Heike K. Wagner
Gefangen im geliebten Land
Voll guter Hoffnung zieht Heike Wagner mit ihrem Mann Ahmed und dem gemeins...
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Heike K. Wagner
Gefangen im geliebten Land
Voll guter Hoffnung zieht Heike Wagner mit ihrem Mann Ahmed und dem gemeinsamen Sohn nach Ägypten. Sie passt sich radikal an die dortigen Sitten und Gebräuche an. Doch Ahmeds Verhalten ändert sich schlagartig. Er bringt ihr nur Misstrauen und Verachtung entgegen. Verzweifelt über die ständigen Demütigungen beschließt Heike Wagner zu fliehen.
Heike K. Wagner
Gefangen im geliebten Land Meine ägyptischen Jahre
Weltbild
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Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86.167 Augsburg Copyright © 2OOO by Ullstein Buchverlage, München Umschlaggestaltung: Atelier Seidel, Neuötting Umschlagmotiv: mauritius-images, Mittenwald Gesamtherstellung: Clausen & Bosse GmbH, Birkstraße 1O, 25.917 Leck Printed in Germany ISBN 3-8289-76O4-2
2OO7 2OO6 2OO5 2OO4 Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Lizenzausgabe an.
Für meine Kinder Michaela und Oliver, die lange Jahre über meinen Aufenthalt in Ägypten kaum etwas erfahren haben. Als sie heranwuchsen und die ersten Fragen auftauchten, sah ich mich außerstande zu erklären, warum einerseits Land und Menschen so schön und liebenswert sind, ich andererseits dort aber nicht leben konnte. Als Tagebuch der Erinnerung begonnen, ist dieses Buch der Versuch, ihnen Anschauung zu geben, mein Handeln verständlich zu machen. In dankbarer Zuneigung gedenke ich Hagg Abd El Kataf und seinem Sohn Gamal, die mit Toleranz und Verständnis versuchten, meine Andersartigkeit zu begreifen. Das gilt auch für die Familienmitglieder, die mir mit Duldsamkeit den Alltag während meiner Jahre in Ägypten erträglich gemacht haben. Aus Respekt vor der Familie Abd El Kataf sind alle Namen geändert. Heike Wagner
1
Ankunft in einem fernen Land
Kopf an Kopf stand eine riesige Menschenmenge am Kai. Rufe gingen hin und her, Kommandos wurden geschrien, dazwischen blechernes Scheppern. Fremdartige Kopfbedeckungen und lange Gewänder in den verschiedensten Farben nahmen meinen Blick gefangen. An der Schiffswand war mittlerweile eine Leiter angebracht worden, über die ich hinuntergehen sollte. Neben mir rief Ahmed Namen nach unten, und mir sagte er ins Ohr: »Da ist mein Bruder Gamal, und da steht mein Vater.« Ich sah ein Meer von fremden Gesichtern, kehlige Wortfetzen flogen hin und her; diese Sprache würde ich wohl nie verstehen. Ahmed nahm mir plötzlich Nessim vom Arm, hob ihn ganz hoch und lachte aus vollem Hals. Unten winkte jemand mit beiden Armen und freute sich. Endlich trug ein Matrose unseren Sohn hinunter und gab ihn mir, auf festem Boden angekommen, zurück. Sofort kam Ahmeds Bruder Gamal auf mich zu und nahm Nessim auf den Arm. Er herzte und küßte ihn, gab ihn weiter an seinen Vater und einen weiteren Bruder, die ihn ebenfalls an sich drückten, bis er schrie und ich ihn wiederhaben durfte, um ihn zu beruhigen. Jussuf, der jüngste Bruder Ahmeds, war wohl etwa zwölf Jahre alt und strahlte mich an. Nun wurden wir begrüßt. Es kam mir vor, als hätten sie Gedichte zu meiner Ankunft auswendig gelernt. Bald hatte ich heraus, daß die Worte sich wiederholten, und obwohl ich kein Wort verstand, waren diese Sprüche alle
von einem freundlichen Lächeln begleitet. Also fühlte ich mich gut aufgehoben, lächelte zurück und sagte in meiner Sprache das, was man zur Begrüßung völlig fremder Menschen eben sagt. Vater und Sohn lagen sich in den Armen, und ich konnte Tränen der Rührung sehen. Hagg Abd El Kataf war eine Persönlichkeit, der man überall mit Achtung begegnete. Sofort fielen mir seine lebhaften dunkelbraunen Augen auf, die immer forschend und neugierig jeden und alles betrachteten. Er war etwa einen Kopf größer als Ahmed, korpulent, hatte lichtes dunkelblondes Haar und trug einen europäisch geschnittenen Anzug aus schwerer Seide. Immer hatte er eine Perlenkette aus Bernstein bei sich, die er beständig durch seine Finger gleiten ließ. Von Ahmeds Brüdern waren zwei mit zum Hafen gekommen, um uns abzuholen, und sie redeten unentwegt in dieser kehligen Sprache auf den lange vermißten Bruder ein. Wir standen in der riesigen Menschenmenge, die ich vom Schiff aus gesehen hatte, und überall vollzogen sich ähnliche Szenen. Begrüßungen, Gelächter, Freude auf allen Gesichtern, und meine neue Familie und ich lösten uns langsam aus diesem Menschenknäuel, um Formalitäten zu erledigen, unsere Fracht und auch unser Auto in Empfang zu nehmen. Es dauerte noch Stunden, bis wir endlich alle im Wagen saßen und auf schlechten Straßen Tanta ansteuerten. Es war tiefschwarze Nacht, und ich konnte nichts von der Landschaft erkennen. Nessim schlief, und auch ich war sehr erschöpft. Aber mein neues Zuhause erwartete mich, und trotz meiner Müdigkeit war ich aufgedreht. Schließlich würde ich jetzt noch Ahmeds Mutter, die nicht mit zum Schiff gekommen war, und die übrige Familie kennenlernen. Später erfuhr ich, daß die Entfernung von Alexandria nach Tanta etwa achtzig Kilometer betrug; mir kam es in dieser ersten Nacht viel weiter vor. Tanta liegt ziemlich genau in der Mitte
zwischen Kairo und Alexandria und ist eine Dorfstadt, wie ich es für mich immer genannt habe. Natürlich mit meinem europäischen Verständnis von einer Stadt. Ahmed machte mich darauf aufmerksam, als wir in Tanta einfuhren, und ich sah eine breite, vermutlich als Allee angelegte Straße mit einem ebenso breiten Mittelstreifen. Obwohl es schon sehr spät war, so gegen Mitternacht, war alles hell erleuchtet. Gamal fuhr sehr langsam, und das war auch notwendig. Selbst unser großes komfortables Auto nahm die Schlaglöcher mitunter übel. Ich konnte also die vielen Menschen in ihren fußlangen Kitteln, manchmal mit kleinen Mützen auf dem Kopf, flanieren oder auch ihren Besorgungen nachgehen sehen. Die Frauen trugen lange Hemdkleider und eine schleierartige Kopfbedeckung. Manche von ihnen waren auch europäisch gekleidet. Die Männer unterhielten sich angeregt, und ich betrachtete staunend meine neue Heimat. Daß diese bodenlangen Kleidungsstücke Galabija hießen, lernte ich schnell. Ich trug sie nie. Die Begrüßung im Haus meiner Schwiegereltern, wo wir wohnen würden, war sehr herzlich. Das dreistöckige Haus gehörte meinem Schwiegervater und war in mehrere Wohnungen eingeteilt. Er wohnte mit seiner Frau und den jüngeren Kindern im dritten Stock. Erst einmal würden auch wir hier ein Zimmer bekommen, aber der Umzug in die Wohnung im ersten Stock war bereits geplant. Die gemeinsame Wohnung war sehr groß und hatte von einer hufeisenförmigen Galerie Eingänge durch drei verschiedene Türen, von der jede ihre eigene Bedeutung hatte. Eine sehr große, doppelflügelige Haupteingangstür mit geschnitzten Verzierungen und einem geschwungenen Oberlicht in der Mitte der Eingangsfront war für offizielle und feierliche Anlässe. Eine normal große Tür für den Besuch von Freunden und Verwandten befand sich im rechten Winkel des Hufeisens und führte direkt in den Salon. Dieser
gegenüber befand sich eine ebensolche Tür für Personal, die auch die Familie im Alltag benutzte. An dieser stand nun der Rest meiner neuen Verwandtschaft. Meine Schwiegermutter stand in dieser Menschentraube als sehr kleine, runde Person, trug eine Galabija, ein Stirntuch und einen darübergewundenen Schleier. Im Flur war es sehr dunkel, und ich konnte all die Gesichter nicht unterscheiden. Ahmeds Mutter sollte ich Hagge nennen, und sie nahm mich in ihre Arme. Sie war mit ihrem Ehemann nach Mekka gepilgert und führte seitdem diesen Ehrentitel, so wie er den eines Hagg. Nun wurden mir alle anderen Familienmitglieder vorgestellt. Da war Fatma, die jüngste Schwester Ahmeds. Sie hatte große schwarze Augen und schwarzes Haar. Sie strahlte mich an und gab mir einen Kuß. Und obwohl sie erst dreizehn Jahre alt war, so sagte man mir, sah sie aus wie eine junge Frau von etwa zwanzig Jahren. Latifa war die zweitjüngste Schwester Ahmeds, und sie war mir gleich durch ihre Schönheit aufgefallen. Ich erfuhr, daß sie verheiratet war und mit ihren zwei Kindern zu meiner Begrüßung herübergekommen sei. Sie wohnte in der Nachbarschaft. Später war ich immer wieder überrascht von ihrem Gesicht. Ein so schönes Gesicht hatte ich noch nicht gesehen. Die Natur hatte vorzüglich geschaffen, was kein Stift vermag. Das Gesicht war oval, die Haut blaßoliv. Große grüne Augen mit langen Wimpern, eine schmale, leicht gebogene Nase, und der Mund hatte Konturen, wie man sie an Gesichtern marmorner Statuen bewundern kann. Ihr Haar war dunkelblond, voll und leicht gelockt. Orientalisch war bei ihr nur der Gesichtsausdruck, schwermütig und, wie ich meinte, unglücklich. Yazid, ein weiterer Bruder Ahmeds, war etwa siebzehn Jahre alt. Genau wie Gamal machte er auf mich, schon durch seine Kleidung, einen sehr europäischen Eindruck. Er war ebenfalls mittelgroß, dunkelblond, schlank und sehr sportlich. Omar, der
zweitjüngste Bruder Ahmeds, war vierzehn Jahre alt, ein drahtiger Junge mit dunkelbraunen Locken und großen, himmelblauen Augen. Jussuf hatte ich bereits am Schiff kennengelernt und dort schon bemerkt, daß sein linker Arm schlaff am Körper herunterhing. Ein Geburtsfehler, wie ich später erfuhr. Die hellen Augen sowie die helle Hauttönung von fast allen Familienangehörigen faszinierten mich immer wieder. Im Hintergrund standen zwei Hausmädchen, von denen mir die Namen genannt wurden. Die jüngere, Ahsähn, nahm den Kinderwageneinsatz, in dem Nessim friedlich schlief. Auch vom Begrüßungslärm war er nicht wach geworden, und Ahsähn trug ihn vorsichtig in die Wohnung. In der Mitte eines saalartigen Raumes, der an den gegenüberliegenden Wänden mit Polsterbänken möbliert war, setzte sie ihn ab, und alle meine neuen Verwandten gruppierten sich um das Baby. Wie die Hirten um das Jesuskind, ging es mir durch den Kopf. Die Ausrufe der Bewunderung nahmen kein Ende. Die Begeisterung über Nessims hellblonde Löckchen und seine weiße Haut ließen mich ahnen, daß es wohl etwas ganz Besonderes war, ein so hellhäutiger Mensch zu sein. Glatte blonde Haare gepaart mit heller Haut waren der Inbegriff aller Schönheit. Oft wurden meine Haare vorsichtig angefaßt, nur um zu erfahren, wie sie sich anfühlen. Helle Haut hatte man vor jedem Sonnenstrählchen zu schützen, damit sie sich ja nicht rot oder gar braun verfärbte. Wie vieles andere lernte ich auch das im Laufe der Zeit. Und viele Male stellte ich mir später Freundinnen oder Bekannte aus Deutschland vor, wie sie sich in dieser Sonne aalen und dann stolz ihre gebräunte Haut präsentieren würden, und ich mußte in mich hineinlächeln über die Sonderlichkeiten der Menschen.
Nessim war nun doch aufgewacht, wurde aus seinem Kasten genommen und von einem zum anderen gereicht. Er begann zu weinen, und ich meinte, daß er sicher Hunger habe und dann anschließend an einem ruhigeren Plätzchen weiterschlafen würde. Als Ahmed seiner Familie meine Worte übersetzte, war allgemeines Befremden zu spüren. Alle sahen mich irritiert an, als Ahmed nun fortfuhr zu erklären, daß in meinem Heimatland kleine Kinder alleine in einem ruhigen Zimmer von den Eltern getrennt schliefen. Meine Bitte, mir die Worte meiner Schwiegermutter zu übersetzen, überhörte mein Mann. Offenbar hatte Ahmed jetzt etwas Lustiges gesagt, denn alle lachten wie befreit, und da ich nicht wußte, um was es ging, lachte ich mit. Auf diese Weise habe ich mich in der Folgezeit viele Male selbst verlacht, ohne daß es mir bewußt war. Allmählich hatten sich alle auf den Kanapees verteilt und sahen mir mit großem Interesse zu. Worte, die ich mit Ahmed wechselte, wurden hochinteressiert verfolgt. Während das Mädchen Ahsähn losgeschickt wurde, um für Nessim das Fläschchen zu wärmen, hatte ich etwas Zeit, den Raum zu bewundern. Er war sehr groß, so um die dreißig bis vierzig Quadratmeter. Der Keramikfußboden war von unbestimmbarer Farbe zwischen Grau und gebrochenem Weiß, wobei glänzendschwarze Keramikfliesen rundherum als Muster eingelegt waren, das sich in der Mitte des Saales als eine Raute wiederholte. An dem einen Ende des Raumes befand sich offenbar eine Balkontür, was ich in diesem Moment jedoch nur vermuten konnte. An dem anderen Ende bemerkte ich eine flügelartige, sich über die ganze Breite des Raumes ziehende Trenntür, die bei Bedarf ganz oder nur teilweise auseinander zuklappen war. Sie bestand aus holzgefaßten, zum Teil mit Facetten und Mattglasornamenten verzierten Glasscheiben. Ahsähn kam lächelnd auf mich zu und gab mir das erwärmte
Fläschchen für Nessim. Ich bemerkte undeutlich, daß das Fläschchen auch Anlaß zur Verwunderung gab. Nessim war sechs Monate alt und hätte ihrer Meinung nach gestillt werden müssen. Aber nicht nur ich mußte mich auf das Neue einlassen und von ihnen lernen, auch sie würden an mir Ungewohntes wahrnehmen und einiges Fremde erfahren. Nun kam Hagge auf mich zu, um mir das Zimmer zu zeigen, in dem Ahmed und ich bis zum Umzug bei ihnen wohnen sollten. So wie in Deutschland konnte man auch hier an einer vermieteten Wohnung im eigenen Haus Eigennutzung beanspruchen, wenn Sohn oder Tochter bei Heirat den Wunsch hatten, im elterlichen Haus eine Wohnung zu beziehen. Wir gingen durch einen Raum, der sicher doppelt so groß war wie der, aus dem wir gerade kamen. Er war nur schwach beleuchtet durch das Licht vor der Glastür, und ich konnte kaum etwas erkennen, sah aber vage, daß wir an einem riesigen Eßzimmertisch vorbeigingen, rechts und links flankiert von je einem Büfett. Am Ende des großzügigen Raumes waren Sofas und Sessel gruppiert. Und auch hier gab es eine Tür mit Glasscheiben, ähnlich der, hinter der ich in dem vorherigen Raum den Balkon vermutet hatte. Ganz am Ende dieses Raumes öffnete Hagge eine Zimmertür. Ahsähn, die Nessim auf dem Arm vor uns her trug, blieb lächelnd etwas abseits stehen und versuchte leise raunend und liebevoll, Nessim zu beruhigen, der wieder sein Gesichtchen mit einem Weinen zu verziehen begann. Wir standen in der geöffneten Zimmertür, und ich sah prunkhafte, mit Schnitzereien verzierte Möbel, die mir außerordentlich mißfielen, worüber ich aber kein Wort verlor. Es war ja nur eine Zwischenlösung und brauchte mich nicht zu bekümmern. Ich vermißte ein Kinderbett, und Ahmed sagte mir, daß wir bei einer nahe gelegenen Schreinerei eines bestellen würden. Hagge und Ahsähn
blieben lächelnd stehen, während ich dem Kleinen das Fläschchen gab, aber Ahmed ging zu den anderen zurück. Als Nessim satt war, wollte ich ihn wickeln. Ich versuchte durch Gesten verständlich zu machen, daß ich frische Sachen für ihn brauchte. Halb belustigt, aber auch etwas erschrocken rief Ahsähn: »Sidi Ahmed, Sidi Ahmed.« Ahmed kam und übersetzte meine Worte. Daraufhin lief Ahsähn eiligst zu Ibrahim, dem Pförtner, der gemeinsam mit dem zweiten Hausmädchen das Gepäck nach oben brachte. Mit Nessims Reisetasche und einem Paket Wegwerfwindeln, die ich mir extra für die Reise besorgt hatte, kam Ahsähn dienstbeflissen angelaufen. Während ich Nessim frisch machte, stand das Mädchen in gebührlichem Abstand neben mir, sah mich unentwegt an und wartete offenbar darauf, mir behilflich sein zu können. Da es nichts für sie zu tun gab, nahm sie das leere Fläschchen, die schmutzige Windel, zwei schmutzige Wäschestücke und verschwand, war aber sofort wieder zurück, um sich neben mich zu stellen. Als ich dann versuchte, ihr klarzumachen, daß der Kinderwagenkasten wieder in sein Fahrgestell montiert werden müsse, damit Nessim eine Schlafgelegenheit hatte, bis er ein Kinderbett bekäme, rief sie nur verständnislos: »Sidi Ahmed!« Und wieder kam Ahmed, um ihr meinen Wunsch zu übersetzen. Nun lief sie zu Ibrahim, der gleich darauf mit dem Gestell durch den großen Saal gefahren kam. Hagge, die sich schon längst wieder ihren Lieben zugesellt hatte, um auch nichts von dem Bericht ihres Erstgeborenen zu verpassen, kam mit Ahmed wieder herein, und wir entschieden, daß der Kinderwagen zuerst einmal im Salon stehen könne. Es war deutlich zu merken, daß kein Mensch meinen Wunsch nachvollziehen konnte. Man sah mich fragend, auch ein wenig irritiert an, und Ahmed erklärte etwas, von dem ich natürlich kein Wort verstand.
Das Kind hatte nun endlich seine Ruhe, war durch drei Türen von dem Begrüßungslärm der Riesenfamilie geschützt, und Hagge sah betreten vor sich hin, lächelte jedoch beständig. Hagg, mein Schwiegervater, saß inzwischen auch bei seiner Familie. Er hatte unser Auto in der Garage unterstellen lassen, und jetzt saßen alle zufrieden, aber keineswegs entspannt auf den Kanapees verteilt. Gamal, der uns von Alexandria nach Tanta gefahren hatte, lobte gerade in hohen Tönen, wie phantastisch dieser Wagen zu fahren wäre, und hatte auch gleich Vorschläge zur Konservierung des Lacks und des Textilverdecks. Mit jugendlicher Begeisterung versuchte er mir in Englisch zu erklären, daß die afrikanische Sonne sehr schädlich für Autolacke sei und man da unbedingt Vorsorge treffen müsse. Hagg brummelte zu ihm rüber, man werde sehen, wie tüchtig der neue Chauffeur sei, den er vorhatte einzustellen. Außer Gamal konnte und durfte das Fahrzeug niemand bewegen, doch der war nur zu unserer Begrüßung aus Kairo zu Besuch gekommen, wo er an der Universität studierte. Wenn ich das richtig mitbekommen hatte, war Gamals Führerschein kurz vor unserer Ankunft bei einem Amt käuflich erworben worden, wobei ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, wie das gehen sollte. Es hatte aber offenbar seine Richtigkeit, wie ich später erfuhr, Fahrschulen oder Fahrprüfungen gab es nicht. Die Hausmädchen saßen im Schneidersitz auf der Erde in der Nähe des Küchentrakts. Hagg, der gerne seine Wünsche laut durch die Räume schmetterte, befahl, Tee zu machen. Auch ein dreimaliges Händeklatschen war für die Hausangestellten ein Signal, sich sofort einzustellen und einen geäußerten Wunsch entgegenzunehmen. Zuerst war dieses knappe Kommando für mich sehr befremdlich, später übernahm ich diese Sitte. Bei großer, lähmender Hitze war es oft
weniger anstrengend, die Hände aneinanderzuschlagen, als laut zu rufen. Das andere Hausmädchen, Sakäja, das wie Ahsähn ein weißes, straff gezogenes Tuch um den Kopf trug, watschelte in die Küche. Sie watschelte im wahrsten Sinne, ich hatte noch nie ein so großes, rundes, sich auf und ab bewegendes Hinterteil gesehen. Als sie verschwand, erzählte Ahmed, daß sie ihn schon als kleinen Jungen auf der Schulter getragen hatte. Mir fiel später dann immer wieder auf, mit welcher Ehrerbietung sie Ahmed und auch seinen Vater anredete. Sakäja kam nach einiger Zeit mit einem riesigen Tablett aus der Küche zurück. Es war vollgestellt mit großen und kleinen Gläsern, mit verschiedenen Dosen, die Zucker, Pfefferminz und Tee enthielten. Auch Kannen mit heißem Wasser und Milch standen dabei, und ein großer Teller mit Gebäck. Hagg übernahm die Zubereitung, indem er in jedes Glas mit einem Löffel Tee gab, heißes Wasser darüber goß, und nun, da die Teeblätter alle an der Oberfläche schwammen, mußte etwas gewartet werden, bis sie nach dem Umrühren auf den Boden sanken. Bei einigen Gläsern kam Pfefferminz hinzu. Nun kam Zucker und Milch hinein. So konnte er auf Wunsch dann Tee mit oder ohne Pfefferminz an seine Lieben verteilen. Ich trank an diesem Abend zum erstenmal Shei ma Nana o Läbben, Tee mit Pfefferminz und Milch. Es schmeckte köstlich. Bis heute liebe ich so zubereiteten Tee. Auch die Mädchen bekamen von ihrem Herrn ein Glas Tee gereicht und durften sich von dem Gebäck nehmen. Sie saßen wieder in der etwas dunkleren Ecke nahe bei der Verbindungstür zum Küchentrakt auf dem Boden und konnten ihre Augen nicht von mir lassen. Erwartungsvolles Staunen lag aber auch in allen anderen Gesichtern. Sie hatten so viele Fragen, und Ahmed gab Antworten und erzählte. Immer wieder wandte man sich freundlich lächelnd mit einer Frage an mich, und alle lachten, wenn
ich verständnislos lächelte. Ich hatte sehr wohl bemerkt, daß die fremdartigen Laute immer die gleichen waren, und ich dachte schon an einen Ulk. Aber Ahmed erklärte mir dann, daß ich mich auf die zum Unterhaltungsritual gehörenden Worte bedanken solle. Es war die immer wiederkehrende Frage nach meinem Wohlbefinden und meiner Gesundheit. Die dazugehörige Antwort sollte ich nun in Arabisch nachsprechen, und jeder war bemüht, mir das A oder H so beizubringen, wie es am richtigsten klingt. Es ist gar nicht so einfach, das H nur leicht im Rachen zu pressen, daß es wie ein Hauch kam, oder das A wie E und A zugleich klingen zu lassen. Zur allgemeinen Belustigung gelang es mir dann schließlich, und mir wurde klar, daß ich mir mit dieser Sprache Mühe geben mußte, und das schnell. Denn wenn Ahmed nicht im Haus war und Gamal wieder nach Kairo reiste, der mir viel ins Englische zu übersetzen versuchte, mußte ich mich ja dennoch verständigen. Hagge hatte es sich auf einer Polsterbank im Schneidersitz bequem gemacht, zupfte sich ab und zu ihren weißen Schleier etwas ins Gesicht, nahm aber an der regen Unterhaltung kaum teil. Sie hatte ihre Augen niedergeschlagen, sah auf ihre Hände, die im Schoß lagen, und gab nur kurz eine Anweisung, für die sie Ahsähn leise zu sich rief. Ahsähn ging dann schnell ebenso leise in den hinteren Saal, um im hintersten Zimmer zu horchen, ob Nessim vielleicht wach geworden war. Wenn Hagge angesprochen wurde, sah sie kurz auf, aber dann gleich wieder vor sich. Mich betrachtete sie manchmal. Es war ein fragender, tastender, auch überlegender Blick, und ich fühlte mich sehr fremd. Einmal fragte sie nach der Gesundheit meiner Mutter. Da ich nicht verstand, wurde ihre Frage übersetzt, und ein sekundenlanges Schweigen trat ein. Ich dachte wehmütig an meine Mutter und die große
Entfernung zwischen uns. Wann würde ich sie wiedersehen? Damals, 196O, war man technisch noch nicht so weit, daß es selbstverständlich gewesen wäre, einfach so ins Ausland zu telefonieren. Zum Jahreswechsel gab es die Grußstunden im Radio, in denen man seinen Lieben in der Heimat alles Gute wünschen konnte. Es gab schon die Deutsche Welle, und später einmal hat meine Mutter mir zum Geburtstag einen Musikwunsch über den Äther geschickt. Sie hatte mir das in einem vorherigen Brief angekündigt, und als ich dann im Radio meinen Namen und dieses Lied hörte, hob sich vor Schluchzen mein Magen, ich mußte würgen, und lange Zeit konnte ich mich nicht beruhigen. Nein – es wäre sicher nicht gut gewesen, hätte ich an diesem Ankunftsabend Muttis Stimme durchs Telefon gehört: »Hallo, Liebchen, wie war die Reise, wie geht es dem Stump…?« Es gab nichts zu grübeln, mir ging es gut. Meine Traurigkeit bei der Erwähnung meiner Mutter würde vergehen. Und die Frage von Hagge war ja gut gemeint. So langsam wünschte der eine oder andere »Gute Nacht«. Es war eine lange Nacht geworden, und auch ich war sehr erschöpft. Ich huschte noch kurz zu Nessim, sah, daß er tief und fest schlief, und legte mich schlafen, neben meinen Mann in mein neues Bett. Für alle Familienmitglieder begann in ein paar Stunden der Alltag mit Schule, Arbeit oder Studium – für mich ein neues Leben.
