen bedeckt, lag er zitternd im Bett, von einem Malariaanfall gequält. Außer der aus rohen Brettern zusammengenagelten Bettstatt, zwei wackligen Stühlen und einer Sperrholzkiste, die als Tisch diente, hatte die Kellerwohnung kein Mobiliar. In der feuchten, halbdunklen Kammer roch es muffig. Der Priester vermied es, sich auf einen Stuhl zu setzen. Das Taschenbrevicr im schwarzen Preßledereinband in der Hand, stand er neben dem Kranken und leierte ein Gebet herunter. Dann klappte er das Brevier zu und segnete den Neger. Schon war er im Begriff, die Kammer zu verlassen, beugte gerade den Kopf, um nicht an den Türsturz anzustoßen, als ihm John zurief: „Massa Coughlin, ich möchte Ihnen etwas sagen… Lia, laß uns allein.“ Coughlin kehrte wieder um. Dem Alten fiel das Sprechen schwer. Heiser und undeutlich entrangen sich die Worte seiner Brust. Als Lia hinausgegangen war, sagte er: „Ich möchte Sie warnen, Massa Coughlin… Es geht mich ja nichts an, eigentlich ist’s eine Sünde, daß ich meinen Herrn belauscht habe… Wäre ich gesund, dürfte ich sogar Ihnen nichts davon erzählen… Aber jetzt… Ihre Christian Front… Hitler selbst soll Ihnen befohlen haben, die Abteilungen auf-
zustellen…“ Je weiter der Alte sprach, desto größere Spannung verriet Coughlins Gesicht. Der Teufel sollte diesen schwarzen Affen holen! Und den Strang gleich dazu, der quatschte auch, wo er besser den Mund hielt. Der Geistliche hörte sich das Geständnis des Negers mit wachsender Unruhe an. „Er sagte“, erzählte John weiter über seinen Herrn, „ein gewisser Mister Viereck schreibe die Reden für unsere Senatoren. Ich hab nicht alles verstanden, aber er sagte ungefähr: ,Das ist einträglicher als der Alkoholhandel während der Prohibition. Die Deutschen zahlen gut…’ Dann nannte er Ihren Namen, Massa Coughlin, als ob Sie auch fremde Predigten hielten. Was er weiter gesagt hat, konnte ich nicht hören.“ „Hast du das jemand erzählt?“ fragte Coughlin lauernd. „Nein, Massa, nur Ihnen und meinem Sohn, der zu Weihnachten da war.“ Coughlin hätte am liebsten losgeschimpft. Statt dessen sagte er in sanftem Ton: „Du hast eine schwere Sünde begangen, mein Sohn, daß du fremde Gespräche belauscht hast. Darf man denn heimlich Wein aus fremdem Glase naschen? Gott möge dir deine Sünden vergeben! Hüte das Geheimnis und offenbare es dem Allmächtigen… Hast du nur den einen Sohn?“ „Ja, Massa, nur den einen. Wir haben ihn zu Ehren meines Vaters John genannt, wie auch ich heiße. Er ist ein guter Junge.“ „Wo lebt er?“ „In New York, in Harlem. Er hat schon eigene Kinder.“ „Kommt er denn nicht her, um den kranken Vater zu besuchen?“
„Ja, vielleicht… Natürlich, wenn ihn sein Chef läßt.“ „Gib mir seine Adresse, ich werde ihm ein Telegramm schikken. Übermorgen könnte er in Royal Oak sein.“ „Oh, Massa Coughlin, wie gut Sie zu uns sind! Wenn es Ihnen bloß keine Mühe macht!“ Der Alte sah den Priester mit dankbaren Augen an. Pater Coughlin notierte sich auf dem Einbanddeckel seines Taschenbreviers die Harlemer Adresse von Johns Sohn, sprach noch ein paar Minuten mit dem Alten und ging. Charles E. Coughlin, Pfarrer an der Little-Flower-Kirche, betrat nachdenklich die Straße. Er war bestürzt über die unerwartete Beichte des alten Negers. Solche Beichten durfte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Der Alte stellte keine Gefahr dar, der machte es sowieso nicht mehr lange, aber der Sohn. Der konnte aus Dummheit plaudern. Vielleicht sollte er ihn wirklich nach Royal Oak rufen? Nein, es war besser, Viereck nahm sich solcher Dinge selber an… Pfarrer Coughlin hatte ursprünglich nach Chicago fahren wollen, wie er das fast jeden Monat in streng geheimen Angelegenheiten tat, die in keiner unmittelbaren Beziehung zur Kirche standen. Aber angesichts der neuen Lage hatte er in Chicago nichts zu tun. Coughlin betätigte energisch den Starter und fuhr, als sich der Motor warm gelaufen hatte, zum Flugplatz. Er hoffte, noch zum Nachtflugzeug nach New York zurechtzukommen. Außerhalb der Stadt stoppte Pater Coughlin den Wagen, legte die Soutane ab, zog einen Regenmantel an und setzte einen grauen Hut auf. In dieser Aufmachung konnte er ebensogut ein von einer Tournee zurückkehrender Berufsboxer, ein
Handelsreisender, ein Sportreporter oder der Anführer einer Bande Bootlegger sein, die während der Prohibition den Alkoholschmuggel betrieb. Übrigens hätte das Aussehen des Paters Coughlin keinen überrascht, der seinen Lebensweg auch nur teilweise kannte. Bevor Hochwürden das Pfarramt an der Little-Flower-Kirche übernahm, hatte er sich in allen diesen wie auch in anderen Berufen versucht. Jeder einzelne hatte seine Spur im Gesicht oder im Charakter des Pfarrers aus Royal Oak im Staate Michigan hinterlassen. Die breitgeschlagene Nase war das Erinnerungsmal für ein unglückliches Treffen im Ring, in dem argwöhnischen, wachsamen Blick äußerte sich der Beruf des Bootleggers und in der dreisten Ungezwungenheit des Pfarrers ebenso wie in seiner Beredsamkeit ließen sich der frühere Zeitungsreporter und der Handelsreisende erraten. Charles Coughlin war Busineßman durch und durch. Er wußte aus allem Geld zu machen. Diese Eigenschaft brachte er auch in die Little-Flower-Kirche mit. Als er seinerzeit die geistliche Laufbahn einschlug, begab er sich zunächst zu der örtlichen Rundfunkgesellschaft, die er überredete, auf der Kanzel ein Mikrofon aufzustellen und fürs erste seine Sonntagspredigten über den Rundfunk zu senden. Ein paar Jahre später nannte man Hochwürden Coughlin bereits einen modernen Propheten Jesajas, und seine Stimme erklang zweimal wöchentlich im Äther. Aber der Pfarrer der Little-Flower-Kirche begnügte sich nicht mit Predigten. Neben der Kirche, genauer gesagt auf der anderen Straßenseite, an der Ecke des Platzes, eröffnete Pater Coughlin eine kleine Garage mit vier Boxen, handelte mit Benzin, wechselte Reifen und betreute vorüberkommende Autos. Natürlich tat er
das alles nicht selbst, er nahm die Hilfe des Küsters in Anspruch, dem er die Verwaltung der Garage übertrug. Das Unternehmen war nicht groß, warf aber ein zusätzliches Jahreseinkommen ab. Auch der Benzinverkauf brachte einiges ein. Auf der Suche nach Wegen zu den Herzen der Gemeindemitglieder verfiel der Pfarrer auf den Gedanken, eine eigene Zeitung herauszugeben. Sie erschien in Royal Oak unter dem Namen „Social Justice“. Für die Redaktion richtete er das leerstehende Kellergeschoß der Kirche ein – die alten, ausgedienten Kirchenutensilien und sonstiges Gerumpel ließ er wegschaffen. Zuerst besorgte er den Umbruch und das Korrekturlesen allein, aber da Hochwürden nicht allzu gelehrt war, mußte er sich den Luxus gestatten, einen versierten Redaktionssekretär anzustellen. Die Auflage war nicht hoch, die Zeitung rentierte sich nicht, doch Pater Coughlin zeigte sich in diesem Fall nicht knickrig und deckte den Verlust aus eigener Tasche. Hier, im Kellergeschoß der Kirche, arbeitete ein ganzer Schwärm von Maschinenschreiberinnen, die die zahlreichen Predigten Pater Coughlins abtippten. Selbst bei all seinem Geschick hätte Hochwürden jedoch kaum alles geschafft, was er sich aufgebürdet hatte, seitdem er Geistlicher war und sich dem Dienst an Gott dem Herrn verschrieben hatte. Aber geheime und einflußreiche Freunde des Pfarrers, Gönner, von deren Existenz die Kirchengemeinde in Royal Oak nicht die blasseste Ahnung hatte, nahmen Pfarrer Coughlin einen beträchtlichen Teil seiner Arbeit ab. Einer dieser Freunde des Provinzgeistlichen war ein gewisser Georg Silvester Viereck aus New York, dessen Namen der
alte Neger in seiner Beichte erwähnt hatte, als er sich anschickte, diese sündige Welt zu verlassen. Viereck gehörte zu jener Kategorie allmächtiger Gönner, die es nicht lieben, daß ihre Beziehungen, ganz gleich zu wem, an die große Glocke gehängt werden. Seine Verbindungen reichten von den Kongreßmitgliedern bis zu den Führern der American Legion, der Order of thew hite Camelia und anderer großer und kleiner faschistischer Organisationen, die vor dem europäischen Krieg in allen achtundvierzig Staaten – von California bis Texas und Illinois – wie Pilze aus der Erde schössen. Viereck war so liebenswürdig, Pater Coughlin nicht nur die Artikel für seine „Social Justice“, sondern auch fertige Predigttexte zu liefern. Coughlin brauchte in ihnen kein Wort abzuändern. Nur in einem war der Gönner unerbittlich – er verlangte von dem Pfarrer aus Royal Oak, daß er in eigener Person in Chicago oder New York die Materialien geistlichen Inhalts in Empfang nahm. Ebendeshalb mußte Pater Coughlin einmal monatlich ermüdende Reisen unternehmen, sich am Steuer seines himmelblauen Fords auf den Straßen durchrütteln lassen oder mit dem Flugzeug fliegen, sofern dies eine dringende Angelegenheit erforderlich machte. Gewöhnlich verschwand der Pfarrer auf zwei, drei Tage aus Royal Oak, um sodann mit einem eleganten, verschlossenen Köfferchen wieder aufzutauchen, das Predigten, Artikel und Dollarpäckchen für unvorhergesehene Ausgaben enthielt. Auch das war Busineß. Allmählich fand Hochwürden Geschmack an der politischen Tätigkeit und entfaltete eigene Initiative, indem er manchen Artikel aus der Zeitung „National America“ nachdruckte. Die Richtung dieser Zeitung, auf die Pater Coughlin sein Augen-
merk gelenkt hatte, kennzeichnete am besten das Hakenkreuz, das ihre erste Seite zierte. Pater Coughlin veröffentlichte die Artikel eines anderen Charles, des einstmals berühmten Fliegers Lindbergh, und druckte nach besonderer Auswahl und auf den verbindlichen Rat Vierecks hin die Reden einzelner Senatoren. Einmal hatte er Gelegenheit, einen aus Berlin geschickten Artikel von Doktor Goebbels in seiner Zeitung aufnehmen zu können, doch er zog es vor, ihn mit seiner Unterschrift zu versehen – Pater Coughlin hatte immerhin ein Gewissen: Er wollte sich nicht nachsagen lassen, daß er Beziehungen zu einer ausländischen Macht unterhalte. Bei all seiner Vorliebe für politische Themen vermied es Coughlin aber doch, seine Tätigkeit über die geistliche Sphäre auszudehnen. Sogar die Idee, bewaffnete Abteilungen nach dem Muster der Hitlerschen SA aufzustellen – sie stammte von Viereck –, kleidete der Pfarrer in eine rein religiöse, gegen Juden und Kommunisten, die Hauptzerstörer des katholischen Glaubens, gerichtete Bewegung. Der Geistliche aus Royal Oak machte kein Hehl aus dem Vorhaben, bewaffnete geistliche Heerscharen auf die Beine zu stellen. Er war auch dreist genug, im Mikrofon Vorhersagen zu machen. So versicherte er den Rundfunkhörern, daß die zu Ehren des himmlischen Vaters entzündeten kleinen Flammen binnen Jahresfrist in allen Staaten zu einem einzigen nationalen Feuer auflodern würden, in dem die morsche Demokratie ihr Ende finde. Der Rundfunkprediger bediente sich häufig verschiedener Gleichnisse und Bibelsprüche, doch allem, was er sagte, lag der Hauptgedanke zugrunde, daß Amerika für die Rettung seiner Seelen eines allmächtigen Hirten vom Typ Hitlers oder
zumindest vom Typ General Francos bedürfe. Nur deren Systeme führten geradewegs ins Himmelreich. In Amerika kann jeder sagen, was er will, dachte Coughlin. Etwas anderes wäre es, wenn herauskäme, daß hinter ihm ein anderer stand, nämlich besagter Viereck. So naiv war Coughlin nicht, daß er nicht wußte, woher Viereck das Geld nahm und warum er dem Pfarrer aus der Provinz solche Beachtung schenkte. Klar, daß er für die Deutschen, für Hitlerdeutschland arbeitete. Nun, wie dem auch sei, Viereck zahlte nicht schlecht. Coughlin beunruhigte etwas anderes. Wenn der dunkelhäutige Alte, der Mann der Wäscherin, in der Beichte solche Dinge erzählte, hieß es aufpassen. Die Situation konnte höchst bedenklich werden, wenn das Gerücht aufkäme, der Pfarrer der Little-Flower-Kirche unterhalte Beziehungen zu einem deutschen Residenten. Das sähe die Polizei bereits mit anderen Augen an, und da konnte einer leicht auch hinter Schloß und Riegel kommen. Von sorgenschweren Gedanken erfüllt, langte Pater Coughlin auf dem Flugplatz an, stellte den Wagen bei einem befreundeten Farmer unter, löste eine Flugkarte und betrat einige Stunden später, einen leichten Schwindel im Kopf, die Halle des New Yorker Flughafens. Ohne Zeit zu verlieren, begab sich Pater Coughlin zunächst nach Riverside Drive, da er hoffte, Viereck zu Hause anzutreffen. Im allgemeinen hatte es Viereck verboten, ihn in seiner Wohnung aufzusuchen, aber dieser Vorfall fiel derart aus dem Rahmen, daß es der Pfarrer wagte, gegen die Anordnung zu verstoßen. Im Februar wird es in New York früh dunkel, und die Straßenbeleuchtung flammt zeitig auf. Ein kalter, böiger Wind
wehte. Wer sollte schon bei diesem Wetter auf den Mann achten, der im nächstgelegenen Drugstore einkehrte? Coughlin setzte sich an ein Tischchen und bestellte ein Glas angewärmtes Bier. Während der Provisor hinter einem Glasschrank mit Fläschchen verschwand, ging Coughlin ans Telefon, nahm den Hörer ab und wählte eine Nummer. Eine Kinderstimme entgegnete ihm munter mit auswendig gelernten Sätzen, Mister Viereck sei noch nicht zu Hause. Wann er zurückkäme, sei unbestimmt. Es könne spät werden… Auf Wiederhören! Coughlin trank das Bier aus, warf sich eine Handvoll gebrannte Salzmandeln in den Mund, zahlte und trat wieder auf die Straße. Ja, er hätte vom Flugplatz aus anrufen sollen. Daß er nicht auf diesen naheliegenden Gedanken gekommen war! Wo sollte er jetzt Viereck suchen? Natürlich konnte er alles bis morgen aufschieben, aber besser wäre es schon, die Sache käme heute ins reine. Schließlich besann sich Coughlin, daß Viereck bei der Firma Romanov-Caviar sein konnte, einem Großhandelsunternehmen, das mit Kaviar und Fisch handelte. Inhaber der Firma war der russische Weißgardist Danila Romanov, ein ehemaliger Astrachaner Kaufmann. Seines hohen Alters wegen hatte er sich von den Geschäften zurückgezogen, den Betrieb leitete sein Sohn, ein schwächlicher Gentleman mit vorzeitiger Glatze, verlebtem Gesicht und herunterhängenden Mundwinkeln. Jedesmal, wenn Coughlin im Kontor der Firma Romanov-Caviar war, hatte er dort Viereck angetroffen. Der Boß ließ ihm aus unerfindlichen Gründen das Geld über diese Firma zugehen. Pater Coughlin steckte also zwei Finger in den Mund, pfiff
forsch einem vorüberfahrenden Taxischofför und bat, ihn möglichst schnell an Ort und Stelle zu bringen. Von seinen Sorgen erfüllt, hatte der Pfarrer aus Royal Oak nicht bemerkt, daß ihm aus dem Drugstore ein breitschultriger Mann gefolgt war. Als der Geistliche den Schlag des Taxis zuwarf, bestieg auch der Unbekannte einen Wagen, der urplötzlich aufgetaucht war, und fuhr dem Taxi nach. Das Kontor der Firma Romanov-Caviar betrat Pater Coughlin vom Hof her, auf dem sich Kisten und alte Fässer türmten, denen der Geruch von Dörrfisch entströmte. Ihn empfing Romanov junior. Bevor Andrew, wie sich der junge Romanov nannte, aufmachte, sah er durch das Guckloch in der Tür. Als er in dem späten Gast Pater Coughlin erkannte, wunderte er sich keineswegs. Er erwiderte, Mister Viereck sei leider nicht da, aber wenn es ihm recht sei, könne Hochwürden mit Herrn von Gienant sprechen. Später würde vielleicht Viereck noch vorbeikommen, im Augenblick sei er im Verlag Flanders Hall. Andrew, mit verdächtig rosigem Gesicht, war süßlich zuvorkommend und ungewöhnlich gesprächig. Er roch nach Wein. Andrew hatte Pater Coughlin oft in der Gesellschaft Vierecks gesehen und hielt ihn für einen der Ihren. Mit unsicherer Hand faßte er den Geistlichen um die Schulter und führte ihn durch den Lagerraum ins Kontor. Genau wie auf dem Hof verfolgte den Geistlichen auch hier ein penetranter Fischgeruch, nunmehr allerdings mit dem scharfen Geruch von Druckerschwärze vermischt. Dieser Geruch ging von den zahlreichen verschnürten Päckchen aus, die nicht nur im Korridor, sondern auch in zwei geräumigen, halb unter der Erde gelegenen niedrigen Gewölben gestapelt
waren. Breite Tische, deren Platten mit Linoleum belegt waren, zogen Coughlins Aufmerksamkeit auf sich. An ihnen arbeiteten Frauen in blauen Schürzen und Kittelhosen. Die einen klebten Adreßetiketten auf Umschläge, die anderen legten in die Umschläge Druckschriften, die sie aufgerissenen Päckchen entnahmen, wieder andere klebten die Umschläge mit geschickten, sparsamen Bewegungen zu und warfen sie in Zeltbahnsäcke. All das erinnerte eher an eine Abteilung des städtischen Postamtes als an ein Kaviar- und Fischgroßhandelslager, wie sich das Unternehmen auf dem Firmenschild mit der Abbildung eines Goldsterlets nannte. Andrew hatte den Blick Coughlins aufgefangen und deutete mit dem Kopf auf die Frauen. „Manche sind einfach süß, wirklich süß.“ Er seufzte. Im Kontor saßen hinter einer Glastrennwand der deutsche Konsulatsangestellte von Gienant und ein Mann mit finsterem Gesicht. Auf dem Tisch standen eine angebrochene Flasche Whisky und ein Siphon mit Sodawasser. Von Gienant sah enttäuscht auf die Eintretenden – er hatte Viereck erwartet. „Na, was gibt’s Neues?“ fragte er Coughlin, statt ihn zu begrüßen. „Wollen Sie einen Whisky?“ „Ja, Neues gibt es schon“, antwortete Coughlin ausweichend mit einem Blick auf den Fremden. „Ich suche Mister Viereck.“ „Sie können offen sprechen. Darf ich bekannt machen – Herr Hansen. Mister Romanov, sehen Sie doch nach, ob die Post fertig ist.“ Er sprach im Ton eines Mannes, der etwas zu sagen hat.
Als Romanov junior gegangen war, fragte von Gienant: „Na, was ist passiert?“ Coughlin berichtete kurz über die Tagesereignisse und über die Beichte des alten Negers. „Hm, ja!“ Von Gienant trommelte mit den Fingern auf den Tisch. „Hoffentlich haben Sie sich die Adresse dieses Niggers geben lassen.“ „Die vom Sohn? Ja, die hab ich.“ „Telegrafieren Sie ihm, er soll zu seinem Papachen kommen. Herr Hansen, veranlassen Sie das Nötige, das fällt in Ihr Ressort.“ Ein energisches Klingeln ließ die im Kontor Anwesenden aufhorchen. Gleich darauf kam Viereck ins Zimmer gestürmt. Er machte einen bestürzten Eindruck. Mit Erstaunen nahm er Coughlin wahr und reichte ihm die Hand. „Sehr gut, daß Sie hier sind, Hochwürden! Ich wollte Sie ohnehin rufen… Aber entschuldigen Sie, wir lassen Sie für ein paar Minuten allein. Gienant, darf ich bitten?“ Von Gienant stand auf, leerte sein Glas und entfernte sich mit Viereck. Sie gingen in eine Ecke jenseits der Glaswand. „Was sucht der Pfaffe hier?“ fragte Viereck. „Jemand hat über die Christian Front aus der Schule geplaudert. Man sagte, Sie seien der Inspirator Coughlins.“ „Und was meint der Pfaffe dazu?“ „Er ist in Panikstimmung. Zittert um seine Haut und fürchtet, es könnte herauskommen, daß die Ideen nicht von ihm stammen. Er ist ehrgeizig wie ein Pudel.“ „Er möchte gern ein katholischer Napoleon sein… Übrigens davon später. Es gibt ernstere Dinge. Lesen Sie!“
Viereck hielt ihm ein Telegramm hin, das ihm unter dem Decknamen Simon Grave zugegangen war und von den Bermudainseln kam. Von Gienant überflog den Inhalt: „Harry nicht nach Lissabon gefahren, bei Tante Polly aufgehalten. Kuß Nelly.“ „Was heißt das?“ Von Gienant las das Telegramm noch einmal. „Was für eine Polly?“ „Das begreift doch jedes Kind: Das Paket an Ihren ehrenwerten Juaneras Jainingero ist nicht zugestellt worden, die britische Zensur hat es beschlagnahmt. Verstehen Sie jetzt?“ „Wie konnte das geschehen?“ fragte von Gienant betroffen. Die höchst peinlichen Folgen dieses Malheurs standen deutlich vor seinen Augen. „Das hätte man sich früher überlegen sollen.“ Viereck zerknüllte das Telegramm und steckte es in die Tasche. „Anstatt die normale diplomatische Post zu benutzen, haben Sie sich zusammen mit Westrick ein idiotisches Strohmännersystem ausgedacht. Der armseligste Spitzel an der Straßenecke weiß, daß Jainingero ebensowenig ein Portugiese ist wie Sie und ich, jeder weiß, daß er der deutsche Konsul in Lissabon ist. Jetzt löffeln Sie die Suppe, die Sie sich eingebrockt haben, gefälligst selber aus!“ „Aber wir können doch solche Schriftstücke nicht mit der diplomatischen Post schicken. Man würde uns sofort beschuldigen, wir mischten uns in die inneren Angelegenheiten der Vereinigten Staaten ein.“ „Zum Teufel mit Ihrer Vorsicht! Wer glaubt schon, daß wir uns nicht in ihre Angelegenheiten einmischen? Wer? Jetzt können Sie Ihre Koffer packen, man wird Sie als lästigen Ausländer ausweisen.“
„Aber Sie haben das Paket doch selber abgeschickt.“ Von Gienant suchte auf jeden Fall die Verantwortung von sich abzuwälzen. „Und was hätte ich tun sollen? Das Paket etwa selber zu Doktor Dieckhoff nach Berlin bringen? Meinen Sie das? Ich danke ergebenst!“ Viereck war außer sich über die Bemerkung von Gienants. Am Ende schob der ihm noch die Schuld in die Schuhe… Von Gienant wollte die Sache nicht weiter zuspitzen. „Wir wollen uns nicht streiten“, .sagte er. „Senator Holt muß sofort gewarnt werden, sonst gibt es einen Skandal.“ „Dazu darf es auf keinen Fall kommen!“ entgegnete Viereck, nun schon etwas ruhiger. „Das würde heißen, die zwei Dutzend Senatoren und Kongreßmitglieder aufscheuchen, die in der amerikanischen Regierung für uns arbeiten.“ „Das stimmt, aber im Paket waren doch die Fahnen seines Buches – seine gesammelten Senatsreden. Und wenn nun bekannt wird, daß ein amerikanischer Senator sein Buch, bevor er es drucken läßt, zur Bestätigung nach Berlin schickt? Das wäre ein Skandal!“ „Nun, Ihnen ist der Inhalt des Pakets vermutlich besser bekannt“, sagte Viereck ironisch, „Sie selbst haben ja für den Senator die Reden geschrieben. Zum Teufel mit Senator Holt, es werden sich andere finden, die im Kongreß Ihre literarischen Ergüsse verlesen. Viel schlimmer ist was anderes – selbst ein ganz mittelmäßiger Untersuchungsrichter wird dahinterkommen, daß die Fahnen im Verlag Flanders Hall gedruckt wurden. Auf jeden Fall habe ich angeordnet, den Satz einzuschmelzen und alle Abzüge zu vernichten. Aber was ist das schon? Der Verlag kann jeden Augenblick auffliegen. In
den nächsten Tagen wird bekannt werden, daß Flanders Hall, die solide amerikanische Verlagsanstalt, nur eine Filiale des deutschen Propagandaministeriums ist. Das ist ernster als alles andere… Sie wissen, wieviel Mühe es gekostet hat, diesen Verlag aufzubauen! Wo hätten Sie all die Reden der Kongreßmitglieder Fish, Hofman, Lundeen, Nye und schließlich die von Lindbergh gedruckt – meine Finger reichen nicht aus, um alle aufzuzählen?“ Viereck hatte sich wieder in Wut geredet. „Ist übrigens die Rede von Senator Fish versandfertig?“ fragte er. „Sie haben noch drei Stunden zu tun. Ich denke, sie schaffen’s bis zur Morgenpost. Es sind immerhin hundertvierzigtausend Anschriften.“ „Schade, daß es nicht mehr sind. Schließlich kostet es uns nichts. Der amerikanische Kongreß geht daran nicht zugrunde.“ Viereck lachte selbstgefällig. Es war seine Idee gewesen, das Propagandamaterial unter den Namen der Kongreßmitglieder zu versenden, deren Korrespondenz portofrei war. Die von ebendiesem Fish oder Lundeen im Kongreß gehaltenen und in der deutschen Botschaft ausgearbeiteten Reden wurden in Hunderttausenden Exemplaren versandt. „Und doch kostet uns das nicht wenig. Haben Sie mit Fish abgerechnet? Was stand in seiner letzten Rede?“ „Das, was wir brauchen. Er fordert Nichteinmischung. Er hat den Kongreß aufgerufen, Neutralität in den europäischen Angelegenheiten zu wahren und den Engländern keine Hilfe zu leisten… Seien Sie also nicht geizig, Gienant. Die Ausgaben haben sich bisher bezahlt gemacht. Das letztemal hat Hamilton Fish zwölftausend Dollar bekommen. An Brief-
marken sparen wir bedeutend mehr ein.“ „Ja, aber in einem halben Jahr hat er uns allein über die Firma Romanov-Caviar nach und nach an die dreißigtausend Dollar abgeknöpft. Das ist nicht wenig.“ „Und wennschon. Jedenfalls legen wir in die Postsendungen der amerikanischen Kongreßmitglieder unseren Inhalt!“ Viereck sah von Gienant ironisch an. „Übrigens brauchen wir unsere Verdienste um die Propagierung des Nationalsozialismus in Amerika nicht zu überhöhen und aufzubauschen. Seien Sie überzeugt, er entwickelt sich in den Staaten auch ohne unsere Hilfe. Bestenfalls beschleunigen wir den Prozeß. Glauben Sie mir, man muß einem Henry Ford oder diesem Lindbergh nicht erst suggerieren, daß sie einen Führer brauchen, sie träumen selber davon. Deshalb ist es für uns so leicht, hier zu arbeiten… Warten Sie, warten Sie!“ Viereck wehrte von Gienant ab, der ihm widersprechen wollte. „Ich weiß schon, was ich rede. Meine Schlußfolgerung ist für mich von praktischem Wert – in meiner Arbeit stütze ich mich in erster Linie auf die Amerikaner selbst.“ „Was machen wir nun aber mit dieser Paketgeschichte? Wir müssen unbedingt einen diplomatischen Skandal vermeiden.“ Aus von Gienant sprach der vorsichtige Diplomat, der internationale Verwicklungen befürchtet. „Ich habe einen Plan. Dazu muß ich umgehend mit Gerhard Westrick zusammentreffen.“ „Das ist unmöglich! Der in Washington akkreditierte Handelsattache des Deutschen Reichs hat andere Aufgaben. Daß Sie, Herr Viereck, mit Ihrem Ruf sich mit Westrick treffen, war ja auch gerade das Richtige!“ „Aber Sie, Sie könnten doch leicht mit ihm in Verbindung
treten“, ließ Viereck nicht locker. „Er lebt schließlich nicht am anderen Ende der Welt, er wohnt hier in New York im Waldorf-Astoria-Hotel.“ „Ich wiederhole, daß das unmöglich ist. Wir dürfen nichts aufs Spiel setzen. Eine Zusammenkunft mit Ihnen könnte ihn kompromittieren.“ „Warum denn?“ fragte Viereck beleidigt. „Weil Sie Ihren Ruf nicht rein gehalten haben. Glauben Sie etwa, niemand weiß von Ihrer Arbeit?“ Von Gienant beugte sich zu Viereck vor. „Verglichen mit dem, was Herr Westrick in den Vereinigten Staaten tut, ist unser beider Wirken keinen Pfifferling wert. Mit Hilfe unserer amerikanischen Freunde bemüht er sich, im Kongreß das Leih-und-Pacht-Gesetz zu Fall zu bringen. Und das bedeutet, die Franzosen wie die Engländer bleiben ohne Waffenlieferungen. Ist Ihnen das klar? Das ist wohl ein bißchen wichtiger als der Zusammenbruch des Verlages Flanders Hall. Westrick ist im Begriff, erstrangige Beziehungen zu den Industriekreisen anzubahnen.“ „Um so mehr.“ „Nein, nein, Sie dürfen mit ihm nicht zusammenkommen! Besonders jetzt nicht, nach dieser Paketgeschichte. Ich selbst vermeide es, mich bei ihm im Hotel sehen zu lassen. Sogar seine Post empfängt er unter einer Deckadresse.“ „Schön!“ Viereck wollte sich nicht ergeben, die übergroße Vorsicht des Diplomaten begann ihn rasend zu machen. „Bestellen Sie Herrn Westrick, daß ich ihn sprechen möchte. Soll er selber entscheiden. Setzen Sie ihm meinen Plan auseinander.“ Der Plan Vierecks, des geheimen Mitarbeiters der deutschen
Abwehr, bestand darin, in den Vereinigten Staaten eine weitere Organisation zu scharfen. Sie sollte die Industriellen vereinigen, die wirtschaftliche Interessen in Deutschland hatten. Viereck hatte sich bereits einen Namen für diese Organisation ausgedacht – America First. Vielleicht käme auch etwas anderes, Ähnliches in Frage, aber unbedingt etwas Patriotisches. War es doch sogar dem Kongreßmitglied Mister Fish gelungen, mit Vierecks Hilfe eine ähnlich geartete Vereinigung, das No Foreign Wars Committee, aufzuziehen. Das war eine Vereinigung für die Politiker. Noch größere Bedeutung hätte zweifellos eine entsprechende Vereinigung von Vertretern der Geschäftswelt. Es dürfte Herrn Westrick nicht schwerfallen, sich ihre Unterstützung zu sichern. „Hören Sie aufmerksam zu“, sagte Viereck, als er von Gienant seinen Plan auseinandersetzte. „Herr Westrick ist mit den Brüdern Dulles von der Rechtsanwaltfirma Sullivan & Cromwell befreundet. Diese unterhalten Beziehungen zu deutschen Banken. Es wird ihm ein leichtes sein, sich mit ihnen zu verständigen. Das ist sozusagen das nackte Schema. Die Einzelheiten werde ich ihm selbst mitteilen. Interessieren Sie Herrn Westrick für diesen Plan. Bedenken Sie, daß wir mit Hilfe der Industriellen – solcher Leute wie Du Pont oder unseres Freundes Ford – die Geschichte mit den Fahnenabzügen des Senators Holt aus der Welt schaffen können.“ Von Gienant hörte Viereck bis zu Ende an. Obwohl ihn der Plan interessierte, stimmte er mit der Zurückhaltung des Konsulatsangestellten nicht gleich zu. „Gut, ich werde es versuchen, aber erwarten Sie nicht allzuviel. Morgen werde ich mit Westrick sprechen. Der Beitritt zu der Vereinigung ist doch hoffentlich nicht mit solch einem
komplizierten Ritual verbunden wie die Aufnahme in Ihre Black Legion?“ „Wie meinen Sie das?“ „Nun, beispielsweise die Eidesleistung im finsteren Wald mit auf die Brust gesetztem Revolver, die Aushändigung einer großkalibrigen Kugel als Andenken und ähnliche Scherze.“ „Die Black Legion hat andere Aufgaben, sie soll vor allem den Kampf gegen die Gewerkschaftsfunktionäre führen. In ihren Reihen können wir keine schwachnervigen Zimperliesen gebrauchen.“ „Henry Ford kommt auch nicht gerade aus dem Mädchenstift der heiligen Jungfrau Maria… Aber gehen wir wieder zu den anderen. Der Pfaffe langweilt sich ohne Sie. Wozu brauchen Sie ihn eigentlich?“ „Wir brauchen Adressen für unsere Postsendungen. Spaß beiseite, in seiner Christian Front haben sich schon fünfundzwanzig- bis dreißigtausend Mordskerle zusammengefunden. Das nenn ich einen Pfaffen! So was gibt’s nur in Amerika. Jetzt dreht es sich bloß noch um die Ausrüstung mit Waffen. Einstweilen verwenden wir die Organisation zu anderen Zwecken: Jedes Mitglied der Christian Front ist für uns eine sichere Adresse, an die wir unsere Sendungen ohne Gefahr verschicken können.“ Viereck und von Gienant gingen in den durch die Glaswand abgeteilten Raum zurück, wo Coughlin und sein neuer Bekannter inzwischen die angebrochene Flasche Whisky geleert hatten. Viereck gab Pater Coughlin den Auftrag, die Postanschriften der Mitglieder der Christian Front zu sammeln, und bat ihn, am nächsten Morgen wiederzukommen, um die Predigttexte
abzuholen. Man findet in New York schwerlich ein Dutzend solcher fashionablen Hotels wie das Hotel Pennsylvania. Zum Unterschied von anderen Häusern dieses Typs stiegen im Pennsylvania nicht nur reiche Touristen aus Europa oder Geschäftsleute aus Chicago und San Francisco ab. Zuweilen wurden die mit allem Komfort und Pomp ausgestatteten Luxusappartements von Leuten für private Zusammenkünfte benutzt, die nicht die Aufmerksamkeit übermäßig neugieriger Reporter auf sich ziehen wollten. Eine solche Zusammenkunft fand hier auch an einem trüben Februartag des Jahres 1940 statt. Im Hotel Pennsylvania hatte sich eine kleine, erlesene Gesellschaft solider Geschäftsleute versammelt. Sie waren, wenn man ihre Kapitalien zusammenlegte, mindestens ihre fünfzehn Milliarden Dollar wert. Allein Lammot Du Pont, der Leiter des Konzerns Du Pont de Nemours & Co. der als Senior den Ehrenplatz eingenommen hatte, waltete über ein Kapital von über drei Milliarden Dollar. Anwesend war auch der kleine, gelbsüchtig aussehende Mister William Knudsen, Vizepräsident der General Motors Corporation. Es war derselbe Knudsen, der seinerzeit – ebenso zum Neid wie zum geheimen Entzücken der übrigen Anwesenden – ein Paket Aktien der Opel-Automobilwerke in Deutschland so günstig erworben hatte. An der Zusammenkunft nahmen ferner William Harrison, Präsident und Direktor der International Telephone-Telegraph Corporation, und Mister Davis, einer der Direktoren der Standard Oil Company, der größten Erdölgesellschaft der Staaten, teil. Außerdem
saßen am Tisch noch einige andere Präsidenten, Direktoren und Aufsichtsratsvorsitzende – insgesamt zwölf „Apostel“, die sich in dem fashionablen Hotel Pennsylvania zum „Abendmahl“ versammelt hatten. Unter den Teilnehmern gab es nur zwei Personen, die keine unmittelbare Beziehung zu dem exklusiven Clan der Millionäre hatten. Es waren dies die Chefs der bekannten Rechtsanwaltsfirma Sullivan & Cromwell, die äußerlich vollkommen verschiedenen Brüder Allan und John Foster Dulles. Sie wogen beide zusammen nicht einmal fünfhunderttausend Dollar, waren aber in die Kreise der Großindustriellen aufgenommen worden, wie aristokratische Familien dem Hausarzt oder dem Testamentsvollstrecker, denen man die Familiengeheimnisse und die verborgensten Gedanken anvertraut, Zutritt zu ihrem Haus gewähren. John Foster Dulles saß zwischen Knudsen und Harrison. Repräsentativ, die Haare glatt gekämmt, mit gepflegtem, gespannt-liebenswürdigem Gesicht, glich er einem Verkäufer aus einem Juweliergeschäft, der seinen Wert kennt. Allan Dulles, untersetzt und mit einem Durchschnittsgesicht, trug einen Schnurrbart; die wie bei einem Neandertaler stark hervortretenden bogenförmigen Brauen verliehen ihm den Ausdruck stumpfer Grausamkeit, obwohl auch er sich durch eine gute Auffassungsgabe und durch Scharfsinn auszeichnete. Statt eines Binders bevorzugte Allan Dulles eine Fliege, die mit einem dünnen Gummiband am Kragen befestigt war. Die Vorliebe für diese Art von Krawatte bekundete er seit dem tragischen Tod eines Mitarbeiters der Rechtsanwaltsfirma, der mit dem eigenen Binder erdrosselt worden war. Es war ein seltsames Zusammentreffen, daß sich im Hotel
Pennsylvania in der Mehrzahl gerade jene Mitglieder der allmächtigen National Association of Manufacturers of the United States versammelten, die sich vor zwei, drei Jahren, im November 1937, in ebensolcher Stille mit zwei deutschen Emissären, den Baronen Tippelskirch und Killinger, getroffen hatten. Diese Abgesandten Berlins hatten ihnen die Vorzüge des Naziregimes ausgemalt. Die amerikanischen Industriellen stellten unverblümte Fragen und erhielten ebenso unverblümte Antworten. Tippelskirch, der Generalkonsul in Boston war, entwickelte die Idee einer Zusammenarbeit der Vereinigten Staaten mit Deutschland und enthüllte verlokkende Aussichten, die sich beispielsweise durch die Beherrschung so riesiger, unerschöpflicher Märkte wie China und Rußland eröffneten. Et reizte und entfachte ihren Appetit. Die beiden Deutschen hatten auf der damaligen Zusammenkunft ihre Rollen verteilt. Killinger schilderte die Vorzüge der Innenpolitik des Nazireichs. In Hitlerdeutschland habe man die Kommunisten zum Kuschen gebracht, alle linken Utopisten säßen hinter Schloß und Riegel. Dem Klassenkampf sei nun im Dritten Reich jeder Boden entzogen. Demgegenüber solle man sich vor Augen halten, wieviel Unheil er in den anderen Ländern anrichte! Man nehme nur einmal Amerika. Wie süßeste Musik hatten die Worte der Deutschen in den Ohren der Besprechungsteilnehmer geklungen. Lammot Du Pont, der jetzt den Platz des Vorsitzenden einnahm, brachte damals die verborgenen Gedanken der Versammelten folgendermaßen zum Ausdruck: „Es muß unser Bestreben sein, uns unter Führung eines hervorragenden Staatsmannes zusammenzuschließen.“ Du Pont dachte dabei an einen eigenen amerikanischen Hitler. „Wir werden uns unseren deutschen
Freunden für jeden Dienst, den sie uns leisten können, erkenntlich zeigen.“ Den auf der damaligen Besprechung gefaßten Beschluß deponierte man im Panzerschrank der Familie Du Pont, aber die in ihm festgehaltenen Gedanken beherrschten auch die jetzige Tagung der Apostel der amerikanischen Geschäftswelt. In den verflossenen Jahren hatten sie immerhin einiges erreicht. Im ganzen Lande waren Organisationen von offen faschistischem Charakter entstanden, wie die Sentinels of the Republic, die Crusaders, die American Liberty League, die Christian Front, die Black Legion und andere. Die Millionärsapostel scheuten keine Mittel für geheime Zuschüsse. Auch die deutschen Freunde, die an der Faschisierung der Vereinigten Staaten von Amerika interessiert waren, gewährten Hilfe. Diesmal waren im Hotel Pennsylvania keine ausländischen Agenten anwesend. Die Amerikaner blieben unter sich. Beim Lunch hatte das Gespräch allgemeinen, unverbindlichen Charakter – es drehte sich um die Ereignisse in Europa, um die Marktkonjunktur und um den Krieg in Finnland, wo die Russen unerwartet die Mannerheimlinie durchbrochen hatten. Erst gegen Ende des Lunchs äußerte der alte Du Pont seine Meinung über die innere Lage in den Staaten. „Mit unserer Regierung“, sagte er, „muß man so verfahren, wie wir mit den Käufern von Mangelware sprechen. Wir müssen die Bedingungen und die Preise diktieren, wir, und nicht Präsident Roosevelt mit seinem New Deal. Unser Präsident leidet offenbar noch immer an den Folgen der Kinderlähmung, die er sich als erwachsener Mensch zugezogen hat. Ich glaube, Gentlemen, es wäre angebracht, daß wir heute unsere Gedanken austauschten.“
Nach dem Lunch, als alle in den Nebenraum hinübergegangen waren, um zu rauchen und den Mokka einzunehmen, wurde das allgemeine Gespräch wiederaufgenommen. Alle stimmten darin überein, daß die Regierung in der augenblicklich so günstigen Lage die nationalen Interessen der amerikanischen Geschäftswelt berücksichtigen müßte. Die Ereignisse in Europa böten die Möglichkeit, die amerikanischen Positionen zu stärken. Es sei nur nötig, die Neutralität geschickt zu handhaben und aus beiden kriegführenden Seiten zugleich Vorteile herauszuholen. Der Vertreter der Telephone-Telegraph sprach es noch offener aus, indem er sagte, Europa müsse die melkende Kuh sein. „Für uns muß Amerika an erster Stelle stehen“, bemerkte Lammot Du Pont und fügte in Gedanken hinzu: Es würde sich tatsächlich lohnen, mit den Deutschen eine Kartellabmachung zu treffen, wie sie Westrick vorschlägt. Wie er weiterhin ausführte, hielten sich die militärischen Kräfte in Europa die Waage und bestände guter Grund für die Annahme, daß der anglo-französische Block die deutsche Aggression mit Hilfe diplomatischer Einwirkung gegen den .Osten lenken werde. Der Vertreter von General Motors wandte mit der ihm eigenen Bissigkeit ein: „Dem Krieg wohnt eine Art Kettenreaktion inne. Aus einem symbolischen kann er sich eines Tages in einen realen Krieg verwandeln. Das ist gefährlich.“ Alle Teilnehmer der Zusammenkunft kannten die Beweggründe William Knudsens: Ihn beunruhigte das Schicksal der Opel-Werke, genauer gesagt, der in seinem Portefeuille befindlichen Aktien. Bei einem richtigen Krieg würden sich die
Werkanlagen in eine Zielscheibe für die anglo-französischen Bomberverbände verwandeln und damit die Aktien in wertloses Papier. Beträchtliches Interesse weckte bei den Besprechungsteilnehmern der Bericht John Foster Dulles’ über die letzten Neuigkeiten im internationalen Leben. Nach zuverlässigen Nachrichten aus dem State Department habe der unlängst in Paris zusammengetretene Oberste Kriegsrat der Alliierten den Beschluß gefaßt, englische und französische Landungstruppen in Stärke bis zu hundertfünfzigtausend Mann nach Finnland zu entsenden. Die Alliierten seien sich nur nicht darüber im klaren, ob Deutschland ihre Truppen nach Schweden und Norwegen passieren lassen würde. Ohne seine persönliche Meinung zu äußern, deutete John Foster Dulles an, daß die Alliierten von den Vereinigten Staaten auf dem Wege diplomatischer Verhandlungen mit Deutschland Hilfe erwarteten. Die Lage sei durch die Erfolge der Russen in Finnland erschwert, die die Mannerheimlinie durchbrochen hatten. Man müsse sich beeilen. Angesichts dieser Situation war der Gedanke naheliegend, einen Vertrauensmann nach Europa zu schicken, der sich umschauen, umhören und sowohl mit den Deutschen als auch mit den Franzosen, Italienern und Engländern sprechen, vor allem aber ihnen klarmachen würde, daß ihre gemeinsamen Interessen im Osten, in Rußland, liegen. Draußen begann es zu dämmern. Die Kellner trugen schwere Leuchter herein und stellten sie auf den großen Verhandlungstisch, an dem die zwölf Apostel wieder Platz genommen hatten. Man überlegte, wer für die Mission in Europa in Frage käme,
und einigte sich auf die Kandidatur von Mister Sumner Welles, der sich in jeder Beziehung dazu eignete. „Wir bitten Sie, Mister Dulles“, wandte sich Lammot Du Pont an John Foster Dulles, den älteren der beiden Brüder, „setzen Sie unseren Standpunkt Welles oder was weiß ich wem auseinander, den der Präsident bevollmächtigt, diese europäische Mission zu erfüllen. Er möge nach Berlin fahren…. äh, äh, äh…. und dort den richtigen Mann davon überzeugen, daß die Alliierten nicht daran gehindert werden sollten, Truppen nach Finnland zu werfen. Er muß sich überlegen, wie wir uns das osteuropäische Bollwerk gegen die Bolschewisten erhalten. Natürlich darf Mister Welles seinen eigenen Standpunkt haben, aber mit unserer Meinung“, Du Pont breitete die Arme weit aus, „mit uns muß er immerhin rechnen.“ „Sollte er vielleicht nicht auch nach Moskau fahren?“ fragte jemand am Tischende gedankenlos. Alle sahen ihn an wie einen Schwerverbrecher. Der Präsident der National Association of Manufacturers, der energische Mister Giordano, ein Amerikaner italienischer Herkunft, schloß die Beratung mit den Worten: „Wir sind Geschäftsleute, Gentlemen, und im vorliegenden Fall bewegen uns keine weltanschaulichen Motive. Wir müssen die eigenen Interessen verteidigen, die eigenen Perspektiven sehen. Selbst wenn England mit unserer Hilfe aus diesem Kampf ohne Niederlage hervorgehen sollte, wird es wirtschaftlich so arm sein, so sehr an Prestige verloren haben, daß der Gedanke völlig irreal wäre, es könnte seine dominierende Stellung in der Weltpolitik wiedererlangen und behaupten. Es wird bestenfalls die Rolle des Juniorpartners in dem
neuen System der anglo-amerikanischen Zusammenarbeit spielen, dessen Zentrum die militärische und maritime Macht der Vereinigten Staaten von Amerika sein wird.“ Der jüngere Dulles saß nicht an dem gemeinsamen Tisch, sondern abseits in einem tiefen Sessel. Er zog an einer geraden englischen Pfeife und ließ sich nichts entgehen. Ihn als stillen Beobachter erinnerte das „Abendmahl“ an ein Gemälde von Rembrandt – an was für eins, wußte er nicht mehr. Derselbe gedämpfte dunkle Hintergrund, von dem sich im flackernden Kerzenschein nur die Gesichter und die weißen Vorhemden abhoben. Allan Dulles wartete darauf, daß der Präsident der Association auf seinen Vorschlag zu sprechen kam. Er hatte die Sache doch nicht etwa vergessen? Die Zusammenkunft näherte sich dem Ende, aber das neu zu gründende Komitee war bislang nicht erwähnt worden. Giordano hatte indes den Vorschlag des Rechtsanwalts keineswegs vergessen. Er sollte den logischen Abschluß der Besprechung bilden. Deshalb hatte ihn der Präsident bis zum Schluß aufgehoben. Nun dankte er Allan Dulles für die patriotische Idee, das America First Committee zu gründen und bat ihn, sich im weiteren der Mühe zu unterziehen, die notwendigen Formalitäten zu erledigen. Die Vereinigung mußte doch registriert werden; das würde sicherlich das Rechtsanwaltsbüro Sullivan & Cromwell übernehmen. Giordano wandte sich an die Besprechungsteilnehmer mit der Bitte, die neue Vereinigung zu unterstützen. Er selbst trug sich als erster mit einer vierstelligen Zahl in die Spendenliste ein. Die Liste wanderte von Hand zu Hand. Zum Schluß enthielt sie zwölf Unterschriften einschließlich der Schnörkel der
Brüder Dulles. So finanzierten die Apostel die neue Organisation, die allerdings erst später in aller Öffentlichkeit aus der Taufe gehoben wurde. Ihre Leitung übernahm der pensionierte General Robert Wood, ein Chicagoer Unternehmer, der kein Hehl aus seiner prodeutschen Einstellung machte. Bennet Stevens, little Ben, wie ihn seine Freunde nannten, stand in dem Ruf, ein mittelmäßiger Detektiv zu sein. Er war einer der fünfzehntausend Mitarbeiter, die damals in den Listen der FBI, der Geheimen Bundespolizei, geführt wurden. Stundenlang stand er im Regen auf der Straße, um seinem Chef melden zu können, daß Mister Soundso sich in der und der Bar aufgehalten habe und hierauf sichtlich angeheitert nach Hause gefahren sei. Aber Bennet Stevens, der die Nummer siebenhundertzwölf hatte, vertraute unverzagt seinem Schicksal. Besonderes Vertrauen zu seinem Glücksstern erfüllte ihn, als ihm sein Chef die Beobachtung der Wohnung eines gewissen Georg Silvester Viereck, 305 Riverside Drive, übertrug. Der G-Man bekundete in diesem Fall zum erstenmal Initiative. Mit schüchternem Lächeln, als spreche er mit seiner heimlichen Flamme, sagte er zu seinem Chef: „Mister Catchel, würden Sie mir auch erlauben, die nächsten Telefone zu beobachten? In einem Drugstore und einer Nachtbar in der Nähe gibt es Apparate. Vielleicht kommt jemand auf den Gedanken, Viereck anzurufen, bevor er in die Wohnung geht.“ Catchel sah ihn an und brummte: „Oh, ich sehe, du hast Köpfchen. Bei Gott!“ Er legte das angebissene Frühstücksbrot in sein Schreibtischfach und wisch-
te sich die Lippen ab. „Du übernimmst den Drugstore, in die Bar schicke ich einen anderen… Tüchtig! Daß du wie’n Kalb aussiehst, hat anscheinend nichts zu sagen.“ Catchel sprach mit tiefer, heiserer Baßstimme. Die Stimme entsprach seinem Äußeren. Er war ein rothaariger Dickwanst mit kurzem Hals und farblosen Brauen. Auf seinen Backen und dem Nasenbein schimmerten dichtgesät bräunliche Sommersprossen. Das Gespräch erfolgte just an dem Tag, an dem Pater Coughlin den Drugstore aufsuchte, um sich telefonisch mit Viereck in Verbindung zu setzen. Der G-Man folgte ihm bis zur Firma Romanov-Caviar. Gähnend und fluchend stand er bis Mitternacht im Hauseingang, als drei Männer herauskamen. Ben fuhr ihnen im Wagen nach. Zwei stiegen vor einem Hotel aus, während der dritte, der am Steuer saß, zur Riverside Drive fuhr und vor dem Haus Nummer dreihundertfünf hielt. Am nächsten Morgen ging Ben nicht ins Büro, er läutete frühmorgens seinen Chef an und drückte sich dann in der Hotelhalle herum. Dort entdeckte er seinen Mann. Wie ein unsichtbarer Schatten begleitete er ihn zur Firma RomanovCaviar und hierauf zum Flugplatz. Ben wartete ab, bis das nach Michigan fliegende Flugzeug aufgestiegen war. Danach begab er sich ins Büro. Er füllte einen Ermittlungsbogen aus, fügte ihm mehrere Aufnahmen von einem Mann mit Hut bei, den dieser tief ins Gesicht, bis auf die schiefe Boxernase gezogen hatte, und ging zum Chef. Catchel empfing den Detektiv in derselben Pose wie am Tage zuvor. Er kaute sein Frühstücksbrot und starrte den G-Man Nummer siebenhundertzwölf erwartungsvoll an. „Nun?“
Stevens überreichte ihm den Ermittlungsbogen mit den Fotos und berichtete über die Ereignisse der verflossenen Nacht und am Morgen. Er sprach ohne besonderen Eifer, denn er war nicht ganz sicher, daß sein Bericht den Chef interessierte. Das schüchterne Lächeln wich nicht von seinem Gesicht. Catchel hörte ihn bis zu Ende an, überflog den Ermittlungsbogen und betrachtete die noch feuchten Abzüge. Das dauerte ziemlich lange. Schließlich lehnte er sich im Stuhl zurück und sah den G-Man begeistert an. „Du weißt ja noch gar nicht, my boy, was du gestern entdeckt hast! Ein Goldjunge bist du, verdammt noch mal! Ich möchte wetten, daß das Pater Coughlin ist!… Na, wir werden das sofort haben.“ Der Chef rief die Sekretärin an. „Bringen Sie die Akte Black Legion, aber schnell! Und du, my boy, warte einstweilen nebenan, ich werde dich rufen.“ Eine Viertelstunde später war Ben wieder im Zimmer des Chefs. „Sieh mal her! Kennst du den?“ Catchel deutete auf das Bild des Pfarrers, das ihn während einer Predigt in der Kirche zeigte. Das Gesicht kam Ben zwar bekannt vor, aber er hätte nicht beschwören können, daß es derselbe Mann war, den er am Morgen von New York hatte abfliegen sehen. Der Chef bemerkte, daß der G-Man schwankte. „Und nun guck noch mal her!“ Mit einem Blatt Papier bedeckte er die zum Himmel emporgehobenen Arme des Priesters, die Soutane und das Kreuz auf der Brust. In dem so entstandenen Ausschnitt war nur noch das Gesicht vom Kinn bis zu den buschigen Brauen
über den durchdringenden Augen zu sehen. Ben hatte nunmehr dasselbe Gesicht vor sich wie auf der Aufnahme, die er vor einigen Stunden gemacht hatte. „Na, erkennst du ihn jetzt?“ Catchel lachte laut auf, zufrieden über das Erstaunen des G-Mans. „Natürlich ist das der Pfaffe Coughlin aus Royal Oak. Ein alter Bekannter, er hat in der Black Legion gearbeitet… Jetzt hat er sich also Viereck angeschlossen. So, so! – Ich sage dir, my boy, du hast in den letzten Tagen nicht umsonst gelebt.“ Catchel gehörte zu den alten, ihrer Sache treu ergebenen Beamten, die viele Jahre Dienst in der Kriminalpolizei auf dem Buckel hatten. Für ihn zerfielen die Erdenbewohner in zwei ungleiche Teile – in den der Ehrlichen, die es mit allen Mitteln zu schützen galt, und in den der Unehrlichen, gegen die er kämpfte, um den größeren Teil der Menschheit vor ihnen zu bewahren. Der politische Sinn, der hinter den ihm übertragenen Fällen steckte, interessierte Catchel nicht. Er ging in seiner Arbeit auf, konnte nächtelang, ohne zu schlafen, verwickeltste Fäden entwirren und löste die schwierigsten Aufgaben, nur um Zu beweisen, daß es für ihn, Catchel, keine ungeklärten Fälle gab. Das war der Sinn seines Lebens, seiner Ehre und seines Berufsstolzes. In der FBI war Catchel noch nicht sehr lange, aus der Kriminalpolizei hatte er den Geist sportlicher Leidenschaft und glühenden Eifer mitgebracht. Den Agenten Nummer siebenhundertzwölf sah sich Catchel mit der Zeit genauer an. Er gewann immer mehr den Eindruck, daß Stevens alle Anlagen für einen guten Detektiv besaß. Sein Äußeres entsprach zwar nicht der Vorstellung, die man sich von diesem Beruf machte, aber das war sogar
besser. Einem solchen Kalb, das aus jedem Anlaß rot und verlegen wurde, traute schwerlich jemand eine ernstere Beschäftigung zu. Am selben Tag stürmte Ben, zu Hause angekommen, wie der Wind in die Küche, wo seine Mutter am Kochherd stand. „Mutti, Sieg, Sieg, Sieg!“ schrie er von der Schwelle her, faßte seine Mutter an den Händen und wirbelte mit ihr durch die Küche. „Jetzt ist es sicher, daß wir uns eine Ranch kaufen können! Stell dir vor, Mutti, der Chef hat mich gelobt und hat gesagt, aus mir wird einmal ein richtiger G-Man. Er will mir einen selbständigen Fall übertragen, hörst du, Mutti?“ Die Mutter befreite sich aus den Armen des Sohnes und antwortete, ungläubig lächelnd: „Laß, Ben, hör auf zu phantasieren! Das erzählst du mir nicht zum erstenmal.“ „Nein, nein, Mutti! Diesmal steht es fest. Du wirst sehen, ich bekomme Gehaltszulage. Ich hatte den Einfall, einen Drugstore zu beobachten… Der Chef sagt, ich sei ein Glückspilz… Gratuliere mir und gib mir schnell was zu essen. Ist Vater noch nicht zu Hause? Und Ludwig?“ „Vater wird bald kommen. Hilf mir den Tisch decken, aber wasch dir zuerst die Hände. Du bist von draußen gekommen.“ Bei den Stevens sprachen die Kinder mit der Mutter deutsch, Nur in Gegenwart des Vaters bedienten sie sich der englischen Sprache. Amalie Stevens geborene Wilamzek war bereits vor 1914 nach den Staaten ausgewandert. An Deutschland erinnerte sie sich nur noch dunkel, hielt sich aber ungeachtet ihrer amerikanischen Staatsangehörigkeit weiter für eine Deutsche und sorgte dafür, daß Ben und Ludwig ihre
Muttersprache beherrschten. In Deutschland hatte Amalie bei Berlin Verwandte. Obwohl sie sie nicht persönlich kannte, kamen lange Zeit hindurch zu Ostern und Weihnachten regelmäßig Glückwünsche aus Europa. Nach dem Tode des Vaters riß aber die letzte Verbindung mit dem Vetter ab. Und nun hatte sie schon seit Jahren keine Nachrichten mehr. Dalbert Stevens, der Familienvater, war irischer Abstammung. Er war ebenfalls vor dreißig Jahren über den großen Teich gekommen, hatte ebenfalls keine Verbindung mehr mit der Heimat, hielt sich aber zum Unterschied von seiner Frau für einen hundertprozentigen Amerikaner. Die Kinder hatten von ihm die weiche irische Aussprache und einige vermutlich den überseeischen Vorfahren eigene Charakterzüge. Die Familie Stevens hatte keinen Grund, mit dem Schicksal zu hadern. Sie lebte in guten Verhältnissen. Ihre Wohnung lag unweit des Hafens, was für Vater und Ludwig, die beide in den Docks arbeiteten, sehr bequem war. Und wenn Ben auch einen langen Anfahrtsweg zur Arbeitsstätte hatte, so waren für ihn als Jüngsten in der Familie diese Fahrten nicht weiter beschwerlich. Der Verdienst der drei männlichen Familienmitglieder reichte zwar zum Leben, aber für den Ankauf eines Häuschens irgendwo am Fluß mit einem Stück Land hatte es bisher nicht gelangt. „Dalbert’s Hall“, wie sie ihre Ranch zu Ehren des Vaters bereits im voraus getauft hatten, war der Wunschtraum der ganzen Familie. Deshalb verband Ben, der sich nicht durch sonderlichen Ehrgeiz auszeichnete, seine berufliche Karriere vor allem mit dem Traum vom Landhaus. Die Ereignisse, die dem jüngsten Stevens das sichere Gefühl
gaben, jetzt endlich seinen Weg zu machen, hatten sich an einem Freitag abgespielt. Sie fanden am darauffolgenden Montag ihre Fortsetzung. Mister Catchel ließ den G-Man Nummer siebenhundertzwölf wieder zu sich kommen und übertrug ihm die Untersuchung eines Unfalls, dem der Neger John Hunt, siebenundzwanzig Jahre alt, in der Nähe der Stadt Royal Oak auf der Eisenbahnstrecke zum Opfer gefallen war. An sich war der Fall uninteressant – wen regte es schon auf, daß ein Neger unter die Räder gekommen war! Aber wie die Kriminalpolizei mitgeteilt hatte, war bei dem toten Neger außer den Personalpapieren ein Telegramm mit der Unterschrift von Pater Coughlin gefunden worden. Wieder Coughlin! Dieser Umstand ließ Mister Catchel aufmerken. Er witterte hier mehr als einen Unglücksfall und instruierte Stevens auch dementsprechend. „Fahr nach Royal Oak, my boy“, sagte er, „und stell vorsichtig Untersuchungen an, ob zwischen dem Unfall und dem Telegramm ein Zusammenhang besteht.“ Er kaute an der Zigarre und setzte hinzu: „Merk dir, wenn wir Glück haben, decken wir ein dolles Ding auf. Und nun mach dich ran! Sobald du was erfahren hast, kommst du zurück.“ Ben hatte kaum Zeit, nach Hause zu fahren. Mit Mutters Hilfe packte er rasch einen kleinen Koffer, lief Hals über Kopf zum Bahnhof und erreichte gerade noch den Zug nach Royal Oak. Am Unfallort, richtiger gesagt bei der Polizei von Royal Oak, traf Ben am Tage ein und machte sich sofort ans Werk. Wohl noch nie hatte er so viel Energie in sich gespürt. Schließlich war es ja auch kein Pappenstiel – sein erster selbständiger Fall!
Auf der Polizei gab man ihm das Protokoll. Darin stand zu lesen, der Neger sei aus dem Zug herausgefallen und unter die Räder geraten, offenbar, weil er während der Fahrt eingeschlafen sei. Der Polizeiinspektor sah Ben aus schläfrigen, gleichgültigen Augen an. Sein ganzes Aussehen schien zu sagen: Was will der Milchbart bloß? Warum macht er soviel Aufhebens von der Sache? Auch dem Telegramm Pater Coughlins, das Hunt zu dem sterbenden Vater rief, maß der Inspektor keinerlei Bedeutung bei. Schließlich mußte er ja einen Grund für seine Reise nach Royal Oak gehabt haben… Stevens indessen entschloß sich, diesen feinen, nicht eben vielversprechenden Faden aufzugreifen, wie ihm Mister Catchel geraten hatte. Er selbst wollte Pater Coughlin nicht unter die Augen kommen. Deshalb schickte er den nämlichen Polizeiinspektor zu ihm, dessen Ansicht es war, die Sache lohne nicht die geringste Mühe. Wie nicht anders zu erwarten war, ergab der Gang zum Pfarrer nichts Neues. In seinem arrogant-lässigen Ton berichtete der Inspektor, daß Pater Coughlin in einer privaten Angelegenheit nach New York gereist sei. Von dort habe er in der Tat ein Telegramm an den Sohn des auf dem Sterbebett liegenden Gemeindemitgliedes aufgegeben. Das stehe fest, auf dem Telegramm sei ja auch der Name des Pfarrers als Absender angegeben. Als einziges sei dem Inspektor bei dem Gespräch mit dem Gemeindepfarrer eine gewisse Gereiztheit aufgefallen, mit der Hochwürden seine höflichen Fragen beantwortet hatte. Pater Coughlia habe sich aber bald beruhigt und erzählt, er sei nach New York geflogen, um seine kranke Schwester zu
besuchen. Hierauf sei er in einem Hotel abgestiegen und mit dem ersten Flugzeug wieder heimgekehrt. Länger habe er in New York leider nicht verweilen können, weil er am Sonntag den Gottesdienst in der Kirche abhalten mußte. Für den Polizeiinspektor war es klar, daß Pater Coughlin mit der Aufgabe des Telegramms eine Christenpflicht erfüllt hatte und in Ruhe gelassen werden mußte. Er konnte es sich nicht verkneifen, dem jungen Schnösel und Anfänger im Kriminalfach einen Stich zu versetzen. „Ich muß gestehen“, sagte er, „mir war gar nicht wohl dabei, dem Pfarrer mit solchen Fragen auf den Leib rücken zu müssen.“ Aber Ben bemerkte nicht einmal den Stich. Etwas im Bericht des Inspektors hatte ihn stutzig gemacht. Verlegen lächelnd, fragte er: „Und sonst, außer bei der Schwester, war der Geistliche nirgends?“ „Nur im Hotel, wie ich bereits sagte… Entschuldigen Sie, Mister, aber es war mir peinlich, ihn auszufragen. Was soll das auch?“ „Verzeihen Sie bitte“, sagte Ben in geradezu flehendem Ton und schlug sogar die Augen nieder, „aber Sie müssen noch einmal zu Pater Coughlin gehen. Fragen Sie ihn, wo und wann er bei seiner Schwester war und wann er das Hotel aufgesucht hat… Bitte gehen Sie gleich, ich verlange nichts weiter von Ihnen.“ Der Polizeiinspektor zuckte die Achseln und machte sich neuerlich auf den Weg, um den Auftrag des übergenauen GMans auszuführen. Das Greenhorn hatte wohl nichts anderes zu tun! Wenn er nicht im Besitz der FBI-Vollmacht gewesen
wäre, hätte er ihn längst zum Teufel gejagt. Die Zeit bis zur Rückkehr des Inspektors verbrachte Ben auf dem Bahnhof. Als warte er auf einen Zug, schlenderte er auf dem Bahnsteig hin und her. Wie er vom Bahnhofswächter erfuhr, kamen mit dem Nachtzug selten Fahrgäste an, so daß nachts als Ausgang zur Stadt nur die eiserne Seitentür neben dem Bahnhofsgebäude geöffnet blieb. Ben ging zu der Seitentür. Im Vorbeigehen warf er einen Blick in den dort stehenden Papierkorb. Und wieder hatte er Glück: Der Papierkorb war seit Tagen nicht geleert worden und bis obenhin voll. Ben kaufte am Kiosk eine Zeitung. Nachdem er eine Weile darin geblättert hatte, räumte er in einem passenden Augenblick mit schnellem Griff den Inhalt des Behälters aus. Seine Beute – Zigarettenstummel, abgebrannte Streichhölzer, Bananenschalen, alte Fahrkarten und Kaugummi – wickelte er in die Zeitung und begab sich wieder zur Polizei. Als der Inspektor von dem Geistlichen zurückkehrte, hatte Ben den Inhalt des Papierkorbs bereits gesichtet. Er war dabei auf etwas Interessantes gestoßen. Beim Aussortieren der alten Fahrkarten hatte er festgestellt, daß am fraglichen Tag mindestens fünf Fahrgäste in Royal Oak ausgestiegen waren, darunter ein Kind, für das eine viertel Fahrkarte gelöst worden war. Ben neigte immer mehr der Ansicht zu, daß Mister Catchel recht hatte, wenn er in dem Unfall des Negers ein Verbrechen argwöhnte. Für einen Neger sind fünf natürlich zuviel, überlegte er, als er seinen Fund unter der Taschenlupe betrachtete. Aber einer der Fahrkartenbesitzer war an dem Vorfall auf der Strecke bestimmt beteiligt. Wo hätten sonst auf der einen
Fahrkarte die kaum wahrnehmbaren Blutspuren herrühren sollen? Der Inspektor war übel gelaunt. Pater Coughlin hatte mit einer Beschwerde beim Sheriff gedroht, wenn man ihn noch einmal belästigen sollte. Der Geistliche hatte wiederum gereizt erklärt, er sei zu seiner Schwester gefahren, habe sie im Krankenhaus besucht und sei sonst nirgends gewesen. „Ausgezeichnet, genau das habe ich erwartet!“ murmelte der G-Man befriedigt. „Ich bin ganz Ihrer Meinung“, entgegnete der Inspektor wütend. Ben hielt es für besser, den Polizeiinspektor nicht in seine Entdeckung einzuweihen – wozu mit einem anderen den Ruhm teilen! Da gewahrte der Inspektor die Abfälle auf der Bank und auf dem Tisch neben den zerknüllten Eisenbahnfahrkarten die Lupe. Aha, dachte er, das Jüngelchen will hoch hinaus! Auf jeden Fall nahm er sich vor, zum Sheriff zu gehen und ihm von der Ankunft des G-Mans zu berichten. Stevens haspelte inzwischen geduldig das ihm in die Hand geratene Fädchen weiter ab. Am selben Abend suchte er die Eltern des verunglückten Negers auf. Der Alte war nicht gestorben, im Gegenteil, er fühlte sich sogar besser. Den Tod des Sohnes hatte man ihm verheimlicht, und er wartete noch immer auf seinen Besuch. Das Erscheinen des Beamten von der FBI beunruhigte und erschreckte den alten Hunt. Zuerst wollte er nicht mit der Sprache heraus, aber Ben sah ihn so finster an, daß der Alte, vor Furcht vergehend, alles auspackte, was er wußte. Beinahe wortwörtlich übermittelte er Ben den Inhalt seines Gesprächs mit Pater Coughlin. Er erzählte, wie dieser zu ihm
gekommen sei, wo er gestanden und wie er ihm, Gott sei gelobt, die Sünden vergeben habe. Ben ließ sich kein Wort entgehen. Zum Schluß begann der Alte wieder zu drucksen. Ben sah ihn wieder streng an, und John Hunt erzählte nun als letztes von dem belauschten Gespräch. Er bat den Massa G-Man nur, das Geheimnis zu wahren, in das er jetzt eingeweiht sei. Es sei schon Sünde genug, daß er das Hochwürden gegebene Versprechen gebrochen habe. „Was für ein Versprechen?“ fragte Stevens. „Pater Coughlin bat mich, niemand zu sagen, was ich gehört habe.“ Der alte Neger wurde redselig. Ben siebte geduldig aus dem Redestrom die Körnchen heraus, die er brauchte. „Warum verschloß mir der liebe Gott nicht die Ohren, als ich aus der Küche ins Vorzimmer meines Herrn ging? Ich brauchte den Garagenschlüssel, aber ich traute mich nicht, sie zu stören. Hätte ich sonst vielleicht fremde Gespräche belauscht?… Ich erzähle Ihnen alles, wie es war, Massa G-Man. Nur verraten Sie mich um Gottes willen nicht! Sonst jagt mich mein Herr fort, wenn ich am Leben bleibe. Sie wissen doch, was es heißt, in meinen Jahren die Stellung zu verlieren? Dieses Geheimnis – daß es die Erde verschlinge! – kennen jetzt nur Pater Coughlin, John, der – dank sei dem ehrwürdigen Vater für seine Mühe – jeden Tag hier eintreffen wird, und dann noch meine gute Frau Lia. Uns beide nicht gerechnet… Hochwürden hatte mir gerade meine Sünden vergeben, da verfiel ich gleich wieder in neue Sünde. Wie hätte ich es aber auch vor Lia geheimhalten können!“ „Pater Coughlin wußte also, daß Ihr Sohn eingeweiht war?“
unterbrach ihn Stevens. „Ja, was denken Sie denn! Ich habe ihm alles erzählt, dann bat er mich um seine Adresse.“ Ben Stevens spürte, das war der springende Punkt! Aber die Kreise auf dem Wasser flössen weit auseinander. Ihm war schleierhaft, warum Mister Catchel gesagt hatte: „Wenn wir Glück haben, decken wir ein dolles Ding auf.“ Was für ein Ding? An den folgenden zwei Tagen betrieb Ben seine Nachforschungen energisch weiter. Er gewann endgültig die Überzeugung, daß John Hunt durchaus nicht auf Grund eines Unfalls aus dem Zug gestürzt war. Es gelang ihm sogar, das Äußere der vermutlichen Täter festzustellen. Der an dem fraglichen Tag mit dem Nachtzug eingetroffene Inhaber der Bar „Golden Star“ – er war mit Frau und Kind gereist – erzählte Ben, er habe auf dem Bahnsteig zwei fremde Männer gesehen, die ebenfalls ausgestiegen seien. Sie seien ihm in Royal Oak vorher nie begegnet. Anderentags seien die beiden in seinem Lokal gewesen und hätten ein Glas Whisky getrunken. Während sie am Tisch saßen, habe er sie genau betrachten können. Der G-Man hatte nun sowohl in der Tasche als auch im Kopf genügend Material, um nach New York zurückzukehren. Aber Ben Stevens war immerhin ein junger Detektiv. Er konnte sich nicht erklären, was für eine Rolle der Pfarrer der Little-Flower-Kirche in dieser Affäre spielte. Auch was ihm selbst vor seiner Abreise aus Royal Oak widerfuhr, blieb ihm unverständlich. Jedenfalls war es purer Zufall, daß der erste ihm übertragene Fall nicht zugleich der letzte in seinem Leben wurde.
Ben hatte bis zur Abfahrt des Zuges noch eine halbe Stunde Zeit und schlenderte über den Bahnhofsplatz, als plötzlich ein Lastauto in voller Fahrt um die Ecke gerast kam. Nur mit knapper Not konnte Ben noch zur Seite springen. Der Wagen jagte so dicht an ihm vorüber, daß der Kotflügel seinen offenen Regenmantel streifte. Ben war noch nicht einmal zu sich gekommen, als er durch den Motorenlärm hindurch einen Schuß knallen hörte. Er glaubte zunächst, sich geirrt zu haben. Aber der abgeplatzte Putz an der Hauswand und eine plattgeschlagene, noch heiße Kugel aus einem großkalibrigen Colt belehrten ihn, daß er richtig gehört hatte. Ben klaubte die Kugel aus der Wand heraus, steckte sie in die Tasche und ging zum Bahnhof. So eine Bande, wie die Verrückten zu fahren! Für die scheint’s keine vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit zu geben, dachte er, als er die Fahrkarte am Schalter löste. Da fehlt nicht viel, daß einer ins Leichenschauhaus kommt. Und dazu noch diese Cowboymanieren, zum Spaß in den Straßen herumzuknallen! Innerlich mit dem ihm übertragenen Fall beschäftigt, machte sich Ben über den Vorfall auf dem Bahnhofsplatz in Royal Oak weiter keine Gedanken. Am Freitag, das heißt genau eine Woche nach dem ersten Gespräch mit dem Chef, erschien der G-Man Nummer siebenhundertzwölf wieder im Zimmer Catchels. Der Chef sah seine Meinung über den jungen Mann bestätigt. Stevens war wirklich der geborene Detektiv! Diese Feststellung traf Catchel bei sich, als er den Bericht des Agenten anhörte. Den Vorfall auf dem Bahnhofsplatz in Royal Oak hatte der Bursche allerdings nicht durchschaut. Heilige Einfalt! Wo es
doch sonnenklar war, daß ihn jemand aus dem Weg räumen wollte. Aber wer? Wer hatte wo erfahren können, daß ein GMan zur Klärung des Falles eingetroffen war? Stevens behauptete doch, außer mit dem Polizeiinspektor mit niemand offen gesprochen zu haben. Allerdings hatte er den Inspektor zu Pater Coughlin geschickt, und er selber war bei der Familie des Ermordeten und dem Barkeeper gewesen und hatte sie ins Gebet genommen. Wenn eine Bande am Werk war, hatte sie also aus verschiedenen Quellen informiert werden können… Ach, wäre ihm das passiert – mit den Zähnen hätte er sich an den Lkw geklammert! Dann wäre alles sofort klargeworden. Am Leben bleiben und so eine Gelegenheit verpassen! Ei, ei, ei! Aber wenn man jung und unerfahren ist, dann pflegt’s eben so zu sein! Man mußte der Sache hier, in New York, auf den Grund gehen. Von einem war Catchel fest überzeugt – wenn die Dinge bereits so weit gediehen waren, daß man little Ben aus dem Weg räumen wollte, dann hieß das, der Junge war auf der richtigen Fährte. Catchel klopfte Ben freundschaftlich auf die Schulter – das war bei ihm die höchste Lobesbezeigung – und schickte ihn ohne große Umstände aus dem Zimmer. Catchel wollte allein bleiben, um den Fall zu durchdenken. Die fotografierten Fingerabdrücke von der Fahrkarte schickte er in die Daktyloskopieabteilung. Dort wurden in einer Kartothek Zehn-, wenn nicht Hunderttausende Fingerabdrücke von Menschen aufbewahrt, die einmal mit der Polizei zu tun hatten. Die Auskunft ließ nicht lange auf sich warten. Wie aus ihr hervorging, stammten die Fingerabdrücke von dem rückfälligen Kriminellen Black, genannt „Gorilla-Arm“. Er war das letztemal in Detroit wegen Mordes an dem Gewerk-
schaftsfunktionär Charles Pool abgeurteilt worden. Die Tatgründe hatte man nicht klären können. Black entfloh anderthalb Jahre später aus dem Gefängnis. „So, so“, schnaufte Catchel, als er die schriftliche Auskunft durchsah, „wieder einer dieser Gangster. Immer die Black Legion. Eine zähe Bande, verflucht noch mal!“ Catchel wäre jede Wette eingegangen, daß seine Vermutung stimmte. Er besann sich auf alle Namen der Fälle, in denen die Black Legion ihre Finger im Spiel hatte. Sowohl auf die der Mörder wie auf die der Opfer. Catchel hatte selber einige Mordfälle in Michigan untersucht. An einem verlassenen Ort war George Marchuk, der Gewerkschaftssekretär der Automobilarbeiter bei Ford, mit tödlicher Kopfwunde aufgefunden worden. Marchuk war Kommunist, aber Catchel kümmerte das wenig. Politik ging ihn nichts an. Mord blieb Mord. Dann fand man die Leiche von John Beliak, einem anderen Gewerkschafter. Ermordet wurden auch Charles Pool, Pidcock, Anderson und andere. Und das alles im Laufe eines Jahres nur im Bereich der Ford Motor Company. Der Mord an Pool fiel zeitlich mit einem Streik der Detroiter Arbeiter zusammen. Damals wurden das Verwaltungsgebäude der Gewerkschaft, die Arbeiterbuchhandlung, das Gebäude des ukrainischen Bildungsvereins und das Lokal der Ortsgruppe der Kommunistischen Partei von unbekannten Tätern in die Luft gesprengt. Da war was los! Ja, seinerzeit hieß es arbeiten. Den damals fünf Jahre jüngeren Catchel quälte noch nicht das verflixte Asthma. Er konnte vieles aufdecken. Die Fäden führten zur Black Legion. Nur eins blieb bis heute ungeklärt: Welchen Nutzen hatte die Bande von den Brandstiftungen, Sprengungen und Mord-
taten? Wahrscheinlich verhängten die Richter aus diesem Grunde so milde Urteile. Die meisten Verurteilten befanden sich übrigens bald wieder auf freiem Fuß. Wenn es nach Recht und Gewissen ginge, dann hätte er, Catchel, die Anführer der Bande ins Gefängnis gesteckt. Und nicht nur Black! Wie viele Jahre schon trieb die Black Legion ungestraft ihr Wesen! Da die Mitglieder der Legion keine Raubüberfälle und Einbrüche verübten, woher nahmen sie eigentlich so viel Geld? Sie ließen schon einiges springen, um sich die Polizei und die Sheriffs zu kaufen. Übrigens, wer war eigentlich in Royal Oak Sheriff? Vielleicht auch ein alter Bekannter? Catchel informierte sich über den derzeitigen Sheriff von Royal Oak. Na bitte! Der Sheriff kam aus Detroit. Catchel besann sich auf den Namen. Da konnte man mal sehen, wie wichtig ein gutes Gedächtnis für einen Detektiv war! Für Catchel stand es beinah fest, daß der Anschlag auf seinen Agenten nicht ohne Beteiligung des Sheriffs von Royal Oak verübt worden war. Catchel als Nur-Kriminalist wußte nichts von den treibenden Kräften in der Black Legion. Er interessierte sich nicht für Politik. Wäre es anders gewesen, hätte der Spezialist für die Aufdeckung krimineller Delikte vielleicht das Büchlein mit dem nüchternen Titel „Die faschistische Gefahr“ gelesen und sich darüber einige Gedanken gemacht. Das Buch enthielt folgende Stelle: „Die Black Legion verdankte ihre Stärke dem ausgesprochen terroristischen Charakter ihrer Tätigkeit, der Durchdringung der Polizei und des gesamten Machtapparates in den Städten, Kreisen und Staaten mit eigenen Leuten, den Verbindungen zur Republikanischen Partei und schließlich dem engen Kon-
takt, den sie in ihrem Wirken mit den Spionagestellen und den Unternehmergewerkschaften unterhielt, die von den Automobilwerken geschaffen wurden.“ Die Aktivierung der Tätigkeit der Legion, das heißt ihr ultrareaktionäres, faschistisches Treiben, fiel mit bestimmten Ereignissen zusammen. Sie setzte ein, als in Deutschland, auf der anderen Seite der Erdkugel, die faschistische Hitlerdiktatur errichtet wurde. In den Methoden des Faschismus auf beiden Halbkugeln gab es viel Gemeinsames, Übereinstimmendes, doch der Kriminalist machte sich über den inneren Zusammenhang der Geschehnisse weder damals noch später Gedanken. Die Untersuchung in Sachen des Mordes an dem siebenundzwanzigjährigen Neger John Hunt wurde fortgesetzt. Der vorbestrafte Black konnte zwar nicht dingfest gemacht werden, aber die Haussuchung bei der Firma RomanovCaviar bot einige Überraschungen. In dem Lager, in dem Kisten mit Ölsardinen, Kaviar und Räucherfisch stehen sollten, fand man Packen Flugblätter, Briefumschläge und gedruckte Reden von Senatoren. Alle Bündel hatten auf dem Packpapier Etiketten mit der Aufschrift: „Gedruckt in USA – Verlag Flanders Hall.“ Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Firmenkuverts lagerten hier, nur keine Umschläge der Firma RomanovCaviar. Die Umschläge trugen die Namensstempel von Senatoren und Kongreßmitgliedern sowie den Vermerk: „Portofrei.“ Haben die aber gescheffelt! dachte Catchel kopfschüttelnd, als er sich das ungesetzliche Unternehmen ansah. Er machte einen ungefähren Überschlag, wieviel die Gauner an tausend,
an zehntausend und an einer Million Briefe verdient hatten, die unfrankiert in alle Teile des Landes versandt worden waren. Dabei hatte die Bande nicht nur einen Monat gearbeitet. Es kamen astronomische Zahlen heraus. So begann die Affäre „schwarze Post“, die in Amerika viel Staub aufwirbelte. Es zeigte sich, daß Dutzende Senatoren und Kongreßmitglieder darin verwickelt waren. Sie hatten im Kongreß zu diesem und jenem Thema Reden gehalten, die ihnen der deutsche Resident Viereck geschrieben hatte. Die Tribüne des Kongresses war zur Tribüne der faschistischen Propaganda einer ausländischen Macht geworden. Die Presse schlug Lärm. Zur Verwunderung Catchels sprengten seine Enthüllungen den Rahmen einer gewöhnlichen Kriminalaffäre. Die Verhafteten wurden der Wühlarbeit gegen Amerika beschuldigt. Die Zeitungen sprachen von deutschen Spionen, die hinter den Delinquenten ständen. Aber Catchel wies diesen Gedanken zurück. Man darf doch nicht gleich solche Schlüsse ziehen, dachte er, nur weil bei der Haussuchung im Kontor der Firma Romanov-Caviar ein deutscher Staatsbürger angetroffen wurde. Die Zeitungsleute lieben Sensationen, sie sind leicht dabei, eine Ente in die Welt zu setzen. Catchel hielt seinen Teil Arbeit in diesem Fall für erledigt. Er war stolz darauf, eine Bande Betrüger entlarvt zu haben, die mit Hilfe ungesetzlicher Manipulationen einen Haufen Dollars ergaunert hatten. Mit der weiteren Untersuchung wurde Staatsanwalt Meloney betraut. Dennoch stieß der Chef der Kriminalabteilung ständig auf Nachklänge des Falles „schwarze Post“. Seine Dienstpflicht gebot es ihm, sich für alles zu interessieren, was die Presse über Verbrechen, Selbstmorde, Betrugsdelikte und Raubüberfälle berichtete.
Dabei fiel ihm eine Meldung auf, nach der Senator Lundeen bei einem Flugzeugunglück ums Leben kam. Wie der Reporter wissen wollte, sollte der Senator vor seinem Abflug gesagt haben: „Ich bin zu weit gegangen, ich kann nicht mehr zurück.“ Auf dem Flugplatz habe er einen nervösen, niedergeschlagenen Eindruck gemacht. Der Reporter hielt die Katastrophe nicht für einen Zufall. Eher hänge sie mit der prodeutschen Gruppe im Kongreß und der kürzlich aufgedeckten Affäre „schwarze Post“ zusammen. Als Catchel die Notiz über Lundeen las, dachte er: Was die Zeitungsleute nicht alles erfinden! Na schön, sie müssen ja auch leben. Aber die Nachricht stimmte ihn dennoch nachdenklich – vielleicht war an der Sache doch was dran. Ein paar Tage vor dem Flugzeugunglück hatte in dem langen grauen Gebäude des amerikanischen Repräsentantenhauses, im Zimmer Nr. 1424, das dem Kongreßmitglied Hamilton Fish zur Verfügung stand, ein vertrauliches Gespräch stattgefunden. An ihm nahmen drei Gentlemen teil. Es waren dies George Hill, der Privatsekretär von Fish, weiter Georg S. Viereck, Direktor des Verlages Flanders Hall, und der vom Staat Minnesota in den Senat gewählte Senator Ernst Lundeen. „Diese blödsinnige Geschichte hat mir mächtig die Laune verdorben“, sagte Viereck. Er blickte aus dem Fenster auf die Stadt, auf die gewaltigen Gebäudekomplexe am Ufer des Potomac und auf das Kapital, das einem großen Bahnhof glich. „Wir müssen etwas finden. Haben Sie gehört, Mister Lundeen?“ Viereck ging vom Fenster weg. „Was kann ich tun? Das übersteigt meine Kräfte. Überhaupt habe ich alles satt, einfach satt!“ Der Senator bedeckte das
Gesicht mit den Händen. „Wann komme ich endlich davon los?!“ „Seien Sie nicht hysterisch, Senator! Wir sind erwachsene Menschen.“ Viereck sah den Senator kalt und hart an. „Sie wissen, was Sie Ihre Ablehnung kosten wird.“ „Gut, ich werde es tun, aber zum letztenmal. Haben Sie mich verstanden? Zum letztenmal… Im übrigen“ – Lundeen drückte nervös die Zigarette aus –, „im übrigen bitte ich, nicht zu vergessen, Sie sprechen mit einem Mitglied des amerikanischen Kongresses. Ich dulde diesen Ton nicht! Nein, ich dulde ihn nicht!… Entschuldigen Sie, ich habe eine Sitzung.“ Der Senator erhob sich mit einem Ruck vom Sessel und verließ das Zimmer. Viereck sah ihm verächtlich nach. „Befassen Sie sich mit ihm, Hill. Das Komitee muß einen anderen Vorsitzenden suchen.“ „Das müßte man sich überlegen. Aber was machen wir jetzt, mit der Post?“ „Zunächst ist höchste Vorsicht geboten. Alles Propagandamaterial darf nur über den Kongreß laufen. Die Reden müssen auf den Sitzungen gehalten werden, damit sie in die ,Kongreßprotokolle’ eingehen.“ „Ja, aber nehmen Sie beispielsweise den Artikel von Doktor Goebbels, den wir telegrafisch übermittelt bekommen haben.“ „Für ihn gilt dasselbe. Sagen Sie Fish, er soll ihn in seiner Rede zitieren. Auf diese Weise gelangt der Artikel ins Protokoll, und wir versenden ihn ganz offen und kostenlos mit der Senatspost… Sagen Sie, hat Lundeen schon öffentlich zum Krieg in Finnland Stellung genommen? Mannerheim braucht
Hilfe.“ „Ich habe ihm Ihren Text übergeben, aber er hat die Rede nicht gehalten. Er hat sich nur in die Rednerliste eingetragen. Meinen Sie nicht, daß es für ihn als Komiteevorsitzenden unangebracht ist, solche Ausführungen zu machen?“ „Dummheit! Er soll die Rede halten, dann mag er zusehen, daß die Sache mit der ,schwarzen Post’ unter den Tisch fällt, und dann kann man daran denken…“ Viereck fuhr mit der Hand durch die Luft, als fege er etwas fort. „Achten Sie unbedingt darauf, daß Lundeen den Mann beschwichtigt, der sich mit der dummen Sache in Royal Oak beschäftigt. Pater Coughlin kann uns noch nützlich sein… Wenn dem Senator die Knie weich werden, dann brauchen Sie sich nicht zu genieren. Er ist in unseren Händen, dieses… Mitglied des amerikanischen Senats.“ Viereck kräuselte verächtlich die Lippen. Das war es, was sich im Gebäude des Repräsentantenhauses im Zentrum der amerikanischen Hauptstadt kurz vor dem geheimnisvollen Tod des Senators Lundeen zugetragen hatte. Ein anderer, in die Arbeitsmappe des Kriminalisten eingelegter Zeitungsausschnitt stimmte Mister Catchel weiterhin nachdenklich. Es handelte sich um eine Seite aus der wenig bekannten Zeitschrift „Hour“, auf der der deutsche Handelsattache Gerhard Westrick der Wühlarbeit beschuldigt wurde. Der Verfasser verwies ziemlich offen auf die Verbindungen Westricks mit amerikanischen Industriekreisen. Catchel hatte den Ausschnitt mit Verspätung erhalten, zusammen mit einer Notiz jüngeren Datums, in der die Behauptungen der Zeitschrift „Hour“ als Erfindungen zurückgewiesen und widerlegt wurden. Die Zeitung „New York Herald Tribüne“ hatte
ein diesbezügliches Interview mit John Foster Dulles veröffentlicht. Der Kriminalist wußte nicht, wer Dulles war. Wenn man aber ein von ihm gegebenes Interview veröffentlichte, war er bestimmt ein angesehener Gentleman. Welcher Reporter würde sich schon mit jemand unterhalten, der nichts darstellte! Dulles also hatte dem Reporter kurz und bündig erklärt: „Ich glaube nicht, daß Mister Westrick etwas Schlechtes getan hat. Ich kenne ihn sehr lange und habe seine Ehrlichkeit stets zutiefst geschätzt.“ Aus der Notiz erfuhr Catchel, daß John Foster Dulles die Rechtsanwaltsfirma Sullivan & Cromwell vertrat. Ein solcher Mann überlegte seine Worte genau. Das Interview beruhigte und überzeugte Catchel. Ach, was für Schwätzer diese Journalisten doch waren! Die Ermittlungen in der Affäre „schwarze Post“ dauerten noch immer an. Ständig ergaben sich neue Einzelheiten und Tatsachen. William Meloney, der Staatsanwalt und spezielle Gehilfe des Justizministers, verlangte von Catchel immer neues Material. Meloney war sehr hartnäckig. Catchel arbeitete gern mit Leuten, die wußten, was sie wollten. Er mobilisierte alle seine Boys, um den Kriminalfall bis ins letzte zu enträtseln und dem Recht zum Triumph zu verhelfen. Eines Tages gegen Ende der Woche, als der Chef der Kriminalabteilung gerade das Büro verlassen wollte, schaute wie zufällig einer seiner Vorgesetzten bei ihm herein. „Hallo, old boy!“ wandte er sich freundschaftlich, nahezu familiär an Mister Catchel. „Ich glaube, Sie werden es nicht ablehnen, pro Woche fünfzig Dollar mehr zu bekommen. Was halten Sie davon?“
„Wer würde dagegen etwas einwenden! Natürlich nur, wenn ich es verdient habe“, brummte Catchel. Endlich hatte seine Arbeit Anerkennung gefunden! Offen gestanden, mit dem Fall „schwarze Post“ hatte er sich nicht wenig abgeplagt. „Nun, das ist ausgezeichnet! Bleiben Sie noch einen Moment da, Sie haben verteufeltes Glück, old boy. Im Archiv ist eine Stelle frei geworden. Wir brauchen dort einen erfahrenen Mann. Dieser Posten wäre für Sie wie geschaffen. Am Montag können Sie die neue Tätigkeit aufnehmen. Sind Sie zufrieden?“ Catchel stand mitten im Zimmer, im Mantel, den Spazierstock in der Hand, klobig und unbeholfen wie ein Klotz. Er blinzelte verlegen mit den Augen, wußte er doch nicht recht, ob der Vorgesetzte sich einen Spaß mit ihm erlaubte oder im Ernst sprach. „Wie meinen Sie? Was hab ich da zu schaffen?… Meine Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen… Nein, nein“, Catchel schnaufte wütend, „suchen Sie sich einen anderen. Ich habe nicht im geringsten Lust, von meiner Abteilung wegzugehen. Wie soll ich das überhaupt verstehen?“ „Regen Sie sich vor allen Dingen nicht auf. Überlegen Sie sich die Sache. Ich an Ihrer Stelle würde nicht ablehnen…“ Jäh durchfuhr Catchel ein Gedanke. Er wurde rot. „Vielleicht passe ich Ihnen nicht? Vielleicht bin ich zu alt? Dann…“ „Reden Sie keine Dummheiten, Catchel! Sie sind eine hervorragende Kraft, Sie wissen das besser als ich. Wer außer Ihnen hätte den Fall ,schwarze Post’ so gründlich bearbeitet!“ Der Vorgesetzte wollte die Sache gütlich beenden. „Sie ha-
ben sich ausgezeichnete Mitarbeiter herangezogen. Übrigens wollen wir auch Ihren Agenten versetzen. Wie heißt er doch gleich? Der den Mord in Royal Oak aufgedeckt hat…“ „Nummer siebenhundertzwölf“, warf Catchel ein. „Ja, ja! Er ist ein fähiger Detektiv. Wir haben ihn an Donovan ins Office of Strategie Services empfohlen. Tüchtige Leute muß man fördern.“ „Und wer macht die ,schwarze Post’ weiter? Da gibt’s doch noch massig zu tun.“ „Das soll nicht Ihre Sorge sein, old boy. Die Hauptsache ist getan, jetzt sind nur noch Kleinigkeiten übriggeblieben… Also, willigen Sie ein?“ Catchel erwiderte halsstarrig: „Nein, eher quittiere ich den Dienst. Bitten Sie mich nicht! Nein und dreimal nein!“ „Wie Sie wollen“, antwortete der Vorgesetzte, jetzt bereits in einem anderen, kühlen und offiziellen Ton. „Ich bedaure das sehr.“ Am folgenden Montag wurde Mister Catchel nahegelegt, ein Pensionierungsgesuch einzureichen. Das tat er dann auch. Er war störrisch wie ein alter Bock. Anders Ben Stevens. An dem bewußten Montag kam er vorm Mittagessen ins Haus gestürmt und rief seiner Mutter, wie immer, wenn er gute Nachrichten hatte, bereits von der Schwelle aus zu: „Mutti! Mutti! Ich bin versetzt worden! Ich werde jetzt im OSS arbeiten. Weißt du, was das ist? Militärspionage! Ich fahre vielleicht sogar nach Europa. Mister Donovan hat sich schon mit mir unterhalten. Ich gefalle ihm. Hurra, Mutti! Jetzt haben wir bald unsere Ranch!“
Ben glich in seiner Freude einem großen Jungen. Eine Woche darauf, Ende Februar, lief der Ozeandampfer „Queen Mary“ Zu seiner planmäßigen Fahrt nach Europa aus dem New Yorker Hafen aus. Eine Kajüte erster Klasse hatte Mister Sumner Welles belegt, der, von Präsident Roosevelt persönlich beauftragt, in besonderer Mission nach Europa fuhr. Eine ebensolche Luxuskajüte gleich nebenan gehörte Mister Myron Taylor, dem neuen amerikanischen Botschafter am päpstlichen Stuhl im Vatikan. Außerdem reiste auch Mister Donovan, der Chef des Office of Strategie Services, in einer Kajüte erster Klasse auf demselben Oberdeck nach Europa. Jeder der drei Gentlemen an Bord der „Queen Mary“ hatte in Europa besondere Aufgaben zu erfüllen. Jeder der drei – der Spion, der Diplomat und der Vertreter am Heiligen Stuhl mußte so schnell wie möglich das europäische Gestade erreichen. Das erforderten die Umstände. Jeden beunruhigte die Lage in Finnland. Nachdem die Russen die Mannerheimlinie durchstoßen hatten, bestand Gefahr, daß sie den Krieg vorzeitig beendeten. Das entsprach nicht den Plänen der drei Gentlemen, die von den Kreisen der Großindustriellen, Politiker und Militärs der USA nach Europa geschickt wurden. Auf dem gleichen Dampfer überquerte auch der junge vielversprechende G-Man Bennet Stevens den Ozean. Er war überglücklich: Das Schiff brachte ihn nach Britannien, in die Heimat seiner Vorfahren. 3 Bis zum Abend war Jules nicht dazu gekommen, in der Klinik anzurufen. Am Tage, das heißt vor seiner Fahrt zum
Hauptquartier Gamelins im Schloß von Vincennes, hatte er allerdings mit dem diensthabenden Arzt gesprochen. Der hatte ihm gesagt, die Wehen könnten jederzeit einsetzen, aber zur Beunruhigung sei kein Anlaß, Liliane befinde sich wohlauf. Von Gamelin fuhr Jules in die Redaktion und läutete noch einmal in der Klinik an. Der Anschluß war besetzt. So früh nach Hause zu fahren und den Abend allein zu verbringen war eine Aussicht, die ihn nicht allzusehr lockte. Obwohl Jules jetzt verheiratet war, hatte er seine frühere Lebensweise doch nur für kurze Zeit geändert. Er hockte nun einmal nicht gern zu Hause. Anfangs ließ er sich mit seiner Frau noch oft in der Gesellschaft sehen. Aber als Lilianes Schwangerschaft sichtbar wurde, verließ sie nur selten die Wohnung. Schließlich ging sie überhaupt nicht mehr aus. Was Jules betraf, so konnte er doch nicht dauernd bei seiner Frau sitzen! Sein Beruf verlangte, daß er unter Menschen war und in der Gesellschaft herumhorchte, wollte er über die politischen Ereignisse auf dem laufenden bleiben. So dachte Jules, und so redete er es nicht nur seiner Frau, sondern auch sich selbst ein. Auf diese Weise hatten weder der im vorigen Herbst ausgebrochene Krieg noch die Ehe die Gewohnheiten ändern können, die Jules in seiner Junggesellenzeit angenommen hatte. Um so weniger, als sich der Krieg auf die Zahl der Bankette, Bälle und Empfänge nicht im geringsten auswirkte. Sobald sich der erste Tumult nach der Kriegserklärung gelegt hatte, ging in Paris alles wieder seinen alten Gang. Der Krieg schien gar nicht so schrecklich und unerträglich. Die Gespräche in den Salons drehten sich vornehmlich um die Un-
bequemlichkeiten des Schützengrabenlebens. Die Frontoffiziere, die ihren Urlaub in Paris verbrachten, standen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und stachen überall die Zivilisten aus. Das große Interesse, das ihnen galt, hatte einen gewissen Neid der Zivilisten und ein Anwachsen der Gesuche an die Kommissariate zur Folge, in denen um vorfristige Einberufung zum Feldheer gebeten wurde. Als dann der Winter begann, änderten sich die Gesprächsthemen allmählich. Der Krieg rückte in den Hintergrund, und die Offiziere waren nur noch nette, sympathische Gesellschafter, die der Nimbus der Frontromantik umgab. Die Damen in den Salons kannten sich nunmehr vorzüglich in den militärischen Dienstgradabzeichen aus und verschwendeten ihre Gunst nicht so unbedacht wie zu Kriegsbeginn, denn sie stuften jetzt ihre Achtungsbezeigungen nach dem Rang ab. Nach Weihnachten schien der Krieg mit den Deutschen vollends vergessen. Es war, als gäbe es gar keine Deutschen. Den Nachrichten aus Finnland wurde weit größeres Interesse entgegengebracht als den Berichten vom eigenen Kriegsschauplatz. Wohl nur noch die Pariser Moden erinnerten an den Krieg. Den englischen Offizieren zuliebe oder weil man dem Geist der kriegerischen Zeit seinen Tribut zollen wollte, trug die Damenwelt strengere, englische Fassons und hob das Dekollete um zwei Zentimeter gegenüber dem Vorjahr. Dieser puritanische Zug war indessen rein äußerlich und betraf einzig die Kleidung. Jules Benoit hatte unter den neuen Verhältnissen ebenfalls mühelos seinen Platz gefunden. Nicht nur, daß er wie vordem am Quai d’Orsay gut angeschrieben war, auch in den militärischen Kreisen begann man auf ihn zu hören. Ein Beispiel
hierfür war das streng vertrauliche Gespräch mit Gamelin. Dieser war zu Kriegsbeginn zum Generalissimus befördert worden und hatte den Oberbefehl über die Landstreitkräfte übernommen. Nicht mit jedem würde der Oberbefehlshaber so offen reden! Auch im Privatleben war sich Jules treu geblieben. Er hatte nichts gegen einen Flirt mit einer hübschen Frau und ebensowenig gegen einen kurzen, vergnüglichen Roman. Der eigenen Frau gegenüber empfand er dabei keine Gewissensbisse. An jenem Abend wußte Jules nichts mit sich anzufangen. Er hatte schreckliche Langeweile. Auf dem Rückweg von Vincennes zerbrach er sich den Kopf, was er unternehmen könnte, und ihm fiel ein, daß er Lucienne schon lange nicht angerufen hatte. Sein Verhältnis mit ihr dauerte nun schon ein halbes Jahr. Lucienne gefiel ihm, er war gern bei ihr. Allerdings sah er sie sehr unregelmäßig, je nachdem, wie sich die Möglichkeit bot, unter einem passenden Vorwand von Liliane loszukommen oder einen offiziellen Empfang früher zu verlassen. Lucienne war daheim. Sie bat ihn inständig zu kommen. Über die Gedanken, wie er sich die Zeit vertreiben könne, über das Telefongespräch mit Lucienne und die Betrachtungen, die er über die Unterredung mit dem Oberbefehlshaber anstellte, hatte Jules ganz vergessen, noch einmal in der Klinik anzurufen. Auch jetzt auf dem Weg zu Lucienne dachte er nicht daran. Ihn beschäftigte die Frage, wie er das Gespräch mit Gamelin am besten ausschlachten könnte. Er hatte heute verdammtes Glück gehabt! Über was für ausgezeichnete Informationen er doch jetzt verfügte! Das mußte er eigent-
lich Leon Terzie unter die Nase reiben. Und wie zuvorkommend man ihn empfangen hatte! Lucienne wohnte in Montmartre. Jules fuhr durch holprige Gäßchen bis vor ihr Haus, stieg aus dem Auto und verschwand in dem verdunkelten Hauseingang. Jules hatte in der vergangenen Woche einen Brief an Gamelin geschrieben und um eine Unterredung ersucht. Er wollte die Erlaubnis für eine Reise an die Front erwirken. Heute nun hatte man ihn angerufen. Am Apparat war der Adjutant Gamelins, ein Hauptmann. Befriedigt stellte Jules fest, daß der Hauptmann überaus höflich mit ihm sprach. „Monsieur Benoit? Gestatten Sie, daß ich Sie meiner ausgezeichneten Hochachtung versichere.“ Der Hauptmann nannte seinen Namen, den Jules sofort wieder vergaß. „Der Oberbefehlshaber erwartet Sie heute nach siebzehn Uhr zu jeder Zeit.“ Jules schaute sich selbstgefällig um: Ob die Federfuchser hier sich denken konnten, mit wem er sprach? „Vielleicht nennt mir der Generalissimus selbst eine Zeit?“ „Nein, der Oberbefehlshaber läßt Ihnen bestellen, er würde Sie empfangen, wann es Ihnen paßt. Wir schicken Ihnen einen Wagen.“ „Gut, ich komme um achtzehn Uhr.“ Die Kollegen in der Redaktion hoben die Köpfe, in ihren Augen las er Neugier. Jules’ Eitelkeit war befriedigt. Zur festgesetzten Zeit stand das Stabsauto vor der Einfahrt. Es war ein starker Kübelwagen, dem man offenbar einiges zumuten konnte. Das Auto fuhr in südöstliche Richtung. Jules begriff: Die Fahrt ging zum Schloß von Vincennes, ins Armeehauptquartier.
Inzwischen war es dunkel geworden. Jules konnte in den verschwommenen Umrissen des gewaltigen Bauwerks kaum das mittelalterliche Schloß erkennen, obwohl er oft hier gewesen war, wenn er in dem sich südlich anschließenden Wald Spaziergänge unternommen hatte. „Monsieur Benoit? Bitte sehr!“ Jules folgte Gamelins Adjutant durch einen hohen, gewölbten Saal. Sie stiegen ausgetretene Steinstufen empor, der Adjutant sagte wieder: „Bitte sehr!“ und öffnete eine schwere Tür. Benoit befand sich in einem geräumigen, hell erleuchteten Raum mit verhängten Fenstern. Gamelin erhob sich. Seine greisen, etwas argwöhnischen Augen lächelten freundlich. Der Generalissimus war schlicht gekleidet – er trug eine Felduniform und an den Beinen Wickelgamaschen. „Entschuldigen Sie, wir leben hier auf Soldatenart. Krieg ist Krieg“, sagte er liebenswürdig, als er Benoit einen einfachen Stuhl hinschob. „Ich habe Ihren Brief bekommen. Sie wollen also die Front besuchen?“ „Ja, aber vorher möchte ich mich mit der Lage vertraut machen. Darf ich Ihnen einige Fragen stellen?“ „Gewiß, aber nur zur persönlichen Information, ohne Notizblock, wie man bei euch Journalisten sagt.“ Jules interessierte das Hauptproblem: Würde es möglich sein, den symbolischen Kriegszustand aufrechtzuerhalten, der schon über ein halbes Jahr dauerte? „Sehen Sie, ich bin nur Soldat“, antwortete Gamelin, betrachtete angelegentlich seine Fingerspitzen und vermied es, seinen Besucher anzusehen. „Wenn die Diplomaten flüstern, dürfen die Kanonen sie nicht stören. Genauso halten wir es.
Und was die Diplomatie betrifft, da sind Sie doch besser im Bilde als ich. Aber ich glaube…“ Der Oberbefehlshaber zögerte. „Ich glaube, daß sich die Lage mit der Ankunft von Mister Welles aus Washington klären wird. Es scheint, die Deutschen werden uns nicht daran hindern, Truppen in Narvik zu landen. Ich sage Ihnen im Vertrauen, daß unsere Truppentransporter bereit sind, auf den ersten Befehl hin nach Norwegen auszulaufen. Das Expeditionskorps haben wir zwei Monate früher aufstellen können, als Mannerheim versprochen war. Wie Sie sehen, können wir, wenn es erforderlich ist, sehr operativ sein…“ Der Oberbefehlshaber hatte sich zwar überlegt, ob er Benoit in das militärische Geheimnis einweihen sollte, doch die Vorbereitung des Expeditionskorps zum Abtransport nach Finnland war schon lange kein Geheimnis mehr. Zumindest nicht für Benoit. Das fünfzigtausend Mann starke französische Expeditionskorps war bereits seit zwei Wochen in den nördlichen Häfen von Frankreich zusammengezogen. Die Truppen warteten nur auf den Befehl zur Verschiffung. Zusammen mit dem britischen Korps von hunderttausend Mann betrugen die Expeditionsstreitkräfte der Alliierten an die zehn komplette Divisionen. Von ihrer Landung in Petsamo versprach man sich eine sofortige Änderung der Lage in Finnland. Benoit wußte auch, daß Gamelin vom Obersten Kriegsrat der Alliierten beauftragt worden war, die Finnlandoperation vorzubereiten. Der Oberbefehlshaber war auf diesen Auftrag stolz. Selbstbewußt sagte er: Wenn man ihm auch das Kommando über das Korps übertrüge, würde er den bolschewistischen Horden in Finnland im Nu den Garaus machen und in zwei Wochen vor Leningrad stehen.
Daran mußte Jules denken, als er jetzt dem Oberbefehlshaber gegenübersaß. Ja, Gamelin mit seinen klaren blauen Augen und dem rötlichen Flaumhaar auf dem Kopf war bei weitem nicht so gutmütig, wie es den Anschein hatte… „Ich habe Ihre Artikel gelesen, Monsieur Benoit“, fuhr der Oberbefehlshaber fort, „sie helfen uns, unsere strategische Hauptlinie durchzuführen. Finnland wird das Zugpflaster sein, das den Krieg ostwärts lenkt. In der nächsten Woche werden die Transporter auslaufen.“ „Wird das unsere Streitkräfte im Westen nicht schwächen?“ fragte Benoit naiv. „Ich meine das theoretisch, sagen wir für den Fall, daß es Hitler in den Sinn käme, die Offensive zu beginnen.“ Gamelin lächelte nachsichtig. „Ich bin bereit, Hitler oder jedem seiner Generale, der die Offensive beginnt, eine Milliarde Franc zu zahlen! Leider ist Hitler nicht so dumm, sich in ein solches Abenteuer zu stürzen. Die Maginotlinie ist eine harte Nuß. Wissen Sie, wer eine solche Verteidigungslinie bezwingen will, muß dreimal soviel Infanterie haben wie der Verteidiger! Frankreich ist nicht Polen. Eine dreifache Überlegenheit an lebendiger Kraft hieße, daß die Deutschen mindestens dreihundert Divisionen haben müßten. Wo will Hitler die hernehmen? Deshalb macht es den Alliierten kaum etwas aus, zehn Divisionen nach Finnland abzuziehen.“ Die hellen Augen des Marschalls waren auf die Zimmerdecke gerichtet, sein Gesicht hatte sich gerötet. Ihn erregten die eigenen Worte. Er schien jetzt aufgeschlossener als zu Beginn des Gesprächs. „Und nicht nur nach Finnland“, sagte der Oberbefehlshaber,
die Stimme senkend. „Mit zwei Scheren kneifen die Krebse stärker. Entschuldigen Sie den Vergleich. Ich habe bis jetzt vom Norden gesprochen. Aber sehen Sie mal, was im Süden passieren kann. Ich bin sicher, daß Sie darüber kaum etwas wissen.“ Gamelin zog den Schreibtischkasten auf. Er blätterte in einem Stoß maschinengeschriebener Seiten, strich eine Stelle an und hielt Benoit das Blatt hin. „Lesen Sie das. Es ist ein Durchschlag meines Berichtes an den Obersten Kriegsrat. Ich habe ihn erst gestern unterzeichnet und abgeschickt.“ Benoit nahm das ihm gereichte Blatt. Er las langsam, um sich einzuprägen, was der Oberbefehlshaber in seinem Bericht geschrieben hatte. „Wir müssen unsere skandinavischen Pläne“, las er, „auch weiterhin mit aller Entschlossenheit durchführen, um Finnland zu retten oder zumindest die schwedischen Erzgruben und die norwegischen Häfen in unsere Hand zu bekommen. Nichtsdestoweniger muß festgestellt werden, daß eine Besetzung des Balkans und des Kaukasus für uns vorteilhafter wäre.“ „Sie schlagen also vor…“ „Ja, ich schlage das vor, was Sie eben gelesen haben!“ rief Gamelin, der immer mehr aus sich herausging. „Es ist nicht meine Idee, ich bin nur Soldat, aber ich habe diese Idee in einen konkreten militärischen Plan gefaßt. Bereits im Januar hatte mich der Ministerpräsident ersucht, ein, wie er sagte, .Memorandum über eine mögliche Intervention zur Zerstörung der russischen Erdölbezirke’ auszuarbeiten… Wie Sie sehen, gibt es solche Möglichkeiten. Das ist nicht nur ein Plan, das ist etwas Realeres.“ Gamelin legte das Blatt wieder in den Tischkasten. „An dem Bakuer Erdöl sind nicht nur
wir, sondern auch die Engländer und Washington interessiert. Wenn Mister Bullitt diese Idee unterstützt, dann…“ Benoit hörte dem Oberbefehlshaber mit brennendem Interesse zu. Und Gamelin redete und redete. Dabei enthüllte er vieles, was Benoit tatsächlich nicht gewußt hatte. Warum der siebzigjährige, sonst zurückhaltende Veteran des ersten Weltkrieges so offenherzig mit einem Zeitungskommentator sprach, ließ sich nicht leicht erklären. Vielleicht, weil beide Operationen – die in Finnland wie die im Süden – beschlossene Sache waren und kein großes Geheimnis mehr darstellten. Vielleicht auch aus Eitelkeit, im Vorgenuß der Popularität, die ihm die Verwirklichung dieser Pläne bringen mußte. „Möglicherweise ist Ihnen aufgefallen“, fuhr der Oberbefehlshaber fort, „daß London einen gewissen General Deedes als militärischen Berater in die Türkei geschickt hat. Wissen Sie, wer dieser Deedes ist? Vor zwanzig Jahren war er Stabschef der britischen Truppen im Kaukasus. Ja, ja, Stabschef der britischen Truppen im Kaukasus!“ wiederholte Gamelin mit Nachdruck, als er in den Augen des Journalisten Erstaunen las. „Wie Sie selbst wissen, erfolgt eine solche Ernennung nicht zufällig. Daß unser alter General Weygand Befehlshaber der französischen Truppen in Syrien geworden ist, ist ja auch kein Zufall. Sie kennen sich doch in der Geographie aus, Monsieur Benoit – von Syrien ist es bis nach Baku oder Batum, überhaupt bis zum russischen Erdöl, nicht allzu weit. Bombenflugzeuge brauchen beispielsweise von Djisr aus nur acht Stunden… Die südliche Schere wird Weygand übernehmen. Er hat seinerzeit ebenso wie Deedes gegen die Bolschewisten gekämpft und am Marsch der Polen auf
Kiew teilgenommen.“ Jules hatte erwartet, der Oberbefehlshaber würde ihm bestenfalls zehn Minuten widmen, aber Gamelin schien es nicht eilig zu haben; verstohlen blickte Jules auf seine Armbanduhr – die Unterredung dauerte bereits fast eine Stunde. Obwohl er nicht gerade scharfsichtig war, begriff er allmählich den Zweck des Gesprächs. Der Oberbefehlshaber brauchte offenbar seine Hilfe. Worin diese bestehen sollte, war ihm allerdings noch nicht ganz klar. Während der Unterhaltung zeigte ihm Gamelin ein weiteres Dokument – ein Schreiben von Weygand, das er vor zwei Tagen erhalten hatte. Der Befehlshaber der französischen Truppen in Syrien teilte mit, daß Luftmarschall Mitchell, dem das Kommando über die englischen Luftstreitkräfte im Nahen Osten übertragen war, kurz zuvor in Beirut angekommen sei und Instruktionen von London habe, Luftangriffe auf Baku und Batum vorzubereiten. Der Brief verriet, daß Weygand mit der Unschlüssigkeit des französischen Generalstabs unzufrieden war. Das war natürlich ungerecht. Gamelin hatte gerade heute wegen der Aktionen im Kaukasus eingehende Instruktionen an Weygand abgesandt. Mit einem leichten Bedauern in der Stimme sagte Gamelin zu Jules, die Operationen im Süden verzögerten sich wegen der Haltung der Türkei. Die Türken hätten Angst und schwankten. Benoit wußte vom Ministerpräsidenten, zu dem er seit der Bekanntschaft mit Mme. de Crussol beste Beziehungen unterhielt, daß die Engländer alles daransetzten, die Skandinavier dazu zu bewegen, Finnland Hilfe zu leisten. Churchill
hatte darüber ganz offen auf einem Frühstück gesprochen, zu dem die Journalisten der neutralen Länder eingeladen waren. Die Norweger und Schweden hatten sich dem Vorschlag gegenüber sehr kühl verhalten. Man hätte auch ohne sie auskommen können, aber leider mußte man auf eine Landung in Petsamo verzichten – es lag zu dicht bei Murmansk, dem nördlichen Hafen und Stützpunkt der Russen. Offenbar fand sich nicht so leicht ein Schild, hinter dessen Deckung hervor man ohne Kriegserklärung zu schießen beginnen konnte. Und diese Neutralen bekam man auch nicht leicht unter einen Hut. Selbst die Türken machten sich zu viel Gedanken, bevor sie ins Wasser sprangen… Es war neunzehn Uhr fünfzehn, als der Oberbefehlshaber die Audienz beendete. „Sie wollen also die Front besuchen?“ sagte er zum Schluß. „Sehen Sie sich unsere Maginotlinie an, wir befinden uns dahinter in voller Sicherheit. Versuchen Sie, die Leser davon zu überzeugen. Auf die Maginotlinie gestützt, können wir uns anderen Aufgaben zuwenden… Den Krieg, den wir jetzt führen, nennt man den ,komischen’ Krieg. Ich würde zufrieden sein, wenn Ihnen aus unserer heutigen Unterhaltung klargeworden ist, daß es hier nichts Komisches gibt. Das ist unsere Strategie. Das Spiel lohnt den Einsatz. Also dann, auf Wiedersehen! Sie können, wenn Sie wollen, schon morgen fahren – ein Wagen steht Ihnen zur Verfügung. Wenn möglich, nehmen Sie noch einen Journalisten mit – ich denke dabei an Leon Terzie. Ich möchte ihn durch Tatsachen überzeugen. Nochmals, auf Wiedersehen!“ Jules lag auf der Couch neben der schlummernden Lucienne.
Müde kreisten seine Gedanken um das Gespräch mit dem Oberbefehlshaber. Da fiel ihm ein, daß er vergessen hatte, in der Klinik anzurufen. Sofort war er hellwach. Er richtete sich auf und schob das Telefon zu sich heran. Auf dem Tisch standen noch halbgefüllte Weingläser, Teller mit Abendbrotresten und eine Kristallvase mit Blumen, die Jules mitgebracht hatte. Ohne Blumen machte er nie Damenbesuche. Jules wählte hastig die Nummer. Am Apparat war der Arzt von vorhin: „Ja, alles ist glücklich überstanden. Gratuliere zur Geburt einer Tochter… Nein, Madame Benoit schläft noch nicht… Selbstverständlich können Sie mit ihr sprechen, jedes Bett hat Telefonanschluß. Einen Augenblick, gleich wird umgeschaltet…“ Lucienne schlug die Augen auf, gähnte und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Mit wem telefonierst du?“ „Einen Augenblick!“ Jules hielt die Sprechmuschel zu. „Ein dringendes Gespräch. Bitte, verhalte dich ruhig!“ Im Hörer erklang die Stimme seiner Frau, müde, aber glücklich. Lucienne hörte nur, was Jules sagte. „Ich bin ja so glücklich, mein Kleines… Ja, der Arzt hat mir schon gesagt… Aber gewiß doch, gewiß!… Das ist großartig!… Ist alles glatt gegangen?… Ach, du Armes!… Aber jetzt ist doch alles wieder gut?… Bist doch ein tüchtiger Kerl!… Hast du genug Milch?… Wie, nicht gleich?… Ach so!… Ich dachte doch… Natürlich will ich… Ich bin eben erst mit der Arbeit fertig geworden… Ja, ich war bei Gamelin… Es war sehr wichtig… Er ist bezaubernd!… Ob ich müde bin? Aber, wo denkst du hin!“ Lucienne bewegte sich. Jules streckte warnend die Hand vor,
als wollte er ihr den Mund zuhalten. „Es ist jetzt noch nicht zu spät?… Ich komme sofort!… Ja, ja, sofort… Aber das ist doch selbstverständlich!… Für dich… Ich fahre sofort!“ Er legte den Hörer auf und begann sich anzukleiden. Schade, daß er keine Blumen hatte. Die Läden waren bereits zu. Aber ohne Blumen – nein, unmöglich! Zu dumm! Sein Blick fiel auf die Kristallvase. „Sag mal, darf ich den Strauß mitnehmen?“ „Nimm ihn und die Vase gleich dazu! Sie ist ja auch ein Geschenk von dir.“ Lucienne drehte sich wütend zur Wand um. Schon wieder beleidigt! Das wurde ja direkt langweilig! Er küßte sie, bereits angezogen, auf die nackte Schulter. Lucienne zog ihren Arm weg. Oh, diese Launen! Jules nahm den Strauß aus der Vase, schüttelte das Wasser ab und verließ das Zimmer. Auf der Straße nahm er ein Taxi und fuhr zur Klinik. Nach Cambrai und Valenciennes konnte man vom Nordbahnhof aus fahren. Aber Leon Terzie bestand darauf, das Stabsauto zu benutzen, das Gamelin ihnen liebenswürdigerweise angeboten hatte. Er behauptete, mit dem Zug wäre die Fahrt länger und umständlicher. Jules seinerseits hielt eine so lange Reise im Auto für ermüdend. Aber seine Zeit war ebenso wie die Terzies knapp bemessen. Er wollte höchstens drei Tage von Paris fernbleiben. Nach langem Hin und Her gab Jules seufzend nach. Leon sollte ihn also anderntags möglichst zeitig abholen. Am nächsten Morgen – es war ein Märztag – hielt in einer Seitenstraße des Quai d’Orsay ein Wagen mit Tarnanstrich. Durchdringendes Hupen unterbrach die Stille der Straße und
erregte das Ärgernis des Concierge: Auch eine Art, die Mieter in aller Herrgottsfrühe zu beunruhigen! Nach einiger Zeit erschien Jules im Pyjama am Fenster. Er winkte und verschwand wieder. Terzie, den es in der Morgenkühle fröstelte, ging lange neben dem Wagen auf und ab. Er hatte zwei Zigaretten rauchen können, bis Benoit endlich in der Haustür auftauchte. In dem stahlgrauen Mantel mit dem breiten Gürtel schien er geradezu von athletischem Körperbau. Ihm folgte die schmächtige Frau des Concierge mit einem großen Koffer. Das Gepäckstück wurde im Kofferraum verstaut, und der Pkw setzte sich in Bewegung. Die erste Zeit fuhren sie schweigend. Als sie aber aus der Stadt heraus waren und der Wagen mit erhöhter Geschwindigkeit auf der asphaltierten Chaussee dahinrollte, fragte Terzie: „Sollten wir nicht einen Abstecher nach Arras machen? Dort ist der Stab von Gort.“ „Bei den Engländern gibt es jetzt nichts Interessantes. Besser, wir fahren nach Cambrai.“ „Gut, einverstanden.“ In der Tat hätten sie in Arras, wo sich der Stab des British Expeditionary Force befand, kaum etwas ausrichten können. Im Wagen wurde es wieder still. Der Fahrer saß mit eleganter Lässigkeit am Lenkrad, das er nur mit einer Hand hielt. Als ihnen ein elefantenartiges Ungetüm von Lkw entgegenkam, wich er nicht einen Zoll aus. In einem Abstand von wenigen Zentimetern raste er an dem Lkw vorbei. Jules war unwillkürlich nach rechts gerutscht. „Können Sie nicht vorsichtiger fahren?“ brummte er ärgerlich. Er hatte sich ganz schön erschrocken. „Ja, Monsieur!“ Der Sergeant legte auch die andere Hand auf
das Lenkrad, aber es dauerte nicht lange, da nahm er sie zerstreut wieder herunter. Leon lächelte. „An der Front sind Gefahren nun einmal unvermeidlich, und wir fahren doch an die Front.“ „Besten Dank! Ich möchte nicht zu so einem Klecks werden.“ Jules zeigte auf die Schutzscheibe, an der die gelbgrüne Spur eines Insekts klebte. „Hier ist kein Krieg und wird auch keiner sein.“ „Ja, mag stimmen… An der Front ist es jetzt ungefährlicher als im Auto. Wahrhaftig, ein komischer Krieg. In Spanien war es anders.“ „Waren Sie lange dort?“ „Nein, ungefähr ein halbes Jahr.“ „Was hat Sie eigentlich dahin getrieben? Ihre Überzeugung?“ „Nein, das nicht… Die Jagd nach Eindrücken.“ „Sie sind wie ein kleiner Junge, Sie müssen immer dort sein, wo geschossen wird.“ „Dafür habe ich aber viel gesehen. Ich sage nicht verstanden, aber gesehen.“ „Was gibt’s da groß zu verstehen! Die Russen wollten nach Spanien rein, aber Hitler ließ es nicht zu und half Franco. Das ist doch klar.“ „So ein Unsinn! Russen waren dort so gut wie gar nicht.“ „Aber ihre Panzer, ihre Flugzeuge, die waren da, und außerdem…“ „Ja, zu unserer Schande gab es dort alles, bloß keine französischen Waffen. Wir spielten Nichteinmischung, Neutralität. Wie dem auch sei, eins habe ich begriffen – wir haben die Spanier verraten. Und nicht nur die Spanier. In den Interna-
tionalen Brigaden waren viele Nationalitäten vertreten, auch Franzosen. Die haben wir ebenfalls verraten. Das habe ich mit meinen eignen Augen gesehen. Ich selbst…“ „Ach, hören Sie doch auf!“ Jules runzelte unzufrieden die Stirn. „Wer braucht die tönenden Phrasen! Franco war eben stärker als die Roten. Das ist eine innere Angelegenheit der Spanier. Was haben wir damit zu tun?“ „Wir haben mehr als nur Spanien verraten. Ich hab viel darüber nachgedacht. Gerade in Spanien hat Hitler erfahren, daß er ungestraft schalten und walten kann. Dort begann er sich einzubilden, daß er ein Genie sei, dem alles gelingt. Dort begann er sich stark zu fühlen. Das haben wir, die Franzosen und die Engländer, ihm eingegeben. Von den Amerikanern will ich gar nicht reden. Wenn wir uns in der spanischen Frage so verhalten hätten wie die Russen, würde es Hitler nicht gewagt haben, sich in neue Abenteuer zu stürzen, hätte er es nicht riskiert, Polen und die Tschechen zu überfallen. Dann wäre der Faschismus bei Madrid zusammengebrochen, und wir brauchten jetzt weder diese Komödie des komischen Krieges zu spielen, noch brauchte eine halbe Million spanischer Soldaten in Frankreich hinter Stacheldraht zu sitzen. Wir haben Südfrankreich in ein Konzentrationslager verwandelt… Diesen Schandfleck werden wir lange nicht los.“ „Schandfleck?“ Jules zuckte die Achseln und langte in die Tasche nach einer Zigarette. „Ich würde das Zweckmäßigkeit nennen. Begriffskategorien wie Schandfleck, Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit verlieren in der großen Politik ihre Bedeutung.“ „Genauso denkt Hitler.“ „Vielleicht hat er recht. Man muß objektiv sein.“
„Hören Sie, Jules, ich versuche mit Ihnen wie mit einem anständigen Menschen zu reden, aber Sie sind einfach…“ Nur mit großer Willensanstrengung unterdrückte Terzie das grobe Wort, das ihm auf der Zunge lag. „Sie sind ein intoleranter Mensch, Leon“, sagte Benoit. Er sagte das in dem herablassend-gönnerhaften Ton, den Menschen annehmen, die eine gewisse Stellung in der Gesellschaft haben. Leon schwieg. In Gedanken versunken, saßen sie hinten im Wagen. Jules dachte über Leon nach. Warum war er so gallig und unverträglich? Wahrscheinlich hatte er im Leben wenig Glück. Man muß sich eben anders verhalten. Beispielsweise so wie er, Jules. Leon aber dachte an eine andere Straße, eine Straße in Spanien. Sie fuhren damals ebenfalls an die Front, nach Teruel. Auf einem Lkw saßen sie und sangen ein neapolitanisches Liedchen. Sie hatten es vom Bataillon Garibaldi gelernt. Übrigens sangen es alle in der Brigade, Deutsche und Engländer, Polen und Russen… Wie fing es doch gleich an? An den Refrain erinnerte er sich noch, er endete mit den Worten: „… wie die Augen meiner Liebsten.“ Celino aus Rom hatte ihm das Liedchen beigebracht. Es war ein ganz schlichter Text. Fing es nicht an: „In Neapel brennt die Sonne so heiß wie die Augen meiner Liebsten…?“ Und weiter? Zuerst summte Leon die Melodie leise vor sich hin, dann sang er lauter, nach den Worten suchend. Dabei fiel ihm noch vieles andere ein. Den Rhythmus trommelte er mit den Fingern auf den Ledersitz: „Tra-la-la-la! Tra-la-la-la! La-la! La-la!“ Die Melodie schien nicht zu stimmen. Er hatte noch nie ein
gutes Gehör gehabt. Im Bataillon war das unter den Stimmen der anderen nicht weiter aufgefallen, aber jetzt… „In Neapel brennt die Sonne so heiß wie die Augen meiner Liebsten…“ Nanu, was war das? Der Fahrer sang ja. Terzie hielt vor Verwunderung inne. Das Lied war für ihn wie eine Parole. Er sang mit. Jetzt stimmte die Melodie, und die italienischen Worte drängten sich ihm von selbst auf die Zunge. „In Neapel ist der Himmel so blau wie die Augen meiner Liebsten, wie die Augen meiner Liebsten. In Neapel ist nächtens der Himmel so tief, wie die Augen meiner Liebsten, wie die Augen meiner Liebsten…“ „Woher kennen Sie das Lied?“ fragte Leon. „Waren Sie dort?“ Der Fahrer verstand: dort – das hieß Spanien. „Ja, Monsieur, wir haben es in Madrid gesungen.“ Jules überlegte inzwischen: Wahrscheinlich ist er Kommunist. Es gibt also noch immer welche davon. Ich müßte es weitermelden… Die beiden fingen wieder zu singen an. Dann sprachen sie über Spanien. Wie sich herausstellte, hatten beide bei Teruel gekämpft. In Albacete hatten sie dasselbe Quartier gehabt, nur zu verschiedener Zeit. Beide waren sie in Alicante und in Valencia gewesen, und wie’s schien, hatten sie die Brücke in Irun an ein und demselben Tag passiert – der Fahrer morgens und Leon gegen Abend. Leon erinnerte sich noch deutlich an diese nach Frankreich führende Brücke mit dem niedrigen, verwitterten Geländer: Scharen von Flüchtlingen; verhärmte Frauen in schwarzen Schals, auf dem Arm stille Kinder; finstere, verbitterte Sol-
daten mit Gewehren und Decken; französische Gendarmen, die dem Übergang der republikanischen Truppen gleichgültig zusahen. Übrigens waren das schon keine Truppen mehr. Jenseits der Brücke verwandelten sich die Soldaten in einen Haufen unsicher gewordener Menschen. Und doch zweifelte Leon keinen Augenblick an der Tapferkeit jedes einzelnen der Männer, die neben ihm gingen. Noch auf den Zugangsstraßen zur Brücke, noch auf der Brücke selbst, wo sie sich müde, mit Gewehren, aber ohne Patronen dahinschleppten, waren sie eine Truppe, waren sie Soldaten gewesen. Die Waffenbrüderschaft hatte sie vereint, vielleicht auch das Ziel, wenngleich es ein letztes und trauriges Ziel war, dem sie zustrebten – die Brücke von Irun. Hinter der Brücke endete Spanien. Bis zu diesem Tag hatte Leon geglaubt, in Spanien nur ein unbeteiligter Zuschauer gewesen zu sein, ein „Augenzeuge“, wie er sich gern nannte. Aus Neugier, auf der Suche nach Eindrücken war er hingefahren. Aber dort, jenseits der Brükke, als er wie die anderen sein Gewehr auf den großen Haufen geworfen hatte, empfand er auf einmal eine tiefe innere Leere, kam er sich plötzlich hilflos und überflüssig vor. Und wie die anderen mochte er verlegen gelächelt und fremde Blicke gemieden haben. Im Konzentrationslager für die internierten Republikaner blieb Leon nicht lange, nur ein paar Tage. Die Franzosen wurden polizeilich registriert und freigelassen, aber die übrigen – eine halbe Million Internierter – wie viele Monate saßen sie jetzt schon in den Lagern im Süden Frankreichs? Alle diese Gedanken jagten zusammenhanglos, halb unbewußt durch Leons Kopf, als er mit dem Fahrer Simon Gue-
tier Erinnerungen austauschte, bei denen es immer wieder hieß: „Wissen Sie noch…“, „Vielleicht erinnern Sie sich…“, „Haben Sie nicht auch gehört…“ So unterhalten sich Landslcute oder Regimentskameraden, die sich zufällig unterwegs treffen oder in einem Lokal unverhofft an ein und demselben Tisch zu sitzen kommen. Simon hatte seine Zurückhaltung, den ehrerbietig-höflichen Ton abgelegt, den er sich im Umgang mit seinen Fahrgästen, den Stabsoffizieren, angewöhnt hatte. „Waren Sie nicht zufällig auch in Asturien, Monsieur?“ fragte er wieder einmal, sich umdrehend. „Aber natürlich! Wir zogen durchs Gebirge zur Biskaya. An der Küste hätten uns die Falangisten beinahe geschnappt…“ Und aufs neue erstanden die letzten Tage der Republik. Zwölf Mann waren sie nur noch, die sich in den Felsen verborgen hielten, davon drei verwundet. Unter ihnen waren eine junge Polin, eine Funkerin, und ein polnischer Hauptmann. Alle nannten ihn Fernando, obwohl er einen anderen Namen hatte. Der Hauptmann liebte das Mädchen und war auf einen Maler aus Paris eifersüchtig. Was für seltsame Wege das Leben doch manchmal ging! Der Maler war wiederholt mit einem Sportflugzeug zu ihnen gekommen, als noch niemand an eine Niederlage dachte. Er brachte ihnen Patronen und nannte sich einen Schmuggler. Vermutlich war auch er in die Polin verliebt. Wie Celino erzählte, hatte der Maler beim letzten Abschied zu Regina gesagt: „Wenn Sie in eine schwierige Situation geraten, dann lassen Sie es mich wissen. Ich eile Ihnen sofort zu Hilfe.“ Einen Monat darauf waren sie an der Küste, hungrig und ohne Waffen, richtiger gesagt ohne Patronen. In einer Felsen-
höhle fanden sie Unterschlupf. Die Verwundeten stöhnten. Das Mädchen sagte zu Fernando, der unter ihnen der Rangälteste war: „Sollte man nicht Monsieur Cambrai einen Funkspruch senden?“ Der Hauptmann antwortete nicht. Er stand auf und sagte: „Vielleicht finde ich eine Quelle. Ich mache mich auf die Suche.“ Er ging fort und kehrte nachts zurück. Wasser hatte er nicht gefunden. Die Verwundeten verlangten zu trinken. Fernando fragte: „Kennst du die Rufzeichen?“ – „Ja, er hat die Rufzeichen eines Freundes, eines Funkamateurs, hinterlassen.“ Sie gingen beiseite und führten ein langes Gespräch. Dann richtete das Mädchen ihr Funkgerät her. Am nächsten Morgen, als die Sonne schon ziemlich hoch stand, erschien am Himmel ein Sportflugzeug. Es landete an der Küste, wo der Sand fest und eben war. Der Maler trug einen Fliegeranzug und Ledergamaschen. Lächelnd sagte er: „Um drei Uhr nachts habe ich von Ihrem Funkspruch Kenntnis erhalten. Wir können fliegen.“ – „Nein“, erwiderte Regina, „schaffen Sie zuerst die Verwundeten weg, ich fliege als letzte.“ Der Maler war bekümmert, erhob aber keine Einwendungen. Cambrai flog dreimal. Er setzte seine Passagiere in der Umgebung von Bordeaux ab und kehrte jedesmal gleich wieder zurück. Das letztenmal tauchte er über der Küste bereits am Nachmittag auf. „Kommen Sie jetzt mit?“ Das Mädchen lehnte das Angebot wieder ab, aber Celino protestierte. Es gelang, sie zu überreden. Diesmal flogen Fernando, die Funkerin und ein asturischer Bergmann mit, der ihnen als Führer gedient hatte. Regina sagte: „Geben Sie mir Ihr Wort, daß Sie noch einmal zurückfliegen?“ – „Ja, in zwei Stunden bin ich wieder da.“
Sie warteten bis zum Abend, aber das Flugzeug kam nicht. Als es dunkelte, sagte Celino: „Der Maler ist nichts als ein elender Schürzenjäger. Nur deshalb ist er immer hierher gekommen. Los, gehen wir!“ Sie brachen auf und gingen in Richtung Irun. Als sie dann unterwegs auf eine Falangistenstreife stießen, verloren sie sich im Dunkeln aus den Augen. In Paris erfuhr Terzie, daß der Maler als vermißt galt. Er erinnerte sich an ein Gespräch, das französische Flaksoldaten neben ihren Geschützen bei Irun geführt hatten. Die Spanienkämpfer hatten nebenan auf ihren Abtransport gewartet. Der eine Flaksoldat sagte: „Dies Vögelchen haben wir fein runtergeholt.“ Ein zweiter antwortete: „Ich wette, daß er an den Felsen zerschellt ist.“ Der erste fügte hinzu: „Soll der Dummkopf doch woanders Sport treiben.“ Vielleicht hatten sie den Maler gemeint. Vielleicht war es nicht Cambrais Schuld, daß er sein Wort nicht gehalten hatte. Simon drehte sich wieder zu Terzie um. „Ich habe aus Asturien ein Andenken mitgebracht. Wollen Sie es sehen?“ Er wühlte in seiner Tasche und holte eine Bronzemünze in der Größe eines alten Louisdors hervor. „Die Asturier hatten sich selbst Münzen geprägt.“ Leon betrachtete die Münze. Die spanische Aufschrift auf der Rückseite lautete: „Asturische Republik 1939.“ Benoit zeigte sich ebenfalls interessiert. Er war Münzensammler – schließlich mußte man doch ein Hobby haben. Die Münze war wirklich eine Seltenheit. „Verkaufen Sie sie mir“, wandte er sich an den Fahrer. „Nein, Monsieur, sie ist unverkäuflich.“ „Ich werde sie gut bezahlen.“ „Nein, ich will nicht.“
Benoit verzog unwillig das Gesicht. Die Münze wäre ein Glanzstück seiner Sammlung gewesen. „Ich biete zweihundert Franc.“ „Nein, Monsieur, die Münze ist nicht verkäuflich.“ Auch Simon machte jetzt ein finsteres Gesicht und wurde wieder betont höflich und zurückhaltend. Daß er eben noch so angeregt gewesen, war ihm nicht mehr anzusehen. Sie frühstückten auf halbem Wege nach Valenciennes in einem Dorfgasthaus. Gegen Mittag kamen sie in Vervins beim Armeestab an, der samt seinen Dienststellen in dem kleinen verschlafenen Flecken untergebracht war. Vervins, das nur an Sonn- und Markttagen eine gewisse Belebung erfuhr, hatte durch die Anwesenheit des Stabes nichts von seinem idyllischen Charakter eingebüßt. Es war nach wie vor der verträumte, bezaubernde Flecken geblieben, in dem das Leben monoton und gemächlich dahinplätscherte. Das Auto der Journalisten fuhr in Vervins zu der Zeit ein, da die Stabsoffiziere sich nach der Mittagspause wieder zum Dienst begaben. In ihren Felduniformen schritten sie forsch auf den schmalen Bürgersteigen aus, salutierten sich zu und grüßten zackig die Damen. Die Frauen und Töchter der Bürger von Vervins mußten wohl just zu dieser Stunde dringende Besorgungen zu erledigen haben, denn sie erschienen zu dieser Zeit in großer Zahl auf den Straßen. Diese Belebung in den Straßen währte genau so lange, wie die Offiziere benötigten, um von ihren Wohnungen oder möblierten Zimmern zum Stab zu gelangen. Da die meisten in der Nähe ihrer Dienststellen wohnten, hielt das Gedränge in den Straßen nicht lange an. Als Simon und das Auto auf den mit rötlichen Kopf-
steinen gepflasterten Marktplatz fuhr, verschwanden die Offiziere gerade in den Hauseingängen. Kurz darauf verschwanden auch die geschäftigen jungen Damen von den Straßen, und Vervins nahm wieder sein gewöhnliches verträumtes Aussehen an. Das Auto hielt vor der Einfahrt zu dem einstöckigen Stabsgebäude. Der Befehlshaber der Neunten Armee, General Corap, ein Mann in mittleren Jahren, der vorzeitig Fett anzusetzen begann und nur noch mit Mühe und Not die Gamaschen um die Beine wickelte, kam den Korrespondenten liebenswürdig entgegen. Er hatte eben Mittagsruhe gehalten, und seine Augen waren noch vom Schlaf verquollen. Der General hatte bereits alles Notwendige veranlaßt. Der Kommandeur der Division, die sie besuchen wollten, war verständigt. Die Herren Korrespondenten durften dort auf einen exquisiten Empfang rechnen. Bei der Division – sie stand auf dem rechten Flügel der Armee, unweit eines ebenso verträumten Städtchens wie Vervins – trafen sie gegen Abend ein. Sie übernachteten in einem Gasthaus. Die Wirtin legte ihnen angewärmte Laken in die Betten. Alles war wie in Friedenszeiten. Am nächsten Morgen begaben sie sich zu einem Regiment. Der Divisionskommandeur, der unter der Untätigkeit und dem langweiligen Frontleben litt, hatte sich erboten, die Gäste zu begleiten. Nach einer halben Stunde Fahrt bogen die Wagen von der Straße ab und fuhren zu einem einzeln stehenden Bauerngehöft. Hinter dem von einer niedrigen Steinmauer umfriedeten Obstgarten verlief ein Schützengraben, der sich in Buschwerk verlor.