2
Wie alles begann
Heimweh und Grübeln hatte ich mir verboten, aber beim Träumen hatte ich keine Möglichkeit, diesen Gefühlen zu entkommen. Im Schlaf war ich zu Hause und hörte klar und deutlich die Stimme meiner Mutter, wie sie mir praktische Ratschläge für die Reise erteilte. War doch Nessim die ersten Monate seines Lebens bis zum Tag der Abreise nach Ägypten bei ihr in Pflege gewesen, und sie hatte Sorge, daß ihre Tochter, diese flatterhafte junge Mutter, unfähig war, den Kleinen zu versorgen. Was gab es da nicht alles zu beachten, die Fläschchen mußten die richtige Temperatur haben, morgens und abends zur rechten Zeit gegeben werden. Sie hatte Gemüse und Obstbrei immer frisch zubereitet, doch jetzt für die Reise hatte sie eine ganze Batterie kleiner Gläser mit Babykost besorgt. Und sie deckte mich mit guten Ratschlägen für die Versorgung meines Sohnes ein. Über diese praktischen Überlegungen für den Ablauf der Reise, die nur Nessim galten, verloren wir kein Wort darüber, wie es in uns aussah. Die Entfernung war unvorstellbar, und wann wir uns wiedersehen würden, stand in den Sternen. Ich war ihr einziges Kind, aber schon seit Jahren hatte sie die Hoffnung aufgegeben, ein Ratschlag von ihr könne bei mir auf fruchtbaren Boden fallen. In der ersten Zeit, nachdem ich ihr erzählt hatte, Ahmed eventuell heiraten zu wollen und dann mit ihm in seine Heimat, nach Ägypten, zu ziehen, hatte sie mich gewarnt: »Mein Gott, Kind, heirate ihn, wenn du ihn liebst, aber du mußt ja nicht gleich in dieses ferne Land ziehen. Besuche doch erst seine Familie, bevor du eine so weitreichende
Entscheidung triffst. Alles, was du über seine Leute weißt, hast du aus seinen Erzählungen. Was weißt du schon über das ägyptische Leben, über die Sitten und Bräuche?« Ich hatte sie nur erstaunt ansehen können und mich gefragt, ob sie sich umgehört und schlau gemacht hatte. So richtig ernst wollte sie ihre Warnung aber nicht klingen lassen, und ihre anfänglichen Bedenken wurden von einem nachsichtigen Lächeln abgelöst. Denn sie wußte auch, wie eigensinnig ich war, hatte ich doch meinen Umzug von unserem kleinen Heimatort nach Köln ganz allein geplant und selbstbewußt umgesetzt. Im Jahr 1958 kam ich durch die Einladung einer Cousine das erste Mal nach Köln. Vom ersten Augenblick an war ich von dieser Stadt bezaubert. Ich war neunzehn Jahre alt und noch gutgläubig und naiv, beeindruckt, ja überwältigt von den Geschäftsstraßen, den riesigen Plätzen und den Grünflächen um die Stadt herum. Hier wollte ich leben, hier hatte ich Platz. Ich bewarb mich als Kauffrau in Köln und fand schnell eine Anstellung. Als ich dann ein Dachstübchen mit angrenzender Miniküche mietete, stand meiner Freiheit nichts mehr im Wege. In der folgenden Zeit genoß ich die Schönheit und Größe der Stadt. Jeden Tag nach Feierabend nahm ich eine andere Straßenbahn und fuhr von einem Stadtteil zum nächsten, machte lange Spaziergänge durch den Grüngürtel und andere Parks. Oft setzte ich mich aber auch nur auf den großen Neumarkt im Zentrum. Dort beobachtete ich von einer Bank aus das rege Treiben, das mich noch nach vielen Jahren immer wieder begeistert. Ab und zu setzte sich jemand neben mich, und man wechselte ein paar Worte. Diese ungenierte Art, mit Fremden zu sprechen und freundlich zu ihnen zu sein, war mir unbekannt, und ich fand es herrlich. Auf meinem Weg nach Hause nahm ich in Richtung Klettenberg die Bahn, die durchs Universitätsgebiet fuhr,
und hier sah ich zum ersten Mal junge Leute mit dunkler oder sogar schwarzer Hautfarbe – Studenten aus Afrika, Indien oder Persien. Und im Staunen über einen Turban, der gerade vor mir aufgetaucht war, verfehlte ich die Einstiegsstufe der Bahn, und eine Hand schob sich unter meinen Ellenbogen, um mich zu stützen. Als ich wieder sicher stand, drehte ich mich um, um mich zu bedanken. Der junge Mann lächelte mich an und murmelte etwas von Vorsicht, mit der man durchs Leben gehen muß. Ich sah ihn etwas verwirrt an, denn nach seinem Äußeren hätte ich ihn für einen Deutschen gehalten, seine Haut und die Augen waren hell, das Haar lockig und blond. Doch er sprach gebrochen Deutsch, und während wir uns unterhielten, entschuldigte er sich dafür, daß er etwas länger nach einem Wort suchte. »Entschuldigung, ich bin Ägypter und muß Ihre Sprache noch etwas flüssiger lernen.« Ich lächelte und gestattete mir einen genaueren Blick, mit dem ich feststellte, daß er doch etwas dunkler war. Es war nicht das afrikanische Dunkelbraun oder Schwarz, sondern eine Mischung aus einer leichten Bräunung mit einem Ton Oliv. Er stieg vor mir aus und verabschiedete sich freundlich: »Vielleicht begegnen wir uns noch mal.« Als wir uns das nächste Mal trafen, war er mit einem Freund unterwegs. Die beiden setzten sich vor mich, und hochinteressiert hörte ich auf die Unterhaltung. Was mochte das für eine Sprache sein? Bevor sie ausstiegen, lächelten sie mir beide zu. Erst zwei Wochen später ergab sich auf einem Bahnsteig die Gelegenheit für eine kleine Unterhaltung. Er stellte sich vor als Ahmed Abd El Kataf. Er war Student der Medizin und schon seit einem Jahr in der Stadt. Dann fragte er mich, was ich in Köln mache und wo ich wohne. Meinen Stolz darüber, daß ich allein lebte und in einem Büro in Sülz arbeitete, schien er zu überhören. Er war vielmehr erstaunt, daß ich allein wohnte, und fragte nach meinen Eltern. Als ich
ihm von meiner Mutter erzählte und daß mein Vater im Krieg umgekommen war, glaubte ich, Mißbilligung in seinem Gesicht zu sehen, mit der ich aber nichts anfangen konnte. Wie sollte ich damals auch wissen, daß eine solche Art zu leben in seinem Weltbild nicht vorkam. Für ihn setzten sich junge Frauen, die alleine lebten, dem Verdacht von Leichtlebigkeit aus. Doch unser Treffen war wohl nicht so zufällig, wie er vorgab. Ich freute mich aufrichtig darüber, daß er offenbar auf mich gewartet hatte, und wir verabredeten einen gemeinsamen Spaziergang zum Regattasee im Stadtwald. Nach diesem ersten gemeinsam verbrachten Nachmittag trafen wir uns regelmäßig im Stadtwald und redeten und redeten. Er erzählte mir von seinem Heimatland, von seiner Familie und dem Leben dort. Hier in Deutschland fror er oft und sehnte sich manchmal nach der wärmenden Sonne. Er kam aus einer großen Familie und hatte sieben Geschwister. Zwei seiner Schwestern waren verheiratet, und eine ging noch zur Schule. Ein älterer Bruder besuchte die Universität in Kairo, und die drei anderen waren noch im Schulalter. Seinen Unterhalt bestritt er mit einem Scheck, der von seinem Vater an die Ägyptische Botschaft in Bad Godesberg geschickt und an ihn weitergeleitet wurde. Er kam gut zurecht, war aber froh, daß er seine Arbeiten in Englisch abgeben konnte, da ihm die deutsche Sprache doch recht schwer fiel. Ich mochte seine ruhige, liebenswürdige Art. Allein in meiner kleinen Wohnung, dachte ich viel über ihn nach. Wohl war ein Unterschied zu deutschen Männern wahrnehmbar, ich hätte aber nicht sagen können, worin genau er bestand. Verwunderlich war für mich, daß er die Zeit und den Ort für unsere Treffen einfach festlegte. Er setzte voraus, daß ich nichts anderes vorhatte, wartete nicht einmal auf meine Zustimmung. Sie war für ihn selbstverständlich. Dieser Umstand und manches andere vermittelte mir das Gefühl, vereinnahmt zu werden.
Etwas in mir sträubte sich dagegen, und ich suchte einen Weg, die Verbindung nicht zu eng werden zu lassen. Einmal hielt ich eine Verabredung einfach nicht ein, ein anderes Mal gab ich vor, keine Zeit zu haben. Er reagierte gekränkt und machte mir Vorwürfe. Ich jedoch hatte mich nicht aus der Kleinstadt losgerissen, um jetzt schon wieder nur mit Vorschriften und Regeln leben zu müssen. Meine freie Zeit wollte ich selber einteilen, und so fuhr ich am darauffolgenden Wochenende zu meiner Mutter. Ihre Art, mich zu verhätscheln, war wunderschön und so erholsam, tat so gut, wenn es nicht zum Alltag gehörte. Sie kochte meine Lieblingsgerichte, wir machten Spaziergänge durch den nahen Wald und flanierten durchs Städtchen. Neuigkeiten wollte sie hören, erfahren, wie mein Arbeitstag verläuft, wie ich zurechtkomme und ob ich auch immer warm esse. Und endlich am Nachmittag bei einer Tasse Kaffee bot sich die Gelegenheit. Ich erzählte ihr von Ahmed, wie ich ihn kennengelernt hatte, daß er Ägypter sei und in Köln studiere. »Ein Ausländer?« war ihre einzige Reaktion. Als wir dann am Abend auf dem Weg zum Bahnhof waren, sagte sie plötzlich: »Wenn dir etwas an ihm liegt, du aber doch nicht so genau weißt, was du von ihm halten sollst, dann bring ihn doch einmal mit zu mir.« Ich blieb stehen und sah sie überrascht und fragend an. »Ja, ja, der Menschenkenntnis, die man sich hier am Ende der Welt erworben hat, traust du nicht so recht. Und doch, in jedem Fall kann ich dir sagen, ob er gut erzogen ist und aus welchem Stall er kommt.« »Mutti, er ist Ägypter.« »Ja, das hast du schon gesagt. Das hat mich etwas erschreckt, aber nur, weil du irgendwann auf die Idee kommen könntest, ihn zu heiraten.«
Ich mußte laut lachen: »Mutti, Leute, die sich in dieser Woche kennenlernen, laufen nicht in der nächsten Woche zum Standesamt.« Als sie mich auf dem Bahnsteig zum Abschied in die Arme nahm, sagte sie leise: »Paß auf dich auf, Liebchen. Du bist noch nicht einmal zwanzig und ich doppelt so alt. Bei diesem Vorsprung darfst du mir ein wenig Lebenserfahrung zugestehen.« Sie lächelte und strich mir leicht über die Wange. Etwas beschämt fragte ich mich, ob sie meine selbstbewußte Art vielleicht manchmal als Geringschätzung empfand. In Köln meldete ich mich erst einmal nicht bei Ahmed. Aber er fehlte mir, das mußte ich mir eingestehen. Und als ich mich dann endlich entschlossen hatte, zu ihm zu fahren, stand er unverhofft nach Büroschluß vor der Tür, um mich abzuholen. Ich war so überrascht und überwältigt von dem plötzlichen Gefühl, bis in mein Innerstes glücklich zu sein, daß ich überschwenglich mit geöffneten Armen auf ihn zulief. Leicht verdutzt über meine offen gezeigte Freude, breitete er seine Arme aus und drückte mich an sich, schob mich dann aber etwas von sich, um mir ins Gesicht zu sehen. Leicht irritiert sah ich Tränen über sein Gesicht laufen. Diese Melodramatik äußerte sich noch öfter und in der Regel dann, wenn er wohl das Gefühl hatte, ich schenkte seinen Gefühlen oder den Schilderungen aus seiner Heimat keinen rechten Glauben. Ich hatte noch keinen Mann weinen sehen, war etwas erstaunt, wertete es aber schließlich als Zeichen der Andersartigkeit, die ihm zukam. Außerdem war ich in einer männerfreien Zone aufgewachsen. Meine Mutter hatte nach dem Tod meines Vaters nicht wieder geheiratet, und was ich über Männer wußte, hatte ich von ihr. Nach ihrer Auffassung waren Männer natürlich klüger als Frauen, zwar hatten sie so ihre Eigenarten, aber ein Leben mit einem geliebten
Mann war das Höchste. Mein Vater war ihr Gott gewesen, und ich bin überzeugt, daß sie niemals eine andere Meinung als er vertreten hätte. Als Ahmed und ich das erste Mal zu meiner Mutter fuhren, kam sie nicht an den Bahnhof, um uns abzuholen. Sie entschuldigte sich mit den Vorbereitungen für das Essen, zu dem sie uns eingeladen hatte. Ich schmunzelte in mich hinein und dachte, daß da wohl in der Hauptsache bestimmte Bedenken eine Rolle gespielt hatten. Man hätte uns auf der Straße zusammen mit einem Ausländer gesehen, eine Liebschaft gewittert, über die es etwas zu tuscheln gab. Der Stoff, aus dem der Tratsch entsteht, ist bekanntlich zäh und langlebig, nicht nur in kleinen Städten. Als mich einmal eine Kollegin gefragt hatte, ob mein Freund Orientale wäre, war mir erst klargeworden, daß ich die einzige gewesen bin, die an Ahmeds äußerer Erscheinung nicht den Ägypter erkannt hatte. Der Tag mit meiner Mutter war ein voller Erfolg, nicht nur wegen des köstlichen Kalbsbratens. Darauf, daß Ahmed Muslim war und kein Schweinefleisch aß, was ich ihr erzählt hatte, hatte sie sich eingestellt, und er lobte ihr Essen sehr. Bei einem anschließenden Spaziergang durch den nahen Wald war er begeistert über die Wohnlage, die paradiesisch sei, wie er meinte. Am späten Nachmittag ergab sich bei Kaffee und Kuchen eine lockere Unterhaltung über seine Familie und über sein Heimatland. Ich staunte nicht schlecht: Meine Mutter, die ich als scheu und zurückhaltend, insbesondere im Umgang mit Fremden, kannte, taute auf, unterhielt sich lebhaft mit Ahmed, ja fragte ihn regelrecht aus, was mir schon fast peinlich war. Aber so, als sei dieses neugierige Interesse völlig normal und als habe er damit gerechnet, gab er Auskunft, erzählte über sein Elternhaus, seine Geschwister, sein Land mit den außergewöhnlichen und
bedeutenden Sehenswürdigkeiten und auch von seinem Heimweh, das ihn manchmal plagte. »Gibt es Dinge in Ihrer Heimat, durch die sich der gewöhnliche Alltag von dem in Deutschland unterscheidet?« hörte ich sie fragen, und sie fügte noch lächelnd hinzu: »Nur um sich ein Bild zu machen. Man weiß hier ja so gar nichts über Ägypten.« Er überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf: »Nichts Erwähnenswertes. Alles ist wie hier, genauso wie hier. Außer, daß unser Sonntag freitags ist. Freitag geht man in die Moschee zum Gebet, und an diesem Tag wird nicht gearbeitet. Und dann gibt es einige Gerichte bei uns, die man hier nicht kennt. Das Klima ist gesund, und es ist wärmer als in Deutschland. Ansonsten gibt es keine bemerkenswerten Unterschiede, die mir jetzt einfallen.« Meine Mutter hatte interessiert zugehört und ihn beobachtet. Als er von seinen Eltern sprach, war Rührung und auch Sehnsucht zu spüren. Von der Art, wie er ruhig und besonnen erzählte, war sie angetan. Wenn er manchmal nach einem deutschen Wort suchte, half sie ihm aus, und beide lachten. Beim Essen hatte er ihr den Stuhl zurechtgerückt, er gab ihr Feuer für ihre Zigarette und reichte ihr ihre Tasse, die von ihrem Sessel aus nicht mit einem Griff zu erreichen war. Er hatte sie für sich eingenommen, das war deutlich zu erkennen, und ihr Blick sagte: »Der junge Mann kommt aus einem guten Haus, mit dem würdest du keinen schlechten Griff tun.« Sie war von Ahmed beeindruckt, und es störte sie nicht mehr, daß er Ägypter war. Er schien aus einem kultivierten und vermögenden Elternhaus zu stammen. Und mich in festen Händen zu wissen, Hände, die meinen Freiheitsdrang in die richtige Bahn bringen würden, wäre eine Beruhigung für sie. Einen weiteren Vorteil sah meine Mutter in dem Altersunterschied. Er war sieben Jahre älter als ich, und das sprach dafür, daß er mein Temperament zügeln könnte, sicher mit
liebevoller Ruhe, so, wie sie ihn jetzt kennengelernt hatte. Jahre später, als ich längst erfahren hatte, daß es in seinem Land ganz und gar nicht üblich war, eine Frau zu hofieren oder sie charmant zu unterhalten, habe ich mich gefragt, aus welchem Hut er an diesem Tag seine Tricks gezogen hatte. Ahmed hatte eine kleine Wohnung in Köln-Sülz, in der ich ihn oft besuchte. Es waren zwei kleine Zimmer mit Toilette, die er möbliert gemietet hatte. Die Möblierung war schlicht, aber gemütlich. Wir waren zwei verliebte junge Leute, die ihre Zeit miteinander verbrachten und die sich durch Äußerlichkeiten wie Möbel oder Tapeten ihr Glück nicht schmälern ließen. Im Laufe der Zeit verbrachte ich mehr Zeit bei ihm als in meiner eigenen Wohnung. Gelegentlich hatte er Besuch von vier oder fünf Ägyptern, die sich zum Teil erst in Deutschland kennengelernt hatten. Sie bildeten eine geschlossene Gesellschaft, erzählten und lachten miteinander, kochten sich ägyptische Gerichte und hörten vom Tonband arabische Musik, die in meinen Ohren eher disharmonisch klang. Die Unterhaltungen wurden natürlich arabisch geführt, und ich verstand kein Wort. Daß das für mich langweilig war und ich lieber gehen wollte, nahm Ahmed mir nicht übel. Wir verständigten uns dann mit den Augen, und er brachte mich mit einem Abschiedskuß zur Tür. An einem Nachmittag, ich war gerade aus dem Büro zurück und wartete auf Ahmed in seiner Wohnung, kam sein Freund Mohammed, um ihn zu besuchen. Ahmed war noch nicht zu Hause, er machte Einkäufe. Freunde, die Ahmed nicht antrafen und mich alleine vorfanden, verabschiedeten sich in der Regel schnell wieder. Diesmal jedoch setzte sich Mohammed mir gegenüber in einen Sessel und lächelte. Es kam mir vor, als sei er in geheimer Mission unterwegs, etwas Verschmitztes war in
seinem Gesicht. Und als ich ihm einen Tee gemacht hatte und er mir über sein Glas hinweg in die Augen sah, schien es, als wolle er etwas sagen, was nicht so ohne weiteres zu formulieren war. Er zögerte. Mohammed zählte zu den wenigen Menschen aus dem arabischsprachigen Raum, die ich kannte, der fast ohne Färbung oder Akzent ein fließendes Deutsch sprach. Seine Mimik veranlaßte mich nun, ihn fragend anzusehen. Nach einem weiteren Schluck Tee begann er: »Heike, ich habe Ahmed versprochen, mit dir zu reden. Ich bin kein guter Vermittler, es fällt mir nicht leicht.« Er lächelte, und ich dachte an Feigheit vor dem Feind. Konnte Ahmed mir nicht selber sagen, daß er unsere Beziehung beenden wollte? Mit Sicherheit wäre ich unglücklich gewesen, aber viel zu stolz, um ihm eine Szene zu machen. Ich starrte vor mich auf den Boden, und in Gedanken verkroch ich mich bereits in mein Dachstübchen. Ich hatte schon von Beziehungen zwischen ausländischen Studenten und deutschen Mädchen gehört, die zerbrochen waren, weil die jungen Frauen sich angebunden fühlten, sie keinen Freiraum mehr hatten oder die jungen Männer die europäische Art zu leben nicht akzeptieren konnten. Aber von solchen Schwierigkeiten hatten Ahmed und ich uns längst befreit. Er hatte gelernt und konnte meine Verabredungen mit einer Freundin oder einen Kinobesuch mit ihr mit einem Lächeln hinnehmen. Nach einem Tag, an dem wir uns nicht gesehen hatten, freuten wir uns um so mehr aufeinander. Aber eine Erklärung wollte ich noch hören. »Sag schon, Mohammed, um was geht es?« »Ahmed hat mir gesagt, daß er dich liebt, sehr liebt, und er möchte gerne wissen, ob du ihn heiraten willst.« Ach du meine Güte, das war es. Mir hüpfte das Herz, und ich mußte lachen. »Ich kann mir denken, daß dir das etwas seltsam vorkommt, ich meine diese Art und Weise, um deine Hand zu bitten. Aber bei uns ist ein direkter
Heiratsantrag an die Frau, die man liebt, nicht üblich. Vielmehr übernimmt eine dritte Person die Vermittlerrolle, in der Regel eine weibliche Verwandte. Da es aber hier niemanden aus Ahmeds Familie gibt, hat er mich gebeten, das zu übernehmen.« Abwartend sah er mich an, und nach einer Besinnungsminute hauchte ich ein Ja. Das Ganze kam mir so mittelalterlich vor, daß ich laut loslachen mußte. Mohammed sah mich irritiert an, verstand und lachte mit. Kurze Zeit später erschien Ahmed mit seiner Einkaufstasche in der Hand, blieb in der Tür stehen, sah von einem zum anderen, hob seine Augenbrauen und fragte: »Nun?« Ich sprang auf und lief zu ihm, umarmte und küßte ihn, und er strich mir wie ein Vater übers Haar. Mohammed erhob sich sofort, sie wechselten noch ein paar arabische Worte, und er verabschiedete sich. Nun waren wir allein – ich hatte noch nie einen so zärtlichen Menschen erlebt. Ich war nicht nur glücklich, ich schwebte auf Wolken. Meine Wohnung gab ich auf und zog zu Ahmed. Einige Tage später besprachen wir die praktische Abwicklung einer Heirat. »Aber warum so schnell, Ahmed? Wir lieben uns und müssen nichts überstürzen.« Davon allerdings wollte er nichts hören. Frau und Mann, die zusammenlebten, hatten verheiratet zu sein. Und er erklärte mir, daß wir nicht nur vor den deutschen Standesbeamten treten mußten, sondern auch vor den ägyptischen Botschafter. Es war eine kleine Feier, nur mit meiner Mutter, den Trauzeugen und ein paar Freunden. Ich war nun Frau Abd El Kataf und sah meinen Mann immer wieder glücklich an. Dann spürte ich seinen Blick auf mir ruhen, und in seinen grauen, manchmal ins Grün spielenden Augen sah ich eine Zuneigung, ja Güte, die wie ein Streicheln war. Schaute ich zu meiner Mutter hinüber,
konnte ich mir über ihre Gefühle nicht klarwerden. Wenn sie lächelte, was sie an diesem Tag meistens tat, meinte ich in ihren Augen eine vorsichtige Skepsis zu erkennen, oder war es Angst? Denn wieder einmal hatte ich nicht auf ihren Rat gehört, Ahmeds Familie vor der Heirat zu besuchen. Natürlich konnte es auch Wehmut sein, waren doch viele Frauen traurig und gerührt, wenn die Tochter heiratete. Wir waren sehr glücklich, doch als ich merkte, daß ich schwanger war, war mir das zuerst gar nicht recht. Mir ging das zu schnell, ich wollte nicht schon so viel Verantwortung. Verheiratet zu sein mußte doch nicht bedeuten, als Hausfrau zu Hause zu bleiben, aber welche Lösung hätte es gegeben, wenn ich ein Baby hatte. Und Ahmed war so begeistert, so euphorisch über meine Schwangerschaft, daß ich glaubte, im Überschwang von ihm erdrückt zu werden. Dann wurde er jedoch nachdenklich, ihn beschäftigte wohl auch die praktische Seite der Sache. Und so, als hätte es für diesen Umstand längst einen Plan gegeben, begann er zu reden: »Damit hatte ich gerechnet. Wie hätte es anders sein können, wenn wir uns lieben und gesund sind. Auch meine Eltern hatten wohl schon darüber nachgedacht. In seinem letzten Brief schrieb mein Vater, daß wir mit dem Segen Allahs sicher bald ein Kind haben würden, und in diesem Fall wäre es wohl das beste, mein Studium hier abzubrechen und gemeinsam nach Ägypten zu gehen.« Und jetzt war ich hier in Tanta, bei seiner Familie, ohne Arabisch zu sprechen oder zu verstehen, und wollte mein Heimweh und mein Befremden über die gestrige Ankunft nicht zeigen.
3
Die ersten Tage in Ägypten
Nach nicht allzulanger Zeit, vielleicht so gegen fünf oder sechs Uhr in der Früh, erwachte ich aus tiefem Schlaf. Neben meinem Bett schien jemand mit ohrenbetäubender Stimme auf mich einzubrüllen. Ich versuchte, mich zurechtzufinden und setzte mich auf, sah hinüber zu Ahmed, der ruhig weiterschlief, und nahm schon an, ich hätte geträumt. Aber da war die Stimme wieder, und ich stellte fest, daß dieser unglaubliche Lärm von der Straße kam. Es war nicht gesprochen und es war nicht gesungen, es lag irgendwo dazwischen und klang für mich sehr unharmonisch. Nach einer Weile wurde es wieder still, und keinen Menschen schien es zu stören. Selbst Nessim, nach dem ich gleich sah, schlief weiter. Als ich mich am Morgen bei Ahmed über diesen ruhestörenden Lärm beklagte, wies er mich ernst zurecht: »Das ist kein Lärm, das war der Muezzin, der die Gläubigen zum Gebet ruft, das macht er fünfmal am Tag. Über die ganze Stadt verteilt sind an vielen Häusern Lautsprecher angebracht, und wir haben das Glück, einen ganz in der Nähe, am gegenüberliegenden Haus zu haben.« Ich war sprachlos, wie sollte das ein Mensch aushalten? Ich hielt es aus und hatte mich nach einiger Zeit daran gewöhnt wie etwa Leute, die neben Bahngleisen wohnen und die Züge einfach nicht mehr hören. Mich nahm jetzt der Alltag in meinem neuen Zuhause in Anspruch. Ahsähn hatte heißen Tee mit Pfefferminz gebracht, und ich staunte über das Brot und das
Schüsselchen, das neben dem Tee auf dem Tablett stand. Nun konnte ich mich aber nicht sofort um mein Frühstück kümmern, Nessim sollte zuerst sein Fläschchen bekommen. Ich holte ihn zu mir und machte ihn frisch. Nessims Weinen hatte man wohl gehört, denn Ahsähn erschien, und als sie mich mit dem leeren Fläschchen sah, lächelte sie, nahm den Kleinen auf den Arm, wiegte ihn und versuchte ihn zu beruhigen. Sie sah mich an, wies mit dem Finger nach draußen, und ich verstand, daß ich mitkommen sollte. Auf unserem Weg in die Küche, die ich ja noch nicht kannte, gingen wir durch den kleinen Saal, in dem wir alle am Vorabend gesessen hatten. Hier saßen nun Hagg und Hagge am Tisch beim Frühstück. Ahmed und Gamal leisteten ihnen Gesellschaft, und man verzehrte mit gutem Appetit Fladenbrot und ein, wie mir schien, braunes Gemüse; dazu gab es selbstverständlich heißen Tee. Ich wurde laut begrüßt, und Hagg lächelte mich etwas nachsichtig an. Ahmed hatte wohl gerade von meiner Reaktion auf den Muezzin erzählt. »Das gibt es wohl bei euch nicht? Allah darf man keine Sekunde des Tages vergessen. Er sei mit dir, meine Tochter.« Als Hagge das Fläschchen sah, rief sie nach Sakäja und befahl, mir behilflich zu sein. Ich würde wohl Wasser brauchen. Wir gingen also in den Teil der Wohnung, in dem die Bäder und die Küche waren. In dieser befanden sich an gegenüberliegenden Wänden zwei große Marmortische, auf denen allerlei Gerätschaften lagen. Vom Boden bis zur Decke gab es offene Regale, auf denen unzählige Kupfertöpfe in allen nur erdenklichen Größen standen. Auch ein überdimensional großer Kühlschrank und ein Gasherd waren dort. Ein großes Fenster führte in den Garten, und aus dem gegenüberliegenden sah man auf die Straße. Außerdem stand neben einem der Tische ein hölzerner Eisschrank,
in dem sich Blockeis befand, und offenbar wurde dieser Eisschrank in der Benutzung bevorzugt. Sakäja hatte offensichtlich gerade in einer Ecke der Küche auf dem Boden gefrühstückt. Sie war mir aber dienstbeflissen entgegengekommen, um zu tun, was ihre Herrin ihr befohlen hatte. Pausen kannten die Mädchen nicht, auch mit einem Bissen im Mund oder in der Nacht, wenn sie sich bereits niedergelegt hatten, eilten sie sofort herbei, wenn man sie rief. Ich bereitete Nessim nun das Fläschchen und setzte mich mit ihm wieder in den kleinen Saal. Als er satt war, spielte jeder ein bißchen mit ihm, und alle fanden ihn hinreißend. Ich legte ihn dann wieder hin und konnte nun endlich frühstücken. Gewöhnungsbedürftig war dieses Frühstück. Gesehen hatte ich das braune Gemüse ja bereits, und es stellte sich heraus, daß es braune Bohnen waren. In der Mitte war eine kleine Lache aus Öl, in die man Stückchen für Stückchen das Fladenbrot eintauchte und so sich mit dem öltriefenden Brot die Bohnen in den Mund schob. Es war mir zu fremd, und ich konnte mich eine ganze Weile nicht damit anfreunden. Aufmerksam wurde ich beobachtet. Man lächelte und befahl Sakäja, mir Gebäck zu holen. An Ahmed gerichtet, gab ich meiner Verwunderung Ausdruck, daß man sich nicht eine Scheibe Brot mit Butter und Konfitüre bestrich oder mit Aufschnitt oder Käse belegte, wie er es ja von unseren Gewohnheiten her kannte. Ironisch lächelnd übersetzte er kurz seiner Familie, was ich gesagt hatte, und zu mir antwortete er kühl: »Dieses Brot schmeckt wenigstens, Butter ißt man hier nicht, schon wegen des Klimas, und euer Brotbelag ist ungenießbar. Im übrigen wird hier kein Schweinefleisch gegessen, schon das Wort verursacht bei jedem gläubigen Menschen ein Ekelgefühl, also erwähne es erst gar nicht. Auch Alkohol ist verboten, und erzähle nie jemandem, daß ich in Deutschland Wein und Bier getrunken habe.«
Ich kam mir zurechtgewiesen vor und sagte nichts dazu. Es dauerte aber keine zwei Wochen, und ich aß wie jeder andere mein Schälchen Fuhl, die braunen Bohnen, mit Ehsh belledi, einem noch heißen Fladenbrot, und es schmeckte mir ausgezeichnet. Als man herausgefunden hatte, daß ich eine Vorliebe für heißes Fladenbrot entwickelte, wurde Ibrahim, der Pförtner, nachdem ich aufgestanden war, noch einmal losgeschickt, frisches Brot zu holen. Er wickelte es dann in ein sauberes Tuch, damit es auf dem Weg nicht kalt wurde. Jahre später, zurück in Deutschland, vermißte ich dieses heiße Fladenbrot noch immer sehr. Obwohl es auch hier mittlerweile in türkischen Geschäften Fladenbrot von ähnlicher Art gibt, ist dieses Brot jedoch aus Weizenmehl und schmeckt fad, wohingegen das ägyptische aus Roggenteig gebacken wird – im Geschmack nicht zu vergleichen. Ahmed wurde es schnell leid zu übersetzen, was ich gesagt hatte, oder die Fragen an mich zu dolmetschen. Freiwillig tat er es fast gar nicht mehr, saß nur passiv dabei und sagte ab und zu mal: »Ja, ja, die verrückten Deutschen.« Dahingegen gab sich Gamal große Mühe, mich an einer Unterhaltung teilhaben zu lassen. Auch Hagg machte oft Gesten und Handbewegungen, die ein Wort, das er gesagt hatte, erklären sollten. Wir lachten häufig über diese Gebärdensprache, und wenn wir so fröhlich beisammensaßen, wurde auch manchmal Ahmed etwas lebendig und übersetzte mir das eine oder andere. Aber mir wurde bewußt, daß ich wohl sehr auf mich selbst gestellt sein würde in dieser Ehe und dieser Familie. Ich mußte schnellstens Arabisch lernen und begann, mir die Worte zu merken. Gamal fuhr am zweiten Tag nach unserer Ankunft zurück nach Kairo und kam dann immer nur zum Wochenende und in den Semesterferien nach Tanta. Allerdings gab es
ja auch noch Fatma, die in Tanta die amerikanische Schule besuchte. Morgens früh war Ahsähn fast ausschließlich damit beschäftigt, sich um Fatma zu kümmern. Das Frühstück nahm jeder für sich ein, und Sakäja hatte es zu bereiten und zurechtzustellen, während Ahsähn sich um Fatmas Schuluniform kümmerte, die tadellos zu sein hatte. Dunkelblaue Jacke und Faltenrock, weiße Bluse und Kniestrümpfe, schwarze Schuhe. Die für den Tag benötigten Bücher band Ahsähn zusammen und trug sie bis zur Schule neben Fatma her. Sie begleitete sie jeden Morgen, denn die weiblichen Familienmitglieder gingen nur in Begleitung auf die Straße. Und wenn Fatma am frühen Nachmittag wieder von Ahsähn abgeholt wurde, aß sie eine Kleinigkeit und schlief dann eine Weile. Hausaufgaben habe ich sie nie machen sehen, und mir kam es manchmal so vor, als ginge sie nur zur Schule, weil es zum guten Ton gehörte. Unter Nasser, der seit 1954 an der Macht war, gab es zwar offiziell eine Schulpflicht, aber auf deren Einhaltung wurde nicht allzugroßer Wert gelegt. Kinder armer Leute oder Bauernkinder wurden von ihren Eltern lieber als Arbeitskräfte vermietet. Man fand das ganz selbstverständlich. Auch mein erstes Hausmädchen war erst etwa zwölf Jahre alt. Das war eine Ungefährangabe, Geburten wurden nur registriert, und Urkunden darüber gab es nicht. Auch sie war nie in einer Schule gewesen, konnte also nicht lesen und nicht schreiben. Fatmas englischer Wortschatz war gering und auch mein Englisch eher dürftig. So behalfen wir beide uns damit, daß sie auf einen Gegenstand zeigte, mir die arabische Bezeichnung nannte, und ich mußte nachsprechen. Wenn wir beide uns am frühen Abend auf dem Balkon so die Zeit vertrieben, wurde viel gelacht. Sobald jemand von der Familie uns jedoch hörte, wurde Fatma hereingerufen. Unverheiratete Mädchen hatten sich nicht auf dem Balkon aufzuhalten, das war nicht schicklich.
Ein Mann konnte unten vorbeigehen, und wenn sie so offen lachte, war das gegen den Anstand. Auch ihre Versuche, mir Arabisch beizubringen, wurden nicht so gern gesehen, wobei es völlig unmöglich war, daß ich es nicht mit der Zeit lernte. Ahmed bekam ich kaum mehr zu sehen, und es gab schon durch Nessim Bedürfnisse, die ich artikulieren mußte. Und ich wollte ja dazugehören, mich ausdrücken und verstanden werden. Sakäja, die Herrin in der Küche, beäugte immer sehr mißtrauisch den Brei, den ich für Nessim kochte. Oft mußte ich etwas Neues zubereiten, weil sie Nessims Mahlzeit hinter meinem Rücken einfach weggeworfen hatte. Daher ging ich zu Hagge, um mich zu beschweren. Sakäja wurde gerufen und stand mit gesenktem Kopf vor ihrer Herrin, murmelte etwas vor sich hin und sah Hagge treuherzig an. Dieser war nur zu gut anzusehen, daß sie sich das Lachen verkniff. Natürlich war auch sie der Meinung, daß man so etwas einem kleinen Kind nicht geben konnte. Aber unmöglich konnte sie ihre Schwiegertochter vor einem Hausmädchen demütigen, indem sie diesem recht gab. Sie wies Sakäja also zurecht und verbot ihr, noch einmal irgend etwas wegzuwerfen, was ich in der Küche zubereitet hatte. Demütig schwor das Mädchen Gehorsam, tat es aber immer wieder. Ein ständiger Ärger für mich. Zwar hatte ich Sakäja mittlerweile klarmachen können, daß ich Spinat, Möhren oder Kartoffeln für den Brei brauchte, und sie gab mir das Gemüse. Aber das fertige Gericht war dann oft in einem unbewachten Augenblick einfach verschwunden. »Sakäja, wo ist das Essen für Nessim, gerade hat es doch noch hier gestanden.« Sie stand dann da, sah mich treuherzig an, und während sie die Schultern hob, murmelte sie: »Wo hat das gestanden, ich habe nichts gesehen.« Da ich aber schon mitbekommen hatte, daß die Hausmädchen bei Ungehorsam geschlagen wurden,
unternahm ich nichts mehr. Eines Mittags kam ich in die Küche, und da saß Sakäja im Schneidersitz auf dem Boden, hatte meinen Sohn im Dreieck ihrer Beine liegen, trällerte ihm etwas vor und schob ihm nach und nach mit den Fingern ein Reiskügelchen oder ein Stückchen Gemüse in den Mund. Ich staunte, und Nessim schien es zu schmecken. Als Sakäja mich sah, schaute sie mich triumphierend und zugleich schuldbewußt an. Schnell nahm sie den Jungen auf den Arm und wollte aufstehen. »Bleib sitzen und mach weiter«, sagte ich und überlegte, welche Angst sie um meinen Sohn gehabt haben mußte. Auch ihr war natürlich klar, daß ich meinem eigenen Kind nichts Übles wollte, aber ich war trotz allem für sie eine Ungläubige. Und vielleicht nahm ja das Essen, das ich für ihn kochte, schon allein durchs Umrühren meiner Hand das Wirken böser Geister auf, das ihn für die Zukunft untauglich für die Gemeinschaft der Gläubigen machte. An die Umtriebe böser Geister glaubte jeder fest. Da war zum Beispiel die Bäuerin, die morgens die Milch brachte und die auch auf mich jedesmal allein durch ihre äußere Erscheinung einen etwas unheimlichen Eindruck machte. Wie alle Bäuerinnen trug sie eine bodenlange schwarze Galabija, deren Saum gezwungenermaßen durch Staub und Kot geschleift wurde und daher bis Kniehöhe nicht mehr schwarz, sondern braungrau geworden war. Über das kleine Tuch, das jede einfache Frau straff um die Haare gebunden hatte, trug sie den großen schwarzen Schleier um Kopf und den ganzen Körper geschlungen. Von einem weiteren Tuch hatte sie sich eine kleine Polsterrolle gewunden, um die große metallene Milchkanne besser auf dem Kopf tragen zu können. Um dieses Bild noch dunkler zu machen, hatte sie dicke schwarze Kajalbalken um die Augen herum gemalt. Sie stand dann wortlos mit niedergeschlagenen Augen da und wartete auf ein Hausmädchen, das ihr die gewünschte
Menge Milch mit einem Gefäß aus der Küche abnahm. Sobald eines der Mädchen die Bäuerin bemerkte, wurde Nessim, der jetzt häufig von ihnen auch während der Arbeit herumgetragen wurde, in aller Hast in einen anderen Raum gebracht. »Man weiß nie, welche von ihnen den bösen Blick hat. (Von manchen wußte man es genau.) Zeig nie einer der Fellachinnen deinen Sohn, Herrin, er ist zu schön, und sie werden dann neidisch. Mit ihrem Blick hexen sie ihm schlechte Wünsche und Krankheiten an.« Auch Nessims tägliches Bad wurde von Sakäja äußerst mißtrauisch beobachtet. Dagegen konnte sie nichts tun, ging aber oft an der geöffneten Badezimmertür vorbei und sah hinein. Daß Ahsähn zu mir hereinkam, um mit Nessim zu lachen oder mir etwas behilflich zu sein, fand sie offenbar gar nicht gut und drückte das auch mit Blicken aus oder erinnerte Ahsähn daran, daß die Betten gelüftet werden müßten oder es Zeit sei, Fatma von der Schule abzuholen. Da Sakäja etwa siebenundzwanzig Jahre alt und somit sicher zehn Jahre älter als Ahsähn war und schon seit Kindesbeinen bei der Familie Abd El Kataf in Dienst stand, hatte sie natürlich, wenn auch nur begrenzt, eine gewisse Weisungsbefugnis. Damit ging sie allerdings sehr verhalten um, da Ahsähn, wie ich später erfuhr, das Kind weitläufiger, verarmter Verwandter war, dem man den Dienst im Haus mit der später ausgerichteten Hochzeit vergalt. Vereinbart worden war, daß Hagg Abd El Kataf den späteren Ehemann aussuchen, die Verhandlungen mit dessen Eltern führen würde und Ahsähn auch eine kleine Mitgift bewilligte. Das war wohl auch der Grund, warum Ahsähn kaum je grobe Arbeiten wie Putzen, Auskehren oder Hühner schlachten ausführen mußte. Am Waschtag, zu dem eine Fellachin ins Haus kam, die von Sakäja beaufsichtigt wurde, war Ahsähn fast ausschließlich mit der Kleidung der Familie
beschäftigt. Ich sah sie dann Hemden, Hosen, Schlafanzüge von der Leine nehmen, sortieren und zu einem Bündel zusammenlegen. Das gab sie dann Ibrahim, dem Pförtner, der es in einen Bügelladen trug. Manche eilige oder auch kleinere Sachen bügelte Ahsähn selbst. Der Bügelmann, der Maquagi, brachte dann die gesamte Wäsche gebügelt und säuberlich zusammengelegt und die Anzüge sorgfältig auf Kleiderbügel gehängt ins Haus zurück. Mittlerweile gab es auch einen Chauffeur. Er hieß Attala, und er betrat niemals die Wohnung. Wenn Hagg von unterwegs Einkäufe mitbrachte, große Flaschen mit Speiseöl, verschiedene Säckchen mit Zucker oder Reis oder auch große Körbe mit Obst und Gemüse, schleppte Ibrahim diese Sachen nach oben, und Attala half ihm dabei. Wenn seine Arbeit getan war, blieb er vor der Tür zum Küchentrakt stehen und wartete mit niedergeschlagenen Augen darauf, daß sein Herr ihn anwies, den Wagen in die Garage zu fahren. Es konnte auch möglich sein, daß Hagg ihn noch brauchte, und so stand er einfach wortlos da und wartete. Manchmal stand er auch vergebens da, weil Hagg ihn einfach vergessen hatte. Nach einer Weile sagte dann eines von den Mädchen: »Sidi, Attala wartet, soll er noch etwas erledigen?« »Gib ihm vom Reis und auch noch etwas Zucker, und dann kann er gehen. Er soll nicht vergessen, den Wagen gut abzudecken, sonst sitze ich morgen früh im Sand.« Das hätte er jedoch gar nicht zu sagen brauchen. Attala war ein sehr gewissenhafter Mann. Die Pflege des Autos nahm er sehr ernst, wienerte und wischte beständig innen und außen, und seine Art zu fahren war angenehm ruhig. Später fuhr ich häufiger mit ihm und war ihm oft sehr dankbar für seine Bereitschaft, mich zu beschützen. Oft sammelten sich die Armen um das große dunkelblaue
Mercedes-Cabriolet aus Neugier und auch, um zu betteln. Wenn ich allein mit Attala unterwegs war, blieb das Verdeck immer geschlossen. Aber ein bißchen Luftzug mußte sein, und so konnte es geschehen, daß mir ein Bettler einen entzündeten Armstumpf entgegenhielt oder eine Fellachin versuchte, ihr halbverhungertes Kind durchs Fenster zu schieben. Bei solchen Gelegenheiten wurde Attala sehr zornig, jagte die Leute mit Beschimpfungen und Drohungen vom Wagen weg und entschuldigte sich dann bei mir. Latifa war herübergekommen, um mir ihre Kinder vorzustellen. Das Töchterchen war etwa drei und ihr kleiner Sohn etwa zwei Jahre alt. Und nun bemerkte ich auch, daß sie wieder schwanger war. Die Kinder hießen Kita und Anwar. Kita hatte so gut wie überhaupt keine Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, wohingegen Anwar ein Abbild von Latifa war. Die beiden Kleinen waren sehr scheu und versuchten, sich hinter ihrer Mutter zu verstecken. Mein Arabisch reichte bereits für eine kleine Unterhaltung, und Latifa fragte: »Hast du Lust, dir meine Wohnung anzusehen? Es ist nicht weit, nur zwei Straßen von hier.« Fatma begleitete uns. Die beiden bezogen mich in ihre Unterhaltung mit ein, so gut es möglich war, und Fatma meinte lachend: »Latifa ist jetzt sechzehn und hat demnächst schon drei Kinder. Ich muß mich also beeilen.« Ernsthaft fuhr sie dann fort: »Ich möchte jetzt aber noch nicht heiraten und werde auch versuchen, mich zu weigern.« Erstaunt sah ich sie an und fragte: »Hat Latifa wirklich mit dreizehn Jahren geheiratet?« »Ja natürlich, rechne doch nach.« »Wenn man dir eine gute Partie vorschlägt, bin ich gespannt, wie du reagierst. Und häßlich ist mein Mann auch nicht«, erwiderte Latifa, »ja, ja, häßlich ist Shiker
nicht.« Und an mich gewandt: »Er ist ein Bauer mit ein bißchen Bildung, er ist ein Schwein. Du wirst es sehen, wenn er kommt.« »Wo ist Shiker denn?« »Er ist Englischlehrer im Diplomaten-Viertel in Kairo. Zur Zeit bemüht er sich um eine Wohnung, damit er Latifa mit den Kindern nachholen kann.« Latifas Wohnung war sehr schön aufgeteilt, jedoch überladen mit goldverschnörkelten Möbeln und Glasvitrinen, und trotz Nippes und Marmortischchen machte sie einen unbewohnten Eindruck. Vernachlässigt war sie wohl auch. »Latifa ist mal wieder ohne Mädchen. Sie laufen ihr alle weg«, lachte Fatma. Latifa kümmerte sich um Tee, und dann, als wir alle saßen, stellte Anwar sich vor seine Mutter, öffnete ihr Kleid und griff nach ihrer Brust. Latifa half ihm dabei, indem sie ihn zu sich auf den Schoß zog, damit er besser trinken konnte. »Meine Güte, wie alt bist du eigentlich, An-An? Er ist ein Bauer wie sein Vater.« Wie verschieden doch die beiden Schwestern waren, äußerlich und auch in ihrem Verständnis von Leben, insbesondere als Frau. Latifa war schön mit allen Attributen, die hier in diesem Land so sehr begehrt sind: helle Haut, helle Augen und nur leicht gelocktes braunes Haar. In ihrer Art zu reden und in ihren Bewegungen war sie träge, trug aus Bequemlichkeit im Haus nur weite Galabijas und gab sich mit ihrer persönlichen Pflege kaum Mühe. Mit ihren Kindern ging sie ergeben und gelangweilt um. Sie ertrug sie, mehr nicht. Kleine Jungen trugen zum Beispiel bis zum dritten oder vierten Lebensjahr galabijaartige Kleidchen und hatten darunter ein Höschen mit einer Einlage aus alten Tüchern an. AnAn trug nur selten ein Höschen, und Latifa hatte für die Spuren, die er zwangsweise auf Sofas oder Teppichen
hinterließ, nur ein gequältes Lächeln. Zur Säuberung wurde ein Mädchen gerufen. An einer Unterhaltung beteiligte Latifa sich nie, quittierte nur alles um sich herum mit einem matten, traurigen Lächeln. Fatma dagegen hatte dunkle Haut, fast schwarze Augen und tiefschwarzes krauses Haar. Zum Glätten der Haare verwendete sie immer viel Pomade, oder sie wickelte sie auf riesige Lockenwickler. Sie trug nur europäische Kleider, und oft brachte sie amerikanische oder französische Modezeitschriften mit, die wohl die Freundinnen in der Schule austauschten. Ein- oder zweimal im Jahr kam eine Schneiderin ins Haus, um die Garderobe der weiblichen Familienmitglieder auf den neuesten Stand zu bringen. Sie kopierte sehr geschickt die in den Journalen abgebildeten Kleider. Nach Kairo fuhr man selten, und in Tanta gab es wenig Möglichkeit, etwas Schickes zu bekommen. Anfang der sechziger Jahre war man in Ägypten westlich orientiert und sehr stolz auf Dinge, die aus Amerika, Frankreich oder Deutschland kamen. Immer gab es Verwandte oder Bekannte, die aus einem bereisten westlichen Land kleine Geschenke mitbrachten, und Qualität und Verarbeitung wurden dann hoch gelobt. Und natürlich wurde erzählt, welcher Schwager oder Sohn sich gerade in München, Paris oder Los Angeles aufhielt. Die Familien der Oberschicht waren es sich schuldig, mindestens ein Familienmitglied zum Studium oder einfach zur Erweiterung des Horizonts im westlichen Ausland auf Reisen zu haben. Auch die Familie Abid hatte ihren Sohn Ali zum Studium nach Deutschland geschickt. Da er ebenfalls aus Tanta stammte, waren Ahmed und Ali in Köln Freunde geworden. Auch Ali heiratete eine deutsche Frau und brachte sie mit nach Tanta. Ich hatte Anna bereits in Köln kennengelernt. Sie war eine ruhige, eher zurückhaltende junge Frau, die ihren Mann hingebungsvoll liebte. In
Deutschland hatten wir uns nicht oft gesehen. Als es aber eines Tages hieß, Anna sei mit ihrem Mann in Tanta angekommen und wolle mich besuchen, war ich vor Freude außer mir. Sie kam, wir unterhielten uns lange bei Tee und Gebäck und verabredeten gleich das nächste Treffen. Es war wunderschön, sich auf deutsch unterhalten zu können. »Wie findest du Tanta?« wollte ich wissen. »Ich habe ständig das Bedürfnis, meine Rückreise zu buchen. Es gibt nichts, was mir nicht fremd, ja sogar unbegreiflich ist.« »So etwas darfst du nicht denken, und steigere dich da bloß nicht hinein. Tanta ist eben arabisch, und es sind auch viele Fellachen hier, die das Bild prägen. Du wirst sehen, wenn wir uns öfter treffen, können wir uns austauschen, über das eine oder andere lachen, und schon wird alles leichter. Das hier ist jetzt unser Leben, es muß und es wird zur Normalität werden.« Kein Wort der Enttäuschung über diese Stadt, die, wie mir schien, bald in Sand und Unrat versinken mußte. Kein erstauntes Wort über die Gaffer und Bettler, sobald man den Fuß auf die Straße setzte. Ich glaubte, eine Duldsamkeit an ihr festzustellen, die mir völlig fehlte, und ich erinnerte mich, daß man in Deutschland über Alis Liebschaften mit diversen Frauen erzählt hatte, die Anna dem Vernehmen nach immer für Lügen gehalten hatte. Ihrer Liebe tat solch üble Nachrede keinen Abbruch. Auch wenn sie dem Ungewohnten so gelassen und beinahe passiv gegenüberstand, war ich doch sehr glücklich, eine Frau aus Deutschland in der Nähe zu wissen, mit der ich mich anfreunden konnte.