In jenem Jahr war der Winter in Frankreich streng gewesen. Erst Mitte März begann die Sonne die Erde frühlingshaft zu erwärmen. Auf dem Hof rekelten sich Soldaten in der Sonne. Sie saßen auf einem Stapel Balken, mit denen der Bauer wohl sein Haus hatte ausbessern wollen, bevor der Krieg seine Pläne zunichte machte. Die feuchten, dunkel gewordenen Balken lagen mitten im Hof, neben einem Haufen Brennholz, in das sich ein Teil von ihnen verwandelt hatte. Beim Erscheinen des Divisionskommandeurs sprangen die Soldaten auf und nahmen Haltung an. Sie blieben so lange stehen, bis er in der Tür des Hauses verschwunden war. Danach hielten sie sich wieder ungezwungen, umringten die Wagen und erkundigten sich bei den Fahrern, wen sie gebracht hätten und zu welchem Zweck. Terzie war im Hof geblieben und lauschte den Gesprächen. In einem Durchbruch in der Mauer, die Gehöft und Garten voneinander trennte, tauchte eine hochaufgeschossene Gestalt in Uniform auf. Der Soldat hielt einen Spaten und eine Harke in der Hand. Ohne Hast kletterte er durch das Loch und gesellte sich der Gruppe bei den Autos zu. „He, Frachon“, sagte ein kleiner, lebhafter Bursche in einer speckigen Drillichjacke – und ebensolchen Hosen zu ihm, „sind deine Kaninchen noch nicht krepiert?“ „Warte nur, warte nur!“ erwiderte der Angeredete gutmütig. „Du wirst mich noch früh genug um Kaninchenragout anbetteln! Jedenfalls früher, als deine Hühner Eier legen.“ Frachon bat um Tabak, stopfte sich die Pfeife, blieb eine Weile stehen, hörte zu, warf den Spaten und die Harke über die Schulter und kletterte wieder durch das Mauerloch. Terzie trat an die Mauer und blickte in den Garten. In einer
Ecke türmten sich hinter den dicken Ästen alter Apfelbäume aus Kistenbrettern gefertigte Kaninchenställe. In einem von ihnen lag hinter der Drahttür eine Häsin, umringt von ihren Jungen, die wie kleine Wollknäuel umhersprangen. Nebenan befand sich auf einem Schuppendach ein Taubenschlag. Ein Soldat auf einer Leiter schabte mit einem Stück Sperrholz Taubenmist heraus. Frachon trat zu dem Soldaten und sah ihm zu. „Aus dir wird nie ein Landwirt“, sagte er tadelnd. „Wer läßt denn so was Gutes verkommen? Dieser Mist ist Gold wert. Gib ihn mir.“ „Nimm ihn von mir aus“, gab der Soldat auf der Leiter träge zurück. „Für dich ist mir kein Dreck zu schade.“ Frachon nahm den auf der Erde liegenden Taubenmist mit dem Spaten auf, trug ihn beiseite, spuckte in die Hände und machte sich daran, das aufgetaute, feuchte Gartenland umzugraben. Er arbeitete und schmauchte dabei seine Pfeife. Daraus zu schließen, wie emsig er die fetten Erdschollen umwarf, bereitete ihm seine Tätigkeit einen wahren Genuß. Die Soldaten, die sich mit den Fahrern unterhalten hatten, waren auseinandergegangen und saßen nun wieder auf den Balken. Einer legte die Hand an den Mund und rief: „He, Frachon, machst du ein Spielchen mit?“ Als habe er nicht gehört, grub Frachon schweigend weiter. „He, komm spielen!“ rief der Soldat wieder. „Hast du’s noch nicht über, im Dreck zu buddeln?“ „Ich hab keine Lust, Karten zu spielen.“ „Hol ihn der Henker! Dann spielen wir eben allein.“ Ein anderer zog ein abgegriffenes Spiel Karten aus der Tasche und fing an zu mischen. „Den kriegst du jetzt nicht mehr von den
Beeten weg. Der reinste Maulwurf!“ Die Soldaten begannen zu spielen. Bald danach trat der Divisionskommandeur aus dem Haus, gefolgt von anderen Offizieren. Jules Benoit kritzelte im Gehen etwas in sein Notizbuch. Terzie schloß sich der Gruppe an. Die Hände mit den Karten auf dem Rücken, waren die Soldaten aufgesprungen. Der Divisionskommandeur, ein älterer, hagerer Mann mit einem grauen, gestutzten Schnurrbart, ging voraus. Als Oberst a. D. war er bei Kriegsausbruch gleich vielen anderen ehemaligen Offizieren wieder in die Armee eingetreten. Er hielt – und mit dieser Ansicht stand er nicht allein da – diesen Krieg für ein vorübergehendes Mißverständnis, das die Menschen nur davon abhielt, ihrer regelmäßigen Beschäftigung nachzugehen. In den Jahren nach seiner Verabschiedung hatte der Oberst im Süden Frankreichs einen Hutsalon betrieben. An der Front beunruhigte ihn am meisten der Gedanke, ob seine Frau mit der ihr aufgebürdeten Last fertig wurde. „Hier sehen Sie unseren ganzen Laden“, sagte der Oberst, mit weit ausholender Geste auf die Schützengräben deutend. „Ja, so leben wir… Langweilig!“ Sie blieben am Rand eines Schützengrabens stehen, auf dessen Grund sich gelbe Pfützen gebildet hatten. Vorn zogen sich spärliche Drahtverhaue hin. Weiter weg sah man hinter einer mit Ried bestandenen sumpfigen Niederung eine Chaussee mit weiß angestrichenen Steinen. Zwei belgische Grenzposten mit über die Schulter gehängtem Gewehr gingen an ihnen auf und ab. „Das da ist eins unserer MG-Nester. Später stellen wir hier eine Pak auf. Wie Sie sehen, ist der Geschützstand bereits fertig.“
„Wann wird es denn soweit sein?“ fragte Terzie. „Sobald wir den Befehl dazu haben… Vorläufig ist sie nicht nötig und wird wohl auch kaum gebraucht werden. All das“ – wiederum machte der Oberst eine weit ausholende Bewegung – , „all das hat nur symbolische Bedeutung. Die Deutschen sind nicht so dumm, mit ihren Panzern durch diesen Schlamm zu rollen. Nach Flandern werden sie nicht vorstoßen, wie ja überhaupt…“ „Verzeihung“, wandte Terzie ein, „und der Mechelner Befehl? Sagt der denn nichts über die Pläne Hitlers aus?“ Der Oberst blickte Terzie nachsichtig an. „Unsinn! Ein Täuschungsmanöver, wie wir es von den Deutschen gewohnt sind! Ich habe die Aussagen dieses Nachrichtenoffiziers gelesen… Ein Ammenmärchen! Kennen Sie diese Geschichte?“ wandte er sich an Benoit. „Etwas Dümmeres kann man sich nicht ausdenken. Sehen Sie, ein deutscher Offizier fliegt mit streng geheimen Dokumenten von Münster nach Köln und befindet sich plötzlich auf belgischem Gebiet, in der Mechelner Heide. Der Offizier behauptet, der Pilot sei notgelandet, weil er die Kirche von Maastricht mit dem Kölner Dom verwechselt habe… Wer glaubt das schon! Dann tat er, als wollte er etwas verbrennen, aber verbrannte in Wirklichkeit nichts. Der naive Betrüger! Nach diesen Dokumenten sollten sich die Deutschen anschicken, ausgerechnet durch unseren Sumpf durchzubrechen, den Sie hier vor sich sehen.“ Der Oberst lachte. „Dennoch wurden im Januar Gegenmaßnahmen getroffen!“ „Das ist nicht meine Sache. Ich erhielt damals wie alle anderen den Befehl, die Division in Marsch zu setzen. Die ganze Armee kam in Bewegung, die ganze Armee bis auf meine
Division.“ Der Divisionskommandeur führte die Journalisten beiseite und sagte mit gesenkter Stimme: „Ich bin ein alter Hase, mein Grundsatz ist, keinen Befehl überstürzt auszuführen, denn jeder Befehl kann gleich wieder aufgehoben werden. So war es auch diesmal. Die Truppen kamen in Bewegung, als hätte in der Tat eine Offensive begonnen. Aber während sie die Straßen verstopften, blieb ich hier und rührte mich nicht vom Fleck. Wie man sagt, tut Eile beim Flöhe fangen not. Eine Woche später kehrten alle wieder in ihre Winterquartiere zurück.“ Selbstgefällig glättete der Oberst die grauen Schnurrbartborsten. „Nun, meine Herren, ist es nicht Zeit, das Mittagsmahl einzunehmen? Sie bekommen eine ausgezeichnete Poularde vorgesetzt. Ich habe einen fabelhaften Koch. Der reinste Zauberer! Was für Kognak trinken Sie, Monsieur Benoit?“ „Verzeihen Sie, Herr Oberst.“ Terzie blickte nachdenklich auf die kümmerliche Verteidigungslinie vor seinen Augen. „Wo ist denn aber die neue Maginotlinie, von der die Zeitungen voll waren?“ Benoit sagte unwillig: „Seien Sie nicht so naiv! Wir müssen den Glauben der Nation an die unerschütterliche Stärke Frankreichs festigen. Das ist mehr wert als jede Befestigung.“ Leon entgegnete: „Den Glauben an unsere Stärke durch Betrug festigen?“ „Lassen Sie uns lieber von etwas anderem reden.“ Am nächsten Tag waren die Journalisten im Kreis Montmedy. Ein Fort unweit von Longwy ragte in die Stellung der Deutschen hinein. Noch nicht einmal eine Viertelmeile ent-
fernt lag auf der anderen Seite ein deutsches Dörfchen mit Steinhäusern und Ziegeldächern. Von dem Hügel aus, auf dem sich die niedrigen Bauten des Forts erhoben, konnte man sogar mit bloßem Auge sehen, daß deutsche Soldaten Befestigungen errichteten. Sie arbeiteten in der Stärke eines Zuges. Ohne Jacken, in weißen Hemden mit aufgekrempelten Ärmeln karrten sie Steine und Sand. Es sah aus, als arbeiteten an diesem warmen Frühlingstag in der Umgebung des Dörfchens friedliche Maurer, die weder an den Krieg noch an das mit Maschinengewehren und Geschützen gespickte Fort dachten. Die Journalisten begleitete der Kommandant des Forts, ein stutzerhafter Hauptmann mit hübschem Gesicht. „Warum lassen Sie sie arbeiten?“ fragte Terzie, als sie über die Brustwehr hinweg das idyllische Bild betrachteten. „Wir arbeiten doch auch! Gerade erst in diesen Tagen haben wir die Anlagen, die Sie dort sehen, fertiggestellt. Es ist einer unserer Beobachtungspunkte.“ Der Hauptmann wies auf die betonierten Schießscharten eines etwas vorgeschobenen Bunkers. Der Beton war noch frisch. Vor den Schießscharten lag Bauschutt. Sie gingen durch Verbindungsgänge nach vorn. Ein tiefer Graben schnitt sich in den Hügel ein und endete bei dem Unterstand, von dem der Hauptmann gesprochen hatte. In dem Unterstand saß ein unrasierter Soldat am MG. Ein zweiter hatte sich an die Wand gepreßt und sah durch eine mit einer Stahlplatte abgeschirmte Schießscharte. Terzie schaute über seine Schulter hinweg durch den Sehschlitz. Der Soldat schob die Stahlplatte weg, damit Terzie bessere Sicht habe, und trat beiseite.
Von der Schießscharte aus fiel der Blick auf einen Grenzbach. Das Wasser darin war gefallen, und man sah nacktes, verschlammtes Buschwerk mit Büscheln von Stroh und vorjährigem Gras. Von der gegenüberliegenden Seite kam ein deutscher Soldat zum Bach, anscheinend einer von denen, die die Befestigungsarbeiten verrichteten. Er ging zum Steg hinunter, kauerte nieder, schöpfte mit den Händen Wasser aus dem Bach und wusch seine Stiefel. „Warum schießen Sie nicht?“ fragte Terzie den Wachposten. Ihn ärgerte die dreiste Selbstsicherheit der Hitlersoldaten. In Spanien war das anders. „Warum soll ich schießen?“ fragte der Soldat seinerseits befremdet. „Sie tun uns ja auch nichts,“ Als sie wieder draußen waren, sagte der Hauptmann: „Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen jetzt unsere unterirdische Festung.“ Ein geräumiger Fahrstuhl brachte die Journalisten tief ins Innere der Erde. Ihnen war, als führen sie in eine tiefe Kohlengrube ein. Unten angekommen, gingen sie etwa eine Meile durch einen beleuchteten Tunnel. Mehrmals kamen ihnen Elektrokarren oder Soldaten auf Fahrrädern entgegen. Von dem Haupttunnel zweigten links und rechts Seitengänge ab. In den Wänden befanden sich Nischen mit darin abgestellten Kisten. Betonierte Schächte führten nach oben; unter ihren Öffnungen standen leichte Geschütze. Stahltrossen hingen bereit, sie hinaufzuwinden. „Na, haben Sie sich jetzt überzeugt, daß die Maginotlinie uneinnehmbar ist?“ fragte Benoit triumphierend. „Die unterirdische Festung erstreckt sich bis zur Schweizer Grenze.“ Leon antwortete nicht. Die unterirdischen Anlagen konnten
einen in der Tat stark beeindrucken. Im Offizierskasino sagte der Hauptmann beiläufig: „Wissen Sie schon das Neueste? Die Finnen haben mit den Russen Frieden geschlossen.“ „Was?“ entfuhr es Jules Benoit. „Das kann nicht sein.!“ „Sie können es mir glauben. Ich habe gestern abend noch Radio gehört.“ „Dann müssen wir schnellstens nach Paris zurück. Das ist doch eine Riesenschweinerei!“ Am nächsten Morgen waren die Journalisten wieder in Paris. In einem Vorort ließen sie den Wagen neben einem Zeitungskiosk halten. Die Zeitungen schrieben, Edouard Daladier habe seinen Rücktritt erklärt, mit der Bildung des neuen Kabinetts sei Reynaud beauftragt. Leon lachte. „Ihre Aktien fallen, Monsieur Benoit. Die Gräfin de Portes wird Ihnen die Geschichte mit Abetz nicht verzeihen. Jetzt ist sie es, die in Frankreich an die Macht kommt.“ „Wo fahren Sie hin?“ fragte Jules, ohne auf Terzies Bemerkung einzugehen. „Nach Hause natürlich.“ „Dann setzen Sie mich bei der Redaktion ab.“ Vor dem Redaktionsgebäude verabschiedeten sie sich. Jules war kühl und verärgert. Terzie fuhr durch die Boulevards nach Hause. Der Fahrer half ihm die Koffer hinauftragen. Benoits Koffer mußte Leon vorläufig in seiner Wohnung unterstellen. Als sich Simon Guetier von ihm verabschiedete, sagte er: „Monsieur Terzie, ich möchte Ihnen die Münze schenken. Zum Andenken.“ Er hielt ihm die asturische Münze hin, die
er unterwegs so stolz gezeigt hatte. „Danke sehr. Aber sie ist doch unverkäuflich.“ Leon lächelte, da er sich erinnerte, wie beleidigt Benoit gewesen war. „Ja, das stimmt. Aber Sie sollen sie ja auch zum Andenken haben. Wir haben uns in Spanien nicht schlecht geschlagen. Das war doch etwas anderes als hier. Ein komischer Krieg, Monsieur Terzie! Die Russen kämpfen wahrscheinlich anders.“ Sie tranken zusammen eine Flasche Wein, die Terzie noch zu Hause hatte. Dann ging Simon. Leon goß sich den Rest Wein ins Glas. Ja, dachte er, ein komischer Krieg. Sehr komisch… Im übrigen, was geht’s mich an? Ich bin nur „Der Augenzeuge“. Noch unter dem Eindruck des eben Erlebten, setzte er sich nieder, um aufzuschreiben, was er gesehen hatte – eine Chronik für die Geschichte, wie er sich gern ausdrückte. Sumner Welles, der Sonderbeauftragte des amerikanischen Präsidenten, hatte soeben das Haus des Grafen Ciano verlassen. Er hatte dem italienischen Außenminister einen Besuch abgestattet. Der Unterhaltung hatte Ciano entnommen, was für eine Absicht die Amerikaner verfolgten, als sie den Sonderbeauftragten Roosevelts nach Europa schickten – sie wollten eine Einheitsfront gegen die Bolschewisten schaffen. Die Ereignisse in Finnland hatten dafür neue Perspektiven eröffnet. Welles hoffte, die Amerikaner könnten sich an die Spitze des Kreuzzuges gegen Sowjetrußland stellen. Aber Hitler und Chamber-lain wie auch die Franzosen wollten selber die Führung haben. Jedem ging es darum, einen möglichst großen Vorteil
für sich herauszuholen. Daher auch die Meinungsverschiedenheiten. Aber was gab es dabei zu gewinnen? Erregt und aufgewühlt von der Begegnung mit dem Amerikaner, ging Graf Ciano im Zimmer auf und ab. Sie hatten sich in ihren Ansichten gefunden. Das Kräftegleichgewicht in Europa durfte nicht gestört werden. Wenn Hitler seine Herrschaft zu stark festigte, wäre das ebenfalls gefährlich. Dabei durfte nie vergessen werden, welche Rolle Deutschland als Bollwerk gegen die vom Osten kommende rote Gefahr spielte. Die Amerikaner wollten natürlich – genau wie Hitler – an der roten Gefahr verdienen. Aber wer wollte das nicht? Mit der ihm eigenen feinen Witterung, einem gewissen sechsten Sinn, spürte der italienische Außenminister, daß der amerikanische Abgesandte Europa unverrichteterdinge verlassen würde. In den europäischen Hauptstädten – in London ebenso wie in Berlin und Paris – hatten die Vorschläge des Amerikaners keinen besonderen Beifall ausgelöst. Hitler wollte die erste Geige in Europa spielen, und die Franzosen und Engländer verspürten auch keine Lust, sich vor den amerikanischen Karren zu spannen. Sie hofften, ohne Vermittlung der überseeischen Makler mit Hitler einig zu werden. Ja, Welles war zur unrechten Zeit gekommen. Jetzt fuhr er mißgestimmt wieder zurück. Um so besser – sonst wäre er wohl kaum so zugänglich gewesen. Ciano überlegte, welche Vorteile Italien aus der Unterhaltung mit dem amerikanischen Gast ziehen könnte. Ciano setzte sich an den Tisch, auf dem sein in Saffian gebundenes Tagebuch aufgeschlagen lag. Er war dem Gast gegenüber so offen gewesen, daß er ihm einige Zeilen daraus vorgelesen hatte. Er verband damit eine ganz bestimmte Ab-
sicht. Er wollte beweisen, daß er nicht in allem mit seinem Schwiegervater einverstanden war. Der Amerikaner hatte sich sehr interessiert gezeigt. „Ihre Aufzeichnungen“, sagte er, „besitzen großen Wert. Wenn Sie wollen, helfe ich Ihnen, sie in den Staaten drucken zu lassen. Selbstverständlich nicht sofort, sagen wir in zehn Jahren. Ich könnte sofort einen Vertrag mit Ihnen schließen. Wollen Sie? Ich biete hunderttausend Dollar.“ Sumner Welles war Busineßman. Ciano ging auf das Angebot nicht ein. Zur gegebenen Zeit würde er noch mehr erhalten. Besonders aufmerksam hatte der Amerikaner zugehört, als er seine Aufzeichnung über die Zusammenkunft mit einem Vertreter Finnlands vorlas. Mitte Dezember, kurz nach Beginn des Krieges in Finnland, hatte Ciano folgende Eintragung in sein Buch gemacht: „Ich empfing einen Vertreter Finnlands. Er dankte mir für die gewährte moralische Hilfe. Er bat um Waffen, Spezialisten. Ich antwortete, daß wir Italiener einverstanden seien. Aber ich äußerte Zweifel, ob Deutschland es erlauben würde, Waffen durch sein Gebiet zu befördern. Der Vertreter Finnlands antwortete, ihm bereite das keine Sorgen. Die Frage sei geregelt, zumal Deutschland den Finnen selbst Waffen liefere, namentlich solche, die in Polen und Spanien erbeutet wurden.“ „Das hab ich mir gedacht!“ rief Welles. „Der Vertrag Hitlers mit Moskau besteht nur zum Schein. Diese Feststellung ist außerordentlich wichtig!“ Ciano ergänzte die Information durch weitere Angaben. Er hatte in seinem Ministerium eine spezielle Finnlandabteilung
geschaffen. Die Abteilung sollte die politischen, militärischen und wirtschaftlichen Maßnahmen zur Hilfeleistung an Mannerheim koordinieren. Zum Leiter der Abteilung hatte er Hauptmann Bechi, einen erfahrenen Mann, ernannt. Anfang Januar schickte Bechi eine Gruppe Artilleristen und Flieger als sogenannte Freiwillige nach Helsinki. Aber der Minister hatte dem über den großen Teich gekommenen Amerikaner nicht alles erzählt. Nein, so dumm war er nicht! Mannerheim Hilfe zu leisten war eins, etwas anderes – der diplomatischen Equipage Hitlers Knüppel zwischen die Räder zu werfen. Ciano hatte Wege gefunden, die Russen den Inhalt des Gesprächs mit dem finnischen Gesandten wissen zu lassen – selbstverständlich nur den Teil, der die deutsche Hilfe für die Finnen betraf. Die Idee stammte von Mussolini. Man ließ dem sowjetischen Botschafter in Paris eine anonyme Meldung zugehen. Schon des öfteren hatte man Hitler derartige Streiche gespielt. Während der Kämpfe um Warschau hatten die Deutschen um Durchmarscherlaubnis für ihre Truppen durch Ungarn gebeten. Sie baten nicht nur, sie übten auch Druck aus. Hitler wollte den polnischen Truppen einen Stoß in den Rükken versetzen. Die Ungarn ersuchten Italien um eine Konsultation. Mussolini riet ihnen, den Deutschen eine höfliche Absage zu erteilen. Das taten die Ungarn dann auch. Bei Gelegenheit würde es Hitler ihnen zwar heimzahlen, aber Italien blieb aus dem Spiel… Schlimmer war die Sache mit den Motoren. Ribbentrop machte energische Vorhaltungen wegen der Lieferungen von Flugzeugmotoren an Frankreich. Ferner erhob er den Vorwurf, die Engländer seien in den Krieg eingetreten, weil sie
von der Neutralität Italiens Kenntnis gehabt hätten. Wer hatte das ausplaudern können? Man mußte aufrichtiges Erstaunen heucheln. Ciano versprach, die Angelegenheit überprüfen zu lassen. Die Schuldigen würden, sofern man sie fände, streng bestraft werden. So sagt man immer. Er wälzte alles auf die Lieferfirma ab, in der verantwortungslose Spekulanten säßen. Ribbentrop stimmte zu, daß solche Mißverständnisse die Freundschaft der beiden Länder nicht beeinträchtigen dürften. Wenn dieser Gimpel gewußt hätte, daß er, Ciano, die Belgier bereits vor einem Überfall der Deutschen gewarnt hatte! Einen Monat darauf hatte ihm die Prinzessin von Piemont, die Schwester des belgischen Königs, einen Brief geschickt, in dem sie ihm für die Warnung dankte und ihre freundschaftlichen Gefühle beteuerte. Aber es schien, als nähmen sie dort die Absichten Hitlers nicht ernst. Sie hielten wohl alles für Bluff. Vielleicht war es auch so. Graf Ciano vermerkte in seinem Tagebuch die Zusammenkunft mit dem Abgesandten Roosevelts und ging in den Salon. Im Rauchzimmer stieß er auf den Haushofmeister. Dieser teilte ihm mit, daß ihn eine Frau zu sprechen wünsche. Ihr Name sei Carmelina Celino. Der Haushofmeister hatte sich nicht entschließen können, sie ins Haus zu lassen. Er bat um die Anordnung des Grafen. „Was will sie denn?“ „Sie sagt, ihre Familie habe viele Jahre bei dem alten Grafen in Livorno gedient.“ „Celino? Kenne ich nicht…“ „Sie behauptet, ihr Mann habe das Pony geführt, das Sie ritten, als Sie klein waren.“
„Amüsant! Aber was hat sie hierhergeführt?“ „Sie fragt, ob der junge Graf nicht eine Stellung für sie hätte.“ „Dann nehmen Sie sie doch in Gottes Namen, wenn sie nicht zu alt ist.“ „Gut, Cavallero.“ Der Haushofmeister verbeugte sich und riß die Tür vor dem Grafen auf. 4 Es fügte sich so, daß Andrej auch weiterhin Bataillonskommandeur blieb. Als sie nach drei schlaflosen Nächten die Mannerheimlinie durchstoßen hatten, fand er, daß es den Kameraden gegenüber nicht schön wäre, das Bataillon zu verlassen und wieder ein „kommandierter Federfuchser“ zu werden, wie Stepan Petrowitsch zu sagen pflegte. Überdies vertrat der Divisionskommandeur die Meinung, daß es sinnlos sei, in Tagen, da es heiß herging, ohne zwingenden Grund Stellen umzubesetzen und Leute auszutauschen. Dann griffen sie Ljähde an, ein Dörfchen an einer Weggabelung. Binnen drei Tagen legten sie gegen fünfzehn Kilometer zurück. Besonders hartnäckige Kämpfe hatten sie nicht zu führen, es galt nur, die Nachhuttruppen des Gegners zurückzuschlagen. Doch nach ihrer Division hatten sich alle Truppen auf der Karelischen Landenge in Bewegung gesetzt. Durch die Durchbruchstelle strömten andere Einheiten, die Mannerheimlinie brach zusammen, Hunderte von „Millionären“ wurden erobert. Die Front verschob sich nach Norden, an die nächste Verteidigungslinie der Finnen. Die Divisionen befanden sich jetzt mit ihrem gesamten Troß auf den Straßen. Da die Stäbe rollten und das übliche Etappendurcheinander
begonnen hatte, hätte auch niemand Andrej zur Politabteilung des Korps zurückrufen können. So verging eine Woche. Andrej hatte sich an das Leben in der vordersten Linie gewöhnt und erhob keine Einwendungen, als Stepan Petrowitsch ihm vorschlug, Bataillonskommandeur zu bleiben. Mit der Politabteilung des Korps wollte sich der Divisionskommandeur über den Armeekriegsrat selber verständigen. Andrej erwirkte sich bei dieser Gelegenheit die Erlaubnis, ins Lazarett fahren zu dürfen, um Nikolai Sanin zu besuchen. Tichon Wassiljewitsch war bereits dort gewesen. Als er zurückkam, erzählte er, gottlob sei alles gut abgelaufen, es ginge mit dem Hauptmann wieder bergauf, wegen starken Blutverlustes sei er bisher nicht zurücktransportiert worden, nunmehr aber würde er nur noch ein, zwei Tage in dem Feldlazarett bleiben. Andrej mußte sich beeilen, wenn er den Freund noch sehen wollte. Er fuhr erst spät los. Ein Dreitonner der Division mußte Benzin holen, und Andrej hoffte, mit demselben Kraftfahrzeug nachts zurückzukehren. Unterwegs hatten sie einige unfreiwillige Verzögerungen. Erst gegen Abend langte Andrej an Ort und Stelle an. Das Lazarett war in einem ebenerdigen, halb abgebrannten Haus untergebracht, das von Sanitätszelten mit Zelluloidfensterchen umringt war. Aus dem letzten Zelt trat ein Mädchen in einem lose über den Schultern hängenden Halbpelz. Andrej holte sie ein und fragte, wo er den diensthabenden Arzt finden könne. „Was wollen Sie von ihm?“ erkundigte sich das Mädchen, ihn mit ihren braunen Augen aufmerksam musternd.
Andrej gab Auskunft. „Ah, ich weiß!“ sagte sie lächelnd. „Sie sind Woronzow. Hauptmann Sanin hat von Ihnen gesprochen. Kommen Sie, ich bringe Sie hin. Ich trete gerade meinen Dienst an. Hier lang bitte.“ Das Mädchen ließ Andrej vorangehen. „Lassen Sie sich zuerst die Besuchserlaubnis geben. Dann können Sie weitergehen. Dritte Tür rechts. Ich sage dem Hauptmann inzwischen Bescheid. Bei uns geht’s streng zu.“ In einem weißen Kittel betrat Andrej einige Minuten später das Krankenzimmer. In dem Raum standen vier Betten. Nikolai lag am Fenster, das mit einer Sperrholzplatte abgedeckt war. Nur oben, wo der Fensterrahmen heil geblieben war, sickerte Licht durch. Nikolai wollte sich aufrichten, aber die Schwester hielt ihn zurück. „Bleiben Sie liegen. Sonst schicke ich den Besuch wieder weg. Denken Sie daran, Sie dürfen nicht viel reden.“ „Hörst du, Andrej, wie man mit mir hier umspringt! Gestatte, daß ich dir Schwester Galotschka vorstelle. Sie hat mich gerettet.“ „Wir kennen uns schon.“ Galina reichte Andrej ihre kleine Hand und erwiderte den Händedruck unerwartet kräftig. Unter der weißen Haube sah man zu einem Kranz geflochtene kastanienbraune Zöpfe. Die etwas vorstehenden Wangenknochen, die halbkreisförmigen seidigen schwarzen Augenbrauen, der Mundschnitt und das breite Gesichtsoval verliehen dem Mädchen etwas Orientalisches. Unwillkürlich ließ Andrej den Blick auf ihr ruhen. Sein Blick machte das Mädchen offenbar verlegen. Sie runzelte die Brauen, wandte sich ab und sagte zu Sanin: „Denken Sie daran, die Besuchszeit darf eine halbe Stunde
nicht überschreiten. Und Sie, Genosse Politleiter, achten Sie darauf, daß er nicht viel spricht.“ Galina ging zu den anderen Verwundeten, fragte sie etwas, richtete ihnen das Kopfkissen und verließ den Raum. „Ja, mein Lieber“, sagte Nikolai, „ich war schon im Jenseits. Weiß selber nicht, wie ich wieder rausgekrabbelt bin. Heute habe ich sogar schon einen Brief an Weruschka geschrieben. Also ist alles in Ordnung. Morgen will man mich nach hinten transportieren…“ „Du solltest wirklich nicht soviel sprechen“, fiel ihm Andrej ins Wort. „Weißt du, ich bin jetzt für dich im Bataillon geblieben.“ „Ich weiß. Tichon Wassiljewitsch hat es mir erzählt… Hast du zufällig Post mitgebracht?“ „Hab ich. Eine Karte und einen Brief.“ Andrej langte in seine Tasche. „Die Post ist fünf Tage ausgeblieben – auf den Straßen ist der Teufel los. Seit heut morgen bin ich zu dir unterwegs gewesen.“ „Vielen Dank!“ Nikolai riß den Umschlag auf und verschlang gierig die Zeilen. Für ihn schien es jetzt nichts auf der Welt zu geben, als diese aus einem Schulheft gerissenen eng beschriebenen Seiten. Nachdem er den Brief überflogen hatte, sah er sich die Postkarte an und legte beides weg. „Entschuldige, daß ich dich warten ließ. Ich werde das nachher, sozusagen als Dessert, richtig lesen. Jetzt aber wollen wir die Zeit nutzen und uns unterhalten, sonst kommt noch Galina Danilowna und trennt uns tatsächlich. Sie ist streng mit uns.“
Nikolai war in Gedanken noch immer bei dem eben gelesenen Brief. Ein bestimmter Satz, in dessen verborgenen Sinn er eindringen wollte, machte ihm zu schaffen, und so war es nicht weiter verwunderlich, daß er von seiner Frau zu sprechen begann. „Weruschka weiß noch nichts von meiner Geschichte. Sie bekommt jetzt meine Reservebriefe. Anscheinend ist sie aber doch beunruhigt, sie fühlt es.“ „Was denn für Reservebriefe?“ „Das ist eine List von mir… Eine Kriegslist für die Familie… Hab ich dir das noch nicht erzählt? Ich habe mit Tichon Wassiljewitsch verabredet, daß er einmal in der Woche einen Reservebrief abschickt, wenn mir etwas zustoßen sollte. Ich habe sie schon vorher geschrieben. Auf diese Weise würde es Wera wenigstens ein, zwei Wochen später erfahren… So haben wir’s dann auch gemacht. Aber heute hab ich ja schon wieder selbst gekritzelt. Jetzt ist alles in Ordnung. Und Marinka kriegt auch wieder neue Zähne! Hörst du?“ Andrej hörte ihm zu, voller Hochachtung vor der Frau des Freundes, die für diesen der schönste, klügste, liebste und beste Mensch auf der Welt war. Und wieder beneidete er den Freund und empfand mit ganzer Schärfe den eigenen Kummer, der in der letzten Zeit abgestumpft war. „Jetzt wirst du sie ja bald wiedersehen… Weißt du schon, wohin du kommst?“ „Wahrscheinlich nach Leningrad. Was meinen Sie, Galotschka?“ „Sie werden’s schon sehen, wenn Sie da sind. Hier, trinken Sie!“ Die Krankenschwester, die inzwischen wieder hereingekom-
men war, hielt Nikolai einen Löffel mit Arznei hin. „Sagen Sie, Galotschka, bin ich nicht ein netter Mensch? Widerspruchslos trinke ich jedes Zeug…“ „Sie hätten schon längst Post bekommen sollen. Von Briefen soll schon manch einer wieder gesund geworden sein… So ist’s gut. Zur Nacht bekommen Sie nun noch Traubenzucker und einen frischen Verband.“ „Galotschka, haben Sie schon gehört? Marinka kriegt einen neuen Zahn! Das ist wichtiger als Ihr Traubenzucker! Du mußt wissen, Andrej, ich erzähle Galotschka buchstäblich alles – ja, ja, die Ärmste hat schon was auszustehen! Das gehört nun mal mit zu ihren Obliegenheiten als barmherzige Schwester. Aber ihr verdanke ich es tatsächlich, daß ich noch am Leben bin. Weruschka und ich werden ihr das nie vergessen.“ „Hören Sie doch damit auf, Genosse Hauptmann! Was soll denn das?“ Das Mädchen war rot geworden und sah Andrej an. Ihre Blicke begegneten sich. Sie wurde noch verlegener und verließ das Zimmer. „Ein prächtiges Menschenkind! Sie hat das Medizinstudium aufgegeben und ist Krankenschwester geworden.“ Nikolai erzählte begeistert von dem Mädchen. Als sie etwa eine Stunde geplaudert hatten, rüstete Andrej zum Aufbruch. „Aber nun muß ich mich auf den Weg machen. Wann werden wir uns jetzt wohl wiedersehen?“ „Wir treffen uns bestimmt wieder. Die Welt ist klein… Du, da fällt mir ein, weißt du, wer hier ist? Erinnerst du dich noch, bei uns in der Reserve war doch ein gewisser Rosanow? Er liegt auch im Lazarett. Gleich nebenan. Ein merk-
würdiger Vogel!“ Nikolai lächelte. „Dem hat’s die Suppe besorgt! So was gibt’s auch!“ „Das verstehe ich nicht.“ „Das ist auch nicht so leicht zu verstehen. Was dem einen sein Schrapnell, ist dem anderen seine Erbsensuppe. Er kam also ins Reservebataillon, bearbeitet doch jetzt die Auszeichnungen und ist somit ein hohes Tier… Ja, die Sache war so. Er ging Essen fassen, hielt an der Feldküche seinen Napf hin, doch der Koch verguckte sich und goß ihm eine ganze Kelle kochendheißer Erbssuppe statt ins Kochgeschirr in den Ärmel. Bis er sein Lederzeug und den Pelz runter hatte, war es schon zu spät. Eine Verbrennung zweiten Grades… Heut morgen war er bei mir und hat mir vorgejammert, er fürchte, man könnte ihm den Arm abnehmen. Ein launischer Knabe ist das. Unsere Galotschka hat schon ihre Not mit ihm. Nichts ist ihm recht. Jetzt gibt er keine Ruh, man soll ihn nach Leningrad überführen. Er hat kein Vertrauen zu den hiesigen Ärzten.“ „Ich kenne ihn, ein ganz fieser Bursche!“ Andrej erzählte von seiner Begegnung mit Rosanow in der vorderen Linie. „Eine Memme sondergleichen!“ Die Freunde hätten noch lange über dies und jenes plaudern können, aber die Krankenschwester setzte ihrer ungebührlich langen Unterhaltung ein Ende. Sie bat Andrej energisch, Schluß zu machen, andernfalls würde sie sich beim diensthabenden Arzt beschweren. Ein wenig traurig, daß sie sich nun auf unbestimmte Zeit trennen mußten, und zugleich froh, Nikolai in so guter Verfassung angetroffen zu haben, nahm Andrej von dem Freund Abschied und machte sich auf die Suche nach seinem Drei-
tonner. Beim Bataillon traf er erst gegen Morgen ein. Auch nach dem Durchbruch durch die Mannerheimlinie waren die Kämpfe auf der Karelischen Landenge nicht minder hart als vordem. Die Kälte war zwar weniger grimmig, aber nun brausten Schneestürme über das Land und wehten die Straßen zu. Um die nächste Verteidigungslinie beim Eisenbahnhaltepunkt Honkoniemi zu durchstoßen, brauchte man beinahe eine Woche. Hier begegnete Woronzows Bataillon zum erstenmal finnischen Panzern. Als der Gegenangriff der Panzer abgeschlagen war, blieben auf dem Schlachtfeld ihrer sechs mit zerrissenen Raupenketten und ohne Türme zurück. Nur einer, der siebente, erwies sich bei näherer Betrachtung als unversehrt. Die Panzer trugen die Firmenmarke von Vikkers-Armstrong und den Vermerk: „Dartford, Produktion 1939.“ Ringsumher lagen tote Finnen. Der Schnee auf ihren Leibern taute nicht mehr. Andrej schrieb sich zur Erinnerung die Nummer des englischen Panzers auf: 1672. Tichon Wassiljewitsch, der ihn begleitete, ging um den Tank herum, befühlte ihn, ließ sich von Andrej die Aufschrift vorlesen und kratzte mit dem Fingernagel die Farbe vom Metall. „Noch frisch. Also sind sie erst vor kurzem übers Meer gekommen. Einen anderen Weg zu den Engländern gibt’s hier nicht.“ Tichon Wassiljewitsch ging auf die andere Seite des Panzers und warf einen Blick in das Innere. „Genosse Kommissar, ich glaube, wir müssen uns mit dem Krieg beeilen“, sagte er. „Wenn die Schlammzeit anfängt,
ist’s aus. Nirgends kann man hier durchgehen oder durchfahren, nur absaufen kann man. Bis zum Frühjahr müssen wir es geschafft haben. Da, sieh einer, was die Engländer für Traktoren schicken – mit denen müßte man pflügen! Möcht’ gern wissen, wieviel Schare der wohl ziehen kann. Zwölf doch bestimmt mit Leichtigkeit.“ Daß der Krieg schnell beendet werden müßte – daran dachten alle. Deshalb herrschte in den Soldatenunterständen und auf den Sitzungen des Armeekriegsrats einmütig die Meinung, man müsse um jeden Preis auf trockenes Land gelangen, das heißt hinter Wyborg und den Saimakanal. Von dort bis zur alten Grenze, die dicht vor Leningrad verlief, würden es etwa hundertfünfzig Kilometer sein. Damit wäre die Sicherheit der Stadt einigermaßen gewährleistet und einem Überraschungsangriff des Feindes vorgebeugt. Kurz zuvor hatte der Armeebefehlshaber einen verschlüsselten Funkspruch mit wichtigen Informationen aus Moskau erhalten. Es hieß darin – und die Quellen, auf die man sich stützte, waren zuverlässig –, daß die Franzosen und Engländer ein hundertfünfzigtausend Mann starkes Expeditionskorps aufgestellt hatten, um es nach Finnland zu werfen, wo es an der Seite Mannerheims in die Kämpfe eingreifen sollte. Ferner wurde mitgeteilt, daß die Waffenlieferungen nach Finnland beträchtlich zugenommen hätten und pausenlos Seetransporte die finnische Küste anliefen. Der letzte Teil der Information fand seine Bestätigung durch die unmittelbaren Beobachtungen an der Front. Immer deutlicher erkennbar wurden die strategischen Pläne des Feindes. Seine Absichten waren klar: die Russen um jeden Preis auf der Landenge festhalten, die durch das Frühjahr
bedingte Atempause ausnutzen und dann mit Hilfe des Expeditionskorps die in den Sümpfen steckengebliebenen sowjetischen Truppen überrennen, sie entscheidend schlagen und den Zugang nach Leningrad erzwingen. Natürlich spielte Mannerheim dabei nur eine Nebenrolle – er verpachtete lediglich finnisches Territorium –, aber ein anderer konnte von hier aus den großen Krieg beginnen. Nicht von ungefähr trafen Meldungen ein, daß die finnische Armee von Instrukteuren und Beobachtern aus anderen europäischen Ländern, ja selbst aus Übersee überlaufen sei. Das begriffen mehr oder minder alle. Doch die Offensive entwickelte sich nicht so, wie man es sich gewünscht hätte. Jede Höhe, jeder Fußbreit Boden mußte im Kampf genommen werden. Die Straßen waren übersät mit totem Vieh und zertrümmerten Schlitten, in der Luft schwebte bitterer Brandgeruch. Die finnischen Truppen hatten auf ihrem Rückzug das ganze Gebiet in eine mit Minen, raffinierten Fallen und Wolfsgruben gespickte Wüstenei verwandelt. Dennoch standen die sowjetischen Truppen nach Überwindung mehrerer Befestigungsgürtel Anfang März dicht vor Wyborg. Die Einnahme dieser Stadt – das wußten ebenfalls alle – würde es ermöglichen, im weiteren großangelegte Operationen durchzuführen. Wyborg war der Schlüssel zur gesamten Karelischen Landenge. In der Division erwartete man allgemein, daß der Frühling in diesem Landstrich erst in einem Monat einziehen werde. Die Kälte war noch immer stark, und nichts deutete auf ein nahes Schlammwetter hin. Die Division hatte nach Überwindung heftigen Widerstands Suurpero genommen und setzte zur Umgehung Wyborgs an. Der Gegner steckte die Stadt in
Brand. Der Himmel über Wyborg flammte. Die Zeit, da der Boden morastig wurde, stand vor der Tür. Wer hätte ahnen können, daß sie hier nicht mit Schneegestöbern und Schneefällen, sondern mit starken Frösten einsetzen würde, die überraschenderweise Anfang März hereinbrachen? Das von Woronzow geführte Bataillon griff die Station Tali an. Auf der Karte sah sie wie eine gewöhnliche, in einer Niederung zwischen Seen und Anhöhen liegende Ortschaft aus. Der Name Tali – Andrej hatte ihn mit Blaustift unterstrichen – stand über der schwarz gestrichelten Eisenbahnlinie, die nach dem Norden Finnlands führte. Die Linie ging von Wyborg aus, das auf der Karte mit den Quadraten seiner Häuserblocks eingezeichnet war. Konzentrische Halbkreise durchschnitten die Karelische Landenge. Es waren die Verteidigungsgürtel, im ganzen acht: sieben hinten, der achte weiter vorn, in der Umgebung der Station Tali. Wyborg lag im Zentrum aller Halbkreise. Um die Stadt zu nehmen, mußte der letzte Verteidigungsgürtel durchbrochen werden. Auf seinen Rand war man bei einer Anhöhe in dem niedriggelegenen, schneebedeckten Flußtal des Terijoki gestoßen. Frühmorgens sollte die Höhe genommen werden. Nach kurzer Artillerievorbereitung gingen die Schützenketten der in weiße Tarnanzüge gekleideten Soldaten vor. Von der ersten Kompanie traf ein Melder ein. Die Kompanie hatte die Chaussee besetzt, kam aber nicht weiter. Die MG-Nester des Gegners hatten sie unter Beschuß genommen. Der Melder war bis zum Gürtel durchnäßt, die Schöße seines Mantels wie auch die Filzstiefel waren vereist. „Warum bist du so naß?“ fragte Andrej. „Das verstehe ich selber nicht, Genosse Bataillonskomman-
deur. Wir sind alle so naß – unter dem Schnee ist Wasser.“ Woher rührte das Wasser? Da stimmte doch was nicht. „Wie wir runterkamen in die Niederung, Genosse Bataillonskommandeur“, fuhr der Melder fort, „waren wir gleich im Matsch. Bei jedem Schritt ist Wasser in der Spur. Alle liegen wir pudelnaß da. Und von der Höhe feuern sie, nicht auszuhalten.“ Andrej wollte zur Kompanie gehen, um sich selbst zu überzeugen. Der Melder führte ihn und Tichon Wassiljewitsch hin. Als sie eine Weile gegangen, waren, versank Andrej plötzlich bin zum Knie im Schnee. Unter dem Schnee war eiskaltes, schwarzes Wasser. Er machte noch einen Schritt – wieder kalter, nasser Matsch. Ohne auf den Weg zu achten, gingen sie nun drauflos, immer wieder einsinkend und im Wasser patschend. „So ein verdammter Dreck!“ brummte Tichon Wassiljewitsch hinter Andrej. „Wo kommt das Wasser bloß her? Das reinste Taufbecken im Eis. Bei uns springen die Burschen am Dreikönigstag ins Eisloch, in den Jordan. Aus lauter Dummheit… Ja, so ist das Soldatenleben – mal kommst du ins Feuer, mal ins Wasser… Erkälten Sie sich auch nicht, Genosse Kommissar?“ Die Beine erstarrten im Nu. In der Nähe der Chaussee mußten sie kriechen. Der Halbpelz wurde schlüpfrig wie dünner Teig, dann gefror er zu einem Panzer. Die Lage in der Kompanie war schwer. Der Angriff stockte. Das Wasser in der Niederung bildete graue Waken. Andrej gab den Befehl, die Kompanie in die Ausgangsstellung zurückzuführen. Das Wasser stieg stündlich. Gegen Abend überschwemmte es
das ganze Wiesenvorgelände des Terijoki. Wie im Frühling rieselten Bächlein unter dem Schnee. Die Höhe 13,7 hatte sich in eine kleine, von kaltem Schlamm umgebene Insel verwandelt. In der Nacht wärmten die Männer sich auf, trockneten ihre Sachen am Feuer, und gegen Morgen gingen sie wieder vor. Sie griffen an, bis zum Gürtel im Wasser – es stand jetzt über einen Meter hoch –, aber wie am Vortag mußten die Kompanien auch diesmal infolge des konzentrischen Maschinengewehrfeuers zurückgehen. Nur zwei Zügen gelang es, sich hinter einer Anhöhe – etwa hundert Meter von den finnischen Gräben entfernt – festzusetzen. Sie hielten sich trotz der Gegenangriffe, die die Finnen zweimal unternahmen. Ins Bataillon kam der Divisionskommandeur, finster und schweigsam. Er erklärte, daß die Höhe am nächsten Tag auf Biegen und Brechen genommen werden müsse, später würde alles überschwemmt sein. Die Finnen hätten eine künstliche Überschwemmung hervorgerufen, indem sie die Schleusen geöffnet oder aber den Saimakanal gestaut und zum Überfluten gebracht hätten. Erst am dritten Tag gelang es, die Höhe, die die Straße zur Station beherrschte, im Frontalangriff zu nehmen. Die Höhe wurde ohne Woronzow erstürmt. Er war eine Stunde vor dem Angriff verwundet worden. Auf einer Anhöhe liegend, hatte er den Aufmarsch der Panzer beobachtet. Die Panzer waren weiß gestrichen wie Lazarettmöbel, und die Raupen glänzten in der Sonne wie polierter Stahl. Andrej dachte noch über diesen Vergleich nach, der ihm plötzlich eingefallen war, als er das Gefühl hatte, jemand hätte ihm eins mit einer Gerte über den Rücken gezogen. Er schaute sich um. Neben ihm
war niemand. Da stützte er sich auf die Ellbogen und wollte sich aufrichten. Stöhnend sank er wieder zu Boden. Fast hätte er das Bewußtsein verloren, so stark war der Schmerz, der seinen Körper durchzuckte. Auf einem Panzer wurde der Bataillonskommandeur in die hinteren Stellungen gebracht und am nächsten Morgen ins Feldlazarett transportiert, das den angreifenden Truppen gefolgt war. Das Lazarett wurde gerade an dem neuen Platz untergebracht. Genesende luden aus den Lkws Betten, Hängematten, Hocker und Tische aus. Das Kommando führte Major Rosanow. Andrej erkannte ihn sofort. Er schimpfte auf die Rotarmisten, die ihm die Matratzen nicht schnell genug abluden. Der eine Ärmel seines Halbpelzes hing leer herab, mit dem gesunden Arm gestikulierte er heftig. Andrej lag auf dem Rücken. Jede Bewegung verursachte ihm Schmerzen. Im Aufnahmeraum sah ihn Galina Bogdanowna. Die Brauen erstaunt hochziehend, trat sie zu ihm. Andrej lächelte. „Erkennen Sie mich? Jetzt bin auch ich in Ihre Obhut gekommen.“ „Was ist mit Ihnen?“ „Ich weiß noch nicht. Die Arme scheinen in Ordnung zu sein.“ Andrej bewegte vorsichtig die Finger. „Unsereiner kann Ihnen offenbar nicht entgehen.“ Das Lazarett hatte wenige Verwundete – Andrej gehörte zu der ersten Gruppe, die neu eingeliefert worden war. Er wurde allein in einem Zimmer untergebracht, einem winzigen Raum mit breitem Fenster. Das zweite Bett blieb leer. Durch die offene Tür sah man auf der gegenüberliegenden Seite des
Ganges den Krankensaal der Kommandeure. Es dauerte nicht lange, da tauchte Rosanow auf. Er stritt mit der diensthabenden Schwester – angeblich stand sein Bett nicht auf dem richtigen Platz. Dann schaute er in Andrejs Zimmer hinein. Ungeniert begrüßte er ihn. „Ah, Woronzow! Auch hier gelandet? Wie war es denn dort? Geht’s voran? Was meinst du, werden wir ihnen bald den Gnadenstoß geben? Und ich bin noch immer hier. Mir steht’s bis obenhin. Ich hab schon um meine Entlassung gebeten – aber sie wollen nicht.“ Rosanow verschwand, ohne eine Antwort abzuwarten. Andrej hätte ihm auch gar nicht geantwortet. Schon beim Anblick des feisten, rosigen Gesichts mit den in Fettpolstern eingebetteten Äugelchen wurde ihm übel. Andrejs Verletzung erwies sich als nicht gefährlich. Der Arzt versprach, ihn, sofern kein Knochen verletzt sei, in zwei Wochen wieder auf die Beine zu stellen. Aber gegen Abend stieg die Temperatur auf neununddreißig Grad. Andrej hatte Halsschmerzen. Der Arzt kam und untersuchte ihn. „Ach, herrje! Sie haben ja eine schlimme Angina! Sind Sie als Kind krank gewesen? Nein?… Ihre Lungen gefallen mir auch nicht… Haben Sie sich irgendwo erkältet?“ „Nein. Bin nur ein bißchen im Wasser gewatet… Das habe ich aber schon öfter getan.“ Der Arzt stellte eine kruppöse Lungenentzündung fest. Andrej dämmerte zwischen Wachsein und Bewußtlosigkeit hin. Es war ein seltsamer Zustand: Er begriff und verstand alles, was um ihn her vorging, aber wenn er zu sprechen anfing, redete er ungereimtes Zeug, und die Pflegerin flüsterte dem Arzt bekümmert zu:
„Er phantasiert wieder.“ Andrej strengte sich unwahrscheinlich an, um zu sagen, was er dachte, doch die Zunge gehorchte ihm nicht. Und sosehr er sich auch mühte, er konnte nicht feststellen, wie lange er schon im Lazarett lag. Ihm schien, als wäre es am Tag nach seiner Einlieferung – in Wirklichkeit waren fünf Tage vergangen –, daß er jemand freudig rufen hörte: „Kinder, der Krieg ist aus! Wyborg ist gefallen.“ Er schlug die Augen auf. Neben ihm stand Galina mit ihrer Schwesternhaube, darunter die zu einem Kranz geflochtenen Zöpfe. Er wollte sie fragen, ob es stimme, daß der Krieg aus sei, aber statt dessen nannte er sie Sina und redete von Wasser und von weißen Panzern. Und wieder schwand sein Bewußtsein. Wie von weither drang die Stimme der Krankenschwester an sein Ohr: „Ich bin das schon gewohnt, Doktor. Der eine nennt mich Wera, der andere Sina. Wenn mich nur mal einer im Fieber Galja rufen wollte!“ Nach einigen Tagen kam Andrej wieder zu sich. Auf dem Gang vor seinem Zimmer herrschte Bewegung. Dem lauten Geflüster folgte plötzlich Stille. Ein Mitglied des Kriegsrats war ins Lazarett gekommen. Er ging von Bett zu Bett, begleitet vom Sanitätspersonal. Jetzt kam er in Andrejs Zimmer. Seine Begleiter drängten sich in der Tür. Der Lazarettdirektor meldete: „Politleiter Woronzow. In den letzten Tagen bei der Station Tali verwundet. Schwerer Fall. Ist fast nie bei Bewußtsein. Kruppöse Lungenentzündung.“ „Ich weiß von ihm. Er hat ein Bataillon geführt.“ Das Mitglied des Kriegsrats trat behutsam ans Bett, setzte
sich auf den Hocker und fragte leise: „Hören Sie mich, Genosse Woronzow?“ „Ja“, antwortete Andrej zur Überraschung aller – nicht laut, aber deutlich. „Ich gratuliere Ihnen zum Rotbannerorden, den Ihnen die Regierung verliehen hat. Sie haben ihn verdient, Genosse l Woronzow.“ Noch nie zuvor hatte Andrej solchen Stolz, solche Freude und Dankbarkeit empfunden. Ebenso leise wie vorher, antwortete er bewegt: „Ich diene der Sowjetunion.“ „Bleiben Sie doch liegen!“ Das Mitglied des Kriegsrats drückte Woronzow, der sich aufrichten wollte, ins Kissen zurück. „Bleiben Sie liegen. Werden Sie schnell wieder gesund.“ Ob es nun dem Mitglied des Kriegsrats zu verdanken war oder nicht, jedenfalls trat seit diesem Tag in Andrejs Zustand eine Besserung ein. Auf dem Alexanderplatz stieg Hans Bernd Gisevius aus dem Auto. Er wollte nach Zehlendorf mit der U-Bahn fahren, obwohl eine besondere Notwendigkeit dazu anscheinend gar nicht vorlag. General Halder war Chef des Generalstabes des Heeres, und ein Besuch bei ihm konnte nicht den geringsten Verdacht erwecken. Aber Gisevius war von Natur ein vorsichtiger Mann und zog es vor, für alle Fälle solche Sicherheitsmaßnahmen zu treffen, daß sich kein Spitzel an seine Fersen heften konnte. Er kannte die Methoden der Gestapoagenten sehr gut, er hatte selbst bei der Geheimen Staatspolizei gearbeitet und war über die verwickelte Gliederung des sich überschneidenden und überkreuzenden Spitzelsystems
informiert, das als lückenloses Netz das ganze Land umstrickt hielt, von den Arbeitervierteln bis zu den zentralen Regierungsstellen. Auf der Fahrt nach Zehlendorf stieg er auf einer Zwischenstation aus, blieb auf dem Bahnsteig stehen und tat, als erwarte er jemand. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß ihm niemand folgte, fuhr er mit der nächsten Bahn weiter. Der Generalstabschef öffnete selbst die Tür und ließ ihn eintreten. Halder, ein Mann mittlerer Größe, mit bürstenartig hochstehendem Haar, trug die Uniform des Generalstäblers. Er ließ dem Gast den Vortritt, schaltete das Licht in der Diele aus und führte seinen Besuch in den Salon. Dort ließ er ihn in einem Sessel Platz nehmen und setzte sich selbst ihm gegenüber. „Was gibt es Neues?“ fragte er. Eigentlich wußte Halder, was Gisevius zu ihm geführt hatte, jedenfalls erriet er es: Gisevius wollte die Stimmung im Generalstab ergründen. Halder empfand Abneigung gegen diesen redseligen Menschen mit dem imposanten Äußeren, der ein Vertreter der Opposition war, und hütete sich vor ihm. Aber die Umstände hatten ihn gezwungen, sich mit ihm zu treffen – er hoffte seinerseits etwas zu erfahren. „Sie können ungezwungen sprechen, in der Wohnung ist niemand“, setzte Halder hinzu, als er seinen Gesprächspartner einen verstohlenen Blick auf die Tür werfen sah. Gisevius informierte den Generalstabschef, der der Militäropposition angehörte, darüber, daß die jüngsten Ereignisse – er dachte an die Beendigung des Krieges in Finnland – im Kreise seiner Freunde eine gewisse Verwirrung ausgelöst
hatten. Gisevius wollte wissen, welche Ansicht die Führer der Wehrmacht diesbezüglich vertraten. „Ihre Freunde legen eine ganz überflüssige Nervosität an den Tag“, stellte Halder fest. „Sie wissen doch, daß die Engländer selber Hitler einen ,Passierschein’ für den Osten ausgestellt haben. Und die Franzosen haben ihn mit unterschrieben. Warum regen sie sich also auf?“ Gisevius gab sich den Anschein, als wüßte er über den „Passierschein“ genau Bescheid. In Wirklichkeit hatte er nur sehr dunkel von einem Geheimabkommen gehört, nach dem Deutschland freie Hand im Osten erhalten und den Schutz Europas vor dem Bolschewismus übernommen hatte. Gisevius wollte Klarheit über die ihn interessierende Frage erlangen. „Ja, aber der Vertrag mit den Russen war doch der Anfang von allem. Wie kann denn da von einem ,Passierschein’ die Rede sein?“ fragte er. „Immer sachte. Wer A gesagt hat, muß zumindest darauf gefaßt sein, auch B zu sagen. Da die Engländer einen .Passierschein’ ausgestellt haben, müssen sie auch Freie-FahrtTafeln auf den Straßen anbringen und von jeder Geschwindigkeitsbegrenzung Abstand nehmen. Sonst hat der ,Passierschein’ keinen Wert. Was die Geschwindigkeit angeht, so soll das unsere Sorge sein. Auch Chamberlain wollte mit den Russen anbändeln, aber es ist ihm nicht gelungen. Um uns eins auszuwischen, hat er eine militärische Delegation nach Moskau geschickt, die er eine ganze Woche auf einem Frachtdampfer gondeln ließ. Der Führer hingegen hat Ribbentrop mit dem Flugzeug hingeschickt. Drei Tage später kam er aus Moskau mit dem Vertrag in der Tasche zurück.“
Halder wollte schon erzählen, wie Hitler diesen Vertrag mit den Russen auf der Lagebesprechung in Berchtesgaden eingeschätzt hatte – als einen Fetzen Papier –, aber er hielt es für geraten, vor diesem geriebenen Kunden die Karten nicht allzusehr aufzudecken. Der war doch nur ein Nachrichtenüberbringer, nicht mehr. Es genügte, wenn er ihm Andeutungen machte, die Engländer sollten sich nicht in den Weg stellen und in Norwegen keine Schwierigkeiten bereiten. „Sehen Sie“, sagte der General vorsichtig, „die Beendigung des Krieges in Finnland verändert die Lage nicht. Der Vertrag mit den Russen hat uns nicht gehindert, Mannerheim Waffen zu liefern. Wie Sie wissen, war ich im Sommer selbst in Helsinki und habe die Befestigungsanlagen besichtigt. Die Mannerheimlinie haben unsere Ingenieure gebaut. Leider wurde sie von den Russen zerstört, aber der Aufmarschplatz ist geblieben. Daran müßte man die Engländer erinnern. Wir brauchen den freien Weg nach Norden. Das würde ebenfalls ,Freie Fahrt’ bedeuten. Ich weiß nicht, wie man das bewerkstelligen könnte.“ Halder blickte Gisevius an. Er tat, als habe er keine Ahnung von dessen Verbindungen mit London. Gisevius antwortete nicht. Halder machte wohl bestimmte Anspielungen, aber er sagte lange nicht alles. Immerhin, der Wink mit dem freien Weg nach Norden war nicht unwichtig. Interessant, wie jetzt die Generale über Hitler dachten. Gisevius steuerte auf Umwegen auf dieses Thema zu. Halder sagte indessen von selbst alles, was er wissen wollte. „Die Zerschmetterung Polens durch die deutschen Truppen hat uns gezeigt, daß Hitler in militärischer Hinsicht eine glückliche Hand hat. Er steckt voller Tatendrang und weiß, wann man alles auf eine Karte setzen muß. Wir Generale
billigen sein Vorgehen in Polen. Heute wird kein deutscher General mit gesundem Menschenverstand die Tatsache bestreiten, daß sich unsere Positionen im Osten bedeutend gestärkt haben. Das begreift man allmählich auch im Westen. Ich kann Ihnen mitteilen, daß Oberst Patton, der Militärattache der Vereinigten Staaten, mir als dem Generalstabschef die offiziellen Glückwünsche der amerikanischen Generalität zu unserem Sieg über Polen überbracht hat. Die Amerikaner haben sich im Vergleich zu den Engländern als weitblickender erwiesen. Ja, wir hätten in bezug auf München beinahe einen Fehler gemacht. Ich glaube nicht, daß man jetzt noch von einer Opposition sprechen kann.“ Hans Bernd Gisevius wußte nicht recht, was für Münchener Geschehnisse Halder meinte – den militärischen Umsturz, der vor dem Münchener Abkommen vorbereitet wurde, oder die verworrene Geschichte mit dem Anschlag auf Hitler im Bürgerbräukeller. Klar war nur eins – die Stimmung war umgeschlagen, die Generale unterstützten Hitler. Sollte seine jahrelange Arbeit umsonst gewesen sein? Hans Bernd Gisevius erinnerte sich sehr gut jenes schwülen Sommerabends in Düsseldorf, an dem in seinem Leben eine so jähe Wende eintrat, als hätte er auf einen alten Straßenbahnfahrschein ein ganzes Vermögen gewonnen. Er hatte damals gerade sein Jurastudium beendet und war noch ein verhältnismäßig junger Mann. Da geschah es, daß ihn Grauert, der Geschäftsführer des Arbeitgeberverbandes der rheinischwestfälischen Schwerindustrie, derselbe, der zusammen mit Thyssen Hitler an die Macht gebracht hatte, eines Tages zu sich bestellte. Gisevius war schon immer ein Verehrer der
Macht des Geldes, der Scheckbücher gewesen, und Grauert hatte Hitler eine halbe Million Mark mit so leichter Hand auf den Tisch gelegt, als begleiche er im Restaurant eine Zeche. Die bewußte Einladung hatte Gisevius erhalten, kurz nachdem Hitler deutscher Reichskanzler geworden war. Grauert hatte sich offenbar sehr eingehend über alle Einzelheiten aus dem Leben des jungen Juristen unterrichtet. Er stellte keine überflüssigen Fragen. Man sprach über nebensächliche Dinge. Grauert studierte und taxierte den vor ihm sitzenden Juristen und fragte erst gegen Ende der Unterhaltung, ob Doktor Gisevius einen Auftrag übernehmen wolle. Natürlich wollte er! Herr Grauert könne sich ganz auf ihn verlassen. Ja, er würde ihm rückhaltlos ergeben sein. Davon war Gisevius damals auch aufrichtig überzeugt. Der Atem stockte ihm vor Freude. Grauert stellte ihm nur die Bedingung, nirgends und mit niemand über diese Unterredung zu sprechen. Die näheren Anweisungen würde er rechtzeitig durch zuverlässige Mittelsmänner erhalten. Am selben Abend machte Grauert den Juristen mit Carl Goerdeler, dem ehemaligen Oberbürgermeister von Leipzig, bekannt, einem Mann, der der Familie Krupp nahestand. Viel später erfuhr Hans Bernd Gisevius, daß Goerdeler Leiter der Auslandsabteilung der Stuttgarter Boschwerke war. In Amerika protegierten die Brüder Dulles – nebenbei bemerkt gleichfalls Juristen – diese Firma. Aber an jenem Juliabend war Hans Bernd Gisevius noch jung und naiv. Robert Bosch und Krupp waren für ihn in gewissem Grade Abstraktionen, Fabrikmarken auf Maschinen, Autobatterien und Geschützlafetten. Bei aller Kühnheit seiner Phantasie hatte sich Gisevius nicht vorstellen können, wie un-
beschränkt die Macht dieser Vertreter der Großindustrie war. Der junge Jurist wußte damals noch nicht – und er brauchte es auch nicht zu wissen – , daß die Ruhrmagnaten außerordentlich daran interessiert waren, ihre Leute in der Umgebung Hitlers zu haben. Auf den ersten Blick mag das sonderbar erscheinen, war doch Hitler selbst ein Protege der Ruhrindustriellen. Aber sein unausgeglichener Charakter, seine zum Größenwahn neigende Natur machten eine ständige Überwachung erforderlich. Man mußte sich vor unvorhergesehenen Eventualitäten schützen. Ja, man mußte an gewissen Stellen seine Leute haben. Einer von ihnen war Gisevius, ein Mann ohne besondere Ambitionen, nicht übermäßig klug, aber gewandt und tatkräftig. Am besten, er arbeitete in der Gestapo, wo alle Fäden zusammenliefen. Die Gestapo war die Stütze der Macht und die Hauptinformationsquelle Hitlers. Hans Bernd Gisevius brauchte sich um eine Stelle bei der Geheimen Staatspolizei nicht selber zu bemühen. Darum kümmerten sich schon seine allmächtigen Gönner. Der neue Mitarbeiter der Gestapo fing klein an. Er belastete sein Gewissen nicht mit unnötigen Gedanken darüber, ob seine Handlungen ethisch seien. Er war gut erzogen und wußte, wie man sich in der Gesellschaft bewegt. Mit dem gleichen Eifer, mit dem er Bordelle für die ausländischen Teilnehmer an der in Deutschland abgehaltenen Olympiade schuf, organisierte er zusammen mit Sammer von der Deruluft gleich nach dem danebengegangenen Prozeß in Leipzig ein Attentat auf den bulgarischen Kommunisten Georgi Dimitroff. Einiges, und zwar nicht wenig, leistete er auch während der Liquidierung der renitenten SA-Führung im Zusammenhang mit dem so-
genannten Röhmputsch. Kurz vor dem Münchener Abkommen besuchte er als Begleiter Goerdelers inkognito London. Krupp hatte in großzügiger Weise die Reisekosten bezahlt. Alle waren der Meinung, Hitler sei zu weit gegangen und fordere mit dem Sudetenland zu viel, die Engländer würden ihre Zustimmung dazu nicht geben, und um zu kämpfen, sei Deutschland zu schwach. Gisevius unterrichtete London dahingehend, daß Hitler bluffe – er sei nicht stark genug, seine Drohungen zu verwirklichen. In jener Zeit wurde Gisevius auf unergründlichen Wegen Mitarbeiter des Intelligence Service und erhielt den Decknamen „Valet“. Auch die deutschen Generale waren besorgt. Es ging doch nicht an, sich auf derart gewagte Sachen, auf Abenteuer einzulassen. Alles zu seiner Zeit. Damals bildete sich die Militäropposition. Die Generale beschlossen, Hitler beim ersten unbesonnenen Schritt zu stürzen. General Kleist wurde speziell nach London entsandt. Dort traf er sich mit Churchill, den er zu überreden suchte, die Forderungen Hitlers nicht ernst zu nehmen. General Beck trat demonstrativ von seinem Posten als Generalstabschef zurück. Ihn löste Halder ab, aber auch dieser hielt Hitlers Verhalten für den Gipfel der Vermessenheit. Alle waren fest davon überzeugt, die Engländer würden sich nie dazu hergeben, den Deutschen freie Hand gegenüber der Tschechoslowakei zu gewähren. Bei Berlin wurden Truppen zusammengezogen, um jederzeit den Umsturz durchführen zu können. Auch darüber unterrichtete Gisevius London. Oberst Oster, ein Mitarbeiter von Canaris, ließ Daladier nach Paris eine ebensolche Information zugehen. Und da erfolgte plötzlich das Abkommen in München, das die Tschechoslowakei an Hitler auslieferte. Cham-
berlain hatte Hitler gerettet. Heute wußte Gisevius, warum die Engländer Hitler zur Besetzung der Tschechoslowakei angespornt hatten. Das gehörte zum „Passierschein“, zur freien Fahrt nach dem Osten. Aber damals war das Gisevius noch nicht klar. Die Truppen wurden aus Berlin zurückgezogen. Die Generale zuckten verwundert die Achseln. Unfaßbar! Ein Land in Besitz zu nehmen, ohne einen Schuß abzugeben, war genial. Das Ansehen Hitlers stieg in den Augen der Opposition. Ein Jahr später stimmten die Ereignisse Gisevius erneut nachdenklich. Die Engländer schlossen mit Polen einen dauernden Beistandspakt, aber eine Woche später griff Hitler Polen an. Im November geschah ebenfalls etwas Sonderbares. In München explodierte im Bürgerbräukeller, dem ehemaligen Stabsquartier der Nazis, eine Bombe. Hitler hielt dort wie jedes Jahr seine traditionelle Rede. Die Bombe war später explodiert und hatte keinen Schaden angerichtet, nichtsdestoweniger lag ein Anschlag auf Hitlers Person vor. In derselben Nacht wurden an der holländischen Grenze die beiden englichen Spione Best und Stevens festgenommen. Die Zeitungen schlugen Lärm. Die Engländer brachten Dementis. Gisevius konnte es nicht fassen, daß man ihn übergangen hatte. In den Kreisen der Militäropposition hatte niemand etwas von der Vorbereitung des Attentats gewußt. Also arbeitete parallel noch eine Organisation, eine andere Opposition? Das Ganze war dilettantisch gemacht, man hätte viel sicherer vorgehen können. Vielleicht vertraute man ihm nicht mehr? Das Attentat war verdächtig dumm ausgeführt. All das ging über seinen Horizont. Jetzt kursierten Gerüchte, Hitler plane etwas gegen den We-
sten. Aber was? General Halder wußte es natürlich, doch er schwieg. Er vergaß, daß er selber der Militäropposition angehörte. Er hätte doch die Fragen beantworten müssen. 5 Karl Wilamzek, der seinem Bruder zwei Postkarten geschickt und keine Antwort bekommen hatte, entschloß sich zu Wintersanfang, Franz aufzusuchen. Es konnte ja sein, daß der Bruder ihm etwas übelgenommen hatte oder daß ihm etwas zugestoßen war. Er mußte sich nach ihm erkundigen – immerhin war er sein Bruder. An einem Sonntag Ende November fuhr Karl nach dem Wedding. Ihm öffnete eine fremde junge Frau mit vorgebundener Küchenschürze und aufgekrempelten Ärmeln. Er hatte sie vordem noch nie gesehen. „Entschuldigen Sie, ich wollte zu Franz. Zu Franz Wilamzek. Ist er zu Hause?“ „Nein, er ist nicht da.“ „Schade. Wann kommt er denn?“ „Er…“ Erna stockte. In der letzten Zeit wurde sie immer mißtrauisch, wenn sie, besonders von Unbekannten, nach Franz gefragt wurde. „Er ist zur Zeit verreist… Was wollen Sie von ihm?“ „Verreist? Wohin? Warum hat er mir nichts gesagt? Ich bin sein Bruder, Karl.“ Erst jetzt bemerkte Erna etwas Bekanntes in den Gesichtszügen und in der Haltung des vor ihr stehenden älteren Mannes. Wahrhaftig, er ähnelte Franz sehr. Er war genauso stämmig und hatte dieselben dichten, hellen Brauen. Ohne den kleinen Schnurrbart wäre er fast das Ebenbild von Franz.
„Ach so! Wissen Sie denn gar nichts? Kommen Sie doch bitte herein. Entschuldigen Sie nur die Unordnung.“ Sie trocknete sich die nassen Hände an der Schürze ab. Karl folgte ihr in das Zimmer von Franz. Das Fenster war offen, auf dem Fensterbrett lagen Kissen zum Lüften. Mitten im Zimmer stand ein Eimer – Erna war dabei gewesen, den Fußboden aufzuwischen. Sie stellte den Eimer an die Tür und schob Karl einen Stuhl hin. Er nahm, ohne abzulegen, am Tisch Platz und blickte sich um. Dieses Mädchen war sicherlich die Freundin von Franz. „Was ist eigentlich passiert?“ fragte er. Erna erzählte, was sich im Herbst, ein paar Tage nach Karls Hochzeit, ereignet hatte. Zum erstenmal sprach Erna so offen über den Vorfall. Der da saß, war ja der Bruder von Franz, er würde sie verstehen, ihr helfen. Sie war noch etwas befangen ihm gegenüber – sie wollte dem Bruder von Franz gefallen – und redete in ihrer Verlegenheit in einem fort. Wilamzek hörte mit finsterer Miene zu. Ja, das war unerwartet auf ihn hereingestürzt. „Sie haben ihn also ohne besonderen Grund verhaftet?“ „Genau so ist’s! Franz muß für andere leiden. Hinter einem Erwin waren sie her, und Franz haben sie eingesperrt.“ Erna war von dieser Sachlage überzeugt. In der Gestapo hatte man ihr das gleiche gesagt. Ein Irrtum sei unterlaufen. Sie solle nur herausbekommen, wer Erwin sei und wo er sich aufhalte, dann käme Franz gleich frei. Aber wer kannte ihn, wer wußte, was für einer das war? Erna hatte ihn zum erstenmal in ihrem Leben gesehen. Und später, auf dem Platz, hatte sie ihn in der Menge wieder verloren. Oh, hätte sie ihn da-
mals erwischt, sie hätte ihn nicht fortgelassen. Unverständlich war nur, warum sie sich in der Gestapo darauf versteiften, Franz solle den Familiennamen von Erwin nennen. Sie mußten ihn doch selber kennen, da sie ihm durch die ganze Stadt nachgejagt waren und sogar gewußt hatten, wann er Franz aufsuchen würde. Erna konnte beim besten Willen nicht darauf kommen, daß die Gestapo in die Wohnung eingedrungen war, um niemand anderes als Franz zu verhaften. Warum auch? Er hatte doch nichts getan. In ihrer Verwirrung hatte Erna vergessen, daß eine Stimme von draußen durch die Tür gesagt hatte: „Ein Telegramm für Herrn Wilamzek.“ Hätte sie sich daran erinnert, dann wäre ihr wahrscheinlich alles in einem anderen Licht erschienen. Aber das, was Erna erzählte, beruhigte Karl. Wie hatte er nur Willi, den Mann seiner Tochter, verdächtigen können, daß er einen Verwandten bei der Gestapo denunziert habe? Trotzdem war die Geschichte unangenehm. Wenn nun das Haus unter Beobachtung stand? In Karl regte sich kleinliche Angst um das eigene Wohlergehen. Er konnte seinen Ruf gefährden. „Hm, hm, ja…“, sagte er gedehnt. „Na, dann gehe ich also. Sollte etwas… Ich komme später noch mal vorbei…“ Karl reichte Erna unbeholfen die Hand. Auf der Straße sah er sich verstohlen nach allen Seiten um. Als er in der Straßenbahn saß, dachte er an seinen Bruder. Wie könnte man ihm helfen? Ob er vielleicht mit Willi sprechen sollte? Der wollte ja gerade in diesen Tagen kommen… Und das Mädchen, das war doch bestimmt schwanger! Ei, ei,
der Franz! Der Schwiegersohn und die Tochter kamen, wie versprochen, am Sonnabend zu Besuch. Emmi beklagte sich über ihren Mann, der Tag und Nacht außer Haus sei. Sie sehe ihn in der letzten Zeit überhaupt nicht mehr. Manchmal gehe er fort und komme volle drei Tage nicht heim. Dann rufe er nur an. Wenn sie das gewußt hätte, wäre sie ledig geblieben. Die Tochter schmollte bald im Ernst, bald im Spaß, und Willi lachte, klopfte ihr auf den Rücken und sagte versöhnlich: „Brumm nicht, Emmi, du bekommst bald das Kleine, dann wird’s lustiger sein! Auf mich rechne vorläufig nicht.“ Karl dachte an Erna, deren Leib sich wie bei der Tochter rundete. Er gab sich einen Ruck und beschloß, über den Bruder zu sprechen. „Hör mal, Willi“, sagte er zögernd. „Du kennst doch meinen Bruder Franz, mit dem du dich damals auf meiner Hochzeit gestritten hast? Er ist verhaftet.“ „So?“ Willi tat, als höre er davon zum erstenmal. „Ganz ohne Grund. Ein gewisser Erwin, hinter dem die Gestapo her war, kam zu ihm. Der Kerl entfloh, und Franz haben sie mitgenommen.“ „Na ja, soll er sich nicht mit solchen Leuten einlassen.“ „Aber er ist doch unschuldig. Kannst du ihm nicht helfen?“ „Ich? Was könnte ich schon tun?“ „Ich weiß nicht. Vielleicht sprichst du mit jemand. In seiner Wohnung lebt jetzt seine Freundin. Die bekommt auch ein Kind.“ „Was, unverheiratet?“ fragte Gerda. „Du hast mir ja noch gar nicht von ihr erzählt, Karlchen.“ „Ja, sie sind nicht verheiratet. Sie wohnt in Franz’ Zimmer.“
„Ich kann mir die Schlampe schon vorstellen!“ Frau Gerda schüttelte sich vor Ekel. „Die hätte besser auf sich aufpassen sollen, nun soll sie ruhig die Suppe auslöffeln.“ Karl schnaufte und blickte wütend auf seine Frau: Was hatte die sich einzumischen? „Schon gut, Gerda, die Sache verhält sich wohl anders. Sie hätten längst geheiratet, wenn Franz nicht eingesperrt worden wäre… Kannst du wirklich nichts tun, Willi?“ „Ich weiß nicht. Versprechen kann ich jedenfalls nichts.“ Ebenso, wie Untersturmführer Gniffke dem Schwiegervater verschwieg, daß er es war, der Franz ins Gefängnis gebracht hatte, erwähnte er mit keinem Wort, daß er ihm vor einem Monat begegnet war. Rein zufällig – in Buchenwald. In der letzten Zeit war Willi tatsächlich selten zu Hause. Das betrübte ihn aber nicht – endlich hatte er Aussichten, weiter voranzukommen. Anfang November war Untersturmführer Willi Gniffke zu Schellenberg, dem Chef des Amtes VI des Reichssicherheitshauptamtes, gerufen worden, dem der Auslandsnachrichtendienst unterstand. Dieses Amt befand sich seit Kriegsbeginn in einem ehemaligen Altersheim in Schmargendorf. Das Haus wurde streng bewacht. Gniffke mußte mehrmals seinen Ausweis vorzeigen, bis er in dem Raum war, wo er sich melden sollte. Er wurde von einem Mitarbeiter Schellenbergs empfangen. Gniffke mußte lange warten, bis ein hochgewachsener, blonder junger Mann mit einem Gesicht voller Schmisse aus der dick gepolsterten Tür herauskam. Gniffke hatte ihn bereits in der Prinz-Albrecht-Straße gesehen. An jenem Tag, als er den
unheilvollen Ballen mit den polnischen Uniformen dorthin brachte. Gniffke wollte schon in das Zimmer gehen, als eine Stimme von drinnen rief: „Einen Moment noch, Hauptsturmführer Skorzeny!“ Der Hauptsturmführer machte kehrt und ging zurück. Die Tür blieb halb offen. Willi hörte die letzten Worte ihrer Unterredung. Die Sekretärin hatte gerade das Zimmer verlassen. „Merken Sie sich, die Begegnung muß am achten November stattfinden. Am achten, nicht früher und nicht später. Colonel Stevens wird zu den Unterhandlungen in Begleitung eines zweiten Offiziers kommen. Das ist möglicherweise Best. Auch ein erfahrener englischer Spion. Nehmen Sie sich vor ihm in acht.“ „Damit werden wir schon fertig!“ Skorzeny lachte dröhnend. „Die Hauptsache, unsere Lieblinge kommen! Wenn Sie erlauben, fahre ich schon heute nach Venlo.“ „Ja, verlieren Sie keine Zeit. Nach der Aktion bringen Sie Stevens sofort nach Berlin. Sie…“ Die Sekretärin war ins Vorzimmer zurückgekehrt. Sie bemerkte die offenstehende Tür, schloß sie und sah Gniffke unzufrieden an. Eine Minute später erschien Skorzeny aufs neue, und die Sekretärin forderte den Untersturmführer auf, in das Zimmer zu treten. Der Mitarbeiter Schellenbergs stellte Gniffke ein paar Fragen und kam dann zur Sache. Es handelte sich darum, daß er, Gniffke, sofort mit der Bahn nach München fahren, sich dort mit einem gewissen Georg Eiser treffen und ihm ein Päckchen aushändigen sollte. Weitere Anweisungen würde er am Bestimmungsort erhalten. Natürlich müßte er in Zivil fahren.
„Außerdem geben Sie Eiser dieses Ding hier.“ Der Mitarbeiter von Schellenberg reichte Gniffke ein kleines Abzeichen. Die Anstecknadel war aus Kupfer. „Achten Sie darauf, daß er es im Ärmel unter dem Futter versteckt, aber merken Sie sich, wo. Die Papiere hier händigen Sie ihm ebenfalls aus.“ Nach Empfang dieser Instruktionen fuhr Gniffke nach München und hielt sich dort einige Tage auf. Mit Eiser, einem salopp und liederlich gekleideten Burschen, traf er sich auf der Straße in der Nähe des Bürgerbräukellers, jenem Lokal, in dem Adolf Hitler einstmals seine Tätigkeit begonnen hatte. Hier war das Stabsquartier der Nazis, als sie im November 1923 erstmalig versuchten, die Macht zu erobern. Willi übergab Eiser das kleine, in Ölpapier gewickelte schwere Päckchen, das Abzeichen und einen Grenzübertrittschein. Gniffke hatte es sich nicht verkneifen können, sich den Schein anzusehen. Solche Scheine wurden den Einwohnern von Grenzbezirken ausgestellt. Eiser steckte das Päckchen unter seine Jacke und ging sofort in den Bürgerbräukeller. Gniffke fiel auf, daß das Lokal, in dem Hitler zwei Tage später eine Rede halten sollte, von niemand bewacht war. Gewöhnlich sah es hier anders aus. Noch vor einer Woche hatte es in dieser Gegend von Geheimagenten gewimmelt. Gniffke hatte hier selbst schon einmal am Saalschutz teilgenommen. Auf Hitler wurde ein mißglücktes Attentat verübt, von dem die Zeitungen am nächsten Tag berichteten. Die Bombe explodierte einige Stunden, nachdem der Führer den Bürgerbräukeller verlassen hatte. Der Anschlag wurde mit der Verhaftung der beiden englischen Spione Best und Stevens in
Zusammenhang gebracht. Man nahm sie in der gleichen Nacht in Venlo an der holländischen Grenze fest. Die Nachricht davon erreichte Gniffke in der an Schweizer Territorium grenzenden Zone. Er war Eiser nachgereist, der versuchte, illegal in die Schweiz zu gelangen. Das Verhalten Eisers war auf jeden Fall seltsam und dumm. Obwohl er den Grenzübertrittschein in der Tasche hatte, versuchte er unverständlicherweise, die Grenze an einer unbewachten Stelle zu überschreiten. Es sah aus, als tue er alles, um verhaftet zu werden, was dann auch geschah. In seiner Tasche fand man ein Stück Ölpapier – das gleiche Papier hatte man nach der Explosion im Bürgerbräukeller gefunden. Im Jackenfutter wurde ein Abzeichen des Roten Frontkämpferbundes entdeckt. Unter der Wucht des unumstößlichen Beweismaterials gestand Eiser rasch ein, früher Mitglied der KPD gewesen zu sein und das Attentat im Auftrag zweier englischer Spione verübt zu haben. Untersturmführer Gniffke hatte den Verbrecher nach Buchenwald zu bringen. Dort, im Konzentrationslager, traf er Franz, den Bruder seines Schwiegervaters. Sie standen sich plötzlich gegenüber. Gniffke kam aus dem Zimmer des Lagerleiters, und Franz, im gestreiften Häftlingsanzug, schleppte zusammen mit einem anderen Häftling einen Büroschrank: Die Schreibstube des Lagerkommandanten zog um. Willi tat, als sehe er Franz nicht, aber Wilamzek blieb überrascht stehen. Er wollte den Untersturmführer rufen, doch dieser war bereits in den Wagen gestiegen. „Was bleibst du denn stehen? Hast wohl einen guten Freund getroffen?“ fragte der Häftling, mit dem er den Schrank trug.
„Und nicht mal zu einem Glas Bier hat er dich eingeladen?“ „Ach was.“ Nach der Unterhaltung mit dem Schwiegervater nahm Willi sich vor, mit jemand zu sprechen. Dieser verdammte Franz! Emmi bestürmte ihn auch, er solle helfen. Sie murrte und brummte. Möglicherweise ahnte sie, daß er etwas mit der Sache zu tun hatte. Außerdem interessierte Willi die Geschichte mit dem geheimnisvollen Erwin. Vielleicht war das ein größerer Fisch. Er fuhr also zur Weddinger Abteilung der Gestapo, wo er einen guten Bekannten hatte, und fragte im Laufe der Unterhaltung obenhin: „Wie ist denn eigentlich die Sache mit dem Wilamzek ausgegangen?“ „Du meinst den aus der Radiofabrik? Ach, nicht der Rede wert! Ist ins KZ gekommen. Ein Schwätzer. Solche wie den gibt’s viele. Aber der andere ist entkommen – und wir haben keine Spur. Ich habe Wilamzeks Freundin vernommen, eine gewisse Erna Kreuz, und ihr Fotografien gezeigt. Ich vermute, wir sind auf Kubier gestoßen. Er ist wieder in Berlin aufgetaucht. Die Kreuz konnte ihn nach den Bildern nicht identifizieren, sagte aber, eine gewisse Ähnlichkeit bestehe. Wilamzek hat auch bestätigt, daß er früher mit Rudolf Kubier bekannt war.“ „Wäre es dann nicht richtiger, wir entließen Wilamzek aus dem Lager, damit er uns als Lockvogel dient?“ „Tatsächlich keine schlechte Idee! Ich habe das Haus beobachten lassen, aber ohne Ergebnis. Vielleicht haben wir mit deinem Vorschlag mehr Glück. Ich werde ihn jedenfalls weiterleiten.“ Im Dezember wurde der Schutzhäftling Franz Wilamzek aus
dem KZ Buchenwald entlassen. Es war Abend, als er in seiner Wohnung anlangte. Erna war schon vom Betrieb zurück. Sie hatte die Lampe auf den Tischrand gestellt und nähte. Sie mußte doch etwas für das Kind vorbereiten. Erna hatte nicht gehört, daß jemand die Wohnung betreten hatte. Sie hob erst den Kopf, als Franz in der Tür stand. Er seinerseits hatte nicht damit gerechnet, Erna in seinem Zimmer anzutreffen. „Franz!“ Die Näharbeit war ihren Händen entglitten, sie stand auf, setzte sich aber, starr vor Freude, wieder hin. „Franz!“ rief sie noch einmal und fing zu weinen an. Er stürzte zu ihr hin und umarmte sie. Oh, was hatten sie sich alles zu sagen und zu fragen! Erna lächelte unter Tränen, Franz aber küßte sie ohne Ende auf die nassen Augen und Wangen. „Du wohnst jetzt also bei mir?“ „Ja, ich mußte von zu Hause fort. Wie mager du geworden bist, Franz!“ „Was ist denn das?“ Franz hob das Kinderhemdchen, an dem Erna gearbeitet hatte, vom Fußboden auf. „Für unser Kleines. Du weißt doch noch gar nicht…“ „Dann werden wir also…“ „Nun ja! Bist du böse?“ „Aber nein doch, nein! Ich bin glücklich. Wir müssen heiraten, Erna. Erinnerst du dich, ich habe es dir damals im Auto gesagt…“ „Ja, ich wollte es dir auch damals sagen, der Gestapomann ließ es doch nicht zu… Damals, im Auto.“
Aber jetzt war Franz wieder bei ihr. Ihr Franz! Man hatte ihr also bei der Gestapo die Wahrheit gesagt, sie hatten ihr Versprechen gehalten. Natürlich wollte sie dazu beitragen, Erwin zu finden, davon würde ja ihr Glück abhängen. Franz würde sie nichts sagen. Nein, nein! Davon brauchte er nichts zu wissen. Erna lief hin und her, setzte in der Küche Wasser auf, deckte den Tisch. Bis zum Morgengrauen plauderten sie. „Franz, wer war das eigentlich, der damals zu uns kam?“ „Ich weiß wirklich nicht. Beschreib mir mal, wie er aussah.“ Erna wiederholte, was sie bereits auf der Gestapo ausgesagt hatte. „Vielleicht war es Kübler. Sie haben mich beim Verhör nach ihm gefragt. Aber ich habe ihn schon viele Jahre nicht gesehen.“ „Wie sagtest du? Kübler?“ „Ich hatte einen Freund, der hieß Rudolf Kübler. Aber davon braucht niemand was zu wissen.“ „Gut, Liebling. Wollen wir uns nicht noch ein bißchen hinlegen?“ Am Morgen ging Erna zur Arbeit. Franz räumte das Zimmer auf und machte sich auf den Weg zur Fabrik. Erna hatte ihm etwas Kleingeld dagelassen. Er mußte nun daran denken, schleunigst wieder was zu verdienen, sie würden ja bald drei sein. Franz lächelte glücklich. Mit welcher Freude würde er den ersten Radioapparat zusammenbauen! In der Fabrik erlebte Franz eine Enttäuschung. Man gab ihm keine Arbeit. Sein Platz war seit langem besetzt. Der Meister fragte mit unverhohlener Feindseligkeit:
„Was, aus dem KZ kommst du? Dann such dir mal woanders Arbeit.“ Der eigenen Makellosigkeit bewußt, verließ der Meister würdevoll das Kontor – mit einem Verdächtigen wollte er nichts zu tun haben. „Nein, nein, auf mich brauchst du nicht zu rechnen!“ rief er noch zurück. Erna Kreuz ging auf dem Heimweg vom Betrieb bei der Gestapo vorbei. Der Beamte, mit dem sie zu tun gehabt hatte, gratulierte ihr zur Entlassung ihres Verlobten. Er sprach jetzt mit ihr in süßlichem Ton, nicht so wie bei der ersten Begegnung. Ob sie sich nicht über Erwin unterhalten hätten? Nein, das nicht, aber Franz nehme an, es könne ein gewisser Kübler gewesen sein, der damals zu ihm kam. Einer seiner früheren Bekannten. Kübler als einen Freund von Franz zu bezeichnen, scheute sich Erna. „Sie sagen Kübler?“ Der Gestapobeamte notierte den Namen. „Sehr gut! Denken Sie daran, Sie müssen uns helfen. Wenn es uns nicht glückt, Erwin oder Kübler zu entdecken, müssen wir Ihren Verlobten wieder in Haft nehmen… Nein, nein, ich hoffe, dazu wird es nicht kommen!“ Der Gestapomann hatte den erschrockenen Ausdruck in Ernas Gesicht bemerkt. „Ich wollte damit nur sagen, daß Sie jetzt mehr als jeder andere am Schicksal Ihres zukünftigen Mannes interessiert sein müssen. Nur Sie können den Verdacht von ihm nehmen. Sie sehen ja, wie offen ich zu Ihnen bin. Herrn Wilamzek dürfen Sie natürlich nichts von unserer Unterhaltung sagen. Man darf ihn nicht aufregen, damit er sich nicht unnötige Gedanken macht. Er hat ohnehin viel ausgestanden.“ „Ja, ich verstehe. Ich danke Ihnen. Ich werde mich bemühen…“ Erna verließ die Gestapo, mehr denn je davon überzeugt, daß
ihr Glück jetzt ausschließlich von ihr abhing. Alles würde gut werden, wenn es ihr gelang, Kübler oder wer sonst es war, der ihnen das Leben zerstörte, zu finden. Über ein Monat war vergangen. Erna war inzwischen Frau Wilamzek geworden – sie hatten zu Weihnachten geheiratet. Die Hochzeitsfeier war nicht so üppig wie die von Karl Wilamzek gewesen. Zu Hause konnte man nicht feiern – wo sollte man auch in der kleinen Einzimmerwohnung die Gäste unterbringen! Man feierte die verspätete Heirat in einem Lokal. Eingeladen hatte das junge Paar Karl und Gerda, Ernas Eltern und das Ehepaar Müller. Karl Wilamzek hatte dafür gesorgt, daß Herr und Frau Müller mitkamen. Er hoffte insgeheim, Müller, dessen Knopffabrik sich erweitert hatte und ein einträgliches Unternehmen geworden war, könnte Franz eine Stellung verschaffen. Trotz aller Bemühungen hatte Franz bisher keine Arbeit gefunden. Frau Gerda war eigens zu den Müllers gefahren und hatte mit dem Bruder ihres verstorbenen Ehemannes gesprochen. Daß der Bräutigam eben aus dem KZ Buchenwald entlassen worden war, hatte sie dabei allerdings verschwiegen. Unter den Gästen befand sich auch Emmi mit prallem, rundem Leib. Sie war allein, ohne ihren Mann. Willi war wieder einmal auswärts, eine ganze Woche schon, ohne daß sie wußte, wo. Die Unterhaltung am Tisch wurde nur mit Mühe aufrechterhalten, und bereits nach anderthalb Stunden begannen sich die Gäste zu verabschieden. Gerda unterdrückte ihre Abneigung gegen Erna, gab ihr einen herzlichen Kuß und lud sie sogar zu sich ein – sie waren doch jetzt Verwandte. Was eine
Stelle für Franz betraf, so sagte der Inhaber der Knopffabrik weder ja noch nein. Er wollte sich die Sache überlegen. Ende Januar gab er endlich Bescheid – er könne Franz als Elektriker bei sich einstellen, da er jemand zur Überwachung der Motoren brauche. Die Jungverheirateten waren außer sich vor Freude. Als Franz das erstemal wieder seinen Schlosseranzug anzog, der fast ein halbes Jahr lang unbenutzt im Schrank gehangen hatte, sagte er beim Frühstück zu Erna, sie brauche nun nicht mehr zu arbeiten. Sie habe es in ihrem Zustand sowieso schon reichlich schwer, auch ohne daß sie den ganzen Tag an der Werkbank stehe… Im Grunde genommen stand Erna nun unter der dauernden Kontrolle ihres Mannes, der wie noch nie in sie verliebt war. Nur zweimal gelang es ihr unter dem Vorwand, sie müsse einholen, zur Gestapo zu gehen. Neues konnte sie nicht berichten. Auf Kübler waren sie nicht wieder zu sprechen gekommen. Beim letzten Mal hatte der Gestapobeamte die Rede auf den Betrieb gebracht, in dem sie gearbeitet hatte. Ganz beiläufig hatte er sich danach erkundigt, worüber ihre Arbeitskolleginnen sich unterhielten, wie ihre Stimmung sei. Erna begriff nicht: Wer gibt schon viel auf die Belanglosigkeiten, über die Frauen sprechen! Aber der Beamte ließ nicht locker. Er zwang sie, sich an dies und jenes zu erinnern. Da hatte beispielsweise jemand einen Zeitungsausschnitt an die Wand geklebt, auf dem Ribbentrop zusammen mit Stalin in Moskau abgebildet war. Die Aufnahme war nach der Unterzeichnung des Vertrages mit den Russen gemacht worden. Als der Meister das Bild abreißen ließ, sagte eine Kollegin: „Wenn das Bild in den Zeitungen abgedruckt wurde, hat
niemand das Recht, es abzureißen.“ Die Arbeiter interessierte natürlich das Bild Stalins, Ribbentrop kannten sie bereits zur Genüge. Am nächsten Tag hing an der gleichen Stelle dasselbe Bild aus einer anderen Zeitung. Frau Timann sagte dazu: „Wo nun der Vertrag mit den Russen geschlossen ist, werden sich vielleicht auch die Verhältnisse in Deutschland ändern.“ Die Timann war übrigens eine gute, fleißige Frau. Das Gespräch in der Gestapo fand statt, als Erna, wie gesagt, nicht mehr Zur Arbeit ging. So erfuhr sie nicht, daß ihre Kollegin bald darauf verhaftet wurde. Und selbst wenn sie es gewußt hätte, wäre sie nicht darauf gekommen, daß sie es war, die Frau Timann ins KZ gebracht hatte. Allmählich begann sich Erna zu beruhigen. Wahrscheinlich würde man Franz jetzt ungeschoren lassen. Von Erwin war nichts zu hören und zu sehen. Gott sei Dank! Aber Anfang April sollte ihr ein neues Geschehnis wieder die Ruhe rauben. An einem Sonntag waren sie nach Köpenick gefahren, um dort spazierenzugehen. Das Wetter war milde und warm, die Luft frisch und rein, die Knospen an den Bäumen standen vor dem Aufbrechen. Es duftete nach Frühling. Sie gingen am Ufer der Spree entlang. Erna, schwerfällig watschelnd, wurde schnell müde, und sie setzten sich unweit des Wassers auf eine Bank. Auf dem Fluß fuhr ein weißer Dampfer. Schreie, Lachen und Marschlieder tönten herüber – die Hitlerjugend machte eine Dampferfahrt. Gleich hinter der Bank lag ein Waldpfad. Sie hörten Schritte. Franz drehte sich um. Ihnen entgegen kam Kübler, der nun seinerseits Franz bemerkte. „Rudi! Ist das aber eine Überraschung!“ Sie begrüßten sich. Erna spitzte die Ohren. Mit der Ruhe und
Sicherheit, in der sie sich gewiegt hatte, war es vorbei. „Darf ich dir meine Frau vorstellen…“ „Wir kennen uns bereits ein wenig.“ Rudolf lächelte. Erna hatte ihn sofort wiedererkannt. Die hohe Stirn, das eckige Kinn, das wellige, vorn bereits schüttere Haar. Sie war wie benommen. Sie gab ihm die Hand und schaute sich um. Ringsum war kein Mensch. Zu dieser Jahreszeit gab es hier draußen nur wenige Spaziergänger – im Sommer war das anders. Ihre erste Reaktion war fortlaufen, um Hilfe rufen. Aber das hatte doch keinen Sinn. Was sollte sie nur tun? Und wenn er, wie damals, gleich wieder verschwand?… Die Männer unterhielten sich, als wäre nichts geschehen. „Was machst du hier?“ fragte Franz. „Ich schnappe frische Luft. Genauso wie ihr. Na, wie geht’s“? Rudolf erzählte nicht, daß ihn die Hoffnung nach Köpenick getrieben hatte, seine Frau oder seinen Sohn wenigstens einmal von weitem zu sehen. Sie unterhielten sich wie gute alte Freunde, die sich lange nicht gesehen haben. Dann bat Kübler Erna um Entschuldigung und nahm Franz beiseite. Sie sprachen halblaut miteinander. Die Finger ineinandergekrallt, saß Erna da, innerlich fiebernd und bemüht, ja nicht ihre Gefühle zu verraten. Was sollte sie nur tun? Was?… Sie hatte noch keinen Entschluß gefaßt, als die Männer zurückkamen. Ihr schien es, als sei Franz bestürzt. Kübler verabschiedete sich. „Also, wir treffen uns mal. Auf Wiedersehen!“ Als Rudolf fort war, fragte Erna: „Was hat er dir denn gesagt?“ „Er hat sich erkundigt, wo ich arbeite. Wollen wir nicht weitergehen?“
„Nein, laß uns nach Hause fahren. Ich fühle mich nicht wohl.“ Als sie in der S-Bahn waren, setzten die Wehen ein. Erna biß sich auf die Lippen und überwand schweigend die Schmerzen. Franz wurde aufgeregt. „Was hast du?“ „Ich weiß nicht…“ In der Nacht wurde Erna ins Krankenhaus gebracht. Zwei Tage später schenkte sie einem Mädchen das Leben. Franz kam zu ihr mit Blumen. Er durfte das Töchterchen sehen. Erna selbst sah er nur kurz. Die Geburt sei schwer gewesen, sagte die Ärztin, das Kleine sei etwas zu früh gekommen. Hatte die Wöchnerin vielleicht in den letzten Tagen Aufregungen? Nein, nicht daß er wüßte. Zu Aufregungen habe kein Grund vorgelegen. Etwa zwei Wochen blieb Erna im Krankenhaus – die Temperatur ging nicht herunter. Dann mußte sie noch eine weitere Woche zu Hause das Bett hüten. Zur Gestapo konnte sie erst einen Monat nach der neuerlichen Begegnung mit Kübler gehen. Der Kriegswinter brachte im Leben der Familie Crawshow keine großen Veränderungen mit sich, wenn man davon absah, daß Robert eingerückt war. Die Einberufung war noch im Spätherbst erfolgt, kurz nach Kriegsausbruch. Robert und Kate, den armen Kindern, fiel die Trennung so schwer! Robert mußte gerade an dem Tag fahren, an dem sie ihre Verlobung feiern wollten. So traurig waren die beiden, daß einem das Herz weh tat, wenn man sie ansah. Wie sie doch aneinander hingen!
Ließ man die geheime Eifersucht außer acht, die alle Mütter beim Auftauchen einer Braut einfinden, so konnte man sagen, daß Polly sich für ihren Sohn freute. Kate gefiel ihr. Sie war sehr lieb. So einfach und bescheiden. Sie hatten sich gleich angefreundet, als Robert sie zu Hause einführte. Später kam Kate allein. Sie war besorgt, weil sie seit drei Tagen keine Post von Robert hatte. So ein Dummchen. War es etwa in Dover gefährlich? Das lag doch noch in England! Aber Polly verstand Kate gut. Sie war ihr dankbar, daß sie sich so sorgte. Man sage, was man will, Robert hatte eine gute Wahl getroffen. Wenn bloß der Krieg bald aus wäre! Sie sollten doch ihre jungen Jahre nach Herzenslust genießen. Im übrigen ging alles im alten Trott. Der Winter war wie jeder Winter mit seinen zusätzlichen Plagen und Ausgaben. Natürlich hatte man es seit der Abreise von Robert schwerer. Auf jeden Fall drückte sich seine Abwesenheit im Familienbudget aus. Aber Polly brachte es dennoch mit viel List fertig, sich nach der Decke zu strecken. Ja, Gott sei Dank, der Krieg hatte die im Haus seit Jahren gültige Ordnung nicht gestört. Mochten die Männer ruhig über den „komischen“, „sonderbaren“ und wer weiß was noch für einen Krieg in Frankreich herziehen und die Köpfe schütteln, weil die Soldaten in den Schützengräben noch keinen Schuß gehört hatten. Was sollte daran komisch sein? Je weniger man schoß, desto besser. Wenn Robert zu Hause wäre, hätten sie derartige Gespräche überhaupt nicht interessiert. Jeden Morgen, noch im Dunkeln, fuhr John wie in Friedenszeiten zur Arbeit. Und wenn er von der Arbeit nach Hause kam, war’s wieder dunkel. Manchmal stattete ihnen William
einen Besuch ab. Die Männer diskutierten nun nicht auf der Vortreppe des Hauses, sondern vorm Kamin. Sie wärmten sich die Hände über dem Feuer, sprachen über die Ereignisse in aller Welt, als ob dadurch etwas geändert werden könnte, und wenn die Kohlenglut erlosch, wandte sich John jedesmal an seine Frau mit den Worten: „Hast du nicht vielleicht noch ein paar Kohlen für uns, Polly? Es ist kalt geworden.“ Fröstelnd rieb er sich die Hände, und Polly legte ihre Handarbeit beiseite – abends pflegte sie zu stopfen oder zu strikken –, stand auf und ging zum Windfang. Was sollte man machen, so eine Kleinigkeit konnte sie ihm doch nicht abschlagen. John arbeitete für zwei, er mußte sich auch ausruhen und sollte es warm haben. Robert traf einen Tag vor Heiligabend ein. Er kam am Tage. Der Vater war noch nicht zu Hause. Er ging durch alle Zimmer, sah sich alles an, berührte alles. Schön war es, wieder daheim zu sein. Polly, überglücklich, konnte die Augen nicht von ihm wenden. Wie stattlich er geworden war, in den Schultern noch breiter als früher! Der ganze Vater! Nur ein bißchen fremd wirkte er in der Marineuniform. Er war etwa eine halbe Stunde zu Hause, da hatte er es auf einmal eilig. „Mama, ich muß mal rasch telefonieren. Ich bin ja im ganzen nur drei Tage da.“ „Natürlich, Bob, telefoniere nur“, gab ihm Polly zur Antwort. Sie hatte verstanden. So waren sie, die Kinder – kaum angekommen, lief er schon wieder weg… Polly unterdrückte ihren Ärger. „Aber du bleibst doch nicht lange?“
Robert druckste. „Nein, Mama… Aber vielleicht fahre ich in die Stadt. Jedenfalls komme ich bald zurück. Gibt’s an der Ecke noch den Apparat?“ Er umarmte die Mutter. „Ärgere dich nicht, Mama.“ „Ja, im Laden von Onkel Hield.“ Eigentlich hatte sie zusammen mit dem Sohn zu Bekannten gehen wollen, bei denen sie eine Pute kaufen wollte. Bei der Gelegenheit hätte sie ihn auch gleich vorgeführt, und dann hätte ihr Robert die Einkaufstasche getragen. Aber Polly überlegte es sich – sollte er ruhig gehen. Er war ja genauso ungeduldig wie seine Schwester Virginia. Robert kam natürlich erst spät zurück. Virginia schlief bereits. Mit dem Egoismus der Jugend hatte er, als er bei Kate war, alles andere auf der Welt vergessen. Sie waren den ganzen Abend durch die Straßen geschlendert. John saß vor dem Kamin, gab sich den Anschein, als lese er die Zeitung, und lauschte zur Treppe hinaus auf Schritte. Sein Gesicht hatte sich verfinstert, nur mühsam verbarg er seinen Ärger. Doch als Bob, munter und fröhlich, schließlich kam, war alles vergessen. Bald war es so, als sei er nie von zu Hause weg gewesen. Bob erzählte von seinem Dienst und vertraute dem Vater an, daß gemunkelt wurde, ihre Einheit werde vielleicht demnächst nach Finnland verschifft. Vorher aber solle es nach Norwegen, nach Narvik gehen. In diesem Augenblick kreuzte William auf. Er hatte von Roberts Ankunft gehört. „Nun, laßt mal euren Seemann sehen! Guck mal an, wie er ausgelegt hat!“ William betrachtete Bob ungeniert, faßte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. „Na, wie kämpft ihr?“
Robert wollte das Gespräch auf ein anderes Thema lenken, aber der Vater unterbrach ihn, indem er sagte: „Hör dir mal an, William, was er erzählt! Raus mit der Sprache, Bob! Vor ihm brauchst du keine Geheimnisse zu haben.“ Crawshow junior wiederholte ungern, was er dem Vater über Finnland erzählt hatte. „Wir können’s ja doch nicht lassen!“ William verzog ironisch den Mund. „Gegen Hitler kämpfen wir nicht, aber mit den Russen suchen wir Streit… So ist’s doch, nicht wahr?“ „Ich weiß nicht. Vielleicht sind das nur Gerüchte.“ „Gerüchte? Und daß das Schlachtschiff ,Royal Oak’ mit Mann und Maus abgesackt ist, sind wohl auch Gerüchte? Hast du davon gehört? Und wo? Im eigenen Hafen, in Scapa Flow… Man hat geglaubt, man erklärt den Krieg – und damit hat sich’s. Sogar Minen sind nicht gelegt worden. Nein, so geht’s nicht. Wenn sie nicht gegen die Faschisten kämpfen wollen, dann sollen sie’s doch offen sagen!“ William ging wütend zum Kamin. Sein hageres Gesicht sah gallig und böse aus. Robert wußte von dem Unglück, das sich vor zwei Monaten zugetragen hatte. In den Kriegshafen Scapa Flow, den Hauptstützpunkt der britischen Flotte, war ein deutsches Unterseeboot eingedrungen und hatte das Linienschiff „Royal Oak“ aus nächster Nähe torpediert. Binnen zwei Minuten war das Schiff gekentert und gesunken. Das U-Boot konnte ungeschoren entkommen. Die Zugänge zu dem Flottenstützpunkt waren nicht vermint gewesen. Robert wollte die Diskussion abbrechen. Wenigstens zu Hause wollte er nichts vom Krieg hören. Er antwortete ausweichend:
„Nun, das war ein reiner Zufall.“ „Wieso Zufall?“ William wandte sich heftig um. „Und wenn die Deutschen anfangen, London zu bombardieren, wohin sollen wir dann? Haben wir vielleicht Luftschutzkeller? Ist das auch reiner Zufall?“ „Nein, William, da hast du nicht ganz recht“, griff nun John in die Debatte ein. „Hast du denn nichts von Morrisons Luftschutzunterständen gehört?“ William lachte spöttisch. „Du meinst wohl die eisernen Tische? Für jede Wohnung einen? Chamberlain will uns ein zusätzliches Möbelstück verpassen. Polly, wo wirst du das Tischchen hinstellen – ins Schlafzimmer oder in die Küche?“ „Erstens sind sie aus Stahl und zweitens sollen sie zuverlässigen Schutz bieten.“ „Ich möcht’ mal sehen, wie du dich unter dem Tisch verkriechst, John, wenn es Bomben hagelt.“ „Na, das steht wohl nicht zu befürchten!“ „Geb’s Gott. Aber Gnade uns, wenn es anders kommt. Hitler hetzt man gegen den Osten, derweil dreht er den Spieß um und wendet sich gegen den Westen. Das U-Boot nach Scapa Flow hat er schon geschickt… Ihr solltet mal hören, was Harry Pollitt sagt: Die Kommunisten haben recht mit ihren Warnungen.“ William suchte in seinen Taschen nach der Zeitung. „John, William, nun ist’s aber genug!“ sagte Polly flehentlich. „Schweigt wenigstens vorm Heiligabend! Der Junge ist doch nicht auf Urlaub gekommen, um sich eure Streiterei anzuhören!“ „Na, na, wir hören ja schon auf!“ beschwichtigte William
Polly. „Wollen wir versprechen, John, daß wir nicht wieder anfangen?“ John drehte sich zu seiner Frau um. „Natürlich versprechen wir’s… Hast du nicht noch ein bißchen was Warmes da?“ „Das ist was anderes!“ Polly ging in die Küche. Den ganzen folgenden Tag blieb Bob zu Hause. Man feierte nach altem englischen Brauch in der Familie. Die Weihnachtspute war vorzüglich geraten – saftig, weich, mit knuspriger Haut, ein wahrer Leckerbissen! Polly hatte sich auch wirklich alle Mühe gegeben. Monatelang hatte sie das Geld für den Braten zusammengespart. Am ersten Weihnachtsfeiertag fuhr die ganze Familie zu den Greys, den Eltern der künftigen Schwiegertochter. Der Krieg war daran schuld, daß die Familien sich noch nicht kennengelernt hatten. Manierlich und steif saß man sich in der altmodischen Wohnung am Tisch gegenüber. Es wollte keine rechte Stimmung aufkommen. Die pedantische Mrs. Grey bewirtete die Gäste. Die Unterhaltung schleppte sich hin. Kates Vater erzählte von seiner Arbeit. Er war in der City Clerk beim Bankhaus Schroeder. Polly gefiel nicht, wie er sprach. Als spreche er zu sich selbst, und dazu noch der herablassende Ton! Vielleicht paßte es ihm nicht, daß er mit einer einfachen Hafenarbeiterfamilie verwandtschaftliche Beziehungen eingehen sollte. Polly runzelte die Stirn. Ein solcher Verdacht konnte einem natürlich die Stimmung verderben. Die Männer wurden erst etwas lebhafter, als das Gespräch
auf den Krieg kam. Grey in seinem eng sitzenden, schwarzen Anzug setzte sich näher zu John. Der weiße Stehkragen, der seinen mageren Hals umspannte, verlieh ihm Ähnlichkeit mit einem Vogel. Über den Krieg urteilte Grey genauso wie über seine Arbeit, das heißt mit großer Selbstsicherheit. Lediglich aus Höflichkeit hörte er sich nachsichtig eine andere Meinung an. Aber John schien das nicht zu bemerken. Mag sein, weil er ein paar Gläschen Kognak getrunken hatte und in gehobener Stimmung war. Nach Ablauf der Zeit, die der Anstand vorschrieb, begann man sich zu verabschieden. Kate blinzelte Robert zu und fragte ihre Mutter: „Darf ich noch ein bißchen mit Bob Spazierengehen, Mam?“ Mrs. Grey blickte die Tochter streng an. Sie sah Kate lieber unter ihrer Aufsicht. „Aber nicht lange. Höchstens eine Stunde, nicht länger.“ „Mam, sei doch nicht so!“ sagte Kate bittend. Sie spitzte den Mund und neigte schmollend den Kopf. Bob gefiel das sehr. „Nein, nein! Länger auszubleiben schickt sich nicht. Widersprich nicht, Kate!“ Man verabschiedete sich und verließ gemeinsam die Wohnung. „Wo gehen wir jetzt hin?“ fragte Bob, als die anderen in den Autobus gestiegen waren. „Ich weiß nicht. Wohin du willst. Ich fühle mich so wohl!“ Sie schmiegte sich fest an ihn. „Gehen wir so, wie damals in Windsor. Weißt du noch? Mit geschlossenen Augen, ohne zu wissen wohin.“ „Nun gut, gehen wir!“ Kate warf den Kopf in den Nacken und schloß die Augen. Sie überquerten die Straße.
„Paß auf, jetzt kommt die Bordschwelle!“ „Oh, ich habe keine Angst!“ Kate lachte mit geschlossenen Augen. „Du hältst mich doch.“ Die Straßenlaternen brannten zwar nicht, aber Robert konnte Kates Gesicht, das der herabrieselnde Schnee in gespenstisches Licht tauchte, gut sehen. Er umarmte Kate und küßte sie. Er fühlte, wie das Mädchen zitterte. „Bob, ich liebe dich so!“ Über ihr Gesicht huschte wie im Schlaf ein unbestimmtes Lächeln. „Frierst du nicht?“ „Nein.“ „Gib mal her!“ Sie steckte seine Hand unter den Ärmelaufschlag ihres Pelzmantels. Lange gingen sie durch die Straßen, dicht aneinander geschmiegt und erregt durch die körperliche Nähe. Sie kamen auf Windsor zu sprechen. „Weißt du noch, wie wir zusammen Mittag gegessen haben? Ich hatte einen Bärenhunger.“ „Und baden wolltest du… Sag mal, wo ist denn Stinebock jetzt? Durch ihn haben wir uns doch kennengelernt.“ „Er ist immer noch da. Wie früher verspricht er allen zu helfen… Aber mir hat er wirklich geholfen. Ich werde als Stenotypistin in einer militärischen Dienststelle arbeiten.“ Kate hatte Bob bereits darüber geschrieben. Sie machte jetzt im Winter einen Lehrgang mit, der bald zu Ende ging. „Es heißt, wir bekämen Uniform. Was meinst du, wird sie mich kleiden?“ „Ganz bestimmt!… Sag mal, wieviel Briefe hast du von mir bekommen?“ „Zweiunddreißig.“ „Das kann nicht sein! Ich habe dir vierunddreißig geschickt.
Und du?“ „Dreiunddreißig.“ „Also liebe ich dich mehr.“ „Das stimmt nicht!“ protestierte Kate. „Ich habe alle Briefe beantwortet.“ Vor der Trennung hatten sie vereinbart, sich zweimal in der Woche zu schreiben. Unbedingt zweimal, nicht weniger. Und das bis zum Ende des Krieges. „Weißt du, was ich mir ausgedacht habe?“ sagte Bob. „Wenn ich von dir hundertvierzehn Briefe bekommen habe, ist der Krieg aus, und wir heiraten.“ „Warum gerade hundertvierzehn?“ „Von dem Tag, an dem wir uns kennenlernten, bis zu meiner Einberufung sind hundertvierzehn Tage vergangen. Verstehst du jetzt?“ „Dann werde ich von nun an jeden Tag schreiben.“ „Am besten noch öfter.“ Niemand, am wenigsten das Pärchen selbst, hätte sagen können, durch welche Straßen sie in jener Nacht gegangen waren, der große Matrose und das Mädchen in dem Pelzmantel. „Kate, erkennst du dieses Geldstück wieder?“ Er zeigte ihr einen Silbershilling. Das Mädchen zog sich mit den Zähnen den Handschuh aus. Ihre Linke hielt Bob fest. Sie nahm die bläulich schimmernde Münze in die Hand. „Was ist das?“ „Siehst du, du weißt es nicht! Das ist der Shilling, den du mir damals für die Nachhausefahrt gegeben hast. Weißt du noch, als wir uns trennten?“ „Also…“
„Nun ja, ich ging zu Fuß. Ich wollte deinen Shilling aufheben. Das ist mein Talisman, den gebe ich nicht weg.“ „Aber du hattest doch so einen weiten Weg! Wie kann man nur so dumm sein!“ „Jeder muß im Leben seinen Talisman haben.“ „Philosophier nur nicht.“ Beide erinnerten sich an den traurigen Abschied zu Anfang des Krieges. Wie sehr sie sich auch Mühe gaben, den Krieg zu vergessen – immer wieder schob er sich zwischen ihre Erinnerungen. An jenem letzten Abend hatte Robert sie nach Hause gebracht. Sie standen damals lange vor der Haustür, als Kate plötzlich fragte: „Du, Bob, wie kommst du heim? Hast du Geld bei dir?“ – „Offen gestanden, nein. Aber ich komm schon nach Hause.“ – „Nein, nein, hier nimm! Das reicht für den Bus.“ Ob er wollte oder nicht, er mußte das Geld nehmen. Und nun stellte es sich heraus, daß er in jener Nacht zu Fuß gegangen war. „Ganz so war es nicht, auf halbem Weg habe ich ein Auto angehalten.“ „Auch so war’s noch weit.“ „Dafür habe ich jetzt aber ein Andenken.“ „Schön, dann soll es uns beiden gehören… Aber heute hast du doch Geld bei dir?“ „Ja, natürlich!“ „Wie spät ist es jetzt eigentlich?“ fragte Kate plötzlich besorgt – Stunde um Stunde war vergangen, seit sie die elterliche Wohnung verlassen hatten. „Na, ich werde ja zu Hause was zu hören bekommen!“
Der Weihnachtsurlaub war schnell vorüber. Am dritten Weihnachtstag saß Bob, traurig und noch verliebter als zuvor, wieder im Zug nach Dover. Verdammt noch mal, schimpfte er in sich hinein, wenn doch der Krieg erst aus wäre! Aber der Krieg dauerte an und stand seinem Glück weiter im Weg. Dabei konnte sich Robert nicht einmal beklagen – er hatte es als Fahrer des Brigadekommandeurs in der Marineinfanterie nicht schlecht getroffen. Die Matrosen waren an der Küste kaserniert, sie rechneten jeden Tag damit, nach Narvik eingeschifft zu werden. Im Februar hörte man nichts mehr davon – die Finnen schlossen mit den Russen Frieden. Das war gut so! Robert teilte die Meinung des Vaters, daß man sich in fremde Angelegenheiten nicht einmischen solle – die Russen und die Finnen würden sich schon selber einigen. Es dauerte nicht lange, da kam das Gerücht auf, ihre Brigade gehe nach Frankreich. Aber das Gerücht blieb Gerücht. In der Tat, was hätte Marineinfanterie in Schützengräben zu suchen! Die Brigade war für Landungsoperationen vorgesehen.
6 Das aus Stralsund kommende Motorschiff hatte Kopenhagen ohne Ladung angelaufen. Es lag nun schon den zweiten Tag an der Anlegestelle und wartete auf seine Fracht, aber die Lieferfirma, die sonst in den Geschäftsabwicklungen mit den dänischen Exporteuren so exakt war, hatte diesmal die Papiere nicht rechtzeitig ausgefertigt, und der Kapitän wartete geduldig auf weitere Anordnungen. Man sollte nun meinen, er hätte die unfreiwillige Liegezeit benutzt, um die Laderäume zu lüften und sein Schiff für die nächste Ladung vorzubereiten. Doch nichts von alledem. Die Luken blieben geschlossen und waren überdies noch mit festen Segeltuchplanen abgedeckt. Sonst aber machte alles einen alltäglichen und gewohnten Eindruck. An demselben Kai schaukelten auf dem Wasser noch andere, ebensolche deutsche Frachtschiffe. Sie waren alle fast gleichzeitig in Kopenhagen eingetroffen und warteten ebenfalls auf ihre Ladung. Doch dieses friedliche idyllische Bild trog. In den Laderäumen regte sich ein ganz anderes Leben. Die halbdunklen Schiffsräume waren vollgestopft mit bewaffneten Männern, die erregt auf ihren Einsatz warteten. Die Luft war von den Ausdünstungen der menschlichen Körper schwer und stickig. Untersturmführer Willi Gniffke fluchte in sich hinein und beneidete alle, die als Matrosen getarnt oben auf dem Deck umhergingen. Gestern abend war er in Zivil an Land gegangen. Er hatte sich den Ort des bevorstehenden Einsatzes angesehen, war aber nach einer Stunde in die unerträgliche Schwüle des Laderaums zurückgekehrt.