4
Krankheiten und böse Blicke
In meinen Briefen nach Hause erzählte ich meiner Mutter von meinen Eindrücken, von meinem Alltag und von der Liebenswürdigkeit meiner neuen Familie. Viele Dinge ließ ich weg, von denen ich wußte, sie hätte sie nicht verstanden. Als ich schrieb, daß es Zeitschriften in deutscher Sprache in Tanta nicht gab, aber daß mir Gamal schon mal welche aus Kairo mitbrachte, die dann zwei oder drei Monate alt waren, schickte sie mir in unregelmäßigen Abständen fünf oder sechs Illustrierte in einer Rolle. Ihre Briefe las ich immer fünf- oder sechsmal hintereinander, schloß mich für die Lektüre ein und wollte nicht gestört werden. In Gedanken ging ich dann bei ihr eingehakt durch unsere kleine Stadt, hörte Kirchenglocken und grüßte Bekannte im Vorübergehen. Als ich daran dachte, daß Ahmed mir einmal gesagt hatte: »… wenn du einmal traurig bist und möchtest deine Mutter sehen, mußt du es mir nur sagen. Wir werden dann überlegen und einen Besuch bei ihr vorbereiten. Ich möchte sowieso den Kontakt zu Deutschland nicht ganz aufgeben. Wie du weißt, habe ich viele Bekannte und Freunde dort, die ich wiedersehen möchte, und sicher werden wir einmal im Jahr hinreisen«, war ich getröstet und nahm mir vor, ihn bei der nächsten Gelegenheit darauf anzusprechen. Nessim machte mir Sorgen. Er quengelte viel, und das waren sicher nicht nur die Zähne, die sein Wohlbefinden beeinträchtigten. Man kümmerte sich rührend. Diverse
Tees wurden ausprobiert, um seinem Durchfall beizukommen. Die Mädchen nahmen ihn bei jedem kleinen Laut auf den Arm und trugen ihn herum, steckten ihm Leckereien in den Mund, die er aber wieder ausspuckte. »Kinder in dem Alter haben schnell etwas. Gott ist mit uns und wird nicht zulassen, daß er krank wird.« Aber Gott ließ zu, daß Nessim dann auch Fieber bekam. Er erbrach sein Essen, und ich war sehr beunruhigt. Am frühen Abend, als alle beim Tee zusammensaßen und ich mit dem weinenden Kind hereinkam, nahm Hagg ihn zu sich auf den Schoß, wollte ihn beruhigen und mit ihm spielen. Nessim reagierte nicht und weinte weiter. Auch wenn er Nessim vergötterte, hatte er mit weinenden oder gar schreienden Kindern nichts im Sinn, dafür gab es Personal, und so rief er nach Ahsähn, die sich dann schnell mit meinem Sohn entfernte. »Hagg, der Junge muß zu einem Arzt. Er hat schon seit drei Tagen Durchfall und nun auch noch Fieber«, sagte ich zu ihm. Aber Hagge meinte: »Alle kleinen Kinder haben schon mal Durchfall und auch Fieber, das ist nichts Ernstes. Gott ist mit uns.« Ahmed, der meistens stumm dasaß und Erschöpfung vorschützte, wachte nun doch aus seinem Halbschlaf auf. »Dem Jungen fehlt nichts, das ist das Klima, an das er sich gewöhnen muß. Die Hitze macht uns ja auch zu schaffen. Gott wird es richten. Ja, ja, die Deutschen, immer ein bißchen verrückt.« Da ich wußte, daß wichtige Entscheidungen in diesem Haus nur von Hagg gefällt wurden, und ich von keiner Seite Einsicht oder Unterstützung erwarten konnte, ließ ich bei ihm nicht locker. Er lächelte mich nachsichtig an: »Bokera, Heiuka – morgen, Heike, werden wir weitersehen. Gott wird dir Geduld schenken, und mit seiner Hilfe wird es Nessim morgen schon bessergehen.«
Hagg war der erste und einzige Mensch, der für meinen Vornamen, der aus zwei stumpfen Silben ohne jeden Klang besteht, eine Koseform gefunden hatte. »Heiuka« gefiel mir sehr. Er hatte mich mit seiner Gottergebenheit zwar nicht beruhigt, aber ich fühlte mich etwas getröstet. Hagg wußte jetzt, daß es seinem Liebling nicht gutging, und er würde sich kümmern. Als Hagg am nächsten Tag nach Hause kam, führte ihn sein erster Weg in unser Zimmer, um sich nach Nessims Befinden zu erkundigen. Als er sah, daß sich der Zustand des Kindes nicht gebessert hatte, legte er seine Hand auf Nessims Köpfchen und sagte entschlossen: »Ich schicke Ibrahim einen Hantur (eine Pferdekutsche) holen. Er wird dich zu einem Arzt begleiten.« Aber offenbar war ihm dann eingefallen, daß ich Verständigungsschwierigkeiten haben könnte, und er sagte: »Nein, ich lasse Attala rufen. Er soll den Wagen vorfahren, und Ahmed und ich werden dich begleiten. Wenn es nötig sein sollte, wirst du das nächste Mal allein mit dem Hantur fahren.« Als Ahmed von der Anordnung seines Vaters hörte, setzte er sich langsam und gequält in Bewegung, ohne Verständnis für diesen Aufstand zu haben. »Ahmed, beeile dich, du mußt deiner Frau übersetzen, was der Arzt sagt, damit sie weiß, wie sie sich verhalten soll.« Wenn Hagg zu einem Entschluß gekommen war, wanderte er mit großen Schritten durch die Säle und schmetterte seine Befehle. Alle wichen dann in die umliegenden Zimmer aus, und jetzt saß nur seine Frau auf dem Kanapee im kleinen Saal und sah mit gesenktem Kopf auf die Hände in ihrem Schoß. Es war nicht zu übersehen, daß sie diesen Arztbesuch für übertrieben hielt. Von der hohen Kindersterblichkeit in diesem Land hatte ich schon gehört, und langsam kam in mir der Verdacht auf, daß sie vielleicht auch etwas mit dem blinden Vertrauen auf Gott zu tun haben könnte.
Im Vorbeifahren hatte ich öfter schon vor einem Krankenhaus eine Menschenschlange von sicher einem Kilometer Länge gesehen. Es waren meistens Frauen, die in Hoffnung auf Hilfe dichtgedrängt auf dem Bürgersteig standen, saßen oder lagen. Viele hatten ein kleines Kind auf dem Arm und noch ein weiteres an der Hand. Bei manchen dieser Leute waren die Augäpfel wie weiß lackiert, das schreckliche Krankheitsbild der Ägyptischen Augenkrankheit, und ich war entsetzt. Ahmed erklärte mir: »Das ist ein staatliches Krankenhaus, wo die Kranken kostenlos behandelt werden. Sie kommen aus den umliegenden Dörfern und müssen sich oft auf einen tagelangen Aufenthalt in Tanta einrichten, ehe sie an der Reihe sind. Sie schlafen hier auf dem Bürgersteig und haben oft auch Verwandte bei sich, die ihnen Gesellschaft leisten.« Er lachte und meinte noch: »Wenn sie ein Trinkgeld dabeihaben, geht es natürlich etwas schneller. Aber die meisten sind zu arm, um sich auf diese Weise weiterzuhelfen. Sie kommen ohnehin erst, wenn kein Koranspruch, keine Heilerin mit Mittelchen aus Wurzeln oder einer Paste aus Kräutern etwas ausrichten konnten. Manche sterben, ehe sie an der Reihe waren. Gott sei mit ihnen.« Meine Sprachlosigkeit und mein Abscheu weckten seine Aufmerksamkeit, und er sah mich fragend an. Ich war innerlich wie gefroren, und das nicht nur über die Situation dieser kranken Menschen. Dieser Mann, mein Ehemann, hatte fünf Jahre in Deutschland gelebt, er hatte dort Medizin studiert, hatte im Verlauf seines Studiums deutsche Arztpraxen und Krankenhäuser kennengelernt. Er hatte hautnah erlebt, wie man dort mit kranken Menschen und Krankheiten umgeht, und er erzählt mir lächelnd, daß hier eben manchmal Menschen auf der Straße starben, weil die Warteschlange zu groß war. Er hatte in den fünf Jahren seines Aufenthalts unsere Bräuche und Lebensgewohnheiten erfahren. Mir hatte er
erklärt, daß es im Ablauf des täglichen Lebens keine wesentlichen Unterschiede zwischen seinem und meinem Heimatland gäbe. Ich hatte ihm das geglaubt – was sollte ich davon halten? Hatte er die Verschiedenheit nicht wahrgenommen? Nichts war von diesem Auslandsaufenthalt übriggeblieben, Erlebtes und Erlerntes waren von ihm abgefallen wie ein alter Schuh. Mir fiel unsere Trauung vor dem ägyptischen Botschafter in Bonn ein. In dem Papier, das ich unterschreiben sollte, war es dem Mann erlaubt, weitere drei Frauen zu heiraten. Ich las diesen Passus und sagte: »Das werde ich nicht unterschreiben. Wie komme ich dazu, einen solchen Unfug zu unterschreiben.« Mit einer solchen Reaktion meinerseits hatte man offenbar gerechnet. Die Männer sahen sich verständnisvoll an, und nun lachte Ahmed aus vollem Hals. »Das ist ein Überbleibsel aus früherer Zeit. Das ist heute nicht mehr gültig.« »Warum steht es aber dann hier? Ich kann so etwas nicht unterschreiben.« »Kein ägyptischer Mann heiratet in der heutigen Zeit eine weitere Frau. Das gilt als unseriös und ist auch zu teuer. Es ist schon peinlich, was du hier für ein Gezeter machst. Ich liebe nur dich, und daran wird dieser veraltete Vertrag nichts ändern. Oder glaubst du nicht an meine Liebe? Du bist mein Leben, und ich hole dir die Sterne vom Himmel.« »Vielleicht möchte die junge Dame eine kleine Bedenkzeit«, meinte der Botschafter. »Wir sind doch bereits verheiratet. Eine Heiratsurkunde von einem deutschen Standesamt ist in der ganzen Welt gültig. Wir können auf diesen Vertrag verzichten. Er hat für die Gültigkeit unserer Ehe keinerlei Bedeutung.«
»Er hat sehr wohl eine Bedeutung. Vor unserem Gesetz sind wir nicht verheiratet, und du mußt verstehen, daß ich so nicht vor meine Familie treten kann.« Ich war ratlos, der Botschafter wurde langsam ungeduldig, und Ahmed hatte aufgehört zu lachen. Vor längerer Zeit hatte er mich gebeten, »Ich liebe dich ewig« auf mehrere kleine Zettel zu schreiben. Diese Zettel zu kleinen Vierecken zusammengefaltet verteilte er in mehreren Jacken-, Mantel- und Hosentaschen. Manchmal holte er einen heraus, las ihn, lächelte und steckte ihn dann wieder weg. Ich hatte das für eine Marotte gehalten und geschmunzelt. Nun holte er wieder so ein kleines schmuddeliges Papierstückchen aus seiner Brusttasche, faltete es auseinander und sah mich ernst an. »Das hier kann ja wohl dann nicht stimmen«, und ich sah seine Augen feucht werden. Während er das Papierchen wieder in seiner Jackentasche verschwinden ließ, stand er ganz langsam auf, um sich von dem Botschafter zu verabschieden. »Natürlich stimmt das. Versteh mich doch bitte. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Ich habe aus Liebe zu dir mein Jawort gegeben. Wir sind verheiratet.« »Vor dem ägyptischen Gesetz hat die deutsche Trauung keine Gültigkeit. Was hier auf dem Papier steht, ist überholt und wird nie geschehen. Du bist das Licht meiner Augen, du bist meine Sonne und mein Mond. Warum glaubst du mir nicht?« Ich glaubte ihm und unterschrieb. Wir waren in der Arztpraxis angekommen, und Attala beeilte sich, Hagg die Wagentür aufzuhalten. Dann kam er zu mir, nahm mir vorsichtig Nessim aus dem Arm, damit ich besser aussteigen konnte, und noch ehe die Neugierigen mitbekamen, daß es eine Chauageie, eine Europäerin, zu bestaunen gab, waren wir verschwunden. In dem völlig kahlen Vorzimmer saß an einem Tisch ein Mann in einer bäuerlichen Galabija. Er stand auf,
verbeugte sich und wünschte uns Gottes Segen. Von Ahmed nahm er nun das Honorar entgegen, mehrere Geldscheine verschwanden in seiner Hand, und nur zu diesem Zwecke saß er wohl da. Jetzt geleitete er uns zu einer Tür, und wir kamen in das Behandlungszimmer. Der Arzt in einem weißen Kittel kam uns entgegen, und leise und langsam, immer von Lächeln begleitet, wurden Floskeln zur Begrüßung ausgetauscht. Ahmed wurde mit »Herr Kollege« angeredet. Von dem weinenden Kind auf meinem Arm nahm der Arzt zunächst keine Notiz. Er wollte vielmehr wissen, ob Deutschland wirklich so ein schönes Land sei, wie erzählt wird. Hagg kam dann endlich zum Zweck unseres Besuches und schilderte die Beschwerden von Nessim. Nun wurde das Kind untersucht, und mein armer Schatz schrie aus vollem Hals. Gegen Fieber, Durchfall und Erbrechen bekamen wir Medikamente, und ich fragte Ahmed: »Kann er sagen, was ihm fehlt?« »Es ist so, wie ich gesagt habe, das Kind leidet unter der Klimaumstellung. Mit den Medikamenten werden die Beschwerden aufhören. Nach einer Weile wird Nessim die Mittel nicht mehr brauchen und sich nach der Akklimatisierung wieder wohl fühlen. Natürlich muß er viel trinken. Wenn er nach zwei Tagen immer noch Fieber hat, mußt du noch mal herkommen.« Was wußte ich jetzt? Von der Unterhaltung hatte ich wenig verstanden, da sie in Hocharabisch geführt worden war, das man im täglichen Umgang zu Hause nicht verwendete. Der Mann aus dem Vorzimmer brachte Tee, und man saß zusammen und unterhielt sich. Ich konnte mich umsehen und stellte fest, daß das Inventar wohl aus dem vorigen Jahrhundert stammte. Wenige, gelbschmuddelige Blechschränke standen im Raum verteilt. Durch fleckige Scheiben sah ich auf Instrumente, die nicht vertrauenerweckend wirkten.
Welche Krankheit hinter Nessims Beschwerden steckte, habe ich nie erfahren. Wohl ging es ihm langsam besser, doch seine Genesung ging so schleppend voran, daß ich noch zweimal zum Arzt fuhr. Er wechselte die Medikamente und entließ mich mit dem Segen Gottes. Aus meinem Nessim war in wenigen Wochen ein schmales Kerlchen geworden, er war regelrecht abgemagert. Das Essen behielt er inzwischen wieder bei sich, und jeder stopfte ihm ständig irgendeine Leckerei in den Mund. Niemand verlor mehr ein Wort über die Krankheit. Nach ein paar Tagen sagte Hagge: »War nicht Galila vor zwei Wochen zu Besuch?« »Ja, sie kam mit ihrem Kind, um Heike zu begrüßen«, antwortete Fatma. Ich konnte mich sehr gut an Galila erinnern. Sie war die Tochter von Haggs Cousin Amer, mit dem er oft in Geschäften unterwegs war. Galila hatte einen kleinen Sohn in Nessims Alter, der von seiner Größe und Entwicklung her scheinbar doppelt so alt war. Ich war erstaunt, aber wenn ich dreizehnjährige Mädchen sah, die von ihrer Entwicklung her doppelt so alt schienen, sollte ich mich nicht wundern. Mädchen im Kindesalter waren hier bereits junge Damen, wobei man darauf achtete, daß sie sich auch so verhielten, während Gleichaltrige in meinem Heimatland noch ihre Puppenkinder umsorgten. In diesem Land wurden die Menschen schneller erwachsen. Galilas Söhnchen war ein entzückendes Kind, hatte jedoch für das hiesige Verständnis eine viel zu dunkle Haut. Maskenhaft lächelte sie mich an, legte die beiden Kinder nebeneinander, so daß man den Größenunterschied nicht mehr übersehen konnte, und meinte: »Sieh mal, Heike, dein Sohn ist ja schön, aber ein bißchen arg klein. Was gibst du ihm zu essen? Ach, du stillst nicht mehr, wo gibt es denn so was? Da braucht man sich nicht wundern.«
Hagge, Fatma und auch Ahsähn, die an der Salontür standen, sahen lächelnd, aber betreten vor sich. Galilas Benehmen fiel wohl aus dem Rahmen. Beim Abschied fielen Hagges gute Wünsche und der Segen Gottes für sie auch eher verhalten aus. Eine so offene Feindseligkeit war mir hier noch nicht begegnet. Als sie gegangen war, legte Fatma ihren Arm um meine Schulter und tröstete mich: »Mach dir nicht so viel daraus. Wir wissen, daß Galila böse und sehr neidisch ist, aber daß sie sich so weit gehen läßt und unhöflich wird, hätte ich nicht gedacht. Du mußt sie aber auch verstehen, Nessim sieht aus wie ein Engel und ihr Sohn wie ein Sudanneger.« Sie lachte und nahm Nessim auf den Arm: »Ness-Ness, enti Amer, enti halaue – du bist der Mond, du bist ein Süßer.« Und jetzt vermutete auch Fatma als Anstifterin für Nessims Krankheit Galila: »Aber Mama hat recht, man hätte Nessim unter einem Vorwand aus dem Zimmer bringen sollen. Sie ist sicher schuld an seiner Erkrankung.« Dschinns und Hexenblicke waren allgegenwärtig, und man mußte sich dagegen zu schützen wissen.
5
Meine kleinen Freiheiten
Gamal war mal wieder zu Besuch, und ich freute mich. Er brachte Leben ins Haus, hatte für jeden ein gutes Wort, ulkte mit den Mädchen, und Sakäja bekam dann auch schon mal einen kräftigen Schlag auf ihr so dickes, rundes Hinterteil. Das trug ihm jedesmal einen bösen Blick von Hagge ein. Er lief dann auf sie zu, küßte sie auf die Wange, und sie lachte wieder. »Heiuka, was hast du gemacht in der letzten Zeit? Wo ist Nessim, unsere Sonne, wie geht es ihm? Heute abend singt Um Kalzuom im Radio, die mußt du hören. Sie holt dir mit ihrer Stimme und ihren Liedern die Sterne vom Himmel. Du wirst begeistert sein, es ist die schönste Musik der Welt.« Bei der Musik, die ich schon gehört hatte, konnte ich mir das zwar nicht vorstellen, aber ganz Ägypten sprach mit Begeisterung und Verehrung von ihr. Sie sang Liebeslieder, die oft ein oder zwei Stunden dauerten. Bei ihren Konzerten versammelten sich die Familien um das Radio und waren hingerissen und bewegt. Nessim saß in seinem Wagen auf dem Balkon, und ich ging wieder hinaus zu ihm. Gamal folgte mir, und auch Fatma setzte sich zu uns. Wenn ihr Bruder dabei war, durfte sie sich auch auf dem Balkon aufhalten, ohne Schelte zu erwarten. »Erzähl, Heiuka, wie war die letzte Woche?« Fatma senkte den Blick und lächelte. Sie wußte ja, was geschehen war, und auch Gamal hatte offenbar etwas
munkeln hören, er würde sonst nicht so gespannt fragen. Also berichtete ich ihm. Schon seit einiger Zeit hatte ich Ahmed gegenüber meine Verwunderung darüber ausgedrückt, daß Mütter mit ihren kleinen Kindern keine Spaziergänge machten. Wenn ich durch Tanta fuhr, hatte ich noch nie eine Frau mit Kinderwagen gesehen. Ich sah nur Fellachinnen, die ihre Kinder entweder auf der Hüfte oder auf einer Schulter mit sich trugen. Und diese Frauen waren nicht auf der Straße, damit die Kinder an der frischen Luft waren, sie waren unterwegs, um Besorgungen zu machen. Abends hingegen, wenn es etwas abgekühlt war, konnte man vereinzelt Hausmädchen mit ihren Schützlingen sehen. Man konnte dann auch Vater, Mutter und Kinder auf der Straße beobachten, nie jedoch ging eine Mutter allein mit ihrem Kind spazieren. Doch ich wollte solche Spaziergänge mit Kinderwagen, wie ich sie aus meiner Heimat kannte, durchsetzen, und es war ein hartes Ringen. »Nachmittags schläft man bestenfalls, man geht aber nicht spazieren«, sagte Ahmed, »und am frühen Abend kannst du auch nicht gehen. Du kannst hier nicht neue Sitten einführen, was würden die Leute sagen. Nur eine Hure läuft alleine über die Straßen. Du bringst unsere Familie in Verruf.« Das ging über Tage so, und Ahmed wurde immer unfreundlicher, blieb aber unnachgiebig. Immer wieder sprach ich dieses Thema an, dann eines Abends auch in Haggs Gegenwart. Die Frauen sahen alle betreten vor sich, und nachdem Ahmed seinem Vater erzählte, daß ich nicht davon abzubringen sei, mit Nessim im Kinderwagen durch die Straßen zu laufen, wandte Hagg sich mir zu und fragte mich: »Hast du das in deiner Heimat auch gemacht? Und warum?« »Alle Mütter gehen dort mit ihren kleinen und großen Kindern nachmittags spazieren. Man geht durch Parks,
setzt sich auf eine Bank und unterhält sich vielleicht mit einer anderen jungen Frau. Die größeren Kinder können auf den Spielplätzen spielen, schaukeln und klettern und die kleinen krabbeln herum. « »Dann ist das bei euch so Brauch?« »Ja, und das hat nichts mit Leichtlebigkeit zu tun, wie Ahmed meint. « »Sie könnte in den Amerikanischen Club gehen, man wird sie respektvoll behandeln, und es wird ihr nichts geschehen. Dort sitzt sie im Grünen, und Nessim wird das auch gefallen.« Hagge stand demonstrativ vom Kanapee auf, ging in den großen Saal und setzte sich mit Fatma und den zwei jüngeren Söhnen auf die Sofas vor dem Balkon. Ahsähn setzte sich ihr zu Füßen. Ich konnte aus der Entfernung zwar nicht verstehen, was gesagt wurde, aber durch die Verbindungstür konnte ich sehen, daß die Unterhaltung rege war, und es wurden die Köpfe geschüttelt. Ahmed sagte wütend: »Diese verrückten deutschen Ideen. Es ist nicht zum Aushalten.« Aber für mich war Haggs Entscheidung ein kleiner Sieg. Am nächsten Nachmittag, so gegen vier Uhr, als alle im Haus schliefen, bat ich Ibrahim, mir den Kinderwagen herunterzutragen. Ich war noch nie nachmittags draußen gewesen, und nach ein paar Schritten wußte ich auch, warum um diese Zeit niemand spazierenging und sich keine Menschenseele auf der Straße befand. Plätze und Straßen waren leer, alle Fensterläden zugeklappt, es war gespenstisch. Nur vor einem Café dösten ein paar Gestalten vor sich hin. In einiger Entfernung sah ich jetzt Ibrahim, der mir langsam folgte. Er hatte wohl den Auftrag, mich zu beschützen. Um nichts in der Welt wäre ich jetzt umgekehrt, obwohl mir danach war. Rinnsale von Schweiß liefen mir hinter den Ohren in den Kleiderkragen. Alles, was am Körper anlag, war im Handumdrehen tropfnaß, und ich fühlte mich überhaupt
nicht wohl. Hagg hatte mir den Weg beschrieben, und ich fand den Amerikanischen Club, es war nicht weit. Ich ging immer langsamer und hatte das Gefühl, mich in einer Sauna zu bewegen. Der Club war ein flaches, recht gepflegtes Gebäude in einer Grünanlage, die zum Teil durch Mauern, zum Teil durch angelegte Hecken abgeschirmt war. Ich ging durch ein steinernes Tor und befand mich vor einem Rondell von Tischen mit Stühlen. In der Mitte war ein kleiner See. Die Tische waren leer, und ich sah niemanden, so daß ich schon dachte, es sei geschlossen. Doch die Eingangstür des Clubgebäudes war offen. Vor der Tür stand ein Bediensteter in einer weißen Galabija mit einem roten Fez auf dem Kopf. Erleichtert suchte ich mir einen Tisch in der Nähe des Hauses, um unter den Bäumen Schatten zu finden. Ohne diese Gluthitze hätte ich mich hier sehr wohl gefühlt. Man saß sehr schön, und vor allem: Die Bäume, der Rasen und die Sträucher waren wirklich grün, und das tat meinen Augen gut. In Tanta war ansonsten alles braun, verbrannt und schmutzig. Eine sehr breite, als Allee angelegte Straße führte durch ganz Tanta. Zwischen den beiden Fahrbahnen befand sich ein etwa zwanzig Meter breiter Mittelstreifen, der sicher ehemals als eine Art grüne Lunge von Tanta die Menschen erfreuen sollte. Es waren Bäume gepflanzt und Rasen angelegt worden. Blumenkübel, jedoch ohne Blumen, standen hier und da. Die einfachen Leute und die Fellachen saßen am Abend mit ihren ganzen Familien dort, um sich auszuruhen und ein bißchen Kühle zu genießen. Es schien sie nicht zu stören, daß sie zwischen den Fahrbahnen saßen und um sie herum kein grünes Hälmchen mehr zu finden war. Alles war braun verbrannt, Bäume und Sträucher vertrocknet und mit braunem Sand überzogen. Aus den Kübeln herausgebrochene Betonstücke lagen herum, von vereinzelten Bänken waren Rückenlehnen
herausgebrochen, Sitzflächen hatten sich gelöst. All das wurde nicht instand gesetzt, es lag verstreut herum. Hinzu kamen die Abfälle, die die Passanten fallen ließen. Das war völlig normal, es gab keine Müllabfuhr. Küchen- und sonstige Abfälle wurden aus dem Fenster geworfen. So machte Tanta einen verwahrlosten, schmutzigen Eindruck. In dieser Clubanlage hatte man scheinbar nicht vergessen, die Bewässerungsanlage anzustellen, und alle meine Sinne konnten sich ausruhen. Ich bestellte mir einen Orangensaft, nahm Nessim aus seinem Wagen auf meinen Schoß und spielte mit ihm. Meinen nächsten Spaziergang hierher würde ich gegen Abend machen, nahm ich mir vor. Dann würde es sicher auch etwas geselliger sein. Gamal hörte sich meinen Bericht ruhig an und meinte: »Mein Vater ist nicht nur ein guter, sondern auch ein kluger Mann. Du hast jetzt erfahren, daß man um diese Tageszeit nicht rausgehen kann, weil die Sonne das nicht zuläßt. Wenn du nächstens am Abend in den Amerikanischen Club gehen möchtest, wird dich Latifa oder Fatma gerne begleiten. Vielleicht gehen wir ja auch mal alle zusammen dorthin. Mit Hagg und Ahmed solltest du dir nächstens einmal die Geschäfte in Tanta ansehen, mal ins Kino gehen, ein bißchen Abwechslung täte gut. Und wenn du unsere älteste Schwester Rahn in Kairo besuchst, werde ich dir die Stadt etwas zeigen, vielleicht gehen wir mal ins Museum. Du wirst sehen, Kairo hat viel zu bieten, dort wird es dir gefallen.« Seine Worte waren Balsam für mein Herz. Er hielt mich nicht für verrückt, er versuchte zu verstehen. Zu Fatma sagte er: »Ich hätte gerne eure Gesichter gesehen an diesem Nachmittag. Ihr habt ihr doch sicher hinterhergesehen.« Und er lachte aus vollem Hals. Anna hatte angerufen und mich für den folgenden Tag zum Tee eingeladen. Ich freute mich und war sehr
gespannt. Am nächsten Nachmittag schickte ich Ibrahim, mir ein Hantur vors Haus zu holen. Es war ein angenehmes Gefühl, ohne Bewachung, mit Nessim auf dem Schoß, in der Pferdekutsche zu sitzen und einfach so meinem Ziel entgegenzufahren. Der Kutscher schrie beständig »Achtung, Platz da«, obwohl es kaum Verkehr auf den Straßen gab. Da man mich unter dem vorgezogenen Verdeck kaum sah, brauchte ich keine Angst vor Gaffern oder Bettlern zu haben und konnte mir in Ruhe die Gassen und Straßen ansehen. Zum größten Teil waren es unbefestigte Straßen, die Häuser waren höchstens dreistöckig. Manche hatten einen Balkon, der jeden Moment herunterzubrechen drohte. Unrat und Abfälle lagen vor jedem Eingang. Wilde Hunde und Katzen streunten umher und wühlten in den Abfällen. Die meisten Fensterläden waren nur mit einer Sperre geöffnet, es war also nur ein kleiner Spalt offen, um etwas Licht in die Räume zu lassen. Vereinzelt waren kleine Geschäfte in ehemaligen Garagen untergebracht. So sah ich in einem solchen fast dunklen Raum einen Maquagi seiner Arbeit nachgehen, der nur mit den Füßen bügelte. Aus welchem Grund auch immer er keine Hände hatte, er hatte einen Weg gefunden, um seinen Unterhalt zu sichern. Ich wunderte mich allerdings, wie aus einem solchen verwahrlosten Verlies makellos gebügelte Hemden, Anzüge und Wäschepakete beim Auftraggeber ankommen konnten. Bei Anna wartete ein Hausmädchen vor der Tür auf mich, nahm mir sofort Nessim vom Arm und führte mich hinauf. Oben begrüßten mich Anna und ihre Schwiegermutter. Sofort bemerkte ich die große Ähnlichkeit zwischen Ali und seiner Mutter. Sie war eine sehr liebenswürdige Frau, von ihrer Art her ganz anders als meine Schwiegermutter. Sie stellte mir die eine oder andere Frage, ließ Tee und Gebäck kommen, und wir saßen in einem erkerartigen Anbau und unterhielten uns.