In dieser Operation hatte Gniffke den Auftrag, ein Hafenviertel zu besetzen. Wenn’s nur bald losginge! Immerhin schätzte man ihn, wenn man ihn mit einer solchen Aufgabe betraute, überlegte Gniffke. Schade nur, daß er ausgerechnet an dem Tag nach Stralsund fahren mußte, an dem Emmi in die Klinik ging. Jetzt hatte sie wahrscheinlich schon entbunden. Hoffentlich war es ein Sohn! Er würde ihn zu seinem Ebenbild, zu einem Menschen der höheren Rasse erziehen. In ihm floß arisches Blut ohne irgendwelche wertmindernden Beimischungen. Willi war damit zufrieden, ein Produkt der Erziehung zu sein, von der Robert Ley, ein alter Nazi und der Führer der Deutschen Arbeitsfront, einmal gesagt haben sollte: „Wir beginnen den Knaben im Alter von drei Jahren zu erziehen. Sobald er zu denken anfängt, drücken wir ihm ein Fähnchen in die Hand. Dann kommt die Schule, die Hitlerjugend, die Sturmabteilung, der Militärdienst. Wenn er das alles hinter sich hat, bemächtigt sich seiner die Arbeitsfront und läßt ihn bis zum Tode nicht wieder los, ganz gleich, ob es ihm gefällt oder nicht.“ Willi Gniffke hatte fast alle Etappen der nazistischen Erziehung durchlaufen. Außer den Fähnchen. Er war schon über das Knabenalter hinaus, als Hitler sich an die Spitze des Dritten Reiches stellte. In der „Kristallnacht“ hatte Gniffke zusammen mit anderen SS-Leuten Synagogen angezündet, Rabbinern die Barte ausgerissen, Juwelierläden demoliert und die Straßen Berlins mit den Scherben von Schaufensterscheiben bedeckt. Die „Kristallnacht“ folgte auf die Ermordung des deutschen Botschafters in Paris. Es hieß, Juden seien die Mörder gewesen. Hey-
drich erließ den Geheimbefehl, Judenpogrome zu veranstalten. Gniffke zertrümmerte die Ladeneinrichtungen in Erfüllung seines Parteieides. Bei seiner Aufnahme in die Nazipartei hatte er mit den auswendig gelernten Worten des Treueschwurs widerspruchslosen Gehorsam gelobt. Der Befehl Heydrichs erforderte ebenfalls widerspruchslosen Gehorsam. Wie in der Schule sollte Willi, anstatt zu denken, gehorchen. Und in der Tat, er folgte den Führern, denen er unterstellt war – Heydrich, Schellenberg –, blindlings und gehorchte ihnen widerspruchslos. Aber alles, was er früher hatte ausführen müssen, verblaßte gegenüber dem Bevorstehenden. Deutschland brauchte Lebensraum. Vielleicht würde Willi Gniffke hier, in Dänemark, ein Landgut erhalten. Für ihn würden dänische Viehzüchter arbeiten. Vielleicht würde Emmi seinen Sohn hier in den Schlaf wiegen. Er wollte viele Kinder haben. Der Sohn, den Emmi ihm jetzt geboren hatte, war nur der erste. Er würde für sie Lebensraum schaffen! In der Nacht wurden die Planen abgenommen und die Luken geöffnet. Die Männer standen unten dicht gedrängt und atmeten in tiefen Zügen die frische Luft. Die Nacht war klar. Der Mond beschien die schlaf ende Stadt des neutralen Landes. Es wurde Raucherlaubnis erteilt. Gierig zogen sie den Zigarettenrauch ein. Wie über dem Krater eines schlummernden Vulkans schwebte über den Luken durchsichtiger Rauch. Am nächsten Tag begann der Krater in aller Frühe zu speien. Aus den Luken strömten stahlhelmbewehrte SS-Leute, brünierte Maschinenpistolen in der Hand, und stürmten auf den Kai. Untersturmführer Gniffke stand an der Spitze der Männer. Ein verdutzter Verkehrspolizist wurde gefangengenom-
men und auf das Schiff gebracht. In wenigen Minuten war das ganze Viertel gesäubert. In die Bucht liefen Kriegsschiffe ein, Geschütze nahmen die Stadt unter Beschuß. Die Küstenbatterien erwiderten das Feuer nur schwach. In der Hauptstadt Dänemarks landeten Truppen. Eine halbe Stunde später war alles vorbei. Der König hatte den Truppen befohlen, den Widerstand einzustellen. Von überall her waren bei ihm Meldungen eingelaufen, daß die Städte des Landes von den Deutschen besetzt seien. Diese Meldungen kamen von den erschrockenen Bürgermeistern und den deutschen Residenten. So wie man es vorgesehen hatte. Der Fernmeldedienst war nicht gestört worden. Die Tage ähnelten einander wie die Flaggenknöpfe auf den Minensuchbooten, die im Hafen gegenüber der Kaserne lagen. Die einzige Neuigkeit für Robert Crawshow war das Zusammentreffen mit Jimmy Page. Jimmy war also ebenfalls in Dover, und zwar bei der Marineintendantur. Er war noch immer so rundlich und rotwangig wie früher. Aus beider Worten sprach gegenseitige, mühsam verborgene Feindseligkeit. Bob erzählte, daß er über Weihnachten zu Hause auf Urlaub war. „Nun und, hast du Kate gesehen?“ fragte Jimmy. „Natürlich.“ „Wenn du ihr schreibst, grüß sie von mir. Ich bin vielleicht auch bald in London.“ „Gut, ich werde den Gruß bestellen.“ Sie standen ein Weilchen beisammen, dann ging jeder seines Weges. Selbstverständlich schrieb Robert Kate nichts von der Begegnung. Sollte er sich zum Teufel scheren, der Auf-
schneider! Mit was für lüsternen Augen er sich nach Kate erkundigt hatte! Allein dafür hätte er eins aufs Maul verdient… Der Winter war bereits vorüber, als die Marinebrigade Anfang April plötzlich eingeschifft wurde. Die Transporter gingen Kurs nach Nordosten, anscheinend war das Ziel Norwegen. Eine steife Brise wehte. Die See wogte. Sie waren nachts aus Dover ausgelaufen und im Morgengrauen schlossen sich ihnen auf offener See weitere Schiffe an. In Kiellinie setzten sie ihre Fahrt fort, begleitet von zahlreichen Torpedobootzerstörern. Den Bug in die schäumenden Wellen tauchend, durchfurchten die Zerstörer das kalte, bleierne Wasser. Dunkler als Meer und Himmel, hoben sich vom Horizont schwere Schlachtschiffe ab, die wie Bügeleisen aussahen. Sie fuhren parallelen Kurs. Nasser Schnee fiel herab, und milchigweißer Nebel hüllte alles ein, die in die Wellen stippenden Zerstörer ebenso wie die Transporter. Die feuchte Kälte drang einem durch Mark und Bein. Robert kletterte nach unten. Im Mannschaftsraum spielten die Matrosen beim trüben Lampenlicht Karten oder würfelten. Viele lagen auf ihren Pritschen, von der Seekrankheit geplagt. Das Schiff schlingerte wild, und als wären sie lebendig, rutschten die Spielwürfel und die noch halbvollen Flaschen auf dem Tisch hin und her. Das Deck glitt einem unter den Füßen weg, und die Schiffswände, die Pritschen und die festgezurrten Schemel krängten von einer Seite zur anderen. Auch in Robert rumorte es, obwohl er sonst seefest war. Sicherlich war der Alkohol daran schuld, den man den Matrosen beim Auslaufen verabfolgt hatte. Er stand eine Weile da, sah den Spielern zu, leerte mit einem von ihnen noch ein Glas und kroch auf seine Pritsche. Ihm war gottsjämmerlich zumu-
te. So ging es ihm immer, wenn er einen zuviel getrunken hatte. Er drehte sich auf die Seite und schloß die Augen. Aus dem Radioapparat, der den ganzen Morgen über geschwiegen hatte, ertönte eine Stimme. Nachrichten über die Landung deutscher Truppen in Norwegen wurden durchgegeben. Dänemark habe den Widerstand bereits eingestellt, aber die Landung in Oslo sei nicht geglückt. Küstenbatterien hätten den schweren deutschen Kreuzer „Blücher“ versenkt. Zur gleichen Zeit habe ein norwegischer Minenleger den Kreuzer „Emden“ beschädigt. Weiter berichtete der Ansager von dem Heldenmut eines norwegischen Kapitäns, dessen mit einer Harpunenkanone ausgerüstetes Walfangboot den Kampf gegen ein Kriegsschiff aufgenommen hatte. Selbst als dem Kapitän die Beine weggerissen worden waren, hatte er das Kommando über sein Boot nicht aufgegeben, und als die einzige Kanone ausgefallen war, stürzte er sich über Bord. Im Zwischendeck war es still geworden. Außer der Stimme des Ansagers hörte man nur das Heulen des Sturmwindes, das gedämpft von draußen hereindrang. Der Ansager machte nun ironische Bemerkungen über den deutschen Überfall. Mehrere Male wiederholte er voller Entzücken über den Geist des Marineministers einen Ausspruch Churchills, den dieser aus Anlaß der deutschen Landung von sich gegeben hatte: „Hitler hat den Bus verpaßt.“ Zum Schluß sagte er: „Das alliierte Oberkommando trifft wirksame Maßnahmen zur Liquidierung der vereinzelten deutschen Gruppen, die an der Westküste Norwegens gelandet sind. Getreu seinen Traditionen, nimmt Großbritannien das heldenhafte Norwegen, mit dem es heilige Freund-
schaftsbande verbinden, unter seinen Schutz.“ Das Radio schwieg, im Zwischendeck wurde es wieder laut. Auf den unteren Pritschen sagte jemand: „Ja, der Kapitän ist natürlich ein Held, aber mit einer Harpunenkanone kann man nicht gegen Dreadnoughts kämpfen. Das ist geradeso, als wollte man mit einem Stock auf einen Panzer losgehen.“ „Kommt es denn darauf an?“ An der Stimme erkannte Bob Edward, einen rothaarigen Burschen aus Glasgow. „Die Norweger sind gewillt zu kämpfen, und wir werden ihnen helfen. Die ganze Flotte ist unterwegs. Wir haben ja gesehen, was für schwere Brocken draußen schwimmen!“ „Wer wird sich denn nicht zur Wehr setzen, wenn der Feind an seiner Küste landet!“ sagte sein Pritschennachbar. „Dieser Kapitän hat vielleicht sein Leben lang in Oslo gewohnt.“ Der Mann ließ den Kopf herunterhängen. Obwohl er seekrank war, hatte er es nicht lassen können, sich in das Gespräch einzumischen. „Pfui Deibel, mir wird schon wieder übel. Wann hört das bloß auf?“ Er streckte sich wieder auf der Pritsche aus. Zwei Tage später liefen die Hauptkräfte der britischen Kriegsflotte unter dem Befehl des Admirals Forbes aus Scapa Flow aus und sammelten sich auf der Höhe von Bergen, achtzig Meilen von der Küste entfernt. Der Flottenbefehlshaber bereitete sich auf eine Schlacht vor – es galt die in Norwegen gelandeten Deutschen zurückzuschlagen. Er wollte Bergen von der See her angreifen, durch den Fjord bis zur Stadt vordringen und den Hafen zurückerobern, den deutsche Landungstruppen vierundzwanzig Stunden zuvor besetzt hatten.
Da es dem Gegner kaum möglich gewesen sein konnte, in Bergen festen Fuß zu fassen und frische Kräfte nachzuziehen, nahm Admiral Forbes an, daß es ihm verhältnismäßig schnell gelingen würde, die Lage wiederherzustellen. Gegen Abend flaute der Sturm ab. Zwischen den Wolkenfetzen zeigte sich stellenweise blauer Himmel, und der Vollmond beleuchtete kurze Zeit das bewegte Meer und die im gespenstischen Licht plötzlich auftauchenden Schiffe. Die Truppentransporter mit den kanadischen, französischen und englischen Soldaten trafen kurz nach den Hauptkräften am Sammelplatz ein. Admiral Forbes bat die Brigadekommandeure zu sich aufs Flaggschiff. Die Beratung fand in der Offiziersmesse des Flaggschiffs statt. Admiral Forbes unterrichtete die Kommandeure über den Operationsplan. Die Brigade der französischen Alpenjäger ebenso wie die kanadischen und englischen Marineinfanteristen sollten den Erfolg der Flotte festigen und einem etwaigen Versuch des Gegners, neue Truppen zu landen, zuvorkommen. Der Admiral sprach etwas von oben herab, in ruhig-selbstsicherem Ton und formulierte seine Gedanken prägnant. In gewissem Grade besorgniserregend sei nur die sichtliche Besserung der Wetterverhältnisse, so daß zu befürchten sei, die feindliche Luftwaffe könne die Hauptmacht der Flotte entdecken. Aber der Meteorologe, der an der Beratung teilnahm, erklärte, die Prognosen deuteten darauf hin, daß die Wetterbesserung nur von vorübergehender Dauer sei. Vom Nordosten nähere sich ein Schneesturm, in dessen Bereich Bergen nebst Umgebung spätestens am frühen Morgen des nächsten Tages einbezogen sein würde.
Admiral Forbes nutzte die kurze Aufheiterung, um noch gegen Abend einen Luftaufklärer nach Bergen zu schicken. Das Flugzeug kehrte nach zwei Stunden zurück, als die Beratung noch andauerte. Wie er stand und ging, kam der Pilot in die Offiziersmesse. Er hatte im Fjord von Bergen außer einem feindlichen Kreuzer keine Schiffseinheiten gesichtet. Die Flakartillerie des Gegners habe zwar Sperrfeuer gegeben, aber nichts ausgerichtet. Wie der Flieger ferner berichtete, begann sich das Wetter über Bergen zu verschlechtern, so daß jetzt, solange der Schneesturm tobe, kein Flugzeug nach dorthin durch könne. Auf dem Rückflug sei er in einen Ausläufer des Sturms geraten, und der Zyklon habe seine Maschine gehörig durchgerüttelt. Admiral Forbes war mit dem Ergebnis des nächtlichen Aufklärungsfluges zufrieden. Nachdem er die Aktionen der Transporter und der Kampfschiffe koordiniert hatte, entließ er die Kommandeure der Landungseinheiten und gab den Funkern Befehl, einen chiffrierten Funkspruch an die Admiralität durchzugeben. Mit London wurde eine ständige zweiseitige Funkverbindung unterhalten. Die Truppentransporter setzten sich beim Morgengrauen nach Bergen in Bewegung. Die für den Angriff vorgesehenen Kampfschiffe, die eine höhere Geschwindigkeit hatten, sollten später abfahren. Die Voraussage des Meteorologen hatte sich bestätigt. Der Sturm, der gegen Abend abgeflaut war, ging gegen Morgen wieder in heftiges Schneegestöber über. Myriaden von Schneeflocken wirbelten über das Meer hin und verdeckten Himmel und Horizont. Zusammen mit dem prickelnden Schnee trieb der Wind Schaumfetzen aufs Deck.
Genau um elf Uhr dreißig Greenwicher Zeit lösten sich vier britische Kreuzer und sieben Torpedobootzerstörer von dem Flottenverband und nahmen Kurs auf Bergen. Über hohe Wogen, in Spritzern und Schaum, jagten die Schiffe mit maximaler Geschwindigkeit durch den Schneesturm auf die skandinavischen Fjorde zu. Die Geschützbedienungen hatten ihre Plätze eingenommen. Besatzungen und Schiffe waren gefechtsklar. In schwarzen Matrosenkitteln, die Karabiner zwischen die Knie geklemmt, saßen die Männer der Landungstruppen erwartungsvoll da. Nach etwa anderthalb Stunden hatten die Zerstörer und Kreuzer die Truppentransporter überholt und waren binnen kurzem wieder aus dem Blickfeld verschwunden. Der Kapitän eines Transporters nickte beifällig in die Richtung der Kriegsschiffe. Die Pfeife im Mund, sagte er durch die Zähne: „Die haben gutes Tempo drauf. In einer Stunde sind sie in Bergen. Eine Rauchtarnung könnte nicht besser sein.“ Admiral Forbes war im Kommandoturm. Von den Kriegsschiffen wurde ihm gemeldet, daß alles klar zum Gefecht sei. Der Funker vom Dienst übergab dem Admiral den letzten chiffrierten Spruch aus London. Der Admiral las ihn durch und hob erstaunt die Achseln. Er las den Spruch noch einmal: London befahl, den Angriff abzublasen. Der Befehl kam vom Ersten Lord der Admiralität, dem Marineminister Winston Churchill. Als Begründung wurde kurz angegeben: Die Luftaufklärung habe neue Kräfte des Gegners in den Fjorden bei Bergen entdeckt. Was für eine Luftaufklärung? Er selber, Admiral Forbes, hatte doch vor wenigen Stunden London über das Ergebnis der Luftaufklärung informiert! Woher verfügte die Admiralität über andere Angaben? Bei diesem Wet-
ter hatte doch seit frühem Morgen kein Flugzeug aufsteigen können! Sonderbar! Aber alle diese Überlegungen spiegelten sich in dem unerschüttert ruhigen Gesicht des Admirals nicht wieder. „Geben Sie an die Schiffe den Befehl: Auf Gegenkurs gehen!“ Seit Beginn des Krieges im Herbst 1939 gehörte Winston Churchill dem Kabinett Chamberlain an. Er bekleidete den Posten des Ersten Lords der Admiralität, das heißt des Marineministers. Aber das konnte den Ehrgeiz Churchills nicht restlos befriedigen. Und Ehrgeiz war vornehmlich die geheime und starke Triebkraft, die die Handlungen dieses korpulenten, phlegmatisch aussehenden Mannes bestimmte. Der Erste Lord der Admiralität war nun mal nicht der erste Mann im Empire. Der erste Mann in Großbritannien nach Seiner Majestät dem König war der Premierminister. Und Premier zu werden war stets Churchills sehnlichster Wunsch gewesen. Der Premier hatte sogar eine größere Macht als der König. Der König – das war nur gute englische Tradition, nur ein Symbol. Er hielt Thronreden und mischte sich nicht in die Staatsgeschäfte ein. Immerhin bedeutete der Posten des Ersten Lords der Admiralität nicht wenig. Besonders bei seinem hohen Alter und seinen Lebenserfahrungen. Der Nachkomme des Herzogs von Marlborough war dem heißersehnten Ziel, der Macht, entschieden näher gerückt. Er hatte Geduld gelernt. Eine teuflische Geduld – die Fähigkeit, zu warten. Solche Eigenschaften kommen mit den Jahren. Zehn Jahre lang hatte Churchill keine Regierungsposten bekleidet. Da hatte er Zeit gehabt,
nachzudenken und Pläne zu schmieden. Die Jahre waren nicht nutzlos vergangen. Churchill hatte nicht nur mit eiserner Zähigkeit ein vielbändiges Werk über die Taten seines Vorfahren, des Herzogs von Marlborough, geschrieben und nicht nur Lücken in der Geschichtsschreibung gefüllt… Der Marineminister war stark beschäftigt. Es schienen dringliche Angelegenheiten zu sein, die ihn in Anspruch nahmen. Lord Amery saß dem Minister mit unbeweglichem Gesicht gegenüber und wartete, bis dieser sich ihm zuwenden würde. Einstweilen betrachtete er das Dienstzimmer Churchills, das einem Marinemuseum glich, in dem man die Geschichte der britischen Flotte studieren konnte. Modelle mittelalterlicher Karavellen mit braunen, teergetränkten Segeln wechselten ab mit Miniaturdarstellungen moderner Linienschiffe und Flugzeugträger. Sie standen auf polierten Gestellen unter Glashauben, Schiffe der verschiedensten Klassen hingen unter der Decke und an den Wänden. Dazwischen sah man ein Gemälde von der Schlacht bei Trafalgar, die Porträts der Flottenchefs und eine Stabskarte, auf der die an der skandinavischen Küste konzentrierten Schiffseinheiten als Pünktchen vermerkt waren. Der Minister las Funksprüche, unterzeichnete sie, entließ den Stabsoffizier, rief ihm nach: „Geben Sie das sofort an Admiral Forbes durch“, und wandte sich Lord Amery zu. „Entschuldigen Sie, teurer Lord, daß ich Sie warten ließ. Der Krieg ist ein großes Spiel. Ich habe soeben den Angriff auf Bergen abgeblasen.“ Churchill sah Amery an. Er erwartete erstaunte Fragen. Aber sein Besucher blieb gelassen. „Vor drei Tagen haben wir längs der norwegischen Küste
Minen gelegt“, fuhr Churchill fort, „aber es war anscheinend schon zu spät.“ Über sein Gesicht glitt ein verschmitztes Lächeln. „Zu spät heißt natürlich noch nicht – schlecht. Hitler konnte seine Truppen in Oslo und Bergen landen. Seine Schiffe waren ein paar Stunden früher da.“ „Nach meinem Dafürhalten wäre es besser, wenn nicht deutsche, sondern britische Truppen in Norwegen wären“, wandte Amery ein. „Vielleicht“, erwiderte der Erste Lord der Admiralität ausweichend. „Aber Situationen muß man nicht nur ausnutzen, man muß Situationen auch schaffen können. Ist es nicht so, mein Freund? Darin liegt die Kunst der Strategie. Ich möchte Sie an die Worte von Charles Lindbergh erinnern. Er hat eine gute Schule durchgemacht. Aus einem Rekordflieger wurde ein amerikanischer Politiker.“ Churchill zitierte aus dem Gedächtnis eine Äußerung Lindberghs, die vor einer Woche in der Zeitung gestanden hatte: „,Die Geschichte lehrt uns, daß es zwischen zwei Mächten, die in Schußweite voneinander leben, unvermeidlich zum Krieg kommt.’ Verstehen Sie, was ich meine? Ist denn Hitler nach seiner Landung in Norwegen nicht näher an Rußland herangerückt? Und sei es über Finnland. Scheint Ihnen nicht, daß allein schon das die Mißerfolge wettmachen kann, die wir teilweise hatten? Im übrigen ist das alles die Präambel zu unserer Unterhaltung, derentwegen ich Sie hierher bemüht habe.“ Das Gespräch wandte sich konkreten, geschäftlichen Dingen zu. Dem Marineminister bereitete es Sorge, daß sich ein Mangel an Truppentransportern bemerkbar machte. Künftig würde er noch mehr benötigen. Sollte Hitler nur ein Stück Norwegen besetzen, die Alliierten würden Trondheim und
den Bezirk Narvik auf jeden Fall für sich reservieren. Er, Churchill, habe das Kabinett davon überzeugt, daß Landungstruppen dorthin geworfen werden müßten. Das sei wichtiger als Bergen. Die Operationen würden von einer französischen Brigade, von französischen Alpenjägern und einer verstärkten kanadischen Brigade durchgeführt. Die britischen Truppen müsse man schonen, sie würden später noch gebraucht. Finnland sei nicht von der Tagesordnung abgesetzt. Jetzt bestehe die Aufgabe darin, die erforderliche Anzahl Transporter für die Zukunft bereitzustellen. Er habe einen konkreten Vorschlag. Man habe zwar Frachtdampfer zu Truppentransportern umgebaut, aber schließlich dürfe man die Handelsflotte nicht bis ins Unendliche verringern. Er als Marineminister sehe nur den Ausweg, neue Schiffe zu bauen. Ob Lord Amery nicht die Sache übernehmen könne? Seine Werften hätten die entsprechende Kapazität und seien nicht voll ausgelastet. Kurz gesagt, das Marineministerium biete ihm, Lord Amery, einen Auftrag zum Bau von Truppentransportern an. Lord Amery könne andere Firmen zur Mitarbeit heranziehen. Selbstverständlich nur, wenn es vorteilhaft sei. Das Angebot war verlockend. Lord Amery, der in Nordengland Schiffsbauwerften besaß, überschlug im Kopf rasch alle Vorteile und erklärte sich einverstanden. Er bat nur noch um Klärung einiger Fragen. Könne er auch auf andere Aufträge rechnen? Im allgemeinen sei es lukrativer, Kriegsschiffe, beispielsweise Torpedoboote, zu bauen. Nein, das Ministerium brauche zwar auch Torpedobootzerstörer, aber das eile vorerst nicht. Seeschlachten stünden nicht bevor. Man dürfe hoffen, daß es mit den Deutschen zu einem Vergleich komme. Nach allem zu schließen, sei Hitler
nicht daran interessiert, den Krieg im Westen zu beginnen. Churchills Ausführungen befriedigten den Industriellen Lord Amery. Er seinerseits hielt den in Europa entstandenen Konflikt ebenfalls für ein unsinniges Mißverständnis, auch wenn er nur symbolischen Charakter trug. Er erinnerte sich noch sehr gut der Düsseldorfer Beratung vor dem Krieg, vor nunmehr fast einem Jahr. Der britische Industriellenverband war mit den deutschen Unternehmern ins reine gekommen. Wer hätte ahnen können, daß sich alles so wenden würde. Natürlich ging alles auf ein Mißverständnis zurück. Lord Amery war Geschäftsmann. Über die Einzelheiten wurde man sich schnell einig. Die juristische Abteilung würde einen Vertrag vorbereiten. Der Schiffsbauunternehmer stand auf. „Hoffentlich sehen wir uns bald bei unserem Kington.“ Churchill lächelte nachsichtig. „Ja, wenn ich mich frei machen kann. Ich habe die Einladung erhalten. Lebt er noch immer in der Zeit der Jahrhundertwende? Ein Original!“ „Der bleibt seinen Schrullen bis zum Grabe treu. Die heutige Zivilisation erkennt er nun einmal nicht an. Er liest prinzipiell nur die ,Times’ von vor fünfzig Jahren. Ausdrücklich hat er wieder darum gebeten, daß niemand mit dem Auto zu ihm komme. Seine Kutsche würde die Gäste an der Grenze seines Gutes erwarten. Ein komischer Kauz! Er hat versprochen, uns das Schauspiel eines Ritterturniers zu bieten.“ „Na ja, vielleicht hat er recht“, sagte Churchill nachdenklich. „Jedenfalls hütet er auf seine Art die aristokratischen Traditionen.“ „Ich habe es satt, mich dauernd telefonisch zu Hitler bestellen
zu lassen. Er nimmt sich entschieden zu viel heraus“, brummte Mussolini mürrisch. Ciano widersprach nicht, er schürte vielmehr die Unzufriedenheit seines Schwiegervaters. Obwohl Mussolini murrte, fuhr er auf den Brenner. Wie gewöhnlich, wußte er im voraus, was Hitler von ihm wollte. Auf dem Brenner schneite es. Große Flocken wirbelten auf den von Bergen umgebenen Bahnsteig. Der italienische Zug stand auf einem Reservegleis. SS-Männer in schwarzen Mänteln gingen auf und ab. Hitler war noch nicht eingetroffen. Auch das ärgerte Mussolini. Er kam sich vor wie ein Lakai, der im Vorzimmer warten muß. Jede dieser Zusammenkünfte beleidigte und verletzte seine krankhafte Eigenliebe. Aber was konnte er tun? Ihn verdroß auch der Zustand der italienischen Streitkräfte. Bald fehlte es an diesem, bald an jenem. An allem fehlte es – an Hosen und Kochgeschirren, an Benzin und Geschützen. Wenn er wenigstens eine Million Soldaten mehr hätte! Dann würde er nicht gestatten, daß man mit ihm so umsprang. Hitler nahm sich zuviel heraus, der Sieg über Polen war ihm zu Kopf gestiegen. Bis heute konnte es Mussolini nicht verwinden, daß Hitler so unerwartet Ruhm erworben hatte. Es ließ sich nicht mehr mit Sicherheit sagen, wie viele solcher Zusammenkünfte in den letzten Jahren bereits stattgefunden hatten. Mussolini erinnerte sich ihrer ersten Zusammenkunft, in Venedig, im Sommer 1934. Das waren damals andere Zeiten. Nicht er hatte sich vor Hitler gedemütigt, sondern dieser vor ihm. Der Duce empfand plötzlich Schadenfreude. Damals hatte er, Mussolini, diesen Parvenü in die Schranken gewiesen! Hitler kam im Zivilanzug. Er sah aus
wie ein Ladenschwengel, der sich fein gemacht hat. Was für einen traurigen Anblick bot er neben dem Duce, der eine ordengeschmückte, tressenbesetzte Uniform trug! Mussolini war damals bereits zwölf Jahre an der Macht, während Hitler erst am Anfang seiner Karriere stand. Der Duce gab das seinem Gast zu verstehen, als er auf dem Markusplatz zu der Menschenmenge sprach. Er redete, ohne Hitler zu beachten, der auf einem anderen Balkon stand. Auch an eine andere Zusammenkunft, in Berlin, mußte Mussolini denken. Hitler scharwenzelte um ihn herum, schmeichelte ihm auf jede erdenkliche Weise. Ganz Berlin hatte er auf die Beine gebracht. Mussolini nahm das als etwas Selbstverständliches mit herablassender Überlegenheit hin. Damals prangte ein riesiges „M“ auf einer Säule mitten auf dem Platz. Die Stadt war mit deutschen und italienischen Fahnen geschmückt. Das Fahnentuch reichte von den Dächern bis zur Erde herab und verdeckte ganze Gebäude. Auf den Straßen standen Hunderte Marschkolonnen, ihnen voran vergoldete Adler. Bankette, feierliche Reden, Komplimente und Lobpreisungen lösten einander ab. In Mecklenburg zeigte man den Gästen Manöver. Hitler prahlte mit den Rüstungswerken von Krupp und sprach immer wieder von den Perspektiven, die sich durch die Vereinigung der beiden faschistischen Systeme ergaben. Das Abkommen, das den Namen „Achse Berlin-Rom“ trug, trat in Kraft, wurde zum Angelpunkt der deutschen Politik. Noch warfen sich die Achsenpartner keine Knüppel zwischen die Beine… Ja, das waren damals andere Zeiten! Jetzt mußte er, Mussolini, auf Hitler warten. Endlich lief der deutsche Zug ein. Er schob sich zwischen
Mussolinis Zug und den Bahnsteig, auf dem die Wache in Bewegung gekommen war. Vom Trittbrett des Salonwagens sprang ein deutscher Oberst aus der Begleitung Hitlers. Wo der bloß immer diese langen Kerle hernahm! Sein Sekretär meldete ihm, der Adjutant Hitlers sei eingetroffen. Der Führer bitte den Duce, ihm die Ehre zu erweisen und in seinen Zug zu kommen. Mussolini packte plötzlich der Trotz. Genug! Hitler sollte in seinen Salonwagen kommen. Er konnte ebensogut auch hier sprechen. „Richten Sie dem Adjutanten aus, der Duce lade Herrn Hitler zu sich ein. Der Führer möchte mich entschuldigen. Sagen Sie ihm, mir wäre nicht wohl. Auf dem Brenner ist es so feucht und kalt.“ Hitler erschien in einer Viertelstunde. Ihn begleiteten Keitel, der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, und General Jodl, Hitlers persönlicher Berater in militärischen Fragen. Mussolini unterdrückte seinen Ärger und setzte die Miene eines Mannes auf, der einen lieben Gast empfängt. „Was ist mit Ihnen, mein teurer Duce? Sie sind nicht gesund?“ fragte Hitler und nahm den über die Schulter geworfenen Mantel von militärischem Zuschnitt ab. „Ach, nicht der Rede wert. Wahrscheinlich ist nur der Klimawechsel daran schuld. Beunruhigen Sie sich nicht. Ich bin unsäglich froh, Sie zu sehen. Bitte sehr!“ Die Besprechung nahm ihren Anfang. Die italienische Seite vertraten Mussolini und sein Schwiegersohn, der Minister des Auswärtigen Graf Ciano. Man hatte am Tisch Platz genommen, aber Hitler war gleich wieder aufgesprungen und ging im Salonwagen auf und ab. Im Laufe von vollen zwei Stun-
den ließ er niemand zu Worte kommen. Mussolini beherrschte die deutsche Sprache nicht so gut, um dem Gedankengang des Reichskanzlers folgen zu können. Er verstand nur in großen Zügen, was Hitler sprach. Aber eins hörte er heraus: Hitler bestand darauf, daß sein italienischer Bundesgenosse seine Stellungnahme zu den laufenden Ereignissen offener darlege. Mussolini beobachtete seinen Gast. Er hatte genügend Zeit, um dessen Gesicht zu betrachten. Seine Folgerung aus dieser Beobachtung war: Er führt etwas Neues im Schilde, bereitet sich wieder auf etwas vor. Aber auf was? Es gelang ihm, ein paar Worte in Hitlers Redeschwall einzuflechten: „Das italienische Volk ist von der Schnelligkeit Ihrer Aktionen begeistert. Aber mir scheint, lieber Führer, daß die Lösung Ihres Lebensraumproblems in Rußland liegt. Nur in Rußland und nirgends sonst. Die Mission Großdeutschlands besteht darin, Europa vor Asien zu schützen. Hierin überlasse ich Ihrem politischen Genie die Priorität.“ Hitler schien diese Worte überhört zu haben. Er entwickelte den Gedanken von der Einheit der faschistischen Regimes. Er blieb vor dem Tisch stehen und fragte rundheraus: „Kann ich damit rechnen, daß Italien die Politik der Neutralität aufgibt? Und wann? Das muß ich wissen!“ Mussolini umging eine direkte Antwort. Er sei bereit, in den Krieg einzutreten, wolle jedoch Zeit zum Überlegen und zur Wahl des günstigsten Zeitpunkts haben. Die zweistündige Beratung brachte nicht die gewünschten Ergebnisse. Weder erzwang Hitler eine direkte Antwort von Mussolini, noch erriet dieser, was sein Verbündeter vorhatte.
Man speiste im Salonwagen des deutschen Zuges zu Abend. Diesmal entschied sich Mussolini hinzugehen – sein Prestige war gewahrt. Zu Tisch erschien auch Göring. Er war also ebenfalls am Brenner. Doch schwieg er zumeist. Er maulte mit den Italienern, die ihn auf die Verleihung des Annunziatenordens warten ließen. Er saß neben Ciano und flocht diplomatisch in das Gespräch ein: „Sagen Sie Seiner Majestät König Viktor Emanuel, daß ich ihm im voraus für seine Aufmerksamkeit danke. Allem Anschein nach trägt er sich doch mit dem Gedanken, mir den Orden zu verleihen. Ist es nicht so?“ Ciano hob sein Glas. „Auf Ihr Wohl! Ich werde das Seiner Majestät mit dem größten Vergnügen ausrichten.“ Er lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema. 7 Der Zug kam gegen elf Uhr vormittags an. Andrej trat aus dem Bahnhofsgebäude auf den mit Kopfsteinen gepflasterten Vorplatz und gelangte durch eine kleine, runde Grünanlage mit beschnittenen Pappeln auf die Straße. Ihm war, als sei er schon einmal hier gewesen. Offenbar rührte das daher, daß alle derartigen Stationen Anlagen mit schadhafter roter Einfassung, mit gestutzten Pappeln, Gipsvasen auf runden Blumenbeeten und unter den Wagenrädern dröhnendes Kopfsteinpflaster aufwiesen. Um eine Ecke herum kam ein barfüßiger Junge in einer warmen Jacke. Mit offenem Mund starrte er den blitzenden Rotbannerorden auf Andrejs Feldbluse an.
„Sag mal, Junge, wie komme ich zur Proletarskaja-Straße?“ „Dort lang. Durch die Bahnhofstraße und dann links… Wen suchen Sie denn dort?“ „Den kennst du doch nicht.“ „Doch, ich kenne alle! Zu wem wollen Sie, Onkel? Und wofür haben Sie den Orden bekommen?“ Andrej mußte laut lachen. Er zog dem Jungen die Mütze über die Augen und bog um die Ecke. Über knirschende, violette Schlacke ging er ohne Eile die Straße entlang. Alles, was er ringsum sah – der verkrustete Schlamm auf der Straße, die Pappeln vor dem Bahnhof und sogar die Sperlinge – , erinnerte ihn an seine Kindheit, die er in ebenso einer Siedlung an der Eisenbahn verlebt hatte. Er überquerte die Straße, zupfte ein Blättchen von einem Fliederbusch, der über einen Vorgarten hinausging, und zerrieb es mit den Fingern. Das bevorstehende Wiedersehen erregte ihn immer mehr. Wie wird alles ablaufen? Wie wird Sina ihm begegnen? Ob sie in den letzten Monaten an ihn geschrieben hat? Während er im Lazarett lag, wurde seine Division doch an einen anderen Frontabschnitt geworfen… Über einen Monat hatte Andrej im Lazarett gelegen. Dann wurde er entlassen und erhielt Genesungsurlaub. Zusammen mit seinem regulären Urlaub machte das zwei Monate aus, mit so viel Zeit ließ sich schon was anfangen. Ein paar Tage verbrachte er in Moskau. Dort erfuhr er, daß Sina im Februar nach Samoisk versetzt worden war. Mehr konnte ihm die Nachbarin nicht sagen. Sie gab ihm aber die Adresse – Sina hatte gebeten, ihr Briefe, die für sie ankämen, nachzuschikken. Also hatte Sina immerhin auf Post von ihm gewartet… Vielleicht hatte er sich alles bloß eingebildet, und Sinas Brie-
fe hatten ihn nur nicht erreicht. Vielleicht verstand auch sie, genau wie er, das Ganze nicht, wartete und regte sich auf. Er beschloß also, den falschen Stolz aufzugeben und zu Sina zu fahren. Er wollte unverhofft kommen – so würde es das beste sein… In der Proletarskaja-Straße fand Andrej bald das Haus Nummer acht. Er öffnete die Pforte zu dem Gärtchen. Eine Frau mit geschürztem Rock kehrte ingrimmig mit einem Birkenbesen die Stufen der Vortreppe. „Verzeihung, wohnt hier Sinaida Wassiljewna?“ fragte Andrej, überzeugt, daß Sina natürlich hier wohne, in dem Eckzimmerchen dort mit den blütenweißen Gardinen. Die Frau richtete sich auf, zog den Rock glatt, strich sich mit dem Handrücken über das Haar und sah Andrej neugierig an. „Sinaida Wassiljewna? Nein, sie ist weg von uns. Schon vor Ostern ist sie umgezogen. Zu ihrem Mann. Sie sind wohl ihr Bruder? Sie hat immer gewartet und mir aufgetragen, wenn er kommen sollte, ihm zu sagen, wo sie wohnt… Erst in diesen Tagen ist sie wieder dagewesen.“ Ihm war, als zerbreche etwas in ihm. Aus! Alles zu Ende! Er fühlte, wie die Haut seiner Wangen gefror. Hätte er sich nicht früher sagen müssen, daß er nicht fahren durfte? Und überhaupt hätte er sich keine Illusionen machen, sich nicht selbst betrügen sollen. Jetzt wollte er vor allem so schnell wie möglich fort von hier. Nur schnell! Zum Bahnhof, zum Zug! Er hörte der Wirtsfrau kaum zu, die ihm ausführlich erklärte, wie er gehen müsse, um zu der neuen Wohnung Sinas zu kommen. Er ließ sie in dem Glauben, daß Sina seine Schwester sei. Er schämte sich, einzugestehen, was für eine dumme,
klägliche Rolle er spielte. Die Wirtin begleitete ihn bis zur Pforte, redete dabei fortwährend und wies mit dem Besen nach dem anderen Straßenende hin, auf einen Verkaufsstand, hinter dem er rechts einbiegen müßte. „Gut… Danke schön…“ Er lächelte sogar. Ein Stück ging er in Richtung des Verkaufsstandes, schwenkte dann in eine Gasse ab und landete am Bahnhof. Erst jetzt merkte er, daß seine Hand noch immer das zerdrückte, vergessene Fliederblatt knüllte. Er warf es weg und betrat das Stationsgebäude. Neben dem Fahrkartenschalter hing ein Fahrplan. Der Schnellzug nach Moskau sollte fahrplanmäßig in zwei Stunden ankommen, aber wie der Fahrdienstleiter mitteilte, hatte er Verspätung. Vor drei Stunden sei er nicht zu erwarten. Andrej ging auf dem menschenleeren Bahnsteig auf und ab. Dann begab er sich wieder in das Stationsgebäude. Im Wartesaal roch es nach Karbol, wie im Lazarett. Hier und dort saßen Reisende auf Säcken. Ein Wächter räumte den Saal auf und stritt mit jemand, der seine Sachen auf der Polsterbank abgestellt hatte. Andrejs Kopf war wie benebelt. Er wollte sich mit dem Spruch: „Die Zeit heilt alle Wunden“ beruhigen, aber es gelang ihm nicht. Wie war das möglich? Wie war das nur möglich? fragte er sich immer wieder. Nichts zu schreiben, kein Wort zu sagen! So unehrlich zu sein! Wann konnte sich das nur ereignet haben? Wann bekam ich doch den Brief, in dem sie schrieb: „Geliebter, Einziger… ich sehne mich nach dir“? Wohl, als der Krieg gerade begann. Da schrieb sie: „Nie, nie werden wir uns trennen.“ Andrej lächelte bitter. Er hatte sich
auch nach ihr gesehnt. Naiver Dummkopf, der er war! Demnach hatte alles später angefangen, als statt richtiger Briefe nur noch nichtssagende Antwortschreiben kamen. Dann hörten auch die auf. Alles war klar… Und nun hatte Sina einen Mann! Einen anderen, Fremden. Als er, Andrej, sie liebte, hatte sie von der Existenz des anderen gewiß noch nichts gewußt. Und sie… Ja, offenbar war es bei ihr anders… Wie hatte es nur so schnell kommen können? Also mußte ein großes, starkes Gefühl alles verdrängt haben, was vorher war… Aber warum hatte sie geschwiegen? Andrej blieb beim Zeitungskiosk stehen. Er kaufte sich das erste Buch, auf das sein Blick fiel: „Kann man Erdbeben voraussagen?“, nahm es in die Hand und lächelte schief – ihm stand jetzt gerade der Sinn danach, an Erdbeben zu denken! Wen hatte sie ihm vorgezogen? Irgendeinen Schieber, einen Drückeberger? Der sich die Gelegenheit zunutze machte? Ja, für den einen der Krieg, für den andern… Eifersucht und Wut stiegen in ihm hoch. „Hallo, Genosse Soldat!“ hörte er jemand hinter sich rufen. „Genosse Soldat, Sie bekommen noch etwas heraus!“ Das Mädchen aus dem Kiosk hielt ihm das Geld hin. Achtlos steckte er die Handvoll Papiergeld in die Tasche und ging in den Erfrischungsraum. Dort würde es wenigstens nicht nach Karbol riechen. Er setzte sich an einen freien Tisch neben einer künstlichen Palme in einem grünen Kasten. Wie in einem Papierkorb lagen unter der Palme Zigarettenstummel, Eierschalen, zerknülltes, fettiges Papier. Am Nachbartisch saß ein ergrauter, unrasierter Alter in abgetragener Eisenbahneruniform. Er hatte vor sich den Rest eines Hellen, einen Teller mit ein paar
Wurstscheiben und ein leeres Schnapsglas stehen. Andrej blätterte mechanisch in seinem eben erworbenen Büchlein. Zu ihrem Mann ist sie also gezogen! Plötzlich spürte er geradezu schmerzhaft deutlich, daß neben Sina ein fremder Mann war. Er stellte sie sich mit dem anderen vor, malte sich aus, wie dessen Hände ihre zarten Finger drückten, wie er ihr in die Augen sah. Und sie hob den Kopf, berührte mit ihren warmen Lippen sein Kinn… Andrej preßte die Kiefer aufeinander und zog mit einem Ruck den Tisch zu sich heran. Der Salzstreuer fiel um und rollte zu Boden. „Ein Schnäpschen gefällig?“ Der Kellner, der die Geste des Soldaten auf seine Weise deutete, sprang diensteifrig herbei. „Ja, bitte.“ Andrej stürzte ein Gläschen Wodka hinunter und trank ein Bier nach. Da trat der Alte an ihn heran und bat um Feuer. Er hatte anständig einen in der Krone. Nur mit Mühe gelang es ihm, den zitternden Stummel, an dessen Pappmundstück er schon lange gekaut hatte, an das brennende Streichholz heranzuführen. „Warten Sie auf den Zug?“ „Ja.“ Der Alte druckste, setzte sich wieder an seinen Tisch und flüsterte mit dem Kellner. Der schüttelte ablehnend den Kopf. „Laß das! Anschreiben verdirbt die Freundschaft.“ Der angeheiterte Eisenbahner verstummte, blickte unentschlossen auf Andrej und trat, sich aufraffend, erneut auf ihn zu. „Wieder ausgegangen, das Teufelskraut!… Gestatten Sie, daß ich mich zu Ihnen setze?“ Er rückte einen Stuhl heran und
nahm Andrej gegenüber Platz. „Darf ich mir die Frage erlauben, ob Sie an der finnischen Front waren?“ „Ja, da war ich.“ „Ich habe einen Schwiegersohn, der hat auch im Feld gestanden. Vielleicht sind Sie mit ihm zusammengetroffen. Im Abschnitt Petrosawodsk.“ „Nein, ich war auf der Karelischen Landenge.“ „Also nicht dort.“ Der Alte sondierte den Boden für ein Gespräch und schaute melancholisch auf das leere Schnapsglas. „Ich war im ersten Weltkrieg auch Soldat, bei General Brussilow. Ja… Und Sie, sind Sie hierher kommandiert oder sozusagen in privater Angelegenheit hier?“ „Trinken wir einen zusammen?“ bot ihm Andrej an, ohne auf die Frage einzugehen. „Wenn Sie spendieren, mit dem größten Vergnügen! Vielleicht eine kleine Karaffe?“ „Gut, eine Karaffe.“ Der Alte nahm sogleich einen selbstsicheren Ton an, rief nach dem Kellner, nahm seine Mütze ab und glättete sich das Haar. Andrej leerte hintereinander mehrere Gläschen. Bald schwindelte ihm der Kopf, die Gedanken wirbelten durcheinander. Der Schmerz stumpfte ab, zurück blieb nur eine dumpfe Gereiztheit, die nach Entladung suchte. Zerstreut hörte er die Klagen des alten Mannes an, der mit dem Schicksal haderte jemand wollte ihm übel und hatte ihn wegen seiner Vorliebe für Alkohol aus der Lagerverwaltung entfernt. Allmählich kam der Alte ins Randalieren und belästigte die anderen Gäste. Als er dann ein Lied zu grölen begann und die schwer gewordenen Arme im Takt dazu schwenkte, kam ein Miliz-
sergeant auf ihn zu. „Bürger, stören Sie nicht die Ruhe!“ Der Alte fing mit dem Milizionär Streit an. Andrej wollte den Alten nach seinem Familienleben ausfragen, unbedingt mußte er da einiges in Erfahrung bringen, und zwar gleich, doch der Milizionär ging und ging nicht fort. Das erboste Andrej. Er brauste auf und verlangte, man solle sie in Ruhe lassen. „Schämen sollten Sie sich, Genosse Soldat! Ihr Verhalten ist einfach unverzeihlich“, erwiderte der Milizionär. Auf das Weitere besann sich Andrej nur unklar. Vor ihm tauchten verschiedene Gesichter auf, und der rot-weiß gewürfelte Boden schwankte unter seinen Füßen. In der Bahnhofswache, wohin man ihn und den Alten geschafft hatte, setzte der Reviervorsteher ein Protokoll über öffentliche Ruhestörung auf. Andrej stritt auch hier; er behauptete, völlig nüchtern zu sein, und verbat sich jede Schikane. Wenn man wolle, möge man eine Blutprobe machen. I Der Alte hatte sich auf einen Stuhl fallen lassen und war eingeschlafen. Andrej führte den Streit allein. Der Reviervorsteher verhielt sich kühl und höflich. Wenn er, Andrej, darauf bestehe, könne man den Arzt herbitten, doch rate er ihm, lieber zu gehen und sich auszuschlafen. Andrej bestand auf seiner Forderung. Der Reviervorsteher schickte den diensthabenden Milizionär nach dem Arzt. Nach etwa zwanzig Minuten kehrte der Milizionär zurück. Andrej hatte sich noch nicht beruhigt und schaute wütend aus dem Fenster. Als er die Tür klappen hörte, wandte er sich um – und erstarrte. Nein, das konnte nicht sein! Im Nu war sein Rausch verflogen. In der Türöffnung stand Sina in ihrem braunen Mantel, dem gleichen, in dem sie ihn im vergange-
nen Jahr zum letzten Mal begleitet hatte. Geradeso war sie ihm die ganze Zeit über im Gedächtnis geblieben. Nur trug sie damals unter’ dem Mantel eine leuchtend blaue Bluse und nicht, wie jetzt, den weißen Arztkittel. Sina war unwillkürlich zurückgewichen und blickte verwirrt um sich. „Andrej! Du… hier?“ Ihre Lippen zuckten krampfhaft. Andrej wandte sich ab und starrte aus dem Fenster. „Der Reviervorsteher hat Sie hergebeten“, sagte er, ohne sich umzudrehen. „Entschuldigen Sie die Störung. Bestätigen Sie, was der Vertreter der Miliz von Ihnen verlangt: Politleiter Andrej Woronzow mußte zur Ernüchterung festgehalten werden.“ Woronzow trumpfte sichtlich mit seinem Zustand auf – wie sollte er sonst über diese erniedrigende Szene hinwegkommen! So also mußten sie sich wiedersehen! Auf der Wachstube, in Gesellschaft von Milizionären und eines betrunkenen alten Mannes. Getrennt hatten sie sich als Liebende, die einander so nah waren, und jetzt schämten sie sich, einander in die Augen zu sehen. „Ach, ein Bekannter von Ihnen, Sinaida Wassiljewna?“ Der Reviervorsteher atmete erleichtert auf. „Wem passiert so was nicht auch mal… Das Protokollchen braucht natürlich nicht unterschrieben zu werden.“ Seite an Seite verließen sie die Bahnhofswache. Andrej hatte sich vorgenommen, über nichts zu sprechen und einen streng offiziellen Ton beizubehalten. Nur schnell diese Tortur beenden! Aber sein Zug war schon weg, und der nächste fuhr erst am anderen Morgen; Andrej hatte keine Ahnung, wo er bis dahin
bleiben sollte. Auf dem Bahnhofsplatz blieb Andrej neben einem Prellstein stehen. „Nun… Also, leb wohl… Es ist alles so dumm gekommen.“ „Verzeih mir, Andrej.“ Sina stand mit gesenktem Kopf da. Ein leichter Wind bewegte ihre Locken. Von einer Pappel fiel eine klebrige Knospe herab und blieb wie ein Ohrring an ihrem Haar hängen. So stand sie da, seine Sina – eine ihm ferne, sehr ferne Sina. Und doch war sie ihm nah. Ja, so schnell ließ sich ein Gefühl wohl nicht aus dem Herzen reißen. Ist es nicht ebenso nach dem Tod eines lieben Verwandten, da der Verstand und das Herz den Verlust noch nicht fassen können? „Nichts zu verzeihen. Sei glücklich.“ Andrej sagte nicht das, was er empfand – er blieb schroff, kalt, zurückhaltend. „Nicht so, Andrej!… Wo wirst du bleiben? Der Zug geht doch erst morgen… Weißt du was? Gehen wir ins Fremdenheim, dort wirst du Unterkunft finden.“ „Mach dir keine Sorgen um mich. Ich werde selbst schon irgendwie… Jeder richtet sich ein, wie er kann.“ „Warum so, Andrej? Warum?“ Aus Sinas Stimme klang Schmerz, vielleicht auch Ärger. Jedenfalls nicht Gleichgültigkeit, deren er Sina verdächtigt hatte. „Gut, gehen wir“, antwortete er unbeteiligt, außerstande, die innere Reserviertheit zu überwinden, in der er sich wie in einem Kokon verkapselt hatte. Durch die gleiche Grünanlage mit den gestutzten Pappeln überquerten sie schweigend den Platz. Es war sommerlich heiß. Die Sonne bekam Andrej nicht. Seine Gedanken verwirrten sich, entglitten ihm. In ihm ging etwas vor. Am Vor-
mittag, auf dem Bahnsteig, hatte er sich nur gewünscht, so schnell wie möglich das unnütze Gefühl aus dem Herzen zu reißen, so schnell wie möglich von hier wegzukommen. Jetzt hatte das Wiedersehen mit Sina ihn in seinem Entschluß zwar nicht wankend gemacht, aber ihm war klargeworden, wie schwer es ihm fallen würde, ihn zu verwirklichen. Im Fremdenheim – Sina war gleich zur Heimleiterin gegangen – bekam Andrej ein Einzelzimmer zugewiesen. Wie er stand und ging, warf er sich aufs Bett. „Ich schaue noch mal nach dir“, sagte Sina. „Wie du willst.“ Andrej schüttelte den Kopf, bemüht, den Rausch, der ihm noch immer zu schaffen machte, loszuwerden. „Wie du willst.“ Sina ging. Andrej wollte sich wach halten, um nachzudenken. Aber der Kopf schwindelte ihm. Ihm war, als drehten sich die Wände, das Bett und die Zimmerdecke in einem wilden Reigen. Er wollte aufstehen, konnte es aber nicht. „Jeder… richtet sich ein, wie… er… kann“, murmelte er vor sich hin und sank in tiefen Schlaf. Andrej quälte ein schwerer Alptraum. Er mußte unbedingt die braune Pappelknospe von Sinas Haar abnehmen. Tat er es nicht, würde etwas Schreckliches geschehen. Dieses Unfaßliche, Beängstigende hing über ihm wie eine Gewitterwolke, benahm ihm den Atem. Aber er konnte nichts tun. Er warf sich hin und her, ihm wurde unerträglich heiß; er vermochte die Arme nicht zu heben, wie damals nach der Verwundung bei der letzten Höhe auf der Karelischen Landenge. Dann legte ihm jemand einen nassen Schneeklumpen auf die glühende Stirn, und er wachte auf.
Das Zimmer war von orangegelbem Licht überflutet. Über ihn gebeugt stand Sina und sah ihm ins Gesicht. Sie hatte eben die Kompresse gewechselt. Offenbar war sie schon lange hier. „Nun, wie geht es dir, Andrej?“ „Danke, einigermaßen“, sagte er mit dumpfer Stimme und sah ihr in die Augen. „Warum hast du nicht geschrieben? Ich hätte alles verstanden. Warum hast du mich betrogen?“ „Ich habe dich nicht betrogen. Ich wollte nur nicht schreiben.“ „Schweigen ist auch Betrug.“ „Nein, ich hatte es zu schwer. Du weißt nicht, was mich das alles gekostet hat.“ „Habe ich es etwa leicht? Im übrigen lohnt es nicht, darüber zu sprechen. Es hat jetzt keinen Zweck mehr.“ Er schloß den Kragen seiner Feldbluse und nahm den Leibriemen, der über dem Kopfende des Bettes hing. Wer hatte ihm den Riemen abgenommen? Und die Feldbluse aufgeknöpft? Andrej ging hinaus auf den Korridor, wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und kehrte zurück. Sina saß mit nachdenklicher Miene am Tisch und nestelte an den Fransen der Decke. „Du haßt mich, Andrej?“ „Nein! Man sagt: Die Zeit heilt alle Wunden… Ich glaube, ich habe es schon überstanden. So ist es auch am besten: gleich brechen, radikal!“ Er ging durch das kleine Zimmer und setzte sich wieder aufs Bett. „Warum bist du gekommen?“ Sina schlug die Augen zu ihm auf, Andrej schien es – mit
heimlicher Bestürzung, ja beinahe mit Angst. „Einfach so…“ Andrej kämpfte weiter hartnäckig mit sich. Hart klangen seine Worte: „Ich gestehe, ich hatte immer Zweifel, ob man sich auf dich verlassen und in schweren Stunden auf dich rechnen kann. Diese Zweifel plagten mich besonders an der Front. Es war schwer für mich, als deine Briefe ausblieben. Da hattest dafür kein Verständnis, du lebtest, wie es dir gefiel, als wäre nichts auf der Welt passiert. Dabei war Krieg. Verstehst du, Krieg!“ „Man muß aber auch verstehen, daß der Krieg keine Gewalt über die Gefühle hat.“ „Wir reden aneinander vorbei. Ich spreche vom Verantwortungsgefühl.“ „Du siehst alles zu einfach.“ „Ich weiß nicht.“ Sie schwiegen, jeder überzeugt, daß er recht habe. Andrej mußte unwillkürlich an die Krankenschwester Galina denken. Sie hätte ihn wahrscheinlich liebgewonnen. Vielleicht liebte sie ihn sogar schon. Aber womöglich idealisierte er wieder einmal einen Menschen – doch nein, solche Frauen lieben nur einmal, und dann für immer. Wenn doch Sina so wäre! Eines Tages – mit Andrej ging es bereits wieder bergauf –war er aus seinem Zimmer gegangen, um den Verband zu wechseln. Im Verbandraum saßen viele Verwundete, er wollte nicht warten und kehrte zurück. Da sah er Galina mitten im Zimmer auf einem Hocker stehen und einen Schirm aus Verbandgaze um die Birne binden. Als hätte er sie bei einem Verbrechen ertappt, so bestürzt war sie und lief in größter Verwirrung aus dem Zimmer. Andrej hatte auch schon früher
einige andere Dinge bemerkt: Mal erschien am Fenster eine frisch angesteckte Mullgardine, mal zierte sein Nachtschränkchen ein Deckchen, mal ein kleiner Strauß Schneeglöckchen – alles rührende Zeichen warmherziger Aufmerksamkeit. Seit jenem Tage war er ihr ausgewichen. Er wollte ihr keinen Anlaß geben, sich mit ihm zu beschäftigen. Vielleicht hätte er das nicht tun sollen? Es war die Antwort auf die eigenen Gedanken, als er sagte: „Wieviel bedeutet uns doch die Aufmerksamkeit eines Menschen, den wir lieben!“ Er wünschte sich auch Sina aufmerksam und feinfühlig. Jetzt war sie ihn besuchen gekommen, jetzt, wo alles zu Ende war! Ein verspätetes Zartgefühl! Und dennoch empfand er in der Tiefe des Herzens wenn auch nicht Dankbarkeit, so doch ein Gefühl befriedigter Eigenliebe – Genugtuung über die Kompresse, darüber, daß sie ihm den Kragen geöffnet hatte, daß sie gekommen war. Er war ihr also doch nicht ganz gleichgültig. Aber Sina wußte selber nicht, was sie hierher getrieben hatte. Gleich nach dem Dienst war sie zu ihm geeilt. Sie hatte sich eingeredet: Vielleicht geht es ihm schlecht, vielleicht braucht er Hilfe. Den wahren Grund wollte sie nicht wahrhaben: Ihre Eitelkeit war verletzt. Wie, Andrej war hier und wollte sie nicht sehen? Mit dem Egoismus der verwöhnten, schönen Frau suchte sie die Schuld nicht bei sich, sondern bei ihm. Er hätte sie von dem falschen, übereilten Schritt zurückhalten sollen. Er war doch erfahrener, älter… Und dann… Gewiß, gleichgültig war Andrej ihr nicht. Warum wollte er aber nicht einsehen, daß sie sich auch in einen anderen verlieben konnte! Das Herz läßt sich nicht befehlen. Sie hatte geglaubt, in
ihr entstehe ein neues, tiefes Gefühl. Nun, sie hatte sich geirrt… Sina wollte mit Andrej nicht streiten, noch weniger sich mit ihm überwerfen. Wenn es nun einmal so gekommen war, konnte man auch in Freundschaft auseinandergehen. Sie blickte in das hohlwangige, zerknitterte Gesicht Andrejs, auf die tiefe Falte zwischen den Brauen. Natürlich war es für ihn schwer, aber er hielt sich gut. Reue regte sich in ihr. Andrej wiederholte: „Ja, Aufmerksamkeit und Feinfühligkeit. Gerade das hat dir gefehlt.“ „Glaubst du?“ entgegnete Sina vorwurfsvoll und dachte: Warum ist er nur so kratzbürstig? „Du hast also nichts begriffen, Andrej. Ich erkenne nur Aufrichtigkeit an. Ohne Aufrichtigkeit kann es kein Zartgefühl geben. Die Männer sprechen gern von Zartgefühl: Zartgefühl und noch mal Zartgefühl, Fürsorge und Aufmerksamkeit…“ Sie sprach erregt, als suche sie eine Rechtfertigung. „Ihr versteht nur eins nicht – die Fürsorge ist oft gekünstelt. Das geplättete Hemd, die rechtzeitige Mahlzeit, das freundliche Lächeln und was weiß ich noch. Pfui, wie spießbürgerlich! Aber all das kann falsch, unaufrichtig sein. Nein, ich kann das nicht!“ „Nun, siehst du.“ Andrej verzog das Gesicht. „Es ist schwer zu sagen, was schlimmer ist, unaufrichtige Fürsorge oder aufrichtige Nachlässigkeit und Unachtsamkeit. So denke ich darüber.“ Nun konnte Sina sich doch nicht länger beherrschen und legte los. Andrej hörte zu und dachte bei sich: Wie verschieden wir beide sind! Dennoch zog Sina ihn unwiderstehlich an. Ach, warum hatte alles so kommen müssen!
Seltsamerweise hatte der Bruch ihre Aufrichtigkeit herausgefordert. So saßen sie da, von widersprechenden, wechselnden Gefühlen gepackt, einander entfremdet und voller Argwohn. Beide leicht verwundbar, bereitete ihnen ihr letztes Gespräch eine unbegreifliche, traurige Wonne. Ein Bündel flammendroter Sonnenstrahlen kroch über die Wand zur Decke und verschwand. Im Zimmer wurde es dämmrig. „Du wirfst mir Egoismus und mangelnde Feinfühligkeit vor, du sprichst von dem schweren Leben an der Front, von körperlichen Entbehrungen… Verzeih mir, aber ist das etwa kein Egoismus? Du nimmst an, physische Entbehrungen seien schwerer zu ertragen als seelische Leiden. Wie gern ich mit dir die Rolle tauschen würde!“ Sina war nahe daran, Andrej vorzuwerfen, er sei hartherzig. Ihre Stimme zitterte. Wenn er wüßte, was sie durchmachen mußte! Wieviel Bedenken und Zweifel sie gequält hatten, bevor sie sich zu diesem Schritt, zur Trennung von ihm entschloß! Sina tat sich selber leid, so leid, daß ihr Tränen in die Augen traten. Jetzt war auch sie allein. Aber davon würde sie ihm nichts sagen. Er würde es in seinem Egoismus ja doch nicht verstehen! „So ist das nicht, Sina. Ich habe viel über die menschlichen Beziehungen nachgedacht. Besonders im Lazarett.“ „Warst du verwundet?“ fragte sie bestürzt. „Ja. Du hast das nicht einmal gewußt.“ „Aber jetzt bist du gesund?“ „Wie du siehst.“ „Warum hast du mir denn nicht geschrieben?“ „Wozu? Ich will nicht den bettelnden Krüppel spielen, der seine verstümmelten Gliedmaßen entblößt, um Mitleid zu er-
regen.“ „Da siehst du es! Und du selbst wirfst mir Mangel an Feinfühligkeit vor!“ „Ich verstehe nicht.“ Er verstand wirklich nicht. Es fiel ihm schwer, ihrem Gedankengang zu folgen. Das Gespräch hatte nichts geklärt. „Darum dreht es sich ja. Du verstehst vieles nicht.“ Sina unterdrückte einen Seufzer. „Nun genug, ich muß gehen.“ Dabei hatte sie ihm gar nicht die Hauptsache gesagt, derentwegen sie eigentlich gekommen war. Andrej hatte sie nach nichts gefragt. War das etwa keine Äußerung von Gefühlshärte, von Roheit? Andrej hüllte sich in Schweigen. Die Hände an die Schläfen gepreßt, saß er unbeweglich da. Sina schien es sogar, daß er ihren letzten Satz gar nicht gehört hatte. „Nun denn, ich gehe.“ Andrej hielt sie nicht zurück, aber er wünschte auch nicht, daß sie ginge. „Das ist also alles?“ „Was denn noch? In ein paar Tagen fahre ich fort von hier.“ Das war es, was sie ihm vor allem hatte sagen wollen. „Wohin, wenn ich fragen darf?“ „Nach Moskau. Ich kann hier nicht länger bleiben.“ „Wie soll ich das…“ Andrej sprach nicht zu Ende. Sina verstand die Frage. „Dich scheint das zwar nicht zu interessieren. Ich bin fortgegangen… Genauer gesagt, ich habe beschlossen, ihn zu verlassen.“ Andrej nahm die Hände von den Schläfen. Er wollte ihr Gesicht sehen. Doch er konnte es im Dämmerlicht nicht erken-
nen. Die ganze Zeit über war ihm gewesen, als sei Sina, obwohl sie neben ihm war, weit von ihm entfernt. Jetzt war sie ihm gleichsam näher gerückt. „Aber so sage doch endlich, was passiert ist! Weiß er davon?“ „Wozu muß er es wissen? Ich verfüge frei über mich.“ „Also wieder Betrug.“ „Betrug? Vor allem darf man sich nicht selbst betrügen. Ich lebe meinen Gefühlen.“ „Immerhin sind Gefühle keine Handschuhe.“ „Und auch keine Fesseln. Verurteilst du etwa Anna Karenina?“ „Nein, keinesfalls. Wenn nur alle so lieben könnten wie sie! Sie ist ein Beispiel für tiefe und beständige Liebe. Wenn wir übrigens vom Ideal sprechen, dann ziehe ich Nekrassows Frauengestalten vor, die Großtaten an Liebe, Pflicht und Treue vollbringen.“ „Ich weiß nicht. Mir zum Beispiel fällt es schwer, ja ist es unerträglich, in diesem Krähwinkel zu leben. Ohne Moskau, ohne Freunde fühle ich mich elend. Alles ist hier so langweilig, ein Tag gleicht dem andern. Man versauert förmlich. Nein, ich bin für solche Großtaten nicht geschaffen. Das Leben muß schön sein… Begreifst du wenigstens das? Man darf die Welt nicht in eine Klosterzelle verwandeln. Den fünften Monat stecke ich hier in der Sanitätsstelle und kenne nur noch Umschläge, Wärmflaschen und Klistiere… Hat es sich gelohnt, dafür fünf Jahre zu studieren? Weder der Verstand noch das Herz haben was davon. Langweilig ist das! Schrecklich langweilig!“ Sina sprach alles aus, was sich in ihr angesammelt hatte. Sie
war überzeugt, daß sie recht hatte. Und wenn er das nicht begriff, war er einfach beschränkt. „Aber jemand muß sich doch damit beschäftigen.“ „Von mir aus wer will. Aber nicht ich. Ich kann es nicht – basta!“ „Und so willst du deine Arbeit Knall und Fall aufgeben?“ „Arbeit! Dazu muß man berufen sein. Du sprachst vom Krieg, von physischer Anspannung, von Gefahr. Versuch es mal, wenigstens einen Monat hier auszuhalten! Vom frühen Morgen an im Dienst, ringsum nur Schwestern, und dann zu Hause, wo man auch allein ist. Wassili schläft oder sieht sich seine Steinchen und Proben, seine geologischen Schnitte an. Bald ist er auf einer Expedition und sucht Erdöl, bald hat er eine Sitzung und redet wieder von seinem tauben Gestein. Und nicht ein einziger lebendiger Mensch ringsum. Da ist Gefahr schon besser als Langeweile. Ich trete jetzt die Aspirantur an. Da werde ich wenigstens in Moskau sein.“ Zum erstenmal hatte Sina den Namen ihres Mannes genannt, der in Wirklichkeit wohl gar nicht mehr ihr Mann war. Oh, wie die Eifersucht ihn quälte! Was ging es ihn eigentlich an, ob er es noch war oder nicht? „Ist er jetzt auch weg?“ „Ja. Bereits einen Monat.“ „Und darum hast du wohl den Bruder erwartet?“ „Du weißt doch, ich habe keinen Bruder.“ Das stimmte. Aber von welchem Bruder hatte die Wirtin dann gesprochen? Erst jetzt fragte er sich, wer damit gemeint sein konnte. „Ich verstehe noch immer nicht. Gar nichts. Wen hast du eigentlich erwartet? Sag doch!“
Andrej hörte verhaltenes Schluchzen. Sina hatte den Kopf in die Hände vergraben und weinte. „Sprich!“ Er streckte die Hand im Dunklen aus und legte sie ihr aufs Knie. „Sprich doch, sprich!“ Sina kam ihm vor wie ein hilfloses kleines Mädchen. „Hörst du, sag’s endlich!“ „Nein, nein! Ich wußte, daß du kommen würdest… Verzeih mir! Ich muß gehen.“ Sie stand hastig auf. Andrej haschte nach ihrer Hand. Sina stand willenlos da, den Kopf gesenkt. Er zog sie an sich. Und alles, wovon sie gesprochen, worüber sie gestritten hatten, versank plötzlich, hüllte sich in Nebel. Er liebte sie doch, diese Frau, auf die er gewartet hatte und die er schon für sich verloren glaubte… Am nächsten Tag reisten sie zusammen fort. Sina war schüchtern, besorgt und zärtlich. Doch tief im Innern fühlte Andrej, daß er etwas nicht richtig gemacht hatte. Und dennoch war er glücklich. Der Zug hielt zehn Minuten auf der Station. Als sie im Abteil Platz genommen hatten, erinnerte sich Andrej, daß er eine Zeitung kaufen wollte. Er lief in die Bahnhofshalle und drängte sich zum Kiosk durch. Der Zug fuhr bereits an, als er wieder auf dem Bahnsteig erschien. Sina sah voller Unruhe aus dem Fenster. Er sprang aufs Trittbrett und verzog schmerzhaft das Gesicht – die verwundete Schulter hatte sich wieder bemerkbar gemacht. Im Abteil entfaltete er die Zeitung. Auf der ersten Seite stand die Meldung, daß deutsche Truppen die belgische Grenze überschritten hatten. Die militärische Laufbahn von Admiral Wilhelm Canaris unterschied sich wesentlich von der anderer Marineoffiziere.
Als junger Leutnant auf dem Kreuzer „Dresden“ hätte sich Canaris eine solche Karriere in der Marine nicht träumen lassen. Der hagere unauffällige, zierliche Offizier mit dem Spitznamen „kleiner Grieche“ flößte niemand Achtung ein. Das verdroß und erbitterte ihn. Er wurde verschlossen, sein Gesicht finster, und in seinen Augen glomm ein böses Feuer. Die Ereignisse des ersten Weltkrieges änderten den Schicksalskurs des Pechvogels. Nach einem Seegefecht irgendwo am Ende der Welt rettete sich der Kreuzer „Dresden“ durch Flucht. Britische Kriegsschiffe nahmen seine Verfolgung auf. Unweit der Küste Chiles wurde die Besatzung entwaffnet und interniert. Einige Monate lebten die Seeleute auf der einsamen Quiriquina-Insel. Der „kleine Grieche“ erwies sich trotz seines unscheinbaren Äußeren als ein Mensch von eisernem, hartem Willen. In seinem schwächlichen Körper schlummerten ungewöhnliche Kräfte. Canaris floh von der Insel aufs Festland, und es gelang ihm, über die unbesiedelten Berge zum Hafen von Valparaiso zu gelangen. In einer Spelunke versorgte man ihn mit einem Paß, der auf den chilenischen Namen Reed Rosas lautete. Der Vermittler, ein dunkles Subjekt, verlangte für den Paß außer Geld eine Bescheinigung – sozusagen eine belanglose Verpflichtung. Er unterschrieb, ohne zu ahnen, welche Rolle dieses Papierchen in seinem weiteren Leben spielen würde. Für ihn galt der Grundsatz: Der Zweck heiligt die Mittel. Er wollte sich um jeden Preis bald in Berlin sehen. Als Reed Rosas machte er die Überfahrt nach Europa. In Plymouth ging der Dampfer vor Anker – man reinigte die Kessel. Reed Rosas zählte bereits die Tage bis zu dem Augen-
blick, da er wieder Wilhelm Canaris heißen würde. Das geschah schneller, als er dachte. Vor dem Auslaufen aus dem Hafen rief ihn ein Beamter des Intelligence Service zu sich. Er blätterte in seinem Paß und verzog spöttisch den Mund. „Hören Sie zu, Wilhelm Canaris“, sagte der Beamte, „machen Sie uns nichts vor. Sie sind ein deutscher Spion. Wir stehen im Krieg. Ich kann Ihnen nur den Strick versprechen oder…“ Canaris zog es vor zu unterschreiben, daß er bereit sei, für den britischen Geheimdienst zu arbeiten. Nur eins wollte ihm nicht in den Kopf: Woher kannten die Engländer seinen Namen: Sollte jener Chilene aus Valparaiso, der mit falschen Pässen handelte, ihn verraten haben? Canaris fuhr mit dem Dampfer nach Rotterdam weiter und kehrte über die holländische Grenze nach Deutschland zurück. Hier wurde man auf den Marineleutnant aufmerksam. Es gehörte schon Talent dazu, sich im Krieg von Südamerika nach Deutschland durchzuschlagen. Der Senior des deutschen Geheimdienstes, Wilhelm Nicolai, nahm sich seiner an. Nun tauchte Canaris bald in Italien, bald in Spanien auf. Als wandernder Handwerksbursche gelangte er nach Portugal. Dort befaßte er sich mit der Versorgung der deutschen Unterseeboote an der Atlantikküste. Er freundete sich mit Mata Hari, der Königin der Spione, an und machte sich ihre Dienste zunutze. Die Tänzerin Mata Hari arbeitete gleichzeitig für die Deutschen und Engländer, für die Franzosen und Italiener. Gegen Kriegsende überquerte Canaris im Unterseeboot den Ozean und durchstreifte Amerika, dabei gab er sich als Öster-
reicher aus, der mit Geigen und Mandolinen handelte. Indessen verwahrte er in den Futteralen Sprengstoff und bereitete Diversionsakte vor. Er wurde gefaßt. Der Österreicher Meyerbeer entpuppte sich wieder als Canaris, und erneut gab er seine Unterschrift, diesmal für den amerikanischen Spionagedienst. Der Chilene hatte seine Verpflichtung sowohl nach London als auch nach New York verkauft. Mata Hari würde von den Franzosen festgenommen. Canaris konnte ihr nicht helfen. Sie wurde hingerichtet. Die Erschießung Mata Haris wirkte alarmierend. Auch Canaris war ein „Doppelgänger“. Als er sich im Auftrag des deutschen Geheimdienstes nach Rom begab, hatte er Pech: Er ging hoch und kam ins Gefängnis. Die Bewachung war unbestechlich, die Zellenwand dick, ein Ausbrechen schien unmöglich. Aber Canaris schaffte das Unmögliche. Er spielte den reumütigen Katholiken und bat um den Besuch eines Geistlichen aus dem neben dem Gefängnis gelegenen Kloster. Der still in sich gekehrte Gefangene machte sich den Priester geneigt. In seinen Augen standen Tränen der Reue. Jedesmal, wenn der Geistliche von ihm ging, ließ sich der Häftling in der Zelle auf die Pritsche fallen, bedeckte das Gesicht mit den Händen und verharrte, den Kopf ins Kissen vergraben, lange unbeweglich. Die Wärter gewöhnten sich an die Besuche des Geistlichen und an das Gebaren des reuigen Spions. Doch Canaris vergeudete die Zeit nicht nutzlos. Bei den langen Gesprächen über die Rettung seiner Seele studierte er den Seelenhirten, seinen Gang, seine Bewegungen und Gesten. Wenn er wieder allein war, ahmte er dessen Stimme nach. Eines Abends war der Geistliche wieder in der Zelle. Er saß mit dem Rücken
zur Tür auf dem Schemel, während der Gefangene vor ihm niederkniete. Sie sprachen ganz friedlich miteinander, als der Häftling plötzlich die Arme hob und dem Seelsorger an die Kehle fuhr. Kurz darauf öffnete der Wärter auf das verabredete Klopfen hin die Zellentür und ließ den Geistlichen heraus. Dieser segnete, wie gewöhnlich, die schmiedeeiserne Tür, verneigte sich und ging langsamen Schrittes zur Treppe. Beim Abschließen der Zelle sah der Wärter den Häftling auf der Pritsche liegen, das Gesicht in das harte Gefängniskissen vergraben. Erst am Abend entdeckte man, daß der Geistliche erwürgt war. Wilhelm Canaris aber war einige Tage später bereits in Deutschland. Der erste Weltkrieg endete mit der Niederlage Deutschlands. Canaris wurde Adjutant des Reichswehrministers Noske. Jetzt traten die Amerikaner auf den Plan und bedienten sich ihres Agenten Canaris, um die deutsche Reaktion bei der Unterdrückung der revolutionären Nachkriegsbewegung zu unterstützen. Deutschland, dessen Arbeiterklasse sich gegen die sozialen Mißstände erhoben hatte, wurde unter der Einwirkung des Terrors und des amerikanischen Goldes „befriedet“. Und im Privatleben des von Ehrgeiz besessenen Seeoffiziers schien sich nun alles zum Besten zu wenden. Wilhelm Canaris hatte endlich seine Braut heimführen können. Sie hatten in Zehlendorf eine Villa bezogen. Würde ihn nur nicht diese ewige, grundlose Eifersucht quälen! In Gegenwart seiner Frau empfand Canaris nun alle seine Unzulänglichkeiten, er begann den Spiegel zu hassen, in dem er sich neben der eleganten,
wie von Künstlerhand gemeißelten Gestalt der schönen Frau erblickte. Das Heranrücken des Faschismus begrüßte Canaris mit unverhohlener Freude. In Kiel leitete er den Marinegeheimdienst. Er schickte Spione in alle Häfen der Welt und trug sich mit der Idee einer totalen Spionage, die den gesamten Staatsapparat durchdringen sollte. Seine Leute verschafften sich Eingang in Arbeitervereine und Fabriken, vereitelten Streiks und warben Streikbrecher an. Auf dunklen, unbekannten Wegen schuf er den „Canarisfonds“ für Propagandazwekke des Faschismus, und er wurde Vertrauter Adolf Hitlers. Der Reichstagsbrand und der faschistische „Umbruch“ hoben Canaris in die Höhe. Alsbald machte er, über mehrere militärische Dienstgrade hinweg, den Sprung zum Konteradmiral. Mit dem nächstfolgenden Rang des Vizeadmirals erhielt Canaris die Ernennung zum Chef der deutschen Abwehr. Jetzt verfügte er über eine gewaltige geheime Macht. In seinen Händen vereinigten sich alle Fäden der militärischen Spionage und Spionageabwehr im Lande und jenseits der Grenzen. Er besaß das Vertrauen Hitlers. Canaris bestach die Politiker Europas oder warb sie an. Der polnische Außenminister Beck, der französische Ministerpräsident Laval, der norwegische Major Quisling und viele andere standen in der Geheimliste der angeworbenen Personen. Aber auch Wilhelm Canaris seinerseits wurde weiterhin in ebensolchen Geheimlisten der ausländischen Agenten des englischen Intelligence Service und des amerikanischen CIC geführt. Doch die Zeiten hatten sich geändert. Der allgewaltige Abwehrchef des Dritten Reichs betrachtete sich nicht als Agenten, sondern als Gesinnungsgenossen der reaktionären Politiker der West-
mächte, er teilte ihren Haß gegen die Sowjetunion, stachelte Hitler auf und hetzte ihn gegen den Osten. Hierfür boten sich große Möglichkeiten. Vor allem die Berichte des militärischen Geheimdienstes. Er selbst brachte in ihnen gelegentlich Korrekturen an. Allenfalls konnte man sich auf die Ungenauigkeit der eingegangenen Nachrichten berufen. Natürlich hatte der „kleine Grieche“ auch seine Feinde und Neider. Für die gefährlichsten unter ihnen hielt er Heydrich und Himmler. Er lebte in einer Atmosphäre der Intrigen, stellte Fallen, deckte die Pläne seiner Gegner auf. Und alles das mußte er tun, ohne auch nur mit einem Gesichtsmuskel seine Gefühle und Stimmungen zu verraten! Mit den Jahren hatte sich der „kleine Grieche“ die Manieren eines zerstreuten, bedächtigen Professors und die sanfte Stimme eines Predigers zugelegt. Nur die durchdringenden, wie bei einem Schwindsüchtigen trocken glühenden Augen verrieten die verborgene Energie und Grausamkeit. Nach einer mondänen Gesellschaft konnte er ins Untersuchungsgefängnis fahren, in die Zelle eines Häftlings gehen, ihn unter Mißhandlungen verhören, mit der Reitpeitsche schlagen, bis aufs Blut foltern und, nachdem er sich voller Ekel die Blutspritzer von der Hand gewischt hatte, seelenruhig die weiße Blume im Knopfloch zurechtrücken, mit der er in der Gesellschaft erschienen war. Canaris duldete in seiner Umgebung keine Spiegel. Er verbot es auch, ihn aufzunehmen. Noch weniger duldete er die Veröffentlichung von Bildern seiner Person in Zeitungen und Illustrierten. Die Vorsicht und die Erfahrung des Abwehrmannes geboten es ihm, im Schatten zu bleiben. In den allgemeinen Nachschlagewerken wird man schwerlich den Na-
men des Admirals Canaris, des Abwehrchefs im Dritten Reich, entdecken können. Seine Beziehungen zum Westen wurden immer verwickelter. Bald wurden aus London, bald aus Washington Informationen verlangt, doch er wahrte immer einen gewissen Grad von Unabhängigkeit. Er gab nur so viel, wie er für nötig hielt. In die Opposition der Militärs hineingezogen, wurde er noch vorsichtiger. Er balancierte gleichsam auf des Messers Schneide – wie ein Seiltänzer über dem Abgrund –, sorgfältig jeden Schritt, jede Bewegung abwägend. Der ihm zu Neujahr verliehene Admiralsrang hätte eigentlich ein gutes Vorzeichen sein können. Hitler schöpfte keinen Verdacht, er vertraute Canaris und schätzte seine Dienste, doch die jüngsten Ereignisse hatten diesen aufmerken lassen. Der Chef der Abwehr hatte beinahe als letzter von der bevorstehenden Offensive im Westen erfahren. Wie kam das? Er wußte natürlich von einer Truppenkonzentration, kannte die Standortverteilung und hatte persönlich Hitler Vortrag über das Kräfteverhältnis im Westen gehalten. Es stand zuungunsten Deutschlands: hundertsechsunddreißig englische und französische Divisionen gegen hundertsechsundzwanzig deutsche. Dieses Mal nannte der Abwehrchef genaue Zahlen. Hitler würde die Offensive doch nicht beginnen, ohne mit den Landstreitkräften das Übergewicht zu haben! Die Truppenverschiebung hielt Canaris für einen neuen Bluff, für ein diplomatisches Spiel, für ein Druckmittel, um im Westen Frieden zu schließen. Und nun der Befehl: im Morgengrauen Beginn der Offensive. Canaris war lange nicht in einer so schwierigen Lage gewesen. Er mußte wenigstens im letzten Moment die Engländer
warnen. Sollten sie nur wissen, daß er sich nach wie vor zum Westen hin orientierte und Hitlers Abenteuergelüste nicht teilte! Aber wie sollte er das machen? Selbst der „komische Krieg“ hatte die direkten Verbindungen zerstört, man mußte auf Umwegen vorgehen. Und das erforderte Zeit. Dabei blieb bis zum Beginn der Invasion nicht einmal ein Tag. Der Admiral sah auf die Uhr: Ja, die Beratung bei Hitler war um sechs zu Ende gegangen, jetzt war es Viertel sieben. Aus der Reichskanzlei, wo die Besprechung stattgefunden hatte, fuhr Canaris zur Abwehr. Ohne Eile, gemessenen Schrittes, ging er in sein Arbeitszimmer und ließ sich mit Gisevius verbinden. Sollte der nach einer Möglichkeit suchen. Er erreichte ihn nicht mehr. Gisevius hatte seine Dienststelle bereits verlassen, war aber auch noch nicht zu Hause. Ausgerechnet in dem Augenblick mußte er verschwinden, wo er so dringend gebraucht wurde! Canaris bat Oster, seinen Vertreter, zu sich. Oster gehörte ebenfalls zur Militäropposition. Er hatte offenbar Beziehungen zu dem holländischen Militärattache. Oster kam. Canaris bat ihn, die Tür zu schließen. Er gab kurz den Inhalt des Befehls wieder, wie er ihn im Gedächtnis hatte: „Heeresgruppe B unter dem Generalobersten von Bock, achtundzwanzig Divisionen stark, bildet die rechte Flanke der Angriffstruppen. Diese Gruppe hat die Aufgabe, Belgien und Holland zu besetzen und nach Frankreich durchzubrechen. Heeresgruppe A unter dem Generalobersten von Rundstedt, vierundvierzig Divisionen stark, steht an der Front von Aachen bis zur Mosel einsatzbereit und hat die Aufgabe, den Hauptschlag zu führen. Heeresgruppe C unter dem Generalobersten Ritter von Leeb,
siebzehn Divisionen stark, nimmt Aufstellung von der Mosel bis zur Schweizer Grenze. Sie hat untergeordnete Bedeutung und schirmt die linke Flanke der angreifenden Truppen ab. Die übrigen Divisionen bilden die Reserve des Oberkommandos des Heeres. – Wie denken Sie?“ Canaris verkehrte mit Oster auf vertrautem Fuß. „Scheint es Ihnen nicht richtiger, daß man diesen Unfug verhüten muß?“ „Ja, wir dürfen es nicht mit dem Westen zum Kampf kommen lassen. Ich ziehe Aktionen im Osten vor.“ Oster nickte zu der Losung hin, die in einem schmalen Rahmen über dem Schreibtisch des Abwehrchefs hing: „Infiltrieren, zersetzen, demoralisieren!“ – „Aber ist es nicht schon zu spät, Herr Admiral? Was können wir tun?“ „Deswegen habe ich Sie hergebeten. Denken Sie nach. Im Morgengrauen beginnt die Offensive.“ „Gut, ich werde sehen, was sich machen läßt. Wir wollen keine Zeit verlieren. Ich muß mich mit Oberstleutnant Sass treffen.“ Oster rief den holländischen Militärattache, Oberstleutnant Sass, von einer Telefonzelle aus an. Sie verabredeten, sich in einem Blumengeschäft Unter den Linden zu treffen. Eine Stunde nach der Verkündung des Angriffsbefehls durch Hitler erfuhr es der holländische Agent. Er konnte nicht mehr daran denken, die Information auf üblichen Wegen, beispielsweise mit der Diplomatenpost, weiterzuleiten. Die Zeit drängte. Er durfte keine Minute verlieren. Oberstleutnant Sass verlangte über das Fernamt Rotterdam und ließ sich mit seiner Privatwohnung verbinden. Nach einer belanglosen Einleitung sagte der Oberstleutnant: „Ich bin um meine Frau sehr besorgt. Der Chirurg hat sich
entschlossen, die Operation morgen in aller Frühe vorzunehmen… Ja, Knochenhautentzündung. Der Zahn muß gezogen werden… Ja, ja, am frühen Morgen.“ Der Militärattache hängte den Hörer auf. Nach einer Stunde rief man ihn aus Rotterdam an. Die bevorstehende Operation erregte die Besorgnis der Verwandten. „Sagen Sie, sind Sie überzeugt, daß die Operation notwendig ist?“ „Ja, leider, es ist so.“ Der Oberstleutnant erkannte an der Stimme seinen Chef – den Leiter des Geheimdienstes. „Hoffentlich haben Sie mehrere Ärzte konsultiert. Hat ein Konsilium stattgefunden?“ „Ich wiederhole: Das Konsilium hat eben jene Diagnose bestätigt. Die Operation ist nicht zu umgehen. Meine Frau ist bereits in der Klinik. Morgen früh wird man sie operieren. Ich bin wirklich sehr aufgeregt.“ Oberstleutnant Sass hatte zum erstenmal eine so dürftige Tarnung angewendet. Natürlich war bereits das erste Gespräch auf Tonband aufgenommen und Hitler darüber informiert worden. Aber es galt jetzt, keine Zeit zu verlieren. Sass fügte abschließend hinzu: „Teilen Sie es Nelly mit, sie möge Gott um Gesundheit für die Schwester bitten. Man wird den Zahn in aller Frühe ziehen.“ Nelly – das bedeutete London. Mit Ach und Krach ließ sich das noch Chiffre nennen. Was für eine medizinische Operation konnte das in aller Herrgottsfrühe sein? Einfach absurd! Doch das spielte jetzt keine Rolle mehr… Der Militärattache ließ seine Mitarbeiter kommen. Er mußte die nötigen Vorkehrungen treffen. Die Chiffrierschlüssel, die
geheimen Rapporte und Dokumente – alles, was in den Safes verwahrt worden war, flog in den brennenden Kamin. Am 10. Mai 1940 drangen deutsche Truppen unter Verletzung der Neutralität und der Unantastbarkeit der Grenzen ohne Kriegserklärung in die Gebiete Belgiens, Hollands und Luxemburgs ein. Im Morgengrauen dieses Tages fand der „komische Krieg“, der „Sitzkrieg“, der acht Monate lang im Westen geführt worden war, ein Ende. Wenige Tage später erreichten die Panzerkolonnen des Generals von Kleist die französische Grenze. Der Alliierte Oberste Kriegsrat hatte theoretisch die Möglichkeit einer deutschen Offensive ins Auge gefaßt. Aber die Generale, unter ihnen auch Gamelin, waren überzeugt, der Gegner werde, wenn er wirklich angreife, den Schlieffenplan, diese Säule der deutschen Strategie, wiederholen und den Schlag mit dem starken rechten Flügel seiner Front führen. Den Schlieffenplan hatten die Deutschen schon im ersten Weltkrieg angewandt. General Gamelin, der Apostel der Gegenangriffe und des Stellungskrieges, erwartete mit Ruhe und Selbstsicherheit eine mögliche deutsche Offensive. Die britisch-französischen Truppen sollten dem Feind auf belgischem Boden entgegentreten, ihn im Vorfeld der befestigten Verteidigungslinie aufreiben und vernichten. Die französische Kriegsdoktrin, wie sie sich nach dem ersten Weltkrieg herausgebildet hatte, beruhte auf der These, daß die modernen Verteidigungsmittel weit wirksamer seien als die Angriffsmittel. Als klassisches Beispiel, das die Richtigkeit dieser Doktrin bestätigte, kannte der Kampf um Verdun
dienen. Die letzten Jahre hatten noch ein neues und überzeugendes Argument zugunsten der herrschenden Doktrin beigesteuert. Von der Schweizer Grenze bis Luxemburg, in einer Ausdehnung von siebenhundertfünfzig Kilometern, war die mächtige Maginot-Verteidigungslinie entstanden, ein Wunder moderner Fortifikationskunst. Sie stellte alles andere, selbst die Festungsanlagen von Verdun, in den Schatten. General Gamelin machte daraus kein Geheimnis. Die deutschen Generale sollten das ruhig wissen! Die „Maginotpsychologie“, die in den Köpfen der französischen Generale vorherrschte, war ihnen von den Diplomaten des Westens suggeriert worden. Die Politiker der westeuropäischen Staaten suchten einen Ausweg in einem Kompromiß mit dem nazistischen Deutschland, bemüht, Deutschland gegen den Osten, gegen die Sowjetunion, zu lenken. Gestützt auf die Maginotlinie, rechneten die Militärs ebenso wie die Diplomaten nicht ernsthaft mit einem deutschen Angriff. Ihre Gedanken bewegten sich in einer anderen Richtung – im Laufe des Winters wurde auf den Sitzungen des Obersten Kriegsrates, der die Bemühungen des englischen und des französischen Stabes vereinigte, unablässig ein und dieselbe Frage behandelt: die „Finnlandhilfe“. Militärische und diplomatische Intrigen betörten die Menschen und verdrehten ihnen die Köpfe. Der 10. Mai 1940 war die Quittung dafür. Zum Unterschied vom Schlieffenplan setzten die Deutschen, entgegen allen Vermutungen und Berechnungen, den Hauptstoß bedeutend südlicher an, auf der Linie Maastricht-Sedan über Namur, unter Ausnutzung der Maasniederung. Die Stoß-
trupps, die holländische Uniformen trugen, bemächtigten sich der Maasbrücken und des Albertkanals im Bezirk Maastricht. Die Truppen des französischen Generals Billote verließen planmäßig die Verteidigungsanlagen und rückten auf den belgischen Straßen gegen den Feind vor. Während man ihnen in den Dörfern Blumen überreichte, brachen sieben Panzerdivisionen des Generals von Kleist bereits durch die mit ihren Wäldern und Bergen als uneinnehmbar geltenden Ardennen bis nach Sedan durch. Das Tor nach Frankreich war damit geöffnet. Die Schlacht um Frankreich begann. Ciano konnte nicht begreifen, aus welchem Anlaß von Makkensen ein Essen in der deutschen Botschaft gab und warum er so inständig dazu eingeladen hatte. Der Botschafter war bemüht, die Gäste recht lange festzuhalten, so daß sie erst nach Mitternacht aufbrechen konnten. Die Deutschen brachten Trinksprüche aus, erhoben ein ums andere mal die Gläser und führten nichtssagende Gespräche. Es herrschte eine bedrückende Langeweile. Edda unterdrückte heimlich ein Gähnen. In der betonten Lebhaftigkeit der deutschen Diplomaten lag etwas Künstliches. Ciano spürte das sofort. Beim Abschied führte von Mackensen Ciano beiseite. Den Füllhalter und ein Notizbuch in der Hand, sagte er: „Gestatten Sie, daß ich mir Ihren Hausanschluß notiere? Möglicherweise muß ich Sie noch heute Nacht stören.“ Nanu! Was wollte ihm von Mackensen mitteilen? Der plumpe Schachzug fand in derselben Nacht seine Erklärung. Um vier Uhr läutete bei Ciano das Telefon. Der deutsche Botschafter bat dringend um eine sofortige Zusammenkunft mit dem Duce. Es seien wichtige Ereignisse einge-
treten. Ciano weckte Mussolini. Der Schwiegervater brummte verärgert: „Schon wieder holen sie einen aus dem Bett“, erklärte sich aber einverstanden, von Mackensen zu empfangen. Ciano zog sich eilig an. Gegen fünf war Ciano bei Mussolini. Von Mackensen hatte darum gebeten, Punkt fünf Uhr empfangen zu werden. Er betrat feierlich das Zimmer und überreichte eine Botschaft Hitlers. Mündlich übermittelte er, daß die deutschen Truppen vor fünfzehn Minuten die Grenze im Westen überschritten hätten. „Der Führer hofft auch diesmal auf volles gegenseitiges Verständnis.“ Nachdem der deutsche Botschafter den Palazzo Venezia verlassen hatte, erwogen der Duce und sein Außenminister die neue Lage. Man beschloß abzuwarten. Die italienische Politik würde sich danach richten, wie die Dinge gediehen. Wenn Hitler mit seiner Offensive steckenblieb, würde Italien weiter Neutralität wahren. Erfolg an der Westfront dagegen machte den Eintritt in den Krieg notwendig, sonst könnte Italien das Nachsehen haben. Hitler würde sich auf keinen Fall dazu verstehen, die Beute zu teilen. „Ich sehe es voraus“, sagte Ciano. „Wenn Hitler Erfolg hat, wird er es wie ein Glücksspieler machen: Er sprengt die Bank und steht vom Tisch auf. Wir müssen uns zum Krieg an der Seite Deutschlands vorbereiten.“ In den folgenden Tagen war das Haupt der italienischen Regierung höchst verstimmt. Die Wehrmachtsberichte brachten unerfreuliche Nachrichten. Am fünften Tag waren die deut-
schen Truppen nach Frankreich durchgebrochen. Holland kapitulierte. Zwei Wochen später folgte ihm Belgien. Die Armeen von Rundstedts strebten der Küste zu. Die Deutschen nahmen Saint-Quentin – von dort war es ein Katzensprung bis Paris. Mussolini war mißgelaunt, er beneidete Hitler. Dieser Emporkömmling hatte wahrhaft unverschämtes Glück! Ende Mai schickte Hitler wieder einen Brief. Er zählte seine Siege auf. Mussolini wurde nervös, immer häufiger sagte er: „Wir könnten das Nachsehen haben. Wir müssen Opfer bringen. Koste es, was es wolle.“ Aber die Italiener teilten den Standpunkt des Duce nicht. General Graziani berichtete auf einer Beratung, die Männer entzögen sich der Einberufung, in den Aushebungsstellen sei ein Massenausbleiben von Rekruten zu beobachten; der Generalstab habe Schwierigkeiten mit der Aufstellung der Divisionen, in einzelnen Divisionen fehlten zu neunzig Prozent Waffen und Ausrüstungsgegenstände. Er, Graziani, halte die Lage für aussichtslos. Der Vortrag des Oberbefehlshabers brachte Mussolini in Wallung. „Was wollen die Italiener? Ich werde sie mit Fußtritten in den Krieg treiben! Ich zwinge sie, Krieg zu führen! Wir müssen Opfer bringen. Ich selbst werde mich an die Spitze des Heeres stellen.“ Nach der Beratung sagte er zu Ciano: „Was soll ich mit diesem Volk machen? Wo ist der einstige Ruhm des Römischen Reiches! Mir fehlt es an Material. Selbst Michelangelo brauchte Marmor, um Statuen zu schaffen. Wenn er nur Ton gehabt hätte, wäre er nichts anderes als ein Töpfer gewesen. Aber ich will nicht Ton kneten. Ich brauche Soldaten.“
Durch die nervöse Spannung verschlimmerte sich sein Leiden. Mussolini ignorierte es. Er hatte jetzt an anderes zu denken als an sein Geschwür. Als die Ereignisse im vollen Gange waren, schrieb er Hitler, er sei bereit, an seiner Seite zu kämpfen. 8 Am Vorabend des unheilvollen Tages, an dem alles – das Leben und die feststehenden Begriffe – auf den Kopf gestellt wurde, war das Ehepaar Benoit erst spät aus dem Variete heimgekehrt. Jules schlief bis zehn Uhr durch – dem Mädchen hatte er aufgetragen, das Telefon abzuschalten. Liliane war inzwischen aufgestanden, um das Kind zu stillen, hatte sich wieder hingelegt und lag mit offenen Augen still und reglos neben ihrem Mann. Durch die Geburt des Kindes hatte sich in den Beziehungen der Ehegatten äußerlich wenig geändert. Liliane beschränkte sich noch mehr auf den Kreis der häuslichen Pflichten. Sie mischte sich wie zuvor nicht in die Angelegenheiten ihres Mannes ein und teilte ihre Fürsorge nun zwischen der kleinen Helene und Jules. Mittlerweile wurde es Zeit aufzustehen. Liliane erhob sich vorsichtig, doch das Bett knarrte, und Jules wachte auf. „Hab ich dich geweckt? Verzeih…“ „Macht nichts, ich hab schon ausgeschlafen.“ Jules war gut gelaunt. Er erinnerte sich an den vorangegangenen Abend. Im Variete war es ihm gelungen, mit der Gräfin de Portes ein paar Worte zu wechseln. Offenbar trug die Geliebte des Ministerpräsidenten, die monatelang mit ihm geschmollt hatte, ihm nichts mehr nach. Jetzt mußten auch die
Beziehungen zu dem neuen Ministerpräsidenten in Ordnung kommen… Mechanisch nahm er die bereitliegenden Zeitungen zur Hand. Er sah sie immer im Bett durch. Es stand nichts Interessantes drin. Im Heeresbericht die üblichen Erkundungsvorstöße von Patrouillen. Verhaftungen von Kommunisten. Wann würde man sie endlich alle hinter Schloß und Riegel gebracht haben? Jules überflog die Überschriften. Er warf einen Blick auf die Uhr, einen eleganten kleinen Wecker. „Oho! Es ist ja schon spät!“ Jules zog den Schlafrock an und ging ins Badezimmer. Unter der Dusche erinnerte er sich an das Telefon. Er rief seiner Frau zu: „Liliane, schließ den Apparat an!“ Fast im selben Augenblick läutete das Telefon. Durch das Plätschern des Wassers hindurch hörte er seine Frau sagen: „Können Sie nicht in zehn Minuten… So dringend? Entschuldigen Sie einen Moment.“ Sie kam an die Badezimmertür. „Jules, ein Anruf für dich aus der Redaktion. Du möchtest sofort…“ „Wer hat’s denn da so eilig? Sie sollen warten!“ Dennoch stieg Benoit aus der Wanne, steckte die nassen Füße in die Pantoffeln und ging, ins Badetuch gehüllt, in sein Arbeitszimmer. „Hallo! Wer ist dort?… Guten Morgen, Monsieur!… Ob die Leitung unterbrochen war? Keine Spur! Der Apparat war nur abgeschaltet. Was ist denn passiert?… Nein! Was? Das kann nicht sein! Doch wohl ein Irrtum…“ Am anderen Ende sprach der Abteilungsredakteur. Seine Stimme klang erregt.
„Kommen Sie sofort in die Redaktion“, hallte es aus der Muschel. „Die Deutschen sind in Belgien und Holland eingefallen… Neutralität? Die scheren sich doch den Teufel um Neutralität! Amsterdam, Brüssel und nordfranzösische Städte haben sie bombardiert… Schrecklich!… Wer hat so was Hinterhältiges erwarten können… Kommen Sie sofort! Übrigens, fahren Sie doch zuerst beim Ministerium vorbei. Vielleicht weiß man dort Näheres. Wahrscheinlich werden wir ein Extrablatt herausgeben.“ Im ersten Augenblick erschien ihm die erschütternde Nachricht unsinnig. Zum Teufel, was war denn wieder passiert? Erst gestern hatte er geschrieben, die derzeitige Verstimmung würde bald durch einen Frieden beendet sein. Und das letzte Gespräch mit Gamelin?… Man hatte doch Weygand nicht zum Spaß aus Syrien zurückgerufen! Der Schlag gegen Baku war spätestens für Juni geplant… Da ging doch etwas Unverständliches vor! Ja, der Schwiegervater hatte schon recht, er sollte lieber den Beruf wechseln… Jules rasierte sich in Eile, zog sich rasch an, stürzte im Stehen eine Tasse Kaffee herunter und trat auf die Straße. Noch immer glaubte er, das Ganze sei ein Mißverständnis. Aber das Aussehen der aufgeschreckten Stadt belehrte ihn eines Besseren. Durch Lautsprecher wurden die letzten Nachrichten übertragen. Auf einem Platz standen Leute und hörten mit gereckten Köpfen zu. Jules blieb neben einer Frau mit einem Einkaufskorb stehen. In dem Korb lagen Gemüse und ein Huhn mit gelben, schuppigen Beinen. Die Frau machte ein entsetztes, fassungsloses Gesicht. Der Rundfunksprecher sagte nur das, was Benoit bereits wußte. Deutsche Truppen hätten im Morgengrauen die Grenzen Belgiens, Hollands und
Luxemburgs überschritten. In Rotterdam seien Fallschirmjäger gelandet. Im Weichbild der Stadt fänden Kämpfe statt. Die deutsche Luftwaffe bombardiere Lille und Valenciennes. Das Oberkommando der Alliierten treffe Maßnahmen zur Sicherung der französischen Grenzen. Im Anschluß an die Nachrichten übertrug man aufmunternde Marschmusik. Die Leute zerstreuten sich nicht. Alle warteten auf weitere Meldungen. „Was wird jetzt geschehen?“ fragte die Frau mit dem Korb. In ihren Augen standen Tränen. „Da soll der Teufel draus schlau werden!“ rief ein Mann, der über den Ärmeln weiße Schutzüberzüge hatte, offenbar ein Ladenbesitzer, empört. „Dafür muß man Hitler Mores lehren!“ Ein anderer, in Arbeiterbluse und mit Schirmmütze, entgegnete: „Versuch’s mal! Das hätte man früher machen müssen. Jetzt heißt’s, die Siebensachen packen.“ „Muß man denn wirklich weg aus Paris?“ fragte die Frau. „Wir waren schon einmal weg.“ Ihre Frage blieb unbeantwortet. Der Ladenbesitzer sagte: „Ich würde sofort Befehl zum Angriff geben.“ „Auch ein Gamelin!“ warf der Mann mit der Schirmmütze spöttisch lachend ein. Er fand keinen Beifall. Zwei Passanten besprachen offenbar ebenfalls die Ereignisse des Tages: „Ich habe geschäftlich in Brüssel zu tun. Gut, daß ich gestern nicht gefahren bin. Da wär’ ich schön in die Patsche geraten!“
„Meine Frau hatte vor, aufs Land zu fahren.“ „Soll sie nur, dort ist’s ruhiger.“ Droben in der Luft tauchte ein Flugzeug auf. Der Himmel war tief und frühlingsmäßig blau. Das Flugzeug nahm Kurs nach Südwesten. Die Menge zerstreute sich. Der Ladenbesitzer trat dicht an eine Hauswand, als suche er Schutz vor Regen. „Meinen Sie, daß das ein deutsches ist?“ „Kann alles sein. Möglicherweise ein Aufklärer.“ „So eine Frechheit! Ich würde Befehl geben, ihn zur Landung zu zwingen!“ Der Mann, der den Ladenbesitzer einen Gamelin genannt hatte, sagte, ohne sich an einen der Umstehenden direkt zu wenden: „So weit haben sie’s gebracht! Jetzt dürfen wir die Suppe auslöffeln. Verräter!“ „Das hab ich ja gewußt!“ kreischte der Ladenbesitzer. „Hört ihr, die Kommunisten werden wieder frech! Die sind schlimmer als die Deutschen, verbreiten nur Panik. Daß die Regierung sich so was mit ansieht!“ Am Quai d’Orsay traf Benoit den Minister nicht an – er war zu einer Kabinettssitzung gefahren. Seine Mitarbeiter gingen mit langen Gesichtern umher. Niemand wußte etwas Genaues. Ohne sich im Ministerium aufzuhalten, fuhr Benoit in die Redaktion. Die Kompanie wurde eine Stunde vor dem Wecken aus dem Schlaf getrommelt. Charles Morin kroch aus dem Unterstand. Der Morgen war klar und frisch. Statt der sonstigen Stille
schwirrten ungewohnte Laute durch die Luft. Aus Richtung Charleville ertönten, gleichsam unterirdisch, dumpfe Explosionen. Gestern hatten die Deutschen pausenlos Bomben geworfen. Heute ging es dort wahrscheinlich auch heiß her. Charles hatte wenig Lust, den seit Monaten bewohnten Unterstand zu verlassen, wo einem alles, selbst der Schlamm im Schützengraben, vertraut geworden war. Während er sich das Kochgeschirr anschnallte, rief er Frachon zu: „Jean, was wird nun mit deinem Gemüsegarten? Verpachtest du ihn?“ „Zum Teufel mit dem Gemüsegarten! Hab die Zeit nur unnütz vertan! Hak mir doch mal den Tornisterriemen ein!“ Charles meinte, es wäre gut, sich noch zu waschen. Sie waren jeden Morgen zu einem Wehr hinter der Mühle gegangen. Heute hatten sie aber keine Zeit dazu. Sogar das Frühstück war abgesetzt worden. Morin fragte: „Vielleicht schaffen wir’s doch noch? Was meinst du?“ „Nötig wär’s. Weiß der Henker, wohin sie bloß alle so rennen. Sie werden schon noch früh genug einen Splitter in den Hintern kriegen. Damit soll man sich nie beeilen.“ Frachon konnte Hast nicht ausstehen, er hatte es nicht gern, wenn man ihn antrieb. Durch den Schützengraben kam Sergeant Piney gelaufen. „Nun aber genug gebummelt! In fünf Minuten treten wir an. Frachon, du trödelst wieder, was?“ „Wir kommen schon.“ Durch Verbindungsgräben gelangten sie zum Stab, der in einem Bauerngehöft untergebracht war. Den Besitzer hatte man ausgesiedelt. Der Alte kam nur dann und wann aus dem
Dorf, um sich anzuschauen, wie seine Wirtschaft allmählich vor die Hunde ging. Manchmal begleitete ihn seine Tochter. Das hieß dann immer, der Alte brachte Milch und Quark zum Verkauf mit. Zwar kauften die Waren vornehmlich die Offiziere, genauer gesagt, ihre Burschen, doch für die Soldaten war es jedesmal eine willkommene Zerstreuung, wenn der Alte mit seiner Tochter erschien. Da wurden saftige Witze losgelassen, die das junge Ding zum Erröten brachten, und man hatte seinen Spaß daran, wenn sie mit schamhaft niedergeschlagenen Augen die Milch in die Aluminiumflaschen und Kochgeschirre goß. Auch heute war der Alte mit seiner Tochter gekommen. Aber niemand beachtete sie. Das Mädchen stand unter einem Apfelbaum neben der Einfriedung aus unbehauenen Steinen. Die Erde war ringsum mit Blütenblättern besät. Die Zeit der Apfelblüte war so gut wie vorbei. Mit der schon leicht gebräunten Hand stützte sie sich gegen den Baum. In der anderen Hand hielt sie ein Tragejoch, an dem die Kannen gehangen hatten. Die Kannen standen jetzt neben ihr, und die Sonne spielte auf dem blanken Metall. Verwundert betrachtete das Mädchen das Durcheinander auf dem väterlichen Hof. Was suchten die vielen lärmenden Soldaten hier? Der erste Zug hatte sich an der Mauer gesammelt. Frachon trat zu dem Alten, der ebenfalls verständnislos auf den Wirrwarr blickte. „Wir ziehen ab“, sagte Frachon. „Hinter dem Garten sind meine Beete. Nimm sie dir. Es wäre schade, wenn der Salat verkäme. Die Mairüben müssen auch schon gut sein.“ „Ich kann also auf den Hof zurück?“
„Ich weiß nicht. Frag den Leutnant.“ „Marie, warte auf mich. Vielleicht erlauben sie’s wirklich…“ Leutnant Louche war höchst aufgebracht und putzte gerade jemand herunter. Obwohl die Kompanie bereits Verspätung hatte, war sie noch längst nicht marschbereit. Wann würde endlich alles verladen sein? Wozu hatte Caton befohlen, diese Obstweinfässer mitzunehmen? Wer brauchte sie? War er hierhergekommen, um Krieg zu führen oder um Zider zu fabrizieren? Überhaupt kam ihm seine Kompanie heute wie eine Distelstaude vor, die sich nur mit Mühe aus dem Erdreich herausreißen läßt, in dem sie in einem halben Jahr feste Wurzeln geschlagen hat. Louche hatte nicht einmal gewußt, daß die Soldaten hier bereits Wein gemacht hatten. „He, ihr!“ Der Leutnant hatte einen Stall mit Kaninchen entdeckt, den Soldaten auf ein Fahrzeug luden. Zur Tarnung hatten sie den Stall mit einem Mantel zugedeckt, aber den wachsamen Louche konnten sie nicht täuschen. „Hört sofort mit dem Unfug auf! Runter mit dem Kram!“ Der Alte getraute sich nicht, den Leutnant zu fragen. Erst als man alles verstaut und die auf die Wagen geschmuggelten Fässer und Ställe beim Schuppen wieder abgeladen hatte, worauf die Kompanie endlich angetreten war, erkundigte sich der Alte schüchtern bei Louche, ob sie ganz weggingen und ob der Herr Leutnant ihm gestatte, in sein Haus zurückzukehren. Louche wußte selber nichts. Im Regiment sagten sie so, in der Division anders; alle gaben Befehle, hoben sie wieder auf, er aber, Leutnant Louche, sollte entscheiden. Jedenfalls war ihm klar: Hierher würden sie nicht zurückkehren. Sollte der Alte nur wieder in sein Haus ziehen.
„Zieh wieder ein. Was schert es mich!“ erwiderte Louche und eilte zu seiner Kompanie. Er führte die Soldaten auf die Landstraße. Es hatte geheißen, sie sollten in Richtung der belgischen Stadt Charleroimarschieren. Aber kein Gedanke daran! Die Spitze der Kolonne schwenkte nach links ab – das war eher auf Monszu. Ohne Karte sollte sich der Teufel zurechtfinden. Gestern hatte man versprochen, Karten auszugeben. So war das nun mit den Versprechungen – wie blinde Kätzchen tappten sie umher! Nach zwei Kilometern machten sie halt. Nicht nur Louches Kompanie, das ganze Regiment hatte sich mit dem Abmarsch verspätet. Man wartete auf die übrigen Bataillone. Louche befahl den Soldaten, von der Straße herunterzugehen. Sie sollten auf jeden Fall unter den Bäumen Deckung nehmen. Und er behielt recht. Von niemand vorher gesichtet, tauchten plötzlich zwei deutsche Kampfflugzeuge auf und bestrichen die Straße mit Maschinengewehrfeuer. Bis man die Kolonne dann wieder in Marschordnung gebracht hatte, waren auch die zurückgebliebenen Bataillone herangekommen. Wie es hieß, hatte es nur ein paar Verwundete gegeben. Die Kolonne setzte sich wieder in Bewegung. Etwa zwei Stunden lang hielten sie ein forciertes Marschtempo durch, um die verlorene Zeit wettzumachen. An einem Kanal holte der Bataillonskommandeur Louches Kompanie ein. Er befahl, zu halten und weitere Anordnungen abzuwarten. In der Umgebung gab es keine Bäume. Das beunruhigte Louche. Sergeant Piney meldete, man habe vergessen, die Reserveläufe für die Maschinengewehre mitzunehmen. Das hatte gerade noch gefehlt!
Es wurde Befehl gegeben, kehrtzumachen. Die Soldaten traten den Rückweg an. Sie taten das mit demselben Gleichmut, mit dem sie kurz zuvor die Apfelweinfässer, die sie eben aufgeladen hatten, wieder vom Wagen herunterholten. Jetzt brauchten nur noch deutsche Flugzeuge aufzutauchen! Auf der Chaussee, hieß es, hätten sie den Stab eingedeckt. Den Divisionskommandeur sollte es erwischt haben. Bombeneinschläge ertönten auf allen Seiten. Hier, auf dem Feldweg, war es wenigstens ruhiger. Nachdem Louches Kompanie mehrere Stunden im Kreise gelaufen war, kehrte sie gegen Mittag zum Ausgangspunkt zurück. Die Soldaten waren müde und erbost. Es kam der Befehl, Verteidigungsstellung zu beziehen und im Falle eines Durchbruchs feindlicher Panzer den Weg nach Valenciennes zu decken. Der bloße Gedanke, daß hier deutsche Panzer auftauchen könnten, schien ungeheuerlich. Sie konnten doch nicht durch die Luft springen! Dennoch nahm man die Meldung ruhig auf, genauer gesagt – mit Gleichmut. Wieder dieses Durcheinander! Piney trat erneut vor den Leutnant hin. Die Hand am Mützenschirm, bat er um die Erlaubnis, zwei Mann nach den Maschinengewehrläufen schicken zu dürfen. Von hier aus seien es höchstens zwei Kilometer. Wenn sie sich beeilten, könnten sie in einer Stunde wieder bei der Kompanie sein. Louche war einverstanden. „Sie sollen uns hinter dem Dorf suchen. Dort wird Rast gemacht. Danach beziehen wir Verteidigungsstellung. Suchen Sie nur recht fixe Leute aus, vielleicht Morin…“ Morin und Frachon bogen von der Straße ab. Um den Weg
abzukürzen, gingen sie einen schmalen Fußpfad über eine Wiese. „Wir scheinen schön in der Tinte zu sitzen.“ Frachon war stehengeblieben, um die Pfeife anzurauchen. Die durchsichtigen blauen Rauchwölken blieben in der Luft hängen. „Ich habe es doch gleich gesagt: kein Grund zur Eile. So ist es auch gekommen.“ „Eile hin, Eile her, aber verstehen tu ich absolut nichts. Wenn die Boches wirklich nach Namur durchgebrochen sind, dann sieht’s schlimm aus. Sage mir – du verstehst vielleicht mehr vom Kriegshandwerk als ich –, warum haben wir unsere Stellungen aufgegeben? Warum hier die Erde wie die Maulwürfe umwühlen, wenn es eine fertige Verteidigungslinie gibt?“ Morin wies nach vorn. Sie näherten sich dem Bauerngehöft. „Laß dir’s gesagt sein: Der Soldatenkopf ist nicht zum Denken da. Für uns denken die Generale.“ Sie kamen an den Bach, über den Holzstämme gelegt waren. Daneben befanden sich die Unterstände. „Los, jetzt waschen wir uns erst mal. Wir haben’s nicht eilig.“ Frachon wollte die ihnen gewährte Freiheit auskosten. Sie warfen die Tornister ab, legten die Gewehre ins Gras und knöpften sich die Kragen auf. Auf den kleinen Holzstegen stehend, wuschen sie sich. Die Reserveläufe brauchten sie nicht lange zu suchen. Sie standen noch dort, wo man sie zurückgelassen hatte, im Unterstand neben dem Gewehrständer. Die Schützengräben, die die Soldaten am Morgen verlassen hatten, boten einen wüsten Anblick: sperrangelweit offenstehende Unterstände, zerbrochene Pritschen, verschüttetes Stroh. Frachon machte den Vorschlag:
„Gehen wir zu dem Alten. Ist er ein Mensch oder ein Gendarm? Er muß uns Milch zum Trinken geben. Soll er vielleicht den Gemüsegarten ganz umsonst kriegen?“ Das Haus stand auf der anderen Seite eines Hügels und war hinter den Sträuchern nicht zu sehen. Auf demselben Weg, auf dem sie am Morgen das Gehöft verlassen hatten, schritten sie nun wieder darauf zu. Als sie durch die Pforte traten, schrak Morin, der vorausgegangen war, entsetzt zurück. Die eine Hälfte des Wohnhauses war durch eine Bombe glatt wegrasiert. Über den ganzen Hof verstreut lagen Ziegelbrocken, zersplitterte Dachsparren und Fensterrahmen mit gezackten Scheibenresten. Im Haus stand noch der Eßtisch, mit einer Schicht Putzkalk bedeckt. Beim Eingang, mit dem Gesicht nach unten, lag der Alte unter Staub und Schutt. Zu sehen waren nur die Füße in den groben Bauernschuhen und ein Wollstrumpf unter einem hochgerutschten Hosenbein. Leise, als fürchteten sie, einen Schlafenden zu wecken, überquerten die Soldaten den Hof. Im Garten fanden sie Marie, in einer unnatürlichen Pose neben der Mauer sitzend. Sie hielt den Kopf gesenkt, wie gewöhnlich nach einem groben Soldatenwitz. Ihr Gesicht war weiß wie Leinwand, und die Wimpern, noch dichter, noch schwärzer als sonst, warfen Schatten auf die Wangen. Aber vielleicht waren es nur Ränder unter den Augen. Aus einem Winkel des weich gezeichneten Mundes zog sich ein dünnes Fädchen geronnenen Blutes bis aufs Kinn hinab. Morin gab sich einen Ruck und trat zu Marie hin. Er war ebenso bleich wie das Mädchen. „Sicherlich vom Luftdruck. Da kommt immer Blut aus dem
Mund. Ich erinnere mich, an der Marne…“ „Es ist doch gleich, wovon… Los, tragen wir sie fort.“ Sie hoben Marie auf und trugen sie auf die Wiese. Das Mädchen stöhnte, ihre Wimpern zitterten. „Sie lebt!“ Das war ein geflüsterter Seufzer, der beiden Soldaten gleichzeitig entfuhr. Charles lief nach Wasser. Als er zurückkam, lag Marie mit offenen Augen da, dunkel ahnend, was mit ihr geschehen war. Frachon schob ihr einen Tornister unter den Kopf. Charles gab ihr zu trinken. Dann feuchtete er ein Tuch an und legte es dem Mädchen auf die Stirn. Ihr Gesicht bekam allmählich wieder Farbe. „Was machen wir jetzt mit ihr?“ „Tragen wir sie ins Dorf. Ich weiß, wo sie gewohnt haben.“ Marie lag teilnahmslos da. Sie fühlte sich elend und schwach. Nicht einmal die Hand konnte sie vom Boden heben. Sie besann sich nur auf ein furchtbares Krachen, das einem scheußlichen, heulenden Pfeifen gefolgt war, und einen heißen Stoß, nach dem es vor ihren Augen dunkel wurde. Den jungen, schwarzhaarigen Soldaten erkannte sie, er war immer ins Dorf gekommen. Der andere mit der dicken Nase war ihr unbekannt. Aber was suchten die Soldaten hier? Sie waren doch abmarschiert. „Was ist passiert?“ Marie glaubte, laut gesprochen zu haben. In Wirklichkeit klang es wie ein Stöhnen. Der junge Soldat antwortete, aber sie hörte ihn nicht. Sie sah nur, daß seine Lippen sich bewegten, wie im Kino, wenn der Ton wegblieb. Eine unheimliche Stille war ringsum. „Was ist passiert?“ wiederholte sie, diesmal vernehmlicher. Morin antwortete, das Mädchen hörte ihn wieder nicht. Erst
jetzt begriffen die Soldaten: Sie war taub. Charles neigte sich zu ihr herab, so nahe, daß ihr Haar seine Lippen berührte und schrie ihr ins Ohr: „Bombe ist gefallen! Bombe ist gefallen!“ Dabei demonstrierte er ihr, wie eine Bombe herabfällt. Marie las es ihm von den Lippen und den ausdrucksvollen Bewegungen der Hand ab, die sich hob und dann wie ein Raubvogel herabstieß. Den Vater erwähnten die beiden Soldaten mit keinem Wort. Frachon hatte sich ausgedacht, wie sie das Mädchen wegtragen konnten. Sie legten einen Mantel über die Reserveläufe, steckten die Läufe durch die Ärmel und hatten auf diese Weise eine Art Sessel. Aber die Läufe erwiesen sich als zu kurz; da nahmen sie ihre beiden Gewehre, und die Läufe legten sie auf die Trage. Ihre Arme mußten frei sein. Sie trugen das Mädchen nicht über den Hof, wo sie den Vater hätte sehen können, sondern durch den Durchbruch in der Mauer. Marie war an sich leicht. Aber die Gewehrkolben entglitten den schweißigen Händen, und die quer über die Trage gelegten Reserveläufe rutschten hin und her. Sie mußten oft anhalten, um die Läufe zurechtzurücken und die erstarrten Finger zu kneten. In das Dorf konnten die Soldaten nur gelangen, wenn sie die Chaussee kreuzten. Von der Chaussee aus mußten sie noch etwa einen Kilometer über Felder gehen. Das lag fast auf ihrem Weg. Die Soldaten rechneten sich aus, daß sie die Kompanie noch rechtzeitig einholen würden. Den Kopf gebeugt, schritt Frachon voran und sah vor sich hin auf die Füße. Er wollte gern rauchen – im Mund hielt er die erloschene Pfeife –, aber er hatte keine Streichhölzer; offenbar waren sie
im Garten liegengeblieben. An der Chaussee machten sie halt, um bei den Mauerresten einer Tankstelle, die hier gestanden hatte, auszuruhen. Marie erklärte, sie werde nun selber gehen, um keinen Preis wolle sie auf der Trage liegenbleiben. Sie schämte sich, so im Dorf zu erscheinen. Dem Mädchen ging es jetzt besser. Nur das Gehör war nicht zurückgekehrt. Marie lebte fortan in einer Welt frei von Lauten. Die Soldaten redeten auf sie ein, suchten ihr durch Zeichen zu erklären, daß sie ihre Hilfe brauche, aber schließlich gaben sie es auf. Sie nahmen die Tragbahre auseinander, rollten den Mantel zusammen und ließen sich auf dem rissigen Zementboden zur Rast nieder. Die Sonne, die sich bereits nach Westen neigte, warf ihre Strahlen über die Mauerreste. In dem Fleckchen Schatten darunter bot Morin dem Mädchen Platz auf seinem Tornister an. Sie setzte sich neben ihn, Frachon hielt indessen nach jemand Ausschau, der ihm Feuer geben konnte. Von der Anhöhe aus, auf der die Tankstelle stand, konnte man die Straße auf fünf Kilometer Entfernung, bis zum nächsten Hügel, überblicken. Sie schlängelte sich durch grüne Wiesen, überquerte einen Bach, kroch weiter zu einem Gehölz und verschwand schließlich hinter dem Hügelkamm. Die Straße war menschenleer. Nur jenseits der Brücke kamen mehrere Motorräder angebraust. Jean Frachon postierte sich schwerfällig mitten auf der Straße. Die Kradfahrer würden bestimmt Feuer haben. Ohne nach ihnen zu schauen – so würde es mehr Eindruck machen –, hob er den Arm. Die Kradfahrer waren schon ganz dicht herangekommen, als er sich ihnen zuwandte. Im selben Augenblick, da er erkannte,
daß es Deutsche waren, war er auch schon mit einem Sprung neben Charles. „Verdammt noch mal, Boches!“ Frachon griff nach dem Gewehr, lud durch und feuerte auf den ersten Kradfahrer. Ehe er zum zweitenmal durchgeladen hatte, stand Charles schon neben ihm und zielte auf die anderen. Ihre Position war unerwartet günstig. Sie stützten sich auf die Mauerreste wie auf eine Brustwehr, und das Gras, das auf den Trümmern wuchs, ebenso wie die Sonne, die den Kradfahrern ins Gesicht schien, tarnten sie zur Genüge vor den Blicken des Gegners. Der erste Kradfahrer stürzte tot zu Boden, er war nicht mehr dazu gekommen, den Motor abzuschalten. Die Maschine sprang noch einige Meter vor, fiel um und drehte sich wie ein aufgezogener Spielzeugkäfer im Kreise. Ein zweiter stürzte ebenfalls zu Boden. Die übrigen begannen wie wild zu bremsen. Ungewollt drängten sie sich auf einen Haufen. Der eine hatte die Augen mit der Hand abgeschirmt und schaute angestrengt nach vorn, ein anderer gab einen Feuerstoß aus seinem Maschinengewehr ab. Die Kugeln prallten gegen die Steine. Frachon und Morin schossen unentwegt weiter. Die Deutschen nahmen den Kampf nicht an, sie bargen die beiden Toten, wendeten und fuhren hinter die Brücke zurück. Das Geplänkel hatte nicht länger als eine Minute gedauert. Ebenso plötzlich, wie es angefangen, hatte es geendet. Marie saß nach wie vor auf Morins Tornister. Der Kampf hatte sie nicht erschreckt, an ihr Ohr war der Knall der Schüsse nur als ein leises Schnippen gedrungen. „Woher sind die nur so plötzlich gekommen?“ fragte Morin Frachon.
„Weiß der Teufel! Die sind weit durchgeschlüpft! Bestimmt hätte man sie schon früher aufhalten können.“ „Ja, das war ein tolles Ding!“ „Ich gehe nun“, sagte Marie. „Warte, wir begleiten dich.“ Charles wiederholte die Worte durch Gesten. Er stieß sich gegen die Brust, zeigte auf sich, dann auf das Mädchen und wies mit der Hand in die Richtung des Dorfes. „Zunächst gehen wir mal nachschauen.“ Frachon wollte sich gern von der Wirkung ihrer Schüsse überzeugen. Schade, daß die Deutschen die Toten mitgenommen hatten. Aber auch die Motorräder anzusehen war interessant. Auf der entgegengesetzten Seite, von Valenciennes her, tauchte ein Fahrzeug auf, ein Pkw. Frachon trat wieder auf die Straße, diesmal mit dem Gewehr, und hob den Arm. Der Fahrer bremste. Der Wagen schleifte noch ein Stück und zeichnete mit den Rädern dunkelbraune Streifen auf dem Asphalt. Aus der Tür beugte sich ein Offizier mit den Schulterstücken eines Obersten. Neben ihm saß ein Zivilist. Frachon wollte um Feuer bitten, aber er traute sich nicht. So hohen Vorgesetzten zu begegnen, hatte er nun doch nicht erwartet. Er stand da und überlegte, wie er sich aus der schwierigen Lage herauswinden konnte. „Was ist passiert? Was willst du?“ Der Oberst maß den Soldaten, der verlegen von einem Bein aufs andere trat, mit strengem Blick. Jetzt sah der Oberst über ihn hinweg und entdeckte Charles. Neben diesem stand das Bauernmädchen mit dem Tornister in der Hand. Der Ärger, der sich schon lange in ihm angesammelt hatte, entlud sich. Diese Drückeberger! Trieben sich
mit Weibern auf den Straßen umher! Mit so was sollte man nun Krieg führen! Von denen kam ja der ganze Schlamassel! In diesen versprengten Soldaten, die todsicher Deserteure waren, sah der Oberst den Grund allen Übels. Vom frühen Morgen an suchte er vergeblich den Armeestab – er brauchte den Lagebericht für das Hauptquartier. Seit gestern war die Verbindung mit der Armee Coraps unterbrochen. „Wer seid ihr?“ fiel der Oberst geifernd über Frachon her. „Was lungert ihr hier herum, noch dazu mit Frauenzimmern? Kämpfen sollt ihr! So eine Schweinerei! Ich lasse euch vors Kriegsgericht stellen!“ „Herr Oberst, wir…“ „Schweig! Kehrt zu eurem Truppenteil zurück. Wo ist eure Einheit? Weggelaufen seid ihr, wie? Warum hast du den Wagen angehalten?“ „Ich wollte um Feuer bitten…“ Frachon nahm die Pfeife aus dem Mund und hielt sie in seiner klobigen Hand. „Dummkopf!“ Der Oberst knallte erbost die Wagentür zu und stieß den Fahrer in den Rücken. Das Auto setzte sich in Bewegung. Bei den deutschen Krädern hielt es erneut. Der Oberst rief die Soldat heran. „Was sind das für Dinger?“ „Motorräder, Herr Oberst.“ „Das sehe ich! Sind das Tölpel!“ Der Oberst verlor vor Wut die Selbstbeherrschung. „Woher sind sie? Wer hat sie hiergelassen?“ „Wir haben sie zusammengeschossen.“ „Was faselst du da? Wer ist das – wir?“ „Ich und Morin – der dort.“
Charles mischte sich in das Gespräch ein. Er mußte schließlich dem Freund helfen. Frachon war angesichts des hohen Vorgesetzten ganz verdattert. „Deutsche Kradfahrer sind hierher durchgebrochen, Herr Oberst – wahrscheinlich Fallschirmjäger. Wir haben sie beschossen. Sie sind hinter jene Höhe abgezogen.“ „Warum, zum Teufel, habt ihr denn geschwiegen? Wann war das?“ „Vor höchstens zehn Minuten.“ Der Oberst entstieg dem Wagen. Er holte seine Karte hervor und bestimmte den Standort. Das war doch nicht möglich! Die Deutschen hatten doch noch gar nicht Brüssel genommen. Wie sollten sie hierhergekommen sein? „Ihr verwechselt sicher was!“ „Keinesfalls, Herr Oberst, es sind deutsche Motorräder. Wir haben selbst auf sie geschossen.“ Der Oberst mochte daran zweifeln, soviel er wollte, der Beweis lag vor seinen Augen – die beiden deutschen Maschinen auf der Chaussee. Aus dem angeschossenen Tank der einen tropfte noch Benzin. Hätte dieser Soldat hier sie nicht gestoppt, dann wären sie mitten in eine deutsche Kradfahrerkolonne hineingefahren. Brrr!… Der Oberst betrachtete die Soldaten nun etwas wohlwollender. „Macht euch sofort zu eurer Einheit auf und meldet alles dem Kompaniechef. Das ist sehr wichtig“, sagte er. Während der Oberst die angeschossenen Motorräder in Augenschein nahm und mit Charles sprach, hatte sich Frachon die Gelegenheit zunutze gemacht und den Fahrer um Feuer gebeten. Dann wendete der breite, mit Tarnanstrich versehene Kraftwagen und fuhr die Chaussee zurück. Frachon schaute
ihm nach. Voller Wohlbehagen tat er einen kräftigen Zug aus der Pfeife. In seiner Tasche lag eine Schachtel Streichhölzer, die ihm der Fahrer geschenkt hatte. Kurzum, er war zufrieden. So wenig braucht ein Soldat, um glücklich zu sein! Morin nahm Marie den Tornister ab, den sie noch immer in der Hand hielt. „Gehen wir!“ Alle drei schritten dem Dorf zu. Erst gegen Abend erreichten die Soldaten die Stelle, wo sie ihre Kompanie hätten antreffen müssen. Bis zu dem Dorf, das ihnen Sergeant Piney genannt hatte, waren es nicht zwei, sondern gute acht, wenn nicht sogar zehn Kilometer. Von Truppen war hier weit und breit nichts zu sehen. Die Dämmerung senkte sich herab. Frachon und Morin beschlossen, in dem menschenleeren Dorf zu übernachten. Nachts würden sie ja doch niemand finden. In der Frühe weckte sie ein schweres Grollen. Deutsche Panzer rollten auf der Chaussee in die Richtung, in die gestern das Regiment abmarschiert war. Gewehr und Tornister ergreifend, sprangen die Soldaten auf den Hof hinaus und schlichen sich durch die Gemüsegärten hinter das Dorf. „Jetzt sind wir demnach unsere eigenen Kommandeure“, sagte Frachon. „Machen wir uns also nach dem Norden auf. Dort soll eine englische Armee stehen.“ Es war noch sehr zeitig, doch die Straße entlang wälzte sich bereits ein Strom von Flüchtlingen. Die unwahrscheinlichsten Gerüchte wurden verbreitet. Es hieß, die Deutschen hätten bereits Sedan genommen. Doch etwas Genaues wußte niemand.