Nessim war natürlich für eine kleine Weile der Mittelpunkt, dann ließ uns Alis Mutter allein, und wir konnten in unserer Muttersprache die Unterhaltung fortsetzen. »Ich habe mich eingewöhnt und kann über keinen Mangel klagen, mir geht es richtig gut. Alis Mutter ist eine ausgesprochen liebe Frau und versucht, mir jeden Wunsch von den Augen abzulesen«, schwärmte Anna. Das konnte man spüren, es herrschte ein angenehmes Einvernehmen zwischen den beiden Frauen, und Anna hatte es wirklich gut getroffen. Aber so langsam war ich auch der Meinung, daß Anna über Heimweh oder Schwierigkeiten nie sprechen würde. Entweder sie ließ Unzufriedenheitsgefühle gar nicht erst aufkommen oder sie fand Trost hier in diesem Haus. Mich an meine Worte bei unserem letzten Treffen erinnernd, sagte sie jetzt: »Übrigens, meine Schwiegermutter hat mir von einer Frau erzählt, die vor dreißig Jahren einen Ägypter geheiratet hat und in der Nähe von Kairo wohnt. Sie hat drei Söhne und geht darin auf, Kinder und Enkelkinder zu umsorgen. Sie hat in der ersten Zeit ihres Aufenthalts noch in einem Harem gelebt und seit dem Tag ihrer Eheschließung Deutschland nicht wiedergesehen. Man hat ihr mehrmals einen Deutschlandbesuch vorgeschlagen, aber sie meint immer, wahrscheinlich würde sie sich nicht mehr zurechtfinden und sicher sei ihr alles fremd geworden. Sie ist ganz und gar Ägypterin geworden. Ich finde das wundervoll, wenn du interessiert bist, lasse ich einmal herausfinden, wo genau sie wohnt, und wir könnten sie besuchen.« Ich war mir nicht sicher, ob ich das wollte. Ich fragte mich, aus welchem Grund Anna auf diese Weise die Missionarin spielte. Immer mal wieder hatte ich Ahmed nach seinem Tagesablauf gefragt, und nie war er so recht darauf eingegangen. Natürlich interessierte mich auch Haggs
Reaktion auf das abgebrochene Medizinstudium. Was hatte er dazu gesagt, daß er Jahr um Jahr seinen ältesten Sohn mit monatlichen Schecks unterhalten hatte, damit er nach beendetem Studium hier im Land eine Arztpraxis eröffnen konnte. Aber nach fünf Jahren war sein Sohn ohne Beruf zurückgekehrt, ganz davon abgesehen, daß es für ihn sicher einen Prestigeverlust bedeutet hatte. Mußte man nicht jedesmal, wenn Ahmed mit Dr. Abd El Kataf angeredet wurde, in blumigen Wendungen die Angelegenheit korrigieren und erklären, daß sein Sohn einen anderen Weg eingeschlagen habe. Auch ich war in der ersten Zeit mit Frau Doktor angeredet worden, und es war mir peinlich. Nach und nach gab sich das, es hatte sich herumgesprochen, daß Ahmed anstatt eines Staatsexamens eine deutsche Ehefrau und einen Sohn aus Deutschland mitgebracht hatte. Manchmal beobachtete ich Hagg, wenn er seinen ältesten Sohn betrachtete, wie dieser auf einem Sessel oder Sofa vor sich hin döste. In seinem Blick war dann ein wenig Trauer, ein wenig Wehmut, und ich bemerkte nach und nach, daß sich das nicht auf die verlorenen Jahre in Deutschland bezog. Dieser Sohn, sein Erstgeborener, interessierte sich für nichts. Er war träge, unbeweglich, verließ das Haus fast nie, kaum, daß er an Freitagen seinen Vater in die Moschee begleitete. Er tat nur, was ihm gefiel. Er aß zum Beispiel gern, und jeder freute sich, wenn er Unmengen in sich hineinstopfte. Von dem, was ihm am besten schmeckte, wurde ihm von Sakäja zwischen den Mahlzeiten noch der Rest aufgewärmt. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, ihn für Sonderlichkeiten, die bei jedem anderen eine Rüge zur Folge gehabt hätten, zu kritisieren. Selbst Gamal mit seinen flotten Sprüchen war Ahmed gegenüber immer von ernster Hochachtung. Diesen Sonderstatus hatte er sich mit seiner Geburt erworben, er war der Erstgeborene, und somit war alles, was er tat, wohlgetan.
Ich hatte schon gehört, daß Hagg sich jeden Morgen vor Sonnenaufgang von Attala abholen ließ. In seiner Begleitung befanden sich dann immer Ahmed, Amer, ein Cousin, und Ibrahim. Die Männer kamen gegen fünfzehn Uhr wieder nach Hause. Sie waren dann sehr erschöpft, es war die heißeste Zeit des Tages, und Hagg und Ahmed legten sich dann gleich nieder. Da Ahmed mir keine befriedigende Auskunft gegeben hatte, fragte ich eines Tages Hagg. »Wo fährst du jeden Morgen hin?« Ich wußte, daß direkte Fragen unbeliebt waren, aber ich hatte auch bemerkt, daß Hagg mein Interesse schätzte und immer bemüht war, mir eine Auskunft zu geben. Also störte ich mich nicht an dem betretenen Schweigen, was die übliche Reaktion auf meine Direktheit war. Hagg sah mich freundlich an und antwortete auf meine Frage: »So wie jeder andere Mann jeden Morgen in sein Geschäft oder ins Amt geht, fahre ich zum Markt.« Er lachte, als er meine erstaunte Miene sah. »Nicht so, wie du denkst, ich gehe nicht zum Einkaufen auf den Markt. Die Regierung von Präsident Nasser verpachtet große Grundstücke, die eingezäunt und als Märkte genutzt werden. Das wird öffentlich bekanntgegeben, und man kann sich bewerben. Und so habe ich für jeden Tag der Woche ein solches Grundstück in verschiedenen Städten gepachtet. Die Anfahrt ist oft weit, im Moment habe ich unter anderem einen Markt in Oberägypten, in Heluan. Vor Ort habe ich Männer angestellt, die von jedem, der auf diesem Markt seine Produkte oder Tiere anbieten will, eine Gebühr einnehmen. Ich müßte nicht jeden Morgen fahren, aber nur die Anwesenheit des Chefs garantiert, daß auch alles korrekt läuft. Und es ist gut, daß jetzt Ahmed mitfährt, denn wenn er an dem einen und ich an dem anderen Ende des Marktes bin, spricht es sich rum, daß die Chefs anwesend sind, und keiner
versucht zu betrügen. Manchmal sind auch Streitigkeiten zu schlichten, und ohne Aufsicht endet so etwas oft im Chaos. Ganz abgesehen davon hat es auch gute Seiten. Wie du sicher mittlerweile weißt, sind im Staate Nasser (er hielt nicht viel von Nasser, im Gegensatz zu Gamal) Zucker, Reis und Mehl rationiert, aber die Bauern drängen mir ihre Produkte regelrecht auf. Gott ist groß und zeigt mir, auf wen ich mich verlassen kann.« Das mußte ein einträgliches Unternehmen sein. Eine Menge Menschen befanden sich in diesem Haushalt, der großzügig geführt wurde. »Du interessierst dich für alles, Heiuka. Möchtest du einmal mitfahren? Es würde anstrengend werden für dich und auch sehr heiß.« Ich sah ihn erstaunt an, und auch alle anderen wurden jetzt hellhörig. Nur die Jungen hatten manchmal mitgedurft, seiner Frau hatte er das sicher noch nie angeboten. Ich war begeistert. »Natürlich möchte ich das.« »Also gut, wenn wir am nächsten Mittwoch nach Dalmanhur fahren, wirst du mit dabeisein.« Nun hatte ich eine vage Vorstellung davon, wie hinter verschlossenen Türen die Aussprache zwischen Vater und Sohn nach seiner Rückkehr aus Deutschland verlaufen war. Da die Ausbildung zum Arzt ohne Abschluß keine Bedeutung mehr hatte und Ahmed für die Inangriffnahme einer neuerlichen Ausbildung, um einen ehrenwerten Status in Ägypten zu erreichen, viel zu träge war, hatte Hagg ihm wohl keine andere Wahl gelassen. Ob offiziell oder inoffiziell, Ahmed war jetzt Mitbetreiber des väterlichen Unternehmens, ob es ihm gefiel oder nicht. Ich kannte Hagg nun schon etwas besser und wußte, wenn eine Entscheidung zu fällen war und er einen Entschluß gefaßt hatte, diktierte er die Bedingungen. Vorher hatte er alle Möglichkeiten gegeneinander abgewogen, und in diesem Fall konnte er
wohl davon ausgehen, daß sein Erstgeborener keine Entscheidung fällen würde, die den Beteiligten ein gesichertes Auskommen böte. Schließlich war er verantwortlich für die Ehre der Familie und auch sein Enkel sollte den Namen Abd El Kataf mit Stolz tragen. Und Hagg regelte alle Familienangelegenheiten. Latifa war zwischenzeitlich mehr im elterlichen Haushalt als in ihrer eigenen Wohnung. Es gab wohl Unstimmigkeiten zwischen den Eheleuten, worum es aber ging, erfuhr ich nicht. Wenn man bisher in meiner Gegenwart über alles reden konnte, war man jetzt langsam vorsichtiger geworden, denn vom Umgangsarabisch hatte ich schon einiges gelernt, und es kam vor, daß man schwieg, wenn ich einen Raum betrat, oder Hagge und eins der Mädchen unterhielten sich im Flüsterton. Das war unangenehm, es zeigte mir, daß ich nicht dazugehörte. Latifa selber machte jedoch kein großes Geheimnis um den Stand der Dinge. »Die Wohnung hier in Tanta wird aufgegeben, die Möbel gehen nächste Woche nach Kairo. Ob Shiker schon eine neue Wohnung gefunden hat, weiß ich nicht, es ist mir auch egal.« »Wirst du wieder bei deinen Eltern wohnen?« wollte ich wissen. »Warum nicht, hier bin ich zu Hause.« Allerdings hatte ich mitbekommen, daß Shiker an diesem Tag noch einmal eine Unterredung mit Hagg gehabt hatte, die hinter verschlossenen Türen abgehalten worden war. Ob nun Beschwerden von Latifa über ihren Ehemann vorlagen, oder ob Shiker sich über Latifa zu beschweren hatte, wußte ich nicht. Eventuell ging es auch um Punkte des Ehevertrages, die nicht eingehalten worden waren. In einem solchen Fall war das Familienoberhaupt zur Regelung ernsterer Schwierigkeiten zuständig, und offenbar hatte Hagg
verfügt, seine Tochter mit ihren Kindern bis zur Klärung der Angelegenheit wieder ins Elternhaus zu nehmen. Das war völlig legal, und es spielte dabei keine Rolle, ob einer der Ehepartner zur Schlichtung etwas hätte beitragen können. Bei dem momentanen Stand der Dinge gab es keine persönlichen Auseinandersetzungen mehr. Hagg hatte entschieden. Da sich Shiker nun einmal im Hause aufhielt, gebot es die Höflichkeit, daß er seine deutsche Schwägerin begrüßte. Außerdem konnte er so noch einmal seine Frau und seine Kinder sehen, bevor er wieder nach Kairo abreiste. Abgesehen davon, daß seine beiden Kinder sich freuten und auf ihn zurannten, verlief alles sehr frostig. Floskeln wurden ausgetauscht, und Latifa saß matt lächelnd in einer Sofaecke. Ich beobachtete Shiker, während er das Frage- und Antwortspiel nach Gesundheit, Beruf und der Anwesenheit Gottes spielte, und ich mußte an das denken, was Fatma über ihn gesagt hatte. Seine Hautfarbe war tatsächlich so dunkel wie bei einem Sudanesen, er rauchte eine Zigarette nach der anderen und warf die Kippen dann einfach auf den Fußboden. Besonders unangenehm empfand ich die Art, wie er den sich ansammelnden Schleim loshustete und dann ungeniert durch den Saal spuckte. Wohl hatte ich in Geschäften und in Ämtern Spucknäpfe gesehen und schon wahre Kunstspucker dabei beobachtet, wie sie ihre Marke aus beträchtlicher Entfernung genau in diese Schale plazierten, aber in diesem Haus war das nicht üblich, und ich mußte mich zusammennehmen, um nicht fluchtartig den Saal zu verlassen. Als er dann endlich unter Murmeln höflicher Floskeln das Haus verlassen hatte, kam Sakäja mit einem nassen Aufnehmer, als hätte sie nur auf diesen Moment gewartet. Ich habe nie erfahren, ob Shiker aus der weitläufigen Verwandtschaft der Familie Abd El Kataf war.
Eheschließungen zwischen Cousine und Cousin ersten Grades waren üblich, und man sah sich bei der Suche nach einem Ehemann für die Tochter zuerst einmal in der eigenen Familie um. Die familiären und finanziellen Verhältnisse waren bekannt, und von daher waren Regelungen im Ehevertrag einfacher festzulegen. Vielleicht hatte man Hagg auf seinen Reisen durchs Land aber auch Shiker als aussichtsreichen Kandidaten aufgrund seiner Ausbildung empfohlen. Er könnte der Sohn eines reichen Bürgermeisters in Oberägypten gewesen sein, dessen Vater sehr daran gelegen war, mit der Familie Abd El Kataf verwandtschaftlich verbunden zu sein, und der sich das auch etwas hatte kosten lassen. Das würde zumindest Shikers ungeschliffenes Benehmen erklären. Latifa verlor nie ein Wort darüber, und immer wenn die jüngeren Geschwister sich über Shikers Benehmen mokierten oder über ihn lachten, verließ sie entweder den Raum oder lächelte still.
6
Markttag in Dalmanhur
Wenn die Sonne gnädig war, saß Latifa oft stundenlang Unbeweglich auf dem Balkon, der zur Straße hinausging, und sinnierte vor sich hin. In kleinen Arbeitspausen setzte sich Ahsähn ihr zu Füßen und wiegte dann den kleinen Anwar in den Schlaf. Ahsähn war für die jungen Frauen der Familie nicht nur ein Hausmädchen, sondern auch Freundin und Vertraute. So wie mit Fatma sah ich sie auch mit Latifa manchmal flüstern und Dinge besprechen, die sicher nie irgend jemand erfuhr. Sehr selten hörte ich Latifa lachen und wenn, tat sie es mit Ahsähn. Zuzusehen, wie in ihrem Gesicht tatsächlich die Sonne aufging, war wunderschön. Dann fiel mir wieder ein, wie jung sie noch war, und es wollte mir nicht in den Kopf, daß im Grunde ihr Leben abgeschlossen war. Sie würde noch einige Schwangerschaften hinter sich bringen müssen – der Zustand permanenter Schwangerschaft galt hier für Frauen als der Idealfall – und gehorsam ihrem Ehemann dienen; zu erwarten oder zu erleben gab es für sie nichts mehr. Ich hatte sogar den Eindruck, daß sie schon jetzt die Fähigkeit zur Freude verloren hatte. Doch sie haderte mit den Zwängen, die ihr auferlegt waren, denn einmal fragte sie mich, nachdem sie sich vergewissert hatte, daß niemand in Hörweite war: »Heike, stimmt es, daß du noch nicht wieder schwanger bist?« »Ja, ich glaube, das stimmt.«
»Aber Nessim ist doch schon ein Jahr alt, wie kann das sein?« Noch einmal sah sie sich um, ob auch niemand hinzugekommen war: »Sprich mit niemandem drüber.« Sie senkte ihre Stimme noch mehr: »Bitte, sag mir, was du machst, um keine Kinder mehr zu bekommen.« Was sollte ich ihr da sagen – nichts tat ich, gar nichts. Selbstverständlich hatte ich mich mit diesem Gedanken bereits beschäftigt. Ein weiteres Kind würde ich nicht mit Freude begrüßen. Jedoch waren mir meine gemischten Gefühle und die Gründe für mein leichtes Schaudern bei einem solchen Gedanken nicht wirklich bewußt. Vielleicht erledigte aber mein Unterbewußtsein für mich, wogegen ich keine Mittel hatte, denn ich verfügte über kein Wissen, um mich gegen eine Schwangerschaft zu schützen. Das konnte ich Latifa nicht sagen, sie würde mir kein Wort glauben. Allerdings bin ich heute der Meinung, die Tatsache, daß Latifa passiv und ergeben unglücklich über ihr Schicksal war, ich dagegen aktiv und rebellisch, spielte eine Rolle. Für die Begründung, die ich Latifa gab, kam ich mir zwar schäbig vor, aber was sollte ich tun? »Setz dich nach der Liebe in ein Gefäß mit sehr heißem Wasser. Du kannst Glück oder auch Pech haben. Eine Garantie ist das nicht, aber eine Möglichkeit.« Zu Hause hatte ich darüber munkeln hören, wußte aber auch, daß man darüber lächelte und es für ein Märchen hielt. »Weißt du, Heike, jedes Jahr ein Kind ist mir ein bißchen viel. Man wird so unbeweglich. Ich werde das versuchen, vielen Dank.« Eine einfache Fellachin hätte ihr wahrscheinlich eine wirkungsvollere Vorsorge empfehlen können, denn viele dieser Frauen waren bewandert im Heilen und wußten in der Kräuterkunde gut Bescheid. Aber an wen hätte Latifa sich vertrauensvoll wenden sollen. Wenn ein solches
Ansinnen bekanntgeworden wäre, die Strafe wäre nicht auszudenken gewesen. Mein Leben verlief in festen Bahnen, unterbrochen durch Briefe von meiner Mutter und den Zeitschriften, die sie mir schickte. Meine große Freude war Nessim. Viel Zeit verbrachte ich im Spiel mit ihm. Nach seiner Krankheit war er nicht wieder rund geworden, aber er war gesund und versuchte schon, sich an einem Stuhl oder seinem Wagen hochzuziehen. Ich hatte den Ehrgeiz, sein erstes Wort sollte ein deutsches sein – was natürlich albern war – und ich flüsterte ihm ständig deutsche Wörter ins Ohr. Gamal hatte meine lächerlichen Bemühungen mitbekommen und lachte. Immer wieder plapperte er ihm etwas vor und sagte zu mir: »Wetten, daß er zuerst Shams und nicht Sonne sagt.« Denn das in der Regel erste Wort aller Kinder fiel bei unserem Spielchen ja aus, »Mama« gibt es wohl in allen Sprachen dieser Welt. Es wurde zwar nicht gern gesehen, aber immer mal wieder ging ich in den Amerikanischen Club und genoß das Grün der Bäume, den einigermaßen instand gehaltenen Garten. In Tanta gab es ja nichts für Augen und Gemüt, und so flüchtete ich mich je nach Stimmung dorthin. Zwar konnte ich zu Hause vom rückwärtigen Balkon in den Garten sehen, in dem aber wegen Wassermangel nur fünf struppige Palmen ums Überleben kämpften. An der hinteren Begrenzung waren noch ein paar Kleintierställe zu sehen, aber ansonsten gab es nur Steinbrocken abgebrochener Terrassenstufen, Staub, Dreck und Unrat, der aus den Küchenfenstern einfach hinausgeworfen wurde. Auch wegen dem unvermeidlichen Gestank hielt ich mich nicht gerne dort auf. Hagg hatte Wort gehalten. Ich durfte mit ihm und Ahmed nach Dalmanhur fahren. Um drei Uhr nachts fuhren wir los. Da man auf Attala nicht verzichten konnte, fuhr
außer Ahmed nur noch Amer mit. Es war eine Fahrt von etwa einhundert Kilometern, und weil man durch den Zustand der Straßen nur mäßig schnell fahren konnte, waren wir etwa zum Sonnenaufgang da. Dalmanhur war eine Kleinstadt, die vorwiegend von Fellachen bewohnt war. Es gab nur unbefestigte Straßen, die sehr schmal angelegt waren. Die Häuser zu beiden Seiten waren größtenteils aus Lehm gebaut, und das Dach eines jeden Hauses bestand aus meterhohen Heuballen. Ich sah auch einige aus Stein gebaute Häuser, die sich äußerlich von den Lehmhäusern nur durch verglaste Fenster und feste Eingangstüren unterschieden. Einfache Ausschnitte stellten in den Lehmhütten die Fenster dar, und vor den Eingängen hingen Matten. Das Leben fand hauptsächlich im Freien statt. Vor den Hütten und Häusern saßen Frauen auf der Erde im Schneidersitz, mit Kleinkindern auf dem Schoß. Manche hatten einen Kochtopf auf einem dreibeinigen Petroleumkocher vor sich stehen und rührten in der nächsten Mahlzeit. Sobald sie unser Auto sahen, gingen die Köpfe hoch, Verrichtungen der verschiedensten Art wurden unterbrochen, und man machte sich gegenseitig auf unsere Anfahrt aufmerksam: »Hagg Abd El Kataf kommt mit seinem Sohn. Sieh, da sitzt die Chauageie hinten drin.« Daran hatte ich gar nicht gedacht: Sicher war die Geschichte von der Heirat des Sohnes von Hagg Abd El Kataf mit einer Europäerin als Sensation durch den ganzen Ort gegangen, und nun konnte man sich diese Ausländerin auch einmal ansehen. Ahmed saß schweigend in seiner Ecke, und ich rutschte noch tiefer in meinen Sitz. Hagg drehte sich um und lachte mich an: »Die Leute hier sind gutmütig und freundlich, und Attala wird aufpassen, daß sie nicht zu nah an dich herankommen. Ahmed und ich werden zunächst einmal nicht viel Zeit für dich haben, aber später setze ich mich zu dir.«
Wir fuhren auf eine riesige Staubwolke zu, und Hagg sagte: »Da heute Markttag ist, sind aus allen umliegenden Orten die Leute mit ihren Lasten und Tieren hierher unterwegs, und so viel Bewegung wirbelt natürlich noch mehr Staub auf als gewöhnlich. Hier wird alles verkauft, was die Bauern herstellen, anbauen und züchten. Wenn dir etwas gefällt, sagst du es mir, und ich kaufe es für dich. Aber du zeigst bitte kein Interesse für etwas, was dir gefällt, sag es nur mir.« Natürlich hatte ich bereits gelernt, daß »Schönfinden« den Preis in die Höhe treibt, und ich bemühte mich bei Kaufinteresse immer um eine gleichgültige oder sogar ablehnende Miene. Abgezäunt war der Platz unter der Staubglocke nicht, auf den wir jetzt im Schrittempo zufuhren, und trotzdem bewegte sich die Schlange der Interessenten auf eine bestimmte Stelle zu, die anscheinend allen als Eingang bekannt war, ohne daß man ihn extra markieren mußte. Ich sah Fellachinnen mit riesigen Obst- oder Gemüsekörben auf dem Kopf. Meistens trugen sie noch einen Säugling auf der Hüfte, und um sich vor dem Staub, den man fast mit Händen greifen konnte, zu schützen, hatten manche schwarze Tücher vor ihr Gesicht gebunden. Fellachinnen trugen über ihrer fußlangen Galabija einen schwarzen Schleier um den Kopf gewunden, das Gesicht blieb aber normalerweise frei. Einige hatten kleine Tätowierungen im Gesicht. Schwere Silberreifen hingen an Fuß- und Handgelenken, und jede hatte dicke Kajalbalken um die Augen gezogen. Schwerbeladene Eselkarren wurden durch die Menschenmenge geführt. Auch Kamele, die zu beiden Höckerseiten mit riesigen Körben mit Waren beladen waren, kamen dicht an unserem Auto vorbei. Endlich waren wir angelangt und stiegen aus. Attala führte mich durch das Gewühl zu dem Platz, an dem sich die Abd-El-Kataf-Männer zwischendurch
immer mal ausruhen und auch etwas trinken konnten, und ich sah ein erhöhtes Podest aus Holz mit einem improvisierten Sonnensegel. Es bot Platz für drei bis vier Stühle, und Attala sagte zu mir: »Setzen Sie sich dort oben hin. Ich bleibe unten stehen und passe auf. Hagg Abd El Kataf wird gleich wieder hiersein.« Nun saß ich erhöht mitten in diesem Hexenkessel, und von unten wurde mir sofort ein Glas mit Tee gereicht. Natürlich war meine Ankunft nicht unbemerkt geblieben. Die Neugier war groß, und man versuchte, so dicht wie möglich an mich heranzukommen. Attala hatte alle Hände voll zu tun. Da die Frauen meine Haare nicht erreichen konnten, die immer mal wieder gerne angefaßt wurden, wollten sie doch wenigstens meine Schuhe oder Beine berühren. Attala riefen sie zu: »Sie soll mal was sagen, wie spricht sie denn.« »Macht, daß ihr weiterkommt, ihr Weiber!« Aber auch die Fellachen in ihren bodenlangen Galabijas und den verschiedenartigsten Kopfbedeckungen blieben kurz stehen, um dieses fremdartige Wesen zu bestaunen, ehe sie ihren Unternehmungen weiter nachgingen. Ein klein bißchen bedroht fühlte ich mich schon und war sehr froh, als nach einiger Zeit Hagg auftauchte. Ganz in Ruhe betrachtete er den Menschenauflauf, dann sah er mich an, kam schnell auf mich zu und lachte laut und beruhigend. Er setzte sich zu mir, und schon löste sich die Menschentraube auf. Es gelang zwar immer mal wieder einer Fellachin, sich dicht an unsere erhöhten Stühle zu drängen, um ihrem Kind eine Chauageie aus der Nähe zu zeigen, aber Hagg brauchte nur kurz eine entsprechende Handbewegung zu machen, und schon huschte sie davon. Gelegentlich ließ Hagg aber auch die eine oder andere Fellachin zu uns rüberkommen, um in einen Korb zu sehen, der mit besonders schönen Mangas, wie hier die Mangos genannt wurden, oder frischen Feigen gefüllt