Der Fall Sekans, das von deutschen Truppen im ersten Anlauf genommen worden war, wirkte wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Unter den Gewölbedecken des Schlosses von Vincennes, im Stab des Generals Gamelin, herrschte Kopflosigkeit. Schon von Anfang an hatte die Truppenführung nicht geklappt. Regimenter, Stäbe, ganze Armeen waren verschwunden. Deutsche Einheiten rückten auf Leon zu und richteten ihre Angriffsspitze gegen Paris. Paris konnte sich vielleicht noch eine, höchstens zwei Nächte sicher fühlen. In den acht Monaten des „komischen Krieges“ hatte die Hauptstadt nichts Schweres durchgemacht. Nicht eine Bombe war auf die Dächer ihrer Häuser gefallen. Kein einziger Trichter verunstaltete die Boulevards und Anlagen. Nun, da unabwendbare Schrecken bevorstanden, war ganz Paris in Panikstimmung. Scharenweise belagerten die Menschen die Bahnhöfe, strömten zu Fuß aus der Stadt, flüchteten aus Paris wie vor der Pest. Als erste ergriffen die Villenbesitzer die Flucht. Sie, die alles im Stich ließen, träumten von einem Kanister Benzin für ihre Wagen. Keiner glaubte mehr an ein rettendes Wunder, aber das Wunder geschah. Am Sonnabend, genau eine Woche nach dem Beginn der deutschen Offensive, schwenkten die deutschen Panzerkolonnen, die sich mit einer Geschwindigkeit von fünfunddreißig bis vierzig Meilen am Tag auf Paris zu bewegten, unerwartet nach Westen ab, dann nach Norden in Richtung auf die Küste, auf den Ärmelkanal. Das war schlimmer als die Besetzung der Hauptstadt. Die deutschen Generale waren hinter den lebenden Kräften her, wollten den zersplitterten Armeen den Rest geben. Wie ein vom Wind getriebener Funke verbreitete sich in der
Stadt die Neuigkeit: Der Feind hat eine Schwenkung vollzogen, morgen werden die Deutschen nicht in Paris einrükken. Dies schien die Rettung zu sein. Man konnte sich doch wenigstens auf menschliche Art reisefertig machen und brauchte nicht in einer solchen Hast und einem solchen Gedränge wegzufahren. Es hieß, zusätzliche Autobusse würden eingesetzt werden. Aber vielleicht… Die Stadt lebte von Hoffnungen, Zweifeln und Gerüchten. In den Regierungsämtern hatte man die Evakuierung rückgängig gemacht. Jemand wollte gesehen haben, daß man im Kriegsministerium in der Rue Saint-Dominique ein paar Kisten wieder von den Lastwagen abgeladen hatte. Das hieß doch bestimmt, daß die unmittelbare Bedrohung vorüber war. Geb’s Gott, es verhielte sich wirklich so! Der Pfarrer der Kathedrale Notre-Dame zelebrierte im weißen Ornat eine Danksagungsmesse, betete für die Errettung der Stadt und für den Sieg. Jules Benoit kehrte zu Fuß nach Hause zurück. Es galt, Benzin zu sparen. Benzin wog jetzt kein Gold auf. Taxis waren auch für hohe Geldsummen nicht zu bekommen. Die abgeschirmten Straßenlaternen brannten noch nicht. Benoit war verdrossen. Seine Gedanken sprangen von einem Gegenstand zum andern. Gamelin hatte Schiffbruch erlitten, das stand fest. Der Ministerpräsident hatte Weygand aus Syrien zurückgerufen. Der war härter. Er hatte doch vorgehabt, im Juni auf Baku vorzustoßen… Das Bajonett im russischen Öl… Jetzt würde er hier die Suppe auslöffeln müssen… Jules verzog das Gesicht. Natürlich wäre es besser, Liliane führe zum Schwiegervater. Daß sich das Kind auch ausgerechnet jetzt erkälten mußte! Bei solch einem Wetter! Man stelle sich
vor, Schnupfen! Sie hätten schon längst dort sein können. Das war doch nur weiblicher Trotz. In seinem Innern regte sich ein feindliches Gefühl gegen Liliane. Er suchte einen Blitzableiter für seine schlechte Laune. Noch nie hatte er Liliane so widerspenstig gesehen. Sie weigerte sich zu fahren, bevor die Kleine wieder gesund sei. Weder Jules noch Monsieur Boisson hatten sie überreden können. Der Schwiegervater wird sich natürlich nicht aufs Warten eingelassen haben. Der war nicht gerade einer von den Tapfersten. Man mußte es ihm schon hoch anrechnen, daß er den Mut aufgebracht hatte, sich nach Paris durchzuschlagen! Wo er zudem noch für den Rückweg Benzin beschaffen mußte. Sicherlich saß er jetzt bereits in seinem Mauseloch, in Falaise. Hatte Tante Garbaud in seinen Wagen gepackt und war davongefahren. Erbost über die Starrköpfigkeit seiner Frau, war Benoit morgens aus dem Haus gegangen, ohne die Abfahrt des Schwiegervaters abzuwarten. Aber nanu! Vorm Haustor stand doch noch immer das kleine Lieferauto mit dem Planenverdeck. Boisson selbst begegnete er im Hausflur. Mit einem Kissen und einer Reisedecke kam er die Treppe herunter. Da sein Auto in dieser unruhigen Zeit leicht verschwinden konnte, hatte er vor, im Wagen zu übernachten. Jules wäre beinahe an ihm vorübergegangen, er hatte den Schwiegervater im Dunklen nicht erkannt. Dieser rief ihn zuerst an. „Jules, bist du es?“ „Ja.“ „Wir sind nicht gefahren. Wir haben beschlossen, noch zu bleiben. Die Deutschen sollen nicht nach Paris kommen. Stimmt das?“
„Ja, sie sind abgeschwenkt.“ „Gott sei Dank! Vielleicht kommen wir drum herum. Der Arzt hat gesagt, die Kleine habe nichts Schlimmes, in ein paar Tagen könnten wir fahren… Ich komme nachher noch mal rauf. Ich guck nur mal schnell nach dem Wagen.“ In der Wohnung ging es drunter und drüber. Überall geöffnete Koffer, verstreute Sachen… Es roch nach Arznei. Liliane legte Helene gerade ein Senfpflaster auf. Sie sah Jules Versöhnung suchend an. „Bist du müde, Jules? Zürnst du mir noch immer? Verzeih mir! In ein paar Tagen fahren wir. Wenn nur nicht noch eine Bronchitis dazukommt!“ „Mach, was du willst. Ich habe diese Launen schon satt.“ Doch weder nach fünf Tagen noch nach einer Woche konnten sie fahren. Der Arzt befürchtete eine Lungenentzündung. Er kam jeden Tag, sprach beruhigende Worte, riet aber von der Fahrt ab. Vielleicht in ein, zwei Tagen. Den Weinhändler quälten Zweifel: Sollte er allein losfahren oder warten? In den Weinbergen war jetzt die Zeit des größten Arbeitsanfalls. Ohne ihn, ohne seine Kontrolle ging es nicht. Aber Liliane war wie eine Besessene. Sie schlief überhaupt nicht, ging hohlwangig und mager umher. So verschob er die Abreise von einem Tag auf den andern. Jules ließ sich kaum noch zu Hause blicken, manchmal kam er nicht einmal zum Schlafen. Und wenn er kam, gab er auf die Fragen des Schwiegervaters nur knappe Antworten. Dabei gab es viele Neuigkeiten. Weygand war Oberbefehlshaber geworden. Die Truppen hatten eine neue Verteidigungslinie an der Somme bezogen. Man nannte sie die Weygandlinie. Verdun war ohne Widerstand gefallen. Die Kommunisten
riefen dazu auf, die Hauptstadt zu verteidigen, aber man wollte Paris zur offenen Stadt erklären. An die Polizei wurden Karabiner ausgegeben. Sie hatte Befehl, jeden auf der Stelle niederzuschießen, der es versuchen sollte, die Verteidigung vorzubereiten. Monsieur Boisson kommentierte die Ereignisse. Der Schwiegersohn wollte nichts hören. Er verkroch sich mißmutig in sein Arbeitszimmer. Liliane war von früh bis spät mit der kleinen Helene beschäftigt und interessierte sich für nichts sonst. Die Kapitulation der belgischen Armee regte den Weinhändler nicht wenig auf. Er war besorgt – jetzt würden die Deutschen wieder auf Paris marschieren. „König Leopold hat sich mit den Deutschen verständigt. Der Verräter!“ Der belgische König erschien ihm fast als Kommunist. Und daß die Kommunisten gegen Frankreich waren, wußte man ja. Eines Tages kam der Arzt nicht. Liliane wartete mehrere Stunden, dann rief sie bei ihm an. Man antwortete ihr, der Herr Doktor habe in Eile Paris verlassen. Am nächsten Tag Warfen die Deutschen zum erstenmal Bomben auf die Stadt. Über hundert Flugzeuge schwebten über dem Boulevard Pasleur und über der Seine. Man bombardierte die Citroen-Werke. Zweihundertfünfzig Menschen kamen ums Leben. Davon erzählte Jules. Er selbst war am Quai Louis Bleriot gewesen. Nein, nicht eine Minute länger durfte man hierbleiben! Das wäre Unvernunft! Die Regierung siedelte ja auch nach Tours über. Die Minister wußten schon, was sie taten. Monsieur Boisson erklärte in festem Ton, morgen werde er fahren. Das
stehe fest. Sonst bleibe man hier stecken. Bald würde man ihm noch die Räder und die Karosserie vom Wagen wegstehlen – jetzt könne man auf alles gefaßt sein. Dem Weinhändler saß nicht nur die Angst im Nacken, er barst zudem noch vor Wut: Nachts hatte ihm jemand das Benzin aus dem Tank abgezapft. Diese Spitzbuben! Warum hatte er nur nicht daran gedacht, ihn selber abzufüllen! Jules runzelte die Stirn, als er davon erfuhr. Er versprach dem Schwiegervater, ihm einen halben Kanister abzugeben. Mehr könne er nicht, er müsse ja selbst bis Tours kommen, möglicherweise sogar bis Bordeaux, wenn die Redaktion seiner Zeitung dorthin ziehe. Daß er einen Reservebehälter mit Benzin besaß, verschwieg er – sie würden die zweihundert Kilometer bis Falaise schon schaffen. Ein bißchen knapp war es zwar, aber es würde reichen. Auch Jules hatte die Abreise von einem Tag auf den anderen verschoben. Alle seine Kollegen waren bereits nach Tours übergesiedelt. ‘Hätte sich seine Frau nicht so starrsinnig gezeigt, wäre auch er längst dort. Es fehlte bloß noch, hier eine Bombe auf den Kopf zu bekommen! Die kleine Helene fühlte sich schon bedeutend besser. Die Temperatur war jetzt normal, und die Geräusche in der Brust, die Liliane beunruhigt hatten, hörte man nicht mehr. Liliane war nun bereit mitzufahren. Am Morgen kletterte Tante Garbaud, im Häubchen und in ihrem altmodischen Mantel, auf den bis obenhin beladenen Lieferwagen. Monsieur Boisson setzte sich ans Steuer. Er saß kerzengerade, wie ein Kutscher auf dem Bock, kaute an der Zigarre und war nervös. Liliane nahm mit dem Kind im Arm neben ihm Platz.
Jules fuhr mit seinem Wagen voraus – sie hatten bis zum nächsten Platz den gleichen Weg. An der Ecke des Platzes hielt er an und stieg aus. Er trat an das Lieferauto heran. „Jules, läßt es sich wirklich nicht machen, daß du mit uns fährst? Ich fürchte mich so“, sagte Liliane. „Meine Liebe, ich kann beim besten Willen nicht! Ich muß für Frankreich auf meinem Posten ausharren. Das ist meine Pflicht.“ Der pathetische Ton war für den Schwiegervater bestimmt. „Aber ich komme euch besuchen. Bleibt gesund!“ Er startete und fuhr geradeaus, zur Porte d’Orleans. Nach Überquerung der Seine bog Monsieur Boisson nach links ab und reihte sich in den Strom der Kraftwagen, Radfahrer und Fuhrwerke ein. Hupend überholten die Autos die Fußgänger, kamen aber dennoch nur langsam voran. Am Stadtrand wurde der Strom noch dichter, er füllte nun die ganze Straßenbreite aus. Die Bürgersteige waren von Fußgängern mit Rucksäcken, mit vollgepackten Karren und Kinderwagen in Beschlag genommen. Dann war es plötzlich, als sei ein Damm gebrochen. Mehrere Minuten konnte man im dritten Gang fahren. Sie näherten sich der Ausfahrt. Was weiter geschah, begriff Monsieur Boisson nicht gleich. Ein Krachen und Kreischen, ein Schlag, ein Stoß, das Klirren von zerschlagenen Scheiben. Der Wagen flog zur Seite und blieb quer auf der Straße stehen. Neben sich sah der Weinhändler den eingedrückten Kotflügel und den Kühler eines Autobusses. Hinter ihm wurde wie wild gehupt, geschimpft und geschrien. Monsieur Boisson nahm mit zitternden Fingern die Zigarre aus dem Mund und zwängte sich aus der Fahrerkabine. Der
Autobus fuhr davon. Die Vorderräder des Lieferwagens zeigten nach außen, wie die Pfoten eines Dackels. Boisson stand verdutzt da, er begriff noch immer nicht, was geschehen war. An ihm vorbei wälzte sich der Strom der Flüchtlinge, hinter seinem Wagen stauten sich die Autos. Man schimpfte und schrie, bis jemand vorschlug, den Lieferwagen von der Fahrbahn wegzuräumen. Mit vereinten Kräften wurde er an den Bürgersteig herangeschoben. Auch Monsieur Boisson half mit. Tante Garbaud saß indessen kreideweiß auf den Sachen. „Was werden wir jetzt bloß machen?“ sagte der Weinhändler, als er endlich wieder zu sich gekommen war. Das Kind im Arm, stieg Liliane vorsichtig aus. Sie war sich des Furchtbaren ihrer Lage bewußt – Jules unerreichbar und der Wagen defekt. An ein Weiterkommen war nicht mehr zu denken. Der Vater wiederholte: „Was werden wir bloß machen? Was werden wir bloß machen?“ Er war dem Weinen nahe. Die kleine Helene schlief friedlich in ihrem Steckkissen im Arm der Mutter. Sie war nicht einmal während des Zusammenstoßes aufgewacht. Der Anblick der schlafenden Tochter gab Liliane die Selbstbeherrschung wieder – sie würde Helene retten. „Tante Garbaud, nehmen Sie die Kleine. Ich komme gleich zurück.“ Tante Garbaud kletterte von der Pyramide der Koffer und Bündel herunter und ließ sich die schlafende Helene geben. „Wohin willst du?“ fragte der Vater. „Ich gehe telefonieren.“ Liliane wußte noch nicht, wen sie anrufen würde, aber irgend etwas mußte sie tun, zunächst eine Möglichkeit zum Tele-
fonieren finden. Während sie mit den Augen nach einer Apotheke, einem Laden oder sonst einer Stelle suchte, wo ein Fernsprecher sein konnte, drängte sie sich verzweifelt durch die Menge. Erst in der Telefonzelle merkte sie, daß ihr alle Telefonnummern entfallen waren. Und ihr Notizbuch hatte sie zu Hause gelassen. Sie öffnete die Handtasche. Gott sei Dank, die Schlüssel waren da. Sie hastete die Treppe der Metro-Endstation hinunter. Ihr entgegen strömten neue Haufen von Flüchtlingen. Zum Stadtzentrum fuhr sie im leeren Wagen. Nach einer halben Stunde jagte sie keuchend die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf. Mit zitternder Hand öffnete sie die Tür und stürzte ins Arbeitszimmer. Jules’ alphabetisches Verzeichnis der Anschlüsse lag wie immer auf dem Tisch. Krampfhaft begann sie zu blättern. Wen sollte sie anrufen? Zuerst die Freunde. Sie wählte eine Nummer nach der andern. Immer folgten lange Summertöne, aber niemand antwortete. Verzweiflung ergriff sie. Von Jules’ Freunden kannte sie nur wenige. Gott, o Gott, was sollte sie tun?! Lauter unbekannte Namen. Sie rief aufs Geratewohl an. Aber immer dasselbe: Niemand meldete sich. Da klappte sie das aufgeschlagene Buch zu. Es blieb ihr nichts weiter übrig, als Helene zu holen und wieder zurückzukehren. Schrecklich! Liliane stellte sich die leere Wohnung in der ausgestorbenen Stadt vor. Furchtbar! Aber ganz gleich. Dann dachte sie wieder an Helene. Nein, nein! Irgend etwas mußte ihr doch glükken. Von neuem griff sie nach dem Buch. Da – Terzie! Leon Terzie! Die Nummer seines Hausanschlusses. Vielleicht war er noch da.
Liliane wählte die Nummer, lauschte erregt den langen, gleichmäßigen Summertönen. Keine Antwort. Vielleicht hatte sie eine falsche Nummer gewählt? Sie wählte noch einmal. Wieder das Summen… Aber da… „Hallo?“ „Monsieur Terzie?“ Liliane wollte es kaum glauben. „Monsieur Terzie, ich flehe Sie an, helfen Sie mir! Unser Wagen ist kaputt… Ja, ja… Sie sind auch ohne Wagen? Aber was soll ich bloß machen? Helfen Sie mir, um Gottes willen! Ich bitte Sie inständig… Nein, Jules ist fortgefahren. Ich glaube, nach Tours… Ich habe niemand…“ 9 Der Premier schlug die Schlafdecke zurück, richtete seinen schweren Körper auf der Couch auf, tastete mit den Füßen nach den Pantoffeln und ging zum Telefon. In der letzten Zeit, das heißt seit dem Tag, an dem er sich auf der Audienz beim König im Buckingham Palace bereit erklärt hatte, die Leitung der Regierung zu übernehmen, schlief Churchill im Arbeitszimmer – dringende Anrufe konnten jetzt zu jeder Tages- und Nachtstunde erfolgen. Die altertümliche Bronzeuhr mit der Darstellung der Seeschlacht bei Trafalgar zeigte erst drei Viertel sieben, als Paul Reynaud aus Paris anrief. Das Telefon hatte den Premier geweckt. Reynaud sagte ohne Einleitung: „Wir haben eine Niederlage erlitten. Die Deutschen sind nach Frankreich durchgebrochen. Hallo!“ Der Premier schwieg. Reynaud glaubte, sie seien getrennt worden.
„Hallo! Hören Sie?“ „Ja, ja, ich höre!“ „Ich sage – wir sind geschlagen, wir haben die Schlacht verloren.“ Churchill antwortete das erste beste, was ihm in den Sinn kam – man mußte den Bundesgenossen beruhigen. „Haben Sie genaue Nachrichten? Sind Sie ganz sicher? Das konnte doch gar nicht so schnell passieren.“ „Leider ist es so. Unsere Front ist im Bezirk Sedan durchbrochen. Es ist eine Bresche von fünfzig Meilen Breite entstanden. Die Deutschen strömen mit Tanks und Panzerspähwagen herein.“ Reynaud sprach abgehackt, als lese er einen Heeresbericht vor. Der Premier hörte zu und spielte zerstreut mit dem Löscher. Seine Gedanken bewegten sich bereits in eine andere Richtung: Was würde aus den Truppen General Gorts werden? Vor allem hieß es jetzt vorsichtig sein. Zu Reynaud sagte er: „Mir scheint, Sie tragen zu dick auf. Ich neige nicht dazu, die Ereignisse so pessimistisch einzuschätzen.“ „Ja, aber ich sage Ihnen doch…“ „Verzeihen Sie, eine Minute… Die Erfahrung lehrt, daß jeder Angriff nach einer gewissen Zeit zum Stehen kommt. Anders kann es gar nicht sein. Man muß die Reserven heranholen und die Versorgung, die Truppenverpflegung sicherstellen. Glauben Sie mir, in vierundzwanzig Stunden ist den Deutschen die Puste ausgegangen.“ „Ich wünschte, ich könnte Ihnen glauben, nichtsdestoweniger müssen jetzt Maßnahmen getroffen werden. Gamelin ist erschüttert von der Schnelligkeit, mit der der Gegner vorrückt.
Ich wiederhole – wir haben die Schlacht verloren.“ „Nein, nein, sagen Sie das nicht! In Frankreich steht schließlich ein vierhunderttausend Mann starkes englisches Expeditionsheer… Aber im übrigen bin ich bereit, zu Ihnen zu kommen und die Lage zu besprechen… Ja, ja! Ausgezeichnet!“ Der Premier legte den Hörer auf die Gabel zurück und zog die Fenstervorhänge auf. In das Zimmer strömte Licht. Der Morgen war wundervoll frisch. Churchill öffnete die Tür. Sie knarrte nicht einmal, doch Inspektor Thompson von Scotland Yard, den der Premier sich als Leibwächter ausgebeten hatte, sprang im selben Augenblick auf. „Mein Lieber“, sagte der Premier, „der Sekretär ist offenbar so früh noch nicht da. Seien Sie so gut, rufen Sie den Stab an. Der Stabschef möge zu mir kommen… Nein, noch besser der Kriegsminister. Teilen Sie Mister Eden mit, daß ich ihn erwarte… Wie haben Sie geschlafen? Ich bin noch immer müde.“ Churchill gähnte und reckte sich. „Ich lege mich noch ein wenig hin.“ Aber der Premierminister schlief nicht mehr. Er ließ sich die letzten Ereignisse erneut durch den Kopf gehen. Seltsam, vor einer Woche hatte er nicht im mindesten geahnt, daß sich alles so wenden würde… Die Debatten im Unterhaus fielen zeitlich mit der deutschen Offensive zusammen. Man hatte das Kabinett Chamberlain wegen der militärischen Mißerfolge kritisiert. Er, Churchill, hatte damit nichts zu tun. Er hatte Amery nur auf den Gedanken gebracht, Cromwell aus seinem Aufruf an das Lange Parlament zu zitieren. Ein interessantes Zitat! Amery tat es dann auch. Er wiederholte im Unterhaus Cromwells Worte: „Sie haben hier schon zu lange gesessen.
Wie gut Sie auch immer gearbeitet haben, treten Sie ab, sage ich Ihnen. Und wenn das Ihr Ende bedeutet. Aber treten Sie um Gottes willen ab!“ Und Chamberlain war gegangen. So hatte er, Churchill, ihn also doch gestürzt. Es geschah höflich, ohne Grobheit, im Rahmen des parlamentarischen Anstandes. Vom Königspalast zur Admiralität sind es zwei Minuten Fahrt. Von ehrgeizigen Plänen beflügelt, war Churchill aus dem Palast zurückgekehrt. Er war nun Premier! Endlich hatte er das Recht, über alle Kriegsschauplätze zu herrschen. Ehrgeiz! Was ist Ehrgeiz? Funken, die in jedem Herzen sprühen und oft nicht so sehr aus niedrigem Strebertum als aus der Sucht nach Ruhm. Churchill hatte befohlen, ihm das Bett im Arbeitszimmer zu richten. In der ersten Nacht rief ihn niemand an. Das kränkte ihn etwas. Dennoch schlief er ruhig und brauchte keine ermutigenden Träume. Tatsachen, deuchte ihm, sind besser als jegliche Träume. Selbst jetzt, nach dem Anruf Reynauds, beunruhigte ihn die Hiobsbotschaft aus Paris nicht sonderlich. Er war sich seiner Kraft gewiß, er mußte nur auf jeden Fall einige Maßnahmen hinsichtlich der Expeditionstruppen treffen. Dann noch eins. Im Parlament mußte eine Regierungserklärung abgegeben werden. Die Rede müßte lakonisch und kraftvoll sein. Er würde sagen: „Ich kann nichts bieten außer Kampf.“ Nein, so nicht. Besser noch einen Ton stärker: „Ich kann nichts bieten außer Blut, Arbeit, Tränen und Schweiß. Unsere Politik lautet: Krieg führen. Unser Ziel ist der Sieg!“ So klang es gut, die Engländer hatten es gern, wenn man of-
fen und unverblümt zu ihnen sprach. Churchill empfing den Kriegsminister Anthony Eden, seinen Schwiegersohn, im Bett. Entgegen der Etikette gestattete er sich solche Freiheiten gegenüber den nächsten Freunden. Die schlaflos durchgearbeiteten Nächte entschuldigten ihn. Zuvorkommend höflich, mit weichen, sogar schüchtern wirkenden Manieren trat Eden an die Couch heran, die in ihren Ausmaßen an die Arche Noahs erinnerte. Churchill, mit dem Lesen von Schriftstücken beschäftigt, wandte sich ihm zu. „Hallo, mein Lieber! Verzeihen Sie, daß ich Sie gezwungen habe, so früh aufzustehen. Ist Nachricht von Gort da?“ „Ja, ein Telegramm. Lord Gort prüft die Möglichkeit eines Rückzugs auf Dünkirchen, natürlich nur, wenn unvorhergesehene Umstände ihn dazu zwingen.“ „Diese Umstände sind bereits eingetreten.“ Churchill erzählte von dem Anruf aus Paris. „Aber wie werden sich die Franzosen zu unserem Rückzug stellen? Ich meine unsere vertraglichen Bindungen, unsere militärischen Verpflichtungen.“ „Die Franzosen brauchen von unserer Absetzung nichts zu erfahren.“ Der Premier schob den vor ihm liegenden Stoß Papiere weg, erhob sich, spazierte im Zimmer umher und blieb schließlich vor einer Marmorbüste des Aristoteles stehen. Der vollbärtige altgriechische Philosoph im Chiton blickte aus seinen steinernen Augen starr auf ihn herab. Vor der Statue verweilend, fuhr Churchill fort: „Zu Ihrem Einwand sage ich Ihnen mit den Worten dieses Weisen: ,Oft verstehen die Alten unter Treue etwas anderes als die Jungen!’ Und wir beide – ich auf jeden Fall – sind
nicht mehr Jünglinge. Um das Schiff zu retten, muß man zur rechten Zeit die Taue kappen.“ Churchill hieb mit der Hand energisch durch die Luft. Das Gespräch dauerte nicht lange. Man kam überein, die Admiralität zu beauftragen, Schiffe in Dover zu konzentrieren. Für alle Fälle. „Apropos“, sagte der Premier, als Eden sich erhob, um zu gehen. „Heute werde ich mich offiziell an Roosevelt wegen der Zerstörer wenden. Ich werde um fünfzig Wimpel bitten. Wir brauchen sie so nötig wie die Luft.“ „Ja, aber die Amerikaner wollen daraus ein Busineß für sich machen. Sie verlangen dafür Stützpunkte. Hauptsächlich in Westindien und auf den Bermudas.“ Der Premier machte eine heftige Wendung zu seinem Gesprächspartner. Eden hatte einen wunden Punkt berührt. „Stützpunkte? Die geben wir nicht. Wir bieten Dollar, zahlen mit Gold oder was sonst genehm ist, aber ich erlaube nicht, daß Teile des Empire verschachert werden!“ „Und wenn sie darauf nicht eingehen? Die Amerikaner wollen uns an die Kehle.“ „Uns an die Kehle?“ Churchill knetete nervös seine Finger. „Das sollen sie mal probieren! Übrigens, wissen Sie, was für ein Gedanke mir gekommen ist: Machen wir ruhig das Geschäft – der Einsatz wird sich lohnen. Wenn die Vereinigten Staaten uns die Zerstörer geben, wird das Hitler als Vorwand dienen, den Staaten den Krieg zu erklären. Sie haben mich doch verstanden? Wir brauchen einen Bundesgenossen jenseits des Ozeans.“ Noch am gleichen Tag um die Mittagszeit flog der britische
Premier in einer „Flamingo“ nach Paris. Eine Stunde später landete er auf dem Flugplatz Le Bourget, und nach weiteren vierzig Minuten fuhr sein Wagen, unter Umgehung von Saint-Denis, in die Stadt ein. Sofort nach Churchills Eintreffen am Quai d’Orsay begann die Beratung, die in einem großen Raum mit Stuckdecke und vergoldeten Wänden abgehalten wurde. Im Laufe der ganzen Beratung nahmen ihre Teilnehmer nicht ein einziges Mal am Tisch Platz. Sie drängten sich vor einer Karte an der Wand. Im Bezirk Sedan sprang die abgesteckte Frontlinie bedrohlich in Richtung auf Paris vor und bog dann nach Nordwesten ab. Vortrag hielt Weygand, der endlich aus Syrien eingetroffen war. Schlechtes Wetter hatte seine Ankunft verzögert. Auch Gamelin, dem man den Oberbefehl entzogen hatte, war anwesend. Die Hände in den Rocktaschen, wandelte Paul Reynaud erregt auf und ab. Trotz der Schicksalsschläge hatte er das Aussehen eines kampflustigen Hähnchens bewahrt. Daladier stand verdrossen da – im Kabinett Reynaud hatte er den Posten des Kriegsministers inne. In diesen wenigen Tagen war er alt und welk geworden. Weygand berichtete, er habe den Befehl Gamelins zur Truppenumgruppierung wieder aufgehoben, die Operationen müßten sich entschlossener, er möchte beinahe sagen, vehementer entwickeln. Man müsse dem Gegner die Initiative entreißen. Konkret ausgedrückt, schlage er folgenden Plan vor: Die Nordgruppe der Truppen stößt unter Deckung durch die belgische Armee von Cambrai und Arras aus in Richtung auf Saint-Quentin vor. Die entscheidende Rolle müßten hierbei die verbündeten britischen Truppen spielen. Französische
Einheiten -die Armee des Generals Frere – eilen von Süden, von Amiens her, den britischen Streitkräften entgegen. Die Panzerarmeen von Rundstedts kämen auf diese Weise zwischen Hammer und Amboß. Die belgische Armee könne sich dann der Vernichtung entziehen. Weygand illustrierte seinen Plan an Hand der Operationskarte. Mächtige Pfeile strebten vom Süden und Norden her aufeinander zu. Gamelin hörte sich schweigend den Vortrag des neuen Oberbefehlshabers an. Als dieser geendet hatte, sagte er: „Im Grunde genommen ist das derselbe Plan, den ich vorgeschlagen habe.“ Seine Worte klangen etwa so: Welchen Sinn hatte es, mir den Oberbefehl zu entziehen? Reynaud erwiderte: „Warum haben Sie dann Ihren Plan bis jetzt nicht ausgeführt?“ Gamelin zuckte die Achseln. „Wir haben zu wenig Truppen, keine Panzer, unsere Ausrüstung ist schlechter. Schließlich braucht man Zeit, um die Kräfte zusammenzufassen.“ „Es sind genug Panzer da.“ Daladier hob die schweren Augenlider. „Wir haben viertausend. Wo sind sie?“ „Sie wissen doch selbst, Herr Kriegsminister, tausend neue Panzer stehen in den Depots und Parks. Die übrigen sind abgenutzt, veraltet.“ Reynaud fuhr wie ein Kampfhahn auf Gamelin los. „Das ist ein Verbrechen an der Nation! Tausend Panzer unbenutzt stehenzulassen, wo gegen uns…“ Reynaud erstickte fast, ihm blieb die Luft weg. „Warum stehen die Panzer in den Depots?“
„Das wissen Sie so gut wie ich, Herr Ministerpräsident“, antwortete Gamelin mit ruhiger, müder Stimme. „Die Panzer waren für die Finnen bestimmt, ebenso wie die nach Syrien entsandten Flugzeuge für einen anderen Zweck bestimmt waren – gegen die Erdölindustrie in Baku. Das ist Ihnen bekannt. Beschuldigen Sie mich nicht. Ich kann noch hinzufügen: Der Generalstab forscht vergeblich nach einer halben Million Gewehre. Die gibt es nur auf dem Papier. Ganz zu schweigen von den Decken, Kochgeschirren, Feldflaschen und den hunderttausend Panzersprengminen. Mit diesen Minen hätten wir Rundstedt den Weg versperren können, statt dessen wurden mit ihnen die russischen Panzer beim Durchbruch durch die Mannerheimlinie in die Luft gesprengt.“ Ein peinliches Schweigen trat ein. Der neue Oberbefehlshaber bemühte sich, das Gespräch in eine andere Bahn zu lenken. „Wir wollen uns doch nicht streiten, meine Herren! Ich wollte nur Ihre Meinung hören. Was hält der Herr britische Premierminister von meinem Plan?“ Churchill stand am Fenster. Ja, der Lage nach zu schließen, mußte man die Taue kappen! Auf die Frage Weygands antwortete er: „Mein General, ich stimme Ihnen vollkommen zu. Es ist tröstlich für mich, Ihre Entschlossenheit zu sehen. Frankreich und Großbritannien werden Seite an Seite kämpfen.“ Der Oberbefehlshaber resümierte: „Somit wäre der Plan der Gegenoffensive abgesprochen. Morgen gebe ich den Befehl aus.“ Nachts war Winston Churchill wieder in London. Er konnte die Hauptstadt nicht auf lange Zeit verlassen. Ihn erwarteten
Geschäfte, die keinen Aufschub duldeten. Kurz vor Mitternacht rief der Premier und Verteidigungsminister den Ersten Lord der Admiralität zu sich. „Ich möchte mit Ihnen den Plan einer Evakuierung unserer Truppen aus Dünkirchen besprechen. Wäre für die gesamte Leitung nicht Admiral Ramsey der geeignete Mann?“ Die Vorbereitung der Operation „Dynamo“ – diese Tarnbezeichnung erhielt der Plan für die Evakuierung des britischen Expeditionskorps – wurde noch in derselben Nacht in Angriff genommen. Es war keine Zeit zu verlieren. Die gesamten Vorbereitungsmaßnahmen erfolgten unter strengster Geheimhaltung sowohl vor den Deutschen wie vor den Franzosen. Charles Morin und Jean Frachon schlugen sich nach Norden durch. Obwohl sie wie Spänchen vom Strom der Flüchtlinge mitgetrieben wurden, blieben ihnen gewisse Vorgänge nicht verborgen. In ihren Schlüssen und Entscheidungen richteten sie sich auch danach. Die Engländer gingen weiter zum Kanal zurück. Es hatte also keinen Zweck, hinter ihnen herzulaufen. Im Bezirk Arras baute man eine Verteidigungslinie. Frachon rechnete sich aus: Ihrer Division war kein Weg zum Ausweichen geblieben, aller Wahrscheinlichkeit nach war also die Kompanie auch dort. Sie beschlossen, sich nach Arras durchzuschlagen. Mit scharfem Auge spähten Frachon und Morin in der Menge nach Soldatenuniformen. Zunächst hängten sich ihnen drei Schicksalsgefährten an. Sie begrüßten sich, als seien sie aus demselben Ort. Dann gesellten sich ihnen ein weiterer und noch zwei zu. So marschierten sie zusammen den Straßen-
rand entlang. Gemeinsam beschafften sie Proviant, und gemeinsam kundschafteten sie aus, wo unterwegs was Brauchbares aufzutreiben war. Die beiden zuletzt hinzugekommenen Soldaten trugen ein leichtes Maschinengewehr und einen Blechkasten mit Patronen. Der jüngere von ihnen fluchte, was das Zeug hielt – die Arme taten ihm von dem Kasten weh. Aber er warf ihn nicht fort. Die Patronen konnten noch von Nutzen sein – schließlich war Krieg. Frachon und Morin schleppten auch noch die Reserveläufe. Charles war mehrmals nahe daran gewesen, den seinen zurückzulassen. Wer brauchte ihn denn? Aber Frachon redete ihm zu: Wenn sie nun Leutnant Louche begegneten? Der würde es ihnen besorgen! Nachdem sie viele Meilen auf Feldwegen gegangen waren, ließen sie sich bei einem Gehöft an einem Brunnen unter einer Eiche zur Rast nieder. Die Eiche mit ihren weit ausladenden Zweigen, der Brunnen mit seinen Steinwänden und der Bauernhof mit seiner Umfriedung, stark wie Festungsmauern, standen da, wie seit eh und je in die Erde hineingewachsen. Charles saß auf der Erde, an den rauhen Stamm des Baumes gelehnt, und kaute Brot mit einem Stück Käse – den Käse hatte man in einem Keller aufgetrieben. Die Fußsohlen brannten ihm. Er zog sich die Stiefel aus und genoß mit Behagen die plötzlich eingetretene Erleichterung und Kühle. Frachon goß aus dem Brunneneimer eine gelbe, dicke Brühe in die Kochgeschirre und wartete darauf, daß sich das Wasser kläre. „Seht mal, wie viele Leute da kommen, als fahre ganz Frankreich auf ein fernes Feld zum Pflügen… Gleich werden wir trinken können.“ Er goß das klargewordene Wasser in ein
leeres Kochgeschirr, den Satz – einen Klumpen klebrigen, feuchten Sandes – schüttete er auf die Erde. Ein Bauernfuhrwerk, gezogen von einem Paar müder Gäule, bog vom Weg zum Brunnen ab. Auf dem Wagen, auf dem sonst die Garben vom Feld abgefahren wurden, saßen zwei Frauen. Charles sprang auf und ging ihnen entgegen. „Marie!“ Das Mädchen sah den Soldaten nicht. „Marie!“ rief Charles noch einmal. Die bejahrte Frau, die die Zügel hielt, stieß das Mädchen an und wies mit dem Kopf auf den Soldaten, der an den Wagen herantrat. Marie drehte sich um, erkannte Charles und lächelte. „Wohin fahrt ihr?“ Marie verstand nicht, die Mutter antwortete an ihrer Stelle: „Wir wissen nicht. Wohin alle fahren.“ Die Frauen kletterten vom Wagen und setzten sich zu den Soldaten. Anscheinend waren sie denselben Weg gefahren, den Charles und Jean in jener Nacht gegangen waren, in der sie Marie ins Dorf begleitet hatten. „Wissen Sie was?“ Frachon war eine Idee gekommen. „Fahren Sie nach Falaise. Sowie Sie in Falaise sind, wenden Sie gleich nach links, an der Wassermühle vorbei. Dort gibt’s nur einen Weg. Auf dem kommen Sie ins Dorf. Dort fragen Sie dann nach Catherine Frachon. Die kennen alle. Sie wird Sie schon unterbringen.“ „Wo liegt denn dieses Falaise?“ Frachon begann es ihr zu erklären. Er war fest davon überzeugt, daß die Frauen nach Falaise und nirgendswoanders hin mußten. „Wenn Sie zu Catherine kommen, dann sagen Sie ihr, Sie
hätten Jean Frachon gesehen. Das bin ich. Sagen Sie ihr: Einstweilen lebt er noch, er habe Sie geschickt.“ Marie nahm an der Unterhaltung nicht teil. Bis jetzt war ihr Gehör nicht zurückgekehrt. Charles versuchte zwar, mit ihr zu sprechen, aber es war ihm peinlich, ihr vor den Soldaten ins Ohr hineinzuschreien. Frachon brachte das Pferdegeschirr in Ordnung, zog die Stränge an und klopfte den Gäulen auf die Kruppe. „Die schaffen es schon bis dahin.“ Als die Frauen wieder auf dem Wagen saßen, sagte er noch zur Mutter: „Wenn Sie Catherine sehen, erinnern Sie sie daran, daß sie mal zu Boisson geht. Der soll nicht den Dummen spielen, sondern seine Schulden bezahlen. Ich hab doch im Urlaub nicht umsonst für ihn gearbeitet. Sagen Sie meiner Frau – sie soll die Schuld nur ja einkassieren… Fahren Sie aber lieber nicht auf der Landstraße, die wird beschossen. Auf Feldwegen kommen Sie ohne Hast besser hin. Wünsche Ihnen alles Gute! Sagen Sie ihr, daß ich noch wohlauf bin… Vielleicht sehen wir uns wieder.“ Morin drückte dem Mädchen die Hand. „Auf Wiedersehen I“ Marie nickte ihm zu. Das Fuhrwerk bog hinter dem Bauernhof ab, die Soldaten aber zogen die Stiefel an und begaben sich geradewegs nach Arras. Es war den Deutschen nicht gelungen, Arras im ersten Ansturm zu nehmen. Nachdem sie mehrere Panzer eingebüßt hatten, zogen sie sich angesichts der unerwarteten Gegenwehr hinter einen Hügel zurück.
Morin hockte in einem flachen Schützengraben vor einer Schießscharte inmitten einer Barrikade aus Sandsäcken. Die Soldaten hatten zwei Tage lang ununterbrochen im Kampf gestanden. Unrasiert, vom Pulverrauch geschwärzt und taub vom Kampflärm, hatten sie den anstürmenden Deutschen standgehalten. Dabei waren ihre Stellungen nicht die besten: kleine Schützengräben, Sandsäcke, Stacheldrahtigel und ein nur zur Hälfte ausgehobener Panzerabwehrgraben. Trotz des heillosen Wirrwarrs auf den Landstraßen hatten Charles und Jean ihre Kompanie wiedergefunden. Natürlich war das purer Zufall – wer hatte wissen können, daß sie unterwegs Sergeant Piney treffen würden! Aus diesem Anlaß bemerkte Frachon: „Der Soldat ist wie eine Katze – trage sie, wohin du willst, sie wird immer den Weg zurückfinden. Der Soldat gewöhnt sich an seine Kompanie.“ Wo das übrige Regiment abgeblieben war, wußte niemand. Vielleicht hielt es auch irgendwo eine Verteidigungsstellung. Als Sergeant Piney sie auf der Straße entdeckte, sagte er im üblichen Ton, als hätten sie nur etwas zu lange auf der Latrine gesessen: „Wollt ihr noch lange herumbummeln? Soll ich vielleicht für euch die Säcke schleppen? Los, nehmt eure Plätze ein!“ Die Soldaten, die unterwegs zu ihnen gestoßen waren, folgten Frachon und Morin. Sie nahmen ihre Plätze auf Gemüsefeldern am Rande der Stadt ein. In der Nacht bauten sie die Verteidigungsstellung, und im Morgengrauen unternahmen deutsche Panzer einen Angriff. Er wurde von der Artillerie abgeschlagen. Nur ein Panzer war über den Graben gewalzt. Man bewarf ihn mit Handgranaten. Er drehte sich auf seinen Raupen und geriet in Brand. Dieser Erfolg hob bei allen die
Stimmung. Der Panzer rauchte bis zum Abend. Aber bald war das vergessen. Messerschmitts beharkten sie pausenlos eine Stunde lang. Nach dem Fliegerangriff unternahmen die Deutschen zwei Panzerattacken, rollten aber jedesmal wieder zurück. Leutnant Louche fiel am zweiten Tag. Er hatten den östlichen Sektor befehligt. Er hob sich über die Brustwehr, schrie: „Auf die Panzer…“ und sank getroffen zu Boden. Morin erinnerte sich nur dunkel, wie viele Angriffe sie noch abgeschlagen hatten. Die Panzerattacken wechselten mit Angriffen aus der Luft. Sobald die Flugzeuge ihre Last abgeworfen hatten, kamen wieder Panzer angekrochen. Ihnen folgte Infanterie. Sie wurde mit Maschinengewehren niedergemäht. Gegen Mittag fielen erneut Bomben auf die Stadt. Arras brannte an vielen Stellen. Die Soldaten bereiteten sich auf einen neuen deutschen Angriff vor, doch der nächste war auffallend schlapp. Ehe die Panzer den Graben erreicht hatten, zogen sie sich wieder zurück. Es trat eine unerwartete Pause ein. Frachon nahm einen Schluck aus der Feldflasche und schraubte sie wieder zu. „Puh! Warm… Die kommen nicht mehr.“ Er wischte sich mit der Hand den Mund. Dann rauchte er seine Pfeife an. Morin kauerte sich neben ihn hin. „Ist noch was drin?“ Er wies mit dem Kopf auf die Flasche. „Da, trink aus! Man hätte sie in den Graben legen sollen, dort ist’s kühler.“ Das Wasser war fast heiß, es machte wohl den ausgedörrten Mund weich, löschte aber den Durst nicht. Morin meinte:
„Wir baden es hier für das ganze Regiment aus.“ „Ja, wir müssen für alle herhalten.“ Frachon erinnerte sich an den Brief seiner Frau. Boisson hatte bis heute seine Schuld nicht beglichen. An ihm, einem Soldaten, wollte der sich gesundstoßen. „Diese Drückeberger, im Hinterland haben sie sich verschanzt. Und die Kommunisten auch.“ „Die Kommunisten kämpfen oder sitzen im Gefängnis.“ „Wo kämpfen sie denn? Beschwatzen nur das Volk. Haben sich im Mauseloch verkrochen.“ „Wo sie kämpfen? Neben dir.“ „Hab noch keinen gesehen.“ „Sieh besser hin.“ Morin lächelte. „Kämpfe ich vielleicht nicht?“ Frachon sah Charles mit seinen entzündeten Augen an. „Du?“ Alles hätte Frachon gedacht, nur nicht, daß sein Freund Kommunist war. Der wollte ihn wahrscheinlich auf den Arm nehmen. „Red keinen Unsinn!“ „Ich sehe wohl nicht so aus? Warte nur, du wirst auch noch einer werden.“ „Eher eine Leiche!“ Frachon war gekränkt: Wenn es stimmt, was Charles sagt, warum hat er dann so lange geschwiegen? Vor wem versteckt er sich? Denkt er vielleicht, ich laufe wie der erstbeste Angeber gleich zu Hauptmann Guizet? Gegen Abend wurde ein Spähtrupp ausgeschickt – die Deutschen waren verdächtig still geworden. Die Kundschafter kehrten vor Tagesanbruch zurück. Sie brachten einen Gefangenen mit. Der junge SS-Mann sprach zwar von oben herab, sagte aber dennoch aus, daß die Panzerkolonne unter Umgehung von Arras weitergerollt sei. Es hätte für sie keinen Sinn,
hier Zeit zu vertrödeln! Sollten die Franzosen ruhig in ihrem Kaff sitzenbleiben. Ganz Frankreich sei bereits von der Wehrmacht des Führers besetzt. Die Deutschen unternahmen in der Tat im Laufe der nächsten beiden Tage keinen Versuch, Arras anzugreifen. Bis auf das Knattern der Maschinengewehre entfernte sich der Kampflärm und verhallte in Richtung Abbeville. Bereits einen Tag später verbreitete sich unter den Soldaten die Nachricht, die Engländer hätten ihre Stellungen geräumt. Noch in der Nacht hatten sie die Verteidigungslinie gehalten, aber am Morgen waren sie spurlos verschwunden. Wie vom Winde verweht. Abgesetzt hatten sie sich, ohne die Franzosen vorher davon zu verständigen. Frachon brachte die Neuigkeit mit. Während er in den Taschen nach Streichhölzern suchte, sagte er gereizt: „Immer größerer Mist! Jetzt sind die Engländer abgehauen…“ Wie und warum, das sollten sie später erfahren. Das Korps von Gort, das nach dem Rückzug aus Belgien längs der Lys Stellung bezogen hatte, war überraschend nach Dünkirchen abgerückt und hatte dadurch die Flanke der neben ihm stehenden französischen Truppen entblößt. Offizielle Mitteilung hiervon erhielten sie zugleich mit dem Befehl, Arras aufzugeben. Die Soldaten brachten beides miteinander in Zusammenhang und fluchten. Das Vertrauen zu den Engländern war erschüttert. Sie sahen deren Verhalten als Treubruch an. Selbst Sergeant Piney murrte, det alte Kommißknochen, der gewohnt war, den Vorgesetzten immer auf den Mund zu schauen. Er wies die Soldaten nicht mehr zurecht, wenn sie von Verrat und anderen Dingen sprachen,
die die Disziplin untergruben. Von was für einer Disziplin konnte noch die Rede sein, wenn eine ganze Armee ihre Stellungen im Stich ließ! Sergeant Piney war an die Stelle des gefallenen Kompanieführers getreten. Die Kompanie zählte jetzt nur noch vierzig Mann, einschließlich derjenigen, die sich ihr auf dem Marsch und während der Kämpfe um Arras angeschlossen hatten. Sie hatte keinen Offizier mehr. Piney wußte nicht einmal, von wem der Befehl gekommen war, die Stadt aufzugeben. Arras war von versprengten Truppenteilen verteidigt worden. Aber der Sergeant entschied für sein Teil richtig. Da ihn ein Befehl erreicht hatte, gab es also noch Vorgesetzte. Sonst hätte ihn keine Macht der Erde dazu bewegen können, die Stellungen zu verlassen. Bei Tagesanbruch befanden sich die Verteidiger von Arras einige Meilen von der Stadt entfernt. Erst jetzt, als sich die Kolonne den Weg entlangzog, wurde sichtbar, wie klein die Abteilung war, die eine ganze Woche lang die belagerte Stadt verteidigt hatte. Frachon machte darauf aufmerksam, als er sagte: „Ich hatte nicht gedacht, daß wir so wenig sind. Bei Monsieur Boisson in den Weinbergen arbeiten mehr…“ „Du legst an alles deinen Weinbergmaßstab an. Glaubst du, er wird dir das Geld geben?“ Charles konnte es sich nicht verkneifen, den Kameraden aufzuziehen. „Den soll der Teufel holen!“ Frachon ging die Gemeinheit Boissons nicht aus dem Kopf. Morins Worte hatten ihn an einer empfindlichen Stelle getroffen. „Könnte ich nur aus dieser Hölle hier raus, ich würde… Aber guck mal, was ist das dort?“
Frachon wies auf den Saum eines Eichenwäldchens. Im Unterholz blinkte etwas in der Sonne. Charles schirmte die Augen mit der Hand ab. „Man könnte meinen, es seien Scheinwerfer. Ein Auto…“ Aus dem Glied herauszutreten, wagten sie nicht. Sie meldeten es Piney. Der Sergeant befahl nachzuschauen. Morin hatte recht gehabt – zwischen den Sträuchern standen mehrere im Stich gelassene Lkw. Die Wagen waren intakt, die Tanks noch voll Treibstoff. „Da sind wir fein raus! Das sind englische.“ Morin fuhr einen Lkw auf die Straße. Sie setzten ihren Weg nun motorisiert fort. Auf dem Wagen drängten sich die Soldaten wie Sprotten in der Kiste. Eng aneinandergepreßt saßen Frachon und Piney neben Morin in der Fahrerkabine. Charles fuhr sicher und gewandt. Sie kamen durch Dörfer, in denen es weder Franzosen noch Deutsche gab. Die Truppen waren zurückgegangen, die Flüchtlinge nach Süden abgezogen, und die zur Küste vorstoßenden Deutschen hatten diese Orte noch nicht besetzt. „Sie sind wohl von Beruf Schofför?“ Piney sah Morin nun mit größerer Achtung an. Bisher hatte er ihn nur für einen widerspenstigen Soldaten gehalten, der sich im Dienst drückt, wo er kann. Die Antwort gab Frachon: „Er ist Autoschlosser, hat bei Renault in Paris gearbeitet.“ Charles fügte seinerseits hinzu: „Ich habe in der Montage gearbeitet.“ „Sieh einer an! Es heißt, die Deutschen hätten Renault bombardiert.“ „Nein, Citroen. Uns gegenüber.“
Es dauerte nicht lange, da hatten sie die zurückweichenden französischen Truppen eingeholt. Weiter rechts von ihnen war ein Gefecht im Gange. Bei den Artilleriestellungen wurde ihr Wagen angehalten. Ein Oberst befahl Piney, weiterzufahren und Verteidigungsstellung zu beziehen. Er zeigte mit dem Finger auf die ausgebreitete Karte: Sehen Sie, hier! Piney, der vor Ehrerbietung kein Wort hervorbringen konnte, salutierte und ging an die Ausführung des Befehls. Wohin sie fahren sollten, hatte er allerdings nicht verstanden. Sie kamen nur langsam voran. Vor ihnen befanden sich eine Artillerieabteilung, Sanitätsfahrzeuge und Haufen von Flüchtlingen, die auf der schmalen Straße wieder aufgetaucht waren. Das einfache Fußvolk überholte ihren Wagen mit Leichtigkeit. An einem Fluß mit abschüssigen grünen Ufern entstand eine Stockung. Ein Hauptmann, nervös und fahrig, kam auf ihren Wagen zugestürzt. „Wohin fahren Sie?“ Piney nannte das Dorf, das ihm der Oberst bezeichnet hatte. „Welcher Trottel hat Sie dort hingeschickt? Dort gibt’s nichts zu tun. Kommen Sie mal her.“ Der Sergeant kletterte aus der Fahrerkabine. „Beziehen Sie hier diese Verteidigungsstellung.“ Wie vorher der Oberst, wies der Hauptmann mit dem Finger auf die Karte. „Sie werden den Übergang halten.“ „Herr Hauptmann“, wagte Piney einzuwenden, „ich habe aber Befehl vom Oberst…“ „Von welchem Oberst?“ „Ich weiß nicht, wie er heißt.“
„Führen Sie meinen Befehl aus.“ „Zu Befehl!“ Sie fuhren den Fluß entlang, bis sie in losen Sand gerieten. Der Motor lief sich heiß, die Räder mahlten im Sand. Man mußte den Wagen fast heraustragen. Dann ging es auf einer Straße weiter. An dem Flußübergang gab es wieder eine Stockung. Mit Mühe und Not gelangten sie ans andere Ufer und kamen nun einem General vor die Augen. Müde und apathisch saß er in der Sonnenglut da und ließ seinen Adjutanten Anordnungen treffen. „Wo ist Ihr Kommandeur?“ „Er ist vor Arras gefallen.“ „Von welcher Division?“ Piney antwortete. „Wo ist sie?“ „Weiß ich nicht.“ „Wohin fahren Sie?“ „Eine Verteidigungsstellung beziehen.“ „Hinter der Front? Ihr Strohköpfe! Ihr Feiglinge! Umkehren! Sofort!“ Verwirrt und mutlos ging Piney zum Wagen zurück. Der Adjutant schrie ihm hysterisch noch etwas nach. Der Lkw wendete, aber es bestand nicht die geringste Aussicht, daß er durch den ihm auf der Brücke entgegenbrandenden Menschenstrom hindurchkommen könnte. „Herr Sergeant“, sagte Frachon, „hören Sie auf meinen Rat und pfeifen Sie auf das Auto. Es gibt damit nur Scherereien. Gehen wir zu Fuß. Dann sind wir den andern nicht mehr ein Dorn im Auge. Schließlich wird es noch heißen, wir seien
Deserteure.“ Sie ließen den Lkw an der Brücke stehen, schlossen sich einer Einheit an und bezogen mit ihr Verteidigungsstellung. Noch am selben Abend wurden sie in ein Gefecht verwickelt. Die Deutschen zwangen sie zum Rückzug, noch einmal nahmen sie den Kampf auf, um dann erneut unter dem Druck der feindlichen Panzer zurückzugehen. In diesen zwei Tagen kam niemand zur Besinnung. Die Kompanie hatte nun nicht mehr als ein Dutzend Mann. Piney führte weiter das Kommando. Abgesehen davon, daß er vor den Vorgesetzten zitterte, war er ein tapferer Soldat. Die französischen Truppen standen im Halbkreis um Dünkirchen. Es hieß, die Engländer würden eingeschifft, danach kämen auch die Franzosen an die Reihe. Der Rest der Kompanie ging an einem Kanal in Stellung. Auf der anderen Seite nahmen die Deutschen offen eine Umgruppierung vor und sammelten ihre Panzer. Von dem Hang aus, in dem sie ihren Schützengraben ausgehoben hatten, konnte Frachon sehen, daß es viele waren. „Die zermalmen uns glatt. Setzen über den Kanal und zerquetschen uns. Da gibt’s kein Entrinnen mehr.“ Piney kam herangekrochen. Er fragte, ob sie Handgranaten hätten. Auf jeden Mann kamen zwei. „Wo sind denn die Geschütze?“ fragte Morin. „Bei den Engländern.“ „Und wo sind die Engländer?“ „In Dünkirchen. Wir bewachen sie jetzt wie eine Stabskompanie, bald in Arras, bald hier. Das sind vielleicht Armleuchter!“ Piney spielte auf den Stab an, der in Arras gelegen hatte.
„Daß Sie sich nur nicht irren! General Gort ist schon vor unsrer Ankunft ausgerissen. Der sitzt vielleicht schon lange bei sich zu Hause in London…“ „Na, schon gut!“ Piney schlug wieder einen dienstlichen Ton an. „Befehl ist Befehl.“ Ein hohlwangiger Soldat, der neben Morin lag, bemerkte: „Ich möchte wenigstens mal einen Engländer zu Gesicht bekommen.“ Das Gespräch riß ab. Über sie hinweg pfiff ein Geschoß und krepierte an einem Baum. „Jetzt geht’s los!“ Frachon warf einen Blick auf die Handgranaten, die am Rande des Grabens griffbereit lagen. „Mit den paar Dingern kann man keinen Krieg führen.“ Was Frachon und die anderen Soldaten erwartet hatten, traf jedoch nicht ein. Die Deutschen stoppten ohne erkennbaren Grund ihren Angriff. Klare, windstille Tage waren angebrochen, dennoch zeigte sich am Himmel nicht ein Flugzeug. Die Soldaten freuten sich und konnten es gar nicht fassen. Also war den Deutschen doch die Puste ausgegangen. Am 24. Mai 1940 erhielt Großbritanniens Premierminister Sir Winston Churchill ein chiffriertes Telegramm vom französichen Ministerpräsidenten Paul Reynaud. Der Inhalt lautete: „Sie telegrafierten mir heute morgen, daß Sie General Gort angewiesen haben, sich an Weygands Plan zu halten. Inzwischen teilte mir General Weygand mit, daß die britische Armee entgegen der kategorischen, heute morgen von ihm bestätigten Anordnung vierzig Kilometer in Richtung auf die Häfen zurückgegangen ist, und zwar zu einer Zeit, da unsere von Süden heranrückenden Truppen sich den im Norden befindlichen alliierten Armeen näherten. Ihr Rückzug zwang
natürlich General Weygand, seine ganze Disposition umzustoßen. Er sah sich genötigt, die Absicht, den Durchbruch der Front zu bereinigen, aufzugeben. Der Abzug der schweren englischen Verbände von Le Havre hat ferner im Rücken der Front größte Bestürzung hervorgerufen. Es erübrigt sich, auf den Ernst der sich hieraus ergebenden Folgen hinzuweisen.“ Churchill las das Telegramm, runzelte die Stirn und knetete mit der Hand das Kinn. Unangenehm! Aber die internationalen Beziehungen fallen nun einmal nicht immer mit den gewöhnlichen Begriffen von Treue und Pflicht zusammen. Der Zweck heiligt die Mittel. Nur der Zweck! Auch in der Politik. Der Premier beschloß, auf das Telegramm nicht zu antworten. Er würde noch mal nach Frankreich fliegen. Es war besser, mündlich Aufklärung zu geben. Den Premier interessierte noch eine andere Nachricht. Die deutschen Truppen hatten die Offensive im Raum von Dünkirchen gestoppt. Instinktiv fühlte Churchill, daß es sich dabei nicht um ein strategisches Manöver handelte. Wollte ihn da Hitler nicht ködern, die Engländer in Dünkirchen aus politischen Gründen entkommen lassen? Vielleicht, vielleicht… Er glaubte, Hitlers Schachzug erraten zu haben. Nun, er mußte mitspielen! Der Einsatz war hoch. Churchill gab der Admiralität die Anweisung: „Morgen beginnen Sie mit dem Unternehmen ,Dynamo’.“ Die Evakuierung nahm am 26. Mai sechs Uhr siebenundfünfzig Minuten Greenwicher Zeit ihren Anfang. Zwei Tage später streckte die belgische Armee, im Raum von Ostende an die Küste gedrängt, die Waffen.
Die Tage waren klar, heiter und warm. Robert Crawshow saß am Lenkrad in seinem Wagen und zählte zerstreut die Leute, die aus dem Marinestab herauskamen. Er tippte darauf, der zehnte würde sein Brigadekommandeur sein. Doch er hatte schon einige Dutzend voll, und Macgroeg war noch immer nicht da. Dann vertrieb er sich die Zeit damit, daß er zählte, ob mehr Leute in den Stab hineingingen als herauskamen. Aber auch das bekam er schließlich satt. Er holte den letzten Brief von Kate hervor. Seit seiner Abreise hatten sich an die zehn Briefe angesammelt, und er hatte den ganzen Packen auf einmal ausgehändigt bekommen. Die wichtigste Neuigkeit für ihn war, daß Kate jetzt in einem Stab als Stenotypistin arbeitete. In welchem – das war militärisches Geheimnis. Sie versprach, es ihm beim nächsten Wiedersehen zu erzählen. Kate trug Uniform, sie schrieb, daß sie ihr sehr gut stehe. Nun wolle sie sich die Haare kürzer schneiden lassen. Was er dazu meine. Bob lächelte – er konnte sich seine Kate beim besten Willen nicht als Sergeant vorstellen. „Hallo, Bob! Wieder im Lande?“ Robert begriff nicht gleich, wer ihn da begrüßte. Es war Jimmy, der die Stufen herabstieg. Robert steckte den Brief weg. Jimmy brauchte nicht zu sehen, was er las. Überhaupt hegte er in der letzten Zeit eine unerklärliche Antipathie gegen ihn. Jimmys heuchlerische Augen und seine selbstgefällige Miene reizten ihn. „Guten Tag. Was treibst du denn so?“ „Ach, nichts weiter.“ „Ich hörte, du warst in Norwegen. Wie ist es dort?“
„Es geht. Kalt.“ „Dafür ist’s in Frankreich heiß. Trotzdem beneide ich dich. Immerhin war es eine Abwechslung.“ Jimmy beneidete Crawshow in der Tat, zog es aber für seine Person vor, an der ruhigeren Küste zu bleiben. Bob war sich darüber im klaren. „Du könntest ja auch fahren.“ „Wo denkst du hin!“ Jimmy winkte ab. „So viel Arbeit hier, die werden mich gerade fortlassen!“ Robert lächelte. „Ich würde an deiner Stelle ein Gesuch einreichen. Natürlich kein Urlaubsgesuch. Für Narvik ist es noch nicht zu spät.“ „Das hat jetzt keinen Sinn mehr. Von unseren Truppen sind kaum noch welche dort. Und die Kanadier haben ihre eigenen Verwaltungsleute… Nein, nein, ich werd’ wohl meinen Karren weiterschieben müssen.“ „Was hast du denn im Stab gemacht?“ „Ich fahre weg. Eine Dienstreise nach London. Hab mir die Papiere geholt. Nicht nur du darfst reisen. Jetzt bin ich es, der einen Gruß bestellen kann. Soll ich?“ „Meinetwegen.“ Beide dachten an Kate. „Du, weißt du noch, wie du mich damals abgefertigt hast? Kürzer ging’s wirklich nicht. Aber merk dir, wir könnten leicht die Rollen tauschen.“ Jimmy lachte auf. Sein Lachen klang widerlich. Roberts Gesicht verfinsterte sich. „Na, ist schon gut. Hab keine Angst. Es war nur Spaß. Halt dich ruhig dran. Mir hat sie sowieso nicht besonders gefallen… Bringst du mich nicht ein Stück mit dem Wagen? Ich
fahre nämlich noch heute.“ „Nein, ich kann nicht. Ich warte auf den Chef.“ „Dann auf Wiedersehn. Wenn du Urlaub hast, besuch mich… Ich werde also den Gruß ausrichten. In Ordnung?“ Jimmy machte sich offenkundig über ihn lustig. Was sollte er ihm antworten? Mit ihm anzubändeln lohnte nicht. Doch da ging er ja auch schon über die Straße, in lässiger selbstsicherer Haltung. Jimmy hatte übrigens gelogen. Natürlich gefiel ihm Kate noch. Wäre Robert nicht gewesen, dann wäre alles anders gekommen, dessen war er gewiß. Aber der dickköpfige Crawshow wäre der letzte, dem er das auf die Nase binden würde. Sollte der sich ruhig ein bißchen ärgern. In London würde er sich unbedingt mit Kate treffen… Endlich kam Macgroeg aus dem Stabsgebäude, zwängte seine langen Beine in den Wagen und befahl, zum Hafen zu fahren. Vor einer Woche hatte Robert den Brigadekommandeur in Begleitung eines Stabsoffiziers über Folkestone nach Sandgate gefahren – Sandgate lag ebenfalls an der Küste. Beide hatten hinter ihm im Wagen gesessen und sich unterhalten. Robert lag es fern, fremden Gesprächen zu lauschen. Was ging es ihn an! Aber der Brigadekommandeur sprach laut. Die beiden Offiziere unterhielten sich über die bevorstehende Evakuierung. Macgroeg sagte: „Ich bin höchst erstaunt. Ich kann einfach nicht begreifen, wie sich das alles zusammenreimt! Da hat man Transporter vorbereitet, schickt sie, der Teufel weiß warum, nach Narvik oder sonstwohin, uns aber, uns läßt man auf dem trocknen sitzen. So ein Leichtsinn! Wie sollen wir nun die Truppen
herüberschaffen? Zwölf Divisionen! Ich bitte Sie, das ist eine ganze Armee! Wir stehen vor einer Katastrophe.“ „Wer hätte ahnen können, daß es so kommen wird?“ „Man hätte es ahnen müssen. Ich kann gar nicht ruhig darüber sprechen.“ „Dennoch sollten Sie es.“ Der Offizier wies mit einem Blick auf den Fahrer. Weiterhin unterhielten sie sich halblaut. Robert dachte über Macgroegs Worte nach. In der Tat, die Situation war heikel. Fast ein Jahr lang hatte man Truppen nach Frankreich hinübergeschafft, und nun sollten sie in wenigen Tagen zurückgeholt werden. Der Oberst hatte recht viele Truppentransporter waren in Norwegen steckengeblieben. Das wußte er aus eigener Erfahrung. Schließlich konnte man doch die Truppen nicht auf Schaluppen befördern. Aber warum eigentlich nicht? Unter Umständen sogar auch auf Jachten, Motorbooten und Fischkuttern… Robert war selbst einmal auf einer Jacht zur französischen Küste gefahren. Fünfzig Meilen hin, fünfzig Meilen zurück. Man müßte mehrere tausend dieser kleinen seetüchtigen Wasserfahrzeuge auf bieten. Sicherlich würde sich niemand weigern, den Soldaten aus der Mausefalle herauszuhelfen. Geschütze konnte man natürlich auf einer Jacht nicht befördern, aber Soldaten schon. Robert Crawshow erschien diese Idee zwar phantastisch und irreal, aber sie ließ ihn dennoch nicht los. Immer wieder ging sie ihm durch den Kopf. Ob er mit dem Brigadekommandeur darüber sprechen sollte? Nein! Das war zu dumm! Wo sollte man auch so viele Leute herbekommen? Was heißt Leute, entgegnete er sich dann wieder. Er selbst könnte als erster
hinüberfahren. Und jeder Sportsegler, jeder Fischer würde es auch tun. Wie viele Seeleute, Maschinisten und Mechaniker gab es allein schon unter den Dockarbeitern! Freiwillige würden sich genug finden. Auf dem Rückweg knüpfte Robert, weit ausholend, ein Gespräch an. Der Offizier, der Macgroeg begleitet hatte, war in Folkestone ausgestiegen. Macgroeg saß schweigend im Wagen. Sein Gesichtsausdruck war konzentriert wie bei einem Blinden, der eine Straße überquert. „Ich bin früher mal mit einer Jacht nach Dünkirchen gesegelt. Bei gutem Wind schafft man das in rund sechs Stunden.“ „Na und?“ Macgroeg blickte weiter abwesend vor sich hin. „Auf Motorbooten kann man auch rüberfahren. Das dauert ein wenig länger.“ „Motorboote können keine Truppen transportieren, wir brauchen Schiffe“, sagte der Oberst, als spräche er mit sich selbst. „Aber wenn man sie aus ganz England, aus London zusammenholt und von der Küste die Fischer mit ihren Fahrzeugen dazunimmt? Alle werden mitmachen.“ „Mitmachen?“ Es war, als erwache Macgroeg aus dem Schlaf. „Wieviel Stunden braucht eine Jacht bis Dünkirchen? Sechs? Das ginge. Aber die deutschen Flieger? Da wäre Schutz nötig.“ Daran hatte Robert nicht gedacht. Etwas unsicher sagte er: „Man müßte nachts…“ „Nachts? Ja, wenn sich das machen ließe!“ Der Oberst versank wieder in Brüten. Robert schielte nach links, von der Seite sah er das kantige, energische Profil des Brigadekommandeurs. Ja, sagte er sich, daraus wird nichts werden. Das ist wohl zu hoch für den.
Aber der Brigadekommandeur unterbreitete diesen Vorschlag noch am selben Tag Admiral Ramsay. Man beschloß es zu versuchen. Übrigens ohne besondere Zuversicht. Wo sollte man so viele Freiwillige herbekommen? Überhaupt war es im Grunde genommen unsinnig, eine ganze Armee auf Barkassen befördern zu wollen. Aber einen anderen Ausweg gab es nicht. Bald darauf strömten Tausende und aber Tausende Menschen nach der Südküste Englands – Fischer, Sportsegler, Seeleute und Dockarbeiter, alle, die ein Ruder halten konnten, die mit Segeln und Motoren umzugehen wußten. An den Anlegestellen und Liegeplätzen, in den Fischerdörfern erschienen zahllose kleine Wasserfahrzeuge. Eine ganze Armada. Wie vor der Ausfahrt auf Makrelen- oder Dorschfang teerte man am Ufer Böden, besserte man das Takelwerk aus, nähte man steife Segel. Robert Crawshow sah auf seinen ständigen Dienstfahrten, wie sich die Küste belebte, wie über qualmendem Feuer Teer gesiedet und auf Planen dicht am Wasser Motoren auseinandergenommen wurden. Menschen eilten zwischen den am Strand liegenden umgestülpten Barkassen geschäftig hin und her. Der Sohn des Londoner Hafenarbeiters, jetzt Kraftfahrer bei einer Marineinfanteriebrigade, konnte nicht ahnen, daß sein Gedanke, den er auf dem Weg nach Dover geäußert hatte, hier Wirklichkeit wurde. Viel später nannten die Koryphäen der Kriegskunst die Evakuierung aus Dünkirchen einen glorreichen Sieg. Man rühmte ihre Organisatoren, verfaßte Berichte, warf mit Orden um sich und vergaß dabei das englische Volk, die Tausende Freiwillige, die unauffälligen und selbstlosen Helden, die auf zerbrechlichen Nußschalen den Ärmelkanal überquerten, um
ihre Armee zu retten, eine durch Abenteurer, durch politisches Intrigantentum und Treubruch in Bedrängnis geratene Armee. Hunderttausend einfache Engländer begaben sich an die Südküste der Insel und beteiligten sich an der Rettung der britischen Truppen, an dem Unternehmen „Dynamo“. Macgroeg fuhr mit den ersten Schiffen nach Dünkirchen. Admiral Ramsay hatte befohlen, die Lage an Ort und Stelle zu klären. Die Schiffe kamen im Morgengrauen in Dünkirchen an und begannen sofort Truppen aufzunehmen. Im Hafen herrschte Panikstimmung. Es hieß, die Deutschen bereiteten einen massierten Panzerangriff vor. General Gort – sein ganzer Stab war bereits nach England übergesetzt – gab den Befehl, die britischen Einheiten in die Stadt zurückzunehmen. Die Verteidigungsstellungen hielten die Franzosen. Vor allem sollten die Menschen gerettet werden, die schweren Geschütze sollten zurückbleiben. Von den Bedienungsmannschaften bereits verlassen, standen Panzer, Geschütze, Trecker, Kraftfahrzeuge im Hafen und auf den Straßen. Niemand dachte mehr an eine Verteidigung der Stadt, alles drängte zu den Schiffen. Die Einheit des Sicherungsdienstes konnte kaum noch die Ordnung aufrechterhalten. Was wird morgen sein, dachte Macgroeg mit Besorgnis. Der Kapitän seines Schiffes gab den Befehl, die Fallreeps hochzuziehen. Unter der Last der Hunderte Menschenleiber sank der Schiffskörper unter die Wasserlinie. Der Oberst sah auf die Uhr. Es war sechs Uhr siebenundfünfzig Minuten morgens. Die Evakuierung begann. Mit Soldaten überladen, liefen die Schiffe aus Dünkirchen aus. Gegen Mittag wartete Robert im Hafen von Dover auf den
Brigadekommandeur. Sein Wagen stand im Schatten eines Lagerhauses. Von den Schiffen trug man Verwundete, die Fallreeps stiegen Soldaten herab, erschöpft, unrasiert, hohlwangig. Gleichfalls erschöpft, mit eingefallenem Gesicht, kam Macgroeg auf ihn zu. Er befahl, ihn zum Stab zu bringen. Robert erlaubte sich die Frage, ob er nicht nach Dünkirchen fahren dürfe. Er habe sich bereits mit dem Besitzer eines Kutters verabredet. Wenn der Oberst es gestatte, könnte er schon heute nacht losfahren. Inzwischen würde ihn Edward Smiles vertreten, mit dem er bereits alles besprochen habe. Der Wagen hielt beim Eingang zum Marinestab. Macgroeg stieg aus. „Gut, fahren Sie. Das ist sehr notwendig, Crawshow, sehr… Gute Fahrt! Ich danke Ihnen!“ Macgroeg drückte Robert kräftig die Hand. Noch am gleichen Abend stach Robert auf einem Kutter in See. Mit ihm fuhr der Besitzer des Bootes, ein alter Mann, der früher Leuchtturmwärter war und jetzt im Ruhestand lebte. Am Heck des Bootes knatterte ein Außenbordmotor, den man mit List beschafft hatte. Falls der Wind nicht nachließ, würden sie im Morgengrauen in Dünkirchen sein. Neben ihnen zogen ebensolche Boote durch das Wasser. Mit Einbruch der Dunkelheit verloren sie sich aus der Sicht. Der Alte zündete eine Laterne an und sah von Zeit zu Zeit auf den Kompaß. Manchmal krochen aus der Finsternis die Silhouetten entgegenkommender Schiffe mit abgeschalteten Bordlichtern hervor, dann schwenkte der Alte, um eine Kollision zu vermeiden, seine Laterne und schrie mit heiserer Baßstimme. Aber auf den Schiffen hörte man ihn nicht. Robert drehte
seitwärts ab und ging dann wieder auf Kurs. Um nicht abzukommen, orientierte er sich nach den Sternen. Ihr Kurs führte fast genau nach Osten. Der Alte war sehr schweigsam. Auf den drei Fahrten, die er nach Dünkirchen machte, verlor er kaum ein Dutzend Worte, nicht gerechnet natürlich seine Anordnungen: Backbord steuern, Kurs halten oder Motor drosseln. Am dritten Tag wurde der Alte krank. Die Belastung war zuviel für ihn. Robert machte nun die weiteren Fahrten allein oder mit einem zweiten Mann, den er zur Hilfe mitnahm. Einmal, während freiwillige Helfer den widerspenstigen Motor reparierten, gelang es ihm, schnell in die Kaserne zu laufen. Er bekam zwei Briefe ausgehändigt: den einen von Kate, den anderen von seiner Mutter. Die Mutter schrieb, daß auch Vater und Onkel William an die Küste gefahren seien. Robert hoffte sie zu treffen. Aber wo sollte er sie in diesem Gewimmel finden? Tag und Nacht durchfurchten Tausende Kutter das Wasser des Kanals. Die Operation „Dynamo“ währte eine Woche. In all diesen Tagen kam Robert fast kaum zum Schlafen, es sei denn für kurze Zeit auf dem Boden des Kutters. Am 30. und 31. Mai, als die Evakuierung auf vollen Touren lief, schaffte man aus Dünkirchen über hundertdreißigtausend englische Soldaten fort, beinahe die Hälfte von ihnen mit Hilfe der sogenannten Moskito-Armada. Das Ende des Krieges trat für Frachon und Morin in den sandigen Dünen der Kanalküste ein. Sie begruben Piney. Ein deutsches Maschinengewehr hatte ihn hinweggerafft. „Was machen wir nun? Wir sind die Letzten der Kompanie.“ „Ich weiß nicht. Vielleicht können wir nachts…“
„Glaubst du, sie kommen uns holen?“ „Kaum. Wer braucht uns? Die Engländer hat man schon heimgeschafft.“ „Würdest du mitfahren?“ „Ich weiß nicht. In der Fremde…“ „Aber in Gefangenschaft bei den Faschisten wär’s da besser?“ „Das ist alles eins… Nach Falaise müßte man gehen! Wie mag’s dort aussehen?“ Aus Frachons Worten sprach Heimweh. Die Soldaten überkam ein Gefühl trostloser Verlassenheit. So saßen sie bis zum Abend. Vom Meer wehte salzige Feuchtigkeit herauf, vermischt mit dem Jodgeruch der am Strand faulenden Algen. Als es dunkel wurde, krochen sie zum Wasser hinab. Morin schöpfte sich eine Hand voll, nahm einen Schluck und spuckte aus. Im Mund blieb ein bitterer Salzgeschmack zurück. Im Westen verglühte das Abendrot. Am Horizont schimmerte das Meer ebenso dunkelrot wie der schmale Streifen am Himmel. Die Soldaten legten sich auf den feuchten Sand. In der Stille drangen die Worte, das Gelächter und das trunkene Gegröle der Deutschen wie aus nächster Nähe an ihr Ohr. Nun war das Abendrot erloschen. Es wurde dunkle Nacht. Die Wellen rauschten sanft im Sand. Plötzlich klang durch ihr monotones Lied das Tuckern eines Motors. Die Soldaten horchten auf. Kam es ihnen nur so vor? Nein, eine Ruderdolle knarrte, da – ein Ruderschlag und Geplätscher. „Was ist das?“ „Ein Kutter!“ Auf dem schwarzen Hintergrund des Meeres tauchte wie ein
Phantom die helle Silhouette eines Bootes auf. Das Segel war eingezogen. „Wer dort?“ rief Morin mit gedämpfter Stimme. „Hallo!“ erscholl es vom Meer her. „He, ihr am Ufer! Franzosen!“ „Wer dort?“ wiederholte Morin seinen Ruf. „Ich hole euch.“ Der Mann sprach mit starkem englischem Akzent. Das Boot näherte sich dem Ufer. An den Rudern saß ein Mann im Matrosensweater. „Wie viele seid ihr?“ „Zwei.“ „Kommt ins Boot! Schnell!“ Nur raus aus diesen verdammten Dünen, aus dieser Sandfalle! Der ersten Regung folgend, gingen Morin und Frachon ins Wasser. Das Wasser war noch kalt und reichte ihnen bis zum Gürtel. Die Kälte verschlug ihnen den Atem. Sie schwangen sich über die Bordkante. Frachon polterte beim Einsteigen mit dem Stiefel. „Pst, leise!“ Der Engländer wendete das Boot und legte sich in die Riemen. Sie entfernten sich vom Ufer. Nun erhob sich der Mann und ging zum Heck. Der Kutter schaukelte. Um das Gleichgewicht zu halten, stützte er sich auf Charles’ Schulter. „Alles in Ordnung. All right! Wollt ihr Rum?“ Glas klirrte gegen Metall. „Da, nimm!“ Morin fand tastend die Hand des Engländers, nahm das Glas und leerte es in einem Zug. Den Körper durchrieselte Wärme. Das Glas reichte er Jean hinüber. Der Engländer steckte die Flasche, nachdem er auch Jean
eingeschenkt hatte, wieder weg und warf den Motor an. Der kleine Motor knatterte los, der Kutter kam schnell voran. „Nichts zu rauchen da?“ fragte Frachon. Frachon fühlte in der Hand eine Zigarette. Er zerdrückte sie und stopfte sich den Tabak in die Pfeife. Der Seemann zog die Segeltuch Jacke über den Kopf und gab ihm Feuer. Das Flämmchen beleuchtete eine steile, breite Stirn und ein von einer Falte zerschnittenes Kinn. Das Boot ließ die Küste immer weiter hinter sich. Jetzt konnte man sie nur noch an dem roten Widerschein ferner Feuer erraten, der bald grell, bald matt am Himmel stand. „Ganz Frankreich brennt“, sagte Morin wie zu sich selbst. „Ja, ja“, pflichtete der Engländer teilnahmsvoll bei. „Wie heißt du?“ fragte Frachon. „Bob Crawshow. Aus London. Bin zur Zeit in Dover als Soldat. Und du?“ „Jean Frachon. Ich bin aus Falaise. Und das ist Charles Morin. Er hat in Paris gearbeitet, im Renault-Werk.“ „Renault kenne ich – Autos.“ „Wohin fahren wir denn?“ fragte Charles vorsichtig. „Nach Dover oder in die Nähe davon. Gegen Morgen sind wir da. Ich bin schon das siebente Mal unterwegs, achtzehn Mann habe ich geholt.“ „Hör zu, wir wollen aber gar nicht nach England… Was meinst du, Jean?“ Der Engländer sah Charles verwundert an, bemüht, sein Gesicht im Dunkeln zu erkennen. Er glaubte nicht richtig verstanden zu haben. „Entschuldige, aber ich spreche schlecht französisch.“ „Wir wollen in Frankreich bleiben.“
„Warum?“ „Es geht nicht anders… Hilf uns nur aus der Falle heraus.“ „Was für eine Falle?“ „Dünkirchen. Zehn Meilen von hier entfernt könnten wir an Land gehen. So nehme ich wenigstens an.“ „Ja“, fügte Frachon hinzu, „es ist schon besser, man ist zu Hause.“ Robert dachte nach. Seine linke Hand lag auf der Ruderpinne. „Gut. Wahrscheinlich habt ihr recht.“ Robert drehte das Steuer nach links. Das Boot fuhr westwärts, die Linie der Feuerbrände entlang, die am Horizont loderten. Über eine Stunde war vergangen, als Robert die Küste ansteuerte und den Motor abstellte. Charles setzte sich an die Ruder. Man fuhr vorsichtig, auf jedes Geräusch achtend. Die Deutschen hatten bereits die ganze Küste besetzt. Das Boot stieß weich in den Sand. In Eile schüttelten sie dem Engländer die Hand. „Vielen Dank!“ „Nicht der Rede wert!… Wartet einen Augenblick!“ Robert zog einen Rucksack mit Lebensmitteln unter der Bank hervor. „Da, nehmt!“ Der Rucksack fiel lautlos auf den Sand. Robert stieß den Kutter ab. Die beiden Soldaten schauten ihm nach, bis er mit dem Meer in eins verflossen war. Dann stiegen sie das Ufer hinauf. Oben machten sie kurz Rast. Auf dem Meer begann ein Motor zu tuckern.
„Jetzt ist er weg.“ „Und du hast auf die Engländer geschimpft. Dabei hat er uns aus dem Dreck geholfen.“ „Das war doch auch ein einfacher Mensch, ein Arbeiter. Das konntest du an allem sehen… Wie hieß er doch?“ „Crawshow.“ „Ja richtig, Bob Crawshow aus London.“ 10 Leon Terzie wartete seit dem frühen Morgen auf einen Wagen. Nervös wanderte er in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Kurz nach zwölf ging der Zug, und jetzt war es schon… Zum hundertsten Mal sah er auf die Uhr. Langsam wurde es Zeit. Terzie blickte zum Fenster hinaus: Die Straße war leer, nichts rührte sich vor der Haustür. Er läutete die Garage an. Keine Antwort. Die Redaktion anzurufen hatte keinen Sinn – die waren am Tag zuvor fortgefahren. Fünf Minuten wollte er noch warten, nicht länger. Den Passierschein hatte er in der Tasche, die Sachen standen in der Diele und die Deutschen – hinter dem Bois de Boulogne, fast schon in der Stadt. Und noch immer kein Wagen. Eine ekelhafte Lage! Nachdem die Engländer die französische Armee ihrem Schicksal überlassen hatten und nach Dünkirchen abgezogen waren, stand es für Leon außer Zweifel, daß das der Anfang vom Ende war. Die Agonie hatte begonnen. Augenzeugen der Katastrophe würde es auch ohne ihn genug geben. Er mußte fort. Den Passierschein hatte er in der Tasche – kein Visum zwar, aber einen Passierschein, ein Papierchen mit dem runden Stempel der britischen Botschaft. Er gab ihm das
Recht, den Bahnsteig durch den Diensteingang zu betreten und sich in den Gang eines Sonderwagens hineinzuzwängen. Ironisch lächelnd dachte Terzie: Die Bundesgenossen helfen uns, aus Paris zu flüchten. Ja, Bundesgenossen bis zur Stunde der Not… Augenblicklich war es schwieriger, einen solchen Passierschein zu bekommen als ein Auslandsvisum. Englische Journalisten hatten ihm dazu verholten. Die Engländer schafften ihre Familien weg und rissen selber aus. Zuerst nach Saint-Nazaire, von da übers Meer auf die Insel… Aber wo blieb denn das Auto? Hol der Teufel die Sachen! Er würde sie eben dalassen. Terzie trug die Koffer aus der Diele ins Zimmer. Nur den mit den Reiseutensilien ließ er zurück. Er schlug die Zimmertür zu und nahm den Regenmantel vom Kleiderhaken. Da klingelte im Zimmer das Telefon. Vielleicht rief man aus der Garage an. Der Apparat schnarrte und verstummte. Dann kam das Rufzeichen wieder. Leon stürzte hin und nahm den Hörer ab. Liliane rief an. Damit hatte er nicht gerechnet. „Leider habe ich keinen Wagen. Ich gehe selbst zu Fuß. Ja… Ich war schon draußen… Warten Sie, irgendwas fällt mir bestimmt ein.“ Terzie hörte eine flehentliche, kindliche Stimme. Sie erregte ihn. „Ich hab’s. Wir fahren zusammen nach Saint-Nazaire. Sie verstehen nicht? Saint-Nazaire, mit dem Zug… Hauptsache, erst mal aus Paris herauskommen. Von dort werden Sie schon nach Falaise gelangen… Also abgemacht! Von wo aus telefonieren Sie?… Von zu Hause?… Ich hole Sie gleich ab.“ „Aber meine Kleine ist nicht bei mir. Ich muß sie erst holen.“ „Wo?“ „Nicht weit von der Metro…“ Liliane nannte die Station.
„Das macht die Sache komplizierter. Wir haben nur eine Stunde Zeit… Also gut, fahren Sie hin und erwarten Sie mich am Ausgang der Metro. Nur recht schnell!“ Terzie legte den Hörer auf. Über sein Gesicht glitt ein zerstreutes, weiches Lächeln. Die Arme! Er mußte ihr helfen. Leon überquerte den Platz vor seinem Haus und betrat die Metro. In fünfundfünfzig Minuten ging der Zug nach SaintNazaire. Würden sie es schaffen? Liliane erwartete ihn ungeduldig an der Endstation. Als er aus der Metro kam, erblickte er sie sofort. Den Kopf hin und her reckend, stand sie neben dem Ausgang und suchte ihn mit den Augen in der herausströmenden Menge. Eine schwarze Locke hatte sich unter dem Hut hervorgestohlen. Auf ihrem Gesicht spiegelten sich die Gefühle, die sie bewegten: Hoffnung, Furcht und Verzweiflung. Als sie ihn entdeckt hatte, stürzte sie auf ihn zu. „Endlich! Ich bin Ihnen ja so dankbar!“ „Gehen wir. Wo ist die Kleine?“ „Dort!“ An Fußgängern und Handwagen vorbeidrängend, hastete Liliane den Bürgersteig entlang. Leon vermochte ihr kaum zu folgen. Das Auto stand noch an derselben Stelle, mit nach außen gebogenen Rädern und verbeultem Kotflügel. Monsieur Boisson saß apathisch auf dem Trittbrett. „Papa, ich fahre mit dem Zug nach Saint-Nazaire. Zusammen mit Helene… Monsieur Terzie hilft uns… Hier ist es zu schrecklich! Helene darf nicht in Paris bleiben… Und du? Geht der Wagen zu reparieren? Ich lasse dir für alle Fälle die Wohnungsschlüssel da, vielleicht wirst du dorthin zurückkehren müssen. Du mußt eine Werkstatt suchen.“
Während Liliane sprach, griff sie nach ihrem Gepäck. Es bestand aus einem Köfferchen mit Helenes Sachen, in die sie ein paar Kleidungsstücke von sich hineinstopfte. Der Weinhändler stand neben der Fahrerkabine. „Ja, ja, natürlich, fahr nur… Irgendwie werden wir auch hinkommen.“ Aus seinen Worten klang alles andere als Zuversicht. „Von Saint-Nazaire, Papa, kommt man leichter nach Falaise. Ich werde eher dort sein als du. Tante Garbaud, geben Sie mir Helene.“ Liliane sah den Vater an, und das Herz tat ihr weh vor Mitleid. Sollte sie vielleicht doch bleiben? Aber der Egoismus der Mutter war stärker als das Mitleid. „Bist du mir auch nicht böse, Papa?“ „Nein, nein! Natürlich fährst du… Von Le Mans geht zu uns ein Zug. Von Saint-Nazaire aus ist es weiter… Was sollen wir nun tun?“ Monsieur Boisson stand da, mutlos, mit herabhängenden Armen, neben ihm Leon, der vor Ungeduld verging. Endlich verabschiedeten sie sich. Leon nahm die beiden Koffer. Nunmehr bahnte er den Weg durch den Menschenstrom, der ihnen entgegenkam. Liliane folgte ihm mit dem Kind auf dem Arm. Erst im Wagen der Metro fragte sie: „Wohin fahren wir?“ „Zum Gare de Lyon. Wenn wir’s nur noch schaffen.“ „Wie dankbar ich Ihnen bin, Monsieur Terzie!“ Vier Minuten waren bis zur Zugabfahrt verblieben, als Terzie und Liliane auf dem Bahnhofsplatz ankamen. Zum Eingang vorzudringen, war unmöglich. Leon führte Liliane zur Seite, an den Wartenden vorbei. Sie liefen fast. Von überall verfolgten sie scheele, feindliche Blicke: Das waren doch gewiß
wieder welche, die sich außer der Reihe durchschmuggeln wollten! Der Kontrolleur ließ Leon, der seinen Passierschein in der Hand hielt, durch, wollte aber Liliane anhalten. „Sie gehört zu mir!“ rief Terzie. „Wir fahren im britischen Wagen!“ Liliane sah den Kontrolleur flehend an. Der Eisenbahner winkte mit der Hand – na los, durch. Er hatte zwei Tage nicht geschlafen. Engländer interessierten ihn nicht, mochten sie reisen, wohin sie wollten, die Verbündeten… Der Zug stand am Bahnsteig, aus ältesten Wagen zusammengesetzt. Es waren die letzten, die sich im Wagenpark noch hatten auftreiben lassen. Züge nach Paris fuhren nicht mehr. Der Sonderwagen für Engländer war überfüllt. Alle Abteile hatten Außentüren, und den ganzen Wagen entlang lief, in gleicher Höhe mit den Rädern, ein Trittbrett. Aber die Türen waren verschlossen, offen war nur ein Eingang – über die Wagenplattform. Der Zugbegleiter, bereits stockheiser, suchte Ordnung zu halten. Ein Polizist half ihm zwar, dennoch hatten sich viele Franzosen in den Wagen gedrängt. Mit Mühe und Not zwängten sich Terzie und Liliane noch auf die Plattform. Der Zug fuhr mit Verspätung ab. Es dauerte noch über eine Stunde, bis er sich in Bewegung setzte. Wie immer auf Reisen, wenn Bündel, Koffer, Körbe und Pakete verstaut sind, gab es im Wagen bald mehr Luft. Liliane konnte im Abteil des Zugbegleiters unterkommen, den die Fahrgäste daraus verdrängt hatten. Ihr wurde ein Platz an der Tür eingeräumt. Sogleich knöpfte sie ihr Mieder auf und begann ihr Kind zu stillen. Die Brust verdeckte sie mit dem Rand der Windel.
Leon gab sich redlich Mühe wegzuschauen, aber er saß nun einmal auf seinem Koffer der jungen Frau gegenüber, und durch die Wäschespitzen schimmerte ihre Haut. Hinter Versailles kam der Zug zum Stehen. Es hieß, die Deutschen bombardierten die Strecke. Man saß still da oder unterhielt sich halblaut über nebensächliche Dinge. Dann ruckte der Zug wieder an, blieb aber auf einer anderen Station wieder stehen. Bei jedem Halt stürzten sich Flüchtlinge, die Paris zu Fuß verlassen hatten, auf den Zug. Verzweifelt trommelten sie mit den Fäusten an die verschlossenen Türen, flehten um Einlaß. Man öffnete ihnen nicht. Die Menschen drinnen waren nicht wiederzuerkennen. Hartherzig verwies man die Einlaßbegehrenden auf andere Wagen – hier sei alles besetzt. Die Fahrgäste waren sich in ihrem Egoismus einig. Längst waren die in Paris beim Einsteigen entstandenen Streitigkeiten beigelegt. Nur ein bejahrter Engländer, der mit seiner Frau, einem halben Dutzend Koffer und einem schwarzen Pudel im gleichen Abteil fuhr, meckerte, man verletze seine diplomatische Unantastbarkeit, Krethi und Plethi hätten sich in den Wagen eingeschlichen. Ein Franzose, der im Gang saß, fragte ironisch: „Gehört Ihr Pudel auch zu den Diplomaten?“ Der Engländer warf ihm einen vernichtenden Blick zu und kehrte sich zum Fenster ab. Leon glaubte, ihn irgendwo bereits gesehen zu haben – es war wohl der Sekretär des Handelsattaches. Am Abend, als die dunkel gewordenen Felder und Bäume eine malachitgrüne Tönung annahmen, hielt der Zug auf offener Strecke. Langgezogen ertönte die Dampfpfeife. In der Nähe hörte man Einschläge. Ein Luftangriff. Der Lokführer
hatte in voller Fahrt gebremst. Alle waren übereinandergepurzelt und dann in panikartiger Furcht zum Ausgang gestürzt. Im Nu war der Wagen leer. Wie vor der Pest, wie vor einem brennenden Pulvermagazin, floh man, stolpernd, stürzend, furchtsam zum Himmel aufblickend und wieder atemlos weiterhastend. Leon half Liliane vom Trittbrett. Er sah ihre vor Entsetzen geweiteten Augen. „Geben Sie mir das Kind!“ Das warme, federleichte Bündel an die Brust gedrückt, lief er voran und zog mit der anderen Hand Liliane, die ihm kaum folgen konnte. „Vorsichtig!“ schrie Liliane wie von Sinnen. Sie fürchtete, Terzie könnte das Kind fallen lassen oder verletzten. Leon beobachtete das Flugzeug, das über ihren Köpfen dröhnte. Der Jagdbomber brauste im Tiefflug über den Zug hinweg und schwang sich wieder in die Höhe. „Ohne Bomben… Der will uns nur Angst einjagen…“ Er wandte sich nach Liliane um, die bleich und keuchend hinter ihm stand. „In Spanien haben sie es genauso gemacht… Seien Sie ruhig, der ist weg.“ Dann saßen sie in einem dichten Weizenfeld, von der Welt durch ein Meer smaragdgrüner Halme getrennt. Liliane schöpfte tief Atem. Sie nahm das Kind. Ihr Gesicht hatte sich wieder gerötet, auf die mit dunklem Flaum bedeckte Oberlippe waren winzige Schweißperlen getreten. Wie schön sie ist! fuhr es ihm durch den Kopf. Ihm wurde heiß ums Herz, Die Reisenden strömten zum Zug zurück. Helene, die die Berührung der mütterlichen Hände fühlte, hatte sich beruhigt und
schrie nicht mehr. „Das war unsere Feuertaufe“, versuchte Terzie zu scherzen. „Gehen wir!“ Auf dem Weg zum Zug fragte er: „Was werden Sie weiter machen?“ „Ich weiß nicht. Ich fürchte mich, allein zu bleiben.“ Leon betrachtete ihr Profil, die eigenwillige Stirn, das wirre Haar, das sie mit der Linken ordnete. Nein, keine Macht würde ihn bewegen, sie jetzt allein zu lassen! Wie als Antwort auf seine Gedanken sagte Liliane: „Mir ist, als sei ich schon sehr, sehr lange mit Ihnen zusammen. Was hätte ich ohne Sie getan?“ „Sie wollen also nach Falaise?“ „Ich weiß nicht. Allein fürchte ich mich sehr.“ „Ich begleite Sie.“ „Aber Sie fahren doch nach Saint-Nazaire und weiter nach England.“ „Darauf pfeife ich!“ Er machte eine unbekümmerte Geste. „Aber vielleicht fahren wir umgekehrt zusammen nach SaintNazaire? Auf dem Schiff findet sich auch noch für Sie ein Platz.“ „Wo denken Sie hin!“ Liliane nahm Terzies Worte nicht ernst. Die Dampfpfeife rief die Passagiere zurück. Es wurde kühl. Im Abteil fand man sich wieder zusammen. Jeder mied den Blick des anderen. Man schämte sich ein wenig der tierischen Angst, von der man sich hatte packen lassen. Ein graubärtiger Alter mit hohlen Wangen sagte, während er seinen Platz aufsuchte: „Im anderen Krieg war es nicht so.“
Was nicht so war, das sagte er nicht. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Die Reisenden schaukelten rhythmisch im Takt der Räder mit. Das beruhigte – man fuhr trotz allem wieder. Terzie neigte sich zu Liliane. „Wir kommen bald in Le Mans an. Entscheiden Sie sich.“ „Ich weiß nicht… Ich weiß wirklich nicht!“ Zum erstenmal sollte die junge Frau selbst über ihr Schicksal entscheiden. Weder der Vater noch Jules waren neben ihr, nur Terzie – er sah sie so seltsam an… Gleich mußte sie aussteigen – Le Mans war schon ganz nah. Und dann? Jetzt fuhr sie doch wenigstens einem bestimmten Ziel entgegen. Sie hatte sich schon an das monotone Stuckern der Räder, an die Mitreisenden, sogar an das Gemecker des Engländers gewöhnt. Der Stationsvorsteher nahm Liliane die Entscheidung ab. Leon steckte den Kopf zum Fenster hinaus und fragte ihn, wann ein Zug nach Falaise gehe. „Seit zwei Tagen gehen keine mehr. Wir nehmen nur ankommende Züge an. In Falaise sollen schon die Deutschen sein.“ Der Stationsvorsteher ging zur Lokomotive. In der Hand hielt er eine Lampe mit blauem Glas. Es war dunkel geworden. Auf dem Bahnhof wimmelte es von Flüchtlingen. Liliane sah sich im Geist zwischen ihnen, verlassen, allein, mit Helene im Arm. Nein, nein! Gereizt dachte sie an ihren Mann: Wie hatte er sie nur allein lassen können! „Gut“, entschied sie, „fahren wir nach Saint-Nazaire. Und dann?“ „Das wird sich finden.“
Leon ertappte sich dabei, daß er im Grunde seines Herzens mit der Antwort des Stationsvorstehers zufrieden war. Je näher man der Porte d’Orleans kam, desto dichter wurde der Strom der Kraftfahrzeuge, die sich vorwärtsschoben, um aus Paris herauszukommen. Und je mehr sich der Strom verdichtete, desto langsamer kam Benoit voran. Die Wagen krochen, Boulevards und Straßen ausfüllend, in mehreren Reihen dahin. Benoit dachte ärgerlich: Ich hätte früher wegfahren müssen. Warum konnte Liliane auch nicht rechtzeitig fertig sein! Zeit hatte sie doch weiß Gott genug. Die Wagenkolonne schob sich über einen breiten Platz. Quer über ihn hin standen Autobusse, ragten Pflöcke und Spitzpfähle empor. An mehreren Stellen durchschnitten ihn tiefe Gräben – man erwartete die Absetzung deutscher Luftlandetruppen. Solche Straßensperren hatte Benoit schon auf den Champs-Elysees gesehen. Dort hatte es noch einen Sinn gehabt, Straßensperren zu errichten, um deutschen Flugzeugen die Landung zu verwehren. Aber hier? So ein Unsinn! Wozu sollten die Deutschen noch Truppen aus der Luft absetzen? Sie standen ja ohnehin nur noch wenige Meilen von der Stadt entfernt, fast im Bois de Boulogne. Paris war doch zur offenen Stadt erklärt, wozu also den Verkehr erschweren? Benoit vertrat dieselbe Ansicht wie sein Schwiegervater. Die Regierung hatte schon richtig gehandelt – jede Verteidigung konnte zur Zerstörung der Stadt, zur Vernichtung ihrer Bauwerke führen. Es war aufreizend, wie langsam die Autos sich bewegten. Fast nach jedem Meter wurde haltgemacht. Benoit stellte nach der Uhr fest: In vierzig Minuten waren sie einen halben
Kilometer vorwärts gekommen. Er öffnete den Wagenschlag. Eine unerträgliche Hitze! Zwei junge Mädchen gingen vorbei. Die eine kam ihm bekannt vor. Ja, natürlich – Grisette, die Verkäuferin aus dem Blumenladen. Die Mädchen lächelten kokett. „Monsieur Benoit, nehmen Sie uns mit?“ Benoit musterte sie abschätzend – Grisette war sympathischer als die andere, hatte ein nettes Figürchen, ein frisches Gesicht. Die andere war weniger niedlich und dazu älter. „Leider ist nur noch ein Platz frei. Steigen Sie ein.“ Grisette schlüpfte in den Wagen. Durchs Fenster zwitscherte sie der Freundin zu: „Liebste, sei mir nicht böse! Monsieur Benoit ist so liebenswürdig…“ Die Freundin zuckte schmollend die Achsel und ging weiter. „Ulkige Nudel! Sie scheint beleidigt zu sein. Wie dumm von ihr… Darf ich das Köfferchen hinten hinstellen? Da haben wir’s bequemer.“ Grisette fand sich sofort in die Rolle der einzigen Begleiterin. Sie kokettierte und schwatzte ohne Unterlaß. Von der allgemeinen Panik war sie nicht im geringsten angesteckt. Nachdem sie ein paar Meilen vorangekommen waren, gab es einen erneuten unfreiwilligen, diesmal anscheinend längeren Halt. Sie beschlossen zu frühstücken. Grisette entfaltete im Gras an der Straße eine Serviette und packte ihre belegten Brote aus; dazu öffnete sie eine Büchse Sardinen und stellte eine Thermosflasche mit Kaffee und eine Flasche Wein hin Jules hatte ein paar Flaschen mitgenommen. Ihre Rolle bereitete ihr sichtlich Vergnügen. „Nicht wahr, sehr nett so? Wie ein kleines Picknick. Wenn
nicht Krieg wäre… Sagen Sie, Monsieur Benoit, was wollen die Deutschen eigentlich?“ Sie plauderten noch nett und waren gerade mit ihrem Mahl fertig, als deutsche Flugzeuge auftauchten. Benoit und Grisette konnten gerade noch ein Stück von der Straße fortlaufen, da ertönten Detonationen. Splitter pfiffen durch die Luft, eine heiße Welle strich über den Erdboden hin und versengte ihn. Wagen loderten in Flammen auf, Getroffene brachen zusammen, Verwundete stöhnten. Ein Greis, dem die Beine weggerissen waren, stützte sich auf die Arme und versuchte zu kriechen. Zwischen ihr Auto und die Serviette, wo noch eben Grisette gesessen hatte, war eine Bombe gefallen. Dort gähnte jetzt ein Trichter. Aus dem umgeworfenen Wagen schlugen Flammen. Grisette brach in Tränen aus. „Mein Koffer! Da waren alle meine Sachen drin… Ach, wäre ich doch lieber nicht mit Ihnen gefahren!“ Einige Meilen legten sie zu Fuß zurück. Grisette beruhigte sich, nur die angeschwollenen, roten Augen erinnerten an die überstandenen Aufregungen. Sie holte aus dem Handtäschchen einen Spiegel hervor, zog die Lippen mit Karminrot nach und puderte sich das Naschen. Grisette ließ sich von keinem Erlebnis lange beeindrucken. „Ich hatte mich so erschrocken, so erschrocken, Monsieur Benoit! Was werden wir jetzt machen?“ Sie waren gerade durch ein in Gärten gebettetes Dorf gekommen. Da rief jemand: „Jules, Teuerster, welch ein Wiedersehen! Sie auch hier? Nun bin ich ruhig. Sie sind mein Schutzengel.“ Gräfin de Chatigne stand auf der Straße und lächelte Jules zu. Auch ihr Gesicht war verweint. Der lila Hut mit zurück-
geschlagenem Schleier und der schwarze Umhang machten es noch bleicher, als es sonst schon war. Jules hatte die Gräfin seit einem halben Jahr nicht gesehen. In dieser Zeit war sie noch mehr gealtert und abgemagert. Die Gräfin streckte Jules die Hand zum Kuß hin. „Ich bin so hilflos. Mein Schofför ist verschwunden… Sehen Sie nur, was man mit meinem Wagen gemacht hat.“ Der luxuriöse Cadillac stand halb im Chausseegraben. Man hatte ihn dahineingeschoben, damit er den Verkehr nicht aufhalte. „Sie sind ohne Wagen? Verbrannt ist er? Wie schrecklich! Fahren wir zusammen… Gehört dieses Mädchen zu Ihnen? Sie Schelm! Ich kenne Sie. Nun, warum nicht, in einer solchen Zeit muß einer dem andern helfen… Ach, was mache ich nur? Ich muß den Schofför suchen. Er ist ins Dorf gegangen. Eine geschlagene Stunde ist er schon fort. Und ich kann doch nicht weg – sie stehlen einem noch die letzten Sachen… Jules, mein Lieber, bleiben Sie doch hier. Ich versuche inzwischen, ihn zu finden.“ Mme. de Chatigne ging hastig zum Dorf zurück. Jules setzte sich ans Steuer, Grisette neben ihn, und er fuhr den Wagen auf den Straßenrand. Es gelang ihm, sich in die Kolonne einzureihen. Irgendwo brummten Flugzeuge. Von neuem entstand eine Panik. Dicht aneinandergedrängt, schoben sich die Wagen weiter. Benoit bremste und sah sich nach Mme. de Chatigne um, konnte sie aber nirgends entdecken. Hinter ihm drängte, hupte, schimpfte man – der Cadillac hielt die anderen auf. Er mußte weiter. Ich werde ein Stückchen vorfahren, dachte Jules. Aber einmal im Strom, konnte er nicht mehr anhalten. Übrigens verspürte er auch keine allzu große Lust
dazu. Der Schreck steckte ihm noch gehörig in den Gliedern. Die eine Bombe langte ihm. Gott sei Dank war er diesmal noch heil davongekommen. Der Teufel hole die alte Schraube! War ja selber schuld daran. Wird schon irgendwie weiterkommen. Hätte ohnehin nur im Chausseegraben gesessen. Jetzt paßte wenigstens jemand auf ihre Sachen auf. Benoit rollte, vom Strom der Wagen fortgezogen, bald schneller, bald langsamer, in Richtung Orleans weiter. Die Gedanken an Mme. de Chatigne verscheuchte er. In solchen Zeiten waren Gewissensbisse nicht angebracht. Zur Nacht kamen sie in Tours an. Die Stadt war überfüllt. Allerorts, auf den Plätzen, in den Torbögen der mittelalterlichen Häuser und in den städtischen Anlagen, saßen und lagen Flüchtlinge. An ein Hotelzimmer war nicht zu denken. Aber Benoit hatte wieder einmal Glück – eine Etagenkellnerin trat ihm ihr Stübchen ab. Ein Redakteur hatte ihm das vermittelt. Die Kollegen aus der Zeitung hatten schon Tage zuvor drei Zimmer im obersten Stockwerk gemietet. Mit leerem Magen gingen sie zu Bett. Grisette zog sich aus und schlüpfte unter die Decke. Sie hielt sich ihrem Wohltäter gegenüber, der sie auf der Straße aufgelesen hatte, für verpflichtet. Am Morgen gingen sie frühstücken. Sie setzten sich an einen großen Tisch. In dem Cafe gab es nichts außer Kaffee ohne Sahne. Benoit traf Kollegen, mit denen er Neuigkeiten austauschte. Italien habe den Krieg erklärt. Churchill sei mit bestimmten Vorschlägen nach Tours unterwegs. Eine Regierungssitzung stehe bevor. Die Minister hätten sich bereits in der Mairie versammelt. In der Tür erschien Laval, einstmaliger Ministerpräsident.
Untersetzt und kantig, mit olivenfarbenem Gesicht und wulstigen Lippen. Sein Anzug war zerknüllt, die Krawatte aber blendendweiß wie das Servierschürzchen einer Kellnerin. Den Raum betretend, blickte er um sich. Er fand keinen Platz - alles war besetzt. Neugierige Journalisten umringten ihn. Er sprach langsam, hielt beim Sprechen die schweren Augenlider halb geschlossen und zeigte seine vom Rauchen gelben Zähne. Jules Benoit hatte diesen Mann mit dem grobschlächtig verschlagenen Aussehen immer beneidet. Das war ein Politiker! Die politische Karriere hatte ihm Millionen Franc eingebracht. Er war zwar nicht mehr Regierungschef und nicht mehr Minister, aber dafür Besitzer mehrerer Provinzzeitungen und Großaktionär der Mineralquellen von Vichy. Das war gewinnbringender als ein Ministerportefeuille. Jules ließ Grisette sitzen und gesellte sich der Gruppe zu, die Laval umringte. Der ehemalige Ministerpräsident sprach selbstbewußt und dehnte die Worte: „Hätte man auf meinen Rat gehört, wäre alles anders gekommen. Ich bin immer für eine Verständigung mit Deutschland und Italien eingetreten. Man durfte den Bolschewisten keine Avancen machen. Jetzt bezahlen wir dafür. Man kann ja nicht mal eine Tasse Kaffee trinken.“ Er nickte zu dem nächsten Tisch hin. „Wie die Hasen laufen wir davon. Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, meine Herren, man muß Hitler um Frieden bitten.“ An Laval drängte sich ein älterer bebrillter Herr im grauen Anzug heran. „Sind Sie Monsieur Laval?“ fragte er. „Ja“, entgegnete der einstige Ministerpräsident obenhin.
„Da – für Frankreich! Verräter!“ Eine Ohrfeige klatschte. Laval hielt sich die Backe und wich erschrocken zurück. Im Tumult konnte der Mann im grauen Anzug entkommen. Später hieß es, sein Sohn, ein Flieger, habe vor ein paar Tagen bei Cambrai den Tod gefunden. Aus dem Cafe begaben sich die Herren in die Mairie. Man war empört über den Zwischenfall – ein Skandal, die Linken erhoben das Haupt! Grisette faßte Jules unter. „Ich werde im Hotel warten.“ „Gut“, antwortete er zerstreut. „Wir werden zusammen Mittag essen.“ Jules stürzte sich in die gewohnte Atmosphäre der politischen Gerüchte, Mutmaßungen und Kombinationen. Grisette existierte für ihn nicht mehr. Das Rathaus – ein ehrwürdiger, alter Bau – befand sich in nächster Nähe, man brauchte nur über den Platz zu gehen. Hier trat die aus Paris geflohene Regierung neu zusammen. Die Sitzung des Kabinetts hatte bereits begonnen. Weygand, der sich verspätet hatte, ging sorgenschwer durch die Empfangshalle. Die Journalisten bestürmten ihn mit Fragen. „Die Lage ist kompliziert geworden“, sagte Weygand mit tragischer Miene, während er sich zur Tür hindurcharbeitete. „In diesen Minuten entscheidet sich das Schicksal Frankreichs. Die Roten wollen uns einen Dolchstoß versetzen. Maurice Thorez hat in Paris einen Aufstand entfacht. Die Kommunisten haben das Palais de l’Elysee besetzt. Das ist gefährlicher als der Einfall der Deutschen.“ Der Oberbefehlshaber verschwand hinter der Tür. Die Journalisten standen niedergeschmettert da. Das war ja
eine tolle Neuigkeit! Bald danach kam Innenminister Mandel aus dem Sitzungssaal gestürzt. Er hastete zu dem einzigen, veralteten Telefon; nur dieser eine klapprige Kasten verband die Regierung mit Paris. „Den Polizeipräfekten!“ schallte es aus dem Zimmer, in dem Mandel verschwunden war. Eine spannungsvolle Pause trat ein. Die Telefonistin stellte den Anschluß her. Kein Laut unterbrach die Stille. Wieder erschallte die Stimme des Ministers: „Monsieur Langeron? Hier Mandel. Wie ist die Lage in der Stadt?… Unverändert?… Was heißt unverändert? Ich verfüge über Nachrichten von einem Aufstand der Roten. Thorez soll das Palais de l’Elysee besetzt haben… Was, eine Erfindung? Sind Sie dessen sicher?… Wie, wie?… Sie sprechen selber aus dem Palais de l’Elysee?… Ich danke Ihnen. Ich habe es sehr eilig.“ Der Minister hängte den Hörer an und kehrte raschen Schrittes in die Kabinettssitzung zurück. Weygand sprach noch. Er suchte die Minister zu überzeugen, daß sich eine nationale Katastrophe nur abwenden ließ, wenn man Hitler um Frieden bat. Der Oberbefehlshaber argumentierte mit der hoffnungslosen Lage an der Front. Die englischen Truppen hätten Dünkirchen verlassen. Das bedeute die Katastrophe. Frankreich sei schutzlos. Die Kommunisten nützten die nationale Not aus und entfesselten den Aufstand. Er wiederhole: Thorez ist im Palais de l’Elysee. Man müsse Truppen von der Front abziehen und sie gegen die Roten werfen. Man müsse das drohende soziale Chaos entschlossen verhüten. Der Kommunistenaufstand schreckte die Minister am mei-
sten. Der Oberbefehlshaber hatte schon recht, man durfte das Land nicht in die Anarchie stürzen. Die Roten würden das geheiligte Privateigentum antasten. „Meine Herren Minister!“ unterbrach Mandel die Rede des Oberbefehlshabers. „In Paris herrscht Ruhe. Die Gerüchte von einem Aufstand sind erfunden. Ich habe soeben mit dem Polizeipräfekten gesprochen.“ Weygand kehrte sich ärgerlich zu Mandel um. Den sollte der Teufel holen! Ihm derart ins Handwerk zu pfuschen! Daß er aber auch an so eine einfache Sache nicht gedacht hatte, die Verbindung mit Paris zu unterbrechen, dieses einzige Telefon außer Betrieb zu setzen. Überzeuge jetzt einer noch diese Hammel davon, daß es keinen Sinn hat, den Krieg weiterzuführen! Weygand dachte geringschätzig von den Ministern. Er hatte gehofft, in dem allgemeinen Durcheinander die Macht an sich zu reißen, die Diktatur errichten zu können. Faschismus in Frankreich – das wäre keine schlechte Sache gewesen. Mandel hatte alles verpatzt. Ein mächtiger Lärm erhob sich. Die Minister schrien durcheinander, einer fiel dem andern ins Wort. Der Ministerpräsident schlug vor, die Sitzung zu unterbrechen. Er sah ungeduldig auf die Uhr – jeden Augenblick mußte Churchill eintreffen. Vielleicht würde Churchill die Lage klären können. Der britische Premier flog zum vierten Mal in den letzten drei Wochen nach Frankreich. Sein „Flamingo“ landete nur mit Mühe auf dem trichterbesäten Flugplatz in der Nähe von Tours – am vorhergehenden Abend hatten ihn die Deutschen mit Bomben belegt. Diesmal war niemand auf dem Flugplatz
zur Begrüßung des Premiers erschienen, man ließ ihn nur mit dem Auto abholen. Im Rathaus empfing Reynaud den Premier mit den Worten: „Mister Churchill, ich bin für die Fortsetzung des Krieges. Aber wenn ich aus der Regierung ausscheiden muß…“ „Warum so pessimistisch? Noch führen wir Krieg, Monsieur Reynaud! Denken Sie an Clemenceau“, suchte Churchill den französischen Ministerpräsidenten aufzumuntern. „Vor einem Vierteljahrhundert war doch dieselbe Lage. Und Clemenceau sagte: ,Ich werde zusammen mit den Parisern auf den Zugangswegen, in der Stadt und hinter ihr kämpfen.’ Paris muß verteidigt werden!“ Marschall Petain antwortete mutlos: „Clemenceau hatte damals sechzig Divisionen in Reserve. Damals kämpften in Frankreich sechzig englische Divisionen. Wo sind sie jetzt?“ Churchill wußte, daß Petain auf Dünkirchen anspielte. Er tat, als hätte er nicht verstanden. „Wir erfüllen unsere Alliiertenpflicht bis zum Schluß. Man darf sich von den Wechselfällen des Krieges nicht beeinflussen lassen, entscheidend ist das Endziel – der Sieg.“ Die sonore Stimme Churchills hallte unter der Gewölbedecke des Saales wider. Er war ein gewandter Redner und ließ alle seine Redekünste spielen, um die Franzosen zu überzeugen und ihnen den Gedanken einzuflößen, daß sie weiterkämpfen mußten. Vielleicht auch, um ihnen ein bißchen Angst einzujagen. Der Premier war mit dem Ziel hergekommen, Frankreich von der Kapitulation zurückzuhalten. „Was würden Sie dazu sagen“ – Churchill warf einen prüfenden Blick auf die französischen Minister –, „wenn man bei-
spielsweise eine französisch-britische Konföderation gründete? Wir würden Untertanen ein und desselben Staates sein. Die britische Krone bietet Frankreich ihren Schutz an. Wir wären alle Mitbürger eines Landes. In einem solchen Fall könnte Ihre Regierung ihr Domizil beispielsweise in Nordafrika aufschlagen. Von dort aus würde sie den Kampf leiten, den Kampf bis zum Sieg.“ Paul Reynaud behagte eine derartige Perspektive gar nicht. Die britische Krone oder Hitlers Stiefel – darin sah er keinen großen Unterschied. Dennoch antwortete er ausweichend: „Das ist ein interessanter Vorschlag, man muß ihn studieren.“ Weygand wandte sich an Churchill: „Können Sie uns Ihre Jagdflugzeuge schicken? Sie haben doch in England nichts zu tun.“ „Hm… Sehen Sie, mein lieber Oberbefehlshaber, wir kämpfen für eine gemeinsame Sache, in unseren Beziehungen darf es auch nicht einen Schatten von Egoismus geben. Aber gerade im Interesse unserer gemeinsamen Ziele bin ich verpflichtet, Ihnen eine Absage zu erteilen, so schwer es mir auch fällt. Ich glaube“ – Churchill legte in diese Worte seine ganze Überzeugungskraft – , „ich glaube, daß der kritische Moment des Krieges noch nicht gekommen ist. Er wird eintreten, wenn Hitler England zu überfallen wagt. Was werden wir dann der Gefahr einer Invasion entgegensetzen? Nein, die Luftstreitkräfte vorher verausgaben, wäre unüberlegt gehandelt. Übrigens, bei meiner vorigen Anwesenheit informierte ich Sie über die Evakuierung der französischen Truppen. Seit jener Zeit sind auf britischen Schiffen noch sechsundzwanzigtausend französische Soldaten weggeschafft worden. Damit sind einundvierzigtausend Bajonette sichergestellt.“
„Und im ganzen?“ interessierte sich Reynaud. „Rund dreihundertfünfzigtausend. Dünkirchen – das ist unser Sieg. Hitler hat sein Ziel nicht erreicht. Ich spreche nicht von den schweren Waffen. Die sind den Deutschen in die Hände gefallen. Das ist ein Grund mehr, weswegen wir mit unseren Reserven sparsam umgehen müssen“, wandte sich Churchill an Weygand. Petain rechnete nach: Die evakuierten französischen Truppen machten nur wenig mehr als zehn Prozent aus. Es trat ein verlegenes Schweigen ein. Churchill fühlte, er hätte davon nicht sprechen dürfen. „Wie mir mitgeteilt wurde, haben die französischen Truppen keinen Evakuierungsbefehl erhalten. Sie befanden sich in Feindberührung. Wir hätten mehr Leute wegschaffen können.“ Petain schwieg eine Weile, dann sagte er: „Trotzdem müssen wir um Waffenstillstand bitten. Wir sind nicht imstande, Widerstand zu leisten.“ „Verzeihen Sie, Marschall, aber ich bin nicht befugt, Frankreich von seinen Verpflichtungen zu entbinden.“ In das Gespräch griff jetzt General Spears ein, der Begleiter des britischen Premiers, ein englischer Offizier, straff und markant, mit dem Verwundetenabzeichen aus dem ersten Weltkrieg. Spears, Mitglied des britischen Parlaments, war mit einem höchst delikaten Sonderauftrag nach Tours gekommen. „Die Kapitulation Frankreichs würde Blockade bedeuten.“ Spears trat vom Fenster weg. „Ich sage noch mehr: nicht nur Blockade, sondern auch Bombardierung der von den Deutschen besetzten Häfen.“
Churchill suchte die Drohung abzuschwächen – man durfte das nicht so direkt sagen. „Ich hoffe, dazu wird es nicht kommen. Wir werden den Kampf gemeinsam fortsetzen. Wir stehen treu zur Bündnispflicht.“ Bei sich dachte er: Es wird allerdings genau so sein, wie Spears gesagt hat. Welche Ironie des Schicksals: Die Marschälle übergeben Hitler ihre Länder – erst Hindenburg in Deutschland, dann Petain in Frankreich. Churchill hatte an dem weiteren Gespräch kein Interesse mehr. Er spürte, daß seine Mission mißlungen war. General de Gaulle trat ein, ein hochgewachsener, hagerer Mann. Man begrüßte sich. Churchill warf Spears einen Blick zu – es galt zu handeln, wie sie beschlossen hatten. Er wandte sich freundschaftlich an de Gaulle. Der General war kurz zuvor stellvertretender Kriegsminister geworden. „Wie ist Ihre Meinung, mein General?“ „Ich verehre Julius Cäsar und Alexander den Großen. Sie ließen sich nicht von Zweifeln quälen.“ De Gaulle sprach in kurzen Sätzen, als wenn er sie mit dem Säbel abhackte. „Wir müssen kämpfen.“ „Angenehm, eine nüchterne und mannhafte Stimme zu hören. Ich danke Ihnen!“ Churchill reichte ihm die Hand. Man trennte sich herzlich. Reynaud versprach, den Widerstand fortzusetzen. Aber jeder wußte – das war die letzte Zusammenkunft; mit der Waffenbrüderschaft war es vorbei. Beim Abschied sagte Churchill, sich an Reynaud wendend: „Als Verbindungsmann möchte ich General Spears bei Ihnen lassen. Falls erforderlich, wird er einige Tage hierbleiben.“ Zwei Stunden später war Churchill in London. Der Flug nach Tours hatte ihn ermüdet, dennoch diktierte er seiner Stenoty-
pistin vor dem Schlafengehen folgende Notiz für sein Tagebuch: „Aus Tours zurückgekehrt. Habe dort mein altes Lied gesungen – wir werden kämpfen, unabhängig davon, was geschieht oder wer aus dem Kampf ausscheidet…“ Erst am dritten Tag kam der Zug in Saint-Nazaire an. Liliane, die nach qualvollem Schwanken die Fahrt nach Falaise aufgegeben hatte, folgte jetzt Leon ohne Bedenken. Sie waren auf dem Weg zum Hafen. Liliane trug die kleine Helene, Terzie die Koffer und ihre Handtasche. Sie mußten zu Fuß gehen – in der Stadt war weder eine Taxe noch ein Privatwagen aufzutreiben. Liliane, ganz entkräftet von dem unablässigen Sirenengeheul, den Greuelgeschichten und Bombenangriffen, ging schweigend neben Terzie. Sie dachte weder an sich selbst noch an den Vater, an Jules oder Paris. Alles in ihr war kalt und leer, alles schien in weite Ferne entrückt. Ihr einziger Gedanke galt der kleinen Helene. Unter einem Straßenlautsprecher blieben sie stehen. Leon massierte sich die vom Tragen steifgewordenen Finger. Aus dem Lautsprecher schallte die Stimme des Ansagers. Die Deutschen rückten erneut auf Paris vor, die Stadt war wieder bedroht. Reynaud hatte sich an Roosevelt mit der Bitte um Hilfe gewandt. Die Antwort wurde stündlich erwartet. Unterhalb des Mastes mit dem matt-silbrigen Trichter sahen sich die Menschen an. In ihren Augen leuchtete ein Hoffnungsstrahl. Sie warteten noch immer auf ein Wunder. Riesigen Hutschachteln ähnlich, standen am Ufer der Loire in langen Reihen Öltanks, die in der Sonne blitzten. Ebenso hell und gleißend lag an der Anlegestelle ein Liner, ein großes
Passagierschiff mit mehreren Decks. „Lancastria“ las Liliane am Bug des Schiffes. Doch zwischen ihnen und dem Liner erhob sich ein hohes eisernes Gitter. Niemand wurde durchgelassen. Das Hafentor war durch eine Polizistenkette gesichert. Auf dem Platz davor wogte ein Meer von Flüchtlingen wie in Paris vor dem Gare de Lyon. Immer wieder ertönten empörte Rufe. Terzie stand unschlüssig neben Liliane. Sich in dem Gewühl mit dem Kind zum Tor vorzudrängen war zu gefährlich. Da verbreitete sich das Gerücht, der Liner werde bald in See stechen. Die Menge geriet in Bewegung. Die Polizisten konnten ihrem Druck nicht mehr standhalten. Die Lawine brach durch das Tor und ergoß sich zur Anlegestelle. Eingezwängt zwischen heißen Leibern, wurden Terzie und Liliane mitgerissen. Der Strom trug sie dem Betonpfosten am Tor entgegen. Liliane erkannte als erste die drohende Gefahr. Gleich, gleich würde man sie mit dem Kind gegen den Pfosten drücken und Helene zerquetschen. Wild schrie sie auf. Unter Anspannung aller Kräfte suchte sich Leon dem Strom entgegenzustemmen. Für eine Sekunde, vielleicht auch nur den Bruchteil einer Sekunde, gelang es ihm. Das war die Rettung. Der Betonpfosten mit den hervorstehenden Türangeln und dem schweren Gitter des Eisentores glitt dicht an ihnen vorüber. Sie lösten sich aus dem Strudel, der sie eingesogen hatte. Sie waren am Kai. Die Polizisten schlossen das Tor. Zehn bärenstarke Männer stemmten sich mit den Schultern gegen die eisernen Torflügel und drängten die Menschen zurück. Dennoch waren viele zum Hafen durchgebrochen. Einander überholend, rannten sie zur „Lancastria“. Terzie und Liliane waren unter den letzten. Ein Polizist hielt
sie mit ausgebreiteten Armen auf. Terzie schrie ihm ins Gesicht, er habe einen Passierschein, einen englischen Ausweis. Aber der Polizist, der nicht mehr wußte, wo ihm der Kopf stand, brüllte ein ums andere Mal: „Ohne Passierschein kein Durchlaß! Ohne Passierschein kein Durchlaß!“ Liliane schlüpfte unter seinem Arm durch. Der Polizist wollte ihr nach, stürzte dann aber zur anderen Seite, wo sich jemand über das Gitter schwang. Die Glücklichen, die zur Anlegestelle vorgedrungen waren, kümmerte es nicht mehr, was hinter ihnen, am Tor, geschah. Sie belagerten den Liner. Die „Lancastria“ war nachts aus Plymouth eingetroffen. In der Frühe hatte sie begonnen, Passagiere aufzunehmen. Das Schiff war für britische Staatsangehörige bestimmt, die in diesen Tagen Frankreich verließen. Aber Furcht und Panik kennen keine Nationalität. Tausende Menschen, die die ganze Nacht über den Kai belagert hatten, füllten die Decks, Durchgänge und Schiffstreppen. Jetzt stürzten sich neue Hunderte Flüchtlinge gleich enternden Seeräubern auf die „Lancastria“. Die Matrosen warfen die Haltetaue von den Knechten ab. Ein flinker Schlepper hakte die Trosse ein, zog sie saitenstraff an und schleppte den Liner in die Flußmitte. Liliane, noch bleich von den überstandenen Schrecken, stand auf dem Bootsdeck, neben ihr Leon. Man hatte sie unweit einer mit Zeltplanen bedeckten Schaluppe gegen die Bordwand gedrückt. Morgen würden sie in Plymouth sein. Liliane atmete erleichtert auf: Immerhin – sie waren auf dem Schiff! Zum erstenmal in all diesen Tagen lächelte sie Terzie an.
Terzie suchte es Liliane bequemer zu machen. Er legte einen Koffer auf den anderen und schlug ihr vor, sich zu setzen. In der Hast, dem Geschrei und der Freude, doch noch mitgekommen zu sein, hatte niemand bemerkt, daß über dem Schiff deutsche Flugzeuge aufgetaucht waren. Sie flogen in geschlossener Kampfordnung und stießen plötzlich herab, mit ihrem Dröhnen die menschlichen Schreie übertönend. Eine Bombe schlug am Heck ein. Die Explosion erschütterte das Schiff. Eine zweite Bombe durchschlug die Decks bis hinab in den Maschinenraum. Tausenden Kehlen entrang sich ein Schreckensschrei. Der Liner blieb stehen und legte sich langsam auf die Seite. Ohne recht zu wissen, was er tat, dem Trieb der Selbsterhaltung folgend, hatte Leon einen Rettungsring gepackt und kletterte ein noch nicht eingezogenes Fallreep hinunter. Später konnte er sich nicht mehr erinnern, auf welche Weise Helene in seine Arme gelangt war, was er der ihrer Sinne nicht mehr mächtigen Mutter zugerufen und wie er sich ins Wasser gestürzt hatte. Wahrscheinlich hatte sein Bewußtsein nur wenige Sekunden ausgesetzt. Als er wieder zu sich kam, schwamm er mit einer Hand und hielt mit der anderen das Kind, das auf dem Ring lag. Helene schrie krampfhaft, das heißt, er sah den geöffneten zahnlosen Mund, hörte aber keinen Schrei. Dann fiel sein Blick auf Liliane, die sich an dem Ring festhielt. In ihren dunkel gewordenen Augen stand Entsetzen. Solche Augen, ganz starr, mit geweiteten Pupillen, haben gewöhnlich Irre. „Helene! Helene! Retten Sie Helene!“ flüsterten ihre bleichen Lippen. Das vernahm Terzie deutlich, aber die Worte drangen nicht in sein Bewußtsein.
Er erinnerte sich noch an unzählige Köpfe auf dem Wasser rings um das Schiff. Offene Münder und Wahnsinn in den Augen. Jemand klammerte sich an seine Schulter. Leon schluckte Wasser. Erbittert ringend, befreite er sich von der Umklammerung und schwamm weiter. Der riesige Rumpf der „Lancastria“ legte sich immer mehr auf die Seite. Immer höher hob sich der rote feuchte Schiffsboden aus dem Wasser. Dann durchschnitt von neuem das widerwärtige Pfeifen einer Bombe die Luft. Eine Sirene heulte. Flugzeuge bestrichen den Fluß mit Maschinengewehrfeuer. Langsam rückte das Ufer näher, fast war es schon erreicht. Leon wendete noch einmal den Kopf. Eine schwarze Rauchsäule stieg zum Himmel auf. Die Öltanks brannten. Als eine Feuerwoge überschwemmte das brennende Rohöl den Kai und ergoß sich, über das Wasser kriechend, in den Fluß. Die Loire wurde flammendrot. „Schneller, schneller!“ schrie er Liliane zu, so laut er konnte. In Wirklichkeit entrang sich seiner Brust nur ein heiseres Flüstern. Die Feuerwoge kroch auf den Liner zu, beleckte ihn und floß, die Menschen im Wasser erfassend, unaufhaltsam weiter. Rasch näherte sich das flüssige Feuer Liliane, ihm und dem Rettungsring. Seine Muskeln wurden kraftlos, schlaff… Für einen Augenblick setzte sein Gedächtnis wieder aus. Er kam erst wieder zu sich, als er mit den Füßen Grund berührte. Jemand half ihm ans Ufer. Er zog Liliane mit, die das Bewußtsein verloren hatte. Man trug Liliane in das Haus eines Zollbeamten und legte sie in ihren nassen Kleidern auf ein Bett. Leon stand daneben mit
dem Kind auf dem Arm, auch er naß und erschöpft. Die Hausfrau nahm sich der Kleinen an… Im Hafen von Saint-Nazaire kamen über dreitausend Passagiere der „Lancastria“ um. Winston Churchill verbot der Presse, über die Katastrophe zu berichten. 11 Als die Ereignisse in Europa ihren Höhepunkt erreicht hatten, schrieb Mussolini einen Brief an Hitler. Er war nervös geworden und wollte nicht länger warten. Besonders nach Dünkirchen. „Ich denke“, schrieb er, „daß Italien keine Zeit zu verlieren hat. Zutiefst erkenntlich bin ich Ihnen für Ihr Versprechen, mich über die Ereignisse auf dem laufenden zu halten. Ich möchte Ihnen meinerseits meinen unwiderruflichen Beschluß bekanntgeben, am 5. Juni“– Mussolini unterstrich das Datum – “ in den Krieg einzutreten. Das italienische Volk wartet mit Ungeduld darauf, Seite an Seite mit dem deutschen Volk gegen die gemeinsamen Feinde zu kämpfen. Italien hat siebzig kampffähige Divisionen. Zwölf davon jenseits des Mittelmeeres – in Libyen. Ich bin willens, den Oberbefehl über alle Streitkräfte Italiens persönlich zu übernehmen.“ Der Würfel war gefallen. In seinem Antwortschreiben gab der deutsche Reichskanzler seiner Freude Ausdruck. Nichtsdestoweniger bat er nachdrücklich, den Kriegseintritt Italiens um einige Zeit zu verschieben. Aha, dachte sich Mussolini, der glückliche Gewinner will vom Spieltisch aufstehen. Hitler indessen erklärte seine Bitte so: Italiens Kriegseintritt könne eine Verlegung der französi-
schen Luftstreitkräfte zur Folge haben; man solle die Vögel nicht aufscheuchen. Göring habe vor, sie in ihren Horsten zu überraschen. Es blieb Mussolini nichts anderes übrig, als zuzustimmen. Er zog Ciano zu Rate. Gemeinsam entwarfen sie den Text der Erwiderung. „Ich stimme mit Ihnen, teurer Führer, überein, daß es zweckmäßiger ist, die Kriegserklärung zu verschieben, um Ihren Fliegern die Möglichkeit zu geben, vorher die französischen Luftstreitkräfte zu vernichten. Ich habe folgendes Programm: Montag, den 10. Juni – ich wiederhole: am 10. Juni –, erkläre ich den Krieg. Die Kriegshandlungen beginnen im Morgengrauen des II. Juni. Ich träume davon, daß wenigstens eine italienische Einheit an der Seite Ihrer Soldaten kämpft. Wenn Sie meinen Vorschlag annehmen, entsende ich mehrere Bersaglieri-Regimenter, deren Soldaten sich durch Tapferkeit und Ausdauer auszeichnen. Ich würde Sie bitten, mir im Austausch gegen eine italienische Panzerdivision fünfzig Flakbatterien für den Luftschutz Italiens zu senden.“ Ciano hatte seinen Schwiegervater lange nicht so aufgeräumt gesehen. Sein ehrgeiziger Traum, oberster Feldherr zu sein, war endlich in Erfüllung gegangen! Und zwar noch vor dem Krieg, der demnächst beginnen sollte. „Bedenken Sie“, sagte Mussolini, „wir dürfen uns nicht Hals über Kopf in den Krieg stürzen. Wir müssen mit Hitler zuerst ein festes Geschäft abschließen. Ich stelle meine Bedingungen, erhebe meine Forderungen. Jetzt ist dafür der günstigste Augenblick. Die Franzosen beginnen Widerstand zu leisten. Hitler konnte Arras nicht nehmen. Die deutschen Truppen
werden nicht mehr ganz so frisch sein, wie der Führer es sich wünscht. Meine Armee wird den Ausgang des Krieges entscheiden.“ Am Abend des 10. Juni lud Graf Ciano den französischen Botschafter Francois-Poncet zu einer offiziellen Audienz ein. Trocken und kühl teilte er ihm mit, von jetzt an befinde sich sein Land im Kriegszustand mit Frankreich. Er machte keine Anstalten, nähere Erläuterungen zu geben. Francois-Poncet verneigte sich höflich. Mit bleichem Gesicht sprach er die vorbereiteten Sätze: „Ihr Entschluß ist ein Dolchstoß gegen einen Mann, der bereits am Boden liegt. Aber ich danke Ihnen, daß Sie dafür Samthandschuhe angezogen haben… Bleiben Sie noch Außenminister?“ Er blickte auf die Fliegeruniform, in der Ciano ihn empfangen hatte. Das war eine Herausforderung. Ciano nahm sie an. „Ja, ich vereine meinen Posten mit dem Rang eines Offiziers der königlichen Luftstreitkräfte.“ Francois-Poncet verbeugte sich und ging. Gleich nach ihm trat der britische Botschafter Sir Percy Loraine in Cianos Arbeitszimmer. Der Krieg war erklärt. Ciano flog nach Pisa, um das Kommando über eine Bomberstaffel zu übernehmen. Im Morgengrauen flogen sie ihren ersten Kampfauftrag. Ciano klinkte selbst die Bomben aus. Der Außenminister hatte die Samthandschuhe ausgezogen. Bruno Celino hatte nun doch daran glauben müssen. Auch die Mutter war machtlos gewesen. Hätte man den Gestellungsbefehl am Sonnabend nur ein bißchen früher gebracht,
dann wäre jetzt alles ganz anders – davon war er überzeugt. Am Sonnabend war er nach Feierabend mit Angelina zur Tibermündung gefahren. Dort wohnte in einem Fischerdorf ein Onkel von Angelina, die nun seit einem halben Jahr seine Frau war. Sie fuhren im Boot hinaus, fingen Fische, badeten und übernachteten in dem gemütlichen, winzigen Häuschen des Onkels. Am Sonntag kehrten sie noch bei Tageslicht in die Stadt zurück. Munter und fröhlich sprangen sie die ausgetretenen Treppenstufen hinauf ins Haus und – sahen sich zwei Karabinieri gegenüber, die bereits auf Bruno warteten. Der Gestellungsbefehl war am Sonnabend kurz nach ihrem Aufbruch mit den Worten: „Sofort melden!“ abgegeben worden. Da Bruno nicht erschien, kam man am Sonntag früh erneut nach ihm – wieder war er nicht da. Beim Militärkreiskommando verdächtigte man ihn der Fahnenflucht und schickte die Karabinieri. Nicht einmal umziehen durfte sich Bruno. Wie er stand und ging, führten sie ihn ab. Klar, daß er für kerngesund befunden wurde. Der Inspektor musterte den gedienten Bersagliere mißtrauisch und ließ ihn nur für ein halbes Stündchen nach Hause gehen, und selbst das unter zuverlässiger Bewachung. So sah sich Bruno also wieder in der Armee, zuerst in einer Kaserne am Stadtrand von Rom, dann im Zug und schließlich in Piemont, in einer Territorialdivision. Der Soldat Bruno Celino saß auf einer Munitionskiste und blickte wehmütig auf die Berge. In sich versunken, beachtete er weder ihre herbe Schönheit noch die kristallklare reine Luft. Von Angelina hatte er einen Brief erhalten, den dritten seit seiner Einberufung. Er war lange unterwegs gewesen.
Seine Frau berichtete ihm die letzten Neuigkeiten. Die Mutter arbeitete jetzt als Geschirrwäscherin im Hause des Signor Ciano. Die Bezahlung war zwar gering, dafür gab es manchmal gut zu essen. Auf jeden Fall war diese Arbeit besser, als den schweren Karren zu fahren. Die Mutter hatte sich selbst ein Herz gefaßt und war hingegangen. Sie wurde zwar nicht zum Grafen vorgelassen, aber sie erreichte dennoch, was sie wollte. Luigi hatte sich inzwischen noch immer nicht gemeldet. Angelina kannte den Stiefbruder nur aus Erzählungen, aber sie war in das Familiengeheimnis eingeweiht. Eines Tages, als sie bei der Mutter war, kam ein Mann, der seinen Namen nicht nannte. Die Mutter war erfreut und aufgeregt. Sie weinte auch ein wenig. Der Mann kam gegen Abend, als sie gerade beim Abendbrot saßen. Er sprach leise und zögernd. Luigi war also gar nicht auf Arbeitsuche nach Frankreich gefahren, sondern nach Spanien gegangen. Um dort als Freiwilliger zu kämpfen. Die Mutter lud den Besucher zu Tisch, wenn er mit ihrem bescheidenen Mahl vorliebnehmen wollte. Der Gast dankte und sprach weiter. Luigi und er hatten sich erst im Lager kennengelernt. Die Franzosen hatten sie interniert. Sie saßen bereits seit Monaten in dem Lager in Südfrankreich. Carmelina fragte naiv: „Konnte Luigi denn nicht selber kommen?“ Der Gast lächelte. „Ringsum ist Stacheldraht. Und Gendarmen gibt’s auch. Die sind nicht besser als die unsrigen. Also“, der Fremde erhob sich, „Luigi bat mich, einen Gruß auszurichten. Er hofft, bald selbst wieder dazusein. Auf Wiedersehen! Sagen Sie niemand
ein Wort von meinem Besuch. Erfährt man das in der Ovra, könnte es Unannehmlichkeiten geben.“ Ovra – das war die Geheime Staatspolizei. Natürlich hatte man mit der besser nichts zu tun. Der Besucher ging. Die Mutter besann sich plötzlich und lief ihm nach. „Wie heißen Sie eigentlich? Vielleicht kommen Sie uns noch mal besuchen.“ „Mein Name ist Nebensache.“ Damit verschwand er. Wahrscheinlich war er aus dem Lager entwichen, deshalb die Geheimniskrämerei. Die Mutter hoffte, er werde noch einmal kommen. Aber Bruno zweifelte daran. Er wird Angst haben. Das sind doch komische Kerle! Stürzen sich freiwillig in den Kampf und sitzen dann schön in der Tinte. Nein, er konnte das nicht verstehen. Er wollte nichts als heim. Was Angelina jetzt wohl machte? Celino überkam eine solche Schwermut, daß er sich hätte aufhängen können. Er erhob sich, steckte den Brief in die Tasche und ging zur Batterie. „Nun, was läßt du den Kopf hängen?“ begrüßte ihn Martini, der Richtkanonier. Er war mit seinen fünfzig Jahren der Älteste in der Batterie, hatte schon im Jahre 1916 im Felde gestanden. Die Soldaten nannten ihn Padre – heiliger Vater. Dabei war Martini alles andere als heilig, man kannte ihn weithin wegen seiner Gotteslästerungen und Flüche, obwohl er selbst sich für einen guten Katholiken hielt. „Na, was ist, Bambino, willst du nach Nizza? Kannst es wohl ebensowenig erwarten wie der Teufel das Abendmahl?“ „Was geht mich Nizza an! Nach Hause möchte ich.“ „Nanu? Hast du nicht auch geschrien: ,Her mit Nizza und
Korsika!’ Nun, hol dir’s doch. Es ist uns hier näher als der Päpstliche Stuhl. Der Papst hat es sogar weiter, wenn er auf den Lokus muß.“ „Nichts hab ich geschrien. Ich habe Nizza geradeso nötig wie der Hund ein fünftes Bein!“ Martini ließ nicht locker. Um sie herum standen ihre Kameraden, Artilleristen in zerlumpten Uniformen. Mauleseltreiber hätten sich im Vergleich mit ihnen besser ausgenommen. „Sollten wir nicht unterwegs einen Abstecher nach Monaco machen? Dort spielen wir dann Roulette!“ Martini wurde sichtlich lebhafter, da er merkte, daß man ihm zuhörte. „Ja, Bambino, du hast vielleicht noch nicht einmal von einem solchen Roulettestaat gehört! Macht nichts, wir besetzen auch ihn. Unsere Feuerrohre sind zwar altertümlich, so alt wie Kaiser Franz Joseph, schöne alte Erbstücke. Wenn sie nicht gerade zerbersten, erregen wir damit noch in der ganzen Welt Aufsehen. Da, schaut her! Das ist doch Rasse-Klasse!“ Martini schlug mit der Hand auf ein Kanonenrohr, wie Stallknechte den Pferden gewöhnlich auf die Kruppe schlagen. Martinis Worte waren natürlich nicht geeignet, den Kampfgeist der Soldaten zu heben. Sie sahen es ohnehin selbst: Ohne Waffen, in zerlumpten Hosen läßt sich kein Krieg führen. Am Vormittag traf der Regimentskommandeur ein, der Fasan, wie sie ihn nannten. Er gratulierte ihnen zu der Kriegserklärung. Mit krähender Stimme wiederholte er die Worte Mussolinis. Die Soldaten nahmen das Gehörte ohne innere Bewegung auf. Ihr „Ewiva!“ klang nicht sehr begeistert. Man wartete auf Guzzoni, den Armeebefehlshaber, aber er kam nicht. Er hatte anderes zu tun. Die Soldaten ahnten nicht, wie recht der „Padre“ hatte, als er
sich über die Geschütze lustig machte. Am Tag der Kriegserklärung zählten die beiden gegen die Franzosen eingesetzten Armeen insgesamt hundertfünfzig veraltete Kanonen, die noch von den Österreichern stammten und zum Teil wahre Museumsstücke waren. Guzzoni suchte verzweifelt nach einem Ausweg, fand aber keinen. Doch da der Krieg nun einmal begonnen hatte, mußte auch geschossen werden! Mit der Beschießung der französischen Stellungen begann man am dritten Tag nach der Kriegserklärung. Vorher waren keine Granaten da. Man hatte sie nicht herangeschafft. In Celinos Batterie gab es nur ein Geschütz. Schweißtriefend schleppte Bruno Granaten heran, die er wie neugeborene Babys an die Brust gedrückt hielt. „Bambino, du hast doch nicht etwa in einem Entbindungsheim gearbeitet? Los, beweg dich!“ rief Martini ihm zu. Nach jedem Abschuß kontrollierte er die Einstellung der Teilringe. „Gewöhn dich dran, Junge. Der Krieg hat erst begonnen. In einem Jahr sind wir fertig. Bis dahin schafft deine Frau es schon, ein Kind zu kriegen. Glaubst du vielleicht nicht an eine unbefleckte Empfängnis? Solche Wunder geschehen im Krieg am häufigsten. Der liebe Gott überkommt die Soldatenfrauen höchstpersönlich mit seiner Gnade.“ Nach mehreren Schüssen zerbarst das Geschütz. Die Bedienungsmannschaft kam noch gut davon. Niemand wurde getötet, nur Betäubte gab es. Eine Kommission traf ein. Man sah sich das Unglücksding an, betastete den geborstenen Lauf, schüttelte die Köpfe. Ein anderes Geschütz war nicht vorhanden, also wurden die Artilleristen zur Infanterie gesteckt. Zum Angriff trat Bruno mit einem Gewehr an, das ebenfalls
noch österreichisches Modell war. Die Franzosen empfingen das Bataillon mit wohlgezieltem Feuer. Man zog sich zurück, ging wieder vor und wieder zurück. Eine Wendung trat erst nach einer Woche ein. Es gelang den Italienern, in ein von Bergfelsen umgebenes Tal einzudringen. Doch die Franzosen hatten ihnen damit eine Falle gestellt, in die die ganze Division hineingeriet. Sie wurden von allen Seiten beschossen. Bruno, von Angst befallen, legte sich lang hin und steckte den Kopf in ein Erdloch. Niemand weiß, wie alles ausgegangen wäre, wenn die Franzosen nicht um Frieden gebeten hätten. Martini hätte diesbezüglich freilich schon etwas zu sagen gewußt, aber er war nicht mehr da. Den „Padre“ hatten die Feldgendarmen von der Ovra festgenommen. Es hieß, wegen Propaganda, wegen unpatriotischer Gesinnung. Die Zeitungen schrieben triumphierend von einem italienischen Sieg. Mussolini war zufrieden und unzufrieden zugleich. Gut, daß man sich noch rechtzeitig in den Kampf eingeschaltet hatte. Aber wenn sich der Krieg nun länger hinzog? Was sollte er mit diesem Volk machen! Kein Marmor, nur Ton… Er gab den Soldaten die Schuld an allen Mißerfolgen. Lauter Tagediebe und Feiglinge! Auch die Ereignisse in Tarent verdarben ihm die Laune. Zuerst meldete Admiral Cavagnari, die italienische Luftflotte habe in drei Tagen die Hälfte der britischen Seestreitkräfte im Mittelmeer vernichtet, die Freude war groß, die Meldung erschien in allen Zeitungen. Dann klärte es sich auf – man hatte sechs Stunden lang eigene Schiffe bombardiert. Ach, die Tölpel! Man untergrub das Prestige des Obersten Befehlshabers.
Auch die Haltung Hitlers war demütigend. Die Deutschen weigerten sich, eine gemeinsame Waffenstillstandskommission zu bilden. Hitler fuhr selbst nach Compiegne und bot den Franzosen an, den Waffenstillstand mit Italien separat zu schließen. Die Begegnung fand dann am Lago Maggiore, in der Vila Incisa, statt. Hitler hatte den Ruhm nicht mit dem Bundesgenossen teilen wollen. Es war nur zu verständlich, daß die Zeremonie in der Villa Incisa nicht so pompös und glanzvoll verlief wie im Wald von Compiegne. Man berichtete Mussolini ausführlich, wie dort alles vor sich gegangen war. Hitler war aus dem historischen Speisewagen getreten und hatte einen Augenblick vor der alten Inschrift verweilt. Ihre Worte lauteten: „Hier zerbrach am 11. November 1918 der verbrecherische Stolz des Deutschen Reiches, bezwungen von den freien Völkern, die es zu versklaven suchte.“ Diese Inschrift existierte nun mehr als zwanzig Jahre, seit dem Frieden von Versailles. Hitler lächelte hämisch. Man konnte sich schon vorstellen, wie er triumphierte! Mussolini hatte gehofft, bei dieser Gelegenheit neben ihm zu stehen, aber Hitler hatte ihn beiseite geschoben. Was er wohl jetzt ausheckte? Einen Überfall auf England? Da mußte man klarsehen. Mussolini schrieb nach Berlin, bot Soldaten und Flugzeuge für den Angriff gegen die britische Insel an. Aber Hitler hüllte sich in verdächtiges Schweigen. Bestimmt nicht ohne Grund. Nein, Italien konnte sich nicht mit den Brosamen vom deutschen Festschmaus begnügen. Es war Zeit, dem Balkan zu Leibe zu rücken. Er, Mussolini, würde Hitler auch kein Wort über seine Pläne sagen. Anfang Juli rief der Oberste Befehlshaber Benito Mussolini den Chef des Stabes zu sich. Er befahl ihm, den strategischen
Plan für den Überfall auf Griechenland beschleunigt auszuarbeiten, und zwar streng geheim, so daß die Deutschen nichts erführen. Den Weltatlas auf seinem Schreibtisch ließ er auf der Seite mit der Karte der Balkanhalbinsel aufgeschlagen liegen. Morin und Frachon verließen die Kanalküste noch vor Sonnenaufgang. Als der Morgen graute, krochen sie in einen Heuschober und schliefen darin bis zum Abend. Nachts zogen sie auf abgelegenen, wenig begangenen Wegen weiter, angetan mit Bauernkleidern, die sie unterwegs aufgetrieben hatten. Nach einer Woche langten sie in der Normandie an. Zu Fuß, auf Trittbrettern von Eisenbahnwagen und mit Bauernfuhrwerken waren die beiden, weit nach Westen abschwenkend, nahe an Falaise herangekommen und näherten sich Frachons heimatlicher Gegend nicht von Norden, sondern von Südwesten her. Sie hatten einen großen Umweg machen müssen. Unterwegs waren sie übereingekommen, daß Morin, wenn alles gut ginge, zunächst bei Frachon bleibt. Das weitere würde sich finden. Hauptsache, man kam erst einmal nach Falaise und landete nicht statt zu Hause in einem Lager. Die Deutschen machten überall Jagd auf Soldaten. Die Ortschaften waren Frachon jetzt bereits bekannt. Vor Anbruch der Dunkelheit erreichten sie ein Dörfchen, von dem es nur noch ein Katzensprung, nicht mehr als fünf Meilen, nach Falaise war. Das Dörfchen lag abseits der großen Straße. Vielleicht war es deshalb nicht so wie andere Ortschaften von Flüchtlingen überlaufen. Gleich im ersten Häuschen erlaubte man ihnen,
auf dem Heuboden zu übernachten. Auf die Frage allerdings, ob sie etwas zu essen bekommen könnten, antwortete ihnen die Hausfrau mit einem entschiedenen Nein. Alles sei schon aufgegessen, alle könne man ja nicht satt machen. Also begaben sie sich auf die Suche nach etwas Eßbarem. Bei der Apotheke hielt Frachon Charles an. „Warte mal, da ist doch, scheint’s, unser Fräulein. Die Tochter des Patrons.“ Er holte die junge Frau ein, die gerade aus der Apotheke gekommen war. „Guten Tag, mein Fräulein!“ Liliane wandte sich um. Vor ihr stand ein bärtiger Bauer in abgetragenen Sachen, die ihm nicht recht zu passen schienen. Etwas an ihm kam ihr bekannt vor. „Onkel Jean. Sind Sie’s wirklich?“ Liliane warf sich Frachon an die Brust und weinte. „Helfen Sie mir, ich weiß nicht, was ich machen soll.“ Sie stand vor ihm in ausgetretenen Schuhen, ohne Strümpfe, auf dem Kopf einen Hut mit abgebrochener schwarzer Feder, das Kleid zerdrückt. Hohlwangig war sie geworden, und ihr Gesicht hatte seine einstige Lieblichkeit verloren. Ein Wunder, daß Frachon das Fräulein überhaupt erkannt hatte. Nun erfuhr er, daß sie bereits verheiratet war und in Paris wohnte – ja, das war ein unverhofftes Wiedersehen! Liliane zog Frachon mit sich fort. „Kommen Sie! Wir müssen einen Arzt finden. Ich habe einen Verwundeten bei mir. Er kann nicht gehen. Dabei ist es doch gar nicht mehr weit. Wollen Sie auch nach Falaise, Onkel Jean? Wie ich mich freue, daß ich Sie getroffen habe!“ In dem Zimmer, in das Liliane sie führte, lag ein Mann mit
verbundenem Bein auf dem Bett. „Gestern ist es passiert, auf der Straße, bei einem Fliegerangriff.“ „Ihr Gatte?“ „Nein! Das ist Monsieur Terzie. Wir wollen nach Falaise. Er begleitet mich.“ Die junge Frau schien verlegen. Doch was kümmerte es Frachon, wer er war. Er reichte dem Mann behutsam die Hand. Ein Arzt war am Ort nicht zu finden, und Frachon begab sich am nächsten Morgen in das Nachbardorf. Er brachte von dort einen Arzt mit. Dieser reinigte die Wunde und legte einen Verband an. Mehr könne er nicht tun, sagte der Arzt, das übrige sei Sache eines Chirurgen, der hinzuzuziehen sei. Angesichts dieser Lage war es das beste, Jean und Charles gingen nach Falaise, benachrichtigten Monsieur Boisson und kehrten mit einem Fuhrwerk oder dem Auto zurück, um sie abzuholen. Liliane hoffte, daß der Vater bereits in Falaise sei. In Falaise angekommen, lief Frachon in sein Haus, umarmte Catherine, seine Frau, brummte nur: „Nachher, alles nachher!“ und eilte sogleich zu den Boissons. Der Patron war längst aus Paris zurückgekehrt. Es war ihm gelungen, den Wagen wieder instand zu setzen. Aber auf halbem Weg mußte er ihn bei fremden Leuten unterstellen, weil das Benzin ausgegangen war. Er machte sich nun die größten Sorgen. Der Autoschlosser, der den Wagen abholen sollte, hätte in zwei Tagen zurück sein müssen, war aber noch immer nicht da. Der Weinhändler glaubte alles verloren zu haben – die Tochter ebenso wie den Wagen. Man spannte eine Kutsche an. Boisson fuhr selber mit. Unentwegt setzte er Frachon mit Fragen nach der Tochter zu,
wie sie aussehe, wie es ihr ergangen sei. Auch nach dem Enkelkind erkundigte er sich. Aber Frachon wußte nichts zu sagen. Ein Mädelchen wie jedes andere. Die Mutter habe es in seiner Gegenwart zweimal gestillt. Frachon nahm mehrmals Anlauf, den Patron wegen der Schulden zu befragen, aber er brachte es nicht über sich. Schließlich wagte er es doch. „Monsieur Boisson, haben Sie eigentlich meiner Frau die Schuld bezahlt?“ „Was für eine Schuld? Ach so, für die Arbeit! Ist bezahlt, ist bezahlt. Catherine kam deswegen zu mir… Ihre Schuhe, sagst du, sind ausgetreten? So, so…“ In dem Dörfchen fiel Liliane dem Vater schluchzend um den Hals. „Na, na, nun ist ja alles wieder gut“, tröstete er sie, während ihm selber die Tränen über die Wangen liefen. Gegen Abend kamen sie in Falaise an. Leons Wunde erwies sich als nicht sehr ernst, aber gehen konnte er nicht. Man räumte ihm die Stube von Tante Garbaud ein, die ins Speisezimmer umquartiert wurde. Für Leon stand es fest, daß er hier einige Zeit verbringen würde. Frankreich hatte also die Waffen gestreckt. Es hatte kapituliert, sich dem Sieger auf Gnade und Ungnade ergeben. Die Ereignisse, lange Jahre vorbereitet und ausgelöst durch Verrat, Ehrsucht, Machthunger und Geldgier, durch Intrigen und niedrige Leidenschaften, rächten sich jetzt grausam und blind. Am 14. Juni zogen deutsche Truppen in Paris ein. Die französische Regierung war nach Bordeaux übergesiedelt. Reynaud blieb weiter Ministerpräsident. Bis das Schreiben mit
der langersehnten Antwort Roosevelts kam, hoffte er auf ein Wunder. „Die Botschaft aus Frankreich hat uns zutiefst erschüttert… Die Regierung der Vereinigten Staaten tut alles, was in ihren Kräften steht… Wir verdoppeln unsere Anstrengungen… Der Widerstand des französischen Volkes flößt Achtung ein, er ist hervorragend…“ Phrasen, Phrasen, nicht ein konkretes Wort. In der Politik gibt es keine Wunder. Reynaud begriff das jetzt. War es überhaupt nicht schon zu spät? Er, Paul Reynaud, wird jedenfalls nicht der Totengräber Frankreichs sein. Mag Marschall Petain den Waffenstillstand schließen. Reynaud verzichtete auf den Posten des Ministerpräsidenten, den zu erlangen er sich so hartnäckig bemüht hatte. Petain trat an die Spitze der Regierung. Die Schuldigen an der Katastrophe glaubten noch auf die Ereignisse Einfluß nehmen zu können. Aber das waren nur Illusionen. Als die Deutschen bereits im Bois de Boulogne biwakierten, rief Winston Churchill die Pariser auf, ihre Stadt aus eigener Kraft zu verteidigen, doch die mit Maschinengewehren und Karabinern bewaffnete Polizei hatte strikten Befehl, jeden zu erschießen, der es versuchen sollte, die Hauptstadt eigenmächtig zu verteidigen. Paris war zur offenen Stadt erklärt worden. Auch Ministerpräsident Reynaud hatte geglaubt, auf die Ereignisse Einfluß nehmen zu können. Er übergab die Macht einem Cagoulard, einem Faschisten französischer Prägung, nämlich Weygand. Den Posten des Ministerpräsidenten trat er an Petain ab. So wurde den Reaktionären Tür und Tor zur Regierung weit geöffnet. Mit Petain schlichen sich unter anderen Laval und Darlan durch die of-
fene Tür. Auch dem greisen Marschall deuchte es, er habe den Ausweg gefunden, er werde die Ereignisse meistern. Petain vertrat den gleichen Standpunkt wie sein alter Gesinnungskumpan General Weygand. Er forderte die Kapitulation. Aber auch er war nun ein Spänchen im tollen Wirbel der Ereignisse. Petain bildete sich ein, sein Vaterland zum zweiten Mal retten zu können. Am Vorabend des ersten Weltkrieges hatte der spätere Marschall, der sich damals seines Alters wegen bereits im Ruhestand befand, erneut die Uniform angezogen. Man nannte ihn den Helden von Verdun. Jetzt war der Marschall vierundachtzig Jahre alt. Seine farblosen matten Augen schwammen in Tränen, sein Gang war der eines gebrechlichen Greises. Und dennoch glaubte Petain noch genug Kraft zu haben, um die Nation zu retten. Was Clemenceau, der „Tiger“, konnte, das würde auch er, Marschall Petain, schaffen. Nur auf andere Weise. Während Clemenceau Deutschland haßte, würde er, Petain, sich mit den Deutschen verständigen. Wenn ihm nur niemand dabei ins Gehege kam. An die Spitze der Regierung gestellt, verfügte der Marschall als erstes die Verhaftung Mandels. Nur keine Opposition! Er hatte ihm die Sitzung in Tours übel vermerkt. Der frühere Innenminister wurde in einem Cafe verhaftet. Einen Tag später ließ man ihn wieder frei. Petain entschuldigte sich. Es habe ein Mißverständnis vorgelegen. Für sich zog er die Schlußfolgerung: Ich habe mich etwas übereilt. Mit argwöhnischer Aufmerksamkeit beobachtete Petain de Gaulle. Dessen Verhalten war höchst sonderbar. Einst hatte de Gaulle in seinem Regiment gedient. Der Marschall befahl, de Gaulle strengstens zu beobachten. Aber der stellver-
tretende Kriegsminister führte die wachsamen Agenten der Surete hinters Licht. Der Engländer Spears half ihm dabei. Jetzt wurde klar, warum Churchill den General in diesen stürmischen Tagen in Frankreich zurückgelassen hatte. De Gaulle begleitete den scheidenden Spears zum Flugplatz. Man verabschiedete sich. De Gaulle ging neben der rollenden Maschine her, man wechselte die bei solchen Gelegenheiten üblichen Worte. Ringsum standen Agenten der Surete. Plötzlich öffnete sich die Kabinentür, de Gaulle stürzte auf sie zu, Hände streckten sich ihm entgegen und zogen ihn herein. Die Maschine löste sich vom Boden. De Gaulle glaubte, Herr seiner Entschlüsse zu sein, dabei war seine Rolle in London bereits vorbestimmt. So liefen die letzten Ereignisse in Frankreich ab. Alles schien zusammenzubrechen. Es gab jedoch zweifellos noch eine Möglichkeit, die Lage wiederherzustellen und die nationale Ehre Frankreichs zu retten. Die illegale Kommunistische Partei zeigte den Ausweg. Sie rief die Regierung auf, die nationalen Kräfte zu vereinigen, das Volk zu mobilisieren, die Verräter zu verhaften: In den Gefängnissen sitzen Zehntausende Kommunisten – befreit sie! Vierhunderttausend Spanienkämpfer, die willens sind, aufs neue die Waffe in die Hand zu nehmen, schmachten in Konzentrationslagern – befreit sie! Gebt ihnen die Freiheit wieder, nützt sie für den Kampf! Die kommunistischen Zeitungen waren verboten, ihre Redaktionen zertrümmert. Die Regierung hatte zahlreiche Gewerkschaftsverbände für rote Organisationen erklärt und aufgelöst. Die Arbeiterklasse Frankreichs war durch Verräter ihrer Führung beraubt. Die Kommunistische Partei appellierte an den gesunden Menschenverstand, an den Patriotismus:
Gebt dem Volk die Initiative zurück! Laßt uns gemeinsam Frankreich verteidigen! Die Kommunisten blieben ungehört. So verlor Frankreich die letzte Möglichkeit, die nationale Katastrophe abzuwenden. Das französische Volk, die einzige mächtige Kraft, die fähig gewesen wäre, die Ehre Frankreichs zu wahren und dem Gang der Dinge eine andere Wendung zu geben, wurde beiseite gedrängt. Durch die Not, durch das Unglück, das wie eine Lawine über das Volk hereinbrach, war es zunächst demoralisiert und betäubt. Das französische Volk mußte den Verrat seiner käuflichen Politiker teuer bezahlen. Auch der kleinen, koketten Verkäuferin Grisette mochte es scheinen, daß sie ihr Schicksal selber lenke. Mit verweinten Augen irrte sie durch die sonnigen, altertümlichen Straßen von Tours. Sie vermochte das neue Unglück, das über ihr Vogelköpfchen hereingebrochen war, noch nicht zu fassen. Verschwunden war Jules, ihr Gönner und Beschützer. Sie konnte ihn nirgends mehr entdecken. Fort war auch der Cadillac. Mitgezogen vom Strom der Wagen, jagte der Kommentator der internationalen Vorgänge Jules Benoit bereits nach Bordeaux, nach dem Süden Frankreichs, wohin die Regierung übergesiedelt war. Noch immer hieß es, es sei nicht alles verloren. Frankreich setze den Kampf fort. Notfalls würde die Regierung von Nordafrika aus den Krieg leiten. Aber das war bereits die Agonie. Marschall Petain bat den spanischen Gesandten zu sich, um ihn zu ersuchen, bei den Verhandlungen die Rolle des Vermittlers zu übernehmen. In der Gironde, dem breiten Mündungstrichter der Garonne, lag der Dampfer „Massilia“ für die Minister des Kabinetts
Reynaud bereit. Der Kapitän konnte sich nicht entschließen, nach Bordeaux zu fahren. Es hieß, das Flußbett sei vermint. So begaben sich die Minister nach Le Verdon, einem kleinen Hafen am Golf von Biskaya, wo die „Massilia“ sie aufnahm. Sie belegten die Kajüten und atmeten erleichtert auf. Die „Massilia“ lief aus zur Fahrt nach der afrikanischen Küste. Nach Oran oder Dakar – das war gleich. Der Kampf würde fortgesetzt werden und Frankreich sich verteidigen. So dachten die Minister und die Abgeordneten. Man würde die Ereignisse zügeln. Auf offener See erreichte sie die Nachricht, daß Frankreich kapituliert hatte. Nun besaßen die Minister weniger Macht als der Kapitän der „Massilia“. Die Minister verlangten, das Schiff solle England ansteuern, aber Herr auf dem Schiff war der Kapitän, und dieser erklärte, jetzt sei genug Demokratie gespielt worden, er, ein Anhänger de la Rocques, würde die „Massilia“ dorthin steuern, wohin sie gehöre – nach Casablanca. So geschah es, daß die „Massilia“ zu einem komfortablen schwimmenden Gefängnis und die Mitglieder der früheren Regierung Reynaud zu Gefangenen wurden. Ein Gefangener war nun auch der Journalist Benoit. Er stand an der Reling auf dem oberen Promenadendeck und starrte auf die ausgedörrte afrikanische Küste, wo sich zwischen Felsen ein Fort erhob, dessen Geschütze auf die „Massilia“ gerichtet waren. Benoit überlegte, daß er diesmal wohl doch nicht die richtige Entscheidung getroffen habe. Der Steward bat zum Mittagessen. Die Minister stiegen in die Messe hinunter. Man hörte sie nicht mehr protestieren und sich entrüsten. Marschall Petain hatte noch nicht entschieden, was mit ihnen geschehen sollte. Gesittet saßen sie am Tisch, tranken Kraftbrühe, aßen Poularde und schlürften Chablis.
Das tröstete sie. Alles war nicht mehr so schlimm. Dann kam der letzte Akt der nationalen Tragödie – im Wald von Compiegne unterzeichnete General Huntzinger als Vertreter Frankreichs die Urkunde über die Kapitulation. Der französische Rundfunk überschlug sich förmlich, als er die Nachricht vom Frieden brachte. Aber es war ein Friede auf den Knien. Er erfreute niemand in Frankreich. In den Städten und Dörfern wehten Trauerfahnen. Auf den Rathäusern waren die Flaggen auf Halbmast gesetzt. Trostlos und wehmütig läuteten die Glocken, wie bei einem Begräbnis. Grisette stand auf der Straße der fremden Stadt, neben ihr eine Frau, die wie sie die Meldung vernahm. „Friede, Friede! Frankreich ist dem Krieg entronnen!“ Die Frau schluchzte: „Was wird jetzt mit uns?“ Auch Grisette fing an zu weinen. Churchill erfuhr von der Kapitulation durch den Rundfunk. Andere Verbindungen mit Frankreich gab es nicht. Seine Versprechungen, Angebote und unzweideutigen Drohungen hatten nichts gefruchtet. Petain hatte dem Waffenstillstand zugestimmt. Der Premier zog sich in sein Arbeitszimmer zurück. Er wollte vor der Regierungssitzung, auf der er einen Aktionsplan vorlegen mußte, seine Gedanken sammeln. Da ihn fortwährend dringende Angelegenheiten ablenkten, ließ er die Telefone abschalten und verschloß die Tür. Die Hände auf dem Rücken, ging Churchill im Zimmer auf und ab. Er betrachtete die Dinge nüchtern. Intuitiv begriff er, daß Rundstedt nicht ohne Grund vor Dünkirchen haltgemacht hatte. War diese Geste nicht ein Wink, eine Aufforderung zu Verhandlungen, ein Versuch, Großbritannien geneigt zu stim-
men? Alles war möglich. Soviel stand jedenfalls fest: Hitler plante einen großen Coup. Aber welchen? Um sich über das, was in Frankreich vorgefallen war, ein klares Bild zu verschaffen, rekonstruierte der Premierminister in Gedanken den Verlauf der Ereignisse. Stimmt, durch die Offensive der Deutschen waren die Karten durcheinandergeraten. Hitler hatte Frankreich aus dem Sattel gehoben. Alles in allem befand sich England in einer besseren Lage – es hatte sich seine Truppen erhalten. Nur ein geringer Teil der aus Dünkirchen fortgeschafften Soldaten waren Franzosen. Die meisten französischen Soldaten befanden sich in deutscher Gefangenschaft. Das ließ sich nun mal nicht ändern. Noch schlimmer wäre es gewesen, hätte man die britischen Divisionen eingebüßt. Die schweren Waffen hatte man zwar unwiederbringlich verloren, doch die Truppen waren von nennenswerten Verlusten verschont geblieben. Man würde eben eine Umgruppierung vornehmen. Komplizierter war die Waffenfrage. Wieder würde man sich vor Roosevelt demütigen müssen. Die Amerikaner dachten dabei nur an Gewinn. Auf die Bitte, England Zerstörer zu überlassen, hatte Roosevelt bislang nicht geantwortet. Es wurde noch gefeilscht. Ja, die Lage ist schwierig. England steht schutzlos da, resümierte Churchill voller Bitternis. Auf der Insel gab es keine kampffähigen Truppen. Genauer gesagt fast keine. Keine Panzer und Geschütze, rein gar nichts. Hitler konnte England mit bloßen Händen nehmen. Gewiß, er, Churchill, hatte angeordnet, gegenteilige Nachrichten auszustreuen. Gisevius bekam den Auftrag, dem deutschen Generalstab zu unterbreiten, daß an der Südküste Englands dreißig Divisionen zu-
sammengezogen seien. Aber er als Premier wußte, daß es sich anders verhielt – gebe Gott, man kratzte wenigstens drei mehr oder minder komplett ausgerüstete Divisionen zusammen. Es bestand allerdings noch die Hoffnung, eine Home Guard zu bilden. Aber dafür brauchte man Zeit. Und wer wußte, für wen diese Zeit arbeitete? Ja, Frankreich war aus dem Spiel ausgeschieden. Angesichts dessen beunruhigte den britischen Premier das Schicksal der Flotte des früheren Bundesgenossen. Die französische Flotte war die viertstärkste der Welt. Bei seiner letzten Reise nach Frankreich hatte Churchill diese Frage angeschnitten. Er schlug vor, die französischen Schiffe in englische Häfen zu überführen, um sie dem Zugriff Hitlers zu entziehen. Reynaud gab eine entsprechende Zusage. Im übrigen hatte Reynaud auch noch etwas anderes gesagt: Die Franzosen würden weiterkämpfen, und sei es in Nordafrika, ja sogar jenseits des Atlantischen Ozeans. Statt dessen hatten sie kapituliert. Marineminister war nun Admiral Darlan. Von ihm hing jetzt vieles ab, aber Darlan hatte nie großes Vertrauen erweckt. Churchill kannte Darlan, diesen Marineoffizier mit den Glotzaugen und den groben, ordinären Manieren eines alten Seebären, der einen unglaublichen Seemannsjargon sprach. Der Premier hatte Darlan im vorigen Jahr kennengelernt, als dieser nach London geflogen kam. Ihm zu Ehren gab man in der Admiralität ein Festessen. Sie saßen nebeneinander. Churchill brachte einen Toast auf die Freundschaft der beiden Länder aus. Darlan erwiderte darauf: „Mein Großvater kam in der Seeschlacht bei Trafalgar um. Darum hielt ich ihn für einen jener guten Franzosen, die England hassen.“ Churchill war noch nie einem so ungeschliffenen Menschen
begegnet. Ja, Darlan hatte sich auf dem Bankett das Urteil gesprochen, nun mochte er sich alles Weitere selber zuschreiben! Die Charakteristik Darlans war von Sir Ronald Campbell, dem britischen Botschafter in Paris, vervollständigt worden, der vor seiner Abreise aus Frankreich eine Unterredung mit ihm hatte. Darlan hatte den bereits erteilten Befehl zur Ausfahrt aufgehoben und den Schiffen verboten, die französischen Häfen zu verlassen. Als Campbell ihm höflich Vorstellungen machte, antwortete er mit dreister Arroganz: „Ich bin jetzt Marineminister. Es ist leicht, den Engländern die Flotte zu übergeben, aber schwer, sie wiederzubekommen.“ Und lachte laut über den eigenen Witz. Mit solchen Dingen scherzt man nicht. Churchills Augen funkelten böse. Aber Churchill wußte nicht alles. So war ihm nicht bekannt, was der Unterhaltung Darlans mit dem britischen Botschafter Campbell vorangegangen war. In den Tagen der Kapitulation entfaltete William Bullitt, der Botschafter der Vereinigten Staaten in Frankreich, eine emsige Tätigkeit. Er hatte Zusammenkünfte mit den verschiedensten Leuten, erteilte ihnen Ratschläge, setzte sie unter Druck. Er lud auch Darlan ein, um ihm auf den Zahn zu fühlen. Das Gespräch fand einige Stunden vor der Begegnung Darlans mit dem Botschafter Campbell statt und drehte sich um das Schicksal der französischen Flotte. „Sie wollen die Flotte nach England schicken?“ fragte Bullitt ironisch. „Sie riskieren viel.“ „Sie haben meine Gedanken erraten, Herr Botschafter. Die Engländer werden uns die Schiffe nie zurückgeben. Außerdem werden sie, sollten sie jetzt den Krieg gewinnen, mit
Frankreich kaum großmütiger verfahren als die Deutschen.“ „Sie sagen vernünftige Dinge.“ Darlan begriff, daß ihn die Amerikaner unterstützten. Bei der Zusammenkunft mit Campbell wiederholte er fast wörtlich denselben Satz, diesmal allerdings in scherzhaftem Ton. Der Premier nahm die Aufstellung der Admiralität über die Standortverteilung der französischen Flotte zur Hand und studierte sie noch einmal. In englischen Häfen lagen zwei Linienschiffe, vier Kreuzer, acht Zerstörer, zwölf Unterseeboote und etwa Zweihundert kleinere Einheiten – Minensuchboote und U-Boot-Jäger. „Die sind in unserer Gewalt“, sagte er laut. Von den U-Booten interessierte ihn besonders der Unterseekreuzer „Surcouf“, ein Wunder moderner Unterwassertechnik. Im Hafen von Alexandria lagen ein Schlachtschiff, vier Kreuzer und einige kleinere Schiffe. Der Premier lenkte nun sein Augenmerk auf Oran und den benachbarten nordafrikanischen Hafen Mers-el-Kebir. Hier befanden sich vier Kreuzer, darunter „Dunkerque“ und „Strasbourg“, moderne Großkampfschiffe, nach dem letzten Stand der Technik erbaut. Dann folgten Algier mit sieben Kreuzern sowie Dakar mit dem Schlachtschiff „Richelieu“ und einigen Torpedojägern. Bei der Insel Martinique, in Westindien, lag der Flugzeugträger „Bearn“ mit hundert in den USA gekauften Flugzeugen. Er hatte auf dem Weg von Amerika an der Insel angelegt. In bezug auf Martinique hatte die Admiralität gewisse Maßnahmen getroffen. Englische Schiffe patrouillierten in den Gewässern um die Insel. Aber die Lage hatte sich hier plötz-
lich kompliziert. Die Amerikaner erteilten den Engländern eine unzweideutige Warnung. Offenbar war für sie Martinique ein Objekt eigener Interessen. Ihrer Warnung verliehen die Amerikaner höchst realen Nachdruck – in der Nähe der Insel erschienen ein schwerer amerikanischer Kreuzer und sechs Zerstörer. Wirksame Aktionen zu unternehmen war höchst riskant – man durfte es außerdem mit Roosevelt nicht verderben. Möglicherweise bestimmte auch noch ein anderer Umstand die Haltung der Amerikaner. Von Kanada war französisches Gold im Wert von zweihundertfünfundvierzig Millionen Dollar nach Martinique geliefert worden. Roosevelt befürchtete, es könnte den Engländern in die Hände fallen. Das konnte man noch verstehen. Leider war der französische Gouverneur der Insel, Admiral Robert, auf die Seite der Vichy-Regierung getreten. Und mit Vichy trieben die Amerikaner ein undurchsichtiges Spiel. Ja, sie unterstützten womöglich sogar Petain. Im gegebenen Fall mußte man alles doppelt und dreifach erwägen. Churchill überflog die letzte Seite der Aufstellung der Admiralität. ‘Was Toulon betrifft, überlegte er, so ist dieser Hafen wegen seiner starken Abwehr sowohl von der Seeseite als auch von der Luft her für uns unerreichbar. Aber bezüglich der übrigen Häfen – der Premier trommelte mit den Fingern auf den Tisch –, bezüglich der übrigen Häfen muß man Maßnahmen ergreifen. Ja, harte Maßnahmen. Heute Bundesgenosse, morgen nicht. Wenn Bundesgenossen sich trennen, muß einer von ihnen unschädlich gemacht werden. So lautet das Gesetz. Das gilt nicht nur im Krieg. Man muß auch an die Zukunft denken.
Die französische Flotte muß außer Gefecht gesetzt werden. Auf diese Weise wird es zudem nach dem Krieg einen Konkurrenten, einen Rivalen zur See weniger geben. Wie soll man diese Operation nennen? Churchill besann sich einen Augenblick. Wie wäre es mit „Catapult“? Der Premierminister schloß die Tür auf und ging hinaus. Eine Viertelstunde später begann die Sitzung des britischen Kabinetts. Am 1. Juli übergab der Premier und Kriegsminister Großbritanniens, Winston Churchill, dem Vizeadmiral Somerville eine kurze Anordnung: „Bereithalten für ,Catapult’ dritten Juli.“ Somerville befehligte die britische Flotte im Mittelmeer. Seine Schiffe lagen in der Bucht von Gibraltar – neunzehn Einheiten, deren wichtigste das Schlachtschiff „Hood“ und der Flugzeugträger „Ark Royal“ waren. Kurz vorher hatte der Vizeadmiral aus London den Text des Ultimatums erhalten, das er dem französischen Admiral Gensoul übergeben sollte. Die in Oran und Mers-el-Kebir liegenden französischen Schiffe wurden vor die Wahl gestellt, sich in englische Häfen zu begeben und den Kampf gegen Deutschland fortzusetzen oder aber sich selbst zu versenken. Andere Varianten sah das Ultimatum nicht vor. Für den Fall der Ablehnung des Ultimatums hatte Admiral Somerville Anweisung, die französischen Schiffe unter Einsatz des gesamten ihm hierfür zur Verfügung stehenden Flottenpotentials zu versenken. Das britische Geschwader verließ im Morgengrauen die Bucht. Um neun Uhr dreißig morgens erschienen die Schiffe vor Oran. Von der oberen Kommandobrücke aus sah man die vom Grün der Palmen umrahmte weiße Stadt mit den flachen Dächern ihrer Gebäude. Sie war schön, diese fremdländische
Stadt an der vom durchsichtigen, aquamarinblauen Meer umspülten ausgedörrten ockergelben Küste. Unbeweglich lagen die grauen Schiffskolosse in der Bucht. Somerville genoß unwillkürlich den Anblick der Schlachtkreuzer. Die „Dunkerque“ und die „Strasbourg“ hatten dicht nebeneinander Anker geworfen. Man hörte von dorther das Trillern der Bootsmannspfeifen, während die Decks geschrubbt wurden. Die Sonne stand schon hoch, doch die auszehrende afrikanische Hitze hatte noch nicht eingesetzt. Somerville entsandte mit dem Ultimatum Kapitän Holland, den ehemaligen Marineattache in Paris. Holland sprach ein tadelloses Französisch. Somerville sah mit bloßem Auge, wie man auf der „Dunkerque“ das Fallreep herabließ und Kapitän Holland gewandt an Bord kletterte. Es verging eine geraume Zeit, bis Kapitän Hollands Gestalt wieder an Deck auftauchte. Er stieg zum Kutter hinab. Den Blicken Somervilles entging auch nicht ein Detail, das zur Vorsicht mahnte. Auf den französischen Schiffen nahm man die Schutzhüllen von den Geschützen ab. Bei seiner Rückkehr berichtete Kapitän Holland, daß Admiral Gensoul sich geweigert habe, ihn zu empfangen. Er halte es für unter seiner Würde, mit einem Kapitän, einem Offizier niedrigeren Ranges, offizielle Verhandlungen zu führen. Dennoch hatte Gensoul das Schreiben Somervilles beantwortet. In der Antwort versicherte Gensoul, daß die französischen Schiffe nicht zu den Deutschen übergehen würden. Was das Ultimatum betreffe, so wünsche er nicht, in Verhandlungen einzutreten, doch werde er Gewalt mit Gewalt beantworten. Die Verhandlungen wurden tagsüber fortgesetzt. Somerville hielt London auf dem laufenden. Zwei verbündete Flotten
lagen sich gegenüber, die Geschützrohre aufeinander gerichtet. Um achtzehn Uhr sechsundzwanzig Minuten ließ Churchill aus der Admiralität den Befehl funken: „Die französischen Schiffe haben sich Ihren Bedingungen zu unterwerfen oder sich selbst zu versenken. Wenn sie das nicht tun, sind sie von Ihnen vor Einbruch der Dunkelheit zu versenken.“ Dieser Funkspruch aus London erreichte Somerville eine halbe Stunde nach Beginn des Beschusses. Um siebzehn Uhr vierundfünfzig Minuten hatte Vizeadmiral Somerville, als er wieder keine befriedigende Antwort erhalten hatte, von sich aus Befehl gegeben, das Feuer zu eröffnen. Geschützsalven zerrissen die spannungsgeladene Stille. Sogleich antworteten die Küstenbatterien. Bomber, die von dem Flugzeugträger aufstiegen, bombardierten die französischen Schiffe. Das Schlachtschiff „Bretagne“ explodierte. Fliegerbomben oder Granaten großen Kalibers hatten die Pulverkammern gesprengt. Die „Bretagne“ barst auseinander und ging binnen weniger Minuten unter. Der Kampf dauerte an. Die französischen Schiffe wollten sich offenbar dem Kampf entziehen und nutzten hierfür die hereinbrechende Dunkelheit. Als erstes brach das Schlachtschiff „Strasbourg“ durch. Das Feuer der britischen Schiffe hatte ihm ernste Schäden zugefügt. Im Heckteil war ein Brand ausgebrochen. Die Flammen züngelten bis zur halben Höhe des Mastes. Das Geschützfeuer erwidernd, gelangte die „Strasbourg“ in die offene See. Sie zu verfolgen war sinnlos. Das Schiff verbarg sich in der zunehmenden Dunkelheit. Der Besatzung war es gelungen, das Feuer zu löschen. Das Linienschiff „Dunkerque“ lief, da ihm der Raum zum
Manövrieren fehlte, auf einer Untiefe auf. Ein weiteres Schlachtschiff, die „Provence“, hatte schwere Beschädigungen erlitten und setzte sich selbst an der Küste auf Grund. Die Operation „Catapult“ war in allen französischen Kriegshäfen gleichzeitig durchgeführt worden. Ein großer Teil der französichen Flotte existierte nicht mehr. Am selben Tag, da das Geschwader des Vizeadmirals Somerville sich der afrikanischen Küste näherte, rollte eine Kolonne von Lastwagen, vollbeladen mit Marineinfanterie, auf der Chaussee von Dover nach Portsmouth. Die Kolonne war in Dover mitten in der Nacht aufgebrochen. Bei Tagesanbruch näherte sie sich ihrem Bestimmungsort. Die Soldaten hatten keine Ahnung, wohin sie fuhren. Es hieß, die Deutschen hätten an der Küste Fallschirmtruppen abgesetzt, und die Marinebrigade solle in die Kampfhandlungen eingreifen. In dem Halbdunkel unter der Plane saß Robert neben dem rothaarigen Edward. Er konnte sich kaum rühren, so eng war es in dem Wagen. Den Männern fielen die Augen zu. Es war nicht leicht, sich in so früher Morgenstunde wachzuhalten. Dennoch kam niemand zum Schlafen. In der Öffnung der Plane sah man Häuserfassaden vorüberfliegen. Sie fuhren in eine Stadt ein, bogen ab, der Lkw verlangsamte die Fahrt und hielt. Den Soldaten wurde befohlen, die Wagen zu verlassen und anzutreten. Robert sprang auf das Pflaster. Die Beine waren steif wie Klötze. Er schaute sich um. War das nicht Portsmouth? Klar, in der Ferne sah man ja auch die Insel Wight. Robert war oft hier gewesen. „Das ist Portsmouth“, sagte er zu Edward. „Die Boches scheinen hier aber nicht abgesprungen zu sein.
Dafür ist es ringsum zu ruhig.“ „Ja, wirklich. Na, wir werden schon sehen.“ Zu den Soldaten trat Brigadekommandeur Macgroeg. Er hatte am Abend vorher mit einem Vertreter des Marinestabs Dover verlassen. In Gruppen zu zehn Mann marschierten sie zum Hafen. Macgroeg blieb bei der Gruppe, der Edward und Robert angehörten. Er selbst gab den Soldaten die nötigen Anweisungen. Jetzt wurde alles klar. Im Hafen lagen französische Unterseeboote. Es war der Befehl gekommen, sie unter Bewachung zu stellen. Die Franzosen hatten ihre Bündnispflicht verletzt und mit Hitler Frieden geschlossen. Die von Macgroeg geführte Gruppe sollte den Unterseekreuzer „Surcouf“ übernehmen. Die Operation müsse ohne Zwischenfälle verlaufen. Von den Waffen sei nur im äußersten Fall Gebrauch zu machen. Die Waffen seien zu prüfen. Die Soldaten klickten mit den Gewehrschlössern. Macgroeg entfernte sich, um die anderen Gruppen zu unterweisen. „Weißt du“, sagte Edward, „mir ist nicht ganz wohl dabei. Lieber wäre mir, wir kämpften gegen Deutsche.“ Robert stellte fest, daß der ganze Hafen von Truppen abgesperrt war. Die Absperrung bildeten Schotten in kurzen karierten Röcken und weißen Gamaschen. Es dauerte nicht lange, da kehrte Macgroeg zurück. Er stellte sich so auf, daß er alle Gruppen übersehen konnte, hob die Hand und senkte sie rasch. Im Eilschritt marschierten die Soldaten zum Hafenufer. An der Kaimauer lagen die Unterseeboote, in einer Reihe nebeneinander vertäut und mit dem Heck zum Ufer. Sacht bewegte sich an den Flaggstöcken die französische Flagge. Es wehte
eine sanfte Brise. In der Stille hallten die Schritte der Soldaten dumpf wider. Der Unterseekreuzer „Surcouf“ war der erste in der Reihe. Robert erkannte ihn sofort. Spitznasig, langgestreckt, anderthalbmal so lang wie die anderen UBoote. Macgroeg ging über den Steg. Ihm folgten Edward, dann Robert. „Den Ausweis!“ Die Schiffswache senkte das Gewehr und versperrte ihnen den Weg. Von hinten drängte man nach; ungewollt gab Robert seinem Kameraden Edward einen Schubs. Es fehlte nicht viel, und Edward wäre ins Wasser gefallen. Um das Gleichgewicht zu wahren, warf Edward den Arm vor und stieß dabei den Wachposten mit dem Gewehrkolben. Der Wachposten wich zurück und legte das Gewehr an. Das Weitere vollzog sich blitzschnell. Robert sah, wie jemand an ihm vorbei die Hand vorstreckte und das Gewehr am Lauf packte. Er hörte einen Schuß, sah Edward stürzen und den bleich gewordenen Franzosen zur offenen Luke zurückweichen. Er zielte auf Macgroeg. Robert schoß, er tat es fast unbewußt. Der Wachposten fiel aufs Deck. In der Luke zeigte sich ein französischer Matrose. Er wollte die Luke zuklappen, aber englische Soldaten, die hinzugesprungen waren, hatten sich an die Stahlplatte geklammert. Der Franzose schrie: „Alarm! Zu den Waffen!“ Mehrere Soldaten stürzten nach unten. Auch Robert kletterte die Steigleiter hinab. Es begann ein Handgemenge. Der Matrose wurde gewaltsam entwaffnet. Mit verzerrtem Gesicht schrie er unentwegt: „Zu den Waffen! Wir sind verraten! Es lebe Frankreich!“
Am Ende des langen, schmalen Ganges tauchten noch ein paar französische Matrosen auf. Dröhnend krachten Schüsse. Robert wollte schießen, aber er konnte in dem engen Gang das Gewehr nicht anlegen. Sekundenlang sah er wieder das Gesicht des Brigadekommandeurs – an seiner Jacke klebte Blut –, dann einen französischen Offizier in goldbetreßter Uniform. Den Lärm übertönend, befahl der Offizier der U-Boot-Besatzung mit schallender Stimme, den Widerstand einzustellen. „Was soll das bedeuten?“ wandte er sich an Macgroeg. „Im Namen Seiner Majestät überbringe ich den Befehl…“ Macgroeg wankte, die Soldaten stützten ihn. Das Sprechen fiel ihm schwer. „Ihr Schiff kommt unter die Kontrolle der britischen Behörden.“ „Ich unterwerfe mich der Gewalt. Aber Sie verletzen die Traditionen der Bündnispflicht und der Freundschaft.“ Der Kapitän des U-Bootes wandte sich zu den Matrosen um, die sich am Ende des Ganges zusammengedrängt hatten. „Ich bitte euch, keinen Widerstand zu leisten. Wir sind dazu nicht stark genug.“ „Ich danke Ihnen!“ sagte Macgroeg. „Ich verstehe und achte Ihre Gefühle, aber ich erfülle nur eine unangenehme Pflicht.“ Er reichte dem Kapitän die Hand. „Ich erfülle auch meine Pflicht.“ Ohne die ausgestreckte Hand zu beachten, ging der Kapitän in seine Kajüte. Auf dem Deck lagen noch der französische Wachposten und Edward. Aus den Wunden der Toten sickerte Blut, vermischte sich und floß das eiserne Deck hinab über Bord. Blut zwei-
er Bundesgenossen… Robert langte sich eine Zigarette aus der Packung. Wie war so etwas nur möglich! Er zündete sich die Zigarette an. Seine Finger zitterten. Am Heck des Schiffes stand bereits eine englische Wache.
DRITTER TEIL
1 Einen seltsamen Anblick bot die hellblaue Kutsche mit den Bronzeverzierungen, die da an einem Maitag des für England unheilvollen Jahres 1940 auf der Landstraße fuhr. Ein Viergespann brachte die Kutsche in rascher Fahrt zum Viktoriahaus. Bei jedem Stoß der Räder verzog der eine Insasse schmerzhaft das Gesicht, während der andere mit unbeweglicher Miene dasaß, lässig Konversation führend, als machten ihm die Unbequemlichkeiten einer Reise in einem so mittelalterlichen Vehikel nichts aus. Der Mann mit dem starren Gesicht, in Perücke und Paradeuniform, prunkvoll und theatralisch, geradezu das Modell für einen Hofmaler, war Lord Amery. Sein lebhafter, hagerer Nachbar war der betagte Parlamentarier Sir Samuel Hoare, der den Titel Lord Templewood trug. Beide fuhren nach dem Viktoriahaus zu einer Feier, die der schrullenhafte Gutsherr Stuart Kington alljährlich zum Geburtstag Ihrer Majestät der Königin Viktoria veranstaltete. Ihr Gespräch drehte sich um das Angebot, das der neue Premierminister Winston Churchill Sir Samuel gemacht hatte. „Ich meine“, sagte Amery, „Sie sind wirklich der geeignetste Mann für einen solchen Auftrag. Der Premier hat recht, gerade Sie müssen Botschafter in Sondermission beim Caudillo werden. Franco wird die Rolle, die Sie in den letzten Ereignissen spielten, nicht vergessen haben.“ „Möglich. Aber im vorliegenden Falle interessiert uns der Caudillo am allerwenigsten. Was sagt Lord Hamilton dazu?“ „Er hat mit einem seiner deutschen Freunde gesprochen. Sie waren kurz vor Kriegsbeginn übereingekommen, die Verbindungen aufrechtzuerhalten. Die Technik des Verfahrens ist
denkbar einfach: Sie nehmen eine Postkarte, schreiben darauf einen Vierzeiler von Horaz und werfen sie in den Briefkasten. Die Karte schicken Sie aus der Stadt ab, in der die Begegnung stattfinden soll. Ich werde Ihnen eine Schweizer Adresse und das Bändchen mit Horaz’ Säkulargedicht geben… Die Begegnung findet zwei Wochen später, um fünf Uhr nachmittags, auf dem Postamt statt, wo die Postkarte aufgegeben wurde. Der Poststempel zeigt den Treffpunkt an. Uns bleibt nur übrig zu entscheiden, wie Sie nach Madrid kommen, ohne unnötig Aufsehen zu erregen.“ Sir Samuel antwortete nicht sofort. Die Kutsche rüttelte, und er verzog wieder das Gesicht. Die Leber machte ihm zu schaffen. Er müßte mal nach Karlsbad fahren, in die Tschechoslowakei, aber… Fürchterlich, diese Maskerade mit Kutsche und Perücke! Ein unverbesserlicher Alter war doch dieser Stuart Kington mit seinem Spleen und seinem Konservatismus. Sie hatten das Auto an der Grenze des Landsitzes zurücklassen und in die klapprige Kutsche umsteigen müssen. „Ich habe mir schon darüber Gedanken gemacht“, sagte er, als sich die Schmerzen gelegt hatten. „Zuerst begebe ich mich im Gefolge des Herzogs von Kent nach Lissabon. Er fährt dorthin zur Dreihundertjahrfeier der Unabhängigkeit Portugals. Danach kann man meine Ernennung offiziell bekanntgeben.“ „Ausgezeichnet! Das gefällt mir! Sie müssen auf irgendeinem Weg mit Haushofer in Verbindung treten. Er hat Einfluß auf Hitler und ist, wie es scheint, proenglisch gesinnt. Zu Hamilton hat er sehr gute Beziehungen.“ Lord Amery betrachtete Hoare beifällig. Gerade solch einen
Mann brauchen wir jetzt, überlegte er. Er kannte ihn seit langem. Als er noch in Oxford studierte, war Hoare bereits Chef des britischen Geheimdienstes in Rußland. Ein sehr erfahrener Spion! Wer wäre auf den Gedanken gekommen, sich im diplomatischen Spiel des ungebildeten Bauern Rasputin, dieses wollüstigen Bärtigen, zu bedienen, der den Narren spielte! Durch Rasputin übte Hoare Einfluß auf die russische Kaiserin und den Zaren Nikolaus II. aus. Hoare stammte aus einem alten Bankiersgeschlecht der City, einer seiner Vorfahren hatte Oliver Cromwell finanziert. Er selbst schlug die diplomatische Laufbahn ein und verband sie nach alter Tradition mit der Tätigkeit eines Geheimagenten. Hoare nahm an den Münchener Besprechungen teil, zeigte sich bei den Ereignissen in Spanien als Anhänger Francos und war für eine Reise nach Spanien in besonders wichtiger und delikater Mission zweifellos der beste Kandidat. „Natürlich“, fuhr Amery fort, und sein Gesicht wurde wieder undurchdringlich wie eine Maske, „sind Postkarten nicht das einzige Mittel, Verbindungen zu suchen. Sie können hierfür auch andere Wege erschließen. Nehmen Sie mit dem deutschen Botschafter von Stohrer Fühlung auf und halten Sie sich an den amerikanischen Botschafter Weddell. Er kann Ihnen sehr nützlich sein. Übrigens hängt alles von Ihrem Können ab. Sie verfügen über mehr Erfahrungen als viele von uns.“ Das Viergespann zog die Kutsche mit Leichtigkeit auf die Anhöhe, auf der das Gutshaus stand, und fuhr an einem alten, halb zugeschütteten und mit Heidekraut bewachsenen Festungsgraben vorüber. Der Kutscher brachte die Pferde an der Auffahrt vor dem
Haus, zu dem viele Nebenbauten und Wirtschaftsgebäude gehörten, geschickt zum Stehen. „Endlich!“ sagte Hoare erleichtert aufatmend. „Nein, solche Schrullen sind nichts für mich.“ Der Butler führte die Gäste in die große, mit alten Möbeln ausgestattete Halle, öffnete die Tür zum Salon und verkündete mit lauter Stimme: „Der Sehr Ehrenwerte Lord Amery und der Sehr Ehrenwerte Lord Templewood beehren das Haus des Sehr Ehrenwerten Lords Stuart Kington mit ihrer Anwesenheit!“ Stuart Kington kam den Gästen zur Begrüßung entgegen. Er war ein großer, kräftiger Greis mit eigenwilligem Mund und durchdringenden Augen unter ergrauten, buschigen Brauen. Wie zwei Seemuscheln ragten seine großen Ohren unter der gepuderten Perücke hervor. Er trug die Uniform eines Artillerieobersten des Rothermere-Regiments, einen grünen Überrock mit allen Orden und Ehrenzeichen und eine breite Schulterschärpe. Der alte Herr umarmte Hoare, während er Amery zurückhaltender begrüßte. „Erfreut, sehr erfreut, daß Sie mich an einem solchen Tag besuchen“, sagte er mit seiner dumpfen Stimme. „Und der Nachkomme Marlboroughs, wird er auch kommen?“ Kington meinte Churchill. „Nein? Nun gewiß, immer Geschäfte und Geschäfte. Unaufschiebbare, sagen Sie? Ja, ja. Unter Ihrer Majestät der Königin Viktoria hatten wir auch Geschäfte, nichtsdestoweniger fanden wir immer Zeit, ihren Geburtstag zu feiern.“ Kington lud sie in die Bibliothek ein. Die Wände des hohen Raumes verdeckten bis zur Decke eichene Bücherregale. Auf dem Schreibtisch lag eine vergilbte Mainummer der „Times“
aus dem Jahre 1901, in der offenbar eben erst gelesen worden war. „Wie gefällt Ihnen dieser junge König?“ Kington zeigte auf das Bild Eduards VIL, das auf der Titelseite der „Times“ prangte. „Nur meine Ehrfurcht vor dem Thron verbietet es mir, ihn ein leichtsinniges Jünglein zu nennen. Zu Lebzeiten seiner Mutter hätte er sich so etwas nicht herausgenommen. Jetzt aber, sehen Sie hier, ist der deutsche Kaiser Wilhelm der Zweite Feldmarschall der britischen Armee. Ich gratuliere!“ Kington lachte ironisch. „Ist es denn lange her, daß derselbe Wilhelm den Ohm Krüger zu seinem Sieg beglückwünschte? Diesen Rebellen und Häuptling der Buren, die sich gegen die britische Krone erhoben! Und das alles gleich nach dem Tod der Mutter. Kaum, daß die Seelenmesse für die Verstorbene gelesen war.“ Die Gäste zeigten über die Worte Kingtons nicht die geringste Verwunderung. Sie waren darauf gefaßt, allerlei Verschrobenes von dem alten Herrn zu hören. „Eduard der Siebente war gar nicht mehr so jung, er bestieg den Thron mit Vollbart und Glatze“, wandte Samuel Hoare ein, während er das Bild betrachtete, begriff aber sofort, daß er dem Alten selbst in so milder Form nicht hätte widersprechen dürfen. „Sagen Sie nicht: ,Er war’!“ brauste Kington auf. „Für mich ist er es. Sie vergessen zu schnell das goldene Zeitalter der britischen Geschichte. Ich lebte in dieser Zeit und bin wieder in die Epoche der Königin Viktoria zurückgekehrt! Sie können versichert sein, ich bereue das nicht… Wissen Sie eigentlich, daß in der Regierungszeit Ihrer Majestät der Königin die Zahl der Untertanen der britischen Krone auf das Zwanzigfa-
che anstieg – von zwanzig Millionen auf fast vierhundert Millionen?“ Kington hatte dies am Abend zuvor in einer alten Zeitschrift nachgelesen. „Sie ist als erste von den englischen Königen Kaiserin von Indien geworden.“ Das wunderliche Benehmen des Hausherrn ließ sich nicht nur mit greisenhaftem Starrsinn erklären. Sproß eines alten Adelsgeschlechts, in den letzten Jahrzehnten verarmt, war Stuart Kington ein glühender Verehrer der viktorianischen Epoche des britischen Empire geblieben. Voller Schmerz erlebte er die ersten Symptome des beginnenden Verfalls des Weltreichs und klammerte sich hoffnungslos an das Vergangene. Teilnehmer an vielen Kolonialkriegen, herrschsüchtig und unerbittlich von Charakter, war Stuart Kington einst der Prototyp des grausamen Kolonisators. An seinem Lebensabend merkte er plötzlich, daß andere Staaten die unter Königin Viktoria erreichte Macht Großbritanniens untergruben und zerstörten. Daraus zog der alte Mann seine Schlüsse. Der letzte Tropfen, der das Maß seines Schmerzes zum Überlaufen gebracht hatte, waren die nach seiner Meinung tragischen Ereignisse in der Mitte der zwanziger Jahre. Ein Generalstreik der Bergarbeiter aus den Kohlengruben legte ganz England lahm. Der Streik erfaßte auch die Dock- und Hafenarbeiter, sogar die Lakaien und Hausknechte, die eine unerwartete Störrigkeit an den Tag legten. Kington galt schon immer als ein Anhänger strenger Maßnahmen. Auch unter der Königin Viktoria war es zu derlei Dingen gekommen. Er hatte als junger Offizier in einem Regiment gedient, als die Grubenarbeiter von Wales streikten. Das lag ein halbes Jahrhundert zurück, aber Kington erinnerte sich noch sehr genau an alles. Gewiß, sie waren geringer an Zahl, die Aufrührer, aber
immerhin tausendvierhundert. Die Regierung machte damals nicht viel Umstände – man schoß auf die Streikenden. Da war die Ruhe gleich wiederhergestellt. Was bedeuteten schon hundert Tote, wo es um die Ordnung ging! 1926 hatte Kington die bewährte Methode zur Besänftigung der Streikenden wieder in Vorschlag gebracht. Aber man stimmte ihm nicht zu. Mit einer Regierung, die nach seiner Meinung so schlappschwänzig war, wollte der Artillerist nichts mehr zu tun haben. Der Streik ging zu Ende, und Kington zog sich von den Staatsgeschäften zurück. Als er im Range eines Artillerieobersten seinen Abschied nahm, beschloß er, sich ein für allemal jeder aufregenden Tätigkeit zu enthalten. Fortan würde er seinen Fuß nie mehr über die Grenzen des Stammguts setzen! Seitdem waren fast fünfzehn Jahre verstrichen. Kington war sich treu geblieben. Er führte ein zurückgezogenes, ruhiges Leben. Nur einmal im Jahr – zum Geburtstag der Königin Viktoria – lud er alte Freunde zu sich ein. Aber der Freunde wurden immer weniger. Die einen schieden aus dem Leben, die anderen ödete mit der Zeit seine Verschrobenheit an. Rein zufällig war Kington zu Beginn seines Einsiedlerlebens beim Durchblättern alter Zeitungen auf die Ereignisse vor einem halben Jahrhundert aufmerksam geworden, da die Königin Viktoria zur Kaiserin von Indien ausgerufen wurde. Die Lektüre alter Zeitungen wurde ihm nun zur Gewohnheit, dann zum Bedürfnis. Er begann in der Vergangenheit zu leben, die er für sich zur Gegenwart machte. Jeden Tag brachte ein alter Kammerdiener in die Bibliothek Zeitungen, die vom gleichen Tag vor vierzig Jahren datierten. Die neue Zeitrechnung begann Kington mit dem fünfzigsten Regierungs-
Jubiläum der Königin. Ebenfalls im Mai, fiel es fast mit ihrem Geburtstag zusammen. Die in den alten Zeitungen behandelten Ereignisse erregten Kington in immer steigendem Maße. Er durchlebte stets von neuem, was sich in den Jahren seiner Jugend und seines besten Mannesalters in der Welt zugetragen hatte. Aber die Geschehnisse bereiteten ihm jetzt keinen Kummer. Der Greis teilte den Standpunkt des Kabinetts Ihrer Majestät der Königin Viktoria. Die vergilbten Zeitungsblätter berichteten vom Anschluß Burmas, von der Einverleibung Nigerias. Kington billigte das – gut, das Empire erweiterte sich! Salisbury kam an die Macht. Ausgezeichnet! Kington imponierte die starke Hand des neuen Regierungsoberhaupts. All das beruhigte, hob die Stimmung. Der verabschiedete Oberst hatte streng verboten, ihm Zeitungen aus der Gegenwart vorzulegen. In seinem Haus duldete er keine Zeile dieses nervenaufpeitschenden Geschreibsels. Kington rührte es aufrichtig, daß Königin Viktoria bereits vierzig Enkel und dreißig Urenkel hatte. Ihn erfüllte patriotischer Stolz – den zahlreichen Nachkommen der Königin gehörte beinahe die Hälfte aller Throne Europas. Der Fruchtbarkeit der britischen Königin galt sein besonderes Augenmerk. Er entwickelte diesbezüglich seine eigene Theorie und schrieb sogar eine Abhandlung über die Weltmonarchie. Es könne ja tatsächlich eine Zeit eintreten, da alle Throne durch verwandtschaftliche Bande verknüpft sein werden. Dann würde man sich auf dem großen Familienrat über die Wahl eines Weltmonarchen einigen können. Zwar lieferten auch die Dänen Prinzessinnen als Gemahlinnen für Monarchen, aber die Königsdynastie der Angelsachsen würde allen Grund
haben, ihren Prätendenten auf den Weltthron durchzudrükken. Für seine Theorie erfand Kington auch einen Terminus – monarchischer Kosmopolitismus. Die Bezeichnung gefiel ihm. Der Kammerdiener meldete die Ankunft von Kington junior mit Gattin. Alle erhoben sich und gingen in die Halle. Amery kannte den Sohn Stuart Kingtons, der große Mengen Aktien der Birminghamer Rüstungswerke in seinem Besitz hatte. Dem konnte man bei Gott keine überflüssige Romantik vorwerfen, nein, das war ein Busineßman, ein moderner Mensch durch und durch! Der Alte wurde von ihm ausgehalten. Auch Schrullen kosten Geld. Schließlich war die Gesellschaft vollzählig. Sie war nicht groß – ein paar Damen in Krinolinen und ein paar Herren, gekleidet wie in alter Zeit zu einem Hofempfang. Keine Fracks und Smokings. In steifer Haltung saßen sie an der Tafel vor dem Sevres-Porzellan. Zum Schluß des Diners tranken sie auf das Wohl der Königin. Als es dunkel wurde, lud der Hausherr die Gäste ein, sich im Garten ein Feuerwerk anzusehen. Aus alter Erinnerung begeisterte sich Kington für die Pyrotechnik und hantierte mit Pulver und Bertholletschem Salz. Er hielt sich für einen Spezialisten auf diesem Gebiet, ebenso wie in der Heraldik, die gleichfalls sein Steckenpferd war. Besorgt um das Gelingen des Schauspiels, zündete der alte Kington eigenhändig die Lunte an, bat die Gäste, zur Seite zu treten, gab das verabredete Zeichen – und das dunkle Blau der Nacht durchzuckten vielfarbig leuchtende Flammen. Prasselnd und zischend stieg in feuriger Spirale eine Rakete
auf, zerplatzte und rieselte als blauer, grüner und gelber Sprühregen zur Erde nieder. Schwärmer krepierten und zeichneten in der Luft phantastische Zickzacklinien. Römische Kerzen brannten, mit ihrem kirschroten Licht die Baumkronen, die Ruinen des alten Schlosses und die Mauern des neuen Hauses bestrahlend. Immer neue Raketen flogen empor. Es war, als flammten am Himmel pausenlos Blitze auf. Das Feuerwerk dauerte lange. Kington freute sich wie ein Kind. Es war ein prächtiges Feuerwerk. Aber den Clou hatte sich Stuart Kington für den Schluß aufgehoben. Die letzte Rakete schraubte sich zum Zenit hoch und zerfiel in eine Vielzahl bunter Feuerkugeln, die eine Art Krone bildeten. „Krone der Viktoria“ – so nannte Kington seine pyrotechnische Erfindung. Glänzende Diamanten, funkelnde Rubine, lichtblaue Perlen senkten sich langsam zur Erde herab. Die Krone zerfloß, verlor ihre Form und erlosch. Der Garten und der Vorsprung der mit struppigem Gebüsch bewachsenen Schloßmauer versanken im Dunkel. Die Gäste drückten übertrieben ihr Entzücken aus. Sie waren noch im Garten, als sich auf der Landstraße knatternd ein Motorrad näherte. Kington horchte auf: Wer wagte es, seinen Befehl zu mißachten? Das Motorengeräusch verstummte, und eine Minute später erschien in dem Garten der besorgte Luftschutzleiter des Bezirks, begleitet von zwei Konstablern. „Sir“, sagte er mit höflicher Strenge, „ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie gegen die Verdunklungsvorschriften verstoßen. Die Bedingungen der Kriegszeit zwingen mich…“ Das Gesicht puterrot, musterte Stuart Kington die ungebetenen Gäste und brüllte plötzlich los:
„Fort! Fort von hier! Ich soll schon nicht mehr Herr auf meinem eigenen Grund und Boden sein? Was gehen mich Ihre blöden Bedingungen an! Führen Sie Krieg, wo Sie wollen. Hinweg aus meinen Augen! Herunter von meinem Besitz!“ Wütend stampfte der Greis mit den Füßen, fuchtelte mit der geballten Faust, erstickte fast vor Zorn. Man führte ihn ins Haus. Der Luftschutzleiter stammelte eine Entschuldigung. Doch der Abend, der so schön begonnen hatte, war verdorben. Bald danach ließ man die Kutsche vorfahren, und Amery und Hoare brachen auf. An der Gutsgrenze erwartete sie ihr Wagen. Kingtons Sohn und die übrigen Gäste blieben bis zum Morgen im Viktoriahaus. Das Agrement aus Madrid traf umgehend ein. Es sah danach aus, daß der von Churchill ausgeheckte Plan verwirklicht werden konnte. Jedenfalls machte Franco keine Schwierigkeiten. Möglicherweise hatten die Deutschen dem Caudillo sogar selbst nahegelegt, die Einwilligung zur Einreise Sir Samuel Hoares beschleunigt zu erteilen. Auch diese Variante war nicht ausgeschlossen. Jetzt durfte man keine Minute verlieren. Am 1. Juni, mitten in der Schlacht um Frankreich, kam Sir Samuel Hoare, der Botschafter mit Sondermission, in Lissabon an. Am Tag darauf landete ein eigens für diesen Zweck eingesetztes britisches Flugzeug auf dem Flugplatz Barajas bei Madrid. Hoare ging unverzüglich ans Werk. Die britische Botschaft befand sich in der vornehmen Calle Fernando el Santo, doch Sir Samuel Hoare hielt es für angebracht, im Hotel Ritz abzusteigen. Bald darauf verlegte er
sein Domizil nach der Franco-Promenade. Den wohnlichen Appartements der Botschaft zog Hoare das weniger bequeme Privathaus vor. Hierfür hatte der britische Botschafter seine Gründe: Die neue Wohnung lag neben dem Haus des deutschen Botschafters von Stohrer. Nur eine Ziegelwand trennte sie voneinander. Die Zeit und die Ereignisse drängten zur Eile, Frankreich konnte jeden Tag kapitulieren. Hoare kalkulierte diese Möglichkeit nüchtern ein. Der Botschafter mit Sondermission hoffte, symbolisch ausgedrückt, die zwischen seinem Land und Deutschland aufgerichtete Mauer beseitigen zu können. Darin bestand der Sinn der Sondermission, die Sir Samuel Hoare in der Downing Street vor dem Abflug aus London übertragen worden war. Von dem Bogenfenster aus konnte Hoare beobachten, was für Wagen zur deutschen Botschaft fuhren. Zweimal sah er den Botschafter, einen großen, repräsentablen Herrn mit aristokratischem Äußeren, und seine ebenso schöne wie elegante Frau. Morgens unternahm das Ehepaar gewöhnlich eine Spazierfahrt, aber Hoare bot sich keine Möglichkeit zu einer persönlichen Bekanntschaft. Viel Zeit beanspruchte die Erledigung nutzloser, aber notwendiger Formalitäten. Die Überreichung des Beglaubigungsschreibens ging mit großem Pomp vor sich. Lange hatte Madrid kein so prunkvolles Schauspiel gesehen. Die feierliche Zeremonie fand im Thronsaal statt. Franco, ein nicht großer, etwas korpulenter Mann, der wie ein Obsthändler von der Straße aussah, war persönlich zugegen, desgleichen sein brünetter Schwager, der Außenminister Serrano Suner, den man den „spanischen Ciano“ nannte. Auch andere
Minister, aufgeputzte Generale, hohe Würdenträger und Erzbischöfe hatten sich eingefunden. Nach der Zeremonie schickte Hoare die erste Information nach London. Er berichtete von seinen Eindrücken. Aber in London war man nervös geworden und forderte eine Forcierung der Ereignisse, um derentwillen der neue Botschafter in die spanische Hauptstadt entsandt worden war. Diese Nervosität hätte beinahe die ganze Sache verpatzt. Im Grunde seines Herzens war Hoare fest davon überzeugt, daß Eile völlig fehl am Platze sei. Das sagte ihm seine Erfahrung. Trotzdem begann er, den Stimmungen der Downing Street folgend, das ins Werk zu setzen, was er an sich für verfrüht hielt. Das großartige Bankett aus Anlaß der Ernennung des neuen Botschafters zog die Creme der Madrider Gesellschaft wie ein Magnet an. Lediglich die italienischen und die deutschen Diplomaten, die Vertreter jener Länder, die sich im Kriegszustand mit Großbritannien befanden, waren nicht zugegen. Und gerade mit ihnen suchte Samuel Hoare dringend Kontakt. Aber der Botschafter fand auch diesmal einen Weg. Der Herzog von Windsor verfügte in Madrid über beneidenswerte Beziehungen. Über ihn sondierte Hoare die Möglichkeiten, mit den Deutschen in Verbindung zu treten, und zwar bei den Neutralen, die auf dem Bankett zahlreich vertreten waren. Der Abend verlief glänzend. Die Madrider Zeitungen waren voll von Berichten über das Bankett. Alles schien gut zu gehen. Der Herzog von Windsor hatte die Dienste der Neutralen in Anspruch nehmen wollen, aber am nächsten Tag schickte der Sender Madrid eine unangenehme Information in den Äther. In seiner wöchentlichen Übersicht teilte der Rundfunkkommentator mit klangloser Stimme mit, der neue briti-
sche Botschafter führe mit den Deutschen Friedensverhandlungen. Hoare zerbrach sich den Kopf: Wer von den Neutralen konnte ihnen das eingebrockt haben? Am ehesten der Schweizer Gesandte. Oder vielleicht der Rumäne aus der Regierung Antonescus. Auch der ungarische Diplomat hatte sicherlich nichts gegen einen Nebenverdienst. Der Botschafter ging die Vertreter der neutralen Länder, die am Bankett teilgenommen hatten, der Reihe nach durch und verlor sich in Vermutungen. Der Teufel hole sie! Jeder von ihnen wäre bereit, sich was zu verdienen. Er mußte vorsichtiger sein. Recht und schlecht gelang es ihm zwar, die Rundfunkmeldung zu dementieren, aber auf die Dienste des Herzogs von Windsor mußte er verzichten. Wenigstens vorläufig. Auch in anderer Beziehung ereilte Hoare ein sonderbares Mißgeschick. Auf seine Postkarte mit einem Vierzeiler aus dem „Säkulargedicht“ erhielt er keineswegs die erwartete Antwort. Genauer gesagt, niemand erschien zur festgesetzten Zeit am verabredeten Treffpunkt. Und die Zeit verstrich. Der Botschafter konnte es nicht fassen. Sollte ihm ein Fehler unterlaufen sein? Er ließ von den Agenten des Intelligence Service Nachforschungen anstellen. Ein Mitarbeiter des Geheimdienstes, der in der Botschaft den Posten eines Assistenten des Handelsattaches bekleidete, konnte alsbald einiges berichten: Die Postkarte war im Stadtbezirk Carabanchel Alto in den Briefkasten geworfen worden – das dortige Postamt eignete sich für eine unauffällige Zusammenkunft. Der Briefkasten wurde dreimal am Tag geleert, doch manchmal verspätete sich der betagte Postbote auf seinem Rundgang mit der Leerung und trug dann die Briefe gleich aufs Hauptpostamt, wo sie den
Aufgabestempel erhielten. Demnach mußte der Abgesandte Haushofers auf dem Hauptpostamt gewartet haben. Zu dumm! Aber es war auch nicht ausgeschlossen, daß sich alles ganz anders verhielt. Hoare beschloß abzuwarten. Man durfte nicht aufdringlich sein. Die Deutschen brauchten nicht zu wissen, wie sehr er auf eine Zusammenkunft erpicht war. Die Zweifel des vorsichtigen Diplomaten waren nicht von der Hand zu weisen. Er kannte zwar nicht das Schicksal der Postkarte, aber er fühlte intuitiv, daß es sich nicht allein um eine technische Störung handelte. In der Tat hatte die Postkarte mit den Versen des Horaz ihren Adressaten gefunden. Haushofer, an den die Karte von Bern aus weitergeleitet worden war, hatte seine Gründe, auf eine Begegnung mit den Briten zu verzichten. Hitler wollte vor dem deutschen Reichstag eine programmatische Rede halten. Verhandlungen hinter den Kulissen konnten dem Eindruck, den sie machen sollte, entgegenwirken. In London war man nervös. Auch der Premierminister, den der unbegreifliche Lauf der Dinge beunruhigte, war nervös. Um sich von seinen trüben Gedanken abzulenken, beschloß er, das Wochenende in Chartwell, auf seinem Landsitz, zu verbringen. Den Premier beschäftigte zur Zeit auch das Problem der Atomenergie. Man sprach gegenwärtig sehr viel vom Atom – ein modernes, wenn auch streng geheimes Thema. Der Physiker Darwin, ein Enkel des berühmten Charles Darwin, behauptete, vor einer Entdeckung zu stehen, die für die moderne Technik wie auch für die Kriegsstrategie umwälzend sei. Im Prinzip war das Problem der Atombombe bereits gelöst.
Der Premier verfügte über genaue Angaben. Im vorigen Herbst hatte Präsident Roosevelt die Herstellung der ersten Bombe verfügt. Eines Tages würde sie dasein. In ein paar Jahren. Zudem waren die Amerikaner nicht so einfältig, die Atombombe einem anderen zu geben. Die rückten nicht einmal ein halbes Hundert Zerstörer heraus. Sie verlangten dafür Stützpunkte. Wollten sich am fremden Unglück gesundstoßen. Diese Krämerseelen! Übrigens, wozu phantasieren, wozu vor der Zeit an Atombomben denken, zumal jetzt, da auf London gewöhnliche Sprengbomben fielen? Vor drei Tagen, am 10. Juli, hatten die Deutschen ihren ersten Luftangriff durchgeführt. Was wollte Hitler damit erreichen? Wieviel gäbe Churchill darum, könnte er die Absichten der Deutschen erraten! Der Premier irrte im Park umher, seine Gedanken waren verworren. Schlimmer als alles andere war für ihn die Erkenntnis, daß sein Selbstvertrauen zu schwinden begann. Die Reise nach Chartwell hatte nichts genutzt. Unter der Last der fatalen Mißerfolge, die auf sein Haupt herniederhagelten, schien sein eiserner Wille schwach zu werden. Trotz des heißen, sonnigen Wetters war es im Park kühl. Jahrhundertealte Bäume spendeten dichten Schatten. Doch der Premier merkte nicht, ob es kühl oder heiß war. Er wanderte ruhelos umher und grübelte. Was würde die Zukunft bringen? Eine sorgenschwere Frage! Überhaupt, warum hatte sich Hitler wider alle Logik gegen den Westen gewandt? Man hatte ihm doch wohl klar genug zu verstehen gegeben, daß Großbritannien nichts gegen einen deutschen Überfall auf Rußland habe. Dennoch waren die
Deutschen nach dem Fall Warschaus nicht gegen Moskau, sondern gegen Frankreich marschiert. Warum? Vielleicht handelte Hitler nach dem Grundsatz: Zuerst kommt der Schwache dran? Das hätte seine Logik. Er, Churchill, hätte es ebenso gemacht. Wenn die Dinge aber so standen, dann waren Englands Tage gezählt. Um seinen Schutz war es schlecht, sogar sehr schlecht bestellt. Er als Premierminister wußte das besser als andere. Vielleicht war er der einzige Mensch in Großbritannien, der begriff, in welch einer tragischen Lage sich das Land befand. Weder der König noch die Minister waren sich dessen voll bewußt. Allein die Kommunisten waren es, die Krach schlugen und die Politik der Regierung kritisierten. Man mußte zugeben, sie hatten in mancher Beziehung recht. Aber auch die Linken wußten nicht alles. Wußte etwa jener Harry Pollitt, daß sich nach Dünkirchen nur noch an die fünfzig Panzer und höchstens dreihundert Geschütze auf der Insel aufhielten? Zur Verteidigung der Küste konnte man vielleicht zwei, drei kampffähige Divisionen zusammenkratzen, und das auch nur mit knapper Not. Irgendwann würde die nationale Home Guard aus Freiwilligen aufgestellt werden… Ob es gelungen war, Hitler in bezug auf die Zahl der unter Waffen stehenden Divisionen in die Irre zu führen? Dann drängte sich Churchill ein neues „Warum“ auf. Warum konzentrierten die Deutschen in den nördlichen Häfen Frankreichs Schleppkähne, Dampfer, Pontons – alles, was für ein Landungsunternehmen benötigt wurde? Ostende, Calais und das unselige Dünkirchen waren voller Schiffe. Dort wurden Truppen und Munition konzentriert. Waren sie wirklich für eine Invasion in England bestimmt? Und die Luftangriffe auf
London – waren sie vielleicht das Präludium? Am meisten fürchtete Churchill die Invasion. Davor hatte er wirklich Angst. Bei aller Selbstbeherrschung überlief ihn allein schon bei dem Gedanken daran ein Schauer. Sie wäre das Ende von allem. Das Ende des Empire, das Ende der Macht. Wer würde ihm die Verantwortung dafür abnehmen? Die Geschichte verzeiht nichts. Churchill hegte den ehrgeizigen Wunsch, neben den großen Männern Englands in die Geschichte einzugehen. Nun würden sie ihn davonjagen wie einen nichtsnutzigen Korporal. Seinen Abschied würde er nehmen müssen. Das also hatten ihm die ersten zwei Monate seiner Herrschaft im Empire eingebracht. Furchtbar! Er sah die Macht schwinden, die ihm wie Speise und Trank zum physischen Bedürfnis geworden war. Die Macht verlieren – ein peinigender Gedanke. Jemand hatte bereits vorgeschlagen, die Regierung im Ernstfall nach Kanada zu evakuieren. Welche Schande! Sollte er vielleicht in eine ähnliche Lage geraten wie die holländischen Minister, die zu ihm gestürzt kamen mit Augen, in denen das Entsetzen stand? Nein, nein, nur das nicht! Dann schon lieber… Zum erstenmal ertappte sich Churchill bei dem Gedanken an Selbstmord. Das ernüchterte ihn. Was für dummes Zeug einem da in den Kopf kam! Er mußte sich beruhigen, sich kaltblütig über alles klarwerden. Unmöglich konnten die Dinge einen so tragischen Verlauf nehmen… Churchill blieb auf einer sonnenhellen Lichtung stehen. Durch das Laub der Sträucher und Bäume schimmerte die hintere Fassade des Hauses mit dem Wirtschaftsgebäude, den weit geöffneten Türen des Wagenschuppens und dem halbfertigen Küchenrohbau, der sich an den linken Flügel des Hauses anschloß.
Der Premier konnte nicht verstehen, wie er hierher, auf den Hinterhof, geraten war. Sein Blick fiel auf die Mauern der Küche, die bis zu den Fensterbrüstungen hochgezogen waren. Im vergangenen Jahr – damals war noch nicht Krieg, und die Wahlen standen bevor – hatte er mit dem Bau begonnen und mehrere Monate, mit Unterbrechungen, eigenhändig daran gearbeitet. Diese Beschäftigung ersetzte ihm die Gymnastik und das Golfspiel. Zudem war das nicht ohne Wert für die Wahlen. Bildberichter machten Aufnahmen von ihm – da, seht her, der Kandidat für die Parlamentswahlen Churchill arbeitet in der Maurerkluft. Die Fotos machten die Runde durch alle Zeitungen. Danach hatte er das Interesse am Bauen verloren, und erst jetzt besann er sich darauf, daß die Küche noch fertigzustellen war. Vielleicht lenkt mich das ab, dachte der Premier und schritt auf den Bau zu. Die Arbeit lenkte den Premierminister tatsächlich ab und beruhigte ihn. Er konnte jetzt nüchterner denken. Die Lage erschien ihm nicht mehr so hoffnungslos. Immerhin hatte Hitler zugelassen, daß sie aus Dünkirchen abzogen und dem vernichtenden Schlag entgingen. Er hatte ihm geholfen, sein persönliches Prestige zu wahren. Sonst wäre es so gekommen wie seinerzeit in den Dardanellen. Schließlich war es gelungen, Dünkirchen als einen strategischen Sieg der britischen Truppen hinzustellen. Natürlich hatte Hitler das nicht umsonst getan. Aber was war der wahre Grund? Besprechungen könnten vieles klären. Wie dringend notwendig war doch ein Treffen! Dabei lagen aus Madrid keine Nachrichten vor. Was dachte sich Hoare eigentlich? Vielleicht war er schon zu alt
für eine solche Mission? Vielleicht hätte man einen jüngeren, wendigeren Mann schicken sollen? Aber nein, widersprach Churchill sich selbst – er polemisierte nicht nur gern in Gesellschaft. Samuel Hoare war natürlich richtig am Platze. Er, Churchill, war auch kein Freund übereilter, unüberlegter Handlungen. Geduld ging über alles. Will man einen Fisch im Bassin fangen, muß man das Wasser löffelweise ausschöpfen und dann, wenn man ganz sicher geht, den Fisch mit bloßen Händen packen… Und doch müßte Hoare die Lage berücksichtigen, müßte er begreifen, wieviel von seinem Tun abhing. Wäre es nicht angebracht, ihn für einen Tag nach London zu zitieren? Von Samuel Hoare sprangen die Gedanken des Prerniers auf Grund einer ihm zunächst unverständlichen Assoziation zu einem anderen Punkt – Frankreich. Wenn es gelänge, Frankreich zu bestimmen, nicht aus dem Krieg auszuscheiden! Er hatte doch vorgeschlagen, eine gemeinsame englisch-französische Regierung, ein vereinigtes Parlament zu bilden. Das war etwas anderes als die Idee des schwachsinnigen Greises Kington vom „monarchischen Kosmopolitismus“. Hoare hatte ihm vor seiner Abreise nach Spanien von seinem Besuch im Victoriahaus erzählt. Ach so, daher diese Gedankenverbindung! Ja, Kington sah den Ausweg in der Fruchtbarkeit der Monarchen. Der Greis lebte noch im Zeitalter der Monarchien, aber jetzt bestand das Zeitalter der Republiken, der Parlamente. Immerhin, ein Körnchen Wahrheit lag in den Überlegungen Kingtons. Es mußte allerdings nicht gleich eine Weltmonarchie sein, für den Anfang genügten die Vereinigten Staaten von Europa. Ja, in einer solchen Staatenvereinigung müßte man die Macht haben!
Die Vereinigten Staaten von Europa waren eine alte Idee Churchills. Natürlich müßten sie unter britischer Ägide stehen. Sonst hätte das Ganze keinen Sinn. Es müßte nur der überzeugende Beweis dafür erbracht werden, daß im gegenwärtigen Jahrhundert die Souveränität der meisten Staaten bedeutungslos war. An ihre Stelle müßte der Kosmopolitismus treten. Gerade diesen Gedanken hatte er entwickelt, als er Frankreich vorschlug, den Krieg fortzusetzen. Die Regierung könnte von Bordeaux nach London übersiedeln. Churchill hatte für diesen Zweck gewisse Schritte eingeleitet. Die französischen Minister wären wahrscheinlich an die Ufer der Themse gelangt, wenn der Kapitän der „Massilia“ nicht beigedreht hätte. Von den Passagieren der „Massilia“ war nur einer in London eingetroffen – ein Journalist, wie hieß er doch gleich – Jeanoit, Benoit oder so ähnlich… Man müßte sich erkundigen, wie er das bewerkstelligt hatte. Gewiß, die Sache mit der „Massilia“ war ein glatter Reinfall. Besser, sicherer wäre es gewesen, man hätte die französischen Minister ein britisches Schiff besteigen lassen. Jetzt war das nicht mehr gutzumachen. Man müßte versuchen, de Gaulle einzuspannen. Er war deutschfeindlich eingestellt und zeigte sich gesonnen, den Widerstand fortzusetzen. Er hatte ja auch das Komitee „Freies Frankreich“ gegründet, was seinen, Churchills, Plänen nur dienlich war. Gewiß, der anmaßende, eigensinnige und launenhafte de Gaulle war nicht ganz der richtige Mann. Aber wo sollte man einen geeigneteren hernehmen? Die Amerikaner schienen, nach allem zu Abließen, auf Admiral Darlan zu setzen. Der Premierminister überlegte, wie er aus dem Komitee „Freies Frankreich“ Nutzen ziehen könne. In London hatte
sich bereits eine ganze Kollektion von Exilregierungen angefunden. Die würden auch nützlich sein. Benes aus der Tschechoslowakei, Soskowski und Mikolajczyk aus Polen, Belgier und Holländer. Nicht zu vergessen die Luxemburger – sogar die hatten ihre Exilregierung. Churchill konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Sie alle waren seine Kostgänger. Man würde daran denken müssen, ein Etablissement mit möblierten Zimmern für kontinentaleuropäische Ministerpräsidenten und ihre Stellvertreter aufzumachen. Das waren die bereits vorhandenen Kader für die Vereinigten Staaten von Europa! Churchill wandte sich wieder Deutschland zu. Was wird, wenn… Ein Gedanke kam ihm, so einleuchtend einfach, daß er bei ihm verweilte. Vielleicht wollte Hitler keinen langen Krieg im Westen, vielleicht wollte er sich in Westeuropa die Hände möglichst schnell frei machen, um gegen den Osten marschieren zu können? Sollte das der Fall sein, dann würde Hitler in Großbritannien keinen Feind, sondern einen Bundesgenossen sehen wollen. Daher auch Dünkirchen, sozusagen als Vorschuß in den gegenseitigen Dienstleistungen. Dieser Gedanke war ihm, wenn auch noch unklar, schon einmal durch den Kopf gegangen. Jetzt hatte er bereits deutlichere Umrisse angenommen. In diesem Falle wären alle Vorbereitungen zu einer Landung wie auch die Luftangriffe auf London nur ein Bluff, eine Nervenprobe. Hitler konnte nicht daran gelegen sein, sich in England festzufahren, solange in Rußland, in der Ukraine und im Baltikum ungelöste Probleme seiner harrten. Im Banne dieser Gedanken setzte sich der Premier an den Schreibtisch. Gewöhnlich diktierte er sogar Privatbriefe und Tagebucheintragungen einer Stenotypistin. Aber er hatte nach
Chartwell nur Thompson und seinen Sekretär mitgenommen. Weder der eine noch der andere konnten stenografieren. So begann Churchill eigenhändig einen Brief zu schreiben. Wem, wenn nicht Feldmarschall Smuts, sollte er seine Gedanken mitteilen? Den britischen Premier und den Feldmarschall Smuts verband eine alte Freundschaft, die unter seltsamen Umständen zustande gekommen war. Einstmals kämpfte Smuts in Südafrika in den Reihen der Burenarmee. Zu jener Zeit wußte Churchill noch nicht, daß die Mitarbeiter des Intelligence Service schon lange vorher auf Smuts aufmerksam geworden waren. Smuts war einige Jahre vor dem Burenkrieg aus Transvaal nach England gekommen, um sein Studium an der Universität Cambridge abzuschließen. Damals machte sich der britische Geheimdienst an ihn heran. Nach Südafrika kehrte er bereits als britischer Agent zurück. Mit dem späteren Feldmarschall wurde der damalige junge Captain Churchill erst bekannt, als er in burische Gefangenschaft geriet. Smuts hatte bei den Aufständischen einen hohen Posten inne. Jan Smuts rechtfertigte die Hoffnungen des Intelligence Service. Aus einem aktiven Teilnehmer am Krieg gegen England wurde er zu einem eifrigen Anhänger des British Commonwealth of Nations. Die Engländer waren Smuts in nicht geringem Maße für den Abschluß des Friedensvertrages mit den Buren zu Dank verpflichtet. Tief und unergründlich sind die Geheimnisse des Intelligence Service! In Transvaal nannte man Smuts einen Verräter. Es gelang aber, die Schwätzer zum Schweigen zu bringen. Smuts machte Karriere, er wurde englischer Feldmarschall. Eine Zeitlang gehörte er sogar dem Kriegskabinett Lloyd George an. Jetzt war er Ministerpräsi-
dent der Südafrikanischen Union und Oberbefehlshaber ihrer Streitkräfte. Churchill hatte eine hohe Meinung von Smuts, er gab viel auf sein Urteil. Der Feldmarschall war all die Jahre seit der Intervention ein unversöhnlicher und grimmiger Feind der Sowjets geblieben. Wem, wenn nicht dem Feldmarschall, sollte er also jetzt seine Gedanken, seine geheimen Pläne anvertrauen? Der britische Premier schrieb offenherzig von den Zweifeln, die ihn befallen hatten, von seiner Unruhe, von den möglichen Perspektiven. Zum Schluß machte er eine Nachschrift: „Wenn Hitler uns hier nicht vernichtend schlagen kann, wird er sich wahrscheinlich gegen den Osten wenden. Möglicherweise wird er das sogar tun, ohne den Versuch einer Invasion Englands unternommen zu haben.“ Der Brief half Churchill, seine Gedanken und Schlußfolgerungen zu präzisieren. Ja, man mußte so vorgehen, daß Hitler sich möglichst rasch gegen den Osten wandte. Mit ihm würde man sich noch verständigen können. Viel hing allerdings von den Amerikanern ab. Ob Kennedy etwas Neues mitteilen konnte? Er mußte ja bald eintreffen. Die Begegnung mit Kennedy klärte die Lage. Der Botschafter erläuterte die Haltung des State Departments. Die britische Regierung könne im Kampf auf europäischem Territorium auf die aktive Hilfe der Vereinigten Staaten rechnen. Churchill beschloß, einen Versuchsballon zu starten. „Die militärische Lage gestaltet sich nicht zu unseren Gunsten“, sagte er niedergeschlagen. „Es ist nicht ausgeschlossen, daß wir Hitler um Waffenstillstand bitten müssen. Die
Luftangriffe auf London, die Konzentrierung von Schiffen, die offensichtlich für ein Landungsunternehmen bestimmt sind – all das bestätigt, daß die Deutschen einen Überfall auf England vorbereiten. Wir sind allein geblieben! Ich will aufrichtig sein, Herr Botschafter: Wir werden nach Dünkirchen kaum noch eine derartige Belastungsprobe aushalten. Der einzige Ausweg ist der Waffenstillstand.“ „Nein, nein“, protestierte Kennedy lebhaft. „Ich wiederhole, Sie können auf die Vereinigten Staaten rechnen. Das ganze Kriegs- und Industriepotential Amerikas wird Ihnen zur Verfügung stehen. Sie müssen nur noch eine Zeitlang durchhalten. Überlegen Sie sich doch, wie Hitlers Position sich stärken würde, wenn England jetzt aus dem Kriege ausschiede.“ Churchill saß da, als sei er tief in Gedanken versunken. Dasselbe Lied habe ich selbst unlängst den Franzosen gesungen, dachte er. Wird Kennedy noch etwas sagen? Aber der amerikanische Botschafter hatte nichts hinzuzufügen. „Warum haben Sie uns nicht schon früher Hilfe geleistet?“ fragte der Premier. „Wer konnte denn ahnen, daß Deutschland über eine derartige potentielle Kraft verfügt! Die Niederwerfung Frankreichs war eine tragische Überraschung. Sie öffnete vielen die Augen. Jetzt ist das Neutralitätsgesetz leichter aufzuheben als im vorigen Jahr.“ Das also war des Pudels Kern! Washington fürchtete eine Stärkung des deutschen Konkurrenten! Churchill triumphierte im stillen. Nun ließen sich die Pläne der Amerikaner schon besser durchschauen. Zuerst hofften sie Deutschland mit Hilfe des englisch-französischen Blocks zu schwächen – Deutschland erwies sich als stärker. Nun boten sie ihre Hilfe
an. Was machte es aus? Jede milde Gabe war von Segen. Roosevelt hatte es ganz richtig ausgedrückt: „Man kann die Kuh nicht melken, wenn man ihr den Kopf abschneidet.“ Die Amerikaner brauchten noch die britische Kuh… Churchills Folgerungen stimmten. Die Instruktionen aus Washington schrieben dem amerikanischen Botschafter Kennedy vor, der britischen Regierung baldige und beträchtliche Hilfe zu versprechen und alles zu tun, um ihren Kampfgeist, ihre Zuversicht zu heben. Das State Department rechnete damit, daß eine offene, demonstrative Unterstützung Englands durch die Vereinigten Staaten Hitler veranlassen werde, sich aktiver Operationen im Westen zu enthalten und seine Armeen gegen den Osten zu werfen. Ohne eine wirksame Unterstützung könnte mit Britannien am Ende dasselbe geschehen wie mit Frankreich. Das aber würde Deutschland maßlos stärken und das Gleichgewicht in Europa stören. Churchill hörte das alles aus den knappen Worten heraus. Die Amerikaner boten ihre Hilfe an! Natürlich nicht gratis. Jetzt mußte geklärt werden, wie teuer die Hilfe zu stehen kam. Eine andere Wahl gab es ja nicht. Ein Ertrinkender darf sich nicht daran stoßen, daß der ihm zugeworfene Strick zu rauh ist. Die Hauptsache, man konnte sich an etwas klammern und herausklettern oder schlimmstenfalls wenigstens den Kopf über Wasser halten. „Zu welchen Bedingungen könnte die britische Regierung die amerikanische Hilfe erhalten?“ „Lohnt es sich, darüber zu sprechen, teurer Premier? Wir verfolgen doch dieselben Ziele.“ Kennedy wich einer offenen Antwort aus. „Aber dennoch, was verlangt man von uns?“
„Nichts als gehorchen. Der Stimme der Vernunft gehorchen. Wir sind doch Kinder ein und derselben Idee. Ist es nicht so?“ versuchte der amerikanische Botschafter die Sache scherzhaft abzutun. „Uns interessieren die Torpedobootzerstörer. Fünfzig Zerstörer zur Verteidigung der Insel. Können Sie mir die Antwort des Präsidenten mitteilen?“ „O ja, ich habe gute Nachricht mitgebracht. Meine Regierung ist im Prinzip einverstanden, sie Ihnen zu überlassen. Aber ein Dienst ist den andern wert. Der Präsident hofft, daß Sie uns einige Stützpunkte an der Atlantischen Küste verpachten werden. Zum Beispiel auf den Bermudas. Das würde Ihre finanzielle Lage erleichtern. Ich habe Anweisung, Ihnen mitzuteilen, daß Präsident Roosevelt diesbezüglich noch persönlich an Sie schreiben wird.“ Welche Uneigennützigkeit! dachte Churchill ironisch. Das sind die richtigen Retter aus der Not! Wollen so nach und nach das britische Erbe fortschleppen… Er machte ein finsteres Gesicht. Das wäre also der Strick, nach dem man wohl oder übel greifen mußte, der Strick, mit dem sie einen nicht nur retteten, sondern zugleich erdrosselten. „Gut, ich werde mir Ihr Angebot durch den Kopf gehen lassen.“ Kennedy verließ Churchill. Der Premier sah vom Fenster aus, wie er in den offenen Buick stieg und der Butler ihm das Gästebuch nachtrug. Kennedy war zum erstenmal in Chartwell und kannte wahrscheinlich die hiesigen Gepflogenheiten nicht, obwohl er sie eigentlich hätte kennen sollen. Jeder Gast mußte sich durch eine Eintragung in dem Buch verewigen. Es konnten Aphorismen sein, Zitate, weise oder scherzhafte Aussprüche, im Notfall genügte auch ein Auto-
gramm. Man schrieb natürlich nur Angenehmes nieder. Seinen Platz hatte das in Leder gebundene Gästebuch, das dick wie eine Bibel war, auf einem eigens dafür aufgestellten Tischchen in der Halle. Hatten die Gäste vergessen, ihre Eintragung vorzunehmen, dann folgte ihnen der Butler, das Buch in der Hand, mit feierlicher Miene und erinnerte sie höflich daran. Kennedy langte lächelnd nach dem Füllhalter, überlegte sekundenlang und trug etwas ein, wahrscheinlich etwas Kurzes, denn er klappte das Buch gleich wieder zu. Der Buick setzte sich in Bewegung. Churchill läutete mit einem Handglöckchen und bat um das Gästebuch. Die letzte Eintragung lautete: „Im Vertrauen und Gehorchen liegt das Unterpfand uneigennütziger Freundschaft.“ Einige Tage später hielt Hitler eine Rede im Deutschen Reichstag. Churchill hörte sie im Rundfunk. Er war im Grunde genommen der wichtigste Hörer, an den der deutsche Kanzler seine Worte richtete. Hitler drohte England mit der Invasion. Aber nicht darum ging es. Er versicherte, den Befehl zur Vorbereitung der Landungsoperationen wieder aufzuheben, wenn Britannien sich bereit erkläre, den Krieg zu beenden, und alles sanktioniere, was er, Hitler, bereits in die Tat umgesetzt hatte – die Okkupation Frankreichs und Polens. Der Reichskanzler geizte nicht mit Versprechungen. Er garantierte die Unantastbarkeit des Empire und den Schutz seines Territoriums durch die deutsche Wehrmacht. Herr Churchill möge darüber nachdenken. Wenn jedoch… Aus dem Lautsprecher hagelte es erneut Warnungen und Drohungen.
Der britische Premier antwortete nicht auf Hitlers Angebote. Das gehörte zu seinem Plan. Nach Madrid, an Samuel Hoare, schickte er Instruktionen, mit den Deutschen Kontakt aufzunehmen, die Dinge aber nicht zu forcieren. Mochten sie selbst Initiative an den Tag legen – dann würde es leichter sein, etwas auszuhandeln. Die Bombardierung Londons wurde fortgesetzt. Die Luftkämpfe über England hielten an. Aber jetzt wußte Churchill das war nur eine Trumpfkarte im diplomatischen Spiel. Jeder Fliegerangriff brachte neue Zerstörungen, neue Opfer. Für das politische Spiel des Premiers und seiner Helfershelfer zahlten die Londoner mit ihrem Blut. 2 Pompöse militärische Festlichkeiten gaben dem Sommer 1940 in Berlin ihr Gepräge. Massenweise wurden Generale zu Feldmarschällen befördert. Zu diesen Beförderungen kam es bald nach der Kapitulation Frankreichs. Allein am 19. Juli, als Hitler im Reichstag sprach, wurden mindestens einem Dutzend Generale höhere militärische Ränge verliehen. In endloser Folge fanden Empfänge, Bankette und Paraden statt. Man ehrte die Sieger über Polen und Frankreich. Auf den Paradeuniformen blitzten neue Orden. Am Kurfürstendamm und Unter den Linden hatten die Schneider alle Hände voll zu tun, um die dringenden Bestellungen, mit denen sie überhäuft waren, zu bewältigen. Sie nähten neue Uniformen, die jedesmal unbedingt bis zum nächsten Bankett fertig sein mußten. Hitlerdeutschland und seine Wehrmacht näherten sich dem Gipfel des Ruhms. Deutsche Truppen marschierten in den
Straßen von Warschau, Prag und Brüssel. War das nicht die Höhe des Triumphes? Deutsche in Oslo, Wien und Paris. Paris lockte und begeisterte. Die Soldaten fühlten sich in der französischen Hauptstadt so wohl wie die Armee Hannibals in Capua. Hier erholte man sich und genoß man, hier war alles erlaubt, alles möglich. Hans Speidel, der Chef des Generalstabs der Besatzungstruppen, garantierte völlige Sicherheit. Auch in der Ewigen Stadt lebten die Deutschen, mochten sie aus Bayern, Preußen und Westfalen stammen, nicht weniger ungebunden, obwohl man Italien keineswegs als besetzt bezeichnen konnte. In Rom, einst voll von Touristen aus aller Herren Länder, dominierten nun unter den Fremden deutsche Laute. Man kaufte auf, was das Auge sah. Geld war genug da. Die Vertreter der verbündeten Armee, Zivilisten wie Militärs, rekelten sich in den Korbsesseln auf dem Tarpejischen Felsen und tranken Chianti. Nach Berlin und allen Städten und Dörfern des Dritten Reichs gingen Päckchen und Briefe mit ausländischen Marken. Für die Philatelisten war eine schöne Zeit angebrochen. Die Eroberer schrieben begeistert nach Hause, daß es alles in Hülle und Fülle gebe, daß man beschaffen könne, was das Herz begehre. Die Briefe erregten die Gemüter und reizten den Appetit wie Bratenduft, der an den Feiertagen der Küche entströmt. Das Goebbelssche Propagandaministerium schürte die Habgier. Damit ließ sich am besten kriegerischer Geist wecken. Die Spießer schrien wie wild: „Heil Hitler!“ Päckchen und Ruhm hatte Hitler Deutschland gebracht! Und es würde noch schöner werden. Laßt nur mal erst die Reihe an England sein. Von Rußland sprach man nicht, aber die Gierigsten dachten: Warum hat der Führer den Vertrag mit den
Russen geschlossen? Die Zeitungen schrieben, bald beginne die Invasion in England; wenn Churchill nicht Frieden schließen wolle, möge er nach Kanada fahren. Hitler hatte sich indessen noch nicht entschlossen, gegen wen er zuerst losschlagen sollte – gegen Moskau oder gegen London. In den Hallen und auf den Flugplätzen warteten Tausende Kampfflugzeuge. Gegen wen sollte er sie schicken? Für den Einsatz gegen England würde vorerst eine Viertelmillion Landungstruppen genügen. Reichten sie aber wirklich? Und wenn die Operation sich festlief? Nach Canaris befanden sich auf der Insel vierzig Divisionen. Man durfte nichts riskieren, man mußte die Kräfte vor dem Ostfeldzug schonen. Das Hauptziel blieb die Sowjetunion. Solange die existierte, war an Weltherrschaft nicht zu denken. Mit Churchill würde man sich noch einigen können, mit den Kommunisten nie. In der Reichskanzlei hatte Hitler auf einer Beratung lauthals gesagt: „Ich habe mich entschlossen, eine Landungsoperation gegen England vorzubereiten und, wenn nötig, durchzuführen. Nach meinem Befehl muß die Vorbereitung der Invasion Mitte August abgeschlossen sein.“ Aber bestand überhaupt eine solche Notwendigkeit? Vielleicht besann sich Großbritannien eines besseren? Zwei Tage später bot er Churchill in einer Reichstagsrede Frieden an. Der britische Premier antwortete nicht. Worauf wartete er eigentlich noch? Auf die Hilfe der Amerikaner? Möglich. Die Amerikaner waren in der letzten Zeit wie ausgewechselt. Viele Anzeichen ließen Hitler die Abkühlung spüren, die in den gegenseitigen Beziehungen eingetreten
war. Jetzt könnte er im Falle eines Sieges lange auf ihre Glückwünsche warten, mit denen sie nach der Eroberung Polens so schnell bei der Hand waren. Bullitt sprach jetzt nicht mehr von Neutralität der Vereinigten Staaten. Es war klar, auch die Neutralität bezog sich nur auf Polen. Hitler zog daraus den folgerichtigen Schluß: Die Amerikaner gratulieren zu einem Sieg im Osten, machen aber ein saures Gesicht, wenn er Erfolge im Westen hat. Deshalb hatte Sumner Welles auch seine Europareise unternommen. Von ihm stammte die Anregung, daß es besser sei, im Westen Frieden zu schließen und gemeinsam über Finnland in Rußland einzudringen. Daran hatte Hitler schon selbst gedacht. Warum hätte er sonst den Schlag gegen Frankreich vom Herbst aufs Frühjahr verlegt? Er hatte es den Franzosen und Engländern ermöglicht, Mannerheim zu helfen. Aber die Russen waren ihnen zuvorgekommen, sie schlossen – ganz zur unrechten Zeit – Frieden mit Finnland. Gewiß, die Versuchung, England zu unterwerfen, war groß, aber die Kräfte vor dem russischen Feldzug zu verausgaben war immerhin riskant. Allmählich reifte in Hitler der Entschluß: Dem Schlag gegen den Osten gebührt der Vorrang. Auf dem Gebiet der niedergezwungenen, zerschmetterten Sowjetunion würde das deutsche Indien entstehen. Die Engländer hatten Erfahrung in der Verwaltung von Kolonien. Warum sollte man sie nicht übernehmen? Kürzlich hatte er das Buch Aisdorfs über die Herrschaftsmethoden der Briten in Indien gelesen. Ein interessantes Buch! Er hatte Anweisung gegeben, es in einer großen Auflage herauszugeben. Es würde ein nützliches Handbuch für jeden Gauleiter, für jeden deutschen Amtswalter im eroberten Rußland sein.
Die Gedanken an eine Eroberung Rußlands ließen ihm keine Ruhe. Nichtsdestoweniger lief die Vorbereitung des Unternehmens „Seelöwe“, das heißt der Invasion in England, auf vollen Touren. Im Generalstab machte man daraus kein großes Geheimnis. Auf den französischen Kanälen und Flüssen zogen Schleppzüge von Lastkähnen offen dahin, die Eisenbahnen beförderten Pontons, in den Häfen am Ärmelkanal konzentrierten sich Landungstruppen, und die Schläge der Luftwaffe gegen England nahmen an Stärke zu. Gegen Sommerende hatten die Luftangriffe gegen die britische Insel begonnen. Hitler wartete – Churchill mußte doch zur Einsicht kommen! Tag für Tag fanden erbitterte Luftkämpfe über England statt. Beide Seiten erlitten schwere Verluste. Hitler schonte weder Piloten noch Maschinen. Die Verluste würden sich bezahlt machen. Aber die Engländer hüllten sich weiterhin in Schweigen. Hitler kam sich vor wie ein Feldherr, der vor einer belagerten, zum Untergang verurteilten Festung steht und von Stunde zu Stunde darauf wartet, daß sich die Tore öffnen und die Belagerten ihm die Schlüssel herausbringen. Allein, die Schlüssel wurden ihm nicht gebracht. Einige Male kam es in Berchtesgaden und in der Reichskanzlei zu scharfen Auseinandersetzungen mit Reichsmarschall Göring. Hitler nahm kein Blatt vor den Mund. Hysterisch schrie er: „Ihre Piloten sind Dummköpfe und Stümper! Ich dulde das nicht länger! Warum gibt es keinen entscheidenden Erfolg?“ „Mein Führer, wir haben schon mehr als tausend Flugzeuge verloren…“ „Das ist mir ganz egal! Mich interessieren die englischen
Verluste. Oder wollen Sie, daß ich Mussolini zu Hilfe rufe? Vielleicht sind die Italiener fähiger…“ „Wir werden eine Wende herbeiführen, mein Führer.“ Die Erwähnung der Italiener traf den Ehrgeiz Görings aufs empfindlichste. „Zum Teufel mit Ihrer Wende! Ihren Meldungen nach dürfte in England kein einziges Flugzeug mehr übriggeblieben sein! Wer schießt dann eigentlich unsere Maschinen ab? Das Lügen überlassen Sie lieber Goebbels.“ Göring verließ Hitlers Arbeitszimmer wütend und hochroten Gesichts. Nach solchen Auseinandersetzungen fielen dann jedesmal Hunderte schwerer Bomben auf London, Birmingham und Liverpool. Allein, Dutzende und aber Dutzende deutscher Flugzeuge kehrten nicht zu ihren Einsatzhäfen zurück. Es war, als schwebte über Göring ein böses Verhängnis – die deutschen Verluste waren nahezu doppelt so hoch wie die englischen. Der Reichsmarschall wußte nicht, wie er sich das erklären sollte. Dabei lagen die Gründe hierfür nicht nur in der Zähigkeit der britischen Piloten, die ihre Städte verteidigten. Der Reichsmarschall konnte anstellen, was er wollte – ihm gelang kein Überraschungsangriff. Er suchte die Erklärung dafür in der gut organisierten britischen Spionage. Die Gestapo schnüffelte auf den Flugplätzen und in den Luftwaffeneinheiten herum, konnte aber nichts Verdächtiges ermitteln. In Berlin wußte man nicht, daß die Engländer jetzt mit Radar arbeiteten. Bei den letzten Auseinandersetzungen hatte Hitler nicht zufällig die italienischen Piloten erwähnt. Mussolini drängte sich ihm mit Hilfsangeboten auf, er brannte darauf, an den Luftangriffen auf England beteiligt zu sein. Seine Flugzeug-
staffeln warteten nur auf den Einsatzbefehl, um gegen die französische Atlantikküste zu fliegen. Mussolini wollte sich bei Hitler lieb Kind machen, schrieb von der Pflicht des Bundesgenossen, von seiner Bereitschaft, im Namen des gemeinsamen Sieges Opfer zu bringen. „Ich bin bereit“, hieß es in seinem Schreiben, „durch den unmittelbaren Einsatz von Land- wie von Luftstreitkräften am Sturm auf die Insel teilzunehmen. Sie wissen, wie ich darauf warte.“ Hitlers Überlegungen waren anderer Natur. Warum sollte er mit jemand den Sieg teilen? Nachher würden sie ihn nur anbetteln und ihren Anteil von ihm fordern. Wenn es darauf ankam, würde Deutschland allein mit England fertig werden. Er antwortete mit einem langen höflichen Brief, lehnte aber das Hilfsangebot kategorisch ab. Genauso wie beim Einfall in Frankreich. Seine Ablehnung erklärte er damit, daß unnötige Schwierigkeiten bei der Treibstoffversorgung zweier Luftflotten entstehen könnten. Umgekehrt bot er seinen Beistand zur Bombardierung des Sueskanals an. In Libyen waren Kämpfe im Gange, die italienische Offensive richtete sich gegen Ägypten. Auch Cianos Reise nach Berlin half nicht. Hitler blieb unerbittlich. Hingegen schlug er Ciano prahlerisch vor, die Maginotlinie zu besichtigen: Hier sehen Sie, was die deutschen Truppen fertiggebracht haben! Ciano besichtigte die Höhe von Douaumont und unterirdische Befestigungsanlagen – die Maginotlinie war den Deutschen völlig unversehrt in die Hände gefallen. Ciano beeindruckte es stark, französische Militärfachleute auf ihren alten Posten zu sehen. Die Deutschen hatten das komplizierte System der elektrischen Anla-
gen und die Bedienung der hydraulischen Apparatur nicht bewältigen können und die Franzosen um Hilfe ersucht. Einige hatten sich dazu bereit erklärt – der Krieg war ohnehin aus. Die Aufforderung an die französischen Offiziere, in deutsche Dienste zu treten, geschah mit Kenntnis Petains. Das ärgerte Ciano, machte ihn mißtrauisch und erweckte in ihm ein Gefühl der Eifersucht. Petain war offen in das englandfeindliche Lager übergegangen und liebedienerte vor Hitler. Wenn es so weiterginge, würde Petain auch versuchen, sein Scherflein im Kampf beizutragen, und dafür ebenfalls Entgelt fordern. Würden da die Italiener nicht zu kurz kommen? Es mußte verhindert werden, daß die Beziehungen zwischen Vichy und Berlin zu eng wurden… Ciano kehrte mit leeren Händen zurück, wenn man davon absieht, daß Hitler dem Duce einen herzlichen Glückwunsch zum bevorstehenden Geburtstag übermittelt und ihm einen Güterzug mit Verdunklungsmaterial zum Geschenk gemacht hatte. In Rom wurde das Material dringend gebraucht. Dort hängte man in den Nächten löchrige Decken und Lumpen vor die Fenster. Der Monat August war angebrochen. Er veränderte die militärische Situation in Europa nicht. Churchill zeigte sich hartnäckig, Hitler schäumte vor Wut. Er beschloß, den Druck durch ein weiteres Mittel zu verstärken. Am 22. August eröffneten deutsche Ferngeschütze das Feuer auf die englische Küste. Kurz zuvor hatte Hitler die entstandene Lage mit Heß besprochen. Gemeinsam suchten sie nach Wegen, die zur Aussöhnung mit England führen könnten.