war. Wenn der Preis für ihn akzeptabel war, ließ er das Obst von Attala zum Auto bringen. Der Bürgermeister war gekommen und begrüßte Hagg und mich förmlich, dann lud er uns zum Essen ein. Mit den üblichen Floskeln des Begrüßungsrituals, die auch an mich gerichtet waren, verließ er uns wieder. »Hast du dir die Tiere angesehen? Sollen wir beide einmal ein bißchen rumspazieren, damit du besser sehen kannst, wie viele Tierarten von den Bauern angeboten werden? Du kannst dir auch Stoffe, Körbe und Töpferwaren ansehen.« Und nun schleuste Hagg mich durch die Menge. Attala schloß sich an, um eventuell Gekauftes zu übernehmen und dann zum Wagen zu tragen. Immer wieder mußten wir jemanden begrüßen, und die frommen Wünsche flogen hin und her. Bei manch einer Fellachin stellte sich Hagg abrupt vor mich und ließ sie nicht näher an mich heran. »Paß auf, daß sie sie nicht anfaßt«, sagte er dann zu Attala. Möglicherweise witterte er den bösen Blick. Nachdem ich mir Gänse, Enten, Hühner, Ziegen, Hammel, Kaninchen, Wasserbüffel und auch Kamele sowie die verschiedenartigsten Gemüse- und Obstsorten angesehen hatte, schlenderten wir langsam wieder zurück. Es war glühend heiß geworden und ging dem Mittag zu. Noch eine kleine Weile saßen wir auf unserem Podest, bis Ahmed erschien, um uns abzuholen. Der Bürgermeister wartete auf uns, und wir fuhren zu seinem kleinen Anwesen, das aus einem Steinhaus und umliegenden Lehmhäusern bestand. An einem zwischen den Häusern angelegten Spalier rankten Trauben, und unter dem schattenspendenden Laub hatte man einen Tisch mit Stühlen aufgestellt. Ein Lüftchen ging, und bei kühlem Mangasaft konnten wir uns erholen. Ganz in der Nähe drehte ein Wasserbüffel mit verbundenen Augen seine Runden um den Brunnen. Für Hagg holte man schnell einen kleinen Teppich, damit er sein Gebet
nachholen konnte. Die Frau des Bürgermeisters kam freundlich auf uns zu, um uns zu begrüßen. Immer wieder hatte ich beobachtet, wie Hagg bei der Begrüßung einer Fellachin seine Hand zurückzog, wenn diese sie küssen wollte. Auch jetzt wollte die Bürgermeisterin seine Hand küssen, und er trat einen Schritt zurück. »Wie geht es der Gesundheit? Gott sei mit dir und schenke dir seinen Segen. Hast du diesmal deine schöne Schwiegertochter mitgebracht, wie spricht man mit ihr?« »Sprich ganz normal mit ihr, sie versteht dich.« Etwas unsicher schielte sie in meine Richtung und murmelte die gehörigen Begrüßungsfloskeln. Nachdem Hagg gebetet hatte, saßen Ahmed, Hagg, Amer und ich mit dem Bürgermeister um den Tisch, und die Speisen wurden aufgetragen. Attala saß in der Nähe des Hauses mit einer Schüssel auf dem Schoß unter einem Baum und aß bereits. Schüssel um Schüssel wurde gebracht, mit Fleisch, Gemüse, Reis, Salaten, Käse und Brot, bis sich der Tisch bog. Die Bürgermeisterin stand mit ihren Kindern, die mich neugierig beäugten, abseits und bereit, eventuell geäußerte Wünsche sofort zu erfüllen, sie setzten sich jedoch nicht zu uns. Später würden die Ehefrau und die Kinder die Reste essen. So war es Brauch. Und obwohl das Essen phantastisch schmeckte, fühlte ich mich nicht ganz wohl. Eine Unterhaltung kam gar nicht erst auf, weil man die weiblichen Familienangehörigen als Dienstboten an der Seite stehen ließ und mich alle bestaunten, während ich aß. Man hatte mir sogar einen eigenen Teller mit Löffel gebracht, während alle anderen ihr Essen mit abgerissenen Brotstücken aus den Schüsseln nahmen. Reis wurde zu kleinen Kugeln gedreht mit der Hand in den Mund geschoben. Für unseren Nachtisch sorgte ein Töchterchen vom Bürgermeister, indem sie eine Schüssel voll Trauben vom Spalier über uns pflückte und diese herumreichte. Gesprochen wurde kaum. Von der Sonne
und dem Staub erschöpft, saßen wir uns gegenüber und genossen die nun langsam einkehrende Ruhe. Die Idylle dieser dörflichen Atmosphäre nahm mich gefangen: der Wasserbüffel, der wie in Urzeiten seine Runden zog, Trauben, die mir fast in den Mund wuchsen, die bis zum Boden schwarz gekleideten Fellachinnen, die in stolzer Haltung große Körbe oder Kannen auf dem Kopf beförderten und auf der Hüfte, in ein schützendes Tuch gehüllt, noch einen Säugling mit sich trugen. Wie viele tausend Jahre hatte sich wohl an diesen Bildern nichts geändert? Doch wie würde ich hier leben ohne fließendes Wasser, ohne Kanalisation, in Lehmhäusern unter Bedingungen, die ein Europäer sich selbst mit großer Phantasie nicht vorstellen konnte. Sollte ich mich nicht glücklich schätzen über den Zufall, der mir in Deutschland Ahmed Abd El Kataf über den Weg führte und nicht den Sohn des Bürgermeisters von Dalmanhur, der vielleicht mit Glück und Geld ein Stipendium erhalten hatte und an der Kölner Universität seinem großen Glück entgegenging? Unter tausend Dankesfloskeln machten wir uns langsam auf den Heimweg. Es war mittlerweile unerträglich heiß geworden, und unsere vollen Mägen ließen uns müde in die Wagenpolster sinken. Zu Hause angekommen, suchte jeder gleich sein Lager auf, um bis zum nächsten Gebetsruf zu schlafen.
7
Gefangen!
Immer mal wieder fragte ich Ahmed, wann wir die Wohnung auf der unteren Etage beziehen könnten, wann sie frei würde, und immer wieder hatte ich die Worte »Bokera, inshaallah – morgen, so Gott will« gehört. Die Umsiedlung in eine eigene Wohnung mit eigenem Hausstand lag mir sehr am Herzen, und ich wartete sehnsüchtig darauf. Aber Ahmed fühlte sich bei seiner Familie wohl und schien es damit gar nicht eilig zu haben. Als die Sprache einmal in Haggs Gegenwart darauf kam, sagte er: »In einem Monat muß die Familie ausziehen, dann bestelle ich die Anstreicher, und anschließend kannst du in deine Wohnung ziehen.« »Nur inshaallah, oder wirklich?« fragte ich ihn. Er lachte. »Gott wird wollen, daß es so ist. Heiuka, Heiuka, du und deine Ungeduld.« Ich wollte nicht heftig werden, das gehörte sich für eine Frau nicht. Aber gerne hätte ich ihm gesagt, daß wir mittlerweile bereits ein halbes Jahr in Ägypten waren und ich mich nach einem eigenen Wohnzimmer, einer eigenen Küche und einem eigenen Bad sehnte, und Nessim sollte endlich im eigenen Zimmer schlafen. Auf ein Kinderbett für Nessim wartete ich auch immer noch. Er war viel zu groß für seinen Kinderwagenkasten, in dem er schlief. Nichts geschah, und das machte mich unglücklich, denn auf jede Bitte und jede Frage hörte ich von Ahmed nur: »Deine verrückten deutschen Ideen. Hör endlich auf damit.«
Außer dem allabendlichen Kommando »Ich warte«, mit dem er mich in sein Bett zitierte, fiel kaum ein Wort zwischen uns. Ich fühlte mich gedemütigt, doch er schien das normal zu finden. Mir war klar, daß ich aufgrund meiner Herkunft schon Sonderrechte genoß, denn welche Frau mischte sich hier schon in eine MännerUnterhaltung ein. Welche Frau sah einem Mann geradewegs ins Gesicht und stellte ihm Fragen, wie ich das manchmal tat. Aber da Hagg diese »Unverschämtheiten« zu gefallen schienen, wurde meine Art in gewissen Grenzen toleriert. Ahmed dagegen schüttelte oft mit dem Kopf oder lachte über eine Äußerung von mir. Gerade er kannte doch unsere Sitten, unsere Mentalität, und gerade er hätte oft erklärende Worte finden können, wenn ich auf Unverständnis stieß. Aber es geschah nichts dergleichen. Im Gegenteil, er zog alles, was ich sagte, ins Lächerliche. An einem frühen Abend, als die Hitze langsam nachließ, hatte ich mich in unser Zimmer zurückgezogen. Ich saß mit einer Zigarette in der Hand auf einem Sessel vor der Kommode und las noch einmal einen Brief meiner Mutter. Ahmed kam ins Zimmer und blieb kurze Zeit an der geschlossenen Tür stehen. Er sah mich an und kam langsam auf mich zu. »Du wirst dir deine Hurenmanieren sofort abgewöhnen und nie wieder eine Zigarette rauchen.« »Was ist denn mit dir los, wie redest du mit mir?« »Dir werde ich jetzt zeigen, wie ich schon längst mit dir hätte reden müssen.« Er war jetzt bei mir angekommen, nahm die Zigarette aus meinen Fingern und das Päckchen, das auf der Kommode lag, und warf beides aus dem Fenster. Als ich protestierte, holte er aus und schlug mir mit aller Kraft ins Gesicht. Durch die Wucht des Schlages war ich vom Sessel auf den Boden gerutscht. Langsam versuchte ich
hochzukommen und tastete mich rückwärts in Richtung Fenster. Ahmed kam näher, schob mich aufs Bett und versetzte mir noch einen Schlag. Ich war starr vor Schrecken und völlig sprachlos. Langsam zu mir kommend, die Tränen liefen mir nun übers Gesicht, sagte ich: »Ob das nun das Ende unserer Ehe ist, weiß ich noch nicht. Aber ich möchte jetzt nach Deutschland reisen, das kannst du dir sicher denken. Sofort möchte ich reisen, für eine Weile mit Nessim dortbleiben und mich besinnen.« Er kam noch näher, zog mich an beiden Schultern vom Bett hoch und schüttelte mich grob. Dabei lachte er schallend laut: »Was willst du, nach Deutschland reisen? Versuch es doch mal, ohne Paß, ohne eine schriftliche Erlaubnis von mir.« Mittlerweile zitterte ich am ganzen Körper und fragte ihn schluchzend: »Was heißt hier ohne Paß, mein Paß liegt hier in dieser Schublade, und außerdem bin ich deutsche Staatsangehörige und kann jederzeit in mein Heimatland reisen.« Er lachte immer noch und konnte sich kaum beruhigen: »Du dumme Kuh, du Tochter einer Hure, dein Paß liegt gut verschlossen in Haggs Tresor, und du wirst ihn bestimmt nicht in die Finger kriegen. Und hättest du dich erkundigt, wüßtest du, daß du als Ehefrau eines Ägypters ohne seine schriftliche Erlaubnis nirgendwohin reisen kannst.« Niemals wäre es mir in den Sinn gekommen, daß man mir auf diese Art und Weise Gewalt antun könnte. War ich jetzt eine Gefangene? Er triumphierte regelrecht und war auch stolz auf sich, das konnte ich fühlen. Meine Tränen, mein Entsetzen, daß ich scheinbar machtlos war, reizte ihn nur noch mehr zum Lachen. Machte es ihm nichts aus, daß ich wider Willen als Ehefrau mit ihm leben mußte? Klar denken konnte ich in diesem Moment nicht, ich warf mich wieder aufs Bett und ließ den Tränen freien Lauf.
»Eine Frau hat ihrem Mann zu gehorchen, und wenn du das gelernt hast, wird es dir wieder bessergehen.« Mit diesen Worten verließ er das Zimmer. Wie ausgebrannt, aber einigermaßen beruhigt, wollte ich nach einer Weile ins Bad, um mir das Gesicht zu kühlen. Meine Augen waren zugequollen, und meine rechte Gesichtshälfte war feuerrot und angeschwollen. In der Hoffnung, niemandem begegnen zu müssen, öffnete ich die Tür, doch entsetzt wich ich zurück. Auf der Sofagruppe vor unserer Zimmertür hatten sich alle weiblichen Familienangehörigen versammelt. Meine Schwiegermutter lächelte mich an und sagte: »Komm, setz dich zu uns.« Als ich ihre Stimme hörte, begann ich wieder zu weinen. Alle redeten leise und beruhigend auf mich ein. Meine Fassungslosigkeit gewann wieder Oberhand, und ich schluchzte: »Warum hat er das getan? Was hat ihn dazu gebracht? Er sprach von seiner großen Liebe zu mir, und nun gebärdet er sich wie ein Unmensch.« »Natürlich liebt er dich über alles, das hat damit gar nichts zu tun. Sicher hat er sich über etwas geärgert. Mach dir nicht so viel draus. Ich habe Ibrahim nach Zigaretten geschickt, hier, zünd dir eine an.« Ich sah sie ungläubig an und nahm die Zigaretten an mich. Auch sie nahm sich eine. »Hast du mich noch nie rauchen sehen? Das hilft gegen Zahnschmerzen, Kopfschmerzen und insgesamt fühlt man sich besser. Sakäja, hol etwas Eis. Setti Heike muß ihr Gesicht kühlen!« Zu mir gewandt, zeigte sie nun auf ihr linkes Ohrläppchen. Schon oft war mir aufgefallen, daß ihre Ohrmuscheln und insbesondere die Ohrläppchen sehr viel größer waren als gewöhnlich. Das linke Ohrläppchen war zudem gespalten, und nun zog sie die beiden kleinen
Fleischlappen auseinander und lächelte: »Sieh her, das gehört dazu.« Wollte sie mir etwa damit sagen, daß Hagg, dieser Mann, den ich zwar als despotisch, aber durchaus auch als gütigen, hilfsbereiten Menschen kennengelernt hatte, ihr diese Verletzung mit dem gewaltsamen Ausreißen eines Ohrrings beigebracht hatte? »So sind die Männer eben«, sagte Latifa. Sie nahm meine Hand und fragte: »Was macht ein deutscher Mann, wenn er wütend ist oder wenn seine Frau ungehorsam ist?« »Sicher hat er nicht das Recht, seine Frau zu schlagen, ganz gleich aus welchem Grund. Das Gesetz gibt einer Frau, der so etwas passiert, das Recht, sich von ihm zu trennen.« Sie sah mich verständnislos an, und mir wurde in diesem Moment klar, daß ich erst gar nicht versuchen sollte, ihr das näher zu erklären. Sie würde mich nicht verstehen. Ich hatte mich in eine andere Welt begeben, in der eine Vermischung der ägyptischen und deutschen Kultur nicht möglich schien. Allah war das Gesetz und Mohammed sein Prophet, und wenn der Prophet es erlaubte, seine Frau zu verstümmeln oder totzuschlagen, wenn sie ungehorsam oder nicht demütig seinen Wünschen folgte, dann hatte sie es selbst verschuldet, und Allah war auf Seiten des Mannes. Anzunehmen, daß ich als Europäerin einen Sonderstatus genoß, war ein Irrtum gewesen. Nach dem für mich so schmerzlichen Vorkommnis mußte ich das einsehen. Ahmed schien alle Erinnerungen an seinen Deutschlandaufenthalt und an unsere Sitten und Gebräuche verloren zu haben, und mir war klar, daß sich seine Schläge jederzeit wiederholen konnten. Ich mußte lernen, die Auslöser für seine Gewaltausbrüche herauszufinden. Das würde schwierig werden, da ich nicht zur Demut erzogen war.
Auf Demut verstanden sich die hiesigen Frauen aufs beste, und in der Familie würde man mir da hilfreich zur Seite stehen, mir bei entsprechenden Gelegenheiten Hinweise geben, wenn ich zu vorlaut war. Selbstverständlich hatte ich als »verrückte Deutsche« einen gewissen Freiraum, nur mußte ich achtgeben, daß ich mit der durch mein Naturell bedingten offenen, neugierigen Art nicht die Grenzen überschritt. Für meine Schwiegermutter und Schwägerinnen war ich jetzt durch Ahmeds Verhalten eine von ihnen geworden. Das zeigte sich insbesondere im Umgang mit Hagge, die nun unkomplizierter und freundlicher wurde. Mir schien, daß sich diese größere Anerkennung im Umgang mit mir bis zum letzten Glied der Hierarchie fortsetzte, und Sakäja erfüllte einen von mir geäußerten Wunsch mit demütigem Gehorsam nun sofort, ohne wie bisher ihrer Herrin einen fragenden Blick zuzuwerfen. In den folgenden Tagen war ich in Gedanken sehr oft zu Hause in Deutschland und bei meiner Mutter, und ich hörte sie sagen: »… wenn im Zusammenleben von Mann und Frau Gewalt ins Spiel kommt, sollte eine solche Gemeinschaft aufgelöst werden. Gewalt ist die letzte Stufe, da muß Schluß sein. Als Frau akzeptiert man damit ein Niveau, das man nicht akzeptieren darf.« Mit einer Freundin hatte sie sich einmal über ein Ehepaar in der Nachbarschaft unterhalten und ihr Unverständnis darüber geäußert, daß die betroffene Frau die beabsichtigte Scheidung nur zögerlich betrieb. Für einen Brief an sie mußte ich jetzt wohl noch einige Zeit verstreichen lassen. Mit diesen frischen Eindrücken würde ich in Versuchung kommen, ihr mein Herz auszuschütten, und sie würde sich große Sorgen machen, nicht mehr richtig schlafen können. Wie gut ich es angetroffen hatte, daß es mir hervorragend ging, hatte ich ihr immer geschrieben.
Obwohl das Leben in seiner gewohnten Weise verlief, mein kleiner Nessim mich zum Lachen brachte, wenn er mit seinen wackeligen Beinchen durch die Säle mehr fiel als lief und seine ersten Worte plapperte, mal arabisch, mal deutsch, verfiel ich zeitweise in Depressionen. Ich schloß mich dann mit einem kleinen Radio, das mir Hagg einmal mitgebracht hatte, in unser Zimmer ein, um auf die Stunde der Deutschen Welle zu warten. Wie im Himmel lauschte ich der deutschen Ansage, den deutschen Nachrichten und vor allem der deutschen Musik. Aber dieser Trost bekam mir scheinbar gar nicht. Manchmal geschah es, daß ich nach anfänglichen Tränen in regelrechte Weinkrämpfe verfiel und ich mich mit meinem verweinten Gesicht lange Zeit nicht draußen blicken lassen konnte. Das durfte ich nicht zulassen, ich quälte mich selbst, und in der Familie würde kein Mensch Verständnis haben, und sicher würde es für das Miteinander nicht gut sein, wenn man meine derzeitige Gemütsverfassung bemerkte. Ich gab mir also Mühe, und es gab ja auch Erfreuliches. Mit der Zeit hatte ich an Umgangsarabisch einiges dazugelernt, und es machte mir Spaß, die richtige Aussprache zu üben, und immer wieder wurde ich gelobt. Mit Nessim jedoch sprach ich nur deutsch. Jetzt, da er sprechen lernte und nur Arabisch hörte, hatte ich die Befürchtung, die eine Sprache könnte die andere überlagern und die deutsche Sprache könnte zu kurz kommen. Er sollte doch zweisprachig aufwachsen. Ich würde ihn in der deutschen Sprache in Wort und Schrift unterrichten, und in der Schule würde er Englisch, Französisch und Arabisch lernen. Eine herrliche Vorstellung; er würde in allen Ländern dieser Erde zurechtkommen, und auch bei einem eventuellen Studium würde es keine Schwierigkeiten durch Sprachbarrieren geben.
8
Die Liebe von Gamal und Hanan
Niemand erwähnte den Nachmittag mit Ahmed, der so viel für mich veränderte, und selbst Gamal, der sich bei seinen Besuchen immer wieder nach meinen neuen Erlebnissen erkundigte, verlor kein Wort darüber. Wenn in den heißen Stunden des Tages die ganze Familie bis zum frühen Abend schlief, war es für mich am langweiligsten. Schlaf am Tag hatte ich noch nie gebraucht, und selbst hier konnte ich mich nicht daran gewöhnen. Aber auch Gamal legte sich selten nieder, und so saßen er und ich im kleinen Saal auf den Kanapees und unterhielten uns. Sein bevorzugtes Thema war seine große Liebe zu Hanan. Sie war ein junges Mädchen, deren »Bekanntschaft« er im Vorbeispazieren durch Blickkontakt von der Straße zum Balkon gemacht hatte. Eine lange Zeit konnte er mit ihr kein Wort wechseln, bis die beiden schließlich einmal Hanans ständige Begleitung überlistet hatten. Nun wurde oft heimlich telefoniert, und auch die Anstandswächterin ließ die beiden auf dem Schulweg oder bei Einkäufen schon mal ein Lächeln oder zwei Worte austauschen. Unter Wahrung aller Vorsichtsmaßnahmen war dann irgendwann auch ein Rendezvous in größter Heimlichkeit zustande gekommen, und Hanan hatte Gamal erzählt, daß ihre Hochzeit mit einem Mann, den ihre Familie bereits vor Jahren für sie ausgesucht hatte, beschlossen worden sei. Hanan und Gamal liebten sich, und es folgte eine tränenreiche Zeit. Das Mädchen hatte versucht, ihre
Eltern umzustimmen, das Resultat war jedoch eine noch strengere Bewachung, und an ein Treffen war nicht mehr zu denken. Nur telefonieren war noch möglich, und die Hochzeit mit dem von den Eltern Hanans ausgesuchten Bräutigam fand statt. Diese Romanze wäre wohl zu Ende gewesen, hätte sie sich in einem anderen Teil der Welt zugetragen. Hier jedoch begann sie nun. Da Hanans Unschuld nun nichts mehr geschehen konnte, traf man sich zu allen Zeiten, in denen der Ehemann seinem Beruf oder anderweitigen Beschäftigungen nachging. Hanan schenkte nach einem Jahr einer Tochter das Leben, wobei nicht klar war, wer von den beiden Männern der Vater war. Selbstverständlich mißfiel den beiden Liebenden dieser Zustand. Ganz abgesehen davon, daß eine solche Affäre tödlich enden konnte, wenn dem Ehemann auch nur gerüchteweise etwas zugetragen worden wäre. Die beiden hatten herausgefunden, daß sie füreinander geschaffen waren, und unter jeder neuen Trennung litten sie sehr. Aus diesem Grund begann Hanan nun, sich immer mal wieder über ihren Ehemann bei ihrer Mutter zu beschweren, mit dem Ziel, daß auch der Vater mit der Zeit gegen den Schwiegersohn eingenommen würde, wenn er erführe, wie unglücklich seine Tochter mit ihm ist. Da die Väter die unbestrittenen Herrscher in der Familie sind, konnte nur er es sein, der, von den Tränen seiner Tochter gerührt, in irgendeiner Weise intervenierte und die Sache in die Hand nahm. Eine langwierige Geschichte, von der man nicht wußte, wie sie durchgestanden werden sollte. Eine offizielle Möglichkeit, diese Ehe zu beenden, gab es nur dann, wenn dem Ehemann an seiner Frau etwas mißfiel und er sie verstieß. Das konnte sehr schnell gehen, er brauchte vor Zeugen nur dreimal »Ich verstoße dich« zu sagen, und die Ehe war dann vor dem Gesetz geschieden. Hanan hätte eine solche Lösung provozieren können, aber auch
Gamal war zu diesem Zeitpunkt nicht begeistert davon. Die Ehefrau kam durch eine Scheidung immer in ein schiefes Licht, und auch der Ruf seiner Familie würde leiden. Da aber der Ruf und das Ansehen der Familie über alles gingen, wählte man die erste und zeitraubendere Möglichkeit und hoffte. Gamal kam oft von seinen heimlichen Besuchen bei der Geliebten in verzückter, aber auch wehmütiger Stimmung nach Hause. Hier wußte man von dieser Geschichte, verlor aber niemals ein Wort darüber. Er konnte also nicht darüber reden. Als er es mir dann erzählt hatte, hatte er in mir eine Gesprächspartnerin. Vor allem hatte er sehr schnell herausgefunden, daß mein Verständnis von Liebe, Ehe und Ehre ein ganz anderes war als das ihm bekannte. Nur verkehrte er mit seinen tiefverwurzelten Moralvorstellungen meine Äußerungen oft ins Gegenteil, was mich unangenehm berührte. Er verstand weder mich noch das, was ich sagte. Er glaubte, daß in dem Land, aus dem ich kam, auf dem Gebiet der Liebe oder dessen, was man dafür hielt, grenzenlose Freiheit galt. Durch ihn erkannte ich irgendwann, wie Ahmed dazu kam, mich als Hure zu beschimpfen, wenn ich die Absicht äußerte, ohne Begleitung Einkäufe zu machen. So geriet Gamal bei seinen begeisterten Schilderungen über Hanan oft in Details, die die Grenzen des guten Geschmacks überschritten, ohne daß es ihm bewußt war. Seiner Meinung nach konnte man mit einer Frau wie mir so reden. Da ich es nicht schaffte, ihn durch Erklärungen meiner Gefühle von seinen sehr offenen Geständnissen abzuhalten, ging ich dazu über, die Augen niederzuschlagen und dann in eine andere Richtung zu sehen. Das kannte er gut, wenn auch bei den hiesigen Frauen aus anderen Gründen. Sein Verständnis setzte zu meinem Erstaunen allmählich ein, und es kam nicht mehr zu den peinlichen Gesprächspausen.