„Die Engländer machen keine Vorschläge?“ fragte Hitler. Auf diese Frage hatte Heß lange gewartet. Er erzählte von der Postkarte, die Haushofer erhalten hatte, und nannte ein paar Leute, durch deren Vermittlung man mit der britischen Regierung Kontakt bekommen könnte. Es gebe verschiedene Wege. Nützlich könnte auch Herr Burckhardt sein, der Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Genf. Auch wäre es nicht überflüssig, mit Samuel Hoare, dem englischen Botschafter in Spanien, Verbindung aufzunehmen. In England selbst müsse man an Herzog Hamilton, den Hofmarschall, denken. Heß war ihm auf den letzten Olympischen Spielen in Berlin begegnet. Zwischen ihnen bestanden sehr gute Beziehungen. Hamilton gebe zweifelsohne einen ausgezeichneten Vermittler ab. „Versuchen Sie sich mit ihm zu verständigen“, sagte Hitler. „Verlieren Sie keine Zeit. Jodl und Warlimont sind von mir beauftragt worden, den Plan für den Fall ,Barbarossa’ auszuarbeiten. Das Unternehmen ,Seelöwe’ stellen wir zurück, es dient uns einstweilen als Tarnung.“ Die für den 15. August vorgesehene Invasion in England verschob Hitler auf das Monatsende, dann auf Mitte September. Siebzehnmal verlegte Hitler den Termin für die Invasion. Zu guter Letzt verschob er die Ausführung auf unbestimmte Zeit. Von allen Festtagen liebte Franz den Himmelfahrtstag vielleicht am meisten, weil er der lustigste und verrückteste war. An diesem Tag konnte man machen, was man wollte. Die Frauen aber hatten nichts dreinzureden. Manche Männer nutzten freilich die Gelegenheit aus, suchten Damenbekanntschaften oder verliefen sich zu einer befreundeten Witwe
oder weiß Gott noch zu wem. Aber seitdem Franz seine Erna kannte, interessierte ihn diese Seite des Feiertages nicht mehr. An sich war es keine schlechte Sache, den Tag unter Männern zu verbringen, zu trinken, herumzualbern und dumme Streiche zumachen. Diesmal hatte Franz nirgends hinfahren wollen. Am liebsten wäre er bei Erna geblieben und hätte mit dem Töchterchen gespielt. Wie drollig war doch die Kleine. Aber die Kollegen aus der Knopffabrik setzten Franz so lange zu, bis er nachgab. Sie trafen sich mit ihren Rädern in Pankow. Franz trug seine Jacke auf dem nackten Oberkörper, die Innenseite nach außen gekehrt, und hatte verschiedene Schuhe an – der eine war braun, der andere schwarz. Zudem hatte er das eine Hosenbein bis zum Knie hochgerollt und um den Hals statt einer Krawatte einen Fetzen Stoff gebunden. Kurz und gut, er sah reichlich komisch aus. Als fidele Schar traten sie die Fahrt an. Weit hinter Berlin machten sie am Ufer eines Sees Rast. Dort badeten sie, balgten sich herum, erzählten sich unanständige Witze und gossen natürlich einen hinter die Binde. Nachdem sie die Flaschen geleert und die letzten Schnitten aufgegessen hatten, beschlossen sie heimzufahren. Sie hatten den Tag lustig verbracht. Da es noch früh war, schlug der Stanzer Klaus vor, zum „Groben Gottlieb“ in der Jägerstraße zu fahren. Da könne man lachen, daß einem der Bauch weh tue. Angeheitert, wie sie waren, begrüßten alle den Vorschlag von Klaus, obwohl der Weg dahin weit war. Franz war noch nie im Lokal „Zum groben Gottlieb“ gewesen. Im ersten Raum waren alle Tische besetzt. Sie gingen
zu dem zweiten Raum durch, der einen Stall in einem bayrischen Bauerngehöft darstellte. Von einer Wand blickte eine aufgemalte rotbunte Kuh mit traurigen Augen auf die Gäste herab. Ein Bündel Heu im Maul, stand die Kuh im Stall. Auf der anderen Seite erhob sich eine blinde Wand aus verwitterten Ziegelsteinen. Sie war ebenfalls gemalt und sah wie eine Stallwand aus. Die Tische hatten die Form von Futtertrögen. An ihnen saßen angeheiterte Gäste, die aus Miniaturmelkeimern Bier tranken. Die Kellner nannten es Schlempe. Über den Köpfen der Gäste hingen an einem von Ecke zu Ecke gezogenen Strick alte Schuhe, ein rostiger Vogelbauer mit zerbrochenem Türchen, ein Fischskelett, Teile eines Pferdegeschirrs, ein geflicktes Hosenbein und aller mögliche andere Plunder, der auf einem Müllplatz aufgelesen schien. Klaus erzählte, das Lokal sei vor dreißig Jahren von arbeitslosen Schauspielern eröffnet worden. Die bedienten selber die Gäste, betätigten sich aber nicht nur als Kellner, sondern auch als Kabarettisten. Damals waren sie jung, jetzt hingegen zählte jeder von ihnen an die sechzig Lenze. Nichtsdestoweniger hießen sie nach wie vor Fränzchen, Paulchen und Hänschen. Die Namen waren ihnen mit Goldlitze auf die Jacken aufgenäht. Auf einer Pfanne mit eisernem Griff – sie diente als Tablett – brachte Hänschen Schnaps. Man trank den Schnaps aus Gläsern, die die Form von Nachttöpfen hatten. In dem Lokal war es sehr voll und gemütlich. Zu zweit saß man auf einem Hokker. Nachdem Hänschen die Pfanne abgesetzt hatte, griff er zur Gitarre. Er sang schlüpfrige Couplets von einem Igel, der in
eine Schuhbürste verliebt war, und einem alten Mann, der zur Nachbarin ging, wo er unerwartet sein böses Weib antraf. Man lachte in der Tat so viel, daß man sich den Bauch halten mußte. Durch den Tabakdunst schallten grobe Witze und Zoten. Den Raum beleuchteten verräucherte Stallaternen. Statt der Kerzen brannten in ihnen Glühbirnen. Als die Lustigkeit ihren Höhepunkt erreicht hatte, entdeckte Franz plötzlich in einer Ecke Rudolf Kübler am Trogtisch. Er hatte den Hut umgekrempelt und in die Stirn gezogen. Franz war sehr erfreut, Kübler zu sehen. Er ging zu ihm. „Tag, Rudi!“ Kübler befand sich in Gesellschaft von vier Männern. Der eine erzählte gerade etwas mit halblauter Stimme. Als Franz an den Tisch trat, verstummte er. „Na, alter Junge, wir treffen uns in letzter Zeit ja ziemlich oft“, sagte Franz und legte Kübler die Hand auf die Schulter. Franz schien es, als sei Kübler vor Überraschung zusammengezuckt. „Stoß mit mir an.“ „Ah, Franz!“ Kübler hatte ihn erkannt und lächelte. „Hast du auch eine Herrenpartie gemacht? Trinken ist keine Sünde, erst recht nicht am Himmelfahrtstag.“ Kübler trank sein Bier aus. Sie sprachen über dies und jenes. Franz hatte sich nicht mehr ganz in der Gewalt. Er lallte. „Wie wär’s, wollen wir uns nicht mal treffen?“ „Gern.“ Kübler überlegte kurz. „Von mir aus nächste Woche Freitag. Am besten wieder hier. Abends. Gegen sechs. Ist dir’s recht?“ Franz kehrte zu seinen Kollegen zurück. Bald darauf brachen Kübler und seine Tischgenossen auf. Torkelnd begaben sie
sich zum Ausgang. Mit unsicherer Hand zog Kübler den Hut noch tiefer in die Stirn. Unter den angeheiterten Besuchern des Lokals fiel keiner von ihnen auf. Nach einer halben Stunde erhoben sich auch Franz und seine Gefährten, die hin und her gestritten hatten, ob sie nicht noch einen genehmigen sollten. Am Ausgang schüttelten sie sich lange die Hand. Auf der Straße geriet Franz in einen Auflauf. Es hieß, ein Motorradfahrer sei in voller Fahrt die Jägerstraße langgejagt und habe gewisse Spuren auf dem Fahrdamm hinterlassen. Schupos trieben die Neugierigen auseinander und wiesen die Radfahrer an, die andere Straßenseite zu benutzen. Als die Fußgänger merkten, was los war, machten sie sich selber schleunigst davon. Hausmeister und Polizisten schrubbten mit Bürsten Aufschriften auf dem Asphalt weg. Immerhin konnte Franz noch lesen, was da mit brauner Farbe geschrieben stand: „Hitler – das ist der Krieg. Nieder mit Hitler!“ Die Aufschrift wiederholte sich und zog sich als lange Spur durch die ganze Straße hin. Auch Franz beeilte sich. Er trat stärker in die Pedale. Nur fort von hier! Als er noch im Kommunistischen Jugendverband war, hatten sie auch solche Sachen gemacht. Sie verfertigten besondere Motorradreifen mit Losungen – eine Art Stempel. Dann rasten sie durch die Straßen, bestrichen im Fahren den Reifen mit Farbe, und der Reifen übertrug die Losung auf den Fahrdamm. Wenn man hierbei eine nicht abwaschbare Farbe benutzt hatte, bekam kein Mensch sie mehr weg, es sei denn, man kratzte sie zusammen mit dem Asphalt ab. Es gab also auch jetzt Leute, die so etwas wagten. „Nieder mit Hitler!“ Für eine solche Sache hackten sie einem heutzutage den Kopf
ab. Nein, er hatte damit nichts mehr zu tun. Franz kam erst spät nach Hause. Gesprächiger als sonst, erzählte er Erna beim Abendbrot ausführlich, wie er den Tag verbracht hatte. Auch von Kübler erzählte er ihr und von dem geheimnisvollen Motorrad. „Freitag abend treffen wir uns“, sagte er gähnend. „Rudi ist ein feiner Kerl. Wir wollen Erinnerungen austauschen.“ „Oh, Franz, muß das denn sein?“ sagte Erna. Ihre Stimme klang bedrückt. Bestimmt wäre es für Franz besser, wenn er sich nicht mit Kübler träfe, der so viel Kummer über sie gebracht hatte. Aber da es nun einmal so war, mußte sie, wie versprochen, die Gestapo davon verständigen. Dieser Kübler sollte ihr Leben nicht wieder gefährden. „Was heißt, muß das denn sein?“ entgegnete Franz. „Rudi ist ein alter Freund von mir.“ „Für welche Zeit habt ihr euch verabredet?“ „Gegen sechs treffen wir uns. Beim ,Groben Gottlieb’. Du, das Lokal müßtest du dir unbedingt mal ansehen. Willst du nicht mitkommen? Dort kannst du nach Herzenslust lachen… Aber jetzt – marsch ins Bett! Hoffentlich verschlaf ich morgen nicht. Komm, Ernachen!“ Er küßte seine Frau und begann sich zu entkleiden. Erna schloß in dieser Nacht kein Auge. Ruhelos wälzte sie sich hin und her und grübelte. Wieder dieser Kübler! Sie dachte daran, was sie durchgemacht hatte, als Franz verhaftet wurde. Ihr fiel auch wieder die Geschichte mit dem Geld ein, die ihr bislang unerklärlich war. Wer hatte es ihr damals geschickt? Eines Morgens klingelte es. Sie öffnete – draußen war niemand zu sehen, doch im Treppenhaus hasteten Schrit-
te abwärts. Sicherlich wieder ein dummer Kinderscherz. Als Erna dann aber im Briefkasten nachsah, fand sie dort einen Umschlag. Auf ihm stand: „Frau Wilamzek.“ So hatte sie noch niemand genannt – sie war ja noch nicht mit Franz verheiratet. In dem Umschlag lagen fünfzig Mark. Sonst nichts, keine Zeile. Das Geld kam ihr natürlich sehr zustatten. Aber wer hatte es geschickt? Offenbar ein guter Mensch. Höchstwahrscheinlich einer von Franz’ Freunden, der helfen, aber unerkannt bleiben wollte… Am Morgen, als Franz zur Arbeit gegangen war, begab sich Erna zur Gestapo. Sie sagte: „Am Freitag, um sechs Uhr abends, wird Kübler im Lokal ,Zum groben Gottlieb’ sein.“ „Wo ist das?“ fragte der Beamte. „Ich weiß nicht. Irgendwo in der Stadt.“ „Na gut, das kriegen wir schon heraus.“ „Aber sagen Sie bitte, meinem Mann wird doch nichts passieren?“ „Seien Sie unbesorgt, Frau Wilamzek, das haben wir doch bereits abgemacht.“ Erna verließ beruhigt die Gestapodienststelle. Franz würde man nicht behelligen. Nun brauchte sie nicht mehr zur Gestapo zu gehen. Beträfe es nicht Franz, dann hätte sie sich ja nie mit solchen Sachen abgegeben. Schwankend hatte Kübler das Lokal verlassen. Sie trennten sich Ecke Gendarmenmarkt. „Seid vorsichtig“, sagte er zu den Genossen. „Du hast mit deinem Motorrad einen ganz schönen Wirbel gemacht, Heinz. Ich kann mir vorstellen, wie wütend die Gestapo ist!“
„Der Teufel soll sie holen! Sollen sie nur wissen, daß sie nicht alle Kommunisten ins KZ gesteckt haben. Das verdirbt ihnen ein bißchen das Konzept. Faschismus und deutsches Volk sind immer noch zwei Dinge.“ „Das stimmt schon alles. Aber treib es nicht zu weit. Vorläufig sind wir noch einzelne, nur glimmende Funken. Unsere Hauptarbeit liegt in den Fabriken, in der Wehrmacht, bei den Massen.“ „Das ist mir klar. Aber heute habe ich meinem Herzen mal Luft machen müssen. Man kann doch nicht immer nur im verborgenen arbeiten! Na gut, verabschieden wir uns.“ Kübler ging zur U-Bahn. Sein Gang war auf einmal sicher geworden, als habe er nichts getrunken. So verhielt es sich auch in Wirklichkeit. In den letzten Monaten hatte Kübler Erfolg gehabt. Es war ihm manches geglückt. Auf alle Fälle hatte er ein paar zuverlässige, der Sache treu ergebene Genossen gefunden. Jetzt war es anders als im vergangenen Jahr, wo er sich jede Nacht eine neue Bleibe suchen mußte. Aber wieviel Mühe hatte das gekostet, wie qualvoll langsam ging es doch voran… Vielleicht würde er auch Franz gewinnen können. Der war doch ein anständiger Kerl, nur daß er sich jetzt abseits hielt, sich in seinen vier Wänden verkrochen hatte. Vielleicht hatte er auch Angst. Da sollte man sich nichts vormachen, die Faschisten hatten vielen Angst eingejagt. Man nehme nur mal den Heinz. Der hatte noch vor einem halben Jahr von politischer Arbeit nichts hören wollen und immer nur gesagt: „Ich habe Familie. Der Teufel hole den Faschismus! Die werden sich schon gegenseitig abmurksen, wie im Röhmputsch.“ Und wie hatte Heinz sich in diesem halben Jahr verändert! Er selber
schlug vor, den Faschisten ein Schnippchen zu schlagen und ihnen zu zeigen, daß man noch da war. Nicht jeder würde es wagen, Losungen gegen Hitler anzubringen. Im allgemeinen war Kübler gegen derartige Streiche, aber Heinz hatte recht – man mußte den Nazis zeigen, daß es ihnen weder gelungen war noch gelingen werde, das Gute, Gesunde zu ersticken, das im deutschen Volk lebte. Rudolf Kübler, der in der Illegalität lebende Kommunist, wußte sehr wohl, daß solche Streiche wie der von Heinz nur Nadelstiche waren und längst noch nicht an das heranreichten, was erforderlich war. Wie wenig bedeutete selbst die von ihm in sechs Berliner Betrieben geschaffene Parteiorganisation! Konnte sie sich der trüben, braunen Flut des Faschismus, die Deutschland überschwemmte, entgegenstemmen? Ja, das alles stimmte. Es galt also, noch mehr zu tun, noch mehr zu arbeiten, noch mehr Verbindungen zu anderen Gruppen herzustellen. Auch in dieser Hinsicht hatte er schon einiges erreicht. Im Frühjahr, kurz nachdem er Franz in Köpenick getroffen hatte, war Kübler in einem Rüstungsbetrieb untergekommen. Natürlich auf Grund gefälschter Papiere. Jetzt hatte er Arbeit, eine Wohnung und Geld. Sogar Gertrud, seiner Frau, hatte er etwas geben können – das erste Mal seit siebeneinhalb Jahren. Kürzlich hatte er Gertrud gesprochen. Sie ging mit dem Sohn am Wasser spazieren. Rudolf kannte bereits ihre Tageseinteilung. Abends – wahrscheinlich arbeitete sie jetzt – begab sie sich meist mit einer Handarbeit oder mit einem Buch an die frische Luft. Manchmal war außer dem Sohn ein Mann in ihrer Gesellschaft. Wahrscheinlich hatte sie sich mit jemand
angefreundet. Rudolf suchte sich damit abzufinden. Er selbst hatte ja in diesen Jahren auch nicht immer wie ein Mönch gelebt. Das Leben war nun einmal so. Als sie sich trafen, fragte er sie nicht einmal danach. Kübler nahm neben ihr Platz. Gertrud, in ihr Buch vertieft, hatte ihn nicht bemerkt. Er sagte leise: „Gertrud!“ Sie fuhr auf und blickte nach allen Seiten. Sie glaubte geträumt zu haben, wandte den Kopf, stöhnte und wurde blaß. „Du – Rudolf?“ Sie verbarg das Gesicht in den Händen. „Ist das denn möglich!“ „Bleib um Gottes willen ruhig. Wie geht es dir?“ Sie war doch ein Prachtkerl, seine Gertrud! Wie sie sich in der Gewalt hatte! Sie saßen da, als kannten sie sich nicht. Erst als niemand in der Nähe war, begannen sie zu sprechen. Eigentlich sprach nur Gertrud. Er fragte, sie antwortete. Zuerst sei ihr Leben schwer gewesen. Jetzt ginge es besser. Man gewöhne sich offenbar an alles. Im vergangenen Jahr sei sein Vater in Buchenwald gestorben. Zusammen mit der Todesanzeige habe der Lagerkommandant die Rechnung für die Begräbniskosten geschickt: Sarg, Totengräber und so weiter… Sie mordeten und verlangten dafür Geld! So viel Niedertracht ginge über ihr Vorstellungsvermögen. Sie habe den Betrag nicht einmal erstatten können. Eine Woche später sei eine Mahnung gekommen: Wenn sie das Geld binnen der und der Zeit nicht überweise, werde die Forderung gerichtlich eingetrieben werden. Die Zwangsvollstreckungskosten habe sie dann ebenfalls zu tragen. Gertrud, außer sich, wandte sich an eine Nachbarin. Vielleicht könne er sich noch an das Ehepaar Korb erinnern? Sie wohnten über ihnen. Und ob er sich
erinnerte! Walter Korb gehörte derselben Parteizelle an wie er. Interessant, was er jetzt machte… Gertrud erzählte: „Frau Korb ist allein geblieben. Ihr Mann wurde neunzehnhundertsiebenunddreißig in Plötzensee hingerichtet. Ihr hatte man auch mit der Todesanzeige eine Rechnung geschickt – sie sollte die Kosten für den Henker bezahlen. Zwei Jahre lang behielt sie das für sich, sie erzählte es mir erst, als ich zu ihr kam… So leben wir, Rudolf. Müssen noch den Mord an unseren Angehörigen bezahlen… Ich glaubte schon, auch du wärst nicht mehr am Leben… Du möchtest doch sicherlich unseren Jungen sehen?“ „Gewiß, aber so, daß er nichts merkt.“ „Ich verstehe. Auch das gehört zur Konspiration.“ Im Tonfall seiner Frau lag etwas, von dem er nicht wußte, ob es Ironie, Schmerz oder Erbitterung war. „Willi!“ rief sie, „Willi, komm mal her!“ Erhitzt vom Spiel, stand der Junge vor der Mutter. Den Vater beachtete er nicht. Was ging es ihn an, wer. da sonst noch auf der Bank saß. „Lauf nicht so viel, Willi, du bist ja ganz naß geschwitzt.“ Sie steckte ihre Hand in seinen Halsausschnitt. „Wir gehen bald nach Hause. Setz dich ein bißchen, du mußt dich abkühlen.“ „Aber wir spielen doch gerade so schön, Mutti! Ich komm ganz schnell wieder zurück.“ Kübler betrachtete seinen Sohn. Kein Muskel seines Gesichts verriet, wie erregt er war. Oh, was ihn diese Selbstbeherrschung kostete! Willi war ihm sehr ähnlich. Jahrelang hatte Kübler diese Begegnung herbeigesehnt, und nun saß er neben dem Sohn, gebunden an Händen und Füßen, nicht einmal mit seinem Namen durfte er ihn ansprechen. Als der Jun-
ge weggelaufen war, fragte er: „Weiß Willi etwas von meiner Existenz?“ „Natürlich. Er behauptet sogar, sich dunkel an dich zu erinnern. Er war noch keine fünf Jahre, als du weg mußtest. Er glaubt, du seist tot. In der Schule schimpfen ihn die Kinder bis heute Zuchthäusler und Galgensohn. Verzeih, Rudolf, es ist alles so schwer.“ Gertrud wischte sich die Augen mit dem Taschentuch. Kübler nahm ihre Hand. „Ich muß jetzt wieder fort.“ „Ich weiß, du bleibst immer derselbe, Rudolf. Wann sehen wir uns nun wieder?“ „Das weiß ich auch nicht. Ich werde mich bemühen, dich zu finden.“ „Sei vorsichtig, Rudolf. In diesem Krieg mit seinen Siegen sind heutzutage alle wie berauscht. Hitler hat gewußt, wo er die Leute anpacken muß.“ „Und wie denkst du darüber?“ „Ich sagte doch, die Menschen sind wie berauscht.“ Mehr Worte wurden zwischen ihnen nicht gewechselt. Kübler gab Gertrud Geld. Sie wollte es nicht nehmen – vielleicht brauchte er es selbst. Er steckte die Scheine in ihr Buch, zwischen die Seiten. Nun, da Kübler durch die nächtlichen Straßen nach Hause ging – er wohnte seit einiger Zeit in Spandau –, durchlebte er aufs neue das Wiedersehen mit dem Sohn und das Gespräch mit Gertrud. Jetzt hatten sie also auch seinen Vater umgebracht. Und Korb auch. Er erinnerte sich an die Diskussionen mit seinem Vater, der den Faschismus nicht ernst genommen und den sozialdemokratischen Prinzipien getraut hatte. Und
nun? „Jedem das Seine!“ Der Spruch am Tor des Konzentrationslagers Buchenwald… Ja, in Deutschland war jetzt alles erlaubt, wie am Himmelfahrtstag, nur daß es kein lustiger, harmloser Feiertag war. Dennoch würde es Hitler nicht gelingen, jenes Gute, Gesunde zu ersticken, um dessentwillen er kämpfte. Und wenn es auch schwer, unmenschlich schwer war… Wieder dachte Kübler an seine Frau. Sie war ein Beispiel dafür. Bei diesem letzten Gespräch hatte er deutlich gespürt, daß der Faschismus sie nicht schlecht gemacht hatte, dass sie dieselbe geblieben, die sie im Kommunistischen Jugendverband war, damals, als sie noch zusammen Plakate geklebt und an Demonstrationen teilgenommen hatten. Sie war nicht zu Kreuze gekrochen, war der Massenpsychose, der Gier der Spießer nicht erlegen. Und solche gab es viele in Deutschland… Kübler stieg aus der U-Bahn aus und setzte seinen Weg zu Fuß fort. Es waren nur drei Haltestellen. Heute hatte er nichts zu befürchten. Unter den vielen angeheiterten Männern, die von der Herrenpartie heimkehrten, dürfte er kaum auffallen. Dennoch betrat er gewohnheitsgemäß die Nebenstraße, in der er wohnte, von der entgegengesetzten Seite her und ging zunächst, vorsichtig umherspähend, an der Gartenpforte vorüber. Nichts Verdächtiges! Er konnte also ruhig sein Quartier aufsuchen. Entsprechend seiner Verabredung mit Franz machte sich Kübler am Freitag gegen sechs Uhr abends auf den Weg zur Jägerstraße. Im Lokal „Zum groben Gottlieb“ waren weniger Gäste als das letztemal. Franz erwartete ihn bereits. Ihre Blicke begeg-
neten sich. Rudolf Kübler trat an den Tisch, an dem Franz saß. „Ausweiskontrolle! Alles bleibt auf den Plätzen!“ Kübler sah sich um. Im Türrahmen standen zwei Gestapoleute. Obwohl sie Zivil trugen, erkannte er untrüglich, daß die Kerle Gestapoleute waren. Eine Razzia! Er wollte auf die Toilette, wo es einen zweiten Ausgang gab. Aber auch dort standen zwei vor der Tür. Er tat, als ob er betrunken wäre. „Ausgespielt, mein Junge! Dir drückt die Blase zur falschen Zeit. Zeig deinen Ausweis.“ In den Händen der Gestapoleute blitzten Pistolen. Sie hatten auf ihn gewartet, die Schufte! Franz war zu Tode erschrocken. Er atmete erst auf, als er nach Vorzeigen seines Auweises wieder auf der Straße stand. Er ging auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig und drehte sich um. Zwei Männer führten Kübler ab. Er hatte Handschellen um. Ein Auto fuhr vor, und Kübler wurde in den Wagen hineingestoßen. Kübler, der das Metall der Handschellen an seinen Gelenken spürte, suchte vor allem seine Ruhe wiederzugewinnen. Wie hatte das passieren können? Einen Zufall hielt er für ausgeschlossen. Hatten sie seine Spur entdeckt? Oder hatte ihn jemand verraten? Die Genossen? Nein! Er vertraute jedem wie sich selbst. Franz? Das konnte nicht sein! Aber jemand mußte ihn doch denunziert haben. Da, wieder dieser scheußliche Verdacht. Wer von der Fünfergruppe war der Verräter? Vielleicht hatte er sich in jemand getäuscht und war einem Spitzel auf den Leim gegangen? Das wäre sein Ende. Bei der Gestapo, wohin man ihn gebracht hatte, empfing ihn ein Obersturmführer lächelnd.
„Da treffen wir uns also wieder, Herr Kübler. Wir haben uns lange nicht gesehen.“ Er trat an ihn heran, holte aus und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Offenbar war Sir Samuel Hoare das Glück endlich hold - als Belohnung für seine Geduld. Die Deutschen schienen jetzt selbst Initiative zu entfalten. Ein gutes Vorzeichen! Es fing damit an, daß Serrano Suner, Francos Außenminister, wie beiläufig zu ihm sagte: „Scheint Ihnen nicht, mein lieber Botschafter, daß sich Großbritannien infolge der letzten Ereignisse in einer schwierigen Lage befindet? Ich spreche zu Ihnen als aufrichtiger Freund Englands.“ Sie kamen von einer Privataudienz, die Franco dem Botschafter mit Sondermission gewährt hatte. Hoare antwortete ausweichend: „Einzelne Ereignisse entscheiden noch nicht das Schicksal des Empire.“ „Ganz recht, aber die Invasionsvorbereitungen sind in vollem Gange. Sind Sie dessen sicher, daß es Ihnen gelingen wird, einen Angriff abzuwehren? Und dann diese furchtbaren Luftangriffe.“ „Wir sind stark genug, um unsere Sicherheit gewährleisten zu können. Unsere Insel ist eine unbezwingbare Festung.“ „Ich möchte Ihren Optimismus haben, aber…“ Suner machte eine bedeutsame Pause, holte sein Zigarrenetui heraus und zündete sich umständlich eine Zigarre an. „Aber ich sage Ihnen ganz vertraulich: Herr Hitler hat mich zum fünfzehnten September zum Cocktail nach London eingeladen. Ich bin
kürzlich in Berlin gewesen.“ Suner wollte ihm offensichtlich angst machen. Samuel Hoare durchschaute ihn. Er setzte das Spiel fort. „Mit dem gleichen Erfolg könnte ich Sie zu einem Paar Wiener Würstchen im Adlon, Unter den Linden, einladen.“ „Ich meine es ernst. Wäre es nicht besser, den sinnlosen Krieg im Westen einzustellen? Wir müssen das tun, um die europäische Zivilisation zu erhalten. Von diesem Krieg profitieren nur die Bolschewiken.“ Der Botschafter erwiderte lauernd: „Von unserer Seite aus wird die Initiative nie erfolgen. Das traditionsreiche britische Prestige erlaubt es uns nicht, uns vor dem Gegner zu erniedrigen. Nennen Sie das, wenn Sie wollen, angelsächsischen Starrsinn.“ Das Auto fuhr durch einen Vorort und überquerte die Plaza Vittorio, in deren Mitte ein antiker steinerner Kampfwagen stand. Mit liebenswürdiger Beharrlichkeit setzte Suner das Hoare interessierende Gespräch fort. „Es fällt mir schwer, etwas dagegen einzuwenden. In dieser Beziehung hängt möglicherweise viel vom Nationalcharakter ab. Aber vielleicht kann man sich dritter Personen bedienen. Die Verhandlungen könnten zunächst privaten Charakter haben und wären unverbindlich.“ „Wie meinen Sie das?“ „Ich muß anscheinend ganz offen sein. Seien Sie nochmals meiner aufrichtigen Gefühle versichert.“ Suner, auf dem Gesicht ein verlockendes Lächeln, neigte sich vertraulich dem Botschafter zu. „Sie kennen doch den Prinzen Hohenlohe? Seine Frau ist Spanierin. Er gilt bei uns beinahe als Spanier.
Zu Deutschland hat er sehr einflußreiche Beziehungen. Mir gegenüber hat er einmal erwähnt, daß er nichts dagegen hätte, mit Ihnen zusammenzutreffen. Ich hatte ihn schon ganz vergessen. Da wir jetzt darüber sprachen, ist es mir wieder eingefallen.“ „Na gut, vernünftigen Vorschlägen schenke ich gern Gehör. Doch wie sollte man das bewerkstelligen?“ „Oh, das ist gar nicht so schwierig. Sie könnten sich zum Beispiel ganz zufällig mit dem Prinzen in Pamplona, der Hauptstadt von Navarra, treffen. Dort waren Sie noch nicht? Zu einem solchen Besuch kann ich Ihnen nur raten. Sie werden dort das wirkliche, alte Spanien sehen. Reisen Sie dorthin zum Fest des heiligen Fermin. Stierkämpfe, Volkstänze, Hochamt im Dom… Prinz Hohenlohe beabsichtigt, ebenfalls dort zu sein.“ Der hat es faustdick hinter den Ohren, hat schon alles vorbereitet, dachte Hoare von seinem Gesprächspartner. „Gut, ich nehme Ihre Einladung an. Ich liebe das alte Spanien.“ Und nun befand sich Hoare in Pamplona. Die alte Stadt war überfüllt von Gästen. Jeden Morgen, wenn die Sonne aufging, wurden an dem mittelalterlichen Gasthof mit den meterdicken, kühlen Mauern, in dem der britische Botschafter abgestiegen war, die widerstrebenden Stiere zur Arena vorbeigeführt. Bis in die späte Nacht hinein ertönten unter den Fenstern Gitarrenklänge, Serenaden. Mit Kastagnetten tanzten feurige, biegsame Mädchen unter der Musikbegleitung von braunhäutigen, finster dreinschauenden Männern. Am ersten Tag des Festes des heiligen Fermin besuchte Hoare den feierlichen Gottesdienst und ging in die Arena, um
sich die Stierkämpfe anzusehen. All das interessierte den Botschafter mit Sondermission indessen herzlich wenig. Er wartete auf die Zusammenkunft, derentwegen er diese Reise unternommen hatte. Die Zusammenkunft mit dem Prinzen Hohenlohe fand noch an diesem Abend statt. Es stellte sich heraus, daß sie beide in demselben Gasthof wohnten. Prinz Hohenlohe mit dem theatralischen Lächeln eines waschechten Zuhälters hielt sich betont höflich. Hoare gefiel er nicht. Der Mann erweckte nicht gerade Vertrauen. Zu rasch war er mit allem einverstanden. Hoare nahm sich vor, auf der Hut zu sein. Aber übermäßige Vorsicht war nicht erforderlich. Der geschäftliche Teil der Unterhaltung war kurz. „Gestatten Sie, daß ich Ihnen einen Gruß von deutschen Freunden ausrichte“, sagte Prinz Hohenlohe nach der Begrüßung. „Mir?“ „Ja, Ihnen und Lord Hamilton. Von Herrn Horn.“ So sehr Hoare sich auch anstrengte, ihm fiel nicht ein, wer Horn war. „Entschuldigen Sie, aber ich kenne diesen Namen nicht, er sagt mir nichts.“ „Vielleicht sagt Ihnen der Name Rudolf Heß mehr? Es handelt sich um ein und dieselbe Person.“ Erwartungsvoll sah Prinz Hohenlohe den britischen Botschafter an. Wie würde er reagieren? Hoare war in der Tat verblüfft. Der Stellvertreter des deutschen Kanzlers, die rechte Hand Hitlers, bestellte Herzog Hamilton einen Gruß? Das war entschieden mehr als eine Postkarte mit Versen von Horaz! Churchill würde zufrieden sein.
Offenbar war der deutsche Agent, der wie ein Stammgast spanischer Nachtlokale aussah, gar keine solche Null. Er schien tatsächlich ausgezeichnete Verbindungen zu Deutschland zu haben. „Ich danke Ihnen. Sind Sie von Herrn Horn bevollmächtigt, mir etwas mitzuteilen?“ „Nein, ich soll nur einen Gruß ausrichten. Übrigens einen herzlichen Gruß. Und dann habe ich noch einen Brief für den Herzog.“ Hohenlohe hielt Hoare einen Umschlag hin. Nach einem flüchtigen Blick auf die Anschrift – sie lautete: „Herzog Hamilton, Schottland“ – ließ der Botschafter den Brief rasch in seine Jackettasche gleiten. „Herr Horn läßt Sie bitten, den Brief dem Adressaten zu übermitteln. Eine etwaige Antwort könnte an Herrn Burckhardt in Genf gerichtet werden. Sie kennen doch Herrn Burckhardt, den Präsidenten des Internationalen Roten Kreuzes, nicht wahr?“ „Ja, ja. Ich werde der Bitte des Herrn Horn nachkommen.“ Prinz Hohenlohe leerte sein Glas und nahm mit schmalen, gepflegten Fingern eine Olive. „Was für ein pikanter Geschmack! Nur in Pamplona versteht man die Oliven so zu füllen… Gestatten Sie, daß ich mich verabschiede, Sir. Ich habe mich gefreut, Sie kennenzulernen!“ Der Botschafter geleitete seinen Gast hinaus. Durch das Fenster wehte ein leichter, aber noch heißer Wind. Hoare dachte nach. Die Deutschen suchten zweifellos eine Aussöhnung mit England. Unter welchen Bedingungen wollten sie Frieden schließen? Prinz Hohenlohe hatte darüber nichts geäußert. Ja, stimmt. Haushofer hatte er erwähnt.
Demnach hatte diesen die Postkarte erreicht. Die Deutschen hatten andere Methoden – die packten den Stier gleich bei den Hörnern. In diesem Sinne faßte der Botschafter auch den Besuch des Prinzen Hohenlohe auf. Hitler schlug also vor, Verhandlungen nicht durch zweitrangige Mittelspersonen zu führen. Die Tatsache, daß die Deutschen mit dem Westen Kontakt suchten, war an sich nichts Neues. Auch schon früher hatten sie verschiedentlich Angebote gemacht. Da war die Reise Wohlthats nach London, die dieser noch vor dem Krieg unternahm. Und dann die Angebote der Militäropposition ebenso wie die mit Hilfe von Papst Pius im Vatikan geführten Verhandlungen. Das alles waren Glieder einer Kette, waren Bemühungen um eine Übereinkunft. Samuel Hoare wußte von den gegenseitigen Annäherungsversuchen, die hinter den Kulissen unternommen wurden. Nicht ohne Grund war Admiral Canaris „auf einen Sprung“ nach Madrid geflogen – er sondierte den Boden für Verhandlungen der Militäropposition mit London. Das Resultat war ein Memorandum des deutschen Diplomaten Ulrich von Hassell. In der Generalopposition galt er als Experte für außenpolitische Fragen. Für den Fall, daß Hitler gestürzt wurde, war er für den Posten des Außenministers vorgesehen. Ja, eben für den Fall, daß Hitler gestürzt wurde – da lag der Hase im Pfeffer! Vorerst entbehrten solche Hypothesen noch der realen Grundlage. Die Mitglieder der Opposition waren Generale ohne Macht, ohne Armee. Hitler war es, der die Wehrmacht in der Hand hatte. Hoare erinnerte sich deutlich an den Inhalt des Memorandums, das ihm auf Umwegen – über Genf, Lissabon, Madrid – zugeleitet worden war. Von Hassell hatte im Auftrag der
Opposition geschrieben: „Es ist äußerst wichtig, diesen unsinnigen Krieg so schnell als möglich zu beenden. Diese Notwendigkeit besteht, weil die Gefahr immer größer wird, daß Europa vollkommen zerstört und vor allem bolschewisiert wird.“ Auch die deutschen Generale richteten ihre Blicke nach Osten. Ebenso wie die Katholiken, Pfaffen, Generale, Spione… In Deutschland existierten verschiedene Strömungen, aber sie alle verband der eine Wunsch – sich auf Kosten Rußlands gesundzustoßen. Sollten sie nur! Das mußte man geschickt ausnutzen. Aber das Angebot, das Prinz Hohenlohe übermittelt hatte, war eine realere Sache. Die anderen Bestrebungen mußte man einstweilen auf Eis legen. Rudolf Heß alias Horn sprach bestimmt im Namen Hitlers. Einstweilen verkörperte dieser die einzige reale Gewalt in Deutschland. Bei allen Meinungsverschiedenheiten – mit Heß ins Gespräch zu kommen wäre nicht schlecht. Ein Nachtfalter flog durch das Fenster ins Zimmer, schwirrte um die Kerze, versengte sich die Flügel und blieb an dem geschmolzenen Wachs kleben. Hoare stand auf und schnipste den Falter weg. Ein Tropfen Wachs blieb an seinem Fingernagel haften. In Gedanken versunken, murmelte der Botschafter vor sich hin: „Die Hauptsache ist, man lenkt ihn gegen den Osten. Soll er sich nur die Flügel an der russischen Kerze versengen, um so leichteres Spiel haben wir nachher mit ihm.“ Hoare rieb sich mit dem Taschentuch das Wachs vom Nagel. „Jawohl, wir werden das Spiel fortsetzen“, wiederholte er unbewußt den Lieblingsausspruch von Churchill.
3 Jules Benoit begriff noch immer nicht, wie er nach England gelangt war. Der Allmächtige allein wußte, daß alles ohne seinen Willen geschehen war. Wenn man sich die Sache nüchtern überlegte, war die törichte und riskante Flucht von der „Massilia“ absolut sinnlos gewesen. Zu spät sollte er das erkennen. Man hatte ihn in die Geschichte hineingezogen, ihn als eine Art Versuchskaninchen benutzt, an dem ausprobiert werden sollte, ob sich eine Flucht der französischen Minister von Bord des Dampfers arrangieren ließe. Sie erwies sich als unmöglich. Und was nun? Für diese Rolle hätten sie wahrlich einen anderen nehmen können. Die französischen Minister hatte man, wie er erfuhr, zurückgeschickt, und er selbst wurde Emigrant. Wäre es ihm im besetzten Frankreich etwa schlecht gegangen? Die anderen dort lebten doch auch! In Vichy erschienen jetzt wieder Zeitungen, auch für ihn hätte sich ein Posten gefunden. Jemand mußte doch die außenpolitischen Berichte schreiben. Was konnten die Deutschen im Grunde gegen ihn haben? Nichts. Er hätte seine Artikel vorweisen können. Nicht eine Zeile hatte er gegen Deutschland geschrieben. Das hätten Bonnet, der ja Mitglied der Regierung war, oder Laval bestätigen können. Schließlich kannte er auch Herrn Abetz persönlich, der jetzt wieder in Paris saß. So eine fatale Fügung! Jetzt war alles aus. Jetzt war er in den Augen der neuen Regierung ein Verbrecher, ein politischer Emigrant. Der Weg nach Frankreich war versperrt. Versuch einer mal, dahin zurückzukommen! Auch für die Deutschen war er ein Feind die würden ihn sofort einlochen. Solcherart waren die Gedanken von Jules Benoit, dem inter-
nationalen Pressekommentator von gestern, den die Welle der Ereignisse an die englische Küste gespült hatte. In einem kleinen Vorzimmer wartete er darauf, bei General de Gaulle vorgelassen zu werden. Der Stab des Komitees „Freies Frankreich“ war in einem nüchternen grauen Haus untergebracht. Benoit hatte lange danach gesucht und sich schließlich verlaufen. Inzwischen begann ein Luftangriff. Hoch über der Themse entbrannte ein Kampf zwischen Flugzeugen, irgendwo in der Ferne fielen Bomben. Die Straße leerte sich im Nu. Auch Jules lief in einen Hausflur. Der Luftangriff verstimmte ihn noch mehr. Ihm wurde speiübel. War es nicht ein Witz, daß er vor den Bombardierungen in Frankreich ausgerissen war, um nun die in London mitzumachen? In Paris herrschte jetzt Ruhe… Wie hatte er auch nur eine solche Dummheit begehen können! Der Luftangriff war bald vorbei. Jules verließ den Hausflur. Auf der Straße holte ihn ein Mann in der Uniform eines französischen Marineoffiziers ein. Sein linker Arm lag in einer schwarzen Schlinge. „Können Sie mir nicht sagen, wie ich zum Stab von General de Gaulle komme?“ „Oho, meinen Sie nicht, daß Sie allzu offen sprechen, Monsieur? Sie verletzen die militärische Geheimhaltung. Wir befinden uns beide in einem fremden Land.“ Jules mißfiel der belehrende Ton des Offiziers. Aber was sollte er tun? Er war heilfroh, in der Menge der sorgenvollen Londoner einen Franzosen getroffen zu haben. „Entschuldigen Sie, aber ich bin erst gestern in London angekommen. Man hat es hier sehr schwer, wenn man die Landessprache nicht versteht.“
Der Offizier antwortete, nun eine Spur freundlicher: „Das ist etwas anderes. Sie wollen also zum Stab vom Komitee ,Freies Frankreich’? Kommen Sie mit.“ Unterwegs machten sie sich bekannt. Der Offizier stellte sich als Kapitän Lecroix, Kommandant des U-Boots „Surcouf“ vor. „Früherer Kommandant“, fügte er hinzu. „Mein Boot ist in Plymouth interniert und wird von schottischen Soldaten bewacht. Es ist in sicheren Händen.“ Der Kapitän lächelte ironisch und wies mit dem Kopf auf seinen Arm. „Diese Geschichte hat mich etwas gekostet.“ Benoit verstand nicht, was der U-Boot-Kommandant meinte. Er wollte ihn fragen, kam aber nicht mehr dazu. Kapitän Lecroix sagte: „Wir sind da.“ Der Fahrstuhlführer in abgetragener Livree fuhr sie zum zweiten Stockwerk hoch. Sie gingen einen langen, schmalen Flur entlang. „Sie müssen hier herein, und ich muß zur Marineverwaltung. Wir sehen uns nachher noch.“ Lecroix deutete auf einen kurzen Seitengang rechter Hand. „Gehen Sie zuerst zu dem Adjutanten. Sein Name ist de Crussol, Geoffroy de Crussol.“ Im Vorzimmer de Gaulles stand ein Tisch mit einer ganzen Batterie unentwegt schrillender Telefonapparate. Ein langer, hagerer Kavallerieleutnant mit kleinem Kopf und gewaltiger Nase griff bald nach dem einen, bald nach dem anderen Hörer. „Madame Catroux? Sind Sie die Frau des Brigadegenerals?… Ja, aber der General ist besetzt. Er spricht auf einem anderen Apparat… Die Sache ist wichtig?… Gut, gut!
Bitte rufen Sie in fünf Minuten noch einmal an.“ Benoit wartete, bis der Leutnant frei war. Ob er ein Verwandter, der Gräfin de Crussol ist? ging es ihm durch den Kopf. Vielleicht war sie auch hier. Durch sie könnte er Verbindungen aufnehmen. Schließlich trat eine kurze Pause zwischen den Telefonaten ein. Der Leutnant atmete erleichtert auf. Benoit nannte seinen Namen. „Bitte, nehmen Sie einen Moment Platz. Ich werde Sie dem General melden.“ Wieder rasselten die Telefone. Jules setzte sich auf einen Bürostuhl. An sonstigem Mobiliar gab es hier nur noch eine blankgeriebene Sitzbank von der Art, wie man sie auf Bahnhöfen sieht. Darauf hatten sich bereits andere Besucher niedergelassen. Nach einiger Zeit trat Lecroix ein, sah sich suchend nach einer Sitzgelegenheit um, ging wieder hinaus und kehrte mit einem Stuhl zurück. Er setzte sich zu Benoit. „Vorläufig kämpfen wir nur in Vorzimmern! Admiral Muselier ist wieder nicht da.“ Der Kapitän war verärgert. „Zum drittenmal passiert mir das jetzt schon. Ich werde das General de Gaulle melden.“ Er machte es sich auf seinem Stuhl bequem mit einer Miene, als wollte er sagen: Hier bleibe ich sitzen, und wenn es bis zum Abend dauert, aber ich erreiche, was ich will. „Zusammen mit dem Patriotismus haben wir auch unseren Bürokratismus nach London gebracht. Dabei können wir es uns einfach nicht erlauben, hier Däumchen zu drehen wie Insassen englischer Altersheime! Wenn wir ernsthaft an Frankreich denken, müssen wir handeln. Habe ich nicht recht?“ Lecroix suchte einen Gleichgesinnten. Kapitän Lecroix machte seinem bekümmerten Herzen Luft,
Benoit indessen hörte ihm nur halb zu. Im Augenblick interessierte es ihn am allerwenigsten, was sein neuer Bekannter dachte und wünschte. Wen kümmerte das schon? Eine halbe Stunde war vergangen. Die Telefone rasselten, wütend griff der Adjutant bald nach diesem, bald nach jenem Hörer, verschwand im Zimmer de Gaulles und stürzte sich von neuem auf die Apparate. Neue Besucher kamen, Zivilisten und Militärs. Benoit hielt es nicht länger aus und trat an den Tisch. „Haben Sie mich nicht vergessen, Monsieur de Crussol? Melden Sie dem General, daß ich von der ,Massilia’ bin.“ Das Verhalten des Adjutanten änderte sich augenblicklich. Die Besucher behandelte er jeweils gemäß ihren Schulterstücken und Auszeichnungen. Benoit hatte nichts dergleichen, also mochte er ein einfacher Soldat sein. Nun entpuppte er sich plötzlich als der Mann, auf den der General wartete. De Crussol hatte seinen Namen bereits vergessen. Noch mal danach zu fragen, hielt er für unpassend. „Von der ,Massilia’? Eine Sekunde, Monsieur… Monsieur…“ „Jules Benoit“, half der Kommentator dem Adjutanten. „Ach ja! Stimmt! Der Name war mir entfallen… Eine Sekunde, Monsieur Benoit! Der General wird Sie sofort empfangen. Warum haben Sie das nicht früher gesagt?“ Der Adjutant verschwand hinter der Tür. Gleich darauf war er wieder da und sagte: „Der General erwartet Sie, bitte sehr!“ Er riß die Tür weit auf. Die Zuvorkommenheit des Adjutanten hob Benoits Stim-
mung etwas. Er betrat das Zimmer des Generals. Aufrecht und hager saß de Gaulle im Sessel zurückgelehnt. Seine kalten, hellen Augen drückten Neugier aus. „Sie sind also von der ,Massilia’? Erzählen Sie, was sich in Casablanca zugetragen hat. Warum konnten unsere Minister nicht nach London kommen? Nehmen Sie Platz.“ Mit einer herablassenden Geste bot er dem Journalisten einen Stuhl an. Benoit hatte noch keinen Satz gesprochen, als in der Tür die langaufgeschossene Gestalt des Adjutanten erschien. „Entschuldigen Sie, mein General, Madame Catroux bittet inständig darum, Sie sprechen zu dürfen. Sie ruft bereits zum dritten Mal an. Sie ist eben aus Indochina angekommen und möchte Sie in einer dringenden Angelegenheit sprechen.“ De Gaulle nahm den Hörer ab. „Madame Catroux? Ich bin glücklich, Sie begrüßen zu können!“ Sein Gesicht war ganz zarte Aufmerksamkeit, wie immer, wenn er mit Frauen sprach. „Womit kann ich dienen? Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise… Wie? Das Gepäck ist abhanden gekommen?… Oh, wie ärgerlich!… Ach, so ist das! Aber was kann ich für Sie tun? Sie müssen sich an die englischen Zollbehörden wenden… Leider kann ich eine solche Anordnung nicht treffen. Wir sind nicht in Frankreich… Seien Sie nicht traurig… Selbstredend werde ich alles tun, was in meinen Kräften steht… Wie? Ich verstehe nicht… Papageien? Was für Papageien?… Ach so! Sie haben Papageien mitgebracht! In Käfigen. Jetzt ist mir alles klar… Außerdem Eingeborene als Dienstboten?… Sie bleiben sich wirklich treu! Sie können ohne Exotik einfach nicht leben… Entzückend!… Aber wo bringen wir nur Ihre Indochinesen unter?… Sie brauchen meine Hilfe?… Churchill anrufen?…
Sie sind bezaubernd naiv, Madame Catroux!“ Benoit hatte Zeit genug, sich das Arbeitszimmer des Oberhauptes vom Komitee „Freies Frankreich“ zu betrachten. Ebenso wie im Vorzimmer trug auch hier noch alles den Stempel ungeordneter Verhältnisse. Die Möbel schienen zufällig zusammengetragen. Neben dem Mahagonischreibtisch im schwülstigen Barockstil sah man ungepolsterte Kanzleistühle. In einer Ecke stand ein mit Büchern gefüllter Büroschrank. An der Wand hing ein Bild von Napoleon mit Dreispitz. Benoit wußte, daß Heerführer wie Cäsar und Alexander der Große für de Gaulle ein Gegenstand der Verehrung und Nachahmung waren. De Gaulle sagte noch ein paar banale Worte, legte den Hörer auf und ließ die Arme kraftlos fallen. In dieser Geste lag etwas Theatralisches. „Da sehen Sie, womit sich der Führer der Widerstandsbewegung befassen muß! Mit den Papageien extravaganter Damen und mit der Aufstellung von Bataillonen der Fremdenlegion… Nun kann ich Sie anhören, Monsieur Benoit. Was hat sich also in Casablanca zugetragen?“ Benoit erzählte von der „Massilia“. Daß der Dampfer am Vortag der Kapitulation in See gestochen sei, daß der Kapitän sich geweigert habe, nach England zu fahren, und Kurs auf Casablanca genommen habe. Die ehemaligen französischen Minister seien machtlos gewesen. Sie hätten lange auf der Reede vor den auf sie gerichteten Rohren der Küstengeschütze gelegen. In den Nächten sei der Dampfer von Scheinwerfern angestrahlt worden. An Flucht sei nicht zu denken gewesen. Dennoch… Benoit strich seine Rolle und seine Gewandtheit ein wenig heraus.
Dreimal in der Woche legte ein Kutter mit Lebensmitteln längsseits der „Massilia“ an. Benoit wußte nicht, wem die Idee gekommen war, den Kutter zur Flucht der Regierungsmitglieder zu benutzen. Davon erfahren hatte er jedenfalls durch Mandel. Der einstmalige Innenminister hatte ihn an Deck getroffen. Der Kutter löschte gerade wieder die geladenen Lebensmittel. Bevor er die Rückfahrt zur Küste antrat, wurden die leeren Kisten und Obstkörbe auf den Kutter geschafft. Mandel fragte, ob er, Benoit, bereit sei, eine Tat für Frankreich zu vollbringen. Er müsse versuchen zu fliehen. Wenn seine Flucht gelinge, würden nach ihm auch die Regierungsmitglieder die „Massilia“ verlassen. Und er hatte die unverzeihliche Dummheit begangen, sich darauf einzulassen. Damit begann sein Mißgeschick. Zu de Gaulle aber sagte er: „Ich bin ein französischer Patriot, mein General. Ohne zu überlegen, habe ich eingewilligt.“ De Gaulle nickte beifällig. In Tanger erfuhr Benoit, daß seine Flucht nicht unbemerkt geblieben war. Die Bewachung des Dampfers war verstärkt worden, und bald darauf dampfte die „Massilia“ nach Frankreich ab. Augenblicklich befanden sich die Minister in Hausarrest. Die Deutschen verlangten ihre gerichtliche Aburteilung. Die letzten Begebenheiten kannte de Gaulle selbst. Er hatte mit Churchill darüber beraten, wie die Regierungsmitglieder von der „Massilia“ befreit werden könnten. Churchill hatte vorgeschlagen, ihre Flucht zu organisieren – dann würde man in London ein bevollmächtigtes französisches Kabinett schaf-
fen können. Das Schiff sollte gekapert werden – die Vorbereitungen dazu wurden getroffen –, aber das Unternehmen kam nicht zustande. Petain erwies sich als weitblickender. Das Mißlingen der Aktion erschwerte die Lage de Gaulies. In diesem einen Punkt hatten seine Pläne mit denen Churchills übereingestimmt. Beide waren an der Bildung einer autoritativen, auf breiter Basis ruhenden Regierung interessiert. Aber der General betrachtete die Dinge nüchtern. Er hatte Churchill bereits durchschaut – der britische Premier klammerte sich an jede, selbst die geringste Chance, seine Position zu stärken, und sammelte alle Kräfte, um soviel wie irgend möglich auf eine Karte zu setzen. Aus diesem Grunde unterstützte er auch ihn, de Gaulle. Interessierte ihn denn Frankreich als solches? De Gaulle glaubte nicht an die tönenden, pathetischen Phrasen des britischen Premiers. Andererseits mußte sich der General wohl oder übel auf die englische Hilfe stützen, denn er sah klar, daß die Tage seiner Scheinmacht gezählt waren: Seine Streitkräfte bestanden bislang nur aus zwei Bataillonen Fremdenlegion. Schwerlich hätte er sonst die bittere Pille, die Vernichtung der französischen Flotte in Oran und Algier, schweigend schlucken können. Churchill hatte ihn von der geplanten Operation „Catapult“ nicht unterrichtet. Er erfuhr die tragischen Ereignisse erst aus der Presse. Dabei drängte es de Gaulle mit aller Gewalt nach Selbständigkeit. Die Evakuierung der französischen Minister hätte, und sei es nur geringfügig, auch seine Macht gestärkt. Jetzt war nicht mehr daran zu denken. Solange der Stab des „Freien Frankreich“ in London vegetierte, würde die Selbständigkeit ein Wunschtraum bleiben. Churchill war nicht der
Mann, der sich die Zügel aus den Händen nehmen ließ. De Gaulle spielte schon lange mit dem Gedanken, seine Zelte in Nordafrika, in den unter französischer Herrschaft stehenden Gebieten, aufzuschlagen. Dort würde er sich der lästigen englischen Bevormundung eher entziehen können. Diesen Gedanken äußerte er impulsiv zu dem vor ihm sitzenden Journalisten. „Was tun? Wir haben noch einen weiteren Schicksalsschlag erlitten. Aber ich glaube an Frankreich. Vorläufig ist es stumm. Wir werden unsere Kräfte vereinigen. Unser Anfang wird klein sein, so wie Jeanne d’Arc klein begann. Irgendwo in unseren Kolonien schaffen wir einen Stoßkeil.“ De Gaulle dachte ernsthaft daran, ein Aufmarschgebiet in Afrika zu schaffen. Beispielsweise bei Dakar. Er traf bereits Maßnahmen für eine Landung in Westafrika. Aber davon brauchte der Journalist zunächst nichts zu wissen. Niedergeschlagen hörte sich Benoit die Ausführungen de Gaulies an. Dasselbe hatte ihm auch schon der U-Boot-Kommandant im Vorzimmer angedeutet. Wen wollte man eigentlich vereinigen – etwa Madame Catroux mit ihren Papageien, den Vizeadmiral Muselier, der das Tuch für die Marinemäntel verschob, Kapitän Lecroix, der offen die Engländer haßte, oder ihn, Benoit, der vor lauter Angst zum Helden geworden war? Die Kommunisten riefen ebenfalls zum Widerstand auf. Also mußte man sich auch mit denen vereinigen. Es entstand dann so etwas wie eine Blätterteigpastete. In eine schöne Geschichte war er hineingerasselt! De Gaulle fragte: „Was beabsichtigen Sie zu tun?“ „Ich weiß nicht. Ich weihe mich der Befreiung Frankreichs.“
Unbewußt paßte er sich dem pathetischen Ton des Generals an. „Ich muß Ihnen für Ihre aufopfernde Tat danken.“ De Gaulle reichte ihm über den Tisch hin die Hand. „Und was die Sache selbst anbetrifft, so werden wir sie uns beide noch durch den Kopf gehen lassen. Was halten Sie davon, an einer Zeitung zu arbeiten? Bei uns erscheint jetzt die ,Resistance’.“ Gern hätte Benoit gefragt, – wieviel man dort zahle, doch er sagte statt dessen: „Ich bin bereit, jeden Ihrer Aufträge auszuführen, mein General. Sie verkörpern für mich Frankreich.“ „Ich danke Ihnen!“ Benoits Worte hatten den General gerührt. Er erhob sich, womit er zu verstehen gab, daß die Audienz beendet sei. „Mein Adjutant wird Ihnen behilflich sein, eine Anstellung zu bekommen. Auf Wiedersehen!“ „Ich muß mir ein Pseudonym suchen“, sagte Benoit, während er aufstand. Ihn beunruhigte der Gedanke, daß es ihm schaden könne, seine Verbindung zur Widerstandsbewegung offen zu bekunden. Eine Zeitung war doch ein glattes Corpus delicti. Jules Benoit – Mitarbeiter der „Resistance“! Mit einem solchen belastenden Beweisstück würde man sich todsicher alle Wege nach Paris, nach Frankreich verbauen. Benoit glaubte nicht sonderlich an eine erfolgreiche Erfüllung der Pläne de Gaulles. Man mußte sich eine Hintertür offenlassen. Wer weiß, wie sich das Blatt noch wendete… Aber der General erwiderte: „O nein! Schreiben Sie unter Ihrem eigenen Namen. Wir brauchen Namen. Mögen alle wissen, daß der Kommentator Benoit für die Befreiung Frankreichs kämpft. Wir treten mit
offenem Visier in die Arena.“ Die Wunde Leons, die auf den ersten Blick so unbedeutend schien, war doch ernsterer Natur. Einen ganzen Monat lang fesselte sie ihn ans Bett. Liliane pflegte ihn mit rührender Sorge. Sie maß die Temperatur, wechselte die Umschläge und reichte ihm die Arzneien. Nur das Verbinden überließ sie Tante Garbaud. Sie konnte die Wunde nicht sehen. Als Leon zu genesen begann, saß Liliane oft mit einem Buch oder einer Stickerei an seinem Bett. Ihre Fürsorge teilte sie jetzt zwischen der Tochter und Leon. Auch der Weinhändler erwies Terzie jede Aufmerksamkeit. Er war ihm für die Rettung seiner Tochter von Herzen dankbar. Jeden Morgen, bevor er in die Weinberge oder in den Weinkeller ging, erkundigte er sich bei Leon nach seinem Befinden. Er stand eine Weile an der Tür und verabschiedete sich jedesmal mit den Worten: „Nun, ich gehe jetzt ein bißchen rauchen, Monsieur Terzie. Ich will Sie nicht in Versuchung führen. Werden Sie rasch gesund.“ Des Kranken wegen betrat er nun nie mehr wie früher das Zimmer mit brennender Zigarre. Der Arzt hatte Leon während der Krankheit das Rauchen verboten, und Boisson wußte, wie schwer es einem Raucher fällt, dieses Verbot einzuhalten, wenn ein anderer raucht. Zweimal in der Woche, dienstags und freitags, schickte der Weinhändler seinen Kutschwagen nach Falaise zur Arzt. Den Wagen fuhr Onkel Frachon, der jetzt wieder bei Boisson arbeitete. Später kam der Arzt seltener, bis er schließlich – Mit-
te August – verkündete, daß der Verletzte nun nicht mehr seiner Hilfe bedürfe. Aus diesem Anlaß leerte man zwei Flaschen alten Weins aus Monsieur Boissons Extrakeller. Sie saßen in dem kühlen Eßzimmer, dem das dichte Laub wilden Weins Schatten spendete. Leon hatte schon vor einiger Zeit das Krankenlager verlassen. Auf einen Stock gestützt, nahm er vorsichtig in einem Schaukelstuhl Liliane gegenüber Platz. Sie trug ein duftiges Kleid, bedruckt mit bunten Ahornblättern, und saß dicht am Fenster. Das Kleid stand ihr gut. Der Wein war angenehm herb und duftete wie Olivenblüten. Aber vielleicht schien das Terzie nur so. Er sprach diesen Vergleich laut aus. Liliane schwieg. Terzie sah, daß sie die Augen senkte. Demnach hatte sie verstanden. Seine letzten Worte waren ja auch nur für sie bestimmt gewesen. Zum erstenmal hatte Leon die stillschweigende Übereinkunft gebrochen, nicht an das zu rühren, was zwischen ihnen vorgefallen war, damals, einen Tag vor seiner Verwundung. Müde vom Fußmarsch, hatten sie im Schatten eines wilden Olivenbaums gerastet. Liliane stillte ihr Kind. Sie genierte sich kaum noch vor ihrem Begleiter und knöpfte mit keuscher mütterlicher Offenheit ihre Bluse auf. Die entblößte Brust bedeckte sie mit der Hand. Leon drehte einen blühenden Olivenzweig in der Hand. Die Blüten stachen wie gelbe Glasperlchen von dem silberfarbenen Laub ab. Helene war eingeschlummert. Die Mutter hatte sie ins Gras gelegt. „Jetzt sind wir, glaube ich, bald in Falaise… Wenn wir nur erst dort wären!“ Terzie sagte: „Riechen Sie doch mal, wie würzig die Olivenblüten duften.“ Liliane neigte sich zu ihm hin. Er umfaßte ihre Schultern und küßte
sie. Ihm war, als erwiderte sie flüchtig seinen Kuß. Aber es schien ihm wohl nur so. Liliane fuhr erschrocken zurück und sah ihn flehend an. „Warum haben Sie das getan?“ flüsterte sie. Leon erhob sich. Lange stand er neben dem bizarr gewundenen Stamm. Liliane saß tief erregt da. „Gehen wir, es ist Zeit“, sagte er und nahm Helene behutsam auf den Arm. Sie trugen das Kind abwechselnd. Schweigend schritten sie aus. Erst in dem Dorf, in dem sie zur Nacht haltmachten, wechselten sie ein paar nichtssagende Worte. Als Liliane ihr Kind wieder stillte, ging sie in das Zimmer der Wirtsleute. Jetzt hatte Leon zum erstenmal an den Olivenbaum erinnert. Liliane stellte das noch halbvolle Glas weg und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen. „Schmeckt dir der Wein etwa nicht, Töchterchen?“ fragte Boisson. „Du weißt doch, Papa, ich darf nicht trinken.“ Sie ließ die Männer allein. Monsieur Boisson sprach über sein Lieblingsthema, die Lage im Land. Jetzt beginne sich ja Gott sei Dank alles zu beruhigen, die Wogen glätteten sich. Von den Deutschen habe man noch Schlimmeres erwarten können. Man sage, was man will, sie sind immerhin eine Kulturnation. Man sehe sie ja kaum. Nur daß nun eine Garnison in Falaise liege. Nehmen wir nur den Kommandanten. Ein Oberleutnant. Er spreche zwar schlecht Französisch, aber er spreche es. Ein höflicher, zuvorkommender Mann. Gleich zum Anfang sei er dagewesen, im Auto, und habe sich vorgestellt. Gewiß, man habe ihn mit Wein bewirten und dann ein Kistchen Chartreuse springen lassen müssen. Später sei er noch zweimal mit vorbeigekommen.
Mit einem Motorrad. Der Mann trete zwar sicher, aber keineswegs herausfordernd auf. Petain habe es schon ganz richtig gemacht, daß er den Waffenstillstand schloß. Das Alter sei nun mal weise. Schließlich fehlten dem Marschall ja nur noch wenige Jährchen, um es bis neunzig zu schaffen. Der Arzt vertrat einen anderen Standpunkt. Die Deutschen waren und blieben Feinde. Besser wäre es, sie säßen weder hier noch in Paris. Dort, hieß es, nehme man Geiseln fest. „Nebenbei bemerkt“ – dem Doktor war etwas eingefallen, und er lachte beifällig –, „haben Sie gehört, was sich kürzlich in Paris ereignet hat? Einem Setzer ist bei dem Namen Petain ein Fehler unterlaufen. Statt .Petain’ setzte er ,Putain’. Haha, ist doch geistreich, aus Petain eine Hure zu machen. Man sagt, die Deutschen haben den Setzer gleich verhaftet.“ „Ich sehe nichts Geistreiches daran. Was die Deutschen in Paris treiben, weiß ich nicht, aber hier läßt es sich mit ihnen leben. Sie lassen uns ungestört unser Werk verrichten. Wir sind Kaufleute, unsere Politik liegt in den Weinfässern. In diesem Jahr werden wir eine gute Weinlese haben.“ Der Landarzt streckte nicht die Waffen. Der Wein tat seine Wirkung. Während er an seinem grauen Spitzbart und dem Kneifer auf seiner Nase fingerte, sagte er: „Und was sagen Sie zu England? Haben etwa diese Luftangriffe auf London noch was mit Kultur zu tun? Einfach schrecklich, was dort geschieht! Und dann unsere Flüchtlinge. Zehn Millionen Menschen haben ihren angestammten Wohnsitz verlassen. Sie selbst sind doch auch aus Paris geflohen. Und Monsieur Terzie? Ein Glück nur, daß alles gut abgegangen ist.“ „Die Engländer sind starrsinnig. Petain ist als Politiker nüch-
terner. Man soll es eben nicht mit Stärkeren aufnehmen. Wenn es ihnen gefällt, daß Bomben auf ihre Köpfe fallen, dann sollen sie eben kämpfen.“ „Aber hören Sie mal! Und die Flüchtlinge… Wie viele sind nicht mehr zurückgekehrt!“ „Darin gebe ich Ihnen recht, aber Krieg ist Krieg. Mein eigener Schwiegersohn ist spurlos verschwunden.“ Boisson drehte sich erschrocken um. Nein, die Tochter war nicht da. Sie hatte ihn nicht gehört. Terzie beteiligte sich nicht an dem Disput. Als Liliane das Zimmer verlassen hatte, war sein Interesse an der Unterhaltung erloschen. Seine Gedanken weilten bei ihr. Was fesselte ihn nur an diese Frau? Gegen Abend, als die Hitze nachzulassen begann, gingen Liliane und Leon spazieren. In den letzten Tagen hatten sie kleine Spaziergänge unternommen. Manchmal nahm Liliane ihr Töchterchen mit. Diesmal waren sie zu zweit. Boissons Gehöft stand auf dem hohen Flußufer, eine Meile von einem Dörfchen mit rund zwei Dutzend Häusern entfernt. Manchmal gingen sie dorthin. Man brauchte bloß eine Schlucht, unter der ein kühler Bach murmelte, auf einer Steinbrücke zu überqueren. Heute schlugen sie einen anderen Weg ein, am Flußufer entlang. Leon wollte zu dem Wäldchen gehen, das hinter einer Biegung in dem hügligen Gelände zu sehen war. Liliane war einverstanden, vorausgesetzt, daß es ihn nicht ermüde. Aber zuerst wollte sie baden. Es sei noch immer so heiß. Monsieur Terzie müsse oben bleiben. Der Aufstieg vom Fluß sei zu schwierig für ihn. Leichtfüßig lief Liliane den Pfad zum Fluß hinab, ver-
schwand in den Büschen und stürzte sich ins Wasser. Leon hörte nur ein Aufplatschen. Er sah Liliane erst, als sie, das dunkle Wasser zerteilend und durchsichtig-weiße Spritzer hochtreibend, in der Mitte des Flusses schwamm. „Monsieur Terzie, das Wasser ist wunderbar! Schade, daß Sie nicht baden dürfen!“ Die ganze Zeit über nennt sie mich „Monsieur Terzie“, dachte Leon. Natürlich mit Absicht. Sachlich und offiziell. Sie will Distanz wahren. Liliane kehrte um und verschwand wieder aus seiner Sicht. Dichte Weiden, silbrig-grün wie Olivenzweige, versperrten den Blick zum Uferstreifen dicht am Wasser. Warum mußte er heute nur dauernd an Olivenzweige denken? Leon strengte seine Augen an, um die Gestalt der jungen Frau zu erspähen. Aber sie tauchte an einer ganz anderen Stelle auf, viel weiter links, und winkte mit der Hand. „Kommen Sie!“ Liliane war einen anderen Pfad vom Uferrand heraufgestiegen und wartete, bis er sie, humpelnd und auf den Stock gestützt, erreicht hatte. „Nun habe ich mir doch meine Haare naß gemacht!“ Liliane bückte sich und drückte das Wasser aus dem Haar. Sie gingen in eine Niederung hinunter und dann wieder hügelan. Liliane schritt voraus. Der Anstieg war ziemlich steil. Gegen das Licht war Lilianes Kleid – das mit den bunten Ahornblättern – durchscheinend. Leon sah ihren Leib, wie von Wasser umflossen. Das war erregender als der nackte Körper. Liliane blieb plötzlich stehen. Vielleicht fühlte sie seinen heißen, durchdringenden Blick.
„Gehen Sie voraus, Monsieur Terzie.“ „Warum?“ „Gehen Sie, ich bitte Sie!“ Leon gehorchte. Von oben aus öffnete sich das weite Panorama des zwischen Steilufern eingezwängten Flusses. Spielzeuggleich krochen auf der Straße mit Garben beladene Fuhrwerke hin. In den Weinbergen arbeiteten Frauen in grellfarbigen Kleidern. Vor einem wilden Rosenstrauch, dessen orangefarbene Früchte im Sonnenlicht glänzten, setzten sie sich ins Gras. „Es ist, als ob kein Krieg wäre“, sagte Liliane selbstvergessen. „Im Augenblick interessiert mich weder Krieg noch Frieden, nichts außer…“ „Außer was?“ „Erinnern Sie sich an den Duft der Olivenblüte?“ „Ja…“ Terzie umfaßte ihre Schulter, genau wie damals, zog sie an sich, suchte ihre Lippen und küßte sie heiß und leidenschaftlich. Liliane sah sich unruhig um. „Nicht doch, Leon! Man könnte uns sehen.“ „Und wenn schon!“ Er wollte sie wieder umarmen, aber sie entzog sich ihm. Es wurde kühler. Die Zikaden, deren Zirpen die Luft erfüllt hatte, waren verstummt. Sie näherten sich dem Gehöft, als die Sonne am Horizont versank. Sowohl Liliane als auch Leon schien es, als blickten die Leute sie argwöhnisch an, als errieten sie etwas. Liliane begriff noch immer nicht, was mit ihr vorgegangen war. Angst und Unruhe waren in ihr. Fast
hatte sie gewußt, daß es so kommen würde. Eine warme Welle stieg in ihr hoch, beinahe mütterliche Zärtlichkeit für den Mann, der an ihrer Seite ging. Etwas Ähnliches empfand auch Leon, nur viel stärker und deutlicher. Er suchte dieses Gefühl zu verbergen, indem er sich recht ungezwungen gab. Leon blieb stehen und sah auf ein Stoppelfeld. „Schauen Sie, Lilly, der Sommer geht schon zu Ende. Ich wünschte, der Herbst käme möglichst schnell.“ „Warum?“ „Weil dann die Ahornblätter fallen“, sagte Leon vieldeutig und wies mit dem Kopf auf ihr Kleid. Doch er bedauerte seine Worte sofort. Liliane war rot geworden. „Warum reden Sie so, Monsieur Terzie?“ sagte sie mit abgewandtem Kopf. Im Nu war der Zauber des Abends geschwunden. Geschwunden und dahin war das schöne erhabene Gefühl, das sie erfüllt hatte. „Ich werde es nie wieder tun“, sagte Leon leise, aufrichtig betroffen. Sie kamen an der Schmiedewerkstatt hinter der Garage vorbei. Die Tür stand offen, in der Werkstatt wurde noch gearbeitet. Charles Morin schaute heraus und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er war nach der Kapitulation hiergeblieben und arbeitete als Schlosser bei Boisson. Leon hatte ihn schon einige Tage nicht gesehen – Charles war mit dem Fahrrad in Paris gewesen. Er hatte nach seiner Mutter sehen wollen. „Nun, wie sieht’s in Paris aus?“ fragte Leon, nachdem sie sich begrüßt hatten. „Nicht gerade lustig. Am belebtesten sind die Forts, wohin
man die Geiseln bringt. Sie werden im Festungsgraben erschossen – fünfzig Mann für jeden getöteten Boche. Herr Abetz hat die Quote verdoppelt – zuerst erschoß man nur fünfundzwanzig. Aber auch das hilft nicht.“ „Ich habe davon nichts gehört. Hier ist es bedeutend ruhiger.“ „Sie haben vieles nicht gehört, Monsieur Terzie. Ich für mein Teil zog es vor, mich schnellstens wieder aus dem Staub zu machen. Es ist besser, man begegnet keinen Zigarrenbinden auf der Straße!“ „Was ist denn das?“ „Die Armbinden der deutschen Streifen. Wie die Binden von Havannazigarren. Paris ist nicht verlegen um treffende Ausdrücke.“ „Was haben Sie dort gemacht?“ „Nichts. Ich wollte ein Gläschen Martini trinken, aber im Bistro waren auch Deutsche. Für die Franzosen reichen die Plätze nicht. Mir gefiel das nicht. Ich schnappte mir einen Freund, und wir fuhren zusammen zurück. Sie haben recht, Monsieur Terzie, hier ist es viel ruhiger, aber es fragt sich nur, wie lange… Macht euch bitte bekannt.“ Hinter Charles war ein zweiter Mann aufgetaucht. Leon erkannte ihn sofort. Es war der Fahrer, der ihn seinerzeit zusammen mit Benoit zur vordersten Linie gebracht hatte. „Wir kennen uns bereits. Das ist aber ein Wiedersehen!“ Leon stimmte halblaut das italienische Liedchen an: „,In Neapel ist der Himmel so blau wie die Augen meiner Liebsten’. Singe ich jetzt richtig?“ „Bonjour, Monsieur Terzie. Ich habe Sie auch gleich wiedererkannt. Aber ich rate Ihnen nicht, von Neapel und den Augen zu singen. Das ist jetzt gefährlicher als früher. Die Deut-
schen lieben es nicht, an Spanien erinnert zu werden.“ Terzie ging auf diese Äußerung nicht ein. „Ihre Münze habe ich noch immer. Sie ist jetzt mein einziges Kapital.“ „Ich hoffe, Sie werden bald reicher werden, Monsieur Terzie.“ Sie wechselten noch ein paar Worte. Als Terzie und Liliane weitergegangen waren, fragte Charles seinen Freund: „Du kennst also Monsieur Terzie. Was ist das für einer?“ „Wer weiß das? Mir scheint, ein anständiger Mensch. Trotzdem solltest du die Dinger hier nicht herumliegen lassen.“ Er deutete auf selbsthergestellte Handgranatenhülsen, die auf der Werkbank lagen. „Sonst wird man eines Tages aus diesen Becherchen auf unsere ewige Ruhe trinken.“ Zu Hause angelangt, ging Liliane sofort auf ihr Zimmer. Sie gab vor, Kopfschmerzen zu haben. Erst gegen Morgen schlief sie ein. Im Dunkeln hatte sie mit offenen Augen dagelegen und sich vergeblich gezwungen, an ihren Mann zu denken. Wo mochte er wohl sein? Ob er noch lebte? Viele waren schon lange zurück. Aber die Gedanken kehrten hartnäckig immer wieder zu dem anderen zurück, zu dem ironischspöttischen Gesicht Leons, seinen suchenden, brennenden Augen und dem dichten schwarzen Haar, das ihm in die Stirn fiel. Im September erlebte Monsieur Boisson die ersten Unannehmlichkeiten. Wie es immer zu sein pflegt, kommt ein Unglück selten allein. Er erhielt von der deutschen Kommandantur ein Rundschreiben. Von Hand waren nur der Name und die Zahlen eingesetzt. Boisson las das Schreiben, und ihm
verging die Laune. „An Monsieur Boisson. In Ausführung des Befehls der deutschen Besatzungsbehörden haben Sie im Rahmen der Konfiskation abzuliefern…“ Es folgten Spalten mit Zahlen: soundso viel Gallonen Wein, soundso viel Weizen, Fleisch, Butter, Eier… Boisson überschlug rasch die Zahlen im Kopf – er mußte fast zwei Fäßchen Wein abliefern. Der mit großen Lettern gedruckte Nachsatz jagte dem Weinhändler keinen gelinden Schreck ein. Der Kommandant kündigte an: „Wer dieser Verfügung in der festgesetzten Frist nicht nachkommt, wird auf Grund des militärischen Ausnahmerechts zur Verantwortung gezogen und hat mit strengster Bestrafung einschließlich der Todesstrafe zu rechnen.“ Die Verfügung war von demselben Kommandanten unterschrieben, der bei ihm Wein getrunken hatte. Das nannte sich nun Kultur! Reine Willkür war das! Boisson drehte das Blatt lange in den Händen, hielt es gegen das Licht, prüfte Stempel und Unterschrift und ordnete schließlich wutschnaubend an, am nächsten Tag alles abzuliefern, was die Kommandantur verlangt hatte. Ein ganzer Pferdewagen wurde beladen. Onkel Frachon fuhr damit nach Falaise. Gegen Abend kehrte er mit einer Quittung und einem Packen neuen Geldes -Besatzungsscheinen zurück. „Was soll ich denn mit dem Zeug? Die Toilette tapezieren?“ Boisson warf das Geld auf den Tisch, aber später nahm er es wieder weg und legte es in den Safe: Vielleicht konnte man es doch einmal gebrauchen. Gegen Ende der Woche kam der Oberleutnant, als ob nichts
geschehen wäre, wieder bei Boisson vorbei. Er war ausnehmend höflich, machte Liliane Komplimente und sah sie mit schmachtenden Augen an. Er blieb bis in die späte Nacht. Boisson gingen zwar die beiden Fäßchen Wein, die er hatte abliefern müssen, nicht aus dem Sinn – ebensogut hätte er sie in die Gosse gießen können! –, aber zu dem Gast war er höchst liebenswürdig. Er begleitete ihn sogar zur Tür hinaus. Der Oberleutnant setzte sich auf sein Motorrad und jagte forsch an der Garage vorbei. Auf seinem Rücken baumelte eine Maschinenpistole. Eine Minute später war er bereits auf der anderen Seite der Schlucht, jenseits der kleinen Steinbrücke. Charles stand neben der Schmiede. Neidvoll verfolgte er das Motorrad mit den Augen. „Das ist ein Ding! Sieh mal, Simon, wie es die Steigung nimmt. Eine prima Maschine! So eine müßten wir uns auch zulegen!“ „Behalte deine Gedanken für dich. Vielleicht geht dein Wunsch in Erfüllung. Ich habe da einen Plan…“ Guetier hielt inne. Auf der Vortreppe stand Monsieur Boisson. Er hätte ihr Gespräch hören können. Boisson indessen war mit anderem beschäftigt. Die häufigen Besuche des Oberleutnants beunruhigten ihn allmählich. Mit was für begehrlichen Blicken er Liliane angesehen hatte! Das hätte noch gefehlt! Nein, wenn schon ein Liebhaber, dann ein Franzose. Er hatte in der letzten Zeit bemerkt, daß zwischen Terzie und seiner Tochter etwas vorging. Diese Blicke, die sie tauschten, die nicht zu Ende gesprochenen Sätze, die Spaziergänge und der offizielle Ton, den sie nur in Gegenwart von Fremden anschlugen! Nein, ihn konnten sie nicht täu-
schen! Neulich nachts dünkte ihm, daß jemand auf dem Flur an seinem Schlafzimmer vorüberschlich. Lilianes Zimmer lag neben dem seinen. Er öffnete die Tür, niemand war zu sehen. Sollte es zwischen ihnen schon so weit gekommen sein? Wo mochte bloß der Schwiegersohn stecken? Gesetzt den Fall, zwischen den beiden war wirklich etwas vorgefallen, dann sollte Jules sich die Schuld selbst zuschreiben. Er, Boisson, jedenfalls hatte ohnehin genug Sorgen und konnte nicht auch noch auf seine verheiratete Tochter aufpassen. Boisson tat, als bemerke er nichts. Aber der Verdacht des Weinhändlers war nicht unbegründet. Voller Leidenschaft gab sich Liliane dem Gefühl hin, das so plötzlich über sie gekommen war und selbst die Liebe zu der kleinen Helene in den Hintergrund drängte. Nach jenem Abend gingen die beiden fast jeden Tag zu dem fernen Wäldchen, zu dem es sie unwiderstehlich hinzog. Eng umschlungen saßen sie unter dem Rosenstrauch und vergaßen die Zeit. Leon wollte sich nicht damit begnügen, sie nur zu küssen. Bebend schaute sich Liliane um – ihr war, als schliche jemand um sie herum. „Laß mich, Leon, ich bitte dich. Dort ist der Hirt, ich kann ihn gut sehen.“ „Aber er ist doch weit weg von hier.“ „Verstehst du denn nicht? Es ist nicht Furcht bei mir, es ist etwas ganz anderes. Wie soll ich es dir erklären? Verstehst du es nicht?“ „Ich verstehe.“ „Wie froh ich darüber bin, Liebster… Komm, hilf mir, ich bin wieder hängengeblieben.“ Gehorsam erfüllte Leon die Bitte und befreite ihr Kleid von den Dornen der Heckenrose.
„Du hättest Dompteuse werden sollen.“ Einmal – es war auf demselben Hügel – stand Liliane auf und sah ihn mit verschleierten Augen an. „Weißt du“, sagte sie, selbst noch nicht sicher, ob sie zu Ende sprechen würde. „Wir sind keine Kinder. Ich will dich nicht quälen.“ Sie zögerte, dann aber gab sie sich einen Ruck und flüsterte: „Komm heute nacht zu mir.“ Das war jene Nacht, in der Monsieur Boisson vorsichtige Schritte auf dem Flur gehört hatte. Auch Liliane vernahm sie. Am ganzen Leib zitternd, wartete sie auf Leon hinter der Tür. Sie bereute bereits, ihn gerufen zu haben, aber jetzt war es zu spät. Die Schritte waren schon ganz nah. Sie öffnete geräuschlos die Tür und tastete im Dunkeln nach seiner Hand. „Vorsichtig, hier steht ein Frisiertisch“, sagte Liliane leise wie ein Hauch und zog Leon im dunklen Zimmer mit sich fort… Der deutsche Oberleutnant war das letztemal am Freitag dagewesen. Danach blieb er fast eine Woche weg. Eines Nachts, als alle längst schliefen, erfüllte den Hof das Knattern von Motorrädern, in das sich das Summen eines Automotors und erregte Stimmen mischten. Der Lärm riß die Bewohner des Hauses aus dem Schlaf. „Was führt denn den zu nachtschlafender Zeit her?“ brummte Boisson mürrisch und kroch in die Hosen. „Nicht mal mehr nachts hat man jetzt Ruhe vor ihm.“ Leon war noch bei Liliane, als es draußen laut wurde. Er wartete, bis die Schritte von Monsieur Boisson auf dem Flur verklungen waren, schlüpfte in sein Zimmer und lugte von dort
aus dem Fenster. Es begann gerade erst zu dämmern. Im Scheinwerferlicht sah er stahlhelmbewehrte Soldaten mit Maschinenpistolen in der Hand. Viele hatten Taschenlampen. Ein Offizier mit hoher Schirmmütze erteilte nervös Befehle. Mit raschen Schritten ging er zur Vortreppe und fragte laut, wer hier der Besitzer sei. Boisson trat verwirrt vor. Was ist passiert? fragte sich der Weinhändler schreckerfüllt. Kalt lief es ihm über den Rücken bei dem Gedanken, daß man ihn verhaften wolle. Heutzutage mußte man auf alles gefaßt sein. Aber der Offizier fragte nur, wer hier wohne, und verlangte die Schlüssel zu allen Räumen. In Begleitung von zwei Soldaten, die die Maschinenpistolen schußbereit in den Händen hielten, durchsuchte er jedes Zimmer im Haus. Die anderen Soldaten stiegen inzwischen auf den Boden, durchstöberten den Hof und kletterten in den Keller. Zu jeder anderen Stunde hätten sie es sich gewiß nicht nehmen lassen, bei den Weinfässern zu verweilen, die an den feuchten Steinwänden lagerten, aber im Moment stand ihnen nicht der Sinn danach. Offenbar suchten sie etwas. Nachdem sie ihre Nasen in alle Winkel gesteckt hatten, sprangen sie auf einen Befehl hin auf den gepanzerten Mannschaftswagen und verließen ebenso geräuschvoll, wie sie gekommen waren, das Gehöft. Ihnen voraus jagten gleich flinken Leuchtkäfern die Kradfahrer, die mit den grellen Strahlen ihrer Scheinwerfer die Straßenränder abtasteten. Weder Monsieur Boisson noch die anderen – ausgenommen vielleicht Charles Morin und Simon Guetier – konnten sich erklären, welchem Umstand sie das geräuschvolle Erscheinen
der ungebetenen nächtlichen Gäste zu verdanken hatten. Erst am nächsten Morgen klärte sich alles auf. Nach dem Frühstück kam der Arzt. In Falaise war etwas Unvorstellbares geschehen. Die Deutschen hatten zwanzig Geiseln verhaftet. Die Verhaftungen dauerten an. Der Arzt bat, in dieser Nacht bei Boisson übernachten zu dürfen. Den wutentbrannten Deutschen jetzt unter die Augen zu kommen war riskant. Der Kommandant von Falaise war am Abend zuvor auf dem Rückweg in die Stadt mit seinem Motorrad in der Dunkelheit gegen einen über die Straße gespannten Eisendraht gefahren. Man hatte den Draht an den Stämmen der Chausseebäume befestigt und straff wie eine Saite gespannt. Der Oberleutnant raste mit seiner Maschine gegen das Hindernis, und der Draht riß ihm den halben Schädel weg. Man fand ihn einige Stunden später tot im Straßengraben, ohne Motorrad und ohne Waffe. Allen war klar, daß es sich um einen Diversionsakt handelte. Der Tatort befand sich außerhalb von Falaise. Ihre Suchaktion führten die Deutschen in der ganzen Umgebung durch. Deshalb waren sie auch in dem Anwesen des Weinhändlers aufgetaucht. „Wie gefällt Ihnen das?“ fragte der Arzt, als er die Neuigkeit berichtet hatte. „Haben Sie die Aufrufe de Gaulles aus London gehört? Sie haben auch in unserer stillen Gegend gezündet. Interessant, wer die Sache gemacht hat.“ „Ich weiß nicht. Seitdem die Besatzungsmacht das Abhören verboten hat, steht mein Apparat auf dem Boden.“ Schnaufend überdachte Boisson das nächtliche Vorkommnis. Woher sollte er wissen, daß Charles Morin, sein neuer Schlosser, schon vor langem in aller Stille den Radioapparat
vom Boden heruntergeholt und in ein sicheres Versteck gebracht hatte? Vielleicht hat der Kommandant wirklich eine Lehre verdient, dachte Boisson, aber nicht so. Der Krieg ist zu Ende, hinterher die Faust zu zeigen, ist sinnlos. Die Deutschen merken sich das. Jetzt ist’s aus mit dem ruhigen Leben! Boisson seufzte tief. Morin und Guetier arbeiteten in der Werkstatt. Sie reparierten eine Traubenpresse. Terzie ging zu ihnen, um sich zu erkundigen, wie weit sie seien. Seitdem er sich besser fühlte, half er Monsieur Boisson in seinem Betrieb – man mußte sich doch irgendwie nützlich machen. Charles und Simon unterhielten sich lebhaft mit halblauter Stimme. Sie unterbrachen das Gespräch in dem Augenblick, als Terzie erschien. Sie sahen müde und erregt aus. Leon hatte gerade noch hören können, wie Charles sagte: „Die Maschine muß schnellstens verschwinden. Sonst…“ Sollten sie es sein, die das Ding gedreht haben? dachte Terzie. Doch was geht’s mich an! Sollen sie… Leon kehrte noch immer den gleichgültigen Mann hervor, der sich für nichts interessiert, sich in nichts einmischt. Er fühlte sich lediglich als „Augenzeuge“. Außer Liliane ließ ihn alles kalt. Ganz stimmte das zwar nicht, denn er hatte begonnen, seine alten Aufzeichnungen zu ordnen. Sie waren während der Tragödie von Saint-Nazaire zufällig unversehrt geblieben. Er hatte sie in der Brusttasche gehabt. Sie waren zwar naß geworden, aber doch nicht so, daß nichts mehr entziffert werden konnte. Leon war sehr froh darüber. Er hatte bereits viel geschafft. Seine Arbeit trug den Titel: „Moderne Chronik“ und den Untertitel: „Memoiren eines Augenzeugen“.
Leon bat Charles, sich mit der Reparatur der Presse zu beeilen, und humpelte zum Haus zurück. Er wollte sich mit seinen Aufzeichnungen beschäftigen. Was Simon und Charles betraf, so mußten die beiden Frachon in ihr Geheimnis einweihen. Sie wollten das Motorrad in einem Strohschober verstecken. Dazu brauchten sie Frachons Hilfe. Frachon kaute an seinen Lippen und sagte: „Oh, Jungens, da habt ihr was Schönes angerichtet! Wie viele Kinder sind jetzt euretwegen Waisen geworden.“ Der neue Kommandant hatte am Tag zuvor bekanntgegeben, daß die Geiseln, die in Falaise wegen der an einem Offizier der deutschen Wehrmacht begangenen Mordtat festgenommen worden waren, erschossen wurden. In dem Befehl waren die Namen aufgezählt. Dennoch erklärte sich Onkel Frachon bereit, ihnen zu helfen. Er konnte doch die Freunde jetzt nicht im Stich lassen. Die Strohdieme würde bis zum Frühjahr niemand anrühren. Wer sollte da schon seine Nase hineinstecken? Der Strohberg hinter dem Kuhstall wuchs in die Höhe. Monsieur Boisson konnte ihn von seinem Fenster aus gut sehen. Wenn der ehrenwerte Weinhändler gewußt hätte… 4 „Hallo, little Ben!“ Dieser Name haftete Stevens auch in der Alten Welt an. „Wollen Sie sich nicht ein bißchen hier in London amüsieren? Vielleicht die Bekanntschaft von Mädels machen? Wie denken Sie darüber, Ben? Wahrscheinlich langweilen Sie sich und haben Sehnsucht nach New York.“ „Ja, ein bißchen.“ Der frühere G-Man lächelte schüchtern und errötete ob des
eigenen Eingeständnisses. Natürlich langweilte er sich hier ohne Arbeit. Welchen Sinn hatte es, Tag für Tag ziellos in der fremden Stadt umherzuschlendern? Auch in England, wohin er mit seinem neuen Chef, General Donovan, gekommen war, wirkte er schüchtern und unbeholfen. „Was halten Sie also davon, sich eine junge englische Lady anzulachen?“ Donovan sprach in lässig-spöttischem Ton. Stevens wußte nicht immer, wann sein Chef es ernst meinte und wann er scherzte. „Wie es Ihnen recht ist, Mister.“ „Gut. Ich möchte, daß Sie hierhin fahren.“ Donovan zeigte in dem vor ihm liegenden Londoner Stadtplan mit dem Finger auf eine Straße und nannte ihren Namen. „Wissen Sie, wo das ist?“ „Ja, Mister, ich habe mich bereits mit der Stadt vertraut gemacht. Das ist nicht weit von der Piccadilly. Dort befindet sich die Londoner Luftabwehrzentrale.“ Donovan betrachtete den vor ihm stehenden hochaufgeschossenen jungen Mann mit dem offenen, treuherzigen Gesicht. Woher wußte er, daß sich die Luftabwehrzentrale in dieser Straße befand? Er hatte keinen Auftrag gehabt, das festzustellen. Ein Naturtalent! „Stimmt. Sie verbringen hier scheint’s die Zeit nicht nutzlos. Tüchtig!“ „Ich danke Ihnen, Mister. Ich habe mir die Stadt ein bißchen angesehen, wie Sie es mir befohlen haben.“ „Also gut. Eben hier, in der Nähe, machen Sie sich mit einem Mädchen aus der Luftabwehrzentrale bekannt. Suchen Sie sich eine nach Ihrem Geschmack aus. Ich habe nichts dagegen, wenn sie hübsch ist. So, das wäre vorläufig alles. Wei-
tere Anweisungen erhalten Sie später.“ Der Leiter des amerikanischen Geheimdienstes in London schenkte dem Stab der britischen Luftabwehr seine besondere Aufmerksamkeit, denn er hatte vom Pentagon ein chiffriertes Telegramm erhalten, aus dem hervorging, daß sich das Luftfahrtministerium der Vereinigten Staaten für die Schlacht um England interessiere. Donovan sollte alles aufklären, was mit dem Flugmeldedienst zusammenhing. Wie kam es, daß die britischen Jäger die deutschen Bomber ständig stellten, ihnen den Weg verlegten und sie bereits beim Anflug nach London zum Kampf zwangen? Es war erstaunlich, daß die Engländer trotz der klaren deutschen Luftüberlegenheit so erfolgreich Widerstand leisteten. Besaßen die Briten nicht eine technische Neuheit, die sie geheimhielten? Das war eine wichtige Frage. Es mochte verschiedene Wege geben, die Wahrheit zu erkunden, aber war es nicht das beste, man begann mit dem Einfachsten und ermittelte, was in der Luftabwehrzentrale vor sich ging? Noch am selben Abend tauchte Ben zu einer Stunde, da nach seinen Berechnungen im Stab der Luftabwehr die Dienstablösung erfolgen mußte, in der Nähe des ihn interessierenden Gebäudes auf. Er kam an einem zerstörten viergeschossigen Haus vorbei. Als Ben das letzte Mal hier war, hatte das Haus noch gestanden. Jetzt sah es aus wie ein ausgerissener Zahn. Der ehemalige G-Man näherte sich auf dem mit Glassplittern übersäten Bürgersteig dem grauen Gebäude mit dem hohen Eisentor. Er machte den Eindruck eines Menschen, der nicht sonderlich beschäftigt ist. Zerstreut blickte er in den Hof, wo Wachposten die Ausweise uniformierter Mädchen prüften,
die das Haus verließen. Ben ging weiter. Zwei Mädchen überholten den früheren G-Man. Er beschleunigte den Schritt und lauschte ihrem Gespräch. Ben kannte die Psyche der Menschen: Auf den, der vor ihnen geht, achten sie nicht, wohl aber auf den, der ihnen hartnäckig folgt. Die Mädchen waren jetzt zwei Schritte hinter ihm. Ben hatte ihre Gesichter sehen können, als sie aus dem Haustor der Luftabwehrzentrale herauskamen. Die eine war klein und vollbusig, die andere, mit unter der Baskenmütze hervorquellendem braunem Haar, trug das Dienstgradabzeichen eines Sergeanten. Sie sah jünger aus als die erste, zudem war sie schlanker und größer. Sogar in der Uniform wirkten beide schick. Sie verstanden sie zu tragen. Stevens wußte allerdings nicht, welche von ihnen es war, die jetzt sagte: „Ich rate dir, nicht zu fahren, Kate. Die Germans halten sich nicht immer an die gleichen Zeiten. Paß auf, daß du unterwegs nicht steckenbleibst.“ „Nein, ich muß fahren. Dort liegt vielleicht ein Brief für mich. Ich bleibe nicht lange.“ „Na, dann mach’s gut! Gute Fahrt! Ich muß da lang. Auf Wiedersehen!“ Die kleine Vollbusige ging über die Straße, blickte sich noch einmal um und winkte ihrer Kameradin mit der Hand zu. „Denk an die Ablösung, Kate. Morgen haben wir Frühdienst.“ „Gut, gut! Dort kommt mein Bus. Bis morgen!“ Das Mädchen, das mit Kate angeredet worden war, überholte Stevens und ging rasch zur Bushaltestelle. Ben schritt ebenfalls schneller aus. Er ließ dem Mädchen den Vortritt, sprang
nach ihr auf den Bus und gab dem Schaffner dieselbe Haltestelle an wie Kate. Er setzte sich auf den freien Platz neben ihr. Kate beachtete den jungen Mann nicht. Sie hatte seine Uniform mit einem flüchtigen Blick gestreift und festgestellt, daß er Amerikaner war. In der letzten Zeit begegnete man den Amis in der Stadt immer öfter. Sie nahm ein Buch aus ihrer Aktentasche und vertiefte sich in die Lektüre. Aber weder die heikle Situation, in die der Held des Romans geraten war, noch seine Leiden rührten Kate. Beim Lesen dachte sie an Robert. Warum schrieb er so lange nicht? Die letzte Nachricht von ihm stammte aus Plymouth. Sein Schiff war auf zwei Tage nach England gekommen und wieder ausgelaufen. Bob konnte sich noch immer nicht beruhigen, daß ihr Telefongespräch unterbrochen worden war. Kate weinte damals vor Ärger. Sie hatte ihm gerade die ersten Worte gesagt, als die Verbindung abriß – irgendwo war die Leitung durch Bomben zerstört worden. Schon gut, daß sie wenigstens seine Stimme gehört hatte. Die Zeitungen schrieben tags darauf, die Luftschlacht vom Vortag sei die gewaltigste seit Kriegsbeginn gewesen. Sämtliche Maschinen waren aufgestiegen. Die Deutschen verloren zweiundsiebzig Flugzeuge. Das geschah ihnen ganz recht! Niemand hatte sie gerufen! Über den Verlauf der Schlacht um England war Kate nicht nur aus den Zeitungen unterrichtet. Sie arbeitete seit Monaten in der Londoner Luftabwehrzentrale. Sie hatte es damit nicht schlecht getroffen. Schon allein aus dem Grund, daß sie sich dort in Sicherheit fühlen konnte. Die ständige Furcht und die schlaflosen Nächte machten einen doch vollkommen fertig! Um ausschlafen zu können, blieb Kate manchmal die Nacht
über in der Zentrale. Die Beobachtungsstelle der Luftabwehrzentrale befand sich in einem tiefen unterirdischen Gewölbe mit dicken Betondecken. Das war etwas anderes als der Morrison-Unterstand, dieser Stahltisch mit Drahtnetz, den man an die Londoner auszugeben begann. London hatte, wie jetzt, im Krieg, offenbar wurde, keine bombensicheren Keller und Luftschutzbunker. Deshalb verzeichnete die Stadt so viele Opfer. Kate verbrachte täglich viele Stunden hintereinander im Kartensaal, der rund wie eine Zirkusmanege oder ein Spielkasino war. Sie war noch nie in ihrem Leben in einem Spielsaal gewesen, aber man sagte, daß es dort ähnlich aussehe. Den Tisch mit der großen Karte nannte man Roulette. Nur ersetzten die Elfenbeinkugeln kleine Flugzeuge aus Kunststoff, die in die eingezeichneten Quadrate geschoben wurden. Kate nahm die telefonischen Meldungen der über ganz England verteilten Beobachtungsposten entgegen. Natürlich war die Arbeit am Tisch leichter: Dort hatte man die Miniaturflugzeuge auf der Karte hin und her zu schieben, so daß der Stabschef die Situation überblicken konnte. Das erforderte nur Aufmerksamkeit. Auch Kate hatte eine Zeitlang am Tisch gestanden. Ihr Bezirk war der, in dem Robert wohnte. Sie fand sogar heraus, wo das Häuschen der Crawshows stand – ein kleines Quadrat von dunkelbrauner Farbe. Kate war schon lange nicht mehr bei Bobs Eltern gewesen. Ob Tante Polly ihr etwas sagen konnte? Vielleicht hatten sie Nachrichten von Bob. Kate blickte von ihrem Buch auf. Sie hatte ohnehin nur mechanisch darin gelesen und den Sinn der Worte nicht verstanden.
Währenddessen zerbrach sich der frühere G-Man den Kopf, wie er mit dem Mädchen ins Gespräch kommen könne. Bei seiner angeborenen Schüchternheit fiel ihm die Aufgabe, die ihm der Chef gestellt hatte, gar nicht leicht. Als Kate sich dem Fenster zuwandte, rang er sich endlich ein paar Worte ab. „Wie zerstört hier alles ist. Wohnen Sie in diesem Bezirk?“ „Nein, in East End. Aber bei uns fallen auch Bomben. Wann wird das alles vorbei sein?“ „Ja, bei uns in den Staaten gibt’s das nicht!“ „Wie ich Sie beneide! Ihr Amerikaner seid glücklicher dran als wir. Können Sie sich vorstellen, daß auf Ihr Haus auch eine solche Bombe fällt?“ Kate deutete auf die Ruinen, an denen der Bus gerade vorüberfuhr. Das unmittelbar an der Straße stehende Haus war glatt weggefegt. Nur ein Stück Wand mit dem Treppenaufgang war in dem Chaos stehengeblieben und ragte über Haufen geborstener Ziegelsteine empor. Little Ben dachte trübselig: Wenn nun wirklich einmal eine solche Bombe auf unsere künftige Ranch fiele? In dem halben Jahr, das Stevens bereits in England lebte, hatte er seiner Mutter schon mehrmals Geld für die Ranch geschickt. Die Mutter schrieb, sie hätten bereits eine passende Farm besichtigt. Jetzt sei ja das Geld gottlob bald beisammen. Vielleicht gehe die Witwe des Farmers noch mit dem Preis herunter. Dann wäre alles perfekt. Was nun, wenn tatsächlich… Übrigens brauchte er sich ja nicht zu beunruhigen, zwischen Amerika und dem Krieg lag der Atlantische Ozean. Aus unerfindlichem Grunde sagte er zu dem Mädchen: „Wir wohnen in New York, aber mein Vater möchte gern auf
eine Farm ziehen. Wenn ich zurückkomme, kauft er eine Ranch.“ „Bei uns denkt jetzt niemand daran, etwas zu kaufen. Jeder wünscht sich, daß wenigstens das erhalten bleibt, was da ist!“ So kamen sie ins Gespräch. Kate erwies sich als ein aufgeschlossenes Mädchen. Es ließ sich leicht mit ihr plaudern. Sie gab sich einfach und natürlich. Ben hatte bereits seine Schüchternheit überwunden. Er erzählte von Amerika, von New York und bot seiner Nachbarin geröstete Salzmandeln an, die er am liebsten naschte und immer in Mengen bei sich trug. Kate nahm ein paar Mandeln und bedankte sich. „Nehmen Sie doch mehr, nehmen Sie nur!“ Er schüttete ihr fast den ganzen Inhalt des Zellophanbeutels in die Hand. „Ich habe noch welche. Sie schmecken sehr gut.“ An der Haltestelle stiegen sie wie alte Bekannte aus. „Haben Sie hier lange zu tun?“ fragte Ben. „Nein, ich muß möglichst rasch nach Hause.“ „Gehen Sie zu Verwandten?“ „Ja, auf ein halbes Stündchen!“ Zu wem sie wollte, sagte Kate nicht. Natürlich zu Verwandten. Waren Crawshows etwa nicht Verwandte von ihr? Wenn der Krieg nicht alles durcheinandergebracht hätte, wäre sie längst zu ihnen in die kleine Wohnung gezogen. Tante Polly hatte ihnen doch oben das kleine Zimmer abtreten wollen. Sie waren beide so lieb, Onkel John und Tante Polly. Und Virginia erst – die hing an ihr wie eine Klette. Sie hatte mit Roberts Schwester feste Freundschaft geschlossen. Wahrscheinlich freute sie sich am meisten darauf, Virginia wiederzusehen… Kate hatte ihrem Begleiter nicht gesagt, zu wem sie ging. Bis heute genierte sie sich zu sagen, daß sie verlobt
war. Im Augenblick veranlaßte sie aber noch etwas anderes, das zu verschweigen – vielleicht war es unbewußte Koketterie: Sollte ihr Begleiter ruhig denken, sie sei frei. Ben machte ihr den Vorschlag, zusammen zurückzufahren, er habe hier auch nur kurze Zeit zu tun. Kate war einverstanden. „Gut, wenn Sie bis dahin Ihre Angelegenheiten erledigt haben.“ Sie sah auf die Uhr. „Der Bus fährt in vierzig Minuten.“ Kate ging über den Square, und Little Ben schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Ben hatte fast eine Stunde Zeit zum Bummeln. Gemächlich schlenderte er die Straßen entlang. Wild hupend kamen ihm zwei Feuerwehrwagen entgegengerast. Wahrscheinlich sind wieder irgendwo Bomben gefallen, dachte Ben. Er ging durch die Straßen der ihm unbekannten Siedlung und dachte an die Begegnung mit Kate, an New York, an die Mutter. Ben steckte die Hand in die Tasche, holte Salzmandeln hervor und warf sie sich in den Mund. Seine Stimmung war glänzend. Kate Greys Stimmung hingegen war ganz anders. Unterwegs waren ihr ebenfalls die roten Feuerwehrwagen aufgefallen, die an ihr vorüberjagten. Sie fuhren in eben die Häuserzeile, in die auch sie einbiegen mußte. Im Geiste bei Robert, maß sie diesem Umstand keine Bedeutung bei. Doch an der Ecke, als sie die mit Akazien bepflanzte schmale Straße überquerte, bot sich ihren Augen ein erschütterndes Bild. Das Haus der Crawshows existierte nicht mehr. Dort, wo es gestanden hatte, waren nur noch rauchende Trümmer. Auch über dem zerstörten Nachbarhaus stiegen weiße, milchig-trübe Rauchwol-
ken hoch. Mit stockendem Herzen lief Kate auf die Trümmerstätte zu. Als erstem begegnete sie Onkel John. Schweren Schrittes, über die Trümmer stolpernd, trug er seinen Freund William zum Sanitätsauto. Jemand wollte ihm helfen, aber er ließ niemand an sich heran und wiederholte nur immer: „Nicht nötig. Das mach ich selbst.“ Über seine Wangen liefen Tränen. Hinter ihm ging ein Arzt in einem Kittel, der rot war von Ziegelstaub, vielleicht aber auch von Blut. Onkel John erblickte Kate, als er William auf das Straßenpflaster niederlegte. Zwei Sanitäter hoben den Toten ins Auto. „Wo ist Tante Polly?“ „Geh zu ihr, sie ist dort.“ Onkel John wies mit dem Kopf auf die Ruinen und schluchzte. Einige Männer hoben einen herabgestürzten Balken auf. Tante Polly stand daneben mit irren Augen und flüsterte vor sich hin. Sie trug eine kurze Jacke, ihre Haare waren zerzaust und hingen ihr ins Gesicht. In den Händen hielt sie eine geflochtene Tasche, mit der sie einkaufen gegangen war. Der Luftangriff hatte sie unterwegs überrascht. Nach der Entwarnung war sie sofort zurückgekehrt. Virginia war allein zu Hause geblieben. Jetzt grub man sie aus den Ruinen aus. Das Mädchen lag neben einem Morrison-Unterstand, dem Stahltisch mit dem Drahtnetz. Eine Tischecke hatte ihr den Kopf eingeklemmt, ihr Gesicht war blutüberströmt. Während die Männer das Mädchen aus den Trümmern befreiten, stand Tante Polly mit erschreckend gleichgültiger Miene da und murmelte vor sich hin:
„Vorsicht, ich bitte euch, tut dem Mädchen nicht weh.“ Der Arzt kniete vor Virginia nieder, legte sein Ohr an ihre Brust und horchte qualvoll lange. Alle warteten schweigend. Nur Tante Polly murmelte weiter vor sich hin, blickte nach allen Seiten und suchte jemand mit den Augen. Der Arzt stand auf und seufzte tief. „Hier ist nicht mehr zu helfen. Tragen Sie sie ins Auto.“ Der Vater nahm Virginia auf die Arme. Kate hob den Schuh auf, der dem Mädchen vom Fuß geglitten war, und hing hinterdrein, ohne zu wissen, was sie tat Tante Polly, deren Sinne sich verwirrt hatten, verhielt sich sehr ruhig. Sie sagte nur zu ihrem Mann: „Um Gottes Willen, John, sei vorsichtig, tu Virginia nicht weh!“ Als die Tür des Autos zuklappte und der Wagen die Fahrt zum Leichenschauhaus antrat, schrie sie plötzlich wild auf und stürzte hinterher. Onkel John konnte sie kaum zurückhalten. „Wo fahrt ihr das Mädel hin? Tut ihr nicht weh! Haltet das Auto an! Laß mich, John! Laß mich, sage ich!“ Sie wand sich in seinen Armen. Dann beruhigte sie sich und ließ sich widerstandslos in ein anderes Sanitätsauto bringen. Onkel John, gealtert, stand mit hängenden Schultern inmitten der Trümmer. Der Arzt nahm im Auto neben dem Fahrer Platz. Gleichsam erwachend, fragte John: „Sagen Sie, Doktor, darf ich meine Frau begleiten?“ „Gut, lieber Freund, fahren Sie mit. Seien Sie tapfer.“ Die Sanitäter öffneten die Tür, und Onkel John nahm im Wagen Platz. Zu Kate sagte er:
„Ich melde mich bei euch, Kate. Siehst du, jetzt haben wir kein Heim mehr. Wo werden wir nun wohnen?“ Das Auto fuhr ab. Kate blieb allein zurück. Ob Briefe von Robert angekommen waren, wußte sie nach wie vor nicht. Langsam ging sie zur Bushaltestelle zurück. Auf halbem Wege traf sie Ben Stevens. Er hatte einen Autobus abfahren lassen und noch eine halbe Stunde gewartet. Dann war er ihr entgegengegangen. Er sah sofort, daß etwas Furchtbares geschehen sein mußte. Das Lächeln schwand aus seinem Gesicht. Kate war nicht wiederzuerkennen – die Wangen hohl und bleich, die Augen rot. „Was ist passiert? Was ist mit Ihnen?“ „Fragen Sie nicht. Es ist schrecklich. Dort… Dort ist nichts übriggeblieben. Und Virginia ist tot.“ Kate brach in Tränen aus. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Ben stützte sie. Er hatte alles verstanden. Im Autobus fuhren sie schweigend. Ohne um Erlaubnis zu fragen, begleitete er Kate nach Hause. Er konnte sie in diesem Zustand nicht allein lassen. In East End fuhren sie an einem brennenden Gebäude vorbei. Ringsum war es stockfinster. Der dichte Nebel über London machte die Flammen trüb und diesig. In dem roten Dunst schimmerten dunkel die Silhouetten der Feuerwehrmänner mit den Spritzen und Beilen. Die Fahrgäste drückten ihre Gesichter erregt an die Scheiben. Aber der Autobus fuhr an der Brandstätte vorbei, und draußen lag wieder undurchdringliche, milchige Finsternis, aus der sich die blauen Lichter der Straßenbeleuchtung kaum abhoben. Das Bild des nächtlichen Brandes erfüllte Kates Herz mit neuer Unruhe. Sie glaubte, ja, sie war fest davon überzeugt,
daß sie an der Stelle ihres Hauses dieselben Ruinen, dieselben verbogenen Eisenträger und denselben roten Steinschutt vorfinden würde, der wie geronnenes Blut aussah. Von der Bushaltestelle rannte sie fast los. Ben, der sie untergefaßt hatte, vermochte ihr kaum zu folgen. Man konnte nur einige Schritte weit sehen. Der feuchte Nebel verschluckte die Fußgänger, die wie Gespenster vor ihnen auftauchten. Endlich atmete Kate erleichtert auf. Das Haus, der alte Bau mit den verrußten Steinwänden, stand noch an seinem Platz. Gott sei Dank hatte sich ihre Ahnung nicht bestätigt. Kate war jetzt am Ende ihrer Kraft. Sie konnte nicht einmal mehr die Hand heben, um an der Haustür zu läuten. Ben drückte auf den Klingelknopf, den er in der Dunkelheit ertastet hatte. Fast trug er Kate in den Flur, wo ihm die Helligkeit in die Augen stach. Am nächsten Morgen berichtete der ehemalige G-Man seinem Chef über die Ergebnisse des Vortages. „Da haben Sie unverschämtes Glück gehabt, Ben!“ Donovan griff zum Bleistift und notierte sich: „Kate Grey, Sergeant in der Luftabwehrzentrale.“ Dann schrieb er die Anschrift ihrer Wohnung in East End auf. „Dazu mußte nun erst den Angehörigen Ihrer neuen Bekannten eine Bombe auf den Kopf fallen!“ sagte Donovan, als Ben seinen Bericht beendet hatte. „Sie haben sich hoffentlich als Gentleman in der Familie Grey eingeführt. Machen Sie weiter in diesem Sinne. Lassen Sie sich recht oft in East End sehen. Versuchen Sie, die Sympathien der Eltern des Mädchens zu gewinnen. Vergessen Sie aber nicht, daß es für uns sehr wichtig ist, herauszubekommen, was sie in der Luftab-
wehrzentrale tut. Dieser Käfer wird uns noch helfen, manche Dinge aufzuklären.“ Der Zynismus, mit dem Donovan über das tragische Erlebnis Kates sprach, ließ Ben innerlich erschauern. Aber er verbarg seine Gefühle unter der Maske blöder Schüchternheit. Im übrigen fühlte er sich in Gegenwart des Chefs wirklich stets befangen. Am Sonnabend fuhr Ben, der sich ausgerechnet hatte, wann Kate vom Dienst heimkommen mußte, nach East End. Er trug ein ansehnliches Paket bei sich. Natürlich war es seitens des jungen Mannes unschicklich, zum zweitenmal ohne Einladung bei den Greys zu erscheinen – er verletzte damit die englische Etikette. Aber das Eis der Voreingenommenheit gegen den neuen Bekannten von Kate schmolz rasch im Herzen von Mrs. Grey, als Ben das Paket auf dem Tisch auspackte. Er hatte die Tagesration eines amerikanischen Soldaten mitgebracht – drei ziegelsteinförmige Pappschachteln, auf denen geschrieben stand: „Breakfast“, „Lunch“, „Dinner“ und darunter die Worte: „Made in USA.“ Ben öffnete geschickt die drei Schachteln und breitete ihren Inhalt auf dem Tisch aus. Vor Mrs. Grey lagen appetitliche Toaste in schimmernder Zellophanhülle und eine grüne Blechdose mit Eipulver und Butter. Auch Schokoladentäfelchen, Konservenwurst, Himbeerjam und drei Zigaretten – alles in durchsichtigem Zellophan – kamen zum Vorschein. Mrs. Grey betrachtete gerührt den Inhalt der Schachteln. Unverständlich war ihr nur, was das Papier von gelbbrauner Farbe sollte, von dem mehrere Blättchen vorhanden waren. Ben wurde verlegen, sagte aber schließlich nach einigem Zögern:
„Das ist Toilettenpapier, Mrs. Grey! Es ist nur in der DinnerSchachtel.“ „Da schau einer bloß, an alles ist gedacht! An alles, sogar an solche Kleinigkeiten… Ach, wenn uns doch die amerikanischen Soldaten gegen die Germans helfen würden. Sagen Sie, warum helft ihr uns nicht? Wenn es so weiter geht, vernichten die Deutschen ganz London.“ Auf die Frage, warum die Amerikaner London nicht vor den deutschen Luftangriffen retteten, wußte Ben Mrs. Grey nichts zu antworten, was aber die Farbe des Toilettenpapiers anbetraf, so gab er dafür die Erklärung ab: „Das hat man zur Tarnung gemacht. Auch unsere Handtücher haben dieselbe Farbe. So sind sie aus der Luft nicht zu sehen. Bei uns ist alles gelbbraun wie die Uniform.“ Mister Grey war noch nicht von seiner Arbeitsstelle in der City zurückgekehrt. Er müsse jeden Augenblick kommen, sagte Mrs. Grey. Kate käme gewöhnlich noch etwas später. Aber auf sie müsse er unbedingt warten. Kate würde sich freuen, Mister Stevens wiederzusehen. Die Frau des Bankangestellten bedankte sich noch einmal für die Hilfe, die er ihrer Tochter liebenswürdigerweise erwiesen hatte. Die Arme habe das Unglück der Crawshows ganz durcheinandergebracht. Wenn Mister Stevens nicht gewesen wäre, könne sie sich nicht vorstellen, wie das Mädel allein nach Hause gefunden hätte. Es läutete. Mister Grey kam heim. Mrs. Grey flüsterte mit ihm in der Diele, und als der Bankangestellte die Küche betrat, begrüßte er Ben aufs freundlichste. Er erzählte unter anderem, Kate habe ihn in der Bank angerufen, um ihm zu sagen, daß sie heute später komme. Die Dienstzeit habe sich
geändert. Mrs. Grey bereitete ihrem Mann das Essen und bat Ben zu Tisch. Ben lehnte ab, er trank nur ein paar Gläschen Whisky, sprach mit dem Hausherrn über die Schlacht um London, hörte interessiert zu, als Mister Grey ihm erzählte, daß er schon fünfundzwanzig Jahre bei ein und derselben Firma – beim Bankhaus Schroeder – arbeite, bat, der Tochter einen Gruß auszurichten, und verabschiedete sich schließlich, den besten Eindruck hinterlassend. Von diesem Tag an hatte der frühere G-Man in den Eheleuten Grey zuverlässige Verbündete. Mister Donovan hatte unerwartet Besuch aus Washington bekommen. Davon verständigte ihn der Botschaftssekretär, der ihm zugleich mitteilte, Oberstleutnant McHoven möchte möglichst schnell mit ihm zusammentreffen. Der Name des Gastes sagte Donovan nichts. Dennoch stellte er am Telefon keine Fragen, beschränkte sich auf das übliche „Allright!“ und fügte lediglich hinzu, daß er den Oberstleutnant bei sich erwarte. Alles klärte sich auf, als eine halbe Stunde später ein Mann in der Uniform eines Infanterieoffiziers der amerikanischen Armee in sein Zimmer trat. Es war Robert Murphy. „Ah, Sie sind also Oberstleutnant McHoven!“ begrüßte Donovan Murphy, den er schon lange kannte. „Ich muß gestehen, ich habe mir lange den Kopf zerbrochen, wer das sein könnte. Und noch dazu in einer solchen Aufmachung! Die Soutane eines katholischen Priesters dürfte Ihnen besser zu Gesicht stehen als der Soldatenrock. Haben Sie den Beruf gewechselt?“
Robert Murphy ging auf den Scherz nicht ein. Er sagte besorgt: „Mein Beruf ist immer derselbe. Hier in London bin ich nur auf der Durchreise. Für vierundzwanzig Stunden. Für alle, außer Ihnen und Kennedy, bin ich Oberstleutnant McHoven. Entschuldigen Sie, aber ich komme gleich zur Sache. Ich habe einige Neuigkeiten. Ist Ihnen London noch nicht über?“ „London weniger, mehr das kriegerische Klima. Die Deutschen werfen tagtäglich Bomben ab. Eines schönen Tages werden wir noch samt diesem Bungalow in die Luft fliegen.“ Donovan deutete mit dem Kopf auf die Wände der Villa, die er nach seiner Ankunft in London bezogen hatte. Mit Robert Murphy stand Donovan auf vertrautem Fuß, er kannte ihn vom Office of Strategie Services. Viele Jahre zuvor hatte Murphy die Jesuitenschule absolviert und galt im Geheimdienst als Spezialist für den Vatikan. Später war er im State Department in den diplomatischen Dienst getreten, aber die alten Beziehungen zum Geheimdienst hielt er nach wie vor aufrecht. Die Jahre in der Jesuitenschule hatten Murphy ihren Stempel aufgedrückt. Mit den schmalen, dünnen Lippen und dem salbungsvoll-heiligen Gesichtsausdruck konnte der mittelgroße Mann in der Tat eher ein katholischer Geistlicher als ein Offizier sein. In Donovans Arbeitszimmer brannte der Kamin, und der Hausherr lud Murphy ein, sich mit ihm ans Feuer zu setzen. Frühzeitig hatte in diesem Jahr strenger Frost das herbstliche Matschwetter abgelöst. Seit etwa hundert Jahren war solch frühe Kälte in Europa nicht zu verzeichnen gewesen. Donovan rieb sich fröstelnd die Hände und hielt sie ans Feu-
er. „Wozu brauchen Sie eigentlich die Uniform? Ich denke, Sie fahren zum Vatikan, um dem Heiligen Stuhl näher zu sein?“ „Nein, im Gegenteil, um den Mohammedanern näher zu sein. Uns interessiert Nordafrika. Besonders nach dem bewußten Streich de Gaulles mit seiner Landung in Dakar.“ Donovan notierte bei sich, daß Murphy gesagt hatte: „Uns interessiert.“ Wer ist „uns“? Das State Department? Also war er avanciert… „Churchill sucht beharrlich seinen Einfluß in Marokko und Algerien zu stärken“, fuhr Murphy fort. „Er selber ist am Ertrinken, klammert sich aber hartnäckig an die französischen Kolonien. Wir sind überzeugt, daß er es ist, der seinen Schützling de Gaulle zu solchen Aktionen ermuntert. Dem muß ein Riegel vorgeschoben werden. Wir haben unsere eigenen Pläne. Uns ist mehr an Admiral Darlan gelegen.“ „Aber die Landung in Dakar ist doch mißglückt“, wandte Donovan ein. „Darlan kam de Gaulle zuvor und erreichte das Kap Verde vierundzwanzig Stunden früher. Die Vorsehung hat ihm geholfen.“ „Tun Sie nicht so bescheiden! Ich habe Ihre Meldungen gelesen. Sie haben Vichy rechtzeitig von den Plänen de Gaulies in Kenntnis gesetzt. Die Brüder Dulles haben mich gebeten, Ihnen im Namen des State Departments und des Geheimdienstes zu danken. Die Sache hat große Bedeutung für die Zukunft. Dakar kann ein ausgezeichneter Stützpunkt in Westafrika werden.“ „Ich danke Ihnen!“ Donovan neigte leicht den Kopf. „Diesen Lorbeer hat sich eigentlich Vizeadmiral Muselier verdient – er befehligt unter de Gaulle die Seestreitkräfte des ,Freien
Frankreich’.“ Donovan lachte gutgelaunt. „Muselier ahnt nicht mal etwas von seinem Verrat. Dabei lief die ganze Information unter seinem Namen. Er wird diese Suppe noch einmal auslöffeln müssen. Churchill dürfte ihm kaum verzeihen.“ „Ausgezeichnet! Ich erkenne Ihre Handschrift! Aber jetzt müssen wir doppelt vorsichtig sein.“ „Was haben Sie denn vor? Ich komme und komme nicht darauf, was Sie nach Europa geführt haben kann.“ „Mit Ihrer Hilfe werde ich den Arabern Leichengewänder verkaufen. Ich sagte Ihnen schon, daß mich jetzt der Prophet Mohammed mehr interessiert als der Päpstliche Stuhl im Vatikan.“ „Das verstehe ich nicht.“ Donovan war ein alter Geheimagent, aber er konnte tatsächlich nicht begreifen, was die Leichengewänder mit den nordafrikanischen Problemen zu tun hatten. Die dünnen Lippen Murphys verzogen sich zu einem Lächeln. „Sehen Sie, in der Societas Jesu, der ich angehöre, hat mich der Orient bislang nur wegen seiner Vergangenheit interessiert, die mit der biblischen Geschichte verbunden ist: Jerusalem, das Grab des Herrn, Kreuzzüge et cetera. Aber die Zeiten ändern sich. Ich glaube gern an die Legende, daß sich das vor tausendneunhundert Jahren dort vergossene Blut Christi nunmehr in Erdöl verwandelt hat. Zu diesem Blut des Herrn zieht es die ganze christliche Welt wie zum Abendmahl. Mussolini kämpft in Lybien, Hitler wartet auf eine Gelegenheit, um ein Gebiet im Orient an sich zu reißen. Von den Engländern ganz zu schweigen. Und die Franzosen sind nach ihrer Niederlage nicht stark genug, um ihre afrikanischen
Kolonien zu behaupten. Wer wird ihre Erbschaft antreten? Haben wir etwa keinen Anspruch darauf?“ „Ja, schon, aber was haben die Leichengewänder damit zu tun?“ „Hören Sie gut zu. Ein Leichengewand aus einfacher Baumwolle kostet eine Kleinigkeit, aber kein rechtgläubiger Mohammedaner, so fromm er im Leben auch war, kommt ins Paradies ohne ein solches Gewand. Jetzt ist Krieg, niemand handelt mit Tee und Leichengewändern. Die Araber sind in arger Bedrängnis – sie können zu Lebzeiten keinen Tee trinken und nach dem Tod nicht ins Paradies gelangen. Wir helfen ihnen, und die Leichengewänder helfen unseren Agenten, in Algerien und Marokko einzudringen. Haben Sie jetzt begriffen? Von den Lebensmitteln, die durch das Rote Kreuz dort hingehen, will ich schon gar nicht reden. Wir stellen nur eine Bedingung – die Verteilung der Lebensmittel müssen amerikanische Beamte beaufsichtigen. Dazu stecken wir Offiziere in Zivilkleidung. Stellen Sie sich vor, was für Möglichkeiten sich uns beiden bieten! Eben deshalb bin ich nach Europa gekommen. Heute fahre ich nach Lissabon und von dort nach Vichy. Was Sie betrifft“, schloß Murphy, „so werden Sie, wenn Sie Ihre Angelegenheiten hier erledigt haben, ebenfalls London verlassen und sich nach Südfrankreich begeben. Wir werden gemeinsam mit Leichengewändern handeln.“ „Bisher habe ich mich mit so was noch nicht befassen müssen“, sagte Donovan gedehnt. Er hatte sofort überschlagen, was für Möglichkeiten sich mit Hilfe des Roten Kreuzes, des Tees und der Leichengewänder für die Spionage ergaben. Ein schlaues Aas, dieser Murphy! Der hatte nicht umsonst die
Jesuitenschule besucht. „Ich hoffe doch“, sagte Donovan, „daß mein neuer Einsatz mit Mister Allan Dulles vereinbart worden ist?“ „Selbstverständlich! Und nicht nur mit ihm. In den Staaten ist man an unserem Eindringen in Nordafrika außerordentlich interessiert.“ Der Botschafter Kennedy kam. Er war übelgelaunt. Er hatte eine unangenehme Unterhaltung mit Churchill gehabt. Der britische Premier hatte sich über den Zustand der Zerstörer beschwert, die die USA England im Austausch gegen Stützpunkte überlassen hatten. Von den fünfzig Schiffseinheiten mußten die meisten sofort nach ihrem Eintreffen zur Reparatur ins Dock. „Sie haben mich in eine dumme Lage gebracht!“ sagte Kennedy empört. „Wir haben acht erstklassige Stützpunkte längs der atlantischen Küste bekommen und schicken dafür Schrott an Stelle von Schiffen. Was denkt man sich eigentlich in Washington? Daß man sich auch in diesem Fall so knickrig zeigen mußte.“ „Wen meinen Sie mit ,man’? Was habe ich damit zu tun?“ entgegnete Murphy. „Die Zerstörer hat Knox geschickt. Das State Department hat nur die vorbereitenden Verhandlungen geführt. Haben Sie etwas gegen diese Abmachung?“ „Kein Gedanke! Aber vergessen Sie nicht, daß die Briten zum erstenmal in der Geschichte Englands einen Teil ihres Territoriums abtreten. Hätte man ihnen nicht etwas Besseres dafür geben können?“ „Ich wüßte nicht, was ihnen anderes übriggeblieben wäre. Soweit mir bekannt ist, haben die Engländer schon ihre ganze Goldreserve ausgegeben!“ Murphy schaute in sein Notiz-
buch. „Als sie in den Krieg eintraten, besaßen sie etwas mehr als vier Milliarden Pfund Sterling. Bis zur letzten Lieferung hat Churchill in bar bezahlt, jetzt zahlt er in natura. Das ist alles… Ich kann Ihnen weiter mitteilen: Die in den Staaten erbauten englischen Werke sind ebenfalls in den Besitz unserer Regierung übergegangen. Wir haben sie über die Börse mit mindestens zweihundert Prozent Gewinn für die Staatskasse weiterverkauft. Sie sehen, kein schlechtes Geschäft. Lohnt es angesichts dessen, lieber Botschafter, sich darüber zu ärgern, daß jemand den Engländern alte Zerstörer untergeschoben hat! Es genügt doch, daß Churchill sich ärgert.“ Aus den Worten Murphys sprach die eiserne Logik des Businessmans. Kennedy wußte darauf nichts zu entgegnen. Was Murphy gesagt hatte, stimmte. Das unangenehme Gefühl, das die Unterhaltung mit Churchill in ihm geweckt hatte, wich allmählich. „Sie haben natürlich recht“, sagte Kennedy nach einer Weile. „Aber lassen wir das nun. Ich bin gekommen, um Sie von etwas anderem zu unterrichten. Sie müssen das vor Ihrer Reise nach Frankreich noch wissen, lieber McHoven. Churchill hat sich soeben mit einer neuen Bitte an uns gewandt.“ „Will er wieder etwas geliehen haben?“ „Nein, diesmal ist es etwas anderes. Das britische Kabinett bittet uns, die Vermittlerrolle in seinen Verhandlungen mit Petain zu übernehmen.“ „Was sollen wir denn vermitteln?“ „Churchill bittet uns um die Übermittlung folgenden Vorschlages: Wenn die Vichy-Regierung darin einwilligte, ihren Sitz nach Nordafrika zu verlegen und dort die Kriegshandlungen gegen Deutschland wiederaufzunehmen, dann wären
die Engländer bereit, den Franzosen zu helfen. Für den Anfang würde Churchill ein Expeditionskorps in Stärke von sechs Divisionen nach Nordafrika schicken. Die englischfranzösischen Truppen könnten Marokko, Tunesien und Algerien verteidigen.“ „Und was hat der amerikanische Botschafter darauf erwidert?“ fragte Murphy. Kennedy antwortete im Ton Murphys: „Der Botschafter hat erwidert, daß er seine Regierung unverzüglich davon in Kenntnis setzen werde. Er erklärte weiter, die Vereinigten Staaten würden diesem Vorschlag zweifellos zustimmen. Man muß ihm doch die Sache mit den Zerstörern irgendwie schmackhafter machen.“ „Und was hat sich der Botschafter Kennedy dabei gedacht?“ „Er hat sich gedacht, daß er unbedingt Oberstleutnant McHoven informieren müsse.“ Kennedy lächelte zum erstenmal. „Ich denke, daß es unserer Gewohnheit widerspricht, einen fremden Bock in unseren Garten zu lassen. Churchill gibt die Hoffnung nicht auf, in Nordafrika einzudringen und festen Fuß zu fassen.“ „Woher will er die sechs Divisionen nehmen?“ „Aus dem Mutterland. Er ist davon überzeugt, daß es zu keiner deutschen Invasion kommt. Er rechnet damit, daß es ihm gelingen wird, Hitler gegen den Osten zu lenken. Wenigstens deutete er das an. Vielleicht schafft er es.“ Kennedy behielt einiges andere, was er wußte, für sich. Die letzte Information, die das State Department aus Berlin bekommen hatte, besagte, daß Hitler in verstärktem Maße Vorbereitungen zu einem Überfall auf Rußland betrieb. Es war gut, wenn nur ein ganz beschränkter Kreis von Menschen
darüber informiert war. Die Kohlen im Kamin brannten mit violetter Flamme. Es war heiß geworden. Die Herren rückten vom Feuer ab. Kennedy streckte die Beine aus und genoß die Wärme. Es war alles gesagt, was gesagt werden mußte. Die drei Gentlemen unterhielten sich nun über nebensächliche Dinge. Erst zum Schluß fragte Murphy Donovan: „Sagen Sie, haben Sie etwas über das englische Radarverfahren erfahren können?“ Donovan sah den Gast mit seinen blauen Augen ruhig an und antwortete teilnahmslos: „Bis jetzt noch nicht viel, aber doch etwas. Es scheint, die Engländer sind uns mit ihrer Erfindung zuvorgekommen. Wir wissen sogar, wer der Erfinder ist: Professor Watson-Watt. Ich rechne damit, in der nächsten Zeit genaue Informationen zu bekommen. Vielleicht auch die Zeichnungen des Geräts.“ Donovan sprach in einer Weise, als sei die geheime Erfindung für ihn kein Geheimnis. Sogar den Namen des Physikers hatte er genannt! Gut, daß Murphy nichts davon verstand. Über die Arbeiten des Professors konnte man in jeder einschlägigen wissenschaftlichen Zeitschrift nachlesen. Donovan befürchtete nur, Murphy würde ihn nach Einzelheiten fragen. Warum sollte er seine Unwissenheit eingestehen? Unvermutet half ihm Botschafter Kennedy aus der Patsche. „Nun ist es aber für Sie höchste Zeit, aufzubrechen“, wandte er sich an Murphy. „Später können Sie durch Luftangriffe aufgehalten werden. Jetzt ist die günstigste Stunde, aus der Stadt herauszukommen. Der Wagen steht zu Ihrer Verfügung, Oberstleutnant McHoven.“ Donovan geleitete die Gäste hinaus und rief dann Stevens zu
sich. „Sag mal, mein Lieber, wie weit bist du mit deiner Schönen? Hast du schon mit ihr geschlafen?“ Donovan sprach in väterlich scherzhaftem Ton. Ben errötete. Sogar sein Hals wurde rot, vor Verlegenheit brannten ihm die Ohren. „Wo denken Sie hin, Chef. Sie ist ein hochanständiges Mädchen. Ich versichere Ihnen, so was würde ich mir nie erlauben. Miß Kate Grey…“ „Ja-a-a“, sagte Donovan gedehnt. Der Bursche scheint sich verliebt zu haben, dachte er. Das fehlte gerade noch! Für einen Spion ist nichts gefährlicher, als sich zu verlieben. Man muß ihn ablösen… Donovan sah seinen Untergebenen weiter mit väterlich guten Augen an und lächelte. „Du hast mich nicht verstanden. Ich wollte im Gegenteil, daß es zwischen euch recht bald dazu käme. Wie man sieht, wird aus dir kein jugendlicher Held und Liebhaber. Wir werden deine Schöne einem anderen geben. Ruf mal den Spanier her.“ Foster Alvarez, ein Amerikaner spanischer Abstammung aus den Südstaaten, arbeitete zusammen mit Ben. Seine Spezialität war es, anrüchige Lokale zu besuchen und mit Frauen von lockerem Lebenswandel, mit Spelunkenstammgästen und angeheiterten Soldaten anzubändeln. Von denen konnte man immer etwas Nützliches erfahren. Ben hegte Abscheu gegen diesen aalglatten, geschniegelten Burschen mit dem schwarzen Menjoubärtchen und der schmuddligen Unterwäsche. Donovans Worte schmetterten ihn geradezu nieder. „Aber, ich will Foster nicht mit Miß Grey bekannt machen…
Sie… Er… Ich bitte Sie… Das ist doch ein schmutziges Subjekt.“ „Ben Stevens!“ Donovan hatte die Stimme erhoben. „Vergessen Sie nicht, daß Sie im Office of Strategie Services der Vereinigten Staaten arbeiten. Persönliche Sympathien und dergleichen mehr behalten Sie gefälligst für sich!“ Selbst der schüchterne Einspruch des Untergebenen brachte den Chef des Geheimdienstes außer sich. „Ich pflege meine Anordnungen nicht zu wiederholen. Rufen Sie Alvarez, und morgen begeben Sie sich zusammen mit ihm nach East End zu Ihrer Bekannten. Weiter haben Sie dort nichts zu suchen. Sie bekommen einen anderen Auftrag. Sie können gehen, Ben Stevens!“ Vielleicht hatte little Ben zum erstenmal in seinem Leben den zaghaften Versuch gemacht, seinem Vorgesetzten zu widersprechen. Aber dabei blieb es auch. Im selben Augenblick, da Donovan die Stimme hob und ihn mit harten Augen ansah, wurde er wieder zahm. Der ehemalige G-Man ging finster aus dem Arbeitszimmer. Am nächsten Tag fuhr er mit dem Spanier nach East End. Es war Sonnabend. Ben hatte mit Kate Grey verabredet, das Weekend mit ihr zu verbringen.
5 Anfang September 1940 erhielt Generalleutnant Paulus einen neuen Posten – er wurde Oberquartiermeister im Generalstab beim Oberkommando des Heeres. Das bedeutete praktisch, daß er der erste Stellvertreter des Generalstabschefs geworden war.
Am frühen Morgen überbrachte ein Verbindungsoffizier den Befehl über die Ernennung und die Order, Generalleutnant Friedrich Paulus möchte ins Hauptquartier zum Generalstabschef Halder kommen. Eine halbe Stunde später war Paulus zur Stelle. Das Hauptquartier in Wünsdorf bei Zossen war wie eine von breiten Straßen durchzogene dörfliche Siedlung angelegt. Doch zum Unterschied von Bauernhäusern waren die Dächer aus Eisenbeton. Das idyllische Bild wurde außerdem noch von Luftschutzbunkern gestört, die gleichfalls aus Beton waren und sich über das ganze Dorf verteilten. Diese vor ein oder zwei Jahren errichteten Bunker stellten das Neuste auf dem Gebiet des Luftschutzes dar. Allerdings hatte Reichsmarschall Göring mit der ihm eigenen Prahlsucht mehrfach versichert, daß keine einzige feindliche Bombe auf Deutschland fallen würde. Allein, der erfahrene Militär Paulus begriff sehr gut, daß die marktschreierischen Versicherungen des Reichsluftfahrtministers nur für die gewöhnlichen Bürger bestimmt waren, deren Glaube an den unüberwindlichen Luftschutz Deutschlands gestärkt werden mußte. Er, Paulus, betrachtete die Dinge nüchtern. Falls der Krieg mit England fortdauerte, durfte man sich auf allerlei Überraschungen gefaßt machen. Wer wollte garantieren, daß keine feindlichen Flugzeuge in den deutschen Luftraum eindrangen, zumal Göring weit mehr Bombenflugzeuge als Jäger bauen ließ? Halder empfing seinen neuen Stellvertreter sofort. Er stand über einen Tisch gebeugt, auf dem eine Karte des östlichen Polens und der angrenzenden Gebiete Sowjetrußlands ausgebreitet lag. „Ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Ernennung, mein teurer Gene-
ral!“ sagte Halder, die schmalen Lippen zu einem Lächeln verziehend. „Hauptsächlich deswegen habe ich Sie hierher ins Hauptquartier gebeten. Ich hoffe, daß ich der erste bin, der Ihnen gratuliert… Da Sie nun einmal hier sind, wollen wir gleich die Gelegenheit benutzen und auch über dienstliche Dinge sprechen. Wir werden uns jetzt oft sehen.“ Der Generalstabschef ging zu seinem Schreibtisch und setzte sich. „Nehmen Sie bitte Platz!“ Höflich und zurückhaltend dankte Paulus dem Generalstabschef, dachte jedoch bei sich: Wenn man einem gratulieren will, ruft man ihn nicht zu sich, sondern geht zu ihm. Das Gespräch drehte sich um die Pflichten des Oberquartiermeisters, um die erstrangigen und unaufschiebbaren Aufgaben. Paulus hörte zu und machte sich Notizen. Zum Schluß sagte Halder: „Jetzt das Wichtigste und Vertraulichste. Sie als mein Vertreter müssen das wissen. Kommen Sie mit zur Karte. Das hier sind, wie Sie sehen, die Grenzbezirke Sowjetrußlands. Sie werden in Kürze Kriegsschauplatz werden. Wir rüsten zum Krieg gegen Rußland. Der Führer hat bereits dementsprechend entschieden.“ „Gegen Rußland?“ entrang es sich unfreiwillig dem Munde des Oberquartiermeisters. „Ja, gegen das bolschewistische Rußland. Wundert Sie das?“ Halder sah Paulus an, aber der Generalleutnant hatte sich bereits wieder in der Gewalt, und der Ausdruck seines hageren, schmalen Gesichts war wieder undurchdringlich. „Nun ist der Plan des bevorstehenden Feldzuges auszuarbeiten“, fuhr Halder fort. „Haben Sie etwas vom Fall ,Bar-
barossa’ gehört? Nein? Das ist auch ganz natürlich. Vorläufig weiß von ,Barbarossa’, dem Krieg mit Rußland, nur ein kleiner Kreis von Menschen. Im ganzen vielleicht zehn Mann. Jetzt gehören Sie dazu. Uns steht eine kolossale Arbeit bevor. Einstweilen existieren nur die Skizzen des Plans, die vom Führer stammen. Hier, sehen Sie bitte.“ Halder nahm aus dem Wandschrank eine Mappe mit der Aufschrift: „Variante ,Barbarossa’, Geheime Verschlußsache.“ „Verzeihung“, sagte Paulus, „aber noch ist doch der Krieg mit England im Gange. Also Zweifrontenkrieg? Vor einem solchen haben uns alle deutschen militärischen Autoritäten gewarnt, einschließlich Friedrichs des Großen, ganz zu schweigen von Moltke, und dann…“ „O nein“, unterbrach ihn Halder, „zum Zweifrontenkrieg wird es nicht kommen! Die Engländer sitzen auf ihrer Insel wie auf einem festvertäuten Schiff.“ „Und die Invasion in England?“ „Sie meinen die Vorbereitung der Operation ,Seelöwe’? Das ist eine strategische Falle, eine geniale Erfindung zur Täuschung der Russen. Gegen England werden wir nicht kämpfen. Dafür sind bereits zuverlässige Schritte, diplomatische wie militärische, eingeleitet worden. Ich komme noch darauf zurück. Jetzt möchte ich Sie in einige praktische Dinge einweihen. Sie betreffen den Generalstab des Heeres unmittelbar. Der Plan ,Barbarossa’ befindet sich vorerst im Stadium der Ausarbeitung, aber der Führer hat die Grundzüge selber angegeben. Hören Sie!“ Halder blätterte die Seiten um, bis er die entsprechende Stelle gefunden hatte, und las dann vor: „ ,Die deutsche Wehrmacht muß darauf vorbereitet sein,
auch vor Beendigung des Krieges gegen England Sowjetrußland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen…’ Und hier die strategische Aufgabe. Sie beeindruckt durch ihre Kühnheit und ihren Schwung. Hören Sie: ,Die im westlichen Rußland stehende Masse des russischen Heeres soll in kühnen Operationen unter weitem Vortreiben von Panzerkeilen vernichtet, der Abzug kampfkräftiger Teile in die Weite des russischen Raumes verhindert werden. In rascher Verfolgung ist dann eine Linie zu erreichen, aus der die russische Luftwaffe reichsdeutsches Gebiet nicht mehr angreifen kann. Das Endziel der Operation’ – passen Sie gut auf, General! – ,ist die Abschirmung gegen das asiatische Rußland aus der allgemeinen Linie Wolga-Archangelsk.’ – Was sagen Sie nun?“ Halder klappte die Mappe zu und sah Paulus triumphierend an. „Wir beide sind Zeugen davon, wie ein genialer strategischer Plan entsteht, der in der Geschichte der Kriegskunst nicht seinesgleichen hat! Ich versichere Ihnen, daß dieser Staat, das bolschewistische Rußland, drei Wochen nach Beginn unserer Offensive wie ein Kartenhaus zusammenbricht, wie eine Seifenblase platzt! Sind Sie anderer Meinung?“ „Ich muß erst alle Materialien aufmerksam studieren“, antwortete Paulus zurückhaltend. „Das Kriegshandwerk verlangt eine nüchterne, kühle Beurteilung. Wir dürfen die Kräfte des Gegners nicht unterschätzen. Das lehrt uns die Kriegsgeschichte.“ Kaum hatte Paulus das gesagt, bedauerte er es auch schon. Warum sich in unnütze Diskussionen einlassen? Halder, den die Idee des strategischen Plans begeisterte, wandte lebhaft ein:
„Die Kriegsgeschichte wird ständig durch neue Erfahrungen bereichert. Den Feldzug in Rußland wird man noch in Jahrhunderten als klassisches Beispiel der Kriegskunst studieren. Wir beide müssen alle Einzelheiten der Ausarbeitung des Plans ,Barbarossa’ festhalten. Die späteren deutschen Strategen werden uns dafür danken.“ Paulus leitete das Gespräch auf die technischen Dinge über, die bei der Aufstellung des Plans zu beachten waren. Er fragte Halder: „Was für Abschirmungsmaßnahmen sind zur Sicherung des Plans in Aussicht genommen?“ „Abschirmungsmaßnahmen?“ Halder lachte. Die Frage kam ihm naiv vor. „Keine! Darin liegt ja gerade die Genialität, das strategisch Neue. Wir zerschlagen die russischen Truppen, kesseln sie ein und vernichten sie gleich zu Beginn des Feldzugs, dicht hinter der Grenze. Dann stoßen unsere Panzerkolonnen in die Weite des russischen Raumes vor. Wir werden Moskau und Leningrad erobern, den Nordkaukasus mit seinen Ölquellen besetzen und die Linie Archangelsk-Astrachan erreichen. Sie haben die Frage richtig gestellt, aber ,Barbarossa’ bedarf keiner Defensivmaßnahmen. Nur Angriff, nur Zusammenfassung aller Kräfte für den von uns zu führenden Schlag! Siegen wird der, der als erster losschlägt. Hat Sie die Erfahrung der schnellen Feldzüge in Polen, Frankreich und schließlich auch in der Tschechei noch immer nicht überzeugt? Ich hatte früher auch Bedenken, aber der Führer hat sie in den letzten anderthalb Jahren zerstreut. Die Situation ist für uns günstig, die Russen wähnen sich durch den Nichtangriffspakt in Sicherheit.“ Halder, sonst zurückhaltend und pedantisch, war nicht wie-
derzuerkennen. Sein Gesicht hatte sich gerötet, er stand ganz im Banne des einzigartigen Plans. Und je länger er über diesen Plan sprach, desto mehr erwärmte sich auch Paulus dafür. Wen von den Berufsmilitärs hätte der grandiose Plan des russischen Feldzugs nicht begeistert? Vielleicht mußten die alten strategischen Grundsätze wirklich überprüft werden? Polen und Frankreich hatten viele Vorstellungen über den Haufen geworfen. „Wer befaßt sich eigentlich praktisch mit der Ausarbeitung?“ Der Oberquartiermeister wollte wissen, mit wem er zusammenarbeiten mußte. „Oh, das klingt geradezu paradox! Kennen Sie Generalmajor Marcks, den Stabschef des Generalobersten von Küchler? Beinahe ein Namensvetter jenes Marx, den die Bolschewisten zu ihrem Heiligen erhoben haben. Unser Marcks wird ihnen andere Ideen vermitteln.“ Halder lachte. „Außerdem ist Oberst Heusinger aus der operativen Abteilung an der Vorbereitung von ,Barbarossa’ beteiligt. Er berechtigt zu großen Hoffnungen. Ferner Warlimont nebst zwei, drei anderen. Ich werde Sie mit ihnen bekanntmachen. Ihre Rolle habe ich mir folgendermaßen gedacht. Sie analysieren die Möglichkeit von Angriffsoperationen entsprechend der Maßgabe, daß uns hundertdreißig bis hundertvierzig Divisionen zur Verfügung stehen. Nötigenfalls können Sie mit zweihundert rechnen. Wir werden vom Westen alles abziehen, bis auf den letzten Mann. Außerdem können wir auf Finnland, Rumänien und Ungarn zählen… Mit Mannerheim und Antonescu ist schon alles vereinbart. Für den Krieg in Rußland mobilisieren wir alle Männer Europas, selbst solche, die keine Waffen tragen können.“
Die Unterredung näherte sich ihrem Ende. Halder gab dem Oberquartiermeister noch einen weiteren Auftrag. Es würde bald so weit sein, daß Millionen Soldaten, Munition, Proviant und Waffen in Tausenden Zügen vom Westen nach dem Osten geworfen werden mußten. Damit solle sich Paulus befassen. Man dürfe nicht warten, bis der Plan „Barbarossa“ endgültig bestätigt war. „Ich möchte mich nicht in Ihre Obliegenheiten einmischen“, schloß Halder seine Ausführungen, „aber denken Sie daran, daß die Munitionsdepots und sonstigen Lager möglichst dicht an die Grenze heranzubringen sind. Die Divisionen und Armeen hingegen sollten Sie zwei- bis dreihundert Kilometer von der Grenze entfernt halten. Nehmen Sie häufig lokale Umgruppierungen vor. Täuschen Sie die russische Spionage. Offiziell betreiben wir die Invasion in England. Die Operation ,Seelöwe’ wird uns helfen, die nötigen Kräfte unbemerkt an der Ostgrenze zu konzentrieren.“ Paulus wollte noch genauere Aufklärung haben. „Würden die an der Grenze errichteten Depots und Lager nicht von einem plötzlichen Überfall der Russen bedroht sein? Wir könnten dadurch große Materialverluste erleiden.“ „Nein.“ Halder winkte unbekümmert ab. „Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Krebs, unser Militärattache in Moskau, hat mitgeteilt, daß die Russen an keine militärische Auseinandersetzung denken. Ihnen stehen sieben bis acht Monate zur Verfügung. Der Führer hat angeordnet, den Feldzug zum Mai nächsten Jahres vorzubereiten. Wie Sie sehen, haben Sie nicht allzuviel Zeit. Übers Jahr werden wir beide in Moskau sein. Reizt Sie eine solche Aussicht nicht?“ Die ganzen folgenden Wochen hindurch kam der neue Ober-
quartiermeister fast nicht aus Wünsdorf heraus. Die ihm übertragenen Aufgaben fesselten ihn. Zwar hatte der erste überwältigende Eindruck, dem er bei der Besprechung mit Halder erlegen war, einer kühleren, verstandesmäßigen Einstellung Platz gemacht, aber dennoch begeisterten ihn die gewaltigen Maßstäbe der Vorbereitung des russischen Feldzuges. Die Arbeit war für den Oberquartiermeister von großem beruflichem Interesse. „Nun! Was sagen Sie dazu!“ Mussolini überreichte Ciano triumphierend den Heeresbericht aus Libyen. „Endlich leisten die Engländer Widerstand. Aber wir schlagen sie. Die italienischen Aktien steigen.“ Seitdem Mussolini den Oberbefehl hatte, sah man ihn nur noch in Uniform. Er freute sich darüber wie ein kleiner Junge, dem man einen vergoldeten Tschako und Sporen zum Spielen geschenkt hat. „Ich bin sehr froh, daß Sie so guter Laune sind, Duce“, sagte Ciano ehrerbietig. „Es sind in der Tat ausgezeichnete Nachrichten.“ Die Unterhaltung fand in Mussolinis Arbeitszimmer im Palazzo Venezia statt. Der Duce wanderte im Zimmer auf und ab, blieb vor dem aufgeschlagenen Atlas stehen und nahm von neuem seine Wanderung auf dem Teppich auf, der seine Schritte dämpfte. „Wir haben in Nordafrika eine vierfache Kräfteüberlegenheit: zweihunderttausend Mann gegen fünfzigtausend – über mehr verfügen die Engländer nicht. Also können wir uns doch wohl den Luxus erlauben, einen kleinen Teil unserer Truppen bei Marsa Matruk zu verlieren? Ich bin kein Freund von
leichten Siegen. Unsere Verluste sind ein hoher Trumpf in unserer Hand, wenn wir uns mit Hitler am runden Tisch zusammensetzen. Dann wird er nicht mehr sagen können, wir hätten keinen Beitrag zum gemeinsamen Sieg geleistet. So stehen die Dinge, mein lieber Ciano!“ Die Mitte September gegen Ägypten begonnene Offensive entwickelte sich in der Tat erfolgreich. Mussolini hatte sie trotz der Einwendungen, ja sogar trotz des Widerstandes einiger Generale unternommen, die auf die Länge der Verbindungswege und die Schwierigkeiten für die Versorgung hinwiesen. Auf die Einwände Marschall Grazianis entgegnete Mussolini: „Ich habe Ihnen eine exzellente Straße von Tripolis durch die Kyrenaika nach Ägypten gebaut. Machen Sie jetzt Gebrauch davon. Ich brauche den Sueskanal, ich kann nicht länger warten.“ Dem fügte er noch hinzu: „Meine Straße liegt wie eine Halskette auf der Brust des schwarzen Afrikas. Als Perlen sind auf ihr militärische Depots und Garnisonen aufgereiht. Ich werde die Kette der Siegesgöttin schenken.“ Die letzten Sätze gefielen Mussolini, er wiederholte sie mehrmals in seinen Gesprächen mit Ciano und auf den Sitzungen des Kriegsrats. Mussolini behielt recht. In kurzer Zeit legten die italienischen Truppen die halbe Wegstrecke nach Kairo zurück. Einzelne Mißerfolge zählten nicht. Sogar dem Tod Balbos, des Generalgouverneurs von Libyen, maß Mussolini keine große Bedeutung bei. Balbo hatten die eigenen Flakbatterien bei Tobruk abgeschossen. Bei Gelegenheit würde er, Mussolini, zu Hitler sagen: „Balbo starb den Heldentod für den Sieg.“ Ein äußerst talentierter General. Jetzt war der Stahlpakt durch
Blut besiegelt. Mussolini brachte das Gespräch auf die Beziehungen zu Hitler. Ebendeshalb hatte er den Schwiegersohn zu sich gebeten. „Unsere Erfolge haben Hitler in die Schranken gewiesen. Endlich habe ich es erreicht, daß er mit mir nicht mehr in dem geringschätzigen Ton spricht, als sei ich sein Juniorpartner. Jetzt bittet er selbst, daß wir uns an den Bombenangriffen auf London beteiligen. Das Blatt hat sich gewendet, nunmehr braucht Hitler unsere Hilfe.“ „Verzeihung, Duce, ich zweifle ein wenig an der Aufrichtigkeit der Deutschen“, entgegnete Ciano vorsichtig. Er wollte seinem Schwiegervater nicht widersprechen, hielt es aber für notwendig, in diesem Punkt Klarheit zu schaffen. „Vor zwei Monaten lehnte Hitler es noch ab, mit uns gemeinsam Angriffe gegen London zu fliegen, und jetzt fordert er italienische Flugzeuge an. Haben Sie auch den Eindruck, Duce, die Deutschen wollten sich auf unsere Kosten schadlos halten? Hitler will im Westen freie Hand bekommen, um sich mit Rußland befassen zu können. Er will seine Kräfte schonen und mit unserer Hilfe den Schein eines ernsthaften Kampfes gegen Britannien aufrechterhalten.“ „Ich bin fest davon überzeugt, daß es sich so verhält!“ antwortete Mussolini lebhaft. „Aber das ist ganz gleich. Mich wird er nicht an der Nase herumführen. Hitler stellt mich immer vor vollendete Tatsachen. Diesmal werde ich ihm mit gleicher Münze heimzahlen: Er wird aus den Zeitungen erfahren, daß ich in Griechenland einmarschiert bin, genauso wie wir von der Besetzung Rumäniens durch deutsche Truppen erst aus den Zeitungen erfuhren. Die Hauptsache ist, er bekommt von unseren Plänen nicht vorher Wind. Andernfalls
wird er uns wieder zu überreden suchen, wir sollten ihm nicht sein Spiel verderben.“ Ciano stimmte dem zu, dennoch bedrückte ihn etwas. Er sagte: „Das stimmt alles, aber den Deutschen ist leider bereits vieles bekannt. Ribbentrop wollte mir einreden, daß unsere Aktion auf dem Balkan in eine unpassende Zeit fiele.“ „Wenn die Dinge so liegen, dann werden wir ihnen zuvorkommen. Machen wir uns Hitlers Abwesenheit von Berlin zunutze! Bleibt er lange in Frankreich?“ „Wie Attolico aus Berlin berichtet, will er sich mit Franco und anschließend mit Petain treffen. Dazu dürfte er eine Woche benötigen.“ „Dann lassen Sie uns sofort beginnen. Von mir aus schon am Donnerstag. Ich habe Marschall Badoglio herbestellt. Er wird bald hier sein. Sehen Sie, was ich ihm vorgeschlagen habe.“ Mussolini blieb vor dem Atlas stehen, in dem die Karte Griechenlands aufgeschlagen war. Cianos Blick fiel auf das Saffianlesezeichen mit dem eingeprägten Monogramm, das er seinem Schwiegervater zum Geburtstag geschenkt hatte. Es stak zur Hälfte aus einer anderen Seite in dem Atlas hervor, „Es liegt auf der Karte von Ägypten“, sagte Mussolini, der den Blick Cianos auf gefangen hatte. „Ich werde wohl bald einen zweiten Atlas brauchen, um die nötigen Karten gleichzeitig aufgeschlagen halten zu können. Vorläufig bediene ich mich gern Ihres kleinen Geschenks.“ Mussolini lachte. Marschall Badoglio erschien, ein Mann nahe der siebzig, mit noch ausgezeichneter militärischer Haltung. Er war mißgelaunt und unzufrieden. Finster hörte er Mussolini zu, der ihm die bevorstehenden Kriegshandlungen begeistert ausmalte.
„Auf diese Weise“, schloß der Duce, „werden keine zwei Wochen vergehen, und die Welt wird zur Kenntnis nehmen müssen, daß Griechenland nicht mehr existiert. Sind Sie etwa anderer Meinung, Marschall Badoglio?“ „Leider“, sagte der Generalstabschef zögernd, als suche er nach Worten, „leider ist nicht alles so, wie wir es wünschen.“ „Was wollen Sie damit sagen?“ fragte Mussolini argwöhnisch. „Wir verfügen im ganzen über fünf Divisionen.“ Wieder zögerte Badoglio. „Während die Griechen neunundzwanzig besitzen.“ „Na und? Um so effektvoller wird der Sieg sein. Sie vergessen das Überraschungsmoment!“ Marschall Badoglio schien den pathetischen Ausruf Mussolinis überhört zu haben. „Ich möchte Ihnen mitteilen, Duce, daß die Stabschefs der See- und Luftstreitkräfte derselben Meinung sind wie ich. Auf den Krieg mit Griechenland sind wir noch nicht vorbereitet.“ „Immer die alte Leier!“ Ärgerlich verzog Mussolini das ausdrucksvolle Gesicht. „Ich kenne Sie nicht wieder, Marschall Badoglio! In Äthiopien waren Sie ein ganz anderer Kerl.“ Badoglio entgegnete ihm: „Dort lagen die Dinge auch anders, wir besaßen die absolute Überlegenheit. Die Eingeborenen kämpften gegen uns mit Steinschloßflinten… Vielleicht sollte die Frage vorher auf dem Großen Faschistischen Rat behandelt werden. Zudem ist die Finanzlage des Landes angespannt. Woher nehmen wir das Geld?“ Mussolini brauste auf:
„Gehen Sie mir mit Ihrem Faschistischen Rat! Ich bin Ihr oberster Rat! Nehmen Sie zur Kenntnis, daß die Finanzen einen Staat nie erschüttern können. Die Reiche zerfallen nur durch militärische Niederlagen oder innere politische Labilität. Davon sind wir nicht bedroht… Wir beginnen mit den Kriegshandlungen am Donnerstag. So lautet mein Befehl.“ „Demnach sogar vor dem festgesetzten Zeitpunkt?“ „Jawohl!“ Mussolini wandte sich schroff von seinem Gegenüber ab. Ohne anzuklopfen, betrat Claretta Petacci das Zimmer. Die Unterhaltung stockte. „Ich habe doch nicht etwa gestört, Duce?“ „Nein, nein, durchaus nicht!“ Mussolinis Gesicht zerfloß in einem Lächeln. „Sie wollen auf die Jagd?“ „Ja. Wie gefalle ich Ihnen in diesem Kostüm?“ „Großartig! Sie sehen wie Diana aus, Signora Petacci! Sie gehörten in ihren Tempel nach Capua. Gestatten Sie mir, Ihr Waldfürst zu sein?“ Mussolini schmeichelte seiner Geliebten ganz ungeniert. In dem Jagdwams, dem Tiroler Hütchen und dem kurzen Rock, der die hübschen Beine frei ließ, sah Claretta sehr attraktiv und jugendlich aus. Sich kokett hin und her wiegend, führte sie ihr Jagdkleid vor. „Lieber Marschall, verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen den Duce entführe. Man darf sich nicht nur in die Regierungsgeschäfte vergraben. Wollen Sie mich nicht zur Jagd begleiten, Duce?“ „Aber selbstverständlich! Wir sind überdies mit unseren Angelegenheiten bereits fertig. Sie geben also den Befehl zum Losschlagen, Marschall Badoglio. Mein Entschluß ist endgül-
tig und unabänderlich.“ Damit war der Krieg gegen Griechenland eine beschlossene Sache. Am 28. Oktober 1940 fielen die italienischen Truppen in Griechenland ein. Jedesmal, wenn der deutsche Reichskanzler von einer fixen Idee befallen war, suchte er die Einsamkeit. Und stieß er in diesem Zustand auch nur auf leise Einwände oder unvermutete Hindernisse, dann bekam er Tobsuchtsanfälle. Hitler hatte das Dilettantentum zum Prinzip erhoben. Er war überzeugt, nur Menschen, die von überflüssigen Kenntnissen unbeschwert sind, könnten originelle Ideen hervorbringen. Zu dieser Kategorie zählte er auch sich selbst. Er bekundete eine erstaunliche Verachtung der Wissenschaft, Kunst, Moral und alles dessen, was vom Standpunkt des wild gewordenen Spießers den Gedankenflug des Übermenschen behindern könnte… Der Reichskanzler frohlockte, war es ihm doch gelungen, unter Verwendung einer an der Wand des Salonwagens hängenden einfachen Touristenkarte mit wenigen Strichen den Plan der Eroberung Gibraltars zu entwerfen. Das begab sich auf der Reise nach dem an der französischspanischen Grenze gelegenen Dorf Hendaye. Hitler fuhr dorthin zu einer Begegnung mit dem spanischen Diktator General Franco. Hitlers militärischer Berater Jodl und der Stabschef des OKW, Keitel, verließen schockiert den Salonwagen. Daß Hitler einen strategischen Plan auf einer profanen Touristenkarte skizziert hatte, war ihnen nun doch zu viel, obwohl sie ihm laut zugestimmt hatten.
„Ich schlage Ihnen nur die Idee vor“, hatte Hitler, mit dem Bleistift in der Hand auf und ab gehend, gesagt. „Für mich ist maßgebend, daß ich Gibraltar brauche. Wie es zu erobern ist – darüber müssen Sie sich den Kopf zerbrechen. Vieles habe ich persönlich berechnet, für Sie bleiben nur die Einzelheiten übrig. Zur Truppenverschiebung sind drei Monate erforderlich. Der Übergang über die französisch-spanische Grenze wird achtunddreißig Tage vor dem Angriff erfolgen. Der britische Schlüssel zum Mittelmeer muß in meiner Tasche stekken. Konkrete Termine nenne ich nach dem Treffen mit Franco. Es wird wahrscheinlich schon heute stattfinden. Das ist alles!“ Hitler neigte den Kopf, womit er zu verstehen gab, daß die Besprechung beendet sei. Er sah den sich entfernenden Generalen nach, wandte sich zu Heß um und lachte. „Nun, wie gefällt dir das? Jetzt haben meine Umstandskrämer etwas zu tun bekommen! Anscheinend hat sie mein Plan wieder aus dem Konzept gebracht.“ Hitler nahm auf dem Sofa Platz und schlug sich gut gelaunt auf den Oberschenkel. „Das ist genial, mein Führer! Wie immer kühn und überraschend.“ Heß sah Hitler mit seinen glühenden, tiefliegenden Augen an. Dichte, überhängende Brauen verbargen seinen Blick. Hitler hielt seinen Stellvertreter für den ihm am meisten ergebenen Menschen. Sie waren jetzt zu zweit in dem Salonwagen. „Die Hauptsache ist, eine Idee vorzuschlagen“, sagte Hitler selbstzufrieden. „Wer könnte das besser als ich? Hier ist ein Vorrat von Ideen drin, der für lange Zeit reicht.“ Der Reichskanzler tippte sich mit den Fingerspitzen an die schweißige
Stirn, über der eine struppige Haarsträhne hing. Dem prahlerisch-pathetischen Ton Hitlers angepaßt, erwiderte Heß: „Ja, mein Führer, es ist ein Glück, daß Sie an der Spitze des Dritten Reichs stehen. Ein großes Glück. Ich denke noch an Ihre Ideen in den ersten Jahren unserer nationalsozialistischen Bewegung…“ „Halt, halt!“ unterbrach ihn Hitler, sonst kein Feind derartiger Gespräche. „Ich habe jetzt keine Zeit für gefühlvolle Erinnerungen. Mich beschäftigt etwas anderes. Nur zu dir kann ich offen sein.“ Warum Hitler so sprach, war vorerst nicht ersichtlich. Bis an sein Lebensende vertraute er niemand, keinem Menschen und wurde mit den Jahren immer argwöhnischer. Aber im Moment brauchte er Heß: Nur er konnte seinen Plan ausführen. Davon hing viel für ihn ab. „Was ich den Generalen sagte“, fuhr Hitler fort, „war nur die halbe Wahrheit. Gibraltar ist nicht alles. Ich brauche es, um den britischen Starrsinn zu brechen. Mit dem Schlüssel Gibraltar zwinge ich Churchill schneller in die Knie. Und dann“ – Hitler hob träumerisch die Augen –, „dann werde ich mit voller Sicherheit gegen den Osten marschieren – nach Moskau, in die Ukraine, in das Donezbecken… Wenn ich mit Rußland fertig bin, werde ich ein Expeditionskorps über Transkaukasien an den Persischen Golf werfen und Indien, den Nahen Osten, Ägypten erobern… Ich weiß, auf Ägypten hat es Mussolini abgesehen. Aber er kann die Nuß nicht knacken, die ihm das Schicksal vor die Füße geworfen hat. Allein wird Mussolini in Nordafrika nichts ausrichten. Wir werden ihm helfen und uns Ägypten einstecken.“ „Auf dem Weg nach Ägypten liegt auch die Türkei. Wenn
nun…“ „Die Türken werden sich auf unsere Seite stellen“, entgegnete Hitler überzeugt. „Und wenn sie es nicht tun, haben sie sich alles Weitere selber zuzuschreiben. Den Vorstoß nach Süden werden wir durch Anatolien vortragen, und sei es gegen den Willen der Türken. Ich habe alles eingeplant. Den Generalen gebe ich höchstens hundertfünfundvierzig Tage zur Durchführung der gesamten Operation. Ich muß Zeit einsparen, um den Tag, an dem das großdeutsche Reich über die Welt herrscht, schneller herbeizuführen. Dann werde ich der Beherrscher der Welt sein. Ich allein! Aber zuvor muß ich mit Rußland fertig werden…“ In den letzten Monaten beherrschte Hitler nur noch der Gedanke, wie er Sowjetrußland niederwerfen könnte. Alles übrige, auch Gibraltar und die Luftangriffe auf die britische Insel, spielten nur eine untergeordnete Rolle. Das weitere Gespräch mit Heß stand ebenfalls in direkter Beziehung zu Rußland. Wie zufällig fragte Hitler: „Sag mal, hast du endlich etwas unternommen, um mit den Briten, mit Hamilton oder sonst jemand, zusammenzukommen?“ Hitler hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, den Krieg mit England auf dem Wege diplomatischer Verhandlungen zu beenden. „Ja, mein Führer, ich habe Ihnen bereits von dem Brief erzählt, den ich durch den Prinzen Hohenlohe nach Schottland geschickt habe.“ „Und weiter?“ „Die Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen, daß die Zusammenkunft irgendwo in Portugal stattfindet. Vielleicht auch in
der Schweiz. Der geeignetste Ort wäre vielleicht Zürich.“ „So, so, in der Schweiz oder in Portugal… Hör mal zu, Heß“, Hitler hielt inne, als sei ihm eben ein Gedanke gekommen. „Wenn du nun aber… Ja… Ja, ja! Wenn du dich nun selbst nach England begibst? Nicht nach Zürich, nicht nach Lissabon, sondern direkt nach England…“ „Entschuldigen Sie, mein Führer, ich verstehe Sie nicht. Wir befinden uns doch im Krieg.“ „Das stimmt zwar, aber gesetzt den Fall, du würdest dich mit mir überwerfen und aus Deutschland fliehen. Heimlich in ein Flugzeug steigen und starten. Landen könntest du dann auf dem in der Nähe von Glasgow liegenden Gut des bewußten Herzogs Hamilton. Für den Hinflug reicht der Treibstoff in der Messerschmitt-Maschine allemal, ja, und für eine Rückkehr brauchst du das Flugzeug ohnedies nicht mehr. Nach den Verhandlungen werden dich die Engländer mit Pomp zurückgeleiten, als wärst du der Friedensengel in eigener Person. Ein Waffenstillstand ist ihr sehnlichster Wunsch. Wie gefällt dir mein Plan? Verhandlungen ohne Vermittler. Aber“ – Hitler hob warnend die Hand – „davon darf vorläufig niemand außer uns beiden etwas wissen. Niemand! Du kannst dich darauf verlassen, das ist eine großartige Sache, die wir da vorhaben! Denk mal darüber nach und gib Hamilton neue Nachricht. Und dann natürlich, mach zunächst ein paar Übungsflüge. Du warst doch früher Flieger.“ „Ja, mein Führer, ich werde alles so machen, wie Sie gesagt haben.“ Heß wußte sehr wohl, daß es keinen Sinn hatte, Hitler zu widersprechen. Aber die Aussicht, unter Flakbeschuß nach England zu fliegen, war nicht gerade verlockend. Die englischen
Flakkanoniere würden sich nicht denken können, warum ein feindliches Flugzeug zu ihnen geflogen kam. Ja, der Vorschlag – übrigens wußte Heß sehr wohl, daß es kein Vorschlag, sondern ein Befehl war – traf ihn wie ein Schneeball mitten im heißen Sommer. Allein schon bei dem Gedanken, daß ihm ein solcher Flug bevorstand, stieg ein unangenehmes Gefühl in ihm hoch, ähnlich wie Sodbrennen. Gott sei Dank bemerkte der Führer nichts. „Ich wußte immer, daß du mir ergeben bist“, sagte Hitler. „Leider kann ich mich nicht auf viele verlassen. Also, ans Werk! Wenn du eine Zusammenkunft vereinbart hast, werden wir alles Nähere besprechen. Und nun wenden wir uns wieder Gibraltar zu. Ich habe dieser Operation den Decknamen ,Felix’ gegeben.“ Wegen „Felix“ hatte Hitler die Reise nach Hendaye unternommen, um mit Franco eine entsprechende Übereinkunft zu treffen. „Ich glaube, es wird nicht schwer sein, den Caudillo zu überreden.“ Heß war zufrieden, daß das Gespräch auf ein anderes Thema überwechselte. Dadurch fand er Zeit nachzudenken. Mit übertriebenem Eifer ging er auf das Gibraltarproblem ein. „Ohne die Spanier“, sagte er, „wird es schwierig sein, die Festung zu erobern.“ „Natürlich muß Franco in den Krieg eintreten. Die Madrider Kaulquappe ist uns sehr verpflichtet.“ Hitler genierte sich nicht, seine Satelliten mit verächtlichen Ausdrücken zu belegen. „Wenn ich nicht gewesen wäre, hätten ihm die Kommunisten schon längst einen Tritt in den Hintern gegeben, der ihn aus Spanien hinausbefördert hätte. Ich werde ihm ein paar
Brosamen versprechen. Versprechungen kosten mich nichts.“ Der Reichskanzler warf einen Blick auf die Uhr. „Der Caudillo wartet wahrscheinlich schon auf uns in Hendaye.“ Heß sah ebenfalls auf die Uhr. „Jawohl, in etwa zwei Stunden werden wir da sein.“ „Dann haben wir also noch Zeit, eine Tasse Kaffee zu trinken.“ Unterdessen durchquerte der Panzerzug – eine mit Maschinengewehren und Schnellfeuergeschützen gespickte Festung – Südfrankreich. Er näherte sich der spanischen Grenze. Himmler hatte sich nicht auf die Festigkeit der Panzerplatten und die Feuerkraft der fahrenden Festung verlassen, sondern für einen zuverlässigeren Schutz Sorge getragen. In einem besiegten Land muß man auf allerlei unliebsame Zwischenfälle gefaßt sein. Auf der ganzen Strecke von München nach Hendaye standen alle zweihundert Meter deutsche Doppelposten. Zu diesem Zweck waren viele Truppen aus ganz Frankreich abgezogen worden. Der Zug lief in Hendaye auf einem leeren Bahnsteig ein. In seiner Mitte war die gedrungene Gestalt des spanischen Diktators zu sehen, der eine pompöse, operettenhafte Uniform trug. Das Gefolge des Caudillos hielt sich in einiger Entfernung ehrerbietig hinter ihm. Franco wollte mit niemand die Ehre teilen, als erster den mächtigen Bundesgenossen zu begrüßen. Aufgeblasen, von nicht großem Wuchs, mit dicken Hängebacken, wirkte er in seinem theatralischen Aufzug reichlich komisch. Der Zug hielt kaum, da umklammerte Franco auch schon die Griffstangen und schwang sich das hohe Trittbrett des Wa-
gens hinauf. Hitler beobachtete ihn vom Fenster aus durch den Spalt im Vorhang. „Wie ein Gepäckträger stürzt er in den Wagen“, sagte er, verächtlich die Lippen verziehend. „So einen braucht man nicht einmal erst zu überreden, den braucht man nur für kleine Dienste zu bezahlen.“ Aber es kam anders. Die Begegnung mit Hitler fand in seinem Salonwagen statt. Daselbst begann man auch die Besprechungen. Zunächst lauschte Franco aufmerksam dem ausgedehnten Monolog Hitlers. Ein-, zweimal versuchte er eine Bemerkung einzuflechten, aber Hitler unterbrach ihn und ließ ihn nicht zu Wort kommen. Danach starrte der Caudillo auf das polierte Sesselbein und hörte stillschweigend zu. Seine einstündige Rede schloß der deutsche Reichskanzler mit den Worten: „Das ist alles, was ich sagen wollte. Unsere Länder sind durch dieselben Ziele, durch dieselben Ideen verbunden. Hoffentlich ist alles klar und Sie haben keine Fragen mehr. Über die praktische Seite der Sache können sich unsere Stabsoffiziere ins Benehmen setzen. Daran brauchen wir beide keine Zeit zu verschwenden.“ Die Beteiligung Spaniens an dem Gibraltarunternehmen hielt Hitler für eine beschlossene Sache. Aber Franco fragte vorsichtig: „Sagen Sie bitte, demnach müssen wir also den Engländern den Krieg erklären?“ „Das ist eine diplomatische Formalität. Darauf kann man in unserer Zeit verzichten.“ „Aber de facto würden wir uns im Kriegszustand befinden?“
Franco bestand hartnäckig auf eine klare Antwort. „Wenn Sie wollen, ja. Was spielt das schon für eine Rolle?“ „Ja, sehen Sie, wir sind auf den Krieg noch nicht vorbereitet. Wer gibt uns die Garantie, daß wir keine materiellen Verluste erleiden? Von den etwaigen Opfern an Menschenleben schon ganz zu schweigen. Ich möchte wissen, weswegen Spanien ein solches Risiko eingehen sollte.“ „Von einem Risiko kann hier keine Rede sein. Ich verfüge über so starke militärische Kräfte, daß es mit Gibraltar in einigen Tagen aus ist. Nach dem Krieg werden Sie das erhalten, woran Sie interessiert sind.“ „Sehen Sie“ – Franco sprach, den Blick nach wie vor auf das Sesselbein gerichtet –, „wenn ich mich einmal kommerziell ausdrücken darf: Wir brauchen reale Garantien.“ „Wollen Sie damit sagen – einen Wechsel?“ Hitler geriet in Wut, beherrschte sich aber mit aller Kraft. „Wechsel ist nicht das richtige Wort“, antwortete Franco sanft und gelassen. „Eher schon Pfandbrief. Vor allem brauchen wir Lebensmittel und Waffen. Ich geniere mich nicht, Ihnen zu sagen, daß wir sowohl an dem einen wie an dem anderen Mangel leiden. Und dann müssen wir natürlich über Algerien sprechen. Wie denken Sie über unsere Ansprüche in Nordafrika? Algerien und Marokko müssen spanisch werden.“ Man handelte. Franco feilschte wie ein Madrider Markthändler. Hitler verlor die Selbstbeherrschung, unterbrach dreimal die Beratung und ging wütend zur Ausgangstür, kehrte aber jedesmal wieder um. Es war nichts zu machen, der Plan „Felix“ würde wegen des Starrsinns dieses Dreckkerls scheitern… Was wolle Franco eigentlich noch? Er, der
Führer des Großdeutscheu Reiches, habe doch bereits zugestimmt, Waffen und Proviant zu liefern. Schon morgen könnten die Lieferungen beginnen. Er habe weiter versprochen, die territorialen Ansprüche Spaniens zu unterstützen, habe sich mit Algerien und Marokko einverstanden erklärt und sein Ehrenwort gegeben, daß es so und nicht anders sein würde. Aber zuerst solle Franco in den Krieg eintreten. Heute könne er ihm Algerien nun einmal nicht geben, es gehöre den Franzosen. Man müsse sich eine Weile gedulden. Er hoffe, daß der Caudillo ihn verstehe. Mit Frankreich sei doch ein Waffenstillstand geschlossen. Franco pflichtete ihm bei. Ja, er verstehe ihn, aber er brauche Garantien. Riskieren könne er nichts. Die Verhandlungen dauerten bis in die tiefe Nacht, sie endeten um drei Uhr früh. Hitler gelang es nicht, Franco umzustimmen. Der Caudillo erklärte sich lediglich einverstanden, alles zu überdenken und ihm so bald wie möglich zu antworten. Man einigte sich schließlich auf ein nichtssagendes Kommunique und trennte sich dann. Noch in derselben Nacht brauste Hitlers Zug wieder nach Norden. Er fuhr nach Montoire an der Loire, wohin der deutsche Reichskanzler den greisen Petain und Laval aus Vichy beordert hatte, die nach der Kapitulation an der Spitze der französischen Regierung standen. Mit denen brauchte man nicht viel Umstände zu machen – die hatten zu gehorchen. Zum Frühstück erschien Hitler mit grauem Gesicht und bleifarbenen Flecken unter den Augen. Die Aufregungen und det entbehrte Schlaf der verflossenen Nacht waren an ihm nicht spurlos vorübergegangen. Bei Tisch versuchten alle, ihn aufzuheitern. Am meisten be-
mühte sich Göring. Als die Rede auf Petain kam, wiederholte Göring, ohne es zu ahnen, einen ironischen Geistesblitz von Churchill: „Es ist das Schicksal der Marschälle, Ihnen die Macht zu übergeben, teurer Führer. In Deutschland Hindenburg, in Frankreich Petain…“ Hitler reagierte darauf mit einem wohlwollenden Lächeln. Der Ausspruch gefiel ihm. Er fragte: „Und Churchill hat nicht den Marschallsrang? Auch er wird kuschen müssen. Was meinst du, Heß?“ Hitler sah Heß vielsagend an. Der deutsche Reichskanzler ließ seine schlechte Laune an den Franzosen aus. Petain und Laval erschienen im Salonwagen als Bittsteller. Hitler erklärte ihnen sogleich, daß ihm für die Unterredung nur beschränkte Zeit zur Verfügung stehe. Er wollte damit die beiden demütigen und sich an seiner Macht laben. Tatsächlich mußte die Unterredung unvorhergesehener Umstände halber abgebrochen werden. Mitten in der Besprechung trat Keitel in den Salonwagen. Er beugte sich zu Hitler und flüsterte ihm ins Ohr: „Entschuldigen Sie, mein Führer, aus Rom ist soeben eine wichtige Meldung eingegangen: Mussolini hat beschlossen, Griechenland zu besetzen.“ „Was? Schon wieder kommt mir dieser Strohkopf in die Quere!“ Hitler hatte nicht an die vor ihm sitzenden Franzosen gedacht. Wie konnten ihm nur diese Worte entschlüpfen! Er blickte auf: Ob sie erraten hatten, von wem die Rede war? Aber die beiden saßen ruhig da, in achtungsvoller Haltung. Hitler wandte sich an Petain:
„Entschuldigen Sie, aber wichtigere Dinge zwingen mich, die Besprechung abzubrechen. Ich hoffe, wir werden sie später fortsetzen.“ Die Franzosen erhoben sich. „Gewiß, gewiß! Wir können auch später weitersprechen, Monsieur Führer.“ Sich verneigend, ging Laval rückwärts zur Tür. Herablassend hatte ihnen Hitler die Hand gereicht. Auf dem Bahnsteig sahen Laval und Petain einander an. Sie begriffen nicht, warum man sie so schnell vor die Tür gesetzt hatte. Wann würde das Gespräch fortgesetzt werden? Sie gingen zu den Autos, die hinter dem Bahnhof standen. Eiligen Schrittes überholte sie Feldmarschall Keitel. Sein Adjutant begleitete ihn. Keitel blickte sich suchend nach allen Seiten um – unter den Platanen, die bereits kahl wurden, standen nur zwei französische Regierungsautos. Ohne Zögern setzte sich Keitel in den ersten Wagen – es war der von Laval. Laval legte die Hand auf den Türgriff. „Entschuldigen Sie, meine Herren“, sagte Keitel, grob witzelnd. „Ich muß vorübergehend Ihre Limousine beschlagnahmen, obwohl der Krieg bereits aus ist.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, rief er dem Fahrer zu: „Zum Flugplatz! Schnell!“ Der Wagen verschwand hinter einer Kurve. Als die Franzosen draußen waren, hatte Hitler brüsk gefragt: „Sind die Nachrichten zuverlässig?“ „Ja, mein Führer. Heute oder morgen überschreiten die italienischen Truppen die griechische Grenze. Marschall Badoglio hat den Befehl zum Angriff unterzeichnet. Das ist mir
soeben gemeldet worden.“ „Verdammt!“ Hitler zerbrach vor Wut seinen Bleistift. Er blickte auf und stieß hervor: „Unpassender hätte es überhaupt nicht sein können!“ Mit qualvoller Anstrengung überlegte er, wie er den Ereignissen auf dem Balkan zuvorkommen könne. „So. Morgen muß ich mich mit Mussolini treffen. Fliegen Sie unverzüglich nach Berlin. Bereiten Sie alle Materialien über die in Frage kommenden Gegenmaßnahmen vor. Wenn Sie es schaffen, kommen Sie nach München zu meinem Zug. Vielleicht erreichen Sie mich dort noch.“ „Soll die Zusammenkunft am Brenner stattfinden?“ fragte Keitel. „Nein. Ich fahre nach Italien. Nach dem Brenner würde Mussolini mindestens eine Woche reisen. Teilen Sie ihm mit, daß ich mich morgen mit ihm treffen muß. Und sei es in Florenz. Er soll ja nicht den Dummen spielen. Teilen Sie ihm mit – morgen in Florenz.“ Keitel flog eilends nach Berlin, während der Sonderzug Hitlers mit Volldampf den Alpen entgegenbrauste. Auf der ganzen Strecke war der sonstige Verkehr stillgelegt. Hitler fürchtete, zu spät zu kommen. Von der Schnelligkeit seiner Lokomotive hing vieles, wenn nicht alles ab. In München gelang es Keitel, Hitlers Zug zu erreichen. In der Zwischenzeit hatte er alles Notwendige erledigen können. Am nächsten Tag traf Hitler mit seinem Sonderzug in Florenz ein. Zu seiner Verwunderung konnte er unter den zu seinem Empfang erschienenen Personen Mussolini nicht entdecken. Dieser Umstand machte ihn stutzig. Der Quertreiber suchte Zeit zu gewinnen. Vom Bahnhof fuhr Hitler in die für ihn und seine Begleitung bereitgestellte Villa, aber auch dort
empfing ihn Mussolini nicht. Mussolini erschien etwa anderthalb Stunden später – er hatte absichtlich auf sich warten lassen. Er erschien hocherhobenen Hauptes, mit gewölbter Brust. Seine ganze Gestalt und der selbstbewußte Ausdruck seines Gesichts sagten: Jetzt sind wir ebenbürtig, mein teurer mir verbündeter Führer. Nach einer etwas förmlichen Begrüßung sagte Hitler: „Ich habe diese Reise unternommen, Duce, um Sie vor einem falschen Schritt zu bewahren. Unsere gemeinsamen Interessen erfordern…“ Gleich bei den ersten Worten unterbrach ihn Mussolini: „Führer, Sie sind zu spät gekommen. Die Sache läuft bereits auf vollen Touren. Unsere Truppen sind heute früh, vor wenigen Stunden, in Griechenland einmarschiert. Ich konnte Sie nicht rechtzeitig verständigen – Sie waren unterwegs.“ Und in völlig anderem Ton fragte er dann: „Waren Ihre Verhandlungen mit Franco erfolgreich? Ich hoffe, es geht ihm gut?“ „Ja, gut“, antwortete Hitler. „Er sieht nicht schlecht aus.“ Bei sich dachte er: Der Teufel soll sie holen, meine erbärmlichen Bundesgenossen! Ja, er war zu spät gekommen. Gleichwohl unternahm er noch einen Versuch, von dem er sich allerdings nicht viel versprach. „Ich hatte“, sagte er, „auf einen Gedankenaustausch vor Beginn des Konflikts mit Griechenland gerechnet. Man hätte die Operation in einer günstigeren Jahreszeit durchführen sollen. Auf jeden Fall aber erst nach den Präsidentenwahlen in den Vereinigten Staaten.“ „Rechnen Sie damit, daß an Stelle Roosevelts ein Präsident gewählt wird, der für uns annehmbarer ist? Für mich hat das im Augenblick keinerlei Bedeutung. Seien Sie unbesorgt,
Führer, mit Griechenland sind wir in einigen Tagen fertig.“ Mit innerer Schadenfreude konstatierte Mussolini, daß Hitler unzufrieden und enttäuscht war. „Meine Bersaglieri rücken erfolgreich vor, sie stoßen kaum auf Widerstand.“ „Ich habe daran gedacht, Ihnen deutsche Fallschirmtruppen anzubieten, um die Dinge zu beschleunigen.“ Hitler wollte damit retten, was vielleicht noch zu retten war. „Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen, mein Führer! Ihre Worte sind eines wahren Bundesgenossen würdig. Aber Sie brauchen Ihre Kräfte nicht zu zersplittern, wir schaffen es selbst.“ Mussolini dachte daran, daß Hitler ihm mit denselben Worten geantwortet hatte, als er ihm seinerzeit seine Unterstützung bei der Bombardierung Londons anbot. Mochte er jetzt dieselbe Pille schlucken. In Florenz hielt sich Hitler nicht auf, er kehrte sofort nach Berlin zurück. Bei dem nächsten Vortrag Keitels in der Reichskanzlei verfügte Hitler: „Bereiten Sie das Unternehmen ,Marita’ für die Besetzung Griechenlands vor. Ich bin von den militärischen Fähigkeiten Mussolinis nicht überzeugt.“ 6 In jenem Jahr fiel der Schnee in den Bergen früher als sonst. Ende Oktober, da der verhängnisvolle Angriff auf Griechenland begann, waren die Berggipfel bereits weiß wie die gestärkten Hauben der Karmeliterinnen. Sie verschmolzen mit dem trüben Himmel, an dem graue Wolkenfetzen dahinzogen. Bruno Celino hatte sich deswegen mit Giuseppe, der wie er Reservist war, gestritten. Giuseppe behauptete, die Berge
seien dem Kopfschmuck der Nonnen ähnlich, während er, Celino, ihre Farbe mit der der Soldatenunterwäsche verglich – das eine sei so grau wie das andere. Vermutlich fallen einem Vergleiche je nach der Stimmung ein. Giuseppe, der ebenfalls aus Rom stammte, war Künstler - er malte Bilder auf die Bürgersteige. Gewöhnlich stand er an der Peterskirche, wo am meisten Ausländer aufkreuzten. Dort hatte er sich zu einem Kreideschnellzeichner entwickelt, insbesondere für Porträts von Passanten. So nahm es denn auch nicht wunder, daß er, als er zum erstenmal ins Gebirge kam, über alles entzückt war und für alles hübsche Vergleiche fand. Celino seinerseits wußte bereits, wie hart das Soldatenleben sein kann. Aus Frankreich war er gerade noch mit heilen Gliedern zurückgekehrt. Wäre es nicht zum Waffenstillstand gekommen, dann hätte er dort vielleicht sein Leben gelassen. Damals hatte er gedacht, es sei mit dem Kriegspielen aus, aber Pustekuchen – nach Griechenland hatten sie ihn geschickt… Aus der Batterie mußte Giuseppe als erster daran glauben. Ein kleinkalibriges Geschoß traf ihn in den Bauch. An diesem Tag waren sie in einen Hinterhalt der Griechen geraten. Anfangs schien alles gut zu gehen. Eine ganze Woche rückten sie vor, ohne auf Widerstand zu stoßen. Natürlich froren sie, natürlich wurden sie naß, und müde waren sie auch wie geschundene Gäule, aber sie gingen vorwärts und hörten keinen Schuß. Die Unannehmlichkeiten begannen damit, daß an den neuen Stiefeln, die man den Soldaten verpaßt hatte, am dritten Tag die Nähte zu platzen begannen. Das Leder war brüchig. Die Soldaten fluchten auf die Intendantur. Es hieß, Petacci, der Bruder der Geliebten des Duce, habe Millionen
Lire daran verdient. Krepieren sollte er, wenn das stimmte! Nachts herrschte in den Bergen strenger Frost, tagsüber aber war es wärmer, und die Gebirgswege verwandelten sich in einen Brei aus Schlamm und Schnee. Dann gingen wieder starke Regenfälle nieder. Die Gebirgsbäche schwollen an, eisige Wasserläufe mußten durchwatet werden. Die Griechen hatten mit aller Gründlichkeit auf dem Rückzug die Brücken zerstört. Bei einer solchen Sachlage konnte von einer ungestümen Offensive natürlich nicht die Rede sein. Immerhin war man in einer Woche ziemlich tief in griechisches Gebiet eingedrungen. Als dann aber die Griechen zum Gegenangriff ansetzten und überraschend zuschlugen, mußten die Italiener weit schneller zurückgehen, als sie vorgerückt waren. Schließlich kam die Front zum Stehen, sie wurden in ein Feuergefecht verwickelt und strömten unter den Schlägen der griechischen Truppen von neuem zurück. Die „Schornsteinfeger“ – die Soldaten aus den Schwarzhemdenabteilungen – liefen wie besessen hin und her und drohten, die Deserteure zu erschießen. Aber alle konnte man nicht erschießen. Diesmal rissen in der Armee des Duce alle durch die Bank aus – Soldaten wie Generale. Anfang Dezember unternahmen die Griechen eine neue Offensive. Es ging das Gerücht, sie seien im Begriff, ganz Albanien zu besetzen, und bedrohten Valona. Das war bereits italienischer Besitz. In den Dezemberkämpfen traf Celino ein Granatsplitter ins Gesäß. Er konnte weder sitzen noch auf dem Rücken liegen. Wegen seiner Verwundung wurden viele Witze gerissen, aber die meisten bekam er nicht mehr zu hören, da er sich bereits auf dem Wege ins Lazarett befand.
Die Verwundeten beförderte man auf rüttelnden Bauernwagen oder in Sanitätsautos, letzteres jedoch seltener, denn die meisten Kraftfahrzeuge standen – es fehlte an Benzin. Die Soldaten suchten auf jede erdenkliche Weise aus dem Dreck herauszukommen, und sei es zu Fuß, nur nicht auf Kraftfahrzeugen. Das unzuverlässigste Beförderungsmittel war hier das Auto. Das albanische Dorf, in dem die Kolonne hielt, war vollgestopft mit Fahrzeugen, auf denen Verwundete und Soldaten mit Erfrierungen lagen. Als die Regenfälle von starken Frösten, verbunden mit Schneetreiben und Wind, abgelöst wurden, hatte es besonders viele Erfrierungen gegeben. Auf den schmalen, höckrigen Straßen herrschte ein heilloses Gedränge. Celino ging an der Seite eines breitgesichtigen Toskaners. Zwei Tage und Nächte waren sie auf ein und demselben Fuhrwerk durchgerüttelt worden. Aber er kannte noch nicht einmal den Namen seines Weggefährten. Jeder war zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Nach langem Suchen fanden sie endlich in einem Haus am Dorfrand ein freies Plätzchen. Allem Anschein nach war hier ein Wirtshaus gewesen. Neben dem Tor sah man einen dikken Querbalken auf niedrigen Pfählen, an dem die Pferde angebunden wurden – Pferdezähne hatten ihn fast zur Hälfte abgenagt. Auf dem Fußboden bei der Theke legten sie sich nieder. Im Herd brannte Holz. Der Feuerschein fiel auf die gewölbte Decke, auf die zerbrochenen Scheiben des Geschirrschranks. Anderes Licht gab es in dem Raum nicht. Als sie es sich einigermaßen bequem gemacht hatten, fragte der Toskaner: „Stimmt es, daß du einen Schuß in den Hintern gekriegt
hast?“ „Na ja, was ist schon dabei? Kann man nicht auch an dieser Stelle verwundet werden?“ „Da haben sie dir aber ein sauberes Ding verpaßt.“ „So was kommt vor.“ Celino legte sich vorsichtig auf die Seite. „Was ist mit deinem Arm? Verletzt?“ Der mit einem Handtuch umwickelte Arm des Toskaners lag in einer Schlinge. „Nein, erfroren“, antwortete er unwillig. „Die verflixte Kälte hier in den Bergen!“ „Wo hat’s dich denn erwischt?“ „Na, da hinten“, sagte der Toskaner unbestimmt. „Laß uns jetzt schlafen.“ Er schob den Tornister unter den Kopf und schloß die Augen. Celino sah ihn sich an. Breite Backenknochen und das Kinn stachelig wie eine Bürste. Wie alt der Mann war, ließ sich nicht erraten. Sicherlich war er nicht mehr der jüngste. Irgend etwas verheimlichte er. Gewöhnlich sprechen die Soldaten gern über ihre Wunden und Krankheiten, der hier dagegen… „Es heißt, die Straßen werden von Streifen bewacht, die die Verwundeten kontrollieren“, sagte Celino mit gleichgültiger Stimme. „Sie suchen Deserteure. Die Ovra sorgt sich um uns.“ Celino beobachtete den Toskaner von der Seite. Wie würde er reagieren? Die Lider des Toskaners zitterten, er schlug die Augen auf und fragte besorgt: „Wird tatsächlich kontrolliert?“ Er schwieg eine Weile und sagte hierauf seinerseits in gleichgültigem Ton: „Na, mich betrifft das nicht. Ich hab nur Angst, daß mir die Finger abgenommen werden… Also – Deserteure suchen sie!“ be-
merkte er dann mit veränderter Stimme, als ob er jemand nachäffen wollte. „Jetzt sind wir alle Deserteure… Es ist doch sonderbar: Läuft einer weg, dann ist er ein Deserteur, laufen alle, dann ist es ein Rückzug.“ Celino stimmte ihm zu. „Wie heißt du eigentlich?“ fragte er. „Wozu willst du das wissen?“ Der Toskaner wurde von neuem mißtrauisch. Ihm kam der Gedanke, ob der Dunkelhaarige nicht vielleicht einer von der Ovra war. Er erkundigte sich in ziemlich verdächtiger Weise nach allem. Da betrat noch ein Soldat den Raum. Er schleifte seinen Tornister hinter sich her. In der anderen Hand hatte er ein Gewehr. Das Gespräch wurde abgebrochen. Der Soldat schaute sich um. „Rückt mal ein bißchen zusammen, Kumpels“, sagte er, als er merkte, daß Celino und der Toskaner noch nicht schliefen. „Ich bin hundemüde.“ Der Toskaner knurrte ungehalten, rückte aber näher an Celino heran. „Leg dich hin. Der Platz langt für alle.“ „Ja, es langt, zum Teufel sollen sie sich mit ihrem Krieg scheren… Auf dem Friedhof legt man sie jetzt auch wie die Heringe nebeneinander. Für uns langt der Platz überall. Wir haben eine glänzende Führung! Danke bestens, Duce!“ Der Soldat zwängte sich zwischen den Toskaner und dessen Nachbarn, der bereits schlief. „Pst, sei still! Bist du verrückt oder besoffen? Du bist doch nicht allein hier.“ Der Toskaner blickte sich erschrocken um. Dem jungen Celino war ebenfalls unbehaglich zumute. Noch nie hatte er gehört, daß sich jemand so offen und verächtlich
über Mussolini ausgelassen hätte. Wie leicht konnten solche Gespräche ein Unglück heraufbeschwören! Er tat, als schlafe er bereits. „Warum soll ich still sein? Sag ich vielleicht nicht die Wahrheit? Hier kriegen wir die Jacke voll, in Afrika schlägt man uns, aber wir blasen uns auf, schreien, daß wir angreifen… Hast du schon gehört? Die Griechen haben die toskanische Division aufgerieben. Sie war ganz frisch eingesetzt. Jetzt ist auch Albanien für uns futsch.“ „Woher weißt du das?“ „Wenn ich das sage, weiß ich es. Wollt ihr, dann hört auf meinen Rat – macht, daß ihr möglichst schnell von hier wegkommt. Die Griechen sind schon bis zur Küste vorgestoßen.“ Sie flüsterten noch ein Weilchen und schliefen dann ein. Gegen Morgen, als sich in den Fensteröffnungen weißliches Licht zeigte, fühlte Celino, daß ihn jemand anstieß. „Hast du gehört“, flüsterte ihm der Toskaner zu, „was der Soldat neben mir gestern abend gesagt hat?“ „Nicht alles. Was ist denn?“ „Vielleicht sollten wir wirklich hier schleunigst Leine ziehen!“ „Wie denn?“ Celino hatte sich auch schon überlegt, was er tun könnte, um möglichst schnell aus dem Menschengewimmel herauszukommen. „Wir nehmen uns ein Fuhrwerk und verschwinden. Jetzt sind die Straßen noch nicht so voll.“ „Was heißt nehmen? Ich kann nicht anspannen.“ „Man sieht, daß du aus der Stadt bist. Ich spanne schon selber an.“ Die beiden erhoben sich leise, um die anderen nicht zu wek-
ken, und gingen auf den Hof. Es wurde hell. Der Toskaner ging zu dem Wagen, der gleich neben dem Tor stand. Er gähnte, schlug sein Wasser ab und überlegte, wie er am besten zu Werke gehe. „Halte mal meinen Tornister“, sagte er zu Celino und begann anzuspannen. Er hantierte mit der kranken Hand wie mit der gesunden. Natürlich ist es Schwindel, daß sie ihm erfroren ist, dachte Celino. „Los!“ kommandierte der Toskaner halblaut. „Halt das Tor auf, sonst stoßen wir an.“ „Und was ist mit mir? Habt mich wohl vergessen?“ Beide erstarrten. Sie blickten sich um – hinter ihnen stand der Soldat, der nachts mit ihnen gesprochen hatte. „Ich will auch mit. Wartet, ich hole bloß meinen Tornister.“ Der Soldat verschwand im dunklen Türausschnitt. „Verdammt noch mal, der hat uns gerade noch gefehlt!“ schimpfte der Toskaner. „Bestimmt reißt der uns noch mit seiner Schnauze rein. Jetzt ist nichts mehr zu machen.“ Als der Soldat herauskam, führten sie das Pferd auf die Straße, schlössen das Tor und traten die Fahrt an. Celino war mit Mühe auf den Wagen geklettert, wo er dann niederkniete – sitzen konnte er nicht. Es war bereits taghell, als die Soldaten durch das nächste Dorf kamen. Die wenigen Häuschen standen dort eng aneinandergedrängt, als wollten sie sich wärmen. An einem Zaun an der Straße lasen sie die Aufschrift „Evviva la guerra!“ Solche Aufschriften malten die Soldaten aus der Propagandakompanie. Unter der Aufschrift hing jetzt, mit einem Bajonett aufgespießt, ein in zwei Hälften geteiltes Bild von Mussolini
in Paradeuniform; der Rand des Bildes flatterte im Wind, und es sah aus, als bewege Mussolini das schwere Kinn, als spreche er. Celino hätte das wahrscheinlich gar nicht bemerkt. Er dachte die ganze Zeit nur daran, eine bequemere Stellung zu finden. Der dritte Mann im Wagen machte ihn darauf aufmerksam. Er saß mit baumelnden Beinen auf der Kante des Wagens und sagte: „Sieh mal einer an! Das ist vielleicht ‘ne Sache! Das haben sie fein ausgedacht!“ Der Toskaner verhielt sich anders. „Solche Scherze können einen was kosten. Ich will’s lieber abnehmen…“ Er machte Anstalten, vom Wagen herunterzuspringen, aber der Soldat hinderte ihn daran. „Das ist nicht deine Sache!“ sagte er. „Nicht du hast es aufgehängt, und nicht du hast es abzunehmen!“ Sie fuhren weiter. Auf einem flachen Stein an einer Wegbiegung entdeckte Celino dieselbe Aufschrift. Jemand hatte sie mit Kreide durchgestrichen und mit hastiger Hand darüber geschrieben: „Nieder mit Mussolini!“ „Habt ihr gesehen?“ rief der Soldat beifällig. „Vielleicht willst du wieder runterspringen und es abwischen?“ „Was kümmert’s mich?“ rief der Toskaner zurück. „Mich geht das nichts an. Sollen sie schreiben, was sie wollen.“ Die Straße führte steil abwärts ins Tal. Die Sonne kam hervor und fing an zu wärmen. Celino hatte endlich herausbekommen, welche Stellung für ihn die bequemste war. Er lag nun bäuchlings auf zwei Tornistern. So fuhren sie bis zum nächsten Dorf, wo sie von einer Streife Schwarzhemden angehalten wurden.
„Wohin?“ fragte der Streifenführer von oben herab. „Ich begleite Verwundete, Signor Korporal“, antwortete der Soldat geistesgegenwärtig. „Die Ausweise!“ Der Soldat fuhr mit der Hand in die Gesäßtasche und holte sein Soldbuch hervor. „Und deins?“ fragte der Korporal den Toskaner. Seitdem sie auf die Streife gestoßen waren, zeigte der ein schmerzverzerrtes Gesicht. „Meine Hand ist erfroren, Signor Korporal“, sagte er. „Mit der linken kann ich’s schwer herausholen.“ „Macht nichts, hol’s nur heraus!“ Der Streifenführer verglich die Soldbücher. „Was, du fährst Verwundete aus anderen Einheiten?“ wandte er sich an den ersten Soldaten. „Du bist verhaftet!“ Der Soldat kratzte sich den Nacken und ging zum Wagen, um sein Gewehr und den Tornister zu holen. „Und du, wo bist du verwundet?“ fragte der Streifenführer nun Celino. „Am Hintern.“ „Idiot!“ sagte der Streifenführer wütend, der annahm, der Soldat mache sich über ihn lustig. „Du wirst mir dafür noch büßen!“ „Ich sage die Wahrheit, Signor Korporal.“ „Zeig!“ Celino schlug den Mantel hoch, ließ die Hosen herunter und zeigte sein verbundenes Gesäß. Der erste Soldat, der nun nichts mehr zu verlieren hatte, begann zu witzeln: „Wie sagte doch der Duce – die Wunde des Soldaten ist ein Heiligtum. Vielleicht küssen Sie das Heiligtum, Signor Kor-
poral.“ „Maul halten! Alle ab zum Sammelpunkt. Dort wird man schon feststellen, was mit euch los ist.“ In Begleitung zweier „Schornsteinfeger“ gingen die Soldaten zum Sammelpunkt. Auf dem Wege dahin sagte der Toskaner zu Celino: „Es war ja gleich meine Rede, daß der blöde Kerl uns noch reinreißt – da hast du’s nun!“ Angelina war allein zu Hause, als die Tür geräuschlos aufging und Luigi ins Zimmer trat. Er war hereingekommen, ohne anzuklopfen. Sie erkannte ihn sofort nach den Fotos. Nur sah er viel älter aus. Auch angezogen war er anders – er trug eine Baskenmütze, eine leichte Jacke und um den Hals einen karierten Schal. Die Kleidung entsprach ganz und gar nicht der Jahreszeit. Angelina entging die flüchtige Verwirrung nicht, die sich in seinem Gesicht spiegelte. Als er vor der fremden jungen Frau stand, fragte er: „Sagen Sie, wohnt hier noch die Familie Celino?“ Er musterte das Zimmer und fügte hinzu: „Nach den Möbeln zu schließen, scheint es der Fall zu sein.“ „Ja, aber die Mutter ist jetzt nicht da. Treten Sie näher, ich kenne Sie, Sie sind Luigi.“ Luigi schaute sich unwillkürlich um. Ihn hatte schon lange niemand beim Namen genannt. „Nicht so laut, Signora! Ich wußte gar nicht, daß ich eine Schwester habe. Wer sind Sie?“ „Ich bin Angelina“, antwortete sie schlicht, „die Frau von Bruno. Er ist bei den Soldaten, und ich wohne hier bei der Mutter. Sie arbeitet im Herrenhaus und kommt nur zwei-, dreimal in der Woche her.“
„Dann hat sich mein Brüderchen also verheiratet? Sieh mal an! Wann war denn die Hochzeit?“ „Schon lange vor dem Krieg. Zwei Jahre vergehen schnell.“ „Und was ist das für ein Herrenhaus, in dem die Mutter arbeitet?“ „Oh, so nennt die Mutter aus alter Gewohnheit die Villa der Grafen Ciano, wie früher im Dorf. Wir haben’s uns auch so angewöhnt. Sie arbeitet dort in der Küche.“ „Wieviel Neuigkeiten Sie mir da auf einmal mitgeteilt haben! Aber…“ Luigi hustete dumpf und schwer. Er unterdrückte den Hustenanfall, wischte sich den Mund mit dem Taschentuch und fuhr fort: „Aber ich möchte die Mutter gern sehen… Der verflixte Husten! Ich hab mich offenbar unterwegs erkältet.“ „Nehmen Sie doch Platz, ruhen Sie sich von der Reise aus! Sie möchten sich doch sicherlich waschen? Ich mache gleich Wasser warm.“ Luigi stand noch immer mitten im Zimmer. Er hatte sich zu Hause alles anders vorgestellt. Ausschlafen hatte er wollen, wenigstens sich ein bißchen ausruhen. Aber wie sollte er das, wenn er nicht wußte, wer diese Frau war? Es gibt kaum was Schlimmeres, als im eigenen Haus verraten zu werden. In den letzten Jahren war Luigi sehr vorsichtig geworden. Angelina mußte seine Gedanken erraten haben, denn sie sagte: „Hier können Sie sich ganz sicher fühlen. Man hat mir viel von Ihnen erzählt. Bei uns hat keiner Geheimnisse vor dem anderen. Setzen Sie sich nur, ich gebe der Mutter gleich Bescheid.“ „Das wäre nicht schlecht.“
Angelina warf sich ein warmes Umhängetuch über die Schulter. „Heute ist es draußen sehr kalt. Ich bin ganz durchgefroren von der Arbeit nach Hause gekommen. Schließen Sie die Tür ab. Dann können Sie sich in aller Ruhe waschen.“ Luigi verschloß hinter Angelina die Tür und blieb lauschend stehen. Als die Schritte auf der Treppe verhallt waren, öffnete er die Tür wieder. Ja, es war doch besser, er wartete nicht drinnen auf die Mutter. Das wäre zu gewagt. Luigi stieg ein Stockwerk höher und tastete sich in eine Nische hinein. Er kannte hier jeden Winkel. Im Notfall konnte er auf den Boden entwischen und von dort auf das Dach des Nachbarhauses. Dort würden die Kerle aus der Ovra nicht so leicht mit ihm fertig werden… Luigi stand lange in der Nische. Seine Beine wurden kalt und steif. Aber in den Konzentrationslagern hatte er Geduld gelernt. Wie oft hatte er in dem kalten steinernen Grab der Dunkelzelle stehen müssen! Luigi verließ seinen Schlupfwinkel, als er unten eilige Frauenschritte und die besorgte Stimme der Mutter hörte. „Wo ist er denn?“ sagte Angelina bestürzt, als sie in das leere Zimmer schaute. „Er wird doch nicht wieder weggegangen sein?“ „Guten Tag, Mutter.“ Luigi war hinter den Frauen in das Zimmer getreten. Er küßte die Stiefmutter. „Lange haben wir uns nicht gesehen“, sagte Carmelina. „Du bist dem Vater noch ähnlicher geworden. Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt? Du hättest doch mal was von dir hören lassen können. Oder siehst du mich nicht mehr als
Mutter an?“ „Ich konnte nicht.“ Luigi spürte hinter Carmelinas Bärbeißigkeit die Freude über das Wiedersehen. „Ich konnte nicht“, wiederholte er. „Aber ich habe immer an dich gedacht, Mutter.“ „Dann ist’s gut. Wir haben seit damals, als dein Freund zu uns kam, nichts mehr von dir gehört.“ „Dann ist also Orrigo bei euch gewesen? Demnach hat er sich nach Rom durchgeschlagen. Wo ist er?“ Luigi lebte förmlich auf. Wunderbar! Orrigo war es also geglückt, aus dem Konzentrationslager zu fliehen. Vielleicht würde es möglich sein, über ihn Verbindung zu bekommen… „Wer weiß, ob es Orrigo war oder ein anderer. Seinen Namen hat er nicht genannt. Er wollte wieder mal herkommen. Jetzt warten wir schon das zweite Jahr auf ihn.“ „Wie sah er aus? War er hager und groß?“ „So ähnlich wie du. Dieselbe kurze Jacke aus demselben leichten Stoff. Angelina, weißt du noch, wann er bei uns war?“ „Zu Beginn des Winters. Bruno war noch da.“ „Nein, das stimmt nicht, Bruno war nicht mehr da.“ Die Frauen stritten sich. Sie konnten nicht mehr genau feststellen, wann Orrigo bei ihnen war. „Was ist? Bist du aus der Armee weggelaufen? An der Front sollen die Dinge schlecht stehen.“ „Aus der Armee bin ich zwar nicht weggelaufen, aber ich habe keineswegs die Absicht, unter die Soldaten zu gehen.“ „Endlich bist du zu Verstand gekommen! Man sagt, du bist freiwillig nach Spanien gefahren, um dort zu kämpfen. Als ob
man zu Hause keine Kugel fände! Wie mag es jetzt wohl meinem Bruno gehen? Ich hab’s nicht mehr geschafft, ihm zu einer Wundrose zu verhelfen. Wenn du willst, Luigi, kann ich etwas für die Einberufungskommission ausdenken. Das Bein schwillt innerhalb einer Nacht.“ Nach Carmelinas Vorstellung verbargen sich nur Deserteure und Schwerverbrecher vor den Behörden. Zu den Verbrechern konnte sie ihren Stiefsohn nicht rechnen, also blieb das andere – er hatte, wie viele Italiener, mit dem Kriegskommissariat Differenzen. „Nein, Mutter, mein Bein brauche ich noch. Aber daß man sich vor den Karabinieri gut versteckt, kann nicht schaden. Heute werde ich bei dir übernachten, Mutter. Einverstanden?“ „Ich würde an deiner Stelle nicht so reden“, sagte Carmelina gekränkt. „Übrigens, vielleicht ist es dir hier nicht behaglich genug? Wir haben keine Federbetten.“ Sie preßte die Lippen zusammen. „Nein, Mutter, du hast mich nicht verstanden. Ich will euch nur keine Unannehmlichkeiten bereiten. Wenn man mich hier schnappt, dann ergeht es auch dir schlecht.“ „Na, um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“ Während Carmelina mit Luigi sprach, bereitete Angelina das Abendessen zu. Sie hatte alles zusammengekratzt, was im Hause war. „Mutter“, sagte sie, irdene Schüsseln auf den Tisch stellend, „vielleicht kann Luigi bei dir im Herrenhaus unterkommen. Dort ist es ruhiger. Gestern nacht soll in unserem Viertel eine Razzia gewesen sein. Man sucht dauernd nach Deserteuren… Setzt euch, die Makkaroni sind fertig.“
„Gewiß kann er das. Aber nicht heute. Nachts erwischen sie einen todsicher auf der Straße… Nimm Platz, Luigi, du bist doch bestimmt hungrig.“ „Nein, ich habe eben gegessen“, log Luigi, obwohl ihm vor Hunger fast übel war. Bei Tisch taten alle drei, als seien sie satt. Die Mutter sagte zu Angelina: „Angelina, sieh mal auf dem Regal nach, ob nicht noch ein bißchen Olivenöl da ist. In der Korbflasche…“ Die Frauen überredeten Luigi, ein paar Makkaroni mit Olivenöl zu essen. „Sehen Sie“, rief Angelina, „es reicht sogar noch gut für morgen früh!“ Das Abendessen hatte Luigi ganz matt gemacht – er hielt sich kaum noch auf den Beinen. Die Augen fielen ihm zu. Wie er stand und ging, warf er sich auf die Truhe und schlief sofort. Am Morgen standen sie auf, als es noch dunkel war. Angelina ging als erste aus dem Haus. Die Mutter riet Luigi, die Wohnung allein zu verlassen, sie würde ihn auf der Straße einholen. Wenn die Nachbarn auch zuverlässige Leute seien, so sei es immerhin besser, überflüssiger Fragerei aus dem Wege zu gehen. Sie holte Brunos Anzug hervor, den sie seit seiner Einberufung sorgfältig aufbewahrte, und gab Luigi die Jacke. Sie saß wie angegossen. Nun sah Luigi nicht mehr wie ein Flüchtling aus. Außerdem lud ihm die Mutter ein großes Bündel auf, sie hatte schon lange ihre Roßhaarmatratze ins Herrenhaus bringen wollen. Schmunzelnd überlegte Luigi, daß die Mutter sich gar nicht schlecht für die konspirative Arbeit eigne. Mit dem Bündel würde er auf der Straße weni-
ger auffallen. Luigi verließ das Haus, und eine Minute später folgte ihm Carmelina. Im Hausflur begegnete ihr die einen Stock höher wohnende Nachbarin. „Haben Sie etwa Besuch bekommen, Donna Celino?“ „Nein, warum denn?“ „Da ist doch eben ein Mann mit einem Bündel die Treppe runtergegangen. Der war ihrem Stiefsohn wie aus dem Gesicht geschnitten! Ich dachte schon, Luigi sei zurückgekehrt, die heilige Jungfrau Maria beschütze ihn.“ „Nein, Donna Cesarine. Sie haben sich leider geirrt. Auf Wiedersehen! Ich muß mich beeilen.“ „Auf Wiedersehen, Donna Celino!“ Die Nachbarin sah Carmelina nach. Bei der heiligen Jungfrau Maria, dachte sie. Ich würde schwören, daß das ihr Stiefsohn war. Als ob ich das Tuch von Carmelina nicht kenne, in dem das Bündel eingeschlagen war. Zu dieser Erkenntnis gelangt, entschloß sich Donna Cesarine, Donna Ferrero auf einen Sprung zu besuchen, zumal ihr eingefallen war, daß sie mit ihr noch etwas zu besprechen hatte. Gegen Mittag wußte die ganze Straße die Neuigkeit, die den Frauen reichlich Gesprächsstoff bot. Als aber am Abend eine Abteilung Karabinieri auf der Jagd nach Deserteuren das Viertel durchkämmte, hielten alle eisern den Mund. Solche Neuigkeiten waren nicht für die Ohren der Karabinieri oder der Ovraagenten bestimmt, die in den Arbeitervierteln Roms herumschnüffelten. Carmelina wußte schon, wo sie Luigi fürs erste unterbringen konnte. Angelina hatte recht, in ihrem Viertel fanden zu oft Razzien statt. Der Sohn konnte ein paar Tage in dem Dienst-
botenkämmerchen bleiben. Sie würde auf dem Fußboden schlafen und Luigi in ihrem Bett. Das Kämmerchen, das der Geschirrwäscherin zur Verfügung stand, hatte zwei schmale, schießschartenähnliche Fenster. Das eine ging auf die Mauer des Pferdestalls hinaus, das andere auf das Herrenhaus. Die Nachbarkammer bewohnte, wie die Mutter sagte, ein alleinstehender tauber Gärtner, der nie zu Hause war. Luigi konnte sich also hier vor unbefugten Blicken sicher fühlen. Luigi sah sich alles genau an, auch die mit vorjährigem Unkraut bestandene Mauerlücke vor dem Fenster, in der zerbrochene Mauersteine und Dachziegel lagen. Er war zufrieden. Notfalls konnte er durch das Fenster aus der Besitzung des Grafen fliehen. In dem Kämmerchen verbrachte Luigi drei Tage und drei Nächte. Am vierten Tag verschwand er plötzlich und blieb eine Woche weg. Ebenso überraschend tauchte er dann wieder auf. Luigi schien nachdenklich und bedrückt. Carmelina versuchte nicht, ihn auszufragen, das entsprach nicht ihrem Charakter. Wenn er wollte, würde er von selbst erzählen. Am Morgen verschwand er wieder. Luigi kam und ging nun zu ganz unbestimmten Zeiten. Manchmal sah Carmelina nur an den Resten der Speisen, die sie für ihn aus der herrschaftlichen Küche mitgebracht hatte, daß er dagewesen war. Eines Nachts kam er zusammen mit Orrigo, dem Mann, der im vergangenen Jahr der Familie Celino einen Gruß von ihm bestellt hatte. Luigi war heiter und aufgeräumt. Dennoch bemerkte Carmelina eine gewisse Unruhe an ihm. Er lauschte häufig hinaus und war nervös. Sie waren gekommen, als Carmelina bereits schlief. In der
letzten Zeit verschloß sie auf Luigis Wunsch nicht die Tür. Er selbst allerdings schloß immer die Tür ab, wenn er kam, und verriegelte sie überdies noch. Carmelina fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, um den Schlaf zu verscheuchen, und stand auf. Luigi sagte zu ihr: „Mutter, könntest du nicht nach Hause schlafen gehen? Wir beide haben dringend miteinander zu sprechen. Du mußt schon entschuldigen…“ „Na ja, wenn es so dringend ist.“ Carmelina begann sich fertigzumachen. Dazu bedurfte es nicht viel – sie brauchte nur die Schuhe anzuziehen und sich in ihr Tuch zu wickeln. Der Mann sagte etwas zu Luigi. Was er sagte, verstand sie nicht. „Du hast recht“, pflichtete ihm der Stiefsohn bei. Er ging zu ihr, nahm ihre Hand und sagte: „Hör mal, Mutter. Würde es dir nichts ausmachen, am Portal auf der Bank zu sitzen, solange wir uns hier unterhalten? Wenn jemand kommt, könntest du uns warnen. Am besten, du fängst dann laut an zu sprechen. Du bist sicherlich müde, aber…“ „Schon gut, ich gehe.“ „Wir machen nicht lange, Mutter, ein Stündchen vielleicht. Wenn du frierst, komm dich aufwärmen.“ Sie unterhielten sich nicht ein Stündchen, sondern die ganze Nacht. Schrieben etwas und diskutierten. Carmelina kam zweimal herein, um sich aufzuwärmen. Die Männer sprachen im Flüsterton. Als in der Frühe die Konturen der Kirche San Marco deutlich sichtbar wurden, gingen sie fort. Um diese Zeit füllen sich die Straßen von Rom mit den zu ihren Arbeitsstätten hastenden Menschen. Carmelina hatte noch ein Stündchen schlafen wollen, doch
Angelina kam auf dem Weg zur Arbeit in höchster Aufregung angelaufen und rüttelte sie wach. „Bruno ist gekommen, Mutter, hörst du? Bruno ist da! Diese Freude! Verwundet…“ Angelina kniete nieder und preßte ihren Kopf an Carmelinas Schulter. „Aber warum weinst du denn? Freu dich doch!“ Die Mutter fuhr mit der Hand über Angelinas Haare. „Ich weine doch vor Freude. Ich bin so glücklich.“ Sie lachte mit Augen, in denen Tränen standen. „Nun muß ich aber laufen. Vielleicht lasse ich mir am Nachmittag freigeben. Könntest du nicht auch früher kommen, Mutter? Bruno ist allein zu Hause.“ „Ich weiß noch nicht. Bei der Herrschaft ist heute abend viel los. Ich werde kaum wegkönnen. Wann ist er denn gekommen?“ „Gestern abend. Ich bin ihm auf der Treppe begegnet. Oh, wie froh ich bin!“ Angelina lief zur Arbeit. Carmelina wollte sich nicht noch einmal hinlegen. Sie ging in die Küche. Weder am Tag noch am Abend konnte sie sich frei machen. Erst am nächsten Tag durfte sie nach Hause gehen. Dafür kam sie zusammen mit Luigi. Er hatte bei ihr übernachten wollen und so die Neuigkeit erfahren. Sie hielten es für besser, daß sich Luigi mit Bruno zu Hause traf. Hier, bei den Cianos, war eine Begegnung nicht angebracht. Es würde nur unnötig Verdacht erregen, wenn so viele Menschen zu der Geschirrwäscherin kamen. Luigi hatte zu Hause übernachtet. Die Brüder standen spät
auf. Die Frauen waren schon längst zur Arbeit gegangen. Sie bereiteten sich das Frühstück selber zu und tranken den in der Kanne verbliebenen Rest Wein aus. Luigi fragte: „Nun, mein Lieber, bist du zufrieden mit deinem Leben?“ „Schwer zu sagen… Wenn kein Krieg wäre, ließe es sich schon leben.“ „Du mußtest also in den Krieg ziehen.“ „Ja.“ Bruno lachte. „Eigentlich laufe ich aber mehr vor dem Krieg davon. Ich bin ganz nach dem Vater geraten. Das Desertieren liegt mir im Blut. Du scheinst von anderem Schlag zu sein.“ „Wieso? An deiner Stelle wäre ich auch getürmt.“ „Was hatte dich dann nach Spanien getrieben? Zuerst dachte ich, du seist wirklich nach Frankreich gefahren, um dort zu arbeiten.“ „Das war etwas ganz anderes. Es gibt solche und solche Kriege.“ „Ich sehe keinen Unterschied. Besser, man ist hundertmal ein Feigling als einmal ein Toter. Ich denke wie alle Italiener.“ „Das ist auch Mussolinis Ansicht über die Italiener. Er hält unser Volk für schlapp und feige. In Wirklichkeit ist es aber nicht so. Denk nur an Garibaldi.“ „Na ja, Garibaldi! Aber Caporetto? Ich weiß noch, daß der Vater erzählte, wie sie dort Reißaus nahmen. Warte, warte.“ Bruno ließ den Bruder, der ihn unterbrechen wollte, nicht zu Worte kommen. „Haben uns die Franzosen etwa nicht geschlagen, obwohl wir den Krieg gewonnen haben sollen? Ja, sie haben uns geschlagen. Ich selber bin nur mit Ach und Krach davongekommen. Gehen wir nicht in Nordafrika zurück? Ja, wir gehen zurück. Meinst du vielleicht, weil wir so
tapfer sind? Oder was sonst? Und jetzt haben uns die Griechen einen Tritt in den Hintern gegeben. Ich wundere mich nur, daß wir seinerzeit Albanien erobern konnten! Wahrscheinlich nur, weil ich nicht dabei war.“ Bruno lachte. „Hab ich nicht recht?“ „Einesteils ja, andernteils nein. Sage mir zuerst mal: Warum kämpfst du gegen die Griechen?“ „Was heißt warum?… Ich weiß nicht.“ „Das ist es eben. Und die anderen Soldaten wissen es auch nicht… Und hast du nach der Eroberung Albaniens vielleicht besser gelebt?“ „Nicht daß ich wüßte.“ „Und Graf Ciano, bei dem unsere Mutter als Geschirrwäscherin arbeitet? Du weißt doch, daß er der reichste Mann Italiens geworden ist, weil er sich die albanischen Bergwerke angeeignet hat.“ „Na, was will das schon sagen? Uns macht das weder warm noch kalt.“ Bruno begriff noch immer nicht, worauf Luigi hinauswollte. „Doch, sowohl warm wie kalt. In Nordafrika sterben unsere Soldaten vor Hitze, und in Griechenland tötet sie die Kälte. Du hast selbst erzählt, wieviel Fälle von Erfrierungen es bei euch gab, wie vielen Soldaten Beine und Arme amputiert werden mußten.“ „Deshalb sage ich ja auch, daß ich nicht kämpfen will.“ „Nein, warte mal. Mussolini überfällt Griechenland, ohne zu fragen, ob der Soldat Bruno Celino das will. Auch Hitler fragt die Deutschen nicht, ob sie kämpfen wollen. So ist das. Nun hör mal gut zu, mein Lieber. Einmal wirst du das schon begreifen. Damit es keinen Krieg gibt, muß man die Ursache
des Krieges aus der Welt schaffen – in unserer Zeit erst einmal den Faschismus. Deswegen bin ich nach Spanien gefahren, und deswegen bin ich aus Ventotene geflohen. Weißt du, was das ist?“ „Nein, den Namen hab ich nie gehört.“ „Ein Konzentrationslager. Genauso eins wie Dachau in Deutschland. Dort schindet Mussolini die italienischen Freiheitskämpfer zu Tode, allen voran die Kommunisten.“ „Bist du denn Kommunist?“ „Ja. Hast du das nicht gewußt?“ „Ich habe es vermutet, aber sicher war ich mir nicht… Trotzdem verstehe ich dich nicht. Neulich war ich mit einem Bersagliere zusammen, der hat fast genauso wie du geredet.“ Bruno erzählte dem Bruder von dem Soldaten, mit dem er im Pferdewagen auf der vereisten Gebirgsstraße gefahren war, von den Aufschriften auf den Mauern und von dem mit einem Bajonett aufgespießten Bild Mussolinis. „Da siehst du es“, sagte Luigi, der interessiert zugehört hatte. „Das ist erst der Anfang. Bis jetzt stechen die Bajonette nur in Mussolinis Bild. Warte nur, er kommt auch selber dran. Das italienische Volk wird noch zeigen, was es ist und kann. Wir brauchen uns nicht Tapferkeit auszuleihen. Ich glaube an Italien! Und auch an dich, lieber Bruder!“ Die Brüder verbrachten den Tag in angeregter Unterhaltung. Als es dämmerte, sagte Luigi: „Ich bin sehr froh, daß wir uns wiedergesehen haben, Bruno. In all den Jahren habe ich oft an dich gedacht. Wen habe ich denn sonst außer der Mutter auf der Welt…“ Seine Worte rührten Bruno. „Ich hänge auch sehr an dir“, erwiderte er impulsiv. „Ich
dachte schon, wir würden uns nie mehr wiedersehen… Vielleicht hast du recht, Luigi. Wie immer. Aber habt ihr euch nicht zuviel vorgenommen, mehr, als ihr könnt? Der Tarpejische Felsen dürfte leichter zu stürzen sein als Mussolini.“ „Nur keine Angst! Wir werden mit jedem Tag mehr… Aber jetzt muß ich gehen. Leute wie ich dürfen nicht lange an einem Ort bleiben. Willst du mich nicht begleiten, wie du es früher immer getan hast? Und das hier – nimm und lies.“ Er gab dem Bruder ein auf graues Packpapier gedrucktes Flugblatt. Bruno las die Überschrift: „Mussolini führt uns ins Verderben.“ „Sei vorsichtig“, sagte Luigi. „Wenn du es gelesen hast, gib es an zuverlässige Leute weiter. Wenn es der Ovra in die Hände fällt, dann geht’s dir schlimmer als einem Deserteur.“ „Ist das dein Werk?“ Luigi lächelte. „Mein, das ist eine Kollektivarbeit… Los, Bruno, gehen wir! Es ist schon dunkel geworden.“ Die Brüder traten auf die Straße und gingen zusammen den ihnen von früher her bekannten Weg. Als sie sich verabschiedeten, sagte Luigi: „Laß es dir gut gehen, Bruno.“ Sie drückten sich lange die Hände. Bruno konnte kaum die Tränen zurückhalten. „Laß du es dir auch gut gehen“, sagte er. „Und paß auf dich auf. Wann sehen wir uns jetzt wohl wieder?“ „Ich weiß nicht. Aber wie es auch sei, vergiß nicht unser Gespräch. Leb wohl, Bruno! Grüß die Mutter von mir.“
Der italienische Diktator und Oberste Befehlshaber der italienischen Streitkräfte, Benito Mussolini, erwartete den Grafen Ciano, Er war in einem gereizten Zustand. Im Moment ärgerte ihn die unerklärliche Verspätung des Schwiegersohnes. Während er auf ihn wartete, dachte er nach. Die Lage an der Front war denkbar schlecht. Mussolini suchte nach Schuldigen. Den Hauptschuldigen sah er nach wie vor im italienischen Volk. Mit so einem Volk ließ sich nichts ausrichten. Feiglinge und Tagediebe! Die konnten nur eins: zu Hause meckern und an der Front ausreißen. Die Generale hatten sich auch von den Stimmungen der Plebejer anstecken lassen. Sogar Marschall Graziani. Der war weichlich geworden wie ein sentimentales Frauenzimmer. Sich nicht zu entblöden, ein Testament an seine Frau zu schicken! Er rechne nicht mehr damit, lebend aus der Libyschen Wüste herauszukommen. Und dann noch den Krieg in Nordafrika mit dem Kampf eines Flohs gegen einen Elefanten zu vergleichen! Das Gejammer des Oberbefehlshabers der Streitkräfte in Libyen empörte Mussolini, brachte ihn außer sich. Er hatte Graziani sofort seines Postens entheben wollen, aber es sich noch einmal überlegt. Durch wen sollte er ihn ersetzen? Die anderen waren nicht besser. Binnen zwei Wochen hatten sich fünf Generale gefangennehmen lassen. Der Angriff auf Marsa Matruk hatte mit der Vernichtung der italienischen Truppen geendet. Die Engländer waren überraschend zur Gegenoffensive übergegangen. Die Nachricht von ihrem Angriff auf Sidi Barrani schlug wie ein Blitz ein. Jetzt schwieg der Sender Bardia bereits seit Tagen. Wenn man dem britischen Rundfunk glauben durfte, dann hatte der Widerstand der Garnison nur Stunden gedauert. Dabei verfügte die Festung
über fast fünfhundert Geschütze. Die Soldaten waren mit allem versorgt. Diese Memmen! Marschall Graziani schlägt nun den Rückzug nach Tripolitanien vor. Das würde den Verlust aller Kolonien an der Küste bedeuten. Ja, in der Armee ging etwas Unverständliches vor sich, es sah dort nach einem völligen Zusammenbruch aus. Die Nachrichten aus Griechenland waren nicht besser. Argyrokastro gefallen. Valona bedroht. General Soddu hatte er abberufen müssen. Der sollte lieber in der Trattoria auf der Geige fiedeln, als Truppen befehligen. Dieser Musikant! Mussolini kniff verächtlich die Augen zusammen. Statt zu kommandieren, Filmmusiken Zu komponieren! Und was war schon mit Cavallero los? Ein Schwätzer, der immer nur versprach, zum Angriff überzugehen. Ein Brief aus Berlin hatte Öl ins Feuer gegossen und Mussolinis krankhafte Eigenliebe noch mehr verletzt. Der Duce drehte die Botschaft in den Händen. Der Reichskanzler schrieb an seinen italienischen Verbündeten, daß dessen Vorgehen ernste Konsequenzen nach sich gezogen habe. Bisher habe sich das rumänische Öl außerhalb der Reichweite der englischen Bomber befunden, während nun die britischen Stützpunkte nur ein paar hundert Kilometer von den Erdölfeldern entfernt seien. Er, Hitler, sei seinerzeit nach Florenz gekommen, in der Hoffnung, ihn von seinem Angriff auf Griechenland abzubringen. Hitler erwähnte in seinem Brief die englische Besetzung Kretas und verwies darauf, daß noch nicht bekannt sei, wie sich die Türken verhalten würden. In ziemlich durchsichtiger Weise gab er dem Duce an allem die Schuld und bot ihm zum Schluß Hilfe an. Es war beileibe kein Vergnügen, solche Pil-
len zu schlucken… Endlich meldete der Adjutant Cianos Ankunft – Mussolini hatte seine Sekretäre in Adjutanten umgetauft und sie in eine pompöse Uniform gesteckt. Ciano trat ein, frisch, gepflegt und betont zuvorkommend. Wie ein Friseur aus einem Modesalon auf der Via Tritone, dachte Mussolini. Kurz und sachlich sagte er: „Was sollen wir tun? Lesen Sie…“ Galeazzo Ciano überflog den Brief. Er dachte nach und erklärte: „Wir werden wohl die Hilfe annehmen müssen. Aber das wird uns teuer zu stehen kommen.“ Mussolini war bereits selber zu diesem Schluß gelangt, aber aus purem Starrsinn stimmte er nicht gleich zu. Ciano zog es seinerseits vor, ebenfalls nicht darauf zu bestehen. Er widersprach Mussolini nie. Der Duce sollte selbst die nötigen Schlüsse ziehen. „Die Griechen haben die Front durchbrochen. Es bleibt uns nichts weiter übrig, wir werden die Deutschen bitten müssen.“ Gemeinsam verfaßten sie die Antwort an Hitler. Mussolini erklärte den Mißerfolg in Griechenland mit dem schlechten Wetter, der Kälte, den starken, Regenfällen und der verräterischen Politik des bulgarischen Königs, die es den Griechen ermöglicht hatte, acht Divisionen aus Thrakien an die Front zu werfen, und schließlich mit dem Treubruch der albanischen Truppen, die an der Seite Italiens gekämpft hatten. „Allein in einer unserer Divisionen“, hieß es in dem Brief, „mußten sechstausend Albanier entwaffnet werden. Aber trotz aller vorübergehenden Schwierigkeiten stellt Italien jetzt dreißig
frische Divisionen auf, die Griechenland ausradieren werden.“ „Woher sollen wir sie nehmen?“ äußerte Ciano zweifelnd. „Fortuna hat uns im Stich gelassen. In Libyen haben wir hundertdreißigtausend Mann nur an Gefangenen verloren.“ Mussolini warf einen mißbilligenden Blick auf den Schwiegersohn. Warum mußte er ihn immer an unangenehme Dinge erinnern? Er wußte das ja selber nur zu gut. „Woher? Ist das nicht gleich? Hitler soll wissen, daß wir so stark wie einstmals sind. Im Notfall werde ich auch ohne ihn mit Griechenland fertig.“ Mussolini schien das traurige Resümee, zu dem sie eben gelangt waren, wieder vergessen zu haben. „Von der Kriegskunst verstehe ich mehr als er.“ Nichtsdestoweniger wurden sich die beiden darüber einig, daß eine militärische Delegation nach Berlin geschickt werden mußte. Sie sollte von General Guzzoni, dem Chef des Generalstabes, geführt werden, und Ciano würde sie begleiten. In Berlin wurden die Italiener herablassend empfangen. Man behandelte sie wie arme Verwandte. Bei diesem Besuch im Januar 1941 in Berlin ging dem Grafen Ciano noch eine bittere Wahrheit auf: Sie, die Italiener, stellten nunmehr für Hitler keinen besonderen Wert als Verbündete dar. In Berlin kursierte der boshafte Witz, daß Italien immer ein ungefährlicher Feind, aber stets ein gefährlicher Bundesgenosse gewesen sei. Dennoch waren die Deutschen durch die strategische Lage Italiens gezwungen, sich mit ihnen abzumühen, ihnen aus dem Dreck, in den Mussolini unvorsichtigerweise in Griechenland geraten war, wieder he-
rauszuhelfen. Der scharf beobachtende Ciano schloß daraus, daß Hitler die Italiener doch noch brauchte. Hitler hatte schon lange auf den Besuch gewartet. Er wußte – früher oder später würden die Italiener von selbst kommen. Während er in der Reichskanzlei General Guzzoni empfing, einen aufgeblasenen Dickwanst, und sich skeptisch seine Darlegungen über den sagenhaften Gegenangriff in Richtung Koritza anhörte, waren die Generalstabsoffiziere in Wünsdorf bei Zossen bereits emsig mit dem Plan „Marita“ beschäftigt. Hitler sah den General aus schläfrigen Augen an, ließ ihn zu Ende sprechen und fragte dann ungeduldig: „Wenn Sie im Norden zehn Divisionen konzentriert haben, warum gehen Sie dann zurück?“ „Wir warten eine günstige Zeit ab“, erwiderte Guzzoni auf gut Glück. Ciano biß sich auf die Lippen. So ein Trampel! Nicht ein bißchen gewandt. Wer würde solchen Unsinn schon glauben? „Also hat der Duce recht, wenn er schreibt, daß Sie gar nicht so sehr an unserer Hilfe interessiert sind? Ich freue mich für Sie…“ „Nein, nein!“ unterbrach Guzzoni Hitler erschrocken. Ihm war die Ironie entgangen. „Wir brauchen Ihre Hilfe dringend.“ „Gut, wir werden darüber sprechen. Feldmarschall Keitel, was können wir tun?“ Hitler wollte sich nicht in den Balkankonflikt einmischen. Mussolini sollte selber zusehen, wie er sich aus dieser Situation herauswand. Aber er wußte, daß er früher oder später doch eingreifen müßte. Churchill wäre nicht Churchill, wenn
er die Gelegenheit nicht ausnutzte. Die Engländer würden ganz bestimmt auf dem Kontinent landen, und das hieße, daß sie dem rumänischen Öl noch näher wären. Der deutsche Reichskanzler hatte das vorausgesehen, als er im Dezember die Weisung über das Unternehmen „Marita“ unterschrieb. Gleich am Anfang hieß es darin: „Angesichts der bedrohlichen Lage in Albanien ist es doppelt wichtig, daß englische Bestrebungen, unter dem Schutze einer Balkanfront eine vor allem für Italien, daneben für das rumänische Ölgebiet, gefährliche Luftbasis zu schaffen, vereitelt werden.“ Hatte sich Hitler erst einmal das rumänische Erdöl angeeignet, dann würde er die Beute um keinen Preis fahrenlassen. In der bevorstehenden Auseinandersetzung mit dem Osten brauchte er das rumänische Öl so nötig wie die Luft, wie Munition und Panzer. Am 5. Dezember 1940 trug Stabschef Franz Halder Hitler im Beisein Jodls und Keitels die endgültige Variante des Plans „Barbarossa“ vor. Außerdem war der Oberbefehlshaber des Heeres von Brauchitsch anwesend. Oberst Heusinger erläuterte den Plan. Hitler war zufrieden. Heusinger berechtigte zu großen Hoffnungen! Der Oberst hatte seinen Hauptgedanken richtig erfaßt: Im Kampf gegen Sowjetrußland mußten zuerst die lebendigen Kräfte vernichtet werden – eingekesselt und vernichtet werden. Darin, und nur darin lag der Schlüssel zum Blitzkrieg. Hitler machte dazu noch einige Bemerkungen und unterschrieb am 18. Dezember in Berchtesgaden die Weisung Nr. 21 für das Unternehmen „Barbarossa“. Er war in einer Stimmung, als hätte er Geburtstag. Sein sehnlichster Wunsch be-
gann sich zu verwirklichen, die Vorbereitung des Krieges gegen die Sowjetunion lief auf vollen Touren, am 15. Mai würde sie abgeschlossen sein. Jetzt war die Hauptsache, daß kein Unberufener etwas von dem Plan „Barbarossa“ erfuhr. Deshalb hatte er in die Weisung den Satz aufgenommen: „Entscheidender Wert ist jedoch darauf zu legen, daß die Absicht eines Angriffes nicht erkennbar wird.“ 7 In dem unterirdischen Arbeitsraum herrschte Grabesstille. Hierher, in diesen Luftschutzkeller, begab sich der Premier gewöhnlich während der Bombenangriffe. Doch die Angriffe erfolgten so häufig, daß Churchill, wenn er sich in der Stadt aufhielt, einen beträchtlichen Teil der Zeit darin zubrachte. Das war etwas anderes als der Morrison-Unterstand. Hier war es ungefährlich, hier konnte man sich ungestört seinen Überlegungen hingeben. Sogar die Abschüsse der Flak drangen nur weich und gedämpft in das unterirdische Gewölbe. Dumpf, fast klanglos ertönten die Detonationen unweit explodierender Bomben, und lediglich das Zittern des bronzenen Tintenfasses zeugte von der Heftigkeit der deutschen Luftangriffe. Diesmal fielen die Bomben weit entfernt, wahrscheinlich in der Nähe der Piccadilly, und die Stille im Arbeitszimmer wurde durch nichts gestört. Der Premier blätterte zerstreut in der Bibel – er brauchte ein Zitat für eine Rede. Da, halt: „Suchet, so werdet ihr finden.“ Bezog sich das nicht unmittelbar auf seine Suche nach Verbündeten? Winston Churchill suchte überall Verbündete. Er nahm jeden,
der die Lage des Empire auch nur um ein Jota erleichtern konnte. De Gaulle – gut, sei es de Gaulle, die Griechen – gut, seien es die Griechen. War das nicht gleich? Der Ertrinkende klammert sich an einen Strohhalm. Selbst nach einem Haar würde er greifen… De Gaulle war gerade kein großer „Fund“, aber immerhin ein Strohhalm. Churchill nahm ihn nicht ernst. Als er den Befehl gab, Admiral Muselier, die rechte Hand de Gaulies, zu verhaften, setzte er den Führer des „Freien Frankreich“ nicht einmal davon in Kenntnis. Man hatte Churchill mitgeteilt, daß Muselier nicht nur ein Schuft, sondern auch ein Spion sei. Mit so etwas mußte man sich nun abgeben… Churchill überlegte, daß die Griechen unter allen Umständen Hilfe, und sei es symbolische, erhalten müßten. Selbst dann, wenn die Griechen sie nicht brauchten. Die Engländer mußten in Griechenland festen Fuß fassen. Wer den Balkan, den „Unterleib Europas“ besaß, der beeinflußte die europäische Politik. Hitler und Mussolini wußten das. Hitler hatte Rumänien besetzt und schaltete und waltete in Bulgarien, während die Italiener Albanien geschluckt und Griechenland überfallen hatten. Jetzt kam die Reihe an Jugoslawien. Wer würde es sich in die Tasche stecken? Das Europa seiner Tage kam Churchill wie ein Kaufhaus während einer Plünderung vor. Jeder nimmt sich, was ihm gefällt. Nur er, Churchill, blieb außerhalb des Spiels. Er verbrachte die Zeit in der Gruft und versteckte sich vor den Bomben, die aus den Rümpfen der Junkers-Flugzeuge fielen. Aber dennoch würde er die anderen überspielen und versuchen, den Griechen zu helfen.
Für ein Expeditionskorps waren Truppen in Stärke von mindestens fünfzigtausend Mann erforderlich. Man konnte sie aus Ägypten abziehen und durch Marineinfanterie vervollständigen. Wenn im Kriegsrat Einwendungen erhoben werden sollten, so vor allem wegen der Truppen. Er sah schon das ironische, betont höfliche Lächeln, mit dem ihm die Anfrage gestellt wurde: „Glaubt der Sehr Ehrenwerte Premierminister, daß wir berechtigt sind, das Risiko einzugehen, Truppen vom entscheidenden Kriegsschauplatz abzuziehen und für ein zweifelhaftes Unternehmen zu verwenden? Ist denn die Gefahr einer Invasion in England vorüber?“ Churchill wußte, wer eine solche Frage stellen würde. Am ehesten… Übrigens – wer immer es sei, sie sollten sich alle samt und sonders zum Teufel scheren. Er wird sie zwingen, seinem Vorschlag zuzustimmen. Er wird sie durch Argumente überzeugen. Großbritannien besteht seit Jahrhunderten und wird weitere Jahrhunderte bestehen. Man muß an das künftige Empire denken. Die Positionen auf dem Balkan sind ebenso wichtig wie Gibraltar und Malta. Zuallererst muß man mit Kreta beginnen. Der Premier würde auf dem Kriegsrat sagen… Ja, was würde er sagen? Die schwere Stahltür öffnete sich, herein trat der Sekretär. „Sie haben mich gerufen, Sir?“ Ärgerlich über die Störung, sagte Churchill ungehalten: „Dafür gibt es eine elektrische Klingel. Ich habe Sie nicht gerufen.“ „Mir war es so, als ob Sie gesagt hätten… Entschuldigen Sie, Sir.“ „Warten Sie, warten Sie! Würden Sie, da Sie nun einmal hier
sind, so liebenswürdig sein und mir die neusten Nachrichten aus aller Welt mitteilen?“ Churchill hatte wieder den gutmütig-nachsichtigen Ton angenommen, in dem er stets zu seinen Untergebenen sprach. „Hat mich jemand angerufen?“ „Ja, Lord Amery. Er hat eine traurige Mitteilung gemacht. Lord Kington ist heute am Ufer der Themse tödlich verunglückt. Er ist von einer Seemine zerrissen worden, die er entschärfen wollte.“ „Wer, wer? Lord Kington? Der Herr sei seiner Seele gnädig!“ Der Premierminister faltete die Hände und neigte den Kopf. Die Nachricht vom Tode Kingtons betrübte ihn. Er hatte es nicht mehr geschafft, dem spleenigen Greis im Viktoriahaus einen Besuch abzustatten. Vor kurzem hatte ihm Amery erzählt, das Kingtonsche Haus sei von einer deutschen Bombe zerstört worden. Offensichtlich schützt einen die Flucht in die Vergangenheit nicht vor den modernen Bombern. Das hatte selbst Kington am Ende seiner Tage begriffen. Er ließ die Ruinen Ruinen sein und siedelte nach London über. Da er sich für einen erfahrenen Feuerwerker hielt, hatte er es übernommen, Seeminen zu entschärfen, die die Deutschen in die Themse warfen. Amery hatte vorgeschlagen, den Alten auszuzeichnen. Kington habe das Viktoriakreuz oder den Hosenbandorden verdient. Elf Seeminen zu entschärfen, sei keine Kleinigkeit. Er, der Premier, versprach, sich dafür zu verwenden. Nun war es zu spät. Ob ihn die zwölfte Mine zerrissen hatte? Oder die dreizehnte? Dreizehn ist eine Unglückszahl. „Armer, armer Kington!“ sagte der Premier. „Nun ist auch der letzte Vertreter der goldenen Ära Großbritanniens, der goldenen Ära der Königin Viktoria, von uns gegangen… Ja,
man muß an das Empire der Zukunft denken. Macht nichts, daß wir den Kopf noch unter die Erde stecken müssen. Wir bleiben trotzdem die Beherrscher der Welt, als die uns die Vorsehung erschaffen hat. Lassen Sie den Wagen vorfahren, Butford. Ich muß zur Sitzung.“ „Jawohl, Sir.“ Der Sekretär hatte den Sinn seiner Worte nicht erfaßt. Der Vorschlag des Premiers, Griechenland militärische Hilfe zu erweisen, wurde ohne Gegenrede angenommen. Aus den spärlichen Reserven wurde ein fünfzigtausend Mann starkes Expeditionskorps abgezweigt. Leeper, der britische Botschafter in Athen, wurde beauftragt, der griechischen Regierung den Kabinettsbeschluß mitzuteilen. Sollten die Griechen die Hilfe ablehnen, dann müßte man auf sie Druck ausüben. Sir Reginald Leeper sollte selber zusehen, auf welche Weise. Churchill verließ sich auf die Erfahrung des britischen Botschafters. Der Premier war gutgelaunt. Als er sich nach der Sitzung von Eden verabschiedete, sagte er scherzhaft: „Ich habe mit Ihnen etwas vor – fahren Sie nach Athen! Wir sind an der Hilfe für Griechenland mehr interessiert als die Griechen selbst. Lernen Sie Hilfe erweisen, mein teurer Anthony!“ Der Premier lachte schallend. An die Angst kann man sich offenbar nicht gewöhnen. Jedenfalls war das die Meinung von Kate Grey. Wenn die Bomben heulten, zog sie instinktiv den Kopf ein, in der Magengegend spürte sie Übelkeit und Kälte, und ihre Beine wurden verräterisch schwach. Aber Kate genierte sich nicht wie andere, das offen einzugestehen.
Trotz allem war sie die aufgeschlossene, lebensfrohe Kate geblieben, die gern lachte und nichts gegen einen gelegentlichen kleinen Flirt hatte. Nach wie vor versah sie in der Londoner Luftabwehrzentrale pünktlich ihren Dienst. Die freie Zeit verbrachte sie meistens zu Hause. Manchmal ging sie auch mit little Ben spazieren. Er war bei den Greys ein häufiger Gast. Zweimal war auch der Lebenskünstler Jimmy Page gekommen, nunmehr Leutnant und noch kahlköpfiger als vorher. Zum Leutnant war er Anfang des Winters befördert worden. Er kam, um die neuen Schulterstücke nebst der Offiziersuniform vorzuführen. Jimmy äußerte sich höchst verächtlich über Robert. Kate fand das empörend und sagte es ihm rundheraus. Jimmy war eingeschnappt, ließ sich lange nicht sehen, tauchte dann aber wieder auf. Er kam gerade an dem Abend, an dem Ben Stevens seinen Freund Alvarez bei den Greys einführte. Sie verlebten ein paar nette Stunden miteinander. Man leerte eine Flasche Wein, die die Amerikaner mitgebracht hatten. Das waren wirklich feine Boys. Besonders Ben, dieses gutmütige, unbeholfene Kerlchen. Er erinnerte Kate etwas an Robert. Sie hatte sich so sehr an ihn gewöhnt, daß er ihr geradezu fehlte, wenn er lange ausblieb. An jenem Abend benahm sich Ben merkwürdig. Er sagte, daß er nach Amerika zurückfahre. Alle beneideten ihn, aber er saß traurig da, und die Rückkehr in die Staaten schien ihn gar nicht zu freuen. Alvarez hingegen gab sich ungezwungen und lustig. Er riß Witze am laufenden Band und erzählte spaßige Geschichten. Nur seine Augen brachten Kate in Verlegenheit. Wenn er seinen sie gleichsam entkleidenden Blick
auf sie warf oder zufällig ihre Hand berührte, wurde ihr ganz sonderbar zumute. Im allgemeinen aber gefiel ihr Foster Alvarez auch. Mit Jimmy Page schienen sich die Amerikaner angefreundet zu haben, jedenfalls unterhielten sie sich mit ihm über geschäftliche Dinge. Kate hörte nicht genau, worüber sie in der Diele sprachen – es drehte sich um einen Tausch oder Kauf. Die jungen Männer überredeten Kate, sie zur Bushaltestelle zu begleiten. In jener Nacht gab es in East End keinen Luftalarm. Die Amerikaner stiegen in den Autobus, und Jimmy brachte Kate zurück. Wieder redete er allerlei seltsames Zeug zusammen, drückte ein unbestimmtes Bedauern aus, machte Anspielungen auf seine Gefühle und erklärte schließlich, daß er jetzt ein Mann mit gesicherter Position sei und gern heiraten würde, wenn sich ein passendes Mädchen fände. „Und du, du wartest noch immer auf Robert?“ fragte er. „Selbstverständlich! Wie könnte es anders sein!“ „Glaubst du denn, daß er auch auf dich wartet?“ „Ganz bestimmt!“ „Na, na! Selig sind, die da glauben!“ Jimmy lächelte hämisch. In Kate verkrampfte sich alles. „Warum sprichst du so schlecht von Robert? Du kennst ihn doch, er ist dein Freund.“ „Von schlecht ist keine Rede. Ich verurteile ihn nicht. Er ist eben ein Mann und nicht gefühllos.“ „Jimmy, das ist gemein von dir!“ „Na, ich hör ja schon auf, meinetwegen…“ Sie blieben an einer Straßenecke stehen. Page schwieg. Plötzlich umarmte er Kate und wollte sie küssen. Kate konnte ge-
rade noch den Kopf wenden, so daß seine feuchten Lippen ihre Wange streiften. Sie riß sich los und sagte zornig: „Was soll das, Jimmy? Schäm dich!“ Page lächelte wieder. Wie widerwärtig sein Lächeln war! Voll geheimer Wut. „Na schön. Was dem einen erlaubt ist, ist eben dem anderen verboten. Wäre ich Amerikaner…“ „Jimmy!“ Kate hatte die Hand erhoben. Keuchend stand sie vor ihm. „Du… Du… Schuft!“ Sie holte aus und schlug ihm ins Gesicht. Jimmy fuhr zurück und stieß ein gemeines Schimpfwort aus. Zum Glück hörte es Kate nicht mehr. Die Lippen fest zusammengepreßt, um nicht laut loszuheulen, lief sie die Straße entlang und verschwand in ihrem Haus. Jimmy stand noch auf derselben Stelle. Nur mit Mühe wurde er seiner Wut Herr. „Na, du wirst noch daran denken! Das vergeß ich dir nicht.“ Wieder fluchte er wie ein betrunkener Matrose. Schließlich arbeitete er ja in der Marineintendantur. Als Kate am Morgen zum Dienst ging, sagte sie zu ihrer Mutter: „Mam, wenn Ben oder Alvarez kommt, laß sie nicht herein, sage ihnen, daß ich nicht zu Hause bin.“ Mrs. Grey sah sie verwundert an. „Was ist denn passiert, Kate? Haben sie dir was getan?“ „Nein, Mam, nichts. Ich hab einfach keine Lust, sie zu sehen. Und Page auch nicht. Nun, ich gehe jetzt!“ Bis auf diese Begebnisse hatte sich in den letzten Tagen in Kates Leben nichts ereignet.