Gamal und ich verstanden uns sehr gut. Er war von ähnlich impulsiver Art wie ich, und Neuigkeiten sprudelten meistens aus ihm heraus. Oft sah ich ein Lächeln über Haggs Gesicht huschen, wenn sein zweiter Sohn, ein Lied singend, zur Tür hereinkam. Nicht oft kam es vor, daß jemand gute Laune zeigte in dieser Familie. Obwohl Männer unter sich oft ausgelassen und sogar albern waren, lautes Lachen über dumme Anzüglichkeiten waren an der Tagesordnung. Auch bei den Frauen war das nicht viel anders. Die Leistungsfähigkeit ihrer Ehemänner im Bett wurde, von kreischendem Gelächter begleitet, oft ausführlich diskutiert. Gemeinsame Gespräche oder Fröhlichkeit unter Männern und Frauen gab es jedoch nie. Sobald jemand vom anderen Geschlecht im Raum erschien, schwieg man. Die Tatsache, daß Gamal die Liebe seines Lebens gefunden hatte, war nicht etwa ein Grund, daß er die anderen Frauen dieser Welt nicht mehr wahrnahm. Die Liebe war allgegenwärtig, und die langen Gesänge von Um Kalzoum troffen von Sehnsucht, Verlangen und Liebesglut. Den Ägyptern lag es im Blut, diesen verzückt geschluchzten, Stunden dauernden Gesängen mit Hingabe zuzuhören und sich zu identifizieren mit den Liebenden, die nie zueinanderfinden konnten. Die Liebe und das Verlangen, das aus aller Frauen Augen verräterisch herausstrahlte, wurde durch ständig niedergeschlagene Augen verborgen. Nie sah ich eine Frau einen unbekannten Mann mit offenem Blick ansehen. Da es ja aber keine Berührungsmöglichkeiten zwischen den Geschlechtern gab, verfiel man auf die merkwürdigsten Schliche, um ein kleines bißchen Lust zu erhaschen. So kam Gamal einmal von Kairo zurück und erzählte mir voll Begeisterung einen Vorfall, der nicht nur seine Doppelmoral beleuchtet.
»Heiuka, eben bin ich in einem überfüllten Bus durch Kairo gefahren, und ganz vorne in der Nähe des Fahrers stand ein wunderschönes Mädchen. Tatsächlich habe ich es geschafft, ganz in ihre Nähe zu kommen, obwohl die Leute fürchterlich schimpften. Ich mußte viele zur Seite schieben und mich ständig entschuldigen. Aber irgendwann stand ich ganz nah bei ihr, und stell dir vor, ich konnte sie anfassen. Ich habe wirklich ihren Busen berührt, und sie hat es in diesem Gedränge nicht einmal bemerkt. Bei Allah, das war wunderschön.« Er war immer noch hellauf begeistert über seine Unverschämtheit. Dieser verqueren Moral und Ehrenhaftigkeit der behüteten Töchter hatte es manches Hausmädchen zu verdanken, daß sie von den Söhnen des Hauses mitunter in dunkle Ecken oder aufs Dach gezerrt wurde, wenn sie Hitze und Temperament nicht mehr zügeln konnten. Das war kein Geheimnis, man hatte Verständnis und lächelte. Selbstverständlich mußte eine Frau unschuldig in die Ehe gehen. Damit da auch keine Zweifel aufkommen konnten, gab es die Sitte, ein blutbeflecktes Tuch nach dem Vollzug der Ehe, der während der Feierlichkeiten stattfand, herauszureichen. Ich erlebte das bei Ahsähns Hochzeit; der anschließende Jubel war groß. Als ich Gamal auf dieses Risiko für die Mädchen ansprach, meinte er: »Es gibt Mittel und Wege, mach dir da mal keine Sorgen.« Wie jeden Tag saß man am frühen Abend beim Tee zusammen. Alle Fenster und Türen waren geöffnet, die Sonne wurde gnädig. Im kleinen Saal fanden sich langsam alle ein. Zum Teil noch schlaftrunken, nahmen die Familienmitglieder ihren Tee von Hagg dankend an. Auch ich ging auf ihn zu, und er sah mir entgegen, hielt mir mein Glas hin und sagte: »Heiuka, du ißt zuwenig.« »Hagg, ich esse wie immer, und es schmeckt mir gut.«
»Wieso siehst du dann immer noch aus wie ein junges Mädchen. Etwas rundlich wäre schön und auch angemessener. Dein Sohn ist bereits ein Jahr alt, und du könntest seine Schwester sein.« Fürs Haus hatte ich mir Hosenanzüge machen lassen, die ich wesentlich schöner fand als die hier bevorzugten Galabijas. Schmal geschnittene Hosen und taillenkurze Oberteile betonten natürlich meine Figur, und alle wurden daran erinnert, daß immer noch kein weiteres Kind unterwegs war. »Sag, Heiuka, wann wird Nessim endlich einen Bruder bekommen? Ahmed, hast du gehört, was ich deine Frau gefragt habe? Es wird jetzt Zeit, Allah ist mit dir.« Ahmed, der sich verschlafen auf dem Kanapee rekelte, sah seinen Vater kurz an und dann betreten vor sich. Natürlich gefiel das auch ihm nicht. Was konnte nur der Grund sein. Vielleicht war es die Milchfrau mit dem bösen Blick oder ein Dschinn, der sein Unwesen in meinem Kopf trieb. Man munkelte, ich wolle meine Mutter besuchen, Ahmed gebe aber seine Einwilligung nicht. Es sei auch klar, daß er das nicht wolle, ich sei eine widerborstige Person, und überhaupt sei Allah nicht mit mir. Ahsähn trug mir solche Dinge zu, und obwohl sie mich noch weniger verstand als die anderen, mochte sie mich. Hagg nutzte die Gelegenheit für etwas, das ihm schon lange auf dem Herzen gelegen haben muß. »Heiuka, weißt du eigentlich, daß alle Ungläubigen sofort nach ihrem Tod in die Hölle fahren?« »Ich bin keine Ungläubige. Ich gehöre der katholischen Kirche an, und auch in unserem Glauben gibt es ein ewiges Leben, und wenn wir gemäß unseren Geboten unser Erdendasein hinter uns gebracht haben, steht uns der Himmel offen, genau wie euch.« »Das ist ein Irrtum, ihr werdet alle mit Verdammnis bestraft. Ich möchte dich gerne davor bewahren. Mir tut
das Herz weh, daß Allah mit uns allen in diesem Hause ist, nur nicht mit dir.« Ein Flehen war nun in Blick und Stimme, als er sagte: »Werde Muslimin, Heiuka, und alles wird gut werden. Allah wird dich belohnen und dir viele Kinder schenken. Du wirst glücklicher sein, als du es je warst.« Ich schüttelte langsam den Kopf. »Das kann ich nicht, was würdest du sagen, wenn ich dich überreden wollte, zum Katholizismus überzutreten?« »O Allah, das ist etwas ganz anderes. Nur durch den Islam und Allahs Wille wird ein Mensch ins ewige Leben eingehen. Du tust dir Schreckliches an, glaube mir.« Er hatte mit großer Überzeugungskraft und Pathos, ja schon fast mit Panik gesprochen. Und wieder schüttelte ich den Kopf. Er sah mich ungläubig an und konnte es nicht fassen. Um ihn herum gab es niemanden, der ihm je widersprochen hätte, und er war fassungslos. Gamal mischte sich jetzt ein: »Baba, weißt du nicht, daß die Katholiken von ihrer Religion das gleiche sagen wie wir von unserer? Laß ihr Zeit.« »Alles, was man den Ungläubigen erzählt, sind Lügen, nichts als Lügen. Das Heil gibt es nur bei Allah.« »Mohammed und Jesus haben gelebt, beide waren Propheten. Das ist eine Tatsache, und man kann es nachlesen.« »Gamal«, rief Hagg aus, »solche Worte will ich nie wieder von dir hören.« Gamal entschuldigte sich leise und verließ den Raum. Aus welchem Grund reagierte Hagg so heftig? Es konnte doch nicht sein, daß er nicht wußte, daß Mohammed im Koran Jesus einen Rechtschaffenen genannt hatte. Hagg wandte sich nun wieder mir zu und sagte: »Heiuka, drängen will ich dich nicht. Aber du wirst mit der Zeit erkennen, daß ich recht habe. Es gibt nur einen Gott, und Mohammed ist sein Prophet. Das Glück und das
Seelenheil ist uns vorbehalten. Es gibt außerdem noch einen wichtigen Punkt, den du wissen solltest. Mit der ägyptischen Staatsangehörigkeit und dem Übertritt zum Islam bist du erbberechtigt. Da du nichts in die Ehe eingebracht hast, kann ich wohl davon ausgehen, daß deine Mutter nichts hatte, was sie dir hätte mitgeben können. Es entspricht nicht unseren Sitten, was du vielleicht nicht gewußt hast, ist abgesehen davon aber sehr betrüblich. Nach deiner Konversion hättest du hier alle Rechte eines ägyptischen Staatsbürgers und würdest in den Genuß unseres Erbrechts kommen. Da du, wie ich bemerkt habe, den Verstand eines Mannes hast, wird dich dieses Wissen mit der Zeit belasten, und du wirst mit der Zeit das Richtige tun.« Alle anderen Familienangehörigen hatten langsam den Raum verlassen. Ich saß vor meinem kalt gewordenen Tee und sagte nichts mehr. »Sakäja, nimm das Tablett weg und mach Ordnung!« Das Mädchen kam windesschnell, räumte fast geräuschlos die Gläser aufs Tablett und verschwand damit in der Küche. Wieder einmal hatte ich es geschafft, diese Menschen in unbegreiflicher Weise vor den Kopf zu stoßen. Wenn ich Dinge sagte oder tat, die nur mit einem Kopfschütteln quittiert werden konnten, war immer Hagg es gewesen, der nach dem Warum gefragt hatte. Er gehörte nicht zu denen, für die in Alexandria die Welt zu Ende war. Es war ihm klar, daß ich aus einem anderen Kulturkreis kommend anders handelte und reagierte, und er wischte es nicht vom Tisch, wie das sein Sohn Ahmed tat. Er gab sich Mühe und fragte nach allem, was ihm fremd vorkam. Seinen Versuch, mir Verständnis entgegenzubringen, mußte ich schon allein deswegen als Besonderheit würdigen, weil ich eine Frau war. Die Meinung einer Frau, wenn sie denn überhaupt geäußert wurde, galt nichts. Die Existenzberechtigung einer Frau
erschöpfte sich in Kindergebären und Gehorsam. Ansonsten hatte sie zu schweigen und zu dem Mann aufzuschauen. Schlimm war vor allem, daß ich mich vor den anderen Haggs Wunsch widersetzt hatte, und sie versuchten, es für mich wiedergutzumachen, indem sie ihm nun besonders höflich und demütig begegneten. Man war am heutigen Tag nicht mit einem Lächeln und guten Wünschen auseinandergegangen. Ich saß zum Schluß allein auf dem Kanapee, und Hagg ging schweigend an mir vorbei, als er das Haus verließ. Er hatte sich umgezogen und ließ sich in die Stadt fahren. Zwischenzeitlich war die Familie in der ersten Etage ausgezogen, und Anstreicher waren bestellt worden. Schon vor längerer Zeit hatte ich meiner Mutter von dem bevorstehenden Umzug berichtet und sie gebeten, mir Zeitschriften zu schicken, in denen ich Vorschläge zur Raumgestaltung finden würde. Im Vordergrund standen für mich nicht Möbel, in Anbetracht der Größe der Räume schwebten mir Säulen und Raumtrenner vor. Ich hatte Skizzen angefertigt und die verschiedensten Lösungen zu Papier gebracht. Einen gitterähnlichen, aus Mauerwerk errichteten Raumteiler hatte ich an der mittleren Haupteingangstür vorgesehen, den man als Garderobe nutzen konnte. Tagelang lief ich durch die leeren Räume, hatte immer wieder neue Ideen und verwarf sie wieder. Einzig die Küche konnte ich außer dem Anstrich belassen, wie sie war. Hier waren Regale in den Wänden eingelassen, welche wie Wandschränke mit Glastüren verschlossen wurden. Das gefiel mir ausgesprochen gut. Die Türen würden später weiß und die Einfassungen der kleinen Scheiben und der äußere Rand der Türen mit Hellblau abgesetzt. Weiß gestrichen, mit den beiden gegenüberliegenden Marmortischen und den großen Fenstern, würde das ein harmonisch
praktischer Raum werden, in dem man sich wohl fühlen konnte. Hier konnte ich auch mal ein Liedchen pfeifen, ohne ein fragendes Lachen oder gar Mißfallen zu erregen. Diese Wohnung würde meine Insel sein. Alles würde gut werden. Wieder ging ich durch den großen Saal und sah im Geiste im hinteren Drittel eine freistehende Polstergruppe. Zwischen Sesseln würde ein riesengroßer Ficus benjamin stehen und sich klar gegen die dahinter liegende Balkontür abheben. Und überhaupt viel Grün mußte her. Vielleicht würde das ja meiner Familie auch gefallen. Nicht einen Moment hatte ich daran gedacht, daß die Umsetzung einer Idee in die Tat hier Jahre dauern konnte. Als ich so mit meinen Plänen beschäftigt einmal wieder nach oben kam, herrschte Aufregung und geschäftiges Hin und Her. In dem Zimmer, das man für Latifa und ihre Kinder hergerichtet hatte, stand eine fremde Frau, die mit Hagge sprach, während Latifa auf dem Bett lag. Die Wehen hatten eingesetzt, und sie sah ihrer Niederkunft entgegen. Zwei Tanten hatten sich eingefunden und saßen vor Latifas Bett mit erwartungsvollen Mienen, und immer mal wieder wurde Gottes Segen erfleht. Latifas Kinder liefen rein und raus und spielten. Nur wenn sie sich ans Fußende von Latifas Bett setzen, wurden sie zur Ruhe angehalten. Zeitweise verfolgten sie das Geschehen sehr interessiert und ließen die draußen Stehenden wissen, daß alles in Ordnung sei und das Brüderchen gleich komme. Von Latifa selbst hörte man keinen Ton. Als Gebärende hatte man sich still zu verhalten, man klagte nicht, das war unehrenhaft. Ich hatte mich auf den Balkon zurückgezogen und war gerührt von Latifas Tapferkeit; dieses öffentlich stattfindende Ereignis setzte mich in Erstaunen. Ich dachte an den Kreißsaal, in dem ich unter Ausschluß der Öffentlichkeit Nessim zur Welt gebracht hatte. Nicht einmal die werdenden Väter durften damals anwesend
sein. Der rüde Ton des Personals war mir noch gut in Erinnerung. Ich hatte fast vierundzwanzig Stunden geschrien und immer wieder nach meiner Mutter gerufen. Als ich dann völlig entkräftet auf einer Bahre unter Zuhilfenahme von Äther in Unempfindlichkeit hinüberglitt, war mir noch kurz bewußt geworden, daß sich zwei Ärzte auf meinen Leib legten, um das widerspenstige Kind ans Licht zu befördern. Später sah ich im Spiegel, daß meine Augen blutunterlaufen und auch das ganze Gesicht von geplatzten Äderchen übersät war. Hier erlebte ich nun liebevollen Zuspruch für die in den Wehen Liegende und das beruhigende Geraune von Gebeten im Kreis der Verwandtschaft. Nach etwa drei Stunden wurde uns das kleine Mädchen gezeigt, das Latifa zur Welt gebracht hatte. Es war ein gesundes Kind, und ich ging ins Zimmer, um zu gratulieren. Als ich mich zu ihr auf die Bettkante setzte, lag sie ganz ruhig da und hatte ihr Gesicht zur Wand gedreht. Ich nahm ihre Hand, sie sah mich an und begann zu weinen. »Latifa, alles ist vorbei, und du hast eine gesunde Tochter.« Noch während ich das sagte, wurde mir bewußt, daß eine Tochter nicht unbedingt ein Grund zur Freude war, und ich fügte hinzu: »Dein nächstes Kind wird wieder ein Sohn und so schön wie Anwar sein.« Jetzt weinte sie noch heftiger, und mir fiel ihre Frage ein: »Wie machst du es, daß du keine Kinder mehr bekommst?« Das Kind nannte man Seija, und es wurde in ein Körbchen neben Latifas Bett gelegt. Mit Verwunderung beobachtete ich, daß sie das Kind nicht stillte. Von Anfang an wurden Fläschchen bereitet, und das Kind lag unbeachtet in seinem Korb. Man hatte dem Kind den Sauger der Flasche ins Mündchen geschoben und die Flasche etwas erhöht gelegt, damit sie nicht wegrollen
konnte. Hagge nahm die Kleine schon mal auf den Arm und trug sie umher. Für Latifa jedoch schien das Kind nicht zu existieren. Als sie sich erholt hatte, saß sie wie immer die meiste Zeit stumm und unbeweglich auf dem Balkon. Hagge rief sie nach einiger Zeit zu sich und machte ihr leise Vorwürfe. Was Latifa darauf antwortete, konnte ich nicht hören, das Körbchen holte man jetzt aber aus dem Zimmer und stellte es in den Küchenflur, damit die Mädchen auf das Weinen des Kindes achten konnten. Manchmal sah ich Hagge dort stehen und unbeweglich auf das Kleine starren. Keinem konnte das merkwürdige Verhalten Latifas entgehen, und auch Hagg zog sie beiseite: »Gott wird dich strafen, Tochter. Was tust du dem Kind an?« »Dem Kind geht es gut, Papa. Man hört es nicht einmal weinen.« Das war richtig, man hörte es in der Tat nicht weinen. Wenn sein Fläschchen einmal zur Seite rollte, war manchmal ein dünnes Wimmern zu hören, das nicht einmal bis in den nächsten Raum drang. Ahsähn nahm die Kleine ab und zu hoch, um sie aus den verdreckten Tüchern zu holen. Ansonsten hatte ich den Eindruck, die Familie wollte das Kind vergessen. Wenn Hagg schon einmal zur Küche ging, was selten vorkam, und er hörte das Wimmern aus dem Körbchen, rief er laut: »Latifa, deine Tochter weint, kümmere dich!« Latifa blieb dann einfach sitzen und tat so, als habe sie nicht gehört. Im täglichen Ablauf des Lebens mit der entsprechenden Geräuschkulisse, Radiomusik und Läuten des Telefons vergaß man das Kind. Jeder ging achtlos an dem Korb vorbei, und so hatte man wohl auch nicht bemerkt, daß nach einer Weile kein Lebenszeichen mehr aus dem Bettchen kam. Als Sakäja einmal nach der Kleinen sehen
wollte, schrie sie plötzlich auf. Hagge lief hinzu, nahm das Kind auf den Arm und ging zu ihrer Tochter. »Sieh, was geschehen ist, Latifa, was hast du uns angetan? Deine Tochter ist tot.« Latifa nahm das tote Kind auf den Arm, sah es an und weinte und weinte, konnte sich kaum mehr beruhigen. Nun liefen alle herbei und schrien und klagten, zerrissen ihre Kleider und die um den Kopf gewundenen Tücher. Ich verstand nichts, was waren das für eigenartige Naturen? Wochenlang waren sie an dem sterbenden Kind achtlos vorbeigegangen, und nun konnten sie sich nicht fassen vor Trauer. Ergriffen stellte ich mir die Frage, ob die Kleine krank gewesen war, die Lieblosigkeit sie umgebracht hat, oder war sie einfach nur verhungert? Die Todesursache allerdings schien hier niemanden zu bewegen. Shiker wurde benachrichtigt, und er kam sofort. Auch er zeterte und weinte, obwohl er nicht einmal gewußt hatte, daß das Kind geboren war. Er hatte es nie gesehen, und nun tröstete man sich gegenseitig ob des großen Verlustes. Shiker reiste am zweiten Tag zurück nach Kairo, es hatte wohl wieder eine Unterredung stattgefunden. Offenbar sollte es eine Versöhnung geben, und Latifa erklärte sich bereit, mit ihren beiden Kindern nach Kairo in die bereits mit den Möbeln aus Tanta hergerichtete Wohnung zu ziehen. Sicherlich hatte man Latifa in dieser Richtung zugeredet. Nach allem, was ich im Laufe der Zeit aufgeschnappt hatte, blieben Kinder nach Trennung der Eheleute nur bis zu einem bestimmten Alter bei der Mutter, Mädchen bis zu ihrem achten und Jungen bis zu ihrem sechsten Lebensjahr. Ganz gleich aus welchem Grund die Trennung vollzogen wurde, die Kinder wurden dann im Haushalt des Vaters erzogen. Obwohl Latifa immer einen gequält gelangweilten Eindruck im Umgang mit ihren Kindern gemacht hatte, konnte ich mir ihr Einverständnis mit einer solchen Regelung nicht vorstellen. Es gab da
nicht allein Geduld oder Gleichgültigkeit, in manchen Gesten und Blicken war Liebe zu ihren Kindern zu spüren. Vielleicht ahnte sie auch entfernt, daß sie aus ihrer Depression einmal aufwachen würde, und sie würde dann feststellen müssen, daß die Konsequenz ihres jetzigen Handelns der Verlust all dessen gewesen war, was Glück und Erfüllung für eine ägyptische Frau bedeutete. Zudem war die Situation schon sehr kritisch; der Ruf und die Ehre der Familie standen auf dem Spiel. Nun wurde die Schneiderin bestellt und eine Reihe von Kleidern, Blusen und Röcken wurden für Latifa in Auftrag gegeben. Es kam eine etwas freundlichere Stimmung auf. Sakäja und Ahsähn hatten alle Hände voll zu tun. Kisten und Koffer wurden gepackt, und immer mal wieder mußte eines der Mädchen zur Schneiderin, um Änderungswünsche für das eine oder andere Kleidungsstück bekanntzugeben. Nach mehrmaligen Anproben war dann alles fertig, und für die Abreise wurde alles bereitgemacht. Wegen des vielen Gepäcks saßen am Tag des Abschieds außer Attala nur Latifa mit Kita und Anwar im Wagen. Hagge nahm ihre Tochter noch einmal zur Seite: »Tifi, sei eine brave Frau und achte auf deine Kinder, Gott schenke dir seinen Segen und seine Gnade. Gehorsam mußt du sein, Shiker ist kein schlechter Mann.« Latifa lächelte in gewohnter Weise: »Ja, Mama, er ist kein schlechter Mann.« Weihnachten rückte näher, und meine Sorge, wie ich das Fest der Feste wohl feiern könnte, nahm mich in Anspruch. Niemals hatte ich daran gedacht, einmal in einem Land zu leben, in dem man Christi Geburt nicht feiert. In Deutschland waren die Tage jetzt kalt, und ich hatte diese Jahreszeit nie besonders gemocht. Nie hätte ich gedacht, daß ich das Knirschen des Schnees und Schlittenfahrten vermissen könnte. Jetzt würden
Plätzchen gebacken werden und ganz für sich überlegt, mit welchem Geschenk man Freude bereiten konnte. Geheimnistuerei und verschlossene Türen gehörten dazu. Dieses Thema brachte ich vor der Familie zur Sprache, und Hagge sah mich liebevoll an: »Sag mir, was du brauchst, und ich besorge es dir. Sakäja wird Plätzchen für dich backen, und Ahsähn kauft Süßigkeiten in der Stadt. Was brauchst du sonst noch?« »Hier gibt es keine Tannenbäume, die wachsen hier nicht«, ließ sich Ahmed vernehmen. »Aber vielleicht etwas Ähnliches. Ich möchte Nessim doch so gern zeigen, wie man deutsche Weihnacht feiert.« »Nessim ist kein Deutscher.« Hagge nahm mich bei der Hand, als sie merkte, wie ich schluckte. »Ahmed wird sich in Alexandria umsehen und für dich und Nessim einen grünen Baum mitbringen. Du wirst ihn schmücken, wie du es erzählt hast, und dein Fest feiern.« Für Nessim hatte ich bereits einen Pullover mit einer dazugehörigen Jacke gestrickt, und neue Schuhe sollte er auch bekommen. Ein Spielzeug für ihn hatte ich in vielen Läden vergebens gesucht. So gerne hätte ich ihm Bauklötze, eine hölzerne Eisenbahn oder ein Bilderbuch geschenkt. Allerdings hatte ich bei allen Kindern, die ich hier gesehen habe, niemals Spielzeug entdecken können. Vielleicht hätte ich in Kairo in Geschäften, in denen auch Europäer kauften, etwas gefunden. Ich hatte einfach nicht den Mut, auch noch danach zu fragen. Zwei Tage vor Weihnachten kam ein Paket von Mutti. Der lange Brief lag obenauf, und ich ging in unser Zimmer, um ihn zu genießen. Immer wieder las ich ihn und sah sie die Kleinigkeiten, um die ich sie im Laufe der Zeit gebeten hatte, aussuchen. Unter anderem hatte sie für mich einen Badeanzug besorgt, der in Farbe und
Form wunderschön war und genau paßte. Für Nessim gab es ein silbernes Kleinkind-Eßbesteck und ein Bilderbuch. Auch Gestricktes hatte sie ins Paket gepackt. Alles war sehr schön verpackt, und man hätte nicht meinen sollen, daß das Paket geöffnet worden war, bevor es mich erreichte. Allerdings gab es eine Bonbon-Schachtel, deren Inhalt zwar absolut unversehrt aussah, es jedoch nicht war. Von etwa dreißig mit farbigem Zellophan eingewickelten Bonbons hatte man den süßen Inhalt herausgenommen und die mit Luft gefüllten Kügelchen säuberlich gedreht wieder in die Schachtel gelegt. Ich wußte zwar, daß in der Nasser-Ära Post und Pakete an der Landesgrenze kontrolliert wurden, war aber trotzdem erstaunt über den Zeitaufwand, den hier jemand betrieben hatte. Ein echter Dieb hätte doch sicher eher Nessims Besteck oder einen für mich bestimmten Lippenstift an sich genommen. Wie sollte man das deuten? Aber Zeit war eben das, von dem man unbegrenzte Mengen besaß. Tatsächlich hatte Ahmed in Kairo ein baumähnliches Gebilde, einer Bananenstaude ähnlich, gekauft, und ich hatte improvisiert. Bunte Bänder und aus Stanniol gedrehte Kugeln hatte ich an die Pflanze gehängt. Sogar Kerzen hatte Ahsähn besorgt, nur fehlten mir leider Kerzenhalter, die nirgendwo aufzutreiben waren. So stellte ich die Lichter um den Baum herum. Mit den darunterliegenden bunten Päckchen und kleinen Schüsseln mit Nüssen und Gebäck gefiel mir mein Arrangement. Zur Bescherungszeit wurde die Glastür zum großen Saal geschlossen, in dem sich meine Weihnachtsecke befand, damit wir unter uns sein konnten. Nessim hatte ich auf den Arm genommen und ließ ihn staunen. Besonders schön sind Kinderaugen, wenn sich Kerzenlichter darin spiegeln. Ich drückte ihn an mich und begann, ein Weihnachtslied zu singen. Ahmed stand neben mir und wartete, daß ich meine
Feierstunde beendete. Mit einem Mal streckte Jussuf, der jüngste Bruder Ahmeds, wohl von Neugier getrieben, seinen Kopf durch den Türspalt und zog sich sofort laut prustend wieder zurück. Ich hörte lautes Gelächter und sofort Haggs laute, zurechtweisende Stimme. Es war wieder Ruhe, aber singen konnte ich nun nicht mehr. Mit Weihnachten im Magen und Weihnachten im Kopf, so ganz fest in einer ersponnenen Stimmung versunken, tat der Spott sehr weh. Ich brauchte Sekunden, um diese fremde Welt, in die mein Weihnachtsfest nicht hineinpaßte, wieder wahrzunehmen. Meinen »Christbaum« entfernte ich sofort. Am zweiten Weihnachtstag hatte mich Anna eingeladen, und es wurde ein sehr schöner Nachmittag. Auch sie hatte keinen Tannenbaum, dafür aber Zweige in einer großen Vase sehr festlich geschmückt. Wir unterhielten uns gemütlich bei Kaffee und Kuchen, spielten mit Nessim und strickten. Alis Mutter leistete uns Gesellschaft und feierte ein kleines bißchen Weihnachten mit. Als Wehmut aufkam, ließ sie uns einen Glühwein machen, und ich war zu Tränen gerührt. Wie oft hatte ich mir schon Gedanken darüber gemacht, warum ihre Schwiegermutter so warmherzig und offen war und meine so gefangen in ihrem engen Kreis, in dem sie keinen Platz hatte für Neues oder Fremdes. In friedlicher und auch gehobener Stimmung fuhr ich nach Hause. Ahmed empfing mich mit dem Vorwurf, ich sei zu lange geblieben. Als er bemerkte, daß ich Alkohol getrunken hatte, machte er ein finsteres Gesicht und zog mich in unser Zimmer. »Du weißt, daß in dieser Familie kein Alkohol getrunken wird. « »Wir haben Weihnachten und ein bißchen gefeiert.« Er holte aus und schlug mich ins Gesicht. »Wage das nicht noch einmal, sonst wirst du in Zukunft deine Freundin nicht mehr besuchen.«
Der Schimmer eines Rausches von einem Glas Glühwein war verflogen und das Fest vorbei.