Kate schrieb nach wie vor regelmäßig an Bob, wenn auch nicht mehr so oft wie in der ersten Zeit. Ihr letzter Brief war mit der Nummer dreiundsiebzig versehen. Sie hatte ihn geschrieben, aber nicht abgeschickt. Ebenso wie ein halbes Dutzend Briefe davor. Kate kannte Roberts neue Anschrift nicht. Im vergangenen Monat war ein Brief an ihn zurückgekommen mit dem violetten Stempelaufdruck: „Empfänger nicht zu ermitteln.“ Ihre Briefe hatten die Form von Tagebucheintragungen. Sie schrieb nieder, was sie erlebte, dachte und vorhatte, steckte den jeweils fertiggeschriebenen Brief in einen Umschlag, verschloß ihn und legte ihn in ein Fach ihres Schreibtischs. Kate war nicht abergläubisch, dennoch glaubte sie in naiver Weise an Bobs Worte vor seiner Abreise, daß der Krieg aus sein würde, wenn jeder hundertvierzehn Briefe geschrieben hatte. Daß die Briefe nicht abgeschickt wurden, spielte keine Rolle. Bob würde sie lesen, wenn er kam oder wenn sie seine neue Anschrift hatte. Schlimm war, daß Kate jetzt nicht mehr zu den Crawshows, zu Tante Polly, gehen und sich nach Robert erkundigen konnte. Nach dem Unglück hatte Polly über einen Monat in einer Nervenklinik gelegen und war dann von Onkel John nach Schottland in ein Dorf bei Glasgow gebracht worden. Vielleicht wußte Robert noch gar nichts von dem Unglück. Der arme Bob, er hatte so an Virginia gehangen! Kate hatte vor Robert keine Geheimnisse. Sie konnte in ihren Briefen zu ihm sprechen wie zu sich selbst. Nur im letzten Brief, nach dem unangenehmen Vorfall mit Jimmy, schrieb sie nicht alles. Sie erzählte wohl von der neuen Bekanntschaft mit Alvarez, aber über Page äußerte sie nur unbestimmt: „Am
selben Abend kam auch Jimmy. Er protzt in seiner neuen Uniform. Mir gefällt er nicht. Nimm zur Kenntnis, daß er sehr schlecht über Dich spricht.“ Kate starrte gedankenverloren auf den Brief an Robert, als an der Wohnungstür geklingelt wurde. Es war der Spanier. Kate erkannte ihn an der Stimme. Sie warf den noch nicht beendeten Brief hastig in den Tischkasten. Die Mutter sagte, daß ihre Tochter noch nicht zu Hause sei, sie würde heute wahrscheinlich auf der Dienststelle übernachten. „Sonderbar“, sagte er, „ich war überzeugt, daß Miß Kate schon da ist. Sonderbar…“ Alvarez ging wieder. Er wußte genau, daß Kate zu Hause war. Er hatte auf der Straße gestanden und sie ins Haus gehen sehen. Hier stimmte etwas nicht. Ihm konnte man nichts vormachen! Warum wollte Kate ihn nicht sehen? Sollte er sich wirklich an Ben um Hilfe wenden müssen? Am Abend suchte Alvarez Ben in seinem Zimmer auf und sagte: „Am Sonnabend werden wir deinen Abschied feiern, Ben. Lade Kate ein. Das übrige ist meine Sache.“ „Ich werde niemand einladen. Und überhaupt, laß mich in Ruhe!“ „Dann muß ich, so peinlich mir das ist, dem Chef melden, daß du seinen Auftrag sabotierst.“ Die Drohung verfehlte ihre Wirkung nicht. „Was willst du eigentlich von mir?“ fragte Ben. „Das hört sich schon besser an!“ Die feurigen Augen des Spaniers blitzten. „Aus irgendeinem Grund empfängt man mich im Hause der Greys nicht.“ „Recht tun sie daran.“
Der Spanier reagierte nicht darauf. „Am Sonnabend werden wir eine kleine Party geben. Ich lade ein paar Leute ein. Anlaß – deine Abreise. Deine Dame wird Kate sein. Wir fahren heute zu ihr. Dich kennt sie besser.“ Stevens seufzte. Der Spanier zog ihn in eine schmutzige Sache hinein. Er wollte ablehnen. Aber dann dachte er an Donovan – der Chef würde ihm das schwer verübeln. „Na schön, verflucht und zugenäht, fahren wir!“ Mrs. Grey öffnete die Tür und sagte wieder, daß Kate nicht zu Hause sei. „Wenn Sie gestatten, warten wir hier auf sie, Mrs. Grey.“ Ben sah sie gutmütig an und fügte verlegen hinzu: „Sie müssen schon entschuldigen, ich bin gekommen, um mich zu verabschieden. Ich fahre nach Amerika.“ „Davon haben Sie doch schon das letztemal gesprochen. Ich dachte, Sie seien schon längst unterwegs. Es soll ja eine lange Reise mit dem Schiff sein.“ „Ich wurde aufgehalten.“ Mrs. Grey brachte es nicht übers Herz, den Gentlemen zu sagen, daß Kate wahrscheinlich später komme. Sie zögerte. Zweifel hatten sie befallen. In diesem Fall würde Kate vielleicht nicht böse sein… Das Interesse der Frau des Bankbeamten galt dem umfangreichen Paket, das little Ben in der Hand hielt. Mrs. Grey erriet den Inhalt. Während Kates Mutter noch überlegte, trat Ben einen Schritt vor und übergab Mrs. Grey das Paket. „Hier ist etwas für Sie, Mrs. Grey“, sagte er schüchtern wie immer. „Vielleicht darf ich Ihnen beim Aufschnüren behilflich sein?“ Mrs. Grey gab sich geschlagen. Wie zuvorkommend die
Gentlemen waren! „Wollen die Herren nicht ablegen? Kate muß bald kommen.“ Eine Viertelstunde später kam Kate. Es hatte heute auf der Post länger gedauert als sonst. Gestern war endlich ein Brief von Robert gekommen. Er lebte und war gesund. Alles war in Ordnung, bloß hatte man ihn inzwischen wieder woandershin geschickt, weit weg. Wohin – das schrieb er nicht. Die Zensur hätte das ohnehin gestrichen. Wahrscheinlich war er irgendwo im Mittelmeer. Ihr Bob war ja nicht auf den Kopf gefallen! Nicht ohne Grund hatte er zweimal erwähnt, daß das Wetter prachtvoll sei, er nehme in seiner Freizeit Sonnenbäder. Überhaupt gebe es dort, wo er sei, viel Licht und Sonne, kein Vergleich mit dem nebligen London. Auf dem Brief stand die Nummer zweiundsiebzig. Also hatte Kate sechs Briefe nicht erhalten. Vielleicht würden sie noch eintreffen. Kate ärgerte sich, daß sie nicht alle Briefe bekommen hatte. Aber viel wichtiger war – sie besaß die neue Anschrift. Auf der Post hatte sie alle Briefe auf einmal aufgegeben und kehrte nun frohgemut nach Hause zurück. Als sie hörte, daß sie erwartet wurde, verfinsterte sich ihr Gesicht, und sie warf der Mutter einen vorwurfsvollen Blick zu. „Ben ist gekommen, um sich zu verabschieden, Kate. Ich wollte ihn nicht betrüben. Er ist so zuvorkommend.“ Kate gab nach. Was konnten die amerikanischen Boys schließlich dafür, daß Page ihr so etwas gesagt hatte? Sie begrüßte sie, als sei nichts geschehen. Alvarez sagte: „Ben verläßt uns am Sonnabend. Wir wollen ihm ein Fest geben und bitten Sie sehr, an der Abschiedsparty teilzunehmen. Wir holen Sie mit dem Jeep ab.“ „Ist es denn auch Bens Wunsch?“ fragte Kate kokett. Es
machte ihr Spaß, little Ben ein wenig in Verlegenheit zu bringen. Kates Frage bereitete Ben noch größere Pein. „Ja, Kate, ich bitte Sie auch darum, dabeizusein“, preßte er hervor und dachte: Was bin ich bloß für ein Dreckkerl. „Mein lieber Ben, wann werden Sie endlich Ihre Befangenheit ablegen?“ rief Kate. „Gut, wenn Mama es erlaubt, mache ich mit.“ Mrs. Grey war bei dem Gespräch zugegen. „Ich sehe daran nichts Anstößiges. Du wirst doch nicht allein in Männergesellschaft sein, Kate?“ „Natürlich nicht“, beeilte sich Alvarez zu sagen. „Es werden noch andere junge Damen dasein, nette Mädchen aus gutem Haus. Ich bin überzeugt, sie werden Kate gefallen.“ Der Spanier hatte sich bisher keine Gedanken darüber gemacht, daß noch ein paar andere weibliche Wesen mit von der Partie sein mußten. Natürlich mußte er noch jemand einladen. Aber wen? Ach was, es würde sich schon jemand finden. Am Samstagabend hielt ein Jeep vor dem verräucherten einstöckigen Haus in East End. Der Spanier blieb im Auto, Ben ging Kate holen. Als Ben fort war, sagte der Spanier zu den im Wagen sitzenden jungen Damen ziemlich grob: „Hört mal, daß mir heute ja alles anständig zugeht. Besonders dich, Mary, bitte ich. Wenn du beschwipst bist, tanzt du immer auf dem Tisch. Das muß unterbleiben.“ „Gut, Darling, für dich tue ich alles.“ Mary streckte die Hand aus und tätschelte seine Wange. „Und noch eins. Daß sich keine von euch solche Vertraulichkeiten erlaubt.“
„Hör schon auf, du tust gradeso, als wenn du uns zum Empfang beim König fährst. Hat sich was! Als wenn ich noch nie in einer anständigen Gesellschaft gewesen wäre.“ Die zweite erkundigte sich in geschäftlichem Ton: „Bleiben wir die Nacht über oder können wir früher gehen?“ „Das weiß ich noch nicht.“ „Wenn es nicht so lange dauert, müßt ihr uns im Auto nach Hause bringen. Sonst mache ich nicht mit. Habe ich recht, Mary?“ „Seid ruhig!“ fuhr Alvarez dazwischen. „Alles geht in Ordnung. Ihr kennt mich doch… Guten Tag, Miß Kate! Nehmen Sie neben mir Platz. Ich hoffe, Ben wird nicht eifersüchtig sein. Gestatten Sie, daß ich Sie unseren Freundinnen vorstelle.“ Kate begrüßte alle. Sie trug ihren Pelzmantel, der sie so gut kleidete. Sie hatte sich entschlossen, an diesem Abend ihre Uniform abzulegen. Auf der Abschiedsfeier in der alten Villa ging es lustig zu. Man saß in einem großen Raum. Im Kamin flackerte ein Feuer, auf den Tischen brannten Kerzen in schweren Bronzeleuchtern. Außer dem Spanier, little Ben und den Mädchen, die man Kate vorgestellt hatte, waren noch ein paar Männer gekommen. Kate konnte sich ihre Namen nicht merken. Sie trank viel. Alvarez füllte ihr Glas immer von neuem. „Nein, nein, das ist zu stark“, protestierte sie, als der Spanier, gewissermaßen versehentlich, Rum oder Whisky in das noch halbvolle Weinglas gießen wollte. Ihr Blick trübte sich, der Kopf begann ihr zu schwindeln. Sie fühlte sich leicht und froh. Als Alvarez auf einen Augenblick verschwunden war, rückte Ben zu ihr heran und sagte leise:
„Sie dürfen nicht so viel trinken, Kate. Ihnen kann übel werden.“ „Warum? Wollen Sie nicht mit mir anstoßen, Ben? Auf eine glückliche Reise! Daß Sie mich nicht vergessen! Wollen Sie nicht?“ Kate lachte und erhob ihr Glas. „Sie sind so lieb, Ben! Schön von Ihnen, daß Sie mich eingeladen haben.“ Immerhin kam dann ein Augenblick, wo sie sich nicht gut fühlte. Sie ging in die Halle. Dort war es kühler. Erhitzt, wie sie war, atmete sie in tiefen Zügen die frische Luft. Plötzlich fühlte sie, daß jemand seinen Arm um sie legte. Neben ihr stand Alvarez. „Bitte, lassen Sie mich los!“ „Aber Sie gefallen mir.“ „Gehen wir zurück.“ Auf seinen Arm gestützt, ging sie wieder in das Zimmer. Kate merkte nicht, daß die Gesellschaft immer kleiner geworden war. Jetzt waren nur noch Ben, der Spanier, zwei Mädchen – Mary und Lina – und ein fremder Mann da. Der Fremde setzte sich zu Mary, sagte etwas zu ihr und versuchte sie zu küssen. Mary lachte laut und stieß ihn zurück. Lina, ein hageres Mädchen mit verhärmtem, abgezehrtem Gesicht, saß allein da und aß. Sie aß schon den ganzen Abend, und man hatte den Eindruck, sie werde überhaupt nicht satt. Wie durch einen Schleier bemerkte Kate die auf sie gerichteten traurigen, leidvollen Augen Bens. Von weit her drang die Stimme des Spaniers an ihr Ohr. Das kam ihr komisch vor, weil Alvarez neben ihr saß. „Jetzt werden wir nach englischer Tradition auf den König trinken. Kate, wo ist Ihr Glas?“ Sie hatte nicht gesehen, daß man es gefüllt hatte. Sie wollte
etwas sagen, vergaß aber, was es war, und lachte. Mit schwerer Zunge lallte sie: „Ja, gut… Auf den König… Ich glaube, ich bin total betrunken…“ Sie nahm einen Schluck aus dem Glas, wollte es auf den Tisch stellen, schwankte und vergoß den Wein auf das Tischtuch. „Mary, bring Kate in mein Zimmer. Zweite Tür rechts. Sie muß sich hinlegen.“ Die Worte des Spaniers nahm sie kaum noch bewußt auf. Sie waren das letzte, was sie von jenem Abend in Erinnerung behielt. Als Kate am Morgen aufwachte, fielen ihr als erstes unordentlich herumliegende Kleidungsstücke in die Augen: Unterwäsche, Strümpfe und ihre zerdrückte Bluse. Kate konnte nicht gleich darauf kommen, wo sie sich befand. Sie legte ihre Sachen nie so liederlich hin. Also hatte sie jemand ausgezogen. Nur mit Mühe konnte sie den benommenen Kopf bewegen. Neben ihr, das Gesicht ins Kissen vergraben, schlief der Spanier. Mit einem Schlage wurde Kate alles klar. Sie erschrak zu Tode. Ihre erste Empfindung war Ekel. Dieses Gefühl trieb sie aus dem Bett. Hastig, mit zitternden Fingern, begann sie sich anzukleiden. „Oh mein Gott, mein Gott, was ist mit mir geschehen?“ flüsterte sie unhörbar. Kate fühlte, wie ihre Lippen bebten. Sie nahm alle Kraft zusammen, um nicht laut zu schluchzen. Nur fort von hier! Fort aus diesem schrecklichen, nach Tabak riechenden Zimmer, bevor der da im Bett aufwachte. Doch ihre nervöse Hast weckte ihn. Der Spanier schlug die Augen auf, erblickte Kate
und streckte sich. „Du bist schon wach, Sweety? Guten Morgen.“ Kate stürzte, ohne zu antworten, zur Tür. Alvarez lauschte auf die sich entfernenden Schritte. „Jetzt hab ich dich sicher…“ Er gähnte, streckte sich wieder, stand auf und machte Gymnastik. In der Halle riß Kate ihren Pelzmantel vom Garderobenhaken. An der Eingangstür stieß sie auf Ben. Frottiertuch und Necessaire in der Hand, ging er sich waschen. Verlegen blieb er stehen. „Sie… Sie sind also nicht abgefahren? Sie haben mich dem da ausgeliefert, Ben! Wie entsetzlich, wie gemein!“ Kate brach in Tränen aus, öffnete ungestüm die Tür und lief die Treppe hinunter. In der Silvesternacht tobte ein Sturm auf der See. Ein Ausläufer davon erreichte auch London. Das neue Jahr, das Jahr 1941, hielt seinen Einzug. Was brachte es Großbritannien? Würde das militärisch-politische Wetter aufklaren, oder aber würden weiterhin Bomben über der Insel explodieren und Stukas mit ihrem Getöse panischen Schrecken verbreiten? Churchill verbrachte die Silvesternacht in seinem Landhaus in Chartwell. Er saß vor dem Kamin und lauschte dem Wind, der große Schneeflocken gegen das Fenster trieb. Der Premier ließ sorgenvoll die Ereignisse des verflossenen Jahres an seinem Auge vorüberziehen. War es denn schon lange her, daß Kesselring seine Luftflotte auf den nordfranzösischen Flugplätzen konzentriert hatte? Im
August wohl. Seit jener Zeit waren die deutschen Flieger nicht mehr vom britischen Himmel verschwunden. Jetzt flogen sie nun bald zwei Monate lang Nacht für Nacht London an. Wann würde das enden? In der Stadt gab es Tausende zerstörter Gebäude. Im August verfügte Kesselring über dreitausend einsatzfähige Kampfmaschinen, einschließlich Hunderter von Stukas. Hitler ließ die Stukas in Serienproduktion herstellen und probierte sie über England wie auf einem Übungsschießplatz aus. Man konnte sich vorstellen, wie er triumphierte, daß es ihm gelungen war, der Welt eine solche Überraschung wie die Stukas zu bereiten. Sie waren in der Tat schrecklich, diese im Sturzflug niedergehenden Bomber. Was konnte er, Churchill, den Deutschen entgegenstellen? Die Zahl der einsatzfähigen Flugzeuge schrumpfte von Tag zu Tag. Man konnte die Kampfmaschinen auf jedem Flugplatz an den Fingern abzählen. Den britischen Premier tröstete es ein wenig, daß die deutschen Verluste über England doppelt, den offiziellen Heeresberichten nach sogar fünfmal so hoch waren wie die britischen. In der Tat hatte Kesselring binnen drei Monaten tausendsiebenhundertdreiunddreißig Maschinen gegenüber neunhundert britischen eingebüßt. Kesselring war selbst entsetzt über die unerhört hohen Verluste. Churchill wußte das von einem Kriegsgefangenen, einem Flieger-As, der eine Woche zuvor über London abgeschossen worden war. Er hatte erzählt, daß es aus dem Hauptquartier, aus Berchtesgaden und aus der Reichskanzlei von Befehlen Hitlers hagle, die Schläge der Luftwaffe ungeachtet aller Verluste zu verstärken. Deshalb flogen die deutschen Maschinen gegen England wie Moskitos in schwüler Nacht. Man schoß
sie ab, sie verbrannten in der Luft und am Boden, aber an ihrer Stelle kamen andere und fügten dem Land neue Wunden zu. Was wollte Hitler letztlich damit erreichen? Die britischen Verluste wären unzweifelhaft noch höher, wenn man nicht das geheime Funkortungsverfahren hätte. Die Erfindung des Radargeräts war ein großes Plus in der Bilanz des verflossenen Jahres. Wenn auch die Geräte noch unvollkommen waren, so hatte man ihnen doch schon viel zu verdanken. Die Deutschen ahnten nicht einmal, worauf ihre schweren Verluste zurückzuführen waren. Seltsame Ungetüme von Apparaturen, ähnlich den hochgestellten wachsamen Ohren gigantischer vorsintflutlicher Tiere, tauchten immer häufiger bald hier, bald dort an der Küste und um London auf. Churchill verfolgte ihre Wirkung und war zufrieden. Britannien mußte dem Erfinder, Professor Watson-Watt, dankbar sein. Die Amerikaner arbeiteten ebenfalls auf dem Gebiet des Radars und baten um Informationen über die militärische Neuheit. Das hätte ihnen so passen können! Solche Einfaltspinsel mochten sie sich woanders suchen. Und dennoch fiel die Kriegsbilanz des vergangenen Jahres nicht zugunsten Britanniens aus, selbst wenn man die in Afrika erzielten Erfolge berücksichtigte. Wavell hatte die italienische Offensive zum Stehen gebracht und Mussolinis Armee zerschlagen. Die Gefahr für Ägypten durfte demnach gebannt sein – die Italiener waren zurückgeworfen. Jetzt mußte es noch gelingen, Tobruk einzunehmen! Wenn die Gefahr einer Invasion in England selbst entfiele, wenn die Bombenangriffe aufhörten… Wenn, wenn… Aber vorläufig lagen nur klägliche Ergebnisse vor. Das mußte man zugeben. Churchill erhob sich schwer aus dem Sessel und ging zum
Schreibtisch. Um sich die einzelnen Etappen der Schlacht um England ins Gedächtnis zurückzurufen, blätterte er in der Mappe mit den Meldungen des Luftabwehrstabes. Übrigens hätte er diese Meldungen gar nicht gebraucht. Alles hatte sich ja geradezu vor seinen Augen abgespielt. Da war beispielsweise der Bericht der Luftabwehrzentrale vom 10. Juli 1940. Über den ersten großen Luftangriff auf England. Churchill besann sich, was für einen Eindruck er auf ihn gemacht hatte. Dennoch nahm er ihn nicht ernst. In Dünkirchen hatte Hitler deutlich zu verstehen gegeben, daß er nicht gegen England kämpfen wolle. Und dann folgten die Schläge aus der Luft. Ob Hitler sich zu aktiven Handlungen entschlossen hatte? Vielleicht hatte er seine Pläne geändert und von einem Angriff auf Rußland Abstand genommen? Churchill war nachdenklich geworden. Hatte er es mit den Deutschen nicht zu weit getrieben? Vielleicht begann nun die Vergeltung für das Ränkespiel, dessen ihn seine Gegner bezichtigten. Dennoch blieb Churchill bei seiner Meinung. In der Regierung herrschte Verwirrung, fast Panikstimmung. Man erwog, ob der königliche Hof nicht nach Kanada evakuiert werden sollte. Churchill seinerseits behauptete mit undurchdringlicher Miene, daß es sich nur um einen Nervenkrieg handle und die Luftangriffe eines Tages aufhören würden. Auch heute dachte er noch so – der Krieg in seinem jetzigen Stadium war ein Nervenkrieg. Aber im September war er doch unsicher geworden. In der Nacht auf den 6. September stießen achtundsechzig deutsche Bomber nach London durch. In der folgenden Nacht durchfurchten dreihundert Maschinen mit dem schwarzen Kreuz auf den Flügeln den Himmel über
London. Eine Woche später erfolgte ein noch heftigerer Angriff. Das brennende London war ein ausgezeichnetes Ziel für die Bomber. Aber sonderbar – je stärker die Bombenangriffe wurden, desto weniger glaubte Churchill, daß Hitler ernste Absichten damit verfolgte. Das gab ihm einmal die Intuition ein, zum anderen entnahm er das den geheimen Nachrichten, die ihm von überall her zuflössen. Nichtsdestoweniger richtete der Nervenkrieg viel Unheil an, hauptsächlich unter der englischen Bevölkerung. Aber in dem großen Spiel waren die Opfer für Churchill bedeutungslos, er rief zur Standhaftigkeit auf und wälzte die Schuld auf das alte Kabinett ab. Am 15. November zerstörten die Deutschen Coventry durch einen Bombenangriff. Die Stadt verwandelte sich gleich Pompeji in einen Ruinenhaufen. Nach diesem Luftangriff verstieg sich Hitler zu den Worten: „Wenn die Engländer weiter Widerstand leisten, werde ich die ganze Insel coventryren.“ Es hatte den Anschein, als wollte Hitler seine Drohung in der Tat wahrmachen. Aber Churchill glaubte nicht daran – es konnte nicht sein, daß das ernst gemeint war. In seinen Betrachtungen über das scheidende Jahr beurteilte Churchill die Dinge so, wie sie waren. Weder beschönigte er sie, noch malte er sie zu düster. Ja, was sollte man sich da vormachen – nicht nur die militärische, auch die politische Bilanz schloß mit einem Defizit zu Lasten Britanniens ab. Man mußte vieles auf die Opferschale legen. Wieviel Kraft hatten ihn allein die Amerikaner gekostet! Die spazierten in den britischen Kolonien umher wie Kauflustige auf einem heruntergewirtschafteten Gut. Gott allein weiß, daß er, Chur-
chill, alles getan hatte, um den Appetit der Wucherer zu mäßigen, aber sie hatten ihm die Faust in den Nacken gesetzt. Acht Stützpunkte längs der Atlantischen Küste – von Neufundland bis fast nach Feuerland – hatten sie ihm abgeknöpft. Und wofür? Für fünfzig alte Zerstörer. Das nannte sich Pacht auf neunundneunzig Jahre. Staatssekretär Hull hatte ihn schön übers Ohr gehauen und ihn doppelt gerupft. Die Amerikaner steckten sich die Stützpunkte in die Tasche und gaben als Gegenleistung veraltete Schiffe, die sofort einer Generalüberholung unterzogen werden mußten. Churchill schrieb an Roosevelt, drückte seine Unzufriedenheit aus, aber wer gab schon militärische Stützpunkte zurück? Hätte er, Churchill, etwa anders gehandelt? Und dennoch war er der Meinung, daß er nicht schlecht dabei gefahren war. Zweifellos ergab sich daraus ein politischer Vorteil – der Tausch der strategischen Stützpunkte gegen die Zerstörer hatte die Beziehungen zwischen Hitler und den Vereinigten Staaten zugespitzt. Gott gebe, die Staaten treten in den Krieg ein, dann würde es leichter werden… Ja, es war alles nicht so trostlos, wie es auf den ersten Blick schien! In der Silvesternacht mußte man an eine bessere Zukunft denken und neuen Mut schöpfen. Was not tat, war Selbstsicherheit. Er wird den Krieg gegen den Osten lenken, koste es, was es wolle. Die Amerikaner werden dabei helfen. Sie sind ebenfalls daran interessiert. Natürlich muß man vorsichtig sein – wenn man ihnen den kleinen Finger gibt, nehmen sie die ganze Hand. Churchill hoffte auf das Schicksal, auf die Elastizität seines machiavellischen Geistes. Ja, was würde wohl das Jahr 1941 bringen?
Der Beginn des neuen Jahres brachte eine gewisse Klärung der politischen Situation. Aus dem Strom der aufeinanderfolgenden Geschehnisse spürte Churchill den wichtigsten nach, griff sie heraus, analysierte sie, zog die notwendigen Schlußfolgerungen und lenkte sie, soweit es in seinen Kräften stand, in die gewünschte Richtung. Zunächst einmal war Anfang Januar Harry Hopkins, der persönliche Berater Roosevelts, nach London gekommen. Sein Einfluß auf den amerikanischen Präsidenten war groß. Hager und krankhaft zart, dabei aber temperamentvoll, geistreich und scharfsinnig, machte Hopkins einen günstigen Eindruck. Aus den Besprechungen mit ihm gewann Churchill endgültig die Überzeugung, daß die Amerikaner sich an den Angelegenheiten des europäischen Kontinents beteiligen wollten. Natürlich unter bestimmten Voraussetzungen. Mit weitgehenden Vollmachten ausgestattet, sollte Harry Hopkins die Verhandlungen über ein Leih- und Pachtabkommen zur Überlassung von Kriegsmaterial führen. Über die Bedingungen ließ er sich nicht offen aus, er zog die Sache hin, aber für Churchill stand fest: Die Amerikaner befürchteten, Britannien könne vorzeitig einen Waffenstillstand mit Hitler eingehen. Die Staaten wollten keine Stärkung Deutschlands, aber auch England wollten sie nur wie einen Schwerkranken durch künstliche Atmung am Leben erhalten. In der letzten Zeit kamen häufig Amerikaner nach London. Nach Hopkins stattete Willkie, der Führer der Republikaner, London einen Besuch ab. Willkie war bereits offener. Er sprach über die Pläne Hitlers. In Washington war man recht gut darüber unterrichtet. Über den Angriff auf die Sowjetunion lag die Entscheidung bereits fest. Willkie verfügte über
zuverlässige, bis ins einzelne gehende Informationen. Als Erwiderung auf die vielversprechenden amerikanischen Besuche hatte sich Churchill entschlossen, eine höchst repräsentative Persönlichkeit als englischen Botschafter in die Staaten zu schicken. Er entschied sich für Lord Halifax, den früheren Außenminister. Bei den Verhandlungen in München war er die rechte Hand Chamberlains gewesen. Ein Russenhasser und erfahrener Diplomat, also der richtige Mann und ein guter Ersatz für den verstorbenen Botschafter Lord Lothian. Der neue Botschafter wurde mit großem Pomp nach Amerika verabschiedet. Churchill begleitete ihn selbst nach Scapa Flow. Lord Halifax trat die Überfahrt zusammen mit seiner Gemahlin auf dem Schlachtschiff „King George V.“ an. Es war erst kurz zuvor vom Stapel gelaufen. Die Amerikaner sollten ruhig sehen, über welch mächtige Schiffe Britannien verfügte! Nachrichten über Hitlers Vorbereitungen auf den Krieg gegen die Sowjetunion flössen Churchill nicht nur aus amerikanischen Quellen zu. Darüber berichtete ihm beispielsweise auch Gisevius. Und nach längerem Schweigen ließ plötzlich auch Alexander Paterson Scotland, ein Spion, der in den deutschen Generalstab eingedrungen war, wieder von sich hören. Churchill hatte nicht umsonst große Hoffnung auf ihn gesetzt. Als Siebzehnjähriger, bereits vor dem ersten Weltkrieg, war Scotland in den deutschen Militärdienst getreten. Während der heißen Kämpfe um Verdun kehrte er nach England zurück, aber er wurde bald wieder über die Grenze geschickt. Der gewandte Spion verstand es, das Vertrauen der Deutschen zu gewinnen.
Nach dem ersten Weltkrieg lebte Scotland in London, begab sich aber einige Jahre vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges erneut nach Deutschland. Er fand Eingang in die operative Abteilung des Generalstabes, wo man ihm Vertrauen schenkte und ihn als durchaus dazugehörig betrachtete. Scotland hatte bei den Deutschen offensichtlich Erfolg – er wurde mit Orden des Dritten Reichs ausgezeichnet und brachte es in der deutschen Wehrmacht bis zum Major. Der vorsichtige Spion schickte nun nach langer Unterbrechung einen Bericht über die Vorgänge im Tempel des deutschen Kriegsgottes. Hitler beabsichtige, die Sowjetunion im Frühjahr zu überfallen. Im Dezember habe er die Weisung Fall „Barbarossa“ unterschrieben. Die Information war glaubwürdig: Der britische Agent hatte gleich Oberst Heusinger und anderen Mitarbeitern des Generalstabs an der Ausarbeitung des strategischen Plans der Invasion mitgewirkt. Die Mitteilungen der Geheimagenten und Diplomaten gaben dem Premier neuen Auftrieb. Aus Madrid berichtete Samuel Hoare, daß die Verhandlungen mit den Deutschen gediehen und die Deutschen gewillt seien, eine Vertrauensperson nach England zu entsenden. Dies würde voraussichtlich Heß alias Horn sein, Hitlers Stellvertreter und nächster Mitarbeiter. Churchill war in gehobener Stimmung. Jetzt mußte man in geschickter Weise eine günstige Situation schaffen. Als Eden, der neue Außenminister, nach Athen fuhr, sagte Churchill zu ihm: „Denken Sie daran, mein lieber Anthony, vielleicht werden wir den Griechen gar nicht zu helfen brauchen. Alles hängt von der Situation ab.“ „Dann sollte ich vielleicht gar nicht fahren? Die Reise ist
jetzt nicht gerade angenehm…“ „Nein, nein, fahren Sie nur! Überzeugen sie den König davon, daß wir bereit sind, Griechenland mit allen verfügbaren Mitteln zu verteidigen, flößen Sie ihm Vertrauen zu unserer Stärke ein. Aber“ – Churchill zögerte – „halten Sie sich dennoch vor Augen: Ich stehe nur für das ein, was ich in schriftlicher Form anweise. Meine Instruktionen gehen Ihnen noch zu.“ Ende Februar flog Eden nach Athen und unterzeichnete zwei Tage darauf im königlichen Palast ein Abkommen über den Einsatz englischer Truppen auf griechischem Gebiet. Bald darauf begann in Piräus die Landung des englischen Expeditionskorps. Das Korps war über fünfzigtausend Mann stark. Fast gleichzeitig sandte Churchill an Eden einen vertraulichen Brief. Er unterrichtete darin den Außenminister über die Gerüchte bezüglich des von Hitler beabsichtigten Angriffs auf Rußland und über die Bestrebungen der Deutschen, sich in den Balkankonflikt einzumischen. Zum Schluß schrieb er: „All das ruft bei mir Zweifel hervor, ob wir jetzt die Möglichkeit haben, das Schicksal abzuwenden, das Griechenland droht… Jetzt müssen wir sehr darauf achten, Griechenland nicht in einen hoffnungslosen Widerstand hineinzudrängen.“ Der Premier hatte eigentlich schreiben wollen, daß man Hitler nicht von Rußland ablenken sollte, aber das war ihm zu offen. Man mußte seine Gedanken in vorsichtiger Form zu Papier bringen. Gleichzeitig überlegte er: Eigentlich müßte man Stalin davon unterrichten, daß Hitler Vorbereitungen zu einem Überfall auf die Sowjetunion trifft. Das würde bestimmt eine günstige Situation schaffen – man darf nicht zulassen, daß Hitler ungehindert in Rußland eindringt. Sollen
die beiden Gegner sich nur ruhig bis zum äußersten schwächen! Er, Churchill, würde schon wissen, wie er daraus Nutzen ziehen könne. Auch der März brachte Kümmernisse. Aufs neue ballten sich plötzlich die Wolken – die Armee Rommels kam den italienischen Truppen in Libyen zu Hilfe. Die Erfolge Wavells, des Befehlshabers der Nilarmee, hatten sich als sehr vergänglich erwiesen. Wohl hatte Wavell zehn italienische Divisionen zerschlagen, vierhundert Panzer sowie mehr als tausend Geschütze erbeutet und hundertdreißigtausend Gefangene gemacht, wohl war er im Verlauf von zwei Monaten fünfhundert Meilen längs der afrikanischen Küste vorgerückt, aber jetzt mußte er unter den Schlägen der deutschen Divisionen wieder zurückgehen. Am 6. April fielen die deutschen Truppen in Griechenland und Jugoslawien ein. Der ungarische Ministerpräsident Graf Teleki beging Selbstmord. Er war nicht einmal darüber informiert worden, daß sein Generalstab über den Kopf der Regierung hinweg den Deutschen für den Angriff gegen Jugoslawien das ungarische Territorium zur Verfügung gestellt hatte. Churchill regte sich über den Selbstmord des Grafen Teleki ebensowenig auf wie über die Vorhutgefechte der englischen Vorausabteilungen mit den Panzerkolonnen der Deutschen in Griechenland. Die Scharmützel in den Gebirgspässen hatten symbolische Bedeutung. Bevor das Expeditionskorps in einen ernsthaften Kampf verwickelt werden konnte, gab Churchill den Befehl zur Evakuierung der englischen Truppen aus Griechenland. Wir setzen das Spiel fort, wiederholte der Premier in Gedanken seine Lieblingsworte. Britannien darf jede Schlacht
verlieren, nur die letzte nicht, sagte er sich, als er an die Ereignisse auf dem Balkan dachte. Die Hauptsache ist, man steht, wenn die Diener die Kerzen löschen, mit dem Gewinn in der Tasche vom Tisch auf. Noch brennen die Kerzen. Wir spielen weiter. Churchill setzte seine Bemühungen fort, eine günstige Situation zu schaffen. 8 Sonnabends gingen Erna und Franz immer ins Kino. Sie schlenderten langsam durch die Straßen, lösten Eintrittskarten und vergaßen zwei Stunden lang über den Abenteuern und Erlebnissen der Filmhelden alles andere. Erna, die sehr empfindsam war, rührten die fremden Schicksale bis zu Tränen. Aber im Film endete meist alles gut, die Helden überwanden alle Stürme, die verliebten Herzen fanden zueinander, und Erna verließ das Kino froh und zufrieden. An einem Sonnabend gegen Wintersende saßen die Wilamzeks wieder im Kino. Der Zuschauerraum füllte sich rasch, nur wenige Sessel blieben frei. Zwei freie Seitenplätze befanden sich genau vor ihnen am Gang. Als ein Nachzügler den einen freien Platz vor ihnen einnahm, erlosch gerade das Licht. Der Mann war nicht groß – Erna konnte über seinen kahlen Kopf hinweg ungehindert die Leinwand sehen. Die Vorführung einer alten Wochenschau begann. Erna blickte ärgerlich auf. Knarrend nahm ein verspäteter Besucher den anderen freien Platz ein. Der dunkle Zuschauerraum war von den Klängen eines Militärmarsches und von Trommelwirbel erfüllt – auf der Leinwand zogen Kolonnen deutscher Soldaten durchs Brandenburger Tor. Dann zeigte man
ein polnisches Dorf. Eine deutsche Familie wurde auf einem Gehöft angesiedelt. Der zufriedene neue Besitzer besichtigte den Hof, den Kuhstall und den Garten. Der Sprecher sagte: „Fortan werden hier Deutsche leben.“ Erna seufzte. Wenn man sie doch auch dort ansiedeln würde! Die Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Zufällig fiel Ernas Blick auf die Männer vor ihnen. Da war ihr, als stecke der Kahlköpfige etwas in die Tasche seines Nachbarn. Dieser schien nichts gemerkt zu haben. Erna stieß ihren Mann an und wies mit dem Kopf nach vorn. Aber Franz wußte nicht, was sie wollte, und fragte flüsternd: „Was ist?“ „Später.“ Erna beobachtete die beiden weiter. Der Kahlköpfige saß nun ruhig da und blickte konzentriert auf die Leinwand. Sein Nachbar zog währenddessen ein Päckchen aus der Manteltasche und steckte es sich in die Brusttasche der Jacke. Erna sah sein Gesicht halb von der Seite – er hatte eine gebogene Nase und ein leicht vorstehendes Kinn. Dann hielt er plötzlich ein anderes Päckchen in der Hand, das aussah wie ein prall gefüllter Briefumschlag. Dieses Päckchen schob er verstohlen in die Tasche des kahlköpfigen Mannes. Bald darauf erhob sich der Kahlköpfige und verließ das Kino. Als die Vorstellung aus war, waren beide Sessel vor den Wilamzeks leer. Auf dem Heimweg erzählte Erna ihrem Mann, was sie beobachtet hatte. Franz wollte es nicht glauben. „Das hast du dir sicher nur eingebildet.“ „Nein, nein, ich hab’s genau gesehen.“ „So was gibt’s doch nicht. Warum sollten sie sich gegensei-
tig in die Taschen greifen?“ Damit war dieser Vorfall für ihn erledigt. In bezug auf die Wochenschau war Franz anderer Meinung als seine Frau. Erna sagte, daß es schön wäre, sich in Polen anzusiedeln. Er widersprach: „Ich habe keine Lust, mich an fremdem Besitz zu bereichern. Man hat die Polen von dort vertrieben.“ „Natürlich ist es nicht schön, wenn jemand von seinem Wohnort vertrieben wird. Aber da es nun einmal so ist, könnten sie ruhig auch uns dort ansiedeln. Wir selbst vertreiben ja niemand…“ Zu Hause erwartete sie die Mutter. Wenn Erna mit ihrem Mann ins Kino ging, blieb sie immer bei dem Kind. Sie sagte, ein Brief sei für Franz abgegeben worden. Er liege auf dem Tisch. Der Brief war vom Wehrkreiskommando – Franz Wilamzek wurde zum Militärdienst einberufen. „Wozu? Ich denke doch, der Krieg ist schon aus?“ fragte Erna bestürzt. „Wahrscheinlich muß es so sein.“ Franz studierte den Einberufungsbefehl noch einmal und sagte, um Erna zu beruhigen: „Es handelt sich nur um eine Übung. Ich hab’s nicht gleich mitgekriegt. Das ist nicht auf lange.“ Laut Anordnung des Wehrkreiskommandos hatte der Soldat Wilamzek in zwei Tagen mit Gepäck am Gestellungsort zu erscheinen. So kam es, daß Franz an jenem Sonnabend zum letztenmal in der Knopffabrik gearbeitet hatte. Kaum ging alles seinen geregelten Gang, da platzte auch schon wieder was dazwischen! Am Sonntag fuhren sie zu seinem Bruder. Karl schlug Erna
vor, zu ihm aufs Land zu ziehen – zum Frühjahr brauchte et dort einen zuverlässigen Menschen, der ein Auge auf die Wirtschaft warf. Die Jungverheirateten überlegten und willigten ein. Was sollte Erna auch allein anfangen? Bei dem Bruder von Franz würde sie wenigstens satt zu essen haben und nicht frieren müssen. Auch würde die frische Landluft ihrer kleinen Tochter bestimmt gut tun. Am Montag rückte Franz ein, und am Mittwoch packte Karl die Frau seines Bruders nebst Kind und Siebensachen auf seinen Lieferwagen und brachte sie in das unweit von Buch gelegene Dorf. Aber es war noch keine Woche vergangen, da erhielt auch der ältere Wilamzek die Einberufung. Murrend nahm Karl sie entgegen. Was wollte man von ihm? Wozu brauchte er die militärische Ausbildung? Er war Gärtner. Überdies war er längst über die Vierzig hinaus. Aber der Gestellungsbefehl verlangte unerbittlich, daß Karl an dem und dem Tag dort und dort erscheine. Karl kam dem Einberufungsbefehl nach, und Gerda nahm die Wirtschaft in ihre Hand. Gut, daß Erna ins Dorf gekommen war, allein hätte sie sich geradezu zerreißen müssen. Erna fand sich allmählich in ihre neue Rolle hinein. Von ihren neuen Aufgaben in Anspruch genommen und voller Sorge um Franz, dachte sie natürlich nicht mehr an die unbedeutende Begebenheit, die sie am letzten Sonnabend vor Franz’ Einberufung im Kino beobachtet hatte. Sam Woods stand in dem Ruf, ein guter Spion zu sein. Zumindest hielt man ihn – und nicht ohne Grund – im Office of Strategie Services dafür. Offiziell bekleidete Sam Woods in Berlin den Posten des
Handelsattaches der Vereinigten Staaten. Er verbrachte auch gewissenhaft eine bestimmte Zeit im Büro, doch das lenkte ihn nur von seiner Haupttätigkeit ab. Nichtsdestoweniger ermöglichte ihm die Stellung eines Kaufmanns, ungehindert die nötigen Verbindungen anzuknüpfen und nützliche Informationen nicht nur für das Office of Strategie Services, sondern auch für das State Department zu erhalten. Natürlich konnte Woods die vielen Aufgaben, die ihm das OSS zugedacht hatte, kaum allein bewältigen. Aber darin zeigte sich seine eigentliche Stärke – er verstand es, zu seiner Unterstützung die richtigen Leute heranzuziehen. Ein Mitarbeiter Woods war der geheimnisvolle George, ein Beamter des deutschen Außenministeriums, den er für seine Zwecke angeworben hatte. George leistete seinem amerikanischen Spionagechef unschätzbare Dienste. Niemand wußte, auf welche Weise er an die Quellen des geheimsten Nachrichtenmaterials gelangte. Der Handelsattache scheute keine Mühe, wenn es die Sache erforderte. Obwohl er jedes überflüssige Risiko vermied, zog er es vor, sich mit George ungeachtet der damit verbundenen Gefahr persönlich zu treffen. Den „goldenen George“ überließ Woods niemand von seinen Mitarbeitern. George war keineswegs billig. Zur verabredeten Zeit trafen sie sich im Kino, jedesmal in einem anderen, und steckten sich während der Vorstellung gegenseitig etwas in die Tasche: George dem Chef Aufzeichnungen, Woods seinem Agenten ein Bündel Geldscheine. Bereits im August vergangenen Jahres hatte Woods durch George die ersten Informationen über die Vorbereitung des deutschen Angriffs gegen die Sowjetunion erhalten. Es waren
noch zusammenhanglose, unvollständige Angaben. Nach den Mitteilungen des Agenten fanden in Berchtesgaden, in Wünsdorf bei Zossen und in der Reichskanzlei unaufhörlich Beratungen statt, die die Vorbereitung des Krieges gegen Rußland behandelten. Hitler beabsichtigte, noch im Herbst 1940, sofort nach der Niederschlagung Frankreichs, die Kriegshandlungen gegen die Sowjetunion zu eröffnen. Er war indessen genötigt gewesen, vorübergehend von seinem Vorhaben abzusehen – die Brücken und Straßen in Polen waren nicht in dem Zustand, daß sie mit schweren Panzern befahren werden konnten. Das Schlammwetter stand nahe bevor, und die Truppen konnten auf den polnischen Straßen steckenbleiben. Zudem war Zeit erforderlich, um die Truppen vom Westen nach dem Osten zu werfen. Den Beginn der Operationen verlegte Hitler auf das Frühjahr 1941. Nach und nach wurden die Mitteilungen über Hitlers Pläne durch neue Angaben ergänzt, und schließlich besaß Woods Mitte des Winters ziemlich vollständige Informationen. Als Woods aus dem Kino zurückgekehrt war, in dem Erna ihn beobachtet hatte, saß er die ganze Nacht über den ihm zugesteckten Schriftstücken und entzifferte in mühseliger Kleinarbeit die nach einem vereinbarten Code verschlüsselten Aufzeichnungen. Gegen Morgen war sein Bericht fertig, den er unverzüglich nach Washington sandte. Es verging keine Woche, da lag auf dem Arbeitstisch von Mister Hüll, dem Sekretär des State Departments der Vereinigten Staaten, eine Abschrift der Information des Hauptes der amerikanischen Spionage in Berlin. Der Bericht war ihm vom OSS zugegangen und trug einen handschriftlichen Vermerk von Allan Dulles des Inhalts, daß die Zuverlässigkeit
der Information nicht anzuzweifeln sei. Der Staatssekretär las die Mitteilung des Berliner Agenten mit großem Interesse. Sie enthielt viele wichtige Einzelheiten, die sich bis auf den strategischen Aufmarsch der deutschen Truppen in dem bevorstehenden Feldzug erstreckten und die Bestätigung dafür lieferten, daß die Ereignisse in Europa sich mit außerordentlicher Schnelligkeit entwickelten. Der Agent teilte mit, daß die Heeresgruppe von Bock, die an der Niederschlagung Frankreichs beteiligt war, bereits im Sommer des vergangenen Jahres nach Posen verlegt wurde. Auch die zwölfte Armee List, die vierte Armee von Kluge, die achtzehnte Armee von Küchler hatten ihre Standorte jetzt im Osten Deutschlands… In dem Bericht wimmelte es von Zahlen – es waren die Nummern der deutschen Divisionen und Armeen, die sich von Westen nach Osten in Marsch gesetzt hatten. Aber den Staatssekretär interessierten die Gesamtzahlen. Er fand sie schließlich: Aus Frankreich waren Truppen in Stärke von einer halben Million Mann an die russische Grenze geworfen worden. Außerdem waren die Mannschaften und Offiziere von zwanzig Divisionen, die das OKH nach dem französischen Feldzug zum Schein aufgelöst hatte, nach Deutschland geschickt und nur für einen kurzfristigen Urlaub freigestellt worden. Die vorübergehend aufgelösten Divisionen ergaben insgesamt weitere dreihunderttausend Mann. Sie wurden für den Fall einer Sondermobilmachung in Reserve gehalten. Aber das war nicht alles. Im September war unter Generaloberst Fromm bei Leipzig mit der Aufstellung einer neuen Armee in Stärke von vierzig Divisionen begonnen worden, die jetzt so gut wie abgeschlossen war. In Deutschland wur-
den, angeblich zu Übungen, einige Jahrgänge eingezogen. Der Spionagechef Woods lieferte auch – unter Berufung auf die ihm aus dem Generalstab zugegangenen Angaben – Informationen über die strategischen Pläne der deutschen Wehrmacht. Es war beabsichtigt, den entscheidenden Schlag im Zentrum, in Richtung Moskau zu führen. Außerdem sollten machtvolle Vorstöße vom Süden und Norden her die blitzartige Zerschmetterung Rußlands vollenden. Hitler hatte den genauen Termin für den Einfall noch nicht festgesetzt, aber der Beginn der Kampfhandlungen war für das Frühjahr 1941 vorgesehen. Schließlich teilte der geheimnisvolle George mit, daß Hitler kurz zuvor auf einer Besprechung die Einrichtung einer speziellen Militärverwaltung für die besetzten Gebiete bestätigt habe. Für einundzwanzig sowjetische Gebiete waren bereits deutsche Generalgouverneure bestimmt worden. George zitierte Hitler, der auf dieser Besprechung gesagt haben sollte: „In diesem Jahr will ich von Wladiwostok bis Gibraltar nur meine Soldaten stehen haben.“ Cordell Hull dachte über diese Worte nach. Hatte sich Hitler nicht zuviel vorgenommen? Über die Ereignisse in Europa hatte der Staatssekretär seinen eigenen Standpunkt. Dort mußte das Gleichgewicht der Kräfte erhalten bleiben. Weder England noch Rußland oder Deutschland durften das Übergewicht haben. Aber es war nicht ausgeschlossen, daß Hitler mit den Streitkräften, die ihm zur Verfügung standen, sein Ziel erreichte. Ob er vielleicht dem russischen Botschafter Umanski eine Warnung zukommen lassen sollte? Nein, das wäre noch zu früh. Die Vertreter des allmächtigen Unternehmerverbandes – Leute wie Lammot Du Pont und Ford – wür-
den entschieden dagegen sein. Auf sie mußte man Rücksicht nehmen. Leider konnte in Amerika der Präsident nicht immer selbständige Entschlüsse fassen. Hull rief den Präsidenten an. „Hallo!“ sagte er. „Ich habe Neuigkeiten aus Europa. Ich möchte Ihnen gern darüber berichten. Am besten sofort… Ausgezeichnet!“ Die Beratung mit dem Präsidenten zog sich lange hin. Im Frühjahr 1941 war die militärische Vorbereitung gegen die Sowjetunion im wesentlichen beendet. Offen blieben nur kleinere Fragen, die bei einem so grandiosen Unternehmen unvermeidlich sind und keine grundsätzliche Bedeutung haben. Die Hauptsache war, daß längs der sowjetischen Grenze – vom äußersten Norden bis zur Küste des Schwarzen Meeres – zweihundert komplette Divisionen standen. Sie waren in den letzten Monaten insgeheim an der sowjetischen Grenze zusammengezogen worden. Tausende Eisenbahnzüge hatte man gebraucht, um die Truppen und die Ausrüstung vom Westen, aus Frankreich, zum künftigen östlichen Kriegsschauplatz zu befördern. Der „X-Tag“ – der Termin für den Einfall in den russischen Raum –, der im Plan „Barbarossa“ auf den 15. Mai festgesetzt war, schien festzustehen. Aber Ende März veränderten plötzliche und unvorhergesehene Ereignisse auf dem Balkan die Situation. Am 25. März unterzeichnete der jugoslawische Ministerpräsident Cvetkovic ein Abkommen über den Anschluß an den Dreimächtepakt. Der Ministerpräsident unterschrieb widerspruchslos alles, was Hitler verlangte. Er überließ dem neuen Bundesgenossen auch die Kupfergruben in Bor für dessen
militärische Belange wie überhaupt das gesamte Wirtschaftspotential. Nur eines bat sich der Ministerpräsident aus – der Inhalt des Vertrages sollte geheim bleiben. Aber es ist nichts so fein gesponnen, es kommt doch endlich an die Sonnen; selbst das wenige, das bekannt geworden war, rief in Jugoslawien eine gewaltige Empörung hervor. General Simovic machte sich die Unzufriedenheit des Volkes zunutze und stürzte die Regierung. Der Vertrag mit Deutschland wurde annulliert. In Belgrad, in allen Dörfern und Städten jubelte das Volk und feierte den Sieg. Die Verschwörung der Reaktionäre war aufgedeckt und durchkreuzt! Auf den Straßen verbrannte man Puppen, die den gestürzten Ministerpräsidenten verkörperten. In Berlin versetzten die jugoslawischen Ereignisse Hitler in wilde Wut. Noch am selben Tag unterzeichnete er eine Weisung, die er „Operation Bestrafung“ nannte. Wutschnaubend diktierte er sie, auf und ab gehend, seinem Adjutanten. Punkt eins der Weisung lautete: „Der Militärputsch in Jugoslawien hat die politische Lage auf dem Balkan geändert. Jugoslawien muß auch dann, wenn es zunächst Loyalitätserklärungen abgibt, als Feind betrachtet und daher so rasch als möglich zerschlagen werden.“ „So rasch als möglich!“ wiederholte er. Hitler entschloß sich, unverzüglich zu handeln. Der Termin für den Einfall in die Sowjetunion rückte näher, er durfte nicht verlegt werden. Trotz aller Bedenken schob Hitler dennoch die Ausführung des Plans „Barbarossa“ um sechs Wochen hinaus. Daß er das tun mußte, machte ihn rasend. Mitten in der Nacht beorderte der Reichskanzler, kaum daß er den Angriffsbefehl unterzeichnet hatte, den Oberquartier-
meister Friedrich Paulus in die Reichskanzlei. Halder fing Paulus im Vorzimmer ab. „Ich möchte Sie einen Augenblick sprechen“, sagte er besorgt. Sie gingen in ein freies Konferenzzimmer. Halder korrigierte den Sitz seines Kneifers. Er war ganz erfüllt von der ihm übertragenen Aufgabe und senkte seine Stimme bis zum Flüstern, obwohl in dem Raum außer ihnen beiden niemand anwesend war. „Der Führer hat beschlossen, Jugoslawien anzugreifen“, begann Halder ohne jede Einleitung. „Gleichzeitig werden wir auch mit Griechenland aufräumen. Unser Hauptziel ist, die rechte Flanke für .Barbarossa’ frei zu machen. Gehandelt werden muß sofort. Nehmen Sie meinen Sonderzug und fahren Sie gleich nach dem Empfang beim Führer nach Wien. Feldmarschall List und Generaloberst von Kleist sind telegrafisch dorthin beordert. Sie übergeben ihnen die operativen Anweisungen und erklären die Lage. Von Wien fahren Sie dann nach Budapest und vereinbaren mit dem ungarischen Generalstab den Plan des strategischen Aufmarsches unserer Truppen auf dem Gebiet Ungarns… Gehen Sie jetzt, der Führer erwartet Sie.“ Die Audienz dauerte nur wenige Minuten. Der Reichskanzler ergänzte die Angaben Halders, indem er sagte: „Führen Sie keine Verhandlungen mit der ungarischen Regierung. Die Militärs werden entscheiden. Der Ministerpräsident Teleki hat sich darin nicht einzumischen. Ich wünsche Ihnen Erfolg!“ Von der Reichskanzlei fuhr Paulus zum Bahnhof. Einige Generalstabsoffiziere begleiteten ihn nach Wien.
Nach Berlin zurückgekehrt, meldete Paulus Hitler die Ausführung des Auftrages. In Eilmärschen wurden die Truppen an der Grenze konzentriert. Am 6. April 1941 setzten die deutschen Streitkräfte zu einem gleichzeitig geführten doppelten Schlag an. Die griechischen und die jugoslawischen Truppen wurden in zwei Wochen vernichtend geschlagen. Hitlers Geburtstagsfeier am 20. April fand in Berchtesgaden statt. Die Schar der Gäste war groß, aber nach dem offiziellen Empfang blieben nur die Auserwählten. Man begab sich in den ersten Stock. Dort nahm man den Mokka. Göring prahlte mit den Erfolgen der Luftwaffe, erzählte von der Bombardierung Belgrads. Die Luftangriffe hatten zwei Tage gedauert, die Zahl der Toten belief sich auf achtzehntausend. Die Flieger hatten ihre Bomben unter anderem auch auf den Zoologischen Garten abgeworfen, die Raubtiere waren ausgebrochen und hatten in der Stadt Panik erzeugt. Hitler lachte. „Sogar die Tiere helfen uns! Da sieht man, was es heißt, wenn die Truppe in einsatzbereitem Zustand ist! Ich habe die Jugoslawen in einer Woche coventryrt. Jetzt ist die Reihe an Rußland. Nichts hindert mich mehr daran, das Geheiß der Vorsehung zu erfüllen. Laßt uns nun die weiteren Perspektiven besprechen. Alfred“, wandte er sich an Rosenberg, „fang du an. Du wirst unser Kolonialminister in Rußland sein.“ „Ja, mein Führer, ich habe bereits die künftigen Gauleiter, will sagen, die Reichskommissare für das besetzte Rußland, zusammengerufen und ihnen Ihre Gedanken auseinandergesetzt. Sie haben sie begeistert aufgenommen.“
„Vorläufig werden wir nicht von einem Kampf gegen den Kommunismus reden. Dieses Schreckgespenst überlassen wir den westlichen Politikern. Die Kommunisten werden wir jedenfalls vernichten wie die Juden. Das versteht sich von selbst. Und nun laßt uns sehen, was in einem halben Jahr mit Rußland sein wird.“ Rosenberg stand auf, nahm eine zusammengerollte Karte und breitete sie vor Hitler aus. Er hielt sie mit beiden Händen fest. Göring half ihm, indem er mit seinen dicken Fingern den Rand hielt. Da Rosenberg nichts anderes fand, bediente er sich eines Teelöffels als Zeigestab. „Ich möchte die Gelegenheit wahrnehmen“, sagte er, „und bitten, die vorbereitete Aufteilung Rußlands zu bestätigen. Die Bolschewisten nennen ihr Territorium einen einheitlichen Nationalitätenstaat. Aber mich erinnert es an ein Faß mit Sand. Man braucht nur die Reifen abzuschlagen, und alles rieselt auseinander. Das ist die Voraussetzung für meinen Plan. Nehmen wir zuerst das Baltikum. Wie aus der Karte ersichtlich, verläuft seine Grenze ein wenig westlich von Petersburg, südlich von Gattschina, in der Nähe des Ilmensees. Hier schließt es einen Teil des Gouvernements Moskau ein und reicht bis an das von Ukrainern besiedelte Gebiet heran. Das würde das erste Reichskommissariat sein – es ist sehr geeignet für die Germanisierung. Bekanntlich war ja das Baltikum einstmals deutsches Ordensland. Es steht außer Zweifel, daß man es von Rußland abtrennen muß. Hier“ – der Minister für die besetzten Ostgebiete fuhr mit dem Löffelstiel die Grenze Belorußlands entlang –, „hier wird das zweite Reichskommissariat sein. Wir beabsichtigen, daselbst die sozial unerwünschten Elemente anzusiedeln. Wir werden sie
wie in einem Naturschutzpark halten, bis sie krepieren. Hier“ – der Löffelstiel glitt an der Grenze der Ukraine entlang und höher nach Norden zu – „wird das dritte Staatsgebiet gebildet werden, das wir in acht Generalkommissariate eingeteilt haben. In die Ukraine werden wir die Städte Kursk, Woronesh, Tambow und Saratow eingliedern. Die Verwaltung wird in der Ukraine von zwanzig deutschen Hauptkommissaren ausgeübt werden. Und schließlich der Kaukasus. Es handelt sich um ein etwas mehr als eine halbe Million Quadratkilometer großes Gebiet. Hier leben Georgier, Armenier, Abchasier und andere Völkerschaften. An ihrer Spitze wird ein Gauleiter stehen, den wir Reichsprotektor nennen. Im Osten ist es üblich, den Diktatoren den Namen Protektor zu geben. Wir wollen die östlichen Traditionen nicht verletzen…“ „Und was bleibt bei dir für Rußland übrig?“ fragte Göring, der noch immer den Rand der Karte hielt. „Alles übrige. Wie Sie sehen, nicht sehr viel, hauptsächlich der Norden. Auf der Karte ist Rußland weiß markiert. Hier befinden sich die Tundren und fast unbesiedelte öde Gebiete. Unsere Generalgouverneure werden unter schweren Bedingungen leben müssen. Mit Ihrer Erlaubnis, mein Führer, wird ein Gesetz vorbereitet werden, nach dem ein Jahr Dienst im Osten fünf Jahren Dienst im Reich gleichzusetzen ist, sozusagen als Ansporn… Im Westen wird Rußland an Großfinnland grenzen“, sagte Rosenberg und erklärte den Anwesenden: „Der Führer wird Mannerheim Sowjetisch-Karelien, die Kolahalbinsel, das Leningrader Gebiet und noch einige Bezirke im Osten geben.“ „Nein, ich habe es mir anders überlegt“, unterbrach ihn Hit-
ler. „Auf der Kolahalbinsel wird Nickel gefördert. Wir werden sie für uns behalten. Was Leningrad betrifft, so mache ich es dem Erdboden gleich und überlasse es dann den Finnen. Dieser Ostseehafen ist für uns ohne Bedeutung… Du hast die Krim und das Schwarzmeergebiet vergessen, Alfred.“ Hitler wandte sein abgemagertes, übermüdetes Gesicht Rosenberg zu. „Die Krim schließe ebenso wie das Schwarzmeergebiet in das Deutsche Reich ein. Der Boden dort soll fruchtbar sein. Zwar möchte Antonescu Bessarabien und Odessa haben. Aber man kann ja den Rumänen versprechen, was sie wollen. Das verpflichtet uns zu nichts. Soll uns Antonescu erst einmal die versprochenen Divisionen geben.“ Hier warf Keitel ein: „Marschall Antonescu hat sich verpflichtet, fünfzehn Divisionen sofort und fünf weitere später zu stellen.“ „Wir werden sehen, wie sie kämpfen. Horthy und Antonescu liegen sich wegen Siebenbürgen in den Haaren. Ich habe es dem einen wie dem anderen versprochen… Jetzt zu Ungarn. Horthy verlangt Drogobytsch. Ich habe ihn beruhigt, aber die Ungarn werden Drogobytsch nie im Leben zu sehen bekommen. Dieser Erdölbezirk muß uns gehören. Wir werden ihn vor dem Einmarsch der ungarischen Truppen besetzen. Überhaupt gefällt mir die schwankende Haltung der ungarischen Regierung nicht. Der Geist Telekis lebt noch. Man müßte ihnen durch eine anständige Bombardierung den Kopf zurechtsetzen. Bereite doch zehn Maschinen vor, Hermann, laß sie mit roten Sternen bemalen – wir werden den Russen die Sache in die Schuhe schieben.“ „Es ist alles vorbereitet, mein Führer.“ Göring hatte es kaum erwarten können, sich in das Gespräch einzuschalten. „Die
,russischen’ Flugzeuge stehen in meinen Hangars und warten auf den Befehl zum Einsatz.“ Der Reichsmarschall der deutschen Luftwaffe war wie stets mit sämtlichen Orden und Auszeichnungen erschienen. In seiner hellblauen Uniform stach er von allen anderen ab. Er ließ die Karte los, die sich zusammenrollte. Rosenberg blickte ungehalten zu ihm hin. Göring trank ungerührt seinen Mokka aus. „Darf ich jetzt sprechen?“ fragte er. „Als Bevollmächtigter für den Vierjahresplan sehe ich meine Aufgabe in den besetzten Ostgebieten darin, alles aus dem Land herauszuholen, was sich herausholen läßt. In wirtschaftlicher Hinsicht teilen wir Rußland einfach in zwei Gebiete auf – in die Waldzone und in die Schwarzerdezone. Sehen Sie hier“ – Göring nahm die Karte und breitete sie von neuem aus – , „hier, vom Baltikum bis zum Ural, holen wir uns Holz, Getreide und Vieh. An der Erhaltung des Waldgebiets sind wir nicht interessiert. Dutzende Millionen Menschen werden in diesem Gebiet sterben oder nach Sibirien auswandern müssen. Das ist ihre Sache. Was die zweite Hälfte Rußlands oder das Schwarzerdegebiet anbetrifft, so werden wir von dort längere Zeit hindurch Rohstoffe und Nahrungsmittel herausholen…“ Göring sah den Reichskanzler an. Hitler saß da, vom Tisch abgerückt, und nickte zustimmend. Der Reichsmarschall versäumte nicht, dem Minister für die besetzten Ostgebiete einen Seitenhieb zu versetzen. „Ich habe zwar noch keine solche Karten drucken lassen wie Rosenberg, aber wir haben fünf Wirtschaftsinspektionen geschaffen, an deren Spitze der Wirtschaftsstab ,Oldenburg’ steht. Auf Anweisung des Führers ist ,Oldenburg’ in den Plan
,Barbarossa’ einbezogen.“ „Aber wir haben ebenfalls zwanzig Gauleiter für die Verwaltung Rußlands bestimmt!“ Rosenberg ärgerte sich über Göring, der seinen Plan einfach ignorierte. „Einverstanden, Alfred, aber ich spreche von den fünf Inspektionen, die für Leningrad, Moskau, Kiew und Baku geschaffen sind – eine ist als Reserve gedacht. Aus Tarnungsgründen habe ich ihnen Decknamen gegeben – Holstein, Sachsen, Baden, Westfalen und Borkum. Zu jeder Inspektion gehören wirtschaftliche Sonderkommandos. Im ganzen sind es fünfunddreißig. Die Sonderkommandos der Inspektion Sachsen zum Beispiel werden in Moskau, Minsk, Tula, Brjansk, Rybinsk und Jaroslawl stationiert. Unter ihrer Kontrolle werden wir aus dem Osten herausholen, was wir brauchen. Erdöl, Kohle, Schweine, Butter…“ „Die Arbeitskräfte hast du vergessen“, sagte Bormann, der die Gespräche aufzeichnete und sich deshalb kaum an der Unterhaltung beteiligte. „Nein, keineswegs. Aber zum Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz beabsichtigt der Führer Fritz Sauckel zu ernennen. Das ist sein Ressort. Nicht wahr, mein Führer?“ „Ganz recht. Aber ich möchte, daß Sie eins im Auge behalten und nicht vergessen, nämlich, daß wir den Riesenraum, den wir bis jetzt noch Rußland nennen, nicht nur erobern, sondern auch befrieden müssen. Dort leben vom bolschewistischen Geist verseuchte Fanatiker. Deshalb ist es, wenn wir die Befriedung erreichen wollen, am besten, daß man jeden, der nur schief schaut, totschießt. Himmler, ja uns allen, steht genügend Arbeit bevor. Ich nähere mich den entscheidenden
Stunden der Geschichte mit kolossaler, eisiger Ruhe, frei von Vorurteilen. Die Vorsehung hat mich dazu auserwählt, der größte Befreier der Menschheit zu sein. Ich befreie die Menschen von dem sie beherrschenden geistigen Prinzip. Die Zeit zu handeln ist gekommen. Sie, Keitel, bereiten einen Erlaß über die Kriegsgerichtsbarkeit im Wirkungsbereich ,Barbarossa’ vor. Meine Soldaten in Rußland dürfen nicht für Vergehen zur Verantwortung gezogen werden, die man gemeinhin Verbrechen nennt.“ „Jawohl!“ Der Generalstabschef hatte sich erhoben. „Ich möchte noch folgendes zu bedenken geben, mein Führer. Ich habe mich mit unseren Militärjuristen beraten. Auch die gefangengenommenen sowjetischen Kommissare dürfen nicht geschont werden.“ „Konsultieren Sie die Juristen möglichst wenig. Das Gesetz im Osten ist die deutsche Faust und die Kugel. Notieren Sie, was ich jetzt sage, und schicken Sie den Text an die Armeebefehlshaber.“ Hitler diktierte: ‘ „Die politischen Hoheitsträger und die Kommissare stellen eine erhöhte Gefahr für die Truppe und für die Befriedung des „unterworfenen Landes dar.’ Haben Sie das? Weiter: ,Sofort nach ihrer Ergreifung sind sie dem nächsten deutschen Offizier zu übergeben, wonach dieser verpflichtet ist, den Festgenommenen sofort zum Tode durch Erschießen zu verurteilen.’“ Hitler sprach kaltblütig und ruhig. Er rückte an den Tisch heran, nahm die Tasse mit dem kaltgewordenen Mokka, tat einen Schluck und sagte abschließend: „Es ist am besten, die politischen Funktionäre an Ort und
Stelle zu richten. Sie nach rückwärts abzuschieben, hat keinen Sinn. Merken Sie sich: Das Erkennungszeichen für die Kommissare ist ein roter Stern auf dem Ärmel.“ Nichts von dem, was hier in Berchtesgaden beim Nachmittagskaffee gesprochen wurde, war für die Anwesenden neu. Hitler wollte nur noch einmal die Meinungen zusammengefaßt haben und sie prüfen. Die Unterhaltung glitt manchmal vom Hauptthema ab, kehrte aber immer wieder darauf zurück. Jeder machte sich die gute Laune des Reichskanzlers zunutze, um ein Wörtchen mitzureden. Als man über die politischen Funktionäre sprach, sagte Himmler: „Nicht nur die sowjetischen Kommissare müssen unter die Sonderbehandlung fallen.“ „Sag doch einfach, müssen erschossen werden“, unterbrach ihn Göring. „Warum sich genieren!“ „Das ist ohnehin allen klar“, parierte Himmler. „Ich möchte über die den Einheitsführern des SD gegebenen Instruktionen sprechen. Wie mit Ihnen vereinbart war, mein Führer, habe ich Auftrag erteilt, auf dem besetzten Territorium alle führenden Parteifunktionäre einschließlich der Mitglieder des Zentralkomitees und der Regierungsmitglieder festzustellen. In den Städten fallen darunter auch die Magistratsmitglieder…“ „Sie heißen dort Mitglieder des Sowjets“, verbesserte ihn Rosenberg. „Meinetwegen, also die Mitglieder des Sowjets, die Gewerkschaftsfunktionäre – das sind auch alles Kommunisten. Dann die sowjetischen Intellektuellen, Schriftsteller, Redakteure und natürlich alle Juden.“ Heinrich Himmler wiederholte fast wörtlich die Instruktion,
die er für die höheren Gestapobeamten und die Offiziere der Feldgendarmerie entworfen hatte. Der allmächtige Himmler, der wie ein Bankangestellter oder ein Lehrer aus der Provinz aussah, trat in Gegenwart Hitlers unbegreiflich zurückhaltend auf. Dabei stellte der Reichsführer SS eine diabolisch-finstere Macht im Dritten Reich dar. Ihm unterstanden die Konzentrationslager, die Gestapo, die SS-Eliteeinheiten, das Überwachungssystem und der politische Geheimdienst. Alle aus der nächsten Umgebung Himmlers zitterten insgeheim vor ihm. Himmler war zu jeder Gemeinheit fähig, auch jedem der im Saal Anwesenden gegenüber, wie diese übrigens gleichfalls untereinander. Von den Vertrauten Hitlers zeichnete sich vielleicht nur noch Rudolf Heß durch eine ebensolche fanatische, hündische Treue zu Hitler aus. Mit leisem Lächeln und kalt glänzenden Augen beantwortete Himmler die Fragen Hitlers. Ja, für die Auffindung der gefährlichsten Personen in Sowjetrußland, für die die „Sonderbehandlung“ vorgesehen war, war ein spezielles Buch zusammengestellt worden, das Tausende Namen und Adressen enthielt. Das Buch war in großer Auflage gedruckt und konnte erforderlichenfalls jeder Dienststelle der Gestapo sofort zur Verfügung gestellt werden. Über die geplanten Verbrechen sprach Himmler mit gelassener Ruhe, als beurteile ein Lehrer die für seine Klasse bestimmten Lehrbücher. „Dem habe ich nichts hinzuzufügen“, sagte Hitler. „Alles, was wir hier besprochen haben, gehört zum Gesamtplan ,Barbarossa’.“ Den schweren Blick auf einen Punkt gerichtet, setzte er ergänzend hinzu: „Ich möchte nun noch zum Schluß einen philosophischen Gedanken äußern: Der natürliche In-
stinkt aller Lebewesen läßt sie ihre Feinde nicht nur besiegen, sondern auch vernichten.“ Als sich die Gäste von Hitler verabschiedeten, hielt dieser seinen Stellvertreter Heß noch für ein paar Minuten zurück. „Sag mal“, fragte er ihn, „ist alles für deinen Flug nach England fertig?“ „Ja, mein Führer. Lord Hamilton hat mich auf sein Gut eingeladen. Ich kann jederzeit starten, wenn das Wetter es erlaubt.“ „Nein, es handelt sich nicht nur um das Wetter. Warten wir ab, bis sich die Erfolge Rommels in Afrika deutlicher abzeichnen. Auf Churchill muß man Druck ausüben.“ Vor drei Monaten hatte Hitler Rommel zum Befehlshaber des Afrikakorps ernannt. Die nach Tripolitanien geworfenen deutschen Einheiten hatten Ende März mit dem Angriff begonnen. Die Offensive entwickelte sich erfolgreich: Die britischen Truppen mußten Benghasi aufgeben und gerieten im Raum Tobruk in eine schwierige Lage. Der Reichskanzler hatte seiner Meinung nach keinen Fehler begangen, als er den ehemaligen Chef des Fcldstabes des Hauptquartiers an die Spitze des Afrikakorps stellte. Der energische Draufgänger Rommel hatte sich in Polen und in Frankreich bewährt. Die Panzerdivision Rommels, die sogenannte Gespensterdivision, war als erste zum Ärmelkanal durchgestoßen. Jetzt setzte Hitler große Hoffnungen in diesen General mit dem energischen Kinn. Von ihm hing in den bevorstehenden Besprechungen mit den Engländern viel ab. „Wir wollen so vereinbaren“, fuhr Hitler fort. „Du unterbreitest den Engländern meine Vorschläge, gibst sie aber als
deine eigenen aus. Denke daran: Jetzt, wo ich alle Kräfte gegen Rußland konzentriert habe, hängt alles von deinem Besuch ab. Wir können nicht an zwei Fronten kämpfen.“ Hitler wühlte in einer Mappe und holte einen Bogen mit kurzem Text hervor, der nur die halbe Seite einnahm. Oben standen in einer Ecke die Worte: „Plan ABC Nr. 274-K“. „Hier sind die einzelnen Punkte: A, B, C… Es ist in der Tat ein ganzes Alphabet, das wir den Engländern vorlegen. Ich habe hier alles festgehalten, worüber wir gesprochen haben. Mache der britischen Regierung vor allem klar, daß es für die Engländer nach der Zerschlagung Frankreichs sinnlos ist mit uns Krieg zu führen. Das wäre das erste. Du kannst ihnen versprechen, daß England seine Unabhängigkeit und die Kolonien behält, natürlich nur, wenn es aufhört, sich in die kontinentalen Angelegenheiten einzumischen. Schlage ihnen den Abschluß eines Abkommens für jeden beliebigen Zeitraum vor, und sei es für fünfundzwanzig Jahre. Und das letzte Großbritannien muß während des russisch-deutschen Krieges wohlwollende Neutralität üben. Alles übrige hängt von deiner Kunst ab. Wenn die Verhandlungen erfolgreich verlaufen, dann schicke ein privates Telegramm nach Zürich, sagen wir an deine Frau, über deinen Gesundheitszustand. Der Text muß harmlos und unverdächtig sein.“ „Ja, mein Führer, ich will alles tun, was erforderlich ist. Den Flug von Augsburg werde ich als Flucht nach England hinstellen.“ „Ja, ja! Das übrige laß meine Sache sein. Ich werde so gut spielen, daß mich jeder Schauspieler beneiden kann!“ Anschließend besprachen sie die Einzelheiten des geplanten Fluges.
„Die Landung auf Kreta“, sagte Hitler, „werde ich zu dem Zeitpunkt ausführen lassen, an dem du mit deinen Besprechungen beginnst. Das wird deine Position stärken… Also, abgemacht! Wir werden Churchill noch auf unsere Seite ziehen. Es ist doch kein Zufall, daß er ohne Widerstand aus Griechenland abgezogen ist. Ich habe seine Absichten durchschaut. Er wird uns den Weg nach Rußland frei machen. Und so sei es denn!“ Ungefähr in den Tagen, da der Politleiter Andrej Woronzow wie auch alle anderen sowjetischen politischen Funktionäre im fernen Berlin geheim und in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurden und da sich die Verschwörer darauf vorbereiteten, den Urteilsspruch in die Tat umzusetzen, fuhr Andrej auf kurze Zeit nach Moskau. Sein Korps lag im Winterquartier, und Andrej hatte um eine Woche Urlaub zur Regelung persönlicher Angelegenheiten nachgesucht. Die Beziehungen zu Sina waren nach dem Zerwürfnis im Vorjahr wieder in Ordnung gekommen. Sina gab sich so, als sei nichts gewesen, und Andrej empfand das Zurückliegende als einen schweren Alpdruck, der von ihm gewichen war. Mit der Zeit wurde er auch wieder aufgeschlossener. Stillschweigend mieden es beide, an das Vergangene zu rühren. Den vorigen Sommer hatte Sina mit Andrej im Truppenlager zugebracht, aber der Offizierskreis gefiel ihr nicht. Sie fand ihn langweilig und die Frauen der Offiziere beschränkt. Für Sina Woronzowa gab es zwei Kategorien von Männern – solche, die in sie verliebt waren, und solche, die es nicht waren. Die ersteren stattete sie mit Eigenschaften aus, die sie wirklich besaßen, und mit solchen, die sie ihnen andichtete.
Die letzteren interessierten sie überhaupt nicht. Deshalb war ihr das Leben in dem Sommerlager auch so trübselig grau und langweilig erschienen. Sina war eigentlich zufrieden, daß sie ihren Sohn Wowka, der die letzten Jahre bei der Großmutter war, zu sich genommen hatte. Ein merkwürdiger Mensch war doch Andrej – er wollte Kinder haben. Das hätte noch gefehlt! Ihr genügte das eine. Bevor sie heirateten, hatte Sina kategorisch erklärt, daß sie keine Kinder haben wolle. Vielleicht später einmal. Andrej widersprach nicht, aber sein Gesicht verfinsterte sich. Sina wußte, daß er anderer Meinung war. Wowka war drei Jahre alt, als Sina Andrej kennenlernte. Sina stellte Andrej noch eine Bedingung – er dürfe nach nichts fragen. Den Vater Wowkas hatte sie aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Eine Jugendsünde. Sina bereute, und ihr war klar, daß sie diesen Menschen nie geliebt hatte. Andrej war auch auf diese Bedingung eingegangen. Er mußte sie also sehr lieben. Sina war ihm dankbar – er war ein taktvoller Mensch. Nach der Rückkehr zu Andrej hatte Sina ein für allemal beschlossen, sich zu ändern. Schließlich mußte man wissen, wohin man gehörte. Sie wurde ausgeglichener, beherrschter und sorgte für ihren Mann, so gut sie konnte. Sie lernte sogar Socken stopfen, eine Tätigkeit, die ihr bislang als ein Symbol der Versklavung der Frau, als etwas nahezu Unanständiges und Erniedrigendes erschienen war. Bevor sie im vergangenen Jahr nach dem Süden fuhren, waren sie aufs Standesamt gegangen, und Sina trug seither den Namen Woronzowa. Sie konnte sich lange nicht daran gewöhnen, in der ersten Zeit war es ihr sogar peinlich, sich als Andrejs Frau vorzustellen. Aber dann gewöhnte sie sich auch
daran. Allmählich fügte sich Sina in das Familienleben ein. Andrej seinerseits stellte befriedigt die Veränderung fest, die mit Sina vorging. Natürlich war es für sie schwer, sich auf einmal umzustellen. Sonntags nahmen sie Wowka mit auf ihre Spaziergänge. Der Kleine hing sehr an Andrej, folgte ihm auf Schritt und Tritt und sah ihn mit begeisterten Augen an. Er war bald sechs Jahre alt, ein großer Junge! Offensichtlich hatte ihm die Gesellschaft von Männern gefehlt, als er bei seiner Großmutter lebte. Jetzt holte er das Versäumte nach. Andrej machte ihm Flitzbogen, schnitzte ihm Pfeifen, angelte mit ihm, nannte ihn seinen Jungen und vergaß mit der Zeit, daß nicht er, sondern ein anderer der Vater von Wowka war. Er empfand aufrichtige Freude über seine naiv-drolligen Streiche und die kindliche Gier, mit der Wowka die Welt erkannte und entdeckte. Andrej konnte endlos davon erzählen, und er nahm Wowka oft in Schutz, wenn er was angestellt hatte. Zu Sinas Genugtuung hatte der Aufenthalt im Sommerlager nicht lange gedauert, kaum einen Monat. Die Woronzows waren nach dem Urlaub ins Lager gekommen, als es bereits auf den Herbst zuging. Nach dem Sommerlager zogen sie in eine frühere Gouvernementsstadt mit stillen Straßen und Holzhäuschen an der Peripherie. Vor den Oktoberfeiertagen fuhr Sina nach Moskau ihre Aspirantur begann. Den Winter verbrachten sie zusammen, aber Anfang März reiste sie wieder weg – sie wollte die ersten Prüfungen ablegen. Sie nahm Wowka mit, und Andrej empfand in seinem Strohwitwerdasein eine bedrückende Leere.
Die Reise nach Moskau unternahm Andrej nicht zuletzt Wowkas wegen. Er hatte ihn bisher noch nicht adoptiert und wollte das bei seinem jetzigen Aufenthalt in Moskau nachholen. Wowka begrüßte ihn mit dem freudigen Ruf: „Papa ist da! Papa! Mama, steh auf, Papa ist da!“ Sina schlief noch. Es war nach neun. Ihre Mutter – Sina hatte sie kommen lassen, damit sie auf den Jungen aufpasse – bereitete das Frühstück. In Moskau ging Andrej aufs Standesamt, ließ sich die nötigen Formulare geben und stellte die erforderlichen Anträge. Nach drei Tagen bekam er schließlich einen Auszug aus dem Standesamtsregister, auf dem der sorgfältig von Hand geschriebene Vermerk stand: Wladimir Andrejewitsch Woronzow, geboren in dem und dem Jahr, in dem und dem Monat, an dem und dem Tag. Sina war nicht zu Hause. Andrej nahm Wowka auf den Arm und sagte: „Nun, Wladimir Andrejewitsch, jetzt wollen wir ein Fahrrad für dich kaufen.“ Andrej hatte dem Sohn schon lange ein Geschenk versprochen. Vom Kaufhaus fuhren sie mit der Metro zum Sowjetpalast. Dann gingen sie den sonnenhellen Gogol-Boulevard entlang, auf dem es frühlingshaft warm war. Andrej hielt den Sohn an der Hand, während dieser das glänzende Fahrrad führte. „Papa, wenn ich groß bin, kaufst du mir dann auch solche Sterne, wie du hast?“ Wowka berührte mit der Hand den Stern auf dem Ärmel des Vaters. „Zuerst mußt du mal Soldat werden, mein Junge.“ „Die Soldaten haben auch Sterne, bloß auf den Mützen.“
„Richtig.“ Zu Hause angekommen, schrie Wowka, noch auf der Treppe: „Oma, Oma, Papa hat mir ein Fahrrad gekauft! Eine Klingel ist auch dran!“ Am Abend ging Andrej mit Sina ins Theater. Wenn Sina unter Menschen kam, blühte sie förmlich auf und wurde noch hübscher. Auf dem Heimweg beschlossen sie endgültig: Wenn Sina alle Prüfungen abgelegt hatte, würde sie wieder zu ihm kommen, und dann würden sie den Sommer – das heißt ab Juni – wieder im Truppenlager verbringen. Eigentlich lockte Sina der trübselige Aufenthalt im Lager gar nicht, aber sie wollte das Opfer Andrej zuliebe bringen. Er war doch so gut! An diesem warmen Frühlingsabend liebte Sina ihren Mann wirklich aufrichtig. „Und im Herbst fahren wir dann wieder nach dem Süden. Ich liebe doch das Meer so! Und dich auch…“ Andrej reiste zwei Tage später wieder ab. Sein Glück schien ihm vollkommen. Wie gut es ist, wenn das Herz ruhig schlägt! Die zwei Monate bis zu ihrem Wiedersehen würden schnell vergehen. Man würde sich kaum besinnen können. 9 Der britische Zerstörer „Rogers“ lag reglos auf der Reede im Hafen von Piräus, einige Kabellängen vom Ufer entfernt. Es herrschte fast völlige Windstille. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber die Morgenröte hatte bereits den Rand des Himmels und das nahe hügelige Ufer mit weichem Licht übergössen. Auf dem Zerstörer hatte die Schiffsglocke eben viermal ge-
glast. Fast gleichzeitig ertönten auch die lauten Schläge der Schiffsglocken von den anderen, unweit des Zerstörers liegenden Schiffen. Der melodische Klang erinnerte Robert immer an die Glocken der Kirche in East End. Robert Crawshow, der von der Wache abgelöst worden war, ging über das gepanzerte Deck zum Matrosenzwischendeck. Piräus lag vor ihm, umgeben von dem Amphitheater der hinter dem Horizont verschwindenden Berge. Als Robert am Geschützturm mit den blanken Rohren vorüberkam – die Hüllen waren abgezogen –, zerriß eine gewaltige Detonation die Stille des jungen Morgens. Robert begriff zuerst nicht, was mit ihm geschah. Die Luft, elastisch wie gespannter Gummi, schleuderte ihn gegen den Turm. Er stieß mit der Schulter gegen die Panzerplatte, fiel aufs Deck und sprang gleich wieder auf. Wo eben noch Schiffe friedlich an den Duckdalben vertäut lagen, stieg, vermischt mit rotschwarzen Flammenknäueln, langsam eine weißliche Rauchsäule zum Himmel auf. Durch die Luft wirbelten Teile von Masten, Eisenstücke, Rettungsboote, brennende Aufbauten, das aufgerissene Heck eines Fischkutters. Am Liegeplatz des Dampfers „Clan Fräser“, der zwei Tage zuvor mit einer Ladung Munition eingetroffen war, brodelte wie aus einem Vulkan ein Feuerstrudel. Eine Sturzwelle prallte gegen den Zerstörer, das Schiff krängte, und der benachbarte Transportdampfer riß sich von seinen Ankern los. Fast im selben Augenblick heulte die Sirene, ertönten die Pfiffe der Bootsmannspfeifen. Der Kommandant gab Befehl, die Anker zu lichten und in die offene See auszulaufen. Dröhnend holten die Winden die schweren Ankerketten aus dem Wasser hoch. Aber die Gefahr war offensichtlich schon vorüber. Der Zer-
störer kehrte an seinen alten Liegeplatz zurück. Inzwischen war es hell geworden. Ein klarer, wolkenloser Tag war angebrochen. Die Sonne beleuchtete im Hafen von Piräus ein grauenhaftes Bild der Zerstörung. Von der Explosion aus dem Wasser geschleudert, lagen Schiffe am Ufer, die roten Böden nach oben gekehrt. Andere waren versunken, und über die Oberfläche der Bucht ragten nur die Schornsteine und Masten. Einige Gebäude brannten, weiter weg standen Autos – Sanitäts- und Personenwagen. Feuerwehrmannschaften und Rettungskommandos verrichteten ihr Werk. Der Zerstörer ließ ein Motorboot ins Wasser. Ein Matrosenkommando wurde abgeschickt, bei den Rettungsarbeiten zu helfen. Auch Robert befand sich in dem Boot. Die Explosion, deren Ursache unbekannt war, hatte elf britische Schiffe vernichtet und großen Schaden im Hafen hervorgerufen. Die Matrosen halfen den Brand löschen, räumten die Trümmer auf und trugen die darunter liegenden Toten und Verwundeten weg. Wehen Herzens dachte Robert an Virginia: So wird auch sie unter den Trümmern unseres Hauses gelegen haben… Und Onkel William… Bisher hatte Robert geglaubt, der Krieg tobe nur in England, nun mußte er erleben, daß auch hier, dreitausend Meilen von London entfernt, englische Soldaten ihr Leben ließen. Dort lag ein Matrose der Kriegsmarine in einem verkohlten leinenen Matrosenanzug, einem ebensolchen, wie er ihn trug. Ebensogut hätte an seiner Stelle auch der Matrose Robert Crawshow vom Torpedobootzerstörer „Rogers“ liegen können. Robert überlief es eiskalt. Wer wollte schon sterben – ganz gleich, ob es in London oder in Piräus war!
Jemand erzählte, die Deutschen hätten Griechenland überfallen. Man munkelte, die Explosion im Hafen sei das Werk faschistischer Diversanten gewesen. Es ging das Gerücht, man habe wenige Minuten vor der Explosion zwei Männer gesehen, die schnell davonliefen. Sie seien in ein Auto gesprungen und auf der nach Athen führenden Straße davongefahren. Robert glaubte das nicht – jetzt konnte jeder reden, was er wollte. Später wurde erzählt, daß die Evakuierung des britischen Expeditionskorps begonnen habe. Robert glaubte auch das nicht – was die Leute doch immer alles wissen wollten! – , aber der Matrose, der wie er eine kurze Pause eingelegt hatte, um einen Schluck Wasser zu trinken, wies auf die andere Seite des Hafens. „Wenn du’s nicht glaubst – sieh doch selbst… Ja, hier haben wir nicht lange gekämpft.“ Robert blickte in die Richtung, in die sein Kamerad gezeigt hatte. Am Kai wurden Panzer und Geschütze auf flache Motorlastkähne verladen. Soldaten mit umgehängten Gewehren stiegen im Gänsemarsch das Fallreep in eine Motorbarkasse hinauf. Eine zweite Barkasse hatte gerade vom Ufer abgestoßen und fuhr mit Schaumwellen vor dem Bug zu einem Truppentransporter. Hinter ihrem Heck kräuselte sich die bläuliche Rauchfahne der Auspuffgase. Jeder Zweifel war ausgeschlossen – die Truppen schifften sich ein. „Da hab ich ja wieder mal Glück!“ sagte Robert. Er dachte an Dünkirchen. „Unser Admiral scheint gewußt zu haben, daß wir umkehren müssen. Warum bloß?“ Robert Crawshow wußte nicht, wie recht er hatte, als er diese Vermutung äußerte. Vor rund einem Monat hatten die Truppentransporter das Expeditionskorps nach Piräus gebracht,
aber noch immer lagen die Schiffe am Kai und auf der Reede, als warteten sie auf Fracht für die Rückreise. Der Zerstörer „Rogers“, der die Transportschiffe begleitet hatte, war ebenfalls nicht aus den griechischen Gewässern herausgekommen. Als die Abenddämmerung hereinbrach, kehrte Robert todmüde auf die „Rogers“ zurück. Eine Stunde später lief der Zerstörer im Verband des Geleitzuges aus dem Hafen aus. Er begleitete die erste Gruppe von Truppentransportern, die die Soldaten des britischen Expeditionskorps aus Griechenland abtransportierten. Robert war zufrieden, so müde zu sein, daß er keinen Gedanken fassen konnte. Zu trüb waren seine Gedanken in der letzten Zeit, da ein Unglück nach dem anderen über ihn hereingebrochen war. Den Tod der Schwester hatte ihm der Vater erst geraume Zeit nach dem Unglückstag mitgeteilt. Er schrieb aus Schottland, wohin er mit der Mutter übergesiedelt war. Über die Krankheit der Mutter berichtete der Vater wenig, er teilte nur mit, daß sie lange Zeit schwerkrank gewesen sei und daß es ihr jetzt Gott sei Dank besser gehe. Sie wohnte bei ihrem Vetter, der einen Bauernhof besaß, während er selbst in Glasgow arbeitete. Auch vom Tod Onkel Williams schrieb der Vater. Armer Vater! Sie waren so eng befreundet gewesen! Von Kate hatte er ebenfalls lange keine Post. Endlich bekam er einen Brief. Es waren nur ein paar Zeilen. Robert hatte nicht geahnt, daß einem ein paar hastig hingeworfene Worte, wie sie da in schiefen Zeilen auf dem Papier standen, so viel Schmerz bereiten können. Was geschehen war, wußte er nicht. Kate teilte mit, daß sie eigentlich nicht hatte schreiben wollen -es sei zu schwer, am liebsten würde sie sterben. Aber
sie fühle sich verpflichtet, ihm zu sagen, daß zwischen ihnen alles aus sein müsse. Sie sei seiner nicht würdig und bitte ihn, sich als frei zu betrachten… Warum? Warum nur? Ihr Brief gab keine Antwort auf diese quälende Frage. Wahrscheinlich hatte sie sich in einen anderen verliebt. Aber in wen? Vielleicht hatte Jimmy Page erreicht, was er wollte, als er nach London fuhr. Dieser Etappenhengst aus der Intendantur! Wie haßte er seinen früheren Freund! Aber vielleicht war es gar nicht Page, sondern ein anderer… Robert stellte sich Kate in den Armen dieses Unbekannten vor und knirschte in ohnmächtiger Eifersucht mit den Zähnen. Er stand auf dem Deck des Zerstörers, um ihn die südliche Nacht und die See. Mit gelöschten Lichtern fuhr die „Rogers“ an der Spitze des aus Truppentransportern bestehenden Geleitzuges. Nach den Sternen zu schließen, steuerte der Zerstörer nach Süden – nach Kreta. Für Polly war es in Schottland natürlich weitaus besser als in London. John Crawshow hatte sich lange den Kopf zerbrochen, wohin er sie bringen könne. Der Arzt hatte ihm gesagt, es würde noch, einige Zeit dauern, bis seine Frau sich endgültig von dem Schock erholt haben würde. Für die Kranke sei es am besten, sie könne sich in ruhiger, friedlicher Umgebung aufhalten. Wo? Der Doktor zuckte die Achseln. Am besten in einem Sanatorium an der See oder in einer Privatpension, wenn man die entsprechenden Mittel habe. Aber der Hafenarbeiter hatte nicht die entsprechenden Mittel. Schließlich besann sich John, daß Polly in der Nähe von Glasgow einen Vetter zu wohnen hatte, der dort eine Landwirtschaft betrieb. John kannte David wenig, und er genierte
sich, ihm zu schreiben. Doch so schwer ihm der Brief auch fiel, er schrieb ihn. In einer solchen Situation durfte man sich nicht genieren. David schickte als Antwort ein Telegramm, er bat sie, sofort zu kommen. Und so lebten sie nun in Schottland. Der Bauernhof von David Macclean befand sich in der Nähe von Eaglesham. Das Wohnhaus war eine niedrige, gleichsam mit der Erde verwachsene Kate. Um das Haus herum lagen der Acker und die Wiese. Die Wirtschaft war nicht groß, insgesamt einige Acre, aber die Familie Macqlean konnte immerhin davon existieren. Der Bauernhof stand hart an der Grenze der Besitzungen von Lord Hamilton, die sich bis dicht nach Glasgow erstreckten. Polly wurde das Zimmerchen des ältesten Sohnes überlassen, der jetzt Soldat war. Das Zimmer bot gerade Platz für ein Bett und ein Tischchen, aber das genügte ihr vollauf. John kam sonnabends, manchmal auch mitten in der Woche nach Eaglesham. Er hatte Arbeit im Hafen von Glasgow gefunden. Das war nicht besonders schwierig gewesen, jedenfalls nicht so schwer wie in Friedenszeiten, wo auf jede freie Stelle ein Dutzend Arbeitslose reflektierten. Man bot ihm den Posten eines Stauerbaas an, das heißt des Vorarbeiters, der das Laden und Löschen der Schiffe überwacht. Die Arbeit war nicht schwer, erforderte aber viel Zeit, und deshalb blieb John meist in Glasgow. An einem Sonnabend wollte John recht früh nach Eaglesham fahren, aber ein amerikanischer Dampfer, der noch in den Hafen einlief, hielt ihn auf. In der letzten Zeit legten viele amerikanische Schiffe in Glasgow an. Sie brachten auf Grund des Lend-Lease-Abkommens Kriegsmaterial und Lebens-
mittel. Erst gegen zehn Uhr abends konnte John den Hafen verlassen. Der Autobus fuhr nach Kilmanock. Auf halbem Wege stieg John aus. Er hatte von dort ungefähr eine Meile bis zu Davids Gehöft zu laufen. Als er auf der Brücke war, kamen ihm zwei Jeeps mit nicht abgeblendeten Scheinwerfern entgegen. John stellte sich dicht an das Brückengeländer und ließ die Autos vorbei. Er sah ihnen nach und stellte fest, daß sie in die Straße nach Glasgow einbogen. John dachte bei sich: Die tun so, als ob kein Krieg wäre, fahren nicht einmal mit Tarnscheinwerfern. Es war eine helle Mondnacht. Den Rucksack auf dem Rükken, ging John über unbebautes Land, das hier und da mit Sträuchern bewachsen war. Dann bog er in einen Pfad ein, der zum Tor des Bauernhofes führte. Hier stieß er auf David. Sonst ruhig und ausgeglichen, machte er heute einen verstörten Eindruck. „Du, hör mal, ich muß dir was erzählen“, sagte David Macclean. „Gut, daß du gekommen bist. Die Frauen schlafen bereits, und ich habe niemand, mit dem ich mich aussprechen kann. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie frech die Boches sind. Sie kommen sogar schon zu uns nach Schottland geflogen. Gehen wir ins Haus.“ Leise öffnete David die Haustür, fluchte, als er sie versehentlich zu laut ins Schloß fallen ließ, und ging in die Küche. Im Herd glimmten Kohlen – man mußte heizen, weil die Nächte kalt waren. David knipste das Licht an und setzte sich an den Tisch. „Du wirst es nicht glauben, was ich eben erlebt habe.“ Aus David sprach noch die Erregung über das, was sich kurz zu-
vor zugetragen hatte. „Ich konnte heute abend nicht einschlafen. Wälzte mich von einer Seite auf die andere. Ach, dachte ich schließlich, guck mal nach dem Vieh. Die Kuh muß bald kalben. Ich ging in den Stall. Dort war alles in Ordnung. Aber plötzlich höre ich was brummen. Ein Flugzeug. Ich gucke zum Himmel und sehe es fliegen. Im Mondlicht war es gut zu erkennen. Das hätte weiter nichts bedeutet, aber wie ich weiter gucke, da entfaltet sich ein Fallschirm vor meinen Augen. Ich denke bei mir, da stimmt doch was nicht. Wer hat es nötig, mitten in der Nacht bei uns abzuspringen? Das kann nur ein deutscher Spion sein. Ich greife mir einen Knüppel und sause hin. Na, dir werde ich einheizen, denke ich bei mir. Ich komme hin, und er liegt auf der Erde wie ein verendeter Hammel. Er hatte die Uniform eines Hauptmannes an. Ich kenne die Dienstgrade vom vorigen Krieg her. Ich fasse ihn an – er lebt, ist nur bewußtlos. Waffen hatte er nicht bei sich, nur einen Fotoapparat. Was sollte ich machen? Ich holte Wasser – ich habe ja den Brunnen auf meiner Wiese. Wie ich so laufe, denke ich bei mir, daß er dir nur nicht ausrückt, der Schuft. Aber nein. Ich schnalle also seine Fallschirmgurte ab. Da kommen plötzlich welche von uns in Autos angeprescht. Bist du ihnen nicht begegnet?“ „Ja“, bestätigte John, „auf der Brücke, bei der Chaussee.“ „Ja, ja! Das wird stimmen.“ Macclean steckte sich die ausgegangene Pfeife wieder an. „Die Unseren müssen ihn also auch beobachtet haben. Sie springen aus den Autos und fragen: ,Was ist das für einer?’ – ,Ich weiß nicht’, sage ich. ,Ein Deutscher. Ich bemühe mich gerade darum, daß er wieder zu sich kommt.’ Plötzlich richtete der sich auf, er war pitschnaß – ich hatte nicht mit Wasser gespart – und sagte: ,Ich bin
Hauptmann Alfred Horn. Bringen Sie mich zu Herzog Hamilton.’ Denk mal, so ein frecher Kerl! Zu Lord Hamilton! Kommt angeflogen, als ob er eingeladen wäre. Und das haben sie ihm auch geglaubt. Diesen Horn haben sie also ins Auto gesetzt und sind mit ihm losgefahren. Er könne nicht selber gehen, sagte er, er habe sich das Bein verletzt. Der Leutnant notierte sich meinen Namen und bedankte sich. Ich bat ihn um den Fallschirm, aber er hat ihn mir nicht gegeben. Schade. Es war gutes Material, reine Seide. Er sagte, er wird als Beweis gebraucht… Siehst du, was für Sachen alles passieren!“ Die Männer unterhielten sich noch eine Weile und gingen schlafen. Den Sonntag verbrachte John Crawshow auf dem Bauernhof. Am Montag las er in Glasgow in der Zeitung, daß Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß in einem Flugzeug aus Deutschland geflüchtet und über Schottland abgesprungen sei. Guck mal einer an, wen David da beinahe mit seinem Knüppel verdroschen hätte! dachte der Hafenarbeiter. Schade, daß er bewußtlos war, als er auf der Erde lag. John bedauerte, daß sein Freund William nicht mehr da war. Mit dem hätte er den Fall nach Herzenslust durchsprechen können! Crawshows Gesicht wurde finster – er konnte noch immer nicht über den Verlust des Freundes hinwegkommen. In jener Nacht, am 10. Mai 1941, befand sich Herzog Hamilton, Hofmarschall, Mitglied des britischen Oberhauses und höherer Offizier der Royal Air Force, auf seiner Befehlsstelle in Schottland, als ihm der Diensthabende meldete, ein Flugmeldeposten von der Küste Northumberlands habe um zwei-
undzwanzig Uhr null acht Minuten ein deutsches Flugzeug vom Typ Me 110 gesichtet. „Hier liegt wahrscheinlich ein Versehen vor, Mylord“, fügte der Diensthabende hinzu. „Eine Messerschmitt hat keinen so großen Aktionsradius. Ihr würde der Treibstoff für den Rückflug fehlen.“ Aber Herzog Hamilton hob jäh den Kopf. „Eine Messerschmitt? Geben Sie unverzüglich die Anweisung an die Posten, sie weiter zu beobachten.“ Beinahe hätte Herzog Hamilton ausgerufen: Ich erwarte die Maschine schon lange. Er konnte die Erregung, die ihn ergriffen hatte, kaum unterdrücken, fügte aber ruhig hinzu: „Melden Sie mir unverzüglich alles, was die Posten mitteilen.“ Die Posten beobachteten den Flug der geheimnisvollen deutschen Maschine weiter. Lord Hamilton ließ den Blick nicht von der Karte. Er ordnete an, ein Defiant-Jäger solle aufsteigen und dem Flugzeug folgen. „Schärfen Sie dem Piloten ein, daß ein Kampf unter allen Umständen zu vermeiden ist. Das Flugzeug ist nur zu begleiten“, wiederholte er. Es war nicht auszudenken, was für einen Bärendienst ein übereifriger Pilot, wenn er feuerte, dem Land erweisen konnte. Aber das sagte Hamilton nicht, das dachte er nur. Um dreiundzwanzig Uhr null drei Minuten befand sich die Me HO südlich von Glasgow. Der Pilot der Defiant meldete über Bordfunk, daß er in dem und dem Planquadrat ein brennendes Flugzeug auf dem Boden sehe. „Was?“ Lord Hamilton hatte seine Selbstbeherrschung verloren und war aufgesprungen. „Er hat ihn abgeschossen? Ich
habe doch befohlen…“ „Nein, nein, Mylord“ – der Adjutant beeilte sich, seine Meldung zu beenden –, „der Pilot sagt, daß er nicht geschossen habe. Die Maschine sei von selbst abgestürzt. Der Pilot sprang in der Nähe von Eaglesham mit dem Fallschirm ab. Sehen Sie hier…“ „Rufen Sie sofort den Posten an, der der Absturzstelle am nächsten ist, und veranlassen Sie, daß der Pilot unverzüglich gesucht wird.“ Eine halbe Stunde quälenden Wartens verging, als von der Flugmeldestelle mitgeteilt wurde, der Pilot, ein deutscher Fliegerhauptmann, sei gefunden, er heiße Alfred Hörn. „Hier scheint wiederum ein Versehen vorzuliegen, Mylord. Der deutsche Flieger verlangt, sofort zu Ihnen gebracht zu werden.“ Der Offizier vom Dienst verstand in dieser Nacht überhaupt nichts. Herzog Hamilton atmete erleichtert auf – na endlich! „Lassen Sie ihn nach Glasgow bringen. Das übrige hat bis morgen Zeit. Und jetzt verbinden Sie mich mit dem Premier, aber sofort…“ Am Sonntag, dem 11. Mai, fuhr Herzog Hamilton in der Frühe nach Glasgow. Zuerst sah er sich die Sachen an, die man dem deutschen Hauptmann abgenommen hatte – einen Fotoapparat, einige Familienaufnahmen, eine Visitenkarte auf den Namen Karl Haushofer, ein Fläschchen mit Arznei. Hamilton öffnete den Korken – es roch nach Baldrian. Das hat er zur Beruhigung gebraucht, dachte er. Mit diesem Gedanken betrat Hamilton den Raum, in dem sich Heß befand. Vor ihm stand ein Mann, hager, mit tiefliegenden Augen und
breiten, buschigen Brauen. Sein Gesicht war erdfahl. Der Flieger hatte sich offenbar noch nicht von dem Flug erholt. Lord Hamilton erkannte ihn sofort wieder – vor fünf Jahren hatten sie sich in Berlin bei den Olympischen Spielen gesehen. Heß empfing ihn damals in seinem Haus. Heß ging auf Hamilton zu. „Ich möchte mit Ihnen unter vier Augen sprechen“, sagte er. „Selbstverständlich.“ Der Herzog bedeutete dem ihn begleitenden Offizier hinauszugehen. Sie waren allein. „Erkennen Sie mich? Ich möchte mit Ihnen offen sprechen. Nur deshalb habe ich eine so beschwerliche Reise unternommen, ohne an die Folgen zu denken, die mich in Berlin erwarten. Ich habe aus eigener Initiative gehandelt.“ Vorläufig verriet Heß nichts von seinen Vollmachten. „Was hat Sie auf diesem, entschuldigen Sie, etwas seltsamen Weg hierher nach Schottland geführt?“ Hamilton zog es ebenfalls vor, den Naiven zu spielen. „Wir sind von der gleichen Waffengattung, Mylord. Im vergangenen Krieg war ich Flieger. Das kam mir gut zustatten. Der gestrige Flug war mein vierter Versuch, zu Ihnen zu gelangen. Jedesmal mußte ich wegen schlechten Wetters auf halbem Wege umkehren. Ich bin zu Ihnen als Friedenstaube gekommen.“ Heß erzählte von seinen Erlebnissen. Er sei am Spätnachmittag des Vortages auf einem Flugplatz bei Augsburg gestartet. Als er sich der englischen Küste näherte, sei es noch hell gewesen. Er befürchtete, von der Flak oder von Jägern abgeschossen zu werden. So mußte er eine Stunde über dem Meer kreisen. Dann habe er sich ein wenig verfranzt, der
Treibstoff drohte auszugehen, er mußte mit dem Fallschirm abspringen. Heß verzichtete darauf, dem hochmütigen Herzog die Einzelheiten mitzuteilen. Warum tat er, als wüßte er von nichts, als sei er der reine Waisenknabe in der Politik? „Ich wollte den Flug nicht antreten, solange Sie in Libyen erfolgreich waren. Mein Flug hätte als ein Zeichen der Schwäche Deutschlands ausgelegt werden können. Nun, da wir die Lage in Nordafrika und auf dem Balkan wiederhergestellt haben, ist es etwas anderes. Jetzt wird uns niemand Schwäche vorwerfen.“ „Und was wollen Sie uns vorschlagen?“ „Das Risiko, das ich auf mich genommen habe, sollte ein Beweis meiner Aufrichtigkeit sein. Der Führer ist überzeugt, daß er den Krieg gewinnen wird. Denken Sie an die furchtbaren Angriffe unserer Luftwaffe auf London. Vor meinem Abflug hörte ich von einem neuen Großeinsatz, der in der vergangenen Nacht stattfinden sollte. Aber ich möchte weiteres sinnloses Blutvergießen abwenden. Ich versichere Ihnen, der Führer und Reichskanzler ist nicht dagegen, mit England Frieden zu schließen.“ Lord Hamilton hörte Heß aufmerksam zu. Demnach hatte Hitler seinen Abgesandten in Begleitung krachender Bomben auf die Reise geschickt. Der Herzog war über den mit erbarmungsloser Härte geführten Luftangriff der vergangenen Nacht genau informiert. Damit wollte Hitler dieselbe Reaktion hervorrufen wie mit den Angriffen in Libyen und auf dem Balkan. „Was kann ich für Sie tun?“ Er zog es vor, sich bezüglich der Vorschläge, die Heß zu machen hatte, der eigenen Meinung zu enthalten – er wollte dem Premierminister Churchill nicht
die Karten durcheinanderbringen. „Sie sind Hofmarschall, verhelfen Sie mir zu einer Audienz beim König, und ermöglichen Sie es mir, einen zu Verhandlungen bevollmächtigten Vertreter der britischen Regierung zu sprechen, damit ich meine Vorschläge unterbreiten kann.“ Rudolf Heß trat durchaus nicht als Gefangener, eher als außerordentlicher Gesandter auf. Hamilton versprach, seine Bitte weiterzuleiten. Damit trennten sie sich. Nach dem Gespräch mit Heß begab sich der Herzog zum Flugplatz. Einige Stunden später saß er im Arbeitszimmer Churchills, der ihn mit größter Ungeduld erwartet hatte. Für die weiteren, immer noch unverbindlichen Besprechungen bestimmte der Premier Mister Kirkpatrick, einen in derlei Dingen erfahrenen Beamten des Foreign Office. Kirkpatrick war lange in dienstlicher Eigenschaft in Berlin gewesen und kannte Heß persönlich. Churchill instruierte Kirkpatrick eingehend. Vor allem galt es herauszubekommen, was die Deutschen beabsichtigten. Die Unterhaltung fand einen Tag später statt. Heß überhäufte Kirkpatrick gleich bei der Begrüßung mit Beschwerden. Die Bedingungen seiner Unterkunft seien für ihn unerträglich. Seien das etwa die richtigen Räume für ihn? Er werde hinter Schloß und Riegel gehalten und von einem schweigsamen Soldaten bewacht. Er, ein Emissär, ein Parlamentär in der Lage eines rechtlosen Gefangenen! Seine Notizen für die bevorstehenden Verhandlungen müsse er eigenhändig niederschreiben! Man habe ihm weder einen Sekretär noch eine Stenotypistin gestellt, ganz zu schweigen von juristischen Beratern… Heß sprach empört, erfüllt von der Würde, die ihm sein Auftrag verlieh.
„Vor allem“, sagte er, „möchte ich die meiner Situation angemessenen Mitarbeiter haben. Ich brauche Berater.“ „Woher sollten wir sie nehmen?“ fragte Kirkpatrick. „England befindet sich mit Deutschland im Kriegszustand. Ihre Berater werden kaum auf demselben Wege hierherkommen können wie Sie.“ „Sie brauchen nicht aus Berlin zu kommen. Schicken Sie Doktor Semmelbauer und Kurt Maas zu mir. Sie befinden sich in einem Internierungslager in der Nähe von Liverpool. Um die Sache zu erleichtern, kann ich Ihnen ihre Lagernummern geben.“ Aus dem Gedächtnis nannte Heß zwei fünfstellige Zahlen. „Sie sind ja über den Aufenthaltsort Ihrer Mitarbeiter nicht schlecht unterrichtet“, sagte Kirkpatrick lächelnd. „Das versteht sich von selbst! Ich habe mich auf die Verhandlungen sorgfältig vorbereitet. Werden Sie mir helfen?“ Kirkpatrick bemühte sich, den deutschen Reichsminister zu beruhigen – er würde alles tun, was in seinen Kräften stehe. Im Moment jedoch sei er mit dem Auftrag hier, festzustellen, was Herr Heß der britischen Regierung vorschlagen möchte. Heß holte weit aus – er begann mit einem Überblick über die Beziehungen zwischen England und Deutschland während der letzten dreißig Jahre. Deutschland sei stets bemüht gewesen, sich mit den Engländern zu verständigen, was man von den Engländern nicht sagen könne. Jetzt bezahle Britannien seine Fehler. Heß fing an zu drohen. England stehe am Rande des Untergangs. Er sei bereit, das zu beweisen. Wenn London ein rauchendes Trümmerfeld werde, so sei England selber daran schuld. Es hätte mit sich reden lassen müssen. Er jedenfalls müsse die Warnung aussprechen, daß das erst der
Anfang sei. Die deutsche Flugzeugproduktion sei gewaltig gestiegen. Vom Luftkrieg ging Rudolf Heß zur Situation auf der See über. Er sprach und blickte dabei in die Notizen, die er sich nachts gemacht hatte. „Sie erleiden schwere Verluste zur See. Die deutsche UBoot-Flotte wächst mit jedem Tag. England droht der Verlust aller seiner Schiffe. Es befindet sich in der eisernen Umklammerung der Blockade. Die Zeit ist nicht fern, da kein einziges Schiff mehr zu der Insel durchschlüpfen wird. Wenn nötig, wird Adolf Hitler die Blockade so lange ausdehnen, bis sämtliche Einwohner Englands ohne Ausnahme vom Hungertod bedroht sind.“ Heß vergaß sich und hieb mit der Faust auf den Tisch. Kirkpatrick hörte unbewegt zu. „Mein Flug hierher bietet Ihnen die letzte Chance, ohne Prestigeverlust Frieden zu schließen“, fuhr Heß fort. „Sie haben nur noch diese eine Chance. Wenn Sie sie nicht wahrnehmen, wird Hitler Sie vernichten. Und mit Recht – man darf Großmut nicht zu lange mißbrauchen.“ Nachdem Heß alle seine Drohungen ausgestoßen hatte, fügte er in ruhigerem Ton hinzu: „Ich bin gekommen, um Ihnen das folgende Abkommen vorzuschlagen: ,A. England läßt Deutschland freie Hand in Europa. B…“ Heß zählte alle Punkte des ihm von Hitler übergebenen Plans ABC Nr. 274-K auf und deklarierte sie als seine Vorschläge. Kirkpatrick fühlte, daß das Gespräch an dem Punkt angelangt war, der beide Seiten interessierte. Er fragte:
„Und wo befindet sich Rußland nach Ihrer Meinung, in Europa oder in Asien?“ „In Asien“, antwortete der Reichsminister. Er wollte vor diesem Mann, der in der britischen Regierung nichts zu sagen hatte, nicht alle Karten aufdecken. Überhaupt war Heß höchst unzufrieden, daß er mit einem untergeordneten Partner sprechen mußte. „Wir haben gewisse Forderungen an Rußland“, fuhr er vorsichtig fort. „Sie können entweder durch ein Abkommen oder durch Krieg befriedigt werden. Aber das ist ein Thema für sich.“ Die Unterredung zwischen Rudolf Heß und dem Beamten des Außenministeriums dauerte mehr als zwei Stunden. An den folgenden Tagen kamen sie noch zweimal zusammen, aber Heß teilte nichts Neues mehr mit. Nur bat er Kirkpatrick, als er sich von diesem verabschiedete, ihm einen Dienst zu erweisen. „Könnten Sie nicht ein Telegramm für mich nach Zürich aufgeben? Ich sage Ihnen die Adresse. Teilen Sie dorthin mit, daß Alfred Horn lebt und gesund ist. Zur Beruhigung meiner Familie, verstehen Sie?“ Kirkpatrick begriff – Rudolf Heß wollte die erste Information an Hitler geben. Admiral Darlan, der aufgehende Stern unter den französischen Verrätern, die zu den Deutschen übergegangen waren, erschien auf den Ruf Hitlers in Berchtesgaden. Geschmeichelt durch die ihm zuteil gewordene Ehre, saß er aufgeblasen im Vorzimmer und wartete auf die Audienz. Der Empfang verzögerte sich. Im Arbeitszimmer des Reichskanz-
lers ging etwas Unbegreifliches vor sich. Selbst durch die schalldichte Tür zum Vorzimmer waren hysterische Schreie, das Geräusch fallender Stühle und dumpfe Stöße zu hören, als stampfe jemand mit den Füßen auf. Aus der Tür stürzte der Adjutant mit bleichem, erschrockenem Gesicht und zitternden Händen. Ihm auf dem Fuße folgte, ebenfalls äußerst erregt, Keitel. Er vergaß, hinter sich die Tür zu schließen. Der Adjutant teilte Darlan mit, daß die Audienz erst etwas später stattfinden könne. Als Darlan das Vorzimmer verließ, hörte er die gurgelnde Stimme Hitlers: „Die Sache ist sofort zu untersuchen! Alle, die darin verwickelt sind, sind zu verhaften! Ich werde jeden erschießen, aufhängen lassen… Er ist verrückt geworden!“ Der deutsche Reichskanzler simulierte äußerst gekonnt einen wilden Wutausbruch wegen der „Flucht“ von Heß. Die Nachricht hierüber hatte ihn einen Tag später auf dem Berghof erreicht. Hitler tobte, stampfte mit den Füßen auf und schrie. Sein Gesicht war krampfartig verzerrt. Es lag ihm daran, daß möglichst viele Personen Zeuge seiner Raserei waren. Die Gestapo übernahm die sofortige Untersuchung des „Falles“. Man verhaftete Messerschmitt, den Besitzer der Augsburger Flugzeugwerke, aber er wurde bald wieder freigelassen. Die Gestapo stellte fest, daß Messerschmitt keinen Anteil an der Flucht hatte. Man lud die Frau von Heß vor. Die Gestapo erklärte, daß sie ebenfalls von dem Vorhaben ihres Mannes nichts gewußt habe. Als Hitler mit Göring allein geblieben war, ließ er sich erschöpft in einen Sessel fallen. „Nun, hab ich sie aufs Kreuz gelegt? Werden sie’s glauben?“
Vor dem Flug von Heß hatte Hitler Göring in den von ihm ausgeheckten Plan eingeweiht. In Görings Gesicht spiegelte sich ehrliche Begeisterung. „O ja, mein Führer, ausgeschlossen, daß jemand es nicht glaubt!“ In sachlichem Ton sagte Hitler: „Im offiziellen Kommunique muß man erklären, daß Heß den Schritt in einem Zustand geistiger Umnachtung begangen hat und offenbar einem Flugzeugunglück zum Opfer gefallen ist. Ribbentrop werden wir nach Rom schicken – er soll die Italiener davon überzeugen, daß Heß freiwillig nach England geflogen ist. Jetzt brauchen wir nur noch auf die Mitteilung aus Zürich zu warten. Danach werden wir Kreta besetzen. Heß braucht moralische Unterstützung. Meinst du nicht auch? Sag mal, ist bei dir alles einsatzbereit?“ „Ja, mein Führer, das elfte Fliegerkorps wartet auf den Einsatzbefehl.“ „Denk daran, mich interessiert nicht nur der militärische Erfolg. Der Fall Kretas muß Heß’ Position stärken.“ Die erste Mitteilung aus Zürich traf eine Woche nach dem Flug von Heß ein. Das Telegramm war kurz: „Alfred Hörn lebt, ist gesund, bittet, sich seinetwegen nicht zu beunruhigen.“ Wohlgelaunt trommelte Hitler mit den Fingern auf die Armlehne des Sessels. Er zeigte Göring das Telegramm. „Jetzt ist das Wort an dir, Hermann. Übermorgen beginnen wir.“ Die Luftlandung auf der Insel Kreta begann am 20. Mai 1941 frühmorgens. Von den Deutschen waren sechzehntausend Fallschirmjäger und andere Truppen eingesetzt. Außerdem wurden siebentausend Soldaten durch Fahrzeuge der Kriegsmarine auf die Insel gebracht.
Der Matrose der Flotte Seiner Majestät, Robert Crawshow, mußte dreimal eine Evakuierung miterleben – zuerst in Dünkirchen, dann in Piräus und jetzt hier unweit des Fischerdörfchens, das sich an einen Felsen mit dem seltsamen Namen Sphakion schmiegte, einem Namen, der aus einem Lehrbuch der Geschichte des antiken Griechenlands hätte stammen können. Doch sei es, wie es sei – Sphakion lag auf der Insel Kreta. Als die deutsche Landung auf Kreta erfolgte, befand sich der Zerstörer „Rogers“ im Hafen von Alexandria. Vier Tage später lag das Schiff gegenüber der Insel. Alle dachten, sie sollten Angriffe abwehren und in den Kampf eingreifen, aber es kam anders – wieder eine Evakuierung. Robert wußte zwar nicht, welche Verluste die britischen Truppen auf der Insel erlitten hatten, was aber die Marinestreitkräfte betraf, so verloren sie in den ersten Tagen zwei Kreuzer und drei Zerstörer, während ein Linienschiff so schwer beschädigt wurde, daß es für lange Zeit ausschied. Der Zerstörer „London“ sank vor seinen Augen. Wie Haifische tummelten sich Unterseeboote im Meer. Ein Torpedo traf den Zerstörer neben dem Maschinenraum. Das Schiff versank in wenigen Minuten. Die „Rogers“, die in nächster Nachbarschaft des Schiffes war, wollte die auf dem Wasser Treibenden bergen, mußte aber sofort abschwenken – von neuem waren deutsche U-Boote aufgetaucht. Die „Rogers“ konnte sich selber nur mit Mühe und Not vor den ihr zugedachten Torpedos retten. Die mit dem Tode ringenden Männer klammerten sich an die ihnen zugeworfenen Taue, aber das wild aufbrodelnde Wasser riß sie los und trieb sie ab. Sie verschwanden in den kochenden
Wirbeln. Robert suchte einen zu retten. Er stemmte die Füße gegen das Dollbord und holte das widerspenstige Hanftau zentimeterweise zu sich heran. Das andere Ende hielt ein Mann mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht. Die Wellen schlugen über ihm zusammen. Robert griff mit der anderen Hand nach. Aber der Zerstörer lief bereits volle Fahrt, und der Mann, der sich mit den Zähnen am Tau festbeißen wollte, wurde von den wilden Wasserwirbeln erfaßt und in den Strudel gezogen. Das Tau wurde schlaff, Robert stürzte zu Boden. Als er sich wieder erhob, war niemand mehr zu sehen. Nur im Kielwasser nahm man noch entschwindende dunkle Punkte wahr – die Köpfe der ihrem Schicksal überlassenen Männer. Später, hieß es, soll es gelungen sein, einige zu retten, aber nur sehr wenige. Die Küste liefen sie in der Nacht an. Von den Bergen her hörte man Maschinengewehrfeuer und die Detonationen von Granatwerfergeschossen. Abteilungen der Nachhut fingen den Druck der Deutschen ab. Ein solches Durcheinander hatte Robert nicht einmal in Dünkirchen erlebt. Es war ein einziges Tohuwabohu. Die von Panik ergriffenen Menschen stürmten in der Dunkelheit die Boote, versuchten die Schiffe schwimmend zu erreichen, aber viele gelangten nicht ans Ziel. Vor dem Morgengrauen liefen die Schiffe in die offene See aus. Vom Ufer her hallten ihnen Verwünschungen und hysterische, wilde Hilfeschreie nach. Sie klangen noch lange in Roberts Ohren. Am Morgen wurden sie von Bombern angegriffen. Die „Rogers“ scherte seitwärts aus. Eine Bombe traf das Heck. Der Zerstörer blieb schwimmfähig, war aber der Steuerung beraubt. Die deutschen Flieger wollten ihm mit Maschinenge-
wehrfeuer den Garaus machen. Auf dem Deck lagen Tote, stöhnten Verwundete. Der Zerstörer wurde nach Alexandria abgeschleppt. Er hatte ein Viertel der in Sphakion an Bord genommenen Männer eingebüßt. Von den zweiundzwanzigtausend britischen Soldaten, die bei dem Felsen Sphakion ans Meer gedrängt wurden, konnten etwas mehr als sechzehntausend evakuiert werden. Die Gesamtverluste an Toten, Verwundeten und Gefangenen beliefen sich auf fünfzehntausend Mann. Aber auch die deutschen Luftlandetruppen mußten sich den Sieg teuer erkaufen. Die erste Welle der abspringenden Fallschirmjäger geriet in das vernichtende Feuer der englischen MG-Schützen, und Hunderte Lastensegler, die den Fallschirmjägern folgten, landeten im Bereich der englischen Vorhut. Die Fehlkalkulation des Stabes kam dem elfen Fliegerkorps teuer zu stehen. Die deutschen Verluste waren nicht geringer als die britischen. In den zehn Tage währenden Kämpfen – auf dem Flugfeld in Maleme, in den Bergen, auf den Straßen und in den Olivenhainen – kamen fünfzehntausend deutsche Soldaten um. Die Eliteeinheiten der Fallschirmjägertruppen des elften Fliegerkorps waren vernichtet. Dreißigtausend Deutsche und Engländer, tot, verwundet oder gefangen, waren das Wechselgeld in dem großen Spiel, das im Tower, der mittelalterlichen Londoner Festung, die nunmehr die Residenz von Rudolf Heß war, gespielt wurde. Der deutsche Parlamentär war in den Tower gebracht worden. In den Besprechungen mit ihm hatte die englische Seite bis jetzt weder ja noch nein gesagt. Die unvorhergesehene Verzögerung gefiel Heß nicht, aber was sollte er tun? Chur-
chill trug sich mit einem Plan, der allmählich festere Gestalt annahm. Nachdem Heß in England aufgetaucht war, hatte sich der Premier endgültig davon überzeugt, wie recht er gehabt hatte, als er auf einen Konflikt Deutschlands mit Sowjetrußland tippte. Am 16. Mai, kurz nach der letzten Unterredung Mister Kirkpatricks mit Heß, schrieb der britische Premier an seinen Busenfreund Smuts: „Es sieht so aus, als massiere Hitler Truppen gegen Rußland. Ein unablässiger Strom von Erdtruppen, Panzerkräften und Flugzeugen bewegt sich von Frankreich und Deutschland nach Osten. Ich selbst möchte annehmen, daß seine beste Chance darin bestünde, auf die Ukraine und den Kaukasus loszugehen, um sich Getreide und Petroleum zu sichern. Niemand kann ihn dabei aufhalten.“ Den letzten Satz bezog Churchill auf sich selbst. Er wäre der letzte, der Hitler aufhalten würde! Auf der Sitzung des Kriegskabinetts – sie war geheim -wurde Sir John Simon damit beauftragt, im Namen der Regierung mit Heß zu verhandeln. Sir John dankte dem Kabinett für das Vertrauen, aber der siebzigjährige Diplomat gab sein Einverständnis nur unter der Bedingung, daß die Verhandlungen streng vertraulich geführt und als Staatsgeheimnis behandelt würden. Damit war man einverstanden. Nach der Sitzung nahm Churchill Sir John unter den Arm und führte ihn in sein Zimmer. „Hören Sie, ich möchte Ihnen einiges aus dem Leben Herzog Marlboroughs, meines Ahns, erzählen.“ Der Premier ließ seinen Gast in einem Sessel mit hoher Lehne Platz nehmen und setzte sich ihm gegenüber. „Es war zur Zeit der Königin An-
na. Die Regierung beunruhigte das Bündnis des jungen Königs von Schweden mit Frankreich. Man mußte die Aufmerksamkeit Karls XII. in die entgegengesetzte Richtung lenken. Mit dieser delikaten Mission wurde mein Vorfahr betraut. Und wissen Sie, womit er begann? Raten Sie einmal! Als Herzog Marlborough in das Zimmer des Königs kam, sah er eine große Karte von Rußland. Der Herzog rief: ,Ah, Rußland! Was für ein großartiges Schlachtfeld für einen Feldherrn wie Eure Majestät!’ Verstehen Sie, worauf ich hinauswill, mein lieber Wikinger? Sollten wir nicht in den Verhandlungen mit Heß einen ähnlichen Gedanken äußern?“ „Einverstanden, aber das Vordringen Karls in Rußland endete mit der Schlacht von Poltawa“, wandte Sir John ein. „Man braucht kein Historiker zu sein, um das zu wissen.“ „Na und?“ fragte Churchill kampflustig. „Schweden verlor seine ehemalige Macht. Rußland war geschwächt, der Sieg war ihm teuer zu stehen gekommen. Aber dafür trat England auf den ersten Platz, wurde Großmacht… Wenden wir uns jedoch zeitgemäßeren Problemen zu.“ Der Premier rauchte eine Zigarre an und bereitete sich innerlich darauf vor, dem Wikinger seine geheimsten Pläne darzulegen. Er sagte, die Stimme senkend: „Wenn Sie mit Heß sprechen, dann lassen Sie durchblicken, daß wir Hitler nicht trauen, daß wir einen Treubruch von ihm befürchten. Soll er zuerst“ – hier senkte sich seine Stimme noch mehr – „mit Rußland beginnen, und dann werden wir Frieden schließen. Nicht umgekehrt, verstehen Sie?“ Der Besuch Sir John Simons im Tower mußte unvorhergesehener Umstände wegen verschoben werden. Am 20. Mai begann Hitler seinen Angriff auf Kreta. Er will Druck auf uns
ausüben, er spielt Poker, konstatierte Churchill richtig. Kirkpatrick hat recht, wenn er sagt, daß man das genauso einschätzen muß wie die Offensive in Afrika oder die Luftangriffe auf London. Aber von den Nachrichten, die aus Kreta kamen, war eine trostloser als die andere. Churchill zerbrach sich den Kopf, wie er Revanche nehmen könnte. Wenigstens bei den Verhandlungen mußte das Gleichgewicht der Kräfte gewahrt bleiben. Wo war die Möglichkeit einer Revanche, wo? Alles stand hoffnungslos schlecht. Doch plötzlich schien sich Fortuna dem Premier zuzuwenden… In jenen Tagen, da sich auf der gebirgigen Insel die tragischen Ereignisse entwickelten, genauer gesagt, am Mittwoch, dem 21. Mai, lief eine Meldung der Seefernaufklärung ein, daß im Kattegatt das deutsche Superschlachtschiff „Bismarck“ aufgetaucht sei. Das Schiff hatte seinen Stützpunkt verlassen und nahm in Begleitung des Kreuzers „Prinz Eugen“ Kurs auf den Bergenfjord. In der Nordsee war der Himmel mit einer dichten Wolkendecke überzogen. Die ohnehin schlechte Sicht wurde durch einen leichten Regen noch erschwert. Das am nächsten Tag nach Bergen entsandte Flugzeug konnte im Fjord keine Schiffe entdecken. Das war höchst alarmierend. In der britischen Admiralität hatte man allen Grund, aufgeregt zu sein. Das erst kürzlich vom Stapel gelaufene Schlachtschiff „Bismarck“ stellte für die königlich-britische Flotte eine ernste Gefahr dar. Bestückt mit 40-cm-Geschützen, verfügte es zudem über die stärkste Panzerung in der Welt. Die „Bismarck“ hatte zehntausend Tonnen mehr Wasserverdrängung als die
neuesten englischen Schlachtschiffe. Im Einzelkampf hätte die „Bismarck“ solche schwimmenden Festungen wie die „Rodney“ und die „Nelson“ mit Leichtigkeit versenken können. Die Lage spitzte sich noch dadurch zu, daß elf Geleitzüge mit Kriegsmaterial für England gerade vom amerikanischen Kontinent ausliefen. Einige Schiffe schwammen bereits auf dem Atlantik. Churchill befand sich über die Absichten Admiral Lütjens, des Kommandanten der „Bismarck“, keinen Augenblick im Zweifel. Sein Ziel war klar – fette Beute zu machen und die englische Insel zu blockieren. Davon hatte auch schon Rudolf Heß gesprochen, als er drohte, Hitler werde England aushungern. Bald darauf bestätigten sich die schlimmsten Vermutungen. Die Aufklärer entdeckten die deutschen Schiffe auf hoher See nordöstlich von Island. In voller Fahrt liefen sie auf die Dänemarkstraße zu, um in die nördlichen Breiten zu gelangen. Wie aus einem Hinterhalt konnten sie von dort auf die große ozeanische Geleitzugstraße hervorstürzen und den Transportschiffen den Weg abschneiden. Mit jeder Stunde wurde die Gefahr größer. Zum Kampf gegen die deutschen Schiffe wurde die gesamte englische Flotte alarmiert. Die britischen Schiffe liefen aus Gibraltar und den englischen Häfen aus und nahmen geraden Kurs nach Norden. Die Jagd auf die „Bismarck“ hatte begonnen. In der Morgendämmerung bekam die britische Flotte Feindberührung. In der Frühe wurde Churchill von einem telefonischen Anruf geweckt. Das Weekend verbrachte er in Chequers. Die ersten Nachrichten waren besorgniserregend. Aus der Admiralität wurde mitgeteilt, daß das Großkampfschiff „Hood“ vernich-
tet sei. Die „Bismarck“ hatte es mit der fünften Salve versenkt. Das Schiff explodierte und ging unter. Von der anderthalbtausend Mann starken Besatzung waren nur drei Mann am Leben geblieben. Eine Stunde später rief die Admiralität wieder an. Die „Prince of Wales“ war ebenfalls aus dem Gefecht ausgeschieden. Sie hatte schwere Beschädigungen davongetragen. Gleichzeitig teilte der Seelord aber mit, daß auch die „Bismarck“ beschädigt sei – die Geschosse hätten die Treibstoffbehälter getroffen, aus den klaffenden Löchern ströme Öl. Das Schlachtschiff suche das Weite, aber seine Geschwindigkeit habe beträchtlich nachgelassen. Die Verfolgung dauerte noch drei volle Tage. Das Schlachtschiff glich einem verwundeten Tier, das den Treibern zu entrinnen sucht. Eine Ölspur auf dem Meer hinterlassend, zog die „Bismarck“ nach Süden, sichtlich bestrebt, in einem französischen Hafen unterzuschlüpfen. Aber das Tier hatte noch Kraft. Mit dem Feuer ihrer Geschütze hielt die „Bismarck“ ihre Verfolger in gemessenem Abstand. Am 27. Mai wurde das fünfundvierzigtausend Tonnen große deutsche Schlachtschiff vierhundert Kilometer von Brest entfernt von dem inzwischen herbeigeeilten britischen Schlachtschiff „Rodney“ versenkt. Die Versenkung der „Bismarck“ war ein großer Erfolg der britischen Flotte. Churchill triumphierte – da war sie, die Revanche! Die Verhandlungen im Tower wurden fortgesetzt. Der von der Regierung bevollmächtigte Sir John Simon suchte Heß auf. Der deutsche Parlamentär übergab ihm die schriftlichen Unterlagen für ein Abkommen. Vorher las er ihren Inhalt laut vor.
„Um künftige Kriege zwischen Deutschland und England zu vermeiden, werden von den vertragschließenden Ländern die Interessensphären festgelegt. Die deutsche Sphäre ist Europa, die englische das Empire.“ „Einen Augenblick“, unterbrach ihn Sir John. „Ich möchte gern folgendes präzisiert haben: Europa bedeutet hier doch Kontinentaleuropa?“ Ihn interessierte dieselbe Frage, die Kirkpatrick Heß kürzlich vorgelegt hatte. „Jawohl, Kontinentaleuropa“, bestätigte Heß. „Schließt es einen Teil Rußlands mit ein?“ Jetzt war es an der Zeit, die Karten aufzudecken. Heß antwortete: „Moskau und der europäische Teil Rußlands bis zum Ural gehören zur Interessensphäre Deutschlands. England darf sich nicht in unsere Beziehungen mit Rußland einmischen.“ Vom Plan „Barbarossa“ sagte er kein Wort. Sir John Simon brauchte das keinesfalls zu wissen. Aber Heß erwähnte nicht zufällig den Ural – die Wolga und der Ural waren bei der Invasion der deutschen Truppen im Osten das Ziel, das erreicht werden sollte. „Aber welche realen Garantien gibt es, daß Hitler seine Verpflichtungen erfüllt?“ Damit war Sir John Simon zu dem Hauptpunkt gekommen. Er brachte die Zweifel vor, wie sie ihm der britische Premier nahegelegt hatte. Durch die dicken Festungsmauern drangen keine Geräusche und Geheimnisse nach außen. Zufrieden mit den Verhandlungen, verließ Sir John Simon den Tower. In seiner Tasche lag der Text des Privattelegramms, um dessen Aufgabe nach Zürich Heß ihn zur Unterrichtung seiner Familie ersucht hat-
te. Heß hatte nur darum gebeten, darauf zu achten, daß in dem Telegramm nichts vertauscht werde. Noch in derselben Nacht ging dieses Privattelegramm aus London ab. Der diensthabende Telegrafist tastete auf dem Morseapparat die Schweizer Adresse. Man hatte ihm eingeschärft, besonders aufmerksam zu sein, damit keine Verstümmelung entstehe. Aber in dem Telegramm stand nichts Außergewöhnliches. Als Absender zeichnete ein gewisser Alfred Horn. Der Telegrafist versah seinen Dienst stets gewissenhaft, er hätte auch ohne besondere Anweisung das Telegramm exakt durchgegeben – wer wollte schon dienstliche Beanstandungen einstecken! Infolge dieser Begebenheiten – was war es übrigens für einen Telegrafisten schon für eine Begebenheit, ein Privattelegramm ins Ausland zu senden! – verlegte der Befehlshaber der II. Luftflotte des Dritten Reichs, Albert Kesselring, sein Hauptquartier von Frankreich nach Posen. Wie durch einen Zauber hörten die Luftangriffe auf London plötzlich auf. Die zerstörte Stadt, die durch die Bomben hunderttausend Einwohner verloren hatte, unter denen die kleine Virginia Crawshow ein Stäubchen im Nebelschleier der militärischdiplomatischen Tarnung war, kam wieder zur Ruhe. Am Himmel über England zeigte sich künftig kein deutsches Flugzeug mehr. Hitler schien die übernommenen Verpflichtungen im voraus erfüllen zu wollen. Die Verhandlungen im Tower hatten die ersten Ergebnisse gezeitigt. Zwei Wochen später führte Guderian tausend Meilen östlich von London die letzte Rekognoszierung durch. Begleitet von
seinen Stabsoffizieren, ging der Befehlshaber der Panzergruppe über den vom Nachttau feuchten Ufersand. Der Sand knirschte unter den Füßen, genau wie am Ärmelkanal bei Dünkirchen. Eben war der Expreß Moskau-Berlin über die Brücke gebraust. Einige Fenster darin waren hell erleuchtet. Guderian begleitete den Nachtzug mit den Blicken. Der letzte Expreß aus Rußland, dachte er. Jenseits des Bugs sah man den ersten Schein der Morgenröte, sie versprach einen sonnigen, klaren Tag. Über dem unbewegten, stillen Wasser des Flusses schwebten Nebelschleier, und in dem dunklen Strom spiegelten sich die bleichen Sterne. Der Adjutant warnte – es sei besser, hinter den Sträuchern Deckung zu nehmen. Guderian antwortete nicht, er tat, als habe er nicht gehört. Schließlich war ja noch kein Krieg. Er führte das Fernglas an die Augen und richtete es auf das gegenüberliegende Ufer. Es war niedrig und mit einzelnen Weiden und Buschwerk bestanden. Dahinter erhoben sich grüne Hügel, die Forts der Festung Brest, alle geometrisch gleich angelegt. Im zerflatternden Dunkel wirkte das Ufer geheimnisvoll, obwohl alles friedlich war. Wie würde der Feldzug enden? Was würde der heutige Tag bringen? Würde sich die Variante des französischen Feldzugs mit Abbeville und Dünkirchen wiederholen, oder? – Nebelhafte Vorahnungen flimmerten in ihm auf und zerstreuten sich wieder wie Schleier über dem Bug. Nein, es konnte nicht anders kommen. Mochten die Sterne nur verblassen… Bevor sich Guderian auf die Rekognoszierung begeben hatte, unterzeichnete er einen Befehl, der Vorschriften für das Verhalten der Truppe in der Sowjetunion enthielt. Der Befehl
bezog sich auf die Menschen, die jenseits des Bugs, jenseits des Flusses lebten, der mit dem anbrechenden Morgen eine immer hellere Tönung annahm. Der Befehl Guderians stützte sich auf einen Erlaß von Keitel. Das Kernstück in ihm waren zwei Sätze, die er im Kopf behalten hatte. Sie lauteten: „Humanität gegenüber Kommunisten und Rotarmisten ist unangebracht. Sie sind rücksichtslos zu erschießen.“ Wer fiel darunter? Jeder, der sich in den Weg stellte, der den geringsten Widerstand leistete. Ob sie es ahnten, zumindest die dort in der Festung, daß für viele von ihnen heute die Sonne zum letztenmal aufging? Mochten sie ruhig schlafen… Doch was erwartete ihn in diesem Land? Rußland schien immer noch voller Geheimnisse und unergründlich wie die Zukunft. Guderian richtete das Fernglas auf die vor ihm liegende Eisenbahnbrücke. Die Brücke sollte im ersten Ansturm genommen und der Übergang auf die andere Seite erzwungen werden. Alles stand bereits fest. Es war inzwischen heller geworden, aber noch immer wirkte das jenseitige Ufer geheimnisvoll. Das waren die letzten Gedanken des deutschen Generals vor dem Krieg. Guderian kehrte zu seiner Befehlsstelle zurück. Genau zur festgesetzten Zeit brausten Flugzeuge über die Befehlsstelle gen Osten, und gleichzeitig erdröhnte ein Kanonenschuß. Nun bollerten auch die anderen Geschütze los. Guderian rief seinen Adjutanten. „Rollen die Panzer?“ „Jawohl! Sie greifen befehlsgemäß die Eisenbahnbrücke an.“ Der Krieg des Hitlerfaschismus gegen die Sowjetunion hatte begonnen.
An diesem Tag hielt der britische Premierminister Winston Churchill im Unterhaus eine Rede. Er sprach von dem neuen verräterischen Überfall Hitlers und bot der Sowjetunion Unterstützung und aufrichtige, uneigennützige Hilfe an. Nürnberg – Berlin – Moskau 1946-1956 Ende des ersten Bandes