9
Naher Tod und ein wichtiges Versprechen
In Anbetracht dessen, daß wir bald in unsere eigene Wohnung ziehen konnten, hatte man einen Schreiner beauftragt, verschiedene Möbelstücke anzufertigen. Unter anderem sollte nun endlich ein Kinderbett gemacht werden. Mir schwebte ein praktisches deutsches Bett vor, an dem man die Seitenteile herunterlassen konnte. Ich fertigte eine entsprechende Zeichnung, um dem Handwerker meine Vorstellung klarzumachen. Auch die Anstreicher waren bei der Arbeit, und als ich abends von meinen Ideen bezüglich der Renovierung erzählte, sah Ahmed mich spöttisch an, und Hagg sagte: »Ja, ja, Heiuka, gute Ideen, und so Gott will, wird es so werden. Jetzt laß aber erst mal die Leute ihre Arbeit machen.« Eines Morgens wurde ich wach und fühlte mich schlecht. Fieber hatte ich noch nie gehabt, aber es kam mir vor, als hätte ich Temperatur. Das Frühstück behielt ich dann nicht bei mir, und ich legte mich wieder ins Bett. Hagge, die über Ahsähn erfahren hatte, daß es mir nicht gutging, kam an mein Bett, fühlte meine Stirn und sagte: »Du hast dir sicher den Magen verdorben. Sakäja wird dir einen Tee machen, und heute bleibst du am besten im Bett liegen. Wenn du heute nur Tee trinkst, wird es dir morgen wieder gutgehen.« Ich blieb liegen und war froh, daß ich einfach nur liegen konnte, ein neues Gefühl für mich. Auf jedem Weg zur Toilette wurde mir schwindelig, und meine Beine gaben unter mir nach.
Nessim, der zu mir hereingelaufen kam, hüpfte auf dem Bett herum und wollte mit mir spielen. Ich liebte es, mit ihm herumzualbern, aber heute konnte ich seine Quirligkeit nicht ertragen und schickte ihn zu Ahsähn. Immer mal wieder kam jemand nach mir sehen, und Hagge achtete darauf, daß ich meinen Tee auch trank. Er schmeckte nämlich scheußlich. Aber auch am zweiten Tag ging es mir nicht besser, eher im Gegenteil. Ich behielt nichts mehr bei mir, konnte nicht mehr aufstehen und hatte hohes Fieber. Als sich nach einer Woche mein Zustand nicht verändert hatte, kam Hagg jeden Mittag zu mir herein, murmelte Gebete, während er neben meinem Bett saß, und schüttelte den Kopf. Er besorgte ein Fieberthermometer, und als er sah, daß das Quecksilber vierzig Grad erreicht hatte, schickte er nach einem Arzt. Der Arzt verschrieb Medikamente und fragte mich, was ich in der letzten Zeit gegessen oder getrunken hätte. Mir fiel nichts Außergewöhnliches ein. Ich aß, was alle aßen, und bisher war mir das gut bekommen. Ansonsten fiel die Untersuchung eher oberflächlich aus, und was mich doch sehr erstaunte, der Arzt blieb in der gegenüberliegenden Zimmerecke stehen und kam mir nicht näher. Die Bettdecke, die ich bereitwillig ans Fußende geschoben hatte, wurde mir von Hagge hastig wieder bis zum Kinn hochgezogen. Mißbilligung über meine fehlende Moral stand ihr ins Gesicht geschrieben. Schließlich war der Arzt ein Mann. Eine Blutabnahme wurde nicht vorgenommen. Er ließ sich die Zunge zeigen, wobei ich mich fragte, was er aus dieser Entfernung wohl sehen konnte, und schließlich verließ er unter Murmeln von Höflichkeitsfloskeln und seiner Hoffnung auf Allah, der mir in einem so frommen Haus sicher helfen würde, das Zimmer. Inwieweit man meinen Zustand dem Wirken böser Geister zuschrieb, konnte ich nicht herausfinden. Alle hielten sich zurück, und Besucher blieben an der Tür stehen. Nur Ahsähn
kam manchmal mit Nessim auf dem Arm zu mir ans Bett, sah mich traurig an: »Sie müssen etwas essen, Setti Heike, Nessim möchte mit Ihnen spielen, Sie müssen gesund werden. Wir beten alle für Sie.« Ich nahm kaum wahr, was sie sagte, befand mich in einem sonderbaren Schwebezustand. Nur mein Radio, das auf meinem Kopfkissen lag, interessierte mich, denn am späten Nachmittag begann die Stunde der Deutschen Welle. Dann legte ich ein Ohr ganz dicht an den Lautsprecher und versank in deutscher Musik. Sicher war es ein Dschinn, der mich dann schluchzen ließ, ich weinte und weinte, bis ich vor Erschöpfung einschlief. In meinen Träumen griente mich mein Mann an: »Du wirst Deutschland nie wiedersehen, schlag dir das aus dem Kopf.« Oder ich träumte, mit Nessim in einem Zug zu sitzen. Sein Händchen hielt ich in meiner Hand, und wenn wir dann aussteigen wollten, weil das Ziel erreicht war, war ich nicht in der Lage, mich zu bewegen. Als ich wach wurde, saß Hagg an meinem Bett, und ich schrie immer noch durch die Nachwirkungen meiner Träume. Entsetzt sah er mich an, sagte aber kein Wort. Verwirrt flüsterte ich ihm zu: »Ich will heim, laßt mich doch heim.« Er verstand mich nicht, glaubte vielleicht, ich sei im Delirium und verließ das Zimmer. Am Abend erschien der Arzt mit zwei weiteren Kollegen. Auch diesmal fand keine gründliche Untersuchung statt. Die drei Herren standen in einer Zimmerecke und diskutierten, berieten sich und kamen wohl zu keinem Schluß. Meine Zimmertür blieb nun geschlossen und auch Nessim durfte nicht mehr zu mir. Wenn ich für Minuten zu mir kam, sah ich manchmal Sakäja oder Ahsähn mit Suppe oder Brot ins Zimmer huschen und schnell wieder hinauseilen. Anna ließ sich ebenfalls entschuldigen. Sie erwartete ein Baby und mußte vorsichtig sein. Vor meiner Tür hörte
ich lautes Klagen und Beten, und wenn die Tür geöffnet wurde, sah ich schwarz verschleierte Frauen dort sitzen. Wohin wollten sie mich Ungläubige geleiten, der Himmel war mir doch versperrt? Hagg, der wie jeden Abend zu mir kam, nahm mir mein Radio ab und sagte ernst: »Heiuka, du bekommst es zurück, aber jetzt ist es gar nicht gut für dich.« Wahrscheinlich hatte er recht, durch das Fieber war ich so geschwächt, daß ich nicht einmal mehr ins Bad kam, man hatte mir eine große Schüssel ins Zimmer gebracht. Ich konnte nicht auch noch an die Deutsche Welle Energie verschwenden. Wieder und wieder hatte Hagg meine Temperatur kontrolliert, doch das Fieber wollte nicht zurückgehen. Er machte einen fast verzweifelten Eindruck, aber mir war es schon egal. Daß er noch kam, wunderte mich verschwommen, offenbar hatte er keine Angst vor Ansteckung. In der folgenden Nacht wurde ich wach, kam zu mir und bemerkte, daß das ganze Haus in hellem Aufruhr war. Vor der geöffneten Tür nahm ich Scheiche wahr, islamische Prediger, die in furchtbarer Lautstärke Gebete leierten. Hätte ich mich nicht in einem halb besinnungslosen Zustand befunden, würde ich mir diesen Lärm verbeten haben, aber so nahm ich diese lauten Dissonanzen nur am Rande wahr. Und was gab es wirkungsvolleres als im unumstößlichen Glauben an Allah gerichtete Gebete, um eine Sterbende, die bereits auf halbem Weg in die Verdammnis war, auf die Erde zurückzuholen. Hagg kam in mein Zimmer gestürzt, sah auf mich nieder, und ich dachte verschwommen, was bringt ihn denn her. Wieder lief er zur Tür, riß sie auf und schrie seine Kommandos nach draußen: »Sakäja, zerschlag das Eis, bring es in einer Schüssel her, nun mach schon, wie lange
soll das denn dauern. Vergiß die Tücher nicht, vielleicht ein Bettuch. Ahsähn, komm rein und hilf mir.« Nun setzte er sich im Schneidersitz mitten auf mein Bett, zog mich auf seinen Schoß, fühlte meinen Kopf und murmelte Gebete. »Mach die Augen auf, sieh mich an, hörst du mich?« schrie er mir ins Gesicht. Sakäja kam mit einer großen Schüssel, die angefüllt war mit zerkleinertem Blockeis, und stellte sie neben Hagg auf das Bett. Vor der Tür stand die Familie, und dahinter saßen die Scheiche und beteten. Ich lag auf Haggs Schoß wie ein Säugling und nahm dies alles wie durch Watte wahr. Jetzt griff er sich händeweise das Eis und schüttete es über mich, über meinen Kopf, meinen Oberkörper, und verrieb die Eisstücke auf meiner heißen Haut. »So geht das nicht, diese Doktoren. Allah ist bei mir, und er wird mir helfen.« Er und ich waren nun so naß, als wäre ein starker Gewitterregen über uns niedergegangen. Auf seinen Schoß gekuschelt, fühlte ich mich gar nicht so unwohl. Er tätschelte meine Hände, mein Gesicht und bewegte sich mit mir zusammen leicht hin und her. »Geht raus jetzt und macht die Tür zu.« Als wir alleine waren, nahm er mein Gesicht in seine Hände und flüsterte mir ins Ohr: »Heiuka, Benti – Tochter, hör mir zu. Ich verspreche dir jetzt etwas, und mein Sohn möge mir verzeihen. Wenn du gesund wirst, darfst du deine Mutter besuchen. Bismillah – in Gottes Namen, ich habe es dir jetzt versprochen, und du darfst mich daran erinnern.« Nun rief er die Mädchen wieder herein. Das durchnäßte Bettzeug wurde entfernt und neues hereingebracht. Ahsähn zog mir eine Galabija von Hagge an, und zu zweit legten sie mich wieder in mein Bett. Hagg stand die ganze Zeit dabei, sah mich noch einmal an, zog mir das frische Bettuch bis ans Kinn und verließ das Zimmer.
Etwas hatte sich verändert, ich wußte nur nicht, was. Am folgenden Tag nahm ich meine Umwelt wieder etwas schärfer wahr. Schon am Mittag stand Hagg neben mir, um Fieber zu messen. Neununddreißig Grad. Ich hatte noch nie an Wunder geglaubt, aber er sagte: »Allah ist mit uns und er will es so. Ich habe etwas Feines für dich mitgebracht, Heiuka. Ab heute wirst du jeden Tag etwas Taubensuppe essen, hast du gehört, sonst werde ich dich füttern.« Ich war scheinbar wirklich über den Berg. Von der Taubensuppe durfte ich am Anfang immer nur wenige Löffel schlucken, auch um auszuprobieren, ob ich sie bei mir behielt. Das Fieber blieb noch einen Tag auf neununddreißig Grad, doch dann ging es stetig runter. Nach einer weiteren Woche versuchte ich die ersten Schritte, und meine Beine gehorchten mir von Tag zu Tag ein bißchen mehr. Fast ein Jahr war ich nun hier in Tanta, und so, wie ich mich in der ersten Zeit schwergetan hatte mit dem ägyptischen Essen, so hatte ich inzwischen Vorlieben für bestimmte Gerichte entwickelt. Man wußte das, und jetzt bekam ich jeden Tag etwas zubereitet, was ich besonders gerne mochte. Als ich auf einem Weg ins Bad zur Küche hineinsah, hörte ich Sakäja sagen: »Ich habe gerade Setti Heike mit Nessim lachen hören. Das hat sie lange nicht mehr gemacht.« »El hamdulilä – Gott sei Dank, alles wird gut werden«, erwiderte Hagge. Selbst Ahmed schien dieser Umstand zufrieden zu machen. Er nahm mich wieder wahr und verbrachte Zeit mit mir, begleitete mich in den Amerikanischen Club und richtete seine Aufmerksamkeit auf mich und meine Bedürfnisse und Wünsche. Ich merkte sofort, wie es mir besserging. Vieles war nicht so bedrückend mit ein
bißchen Ansprache und Zuwendung. Doch leider hielt dieser glückliche Zustand nur kurze Zeit an. Von meiner Krankheit wurde nicht mehr gesprochen, und so erfuhr ich auch nie, welches Leiden mich so nah an den Rand des Grabes gebracht hatte. Als ich darüber nachdachte, was mich der erste Arzt gefragt hatte, fiel mir meine Vorliebe für Milch ein. Gamussenmilch schmeckte mir besonders gut, sie stammte von den Wasserbüffeln und war so voll und sahnig. Da ich jedoch mit der Fellachin, die die Milch brachte, nie etwas zu tun hatte und Sakäja die Milch immer sofort abkochte, hatte ich nie die Möglichkeit, sie frisch gemolken zu trinken. Doch vor kurzem ergab sich einmal diese Gelegenheit, als die Bäuerin mit der Milchkanne vor der Tür stand und Sakäja im oberen Treppenhaus mit Fegen beschäftigt und Ahsähn zum Einkauf in der Stadt war. Ich brachte den Milchtopf in die Küche, doch ehe ich ihn in den Kühlschrank stellte, nahm ich einen kräftigen Schluck. Als ich Hagge später erzählte, wie köstlich die Milch geschmeckt hatte, sagte sie erschrocken: »Hast du sie ungekocht getrunken? Das ist gefährlich. Du siehst doch, wie schmutzig die Fellachin ist. Und weil sie nur Übles und Schmutz ins Haus bringt, darf sie nicht zur Tür herein. Sieh ihr erst gar nicht ins Gesicht, dann kann sie dir nichts anhaben. Und trinke ihre Milch nie wieder ungekocht.« Eventuell war die ungekochte Milch Auslöser für meine Krankheit. War es Typhus, war es Hepatitis gewesen? Ich weiß es bis heute nicht. Ich erholte mich schnell und war auch wegen des bevorstehenden Umzugs in unsere eigene Wohnung in guter Stimmung. Und so quittierte ich jede Freundlichkeit, jedes kleine Geschenk wie den Spargel, den man hier nicht kannte und den Hagg mir von Alexandria mitbrachte, wie ein fröhliches, naives Kind.
Ich war vor allem auch deshalb so gut gelaunt, weil meine Mutter in ihrem letzten Brief ihren Besuch angekündigt hatte. Allein die Vorstellung, sie bei mir zu haben, mit ihr über alles zu sprechen, jagte mir einen Schauer der Freude über den Rücken. Nur wenn sie erst einmal hier wäre, mußte ich Farbe bekennen. Tausend Dinge, die ich in Briefen nie erwähnt hatte, würde sie mit eigenen Augen erkennen und mich fragend ansehen. Ich stellte mir ihre Reaktionen lebhaft vor und sah sie in Gedanken zum Beispiel auf den rückwärtigen Balkon gehen und entsetzt schnell wieder hereinkommen. »Was um Gottes willen soll die Müllkippe im Garten? Da könnte es doch so schön sein.« Oder sie würde am Abend in die Küche gehen und mit einem Schrei wieder herausgelaufen kommen. Tagsüber verkrochen sie sich, wenn es allerdings dunkel wurde, konnte man ganze Armeen von Kakerlaken auf der Suche nach Essensresten überraschen. Diese ekligen Tiere gab es in vielen Größen, von Fingernagel- bis Feuerzeuggröße, und sie bewegten sich in einer unglaublichen Geschwindigkeit. Ich hatte deshalb im Laufe der Zeit meine Methode entwickelt, um sie nicht mehr sehen zu müssen. Wenn ich abends in die Küche ging, betätigte ich kurz den Lichtschalter und schloß die Augen für zwei oder drei Sekunden. In dieser kurzen Zeit waren sie verschwunden, und ich brauchte mir das braune Gewimmel nicht anzusehen. Zu ändern war daran nichts. Wenn ich in der ersten Zeit erschreckt oder angewidert reagiert hatte, zeigten Familie und die Mädchen deutlich ihre Heiterkeit über mein übertriebenes Verhalten, und so hatte ich gelernt zu ignorieren. Auch mein Aufklärungsversuch, daß Ratten oder die herumstreunenden, wilden, halbverhungerten und oft verkrüppelten Katzen und Hunde Krankheiten übertragen könnten, verpuffte an der üblichen Lässigkeit. »Allah ist
mit uns, du brauchst keine Angst zu haben, man darf diese Tiere nur nicht an sich heranlassen«, war alles, was ich darauf hörte. Ich würde meiner Mutter viel erklären müssen. Und was ich ihr nicht als exotisch oder fremd, aber interessant zeigen könnte, würde ich versuchen, von ihr fernzuhalten oder schön zuschminken. Ich mußte ja auch nicht alles übersetzen, was in der Familie so gesagt wurde. In meiner Vorfreude war ich voller guter Vorsätze, schön und harmonisch sollte es werden. Über manches würden wir gemeinsam lachen, so wie früher, ganz tief aus dem Bauch, und anschließend würde mir die Wimperntusche in Bächen das Gesicht herunterlaufen. Über ihren Besuch, der noch ganz vage war und von dem ich noch nicht einmal den Zeitpunkt kannte, wurde natürlich auch in der Familie gesprochen. Für jeden unbegreiflich war, daß sie nur eine Tochter hatte. Nur ein Kind war kein Kind, und dann auch noch ein Mädchen. Diesem Umstand hätte man abhelfen müssen. Als ich versuchte zu erklären, daß sie nach dem Tod meines Vaters nicht mehr hatte heiraten wollen, weil sie sich ein Leben mit einem anderen Mann nicht hatte vorstellen können, sah man mich verständnislos an. »Darüber sollte eine Frau nicht allein entscheiden. Es gibt immer Verwandte, mit denen eine Verbindung eingegangen werden kann. Für Witwen wird doch immer gesorgt. Sicher hat man sich nicht richtig gekümmert, die arme Frau.« Es wurde mit dem Kopf geschüttelt, und ich schmunzelte in mich hinein. Wie würden meine Mutter und ich uns bei der Vorstellung amüsieren, sie würde von ihrem älteren Bruder an einen Vetter verheiratet, damit ihr Leben nicht in Fruchtlosigkeit endete. Orient und Okzident, würde es je Wege zueinander geben?
Vom hinteren Balkon, der üblicherweise nur zum Wäschetrocknen genutzt wurde, konnte man auf den Hof einer Grundschule sehen. Der Schultag wurde allmorgendlich mit Fahnenappell eröffnet. Die kleinen Jungen und Mädchen, alle in akurat gebügelten beigen Leinenkleidern oder Anzügen, standen in Reih und Glied formiert vor der Fahnenstange. Eines der Kinder hißte mit ernster Miene die Fahne, und dann schmetterten alle zusammen ihre Hymne an Nasser. Anschließend gingen sie im Gleichschritt sehr diszipliniert ins Innere der Schule in ihre Räume. Schon manches Mal hatte ich mir diese Zeremonie angesehen. Gemischte Gefühle bewegten mich bei dem Gedanken, wie mühelos diese Kleinen zu biegen und zu formen waren. Nur noch ein paar Jahre, und Nessim würde mitmarschieren. Als ich wieder hereinkam, sahen mich Hagge und Hagg, die auf einem Sofa saßen, lächelnd an, und als ob Hagg meine Gedanken gelesen hätte, sagte er: »Nessim wird nicht in diese Schule gehen. Das da drüben ist eine staatliche Schule, und Nessim wird eine private Schule besuchen. Da gibt es eine amerikanische und eine französische hier in Tanta. Ich werde etwas Gutes für ihn aussuchen, da kannst du sicher sein, Heiuka.« Unter diesem Regime würde wohl der militärische Drill an allen Schulen gleich sein, das sagte ich jedoch nicht. Wie sich dann herausstellen sollte, führte dieser Personenkult um Nasser ins Nichts. Aber die gepeitschte Verherrlichung großer Führer nimmt wohl selten einen anderen Weg. Und wie so oft seit meiner Krankheit fragte mich Hagg nun wieder: »Du bist doch zufrieden bei uns, Heiuka? Und wenn du irgendwann, so Gott will, deine Mutter, dein Heimatland besuchst, wirst du froh sein, wieder hierher nach Hause zu kommen?« »Natürlich, Hagg, hier bin ich zu Hause.«
Sein Versprechen, das er mir in einer Notsituation gegeben hatte, machte ihm zu schaffen, und ich erkannte gerührt, wie ernst ihm diese Sache war. Offenbar hatte er auch die übrige Familie informiert. Wenn ich richtig verstand, sollte sein Versprechen selbst dann gelten, wenn er durch ein eventuelles Unglück es nicht mehr persönlich einlösen konnte. Er stand auf, nahm mich bei der Hand, winkte seine Frau zu sich, und wir gingen in ihr gemeinsames Zimmer. Ich war in diesen Raum noch nie gewesen und sah mich nun um. Das Mobiliar bestand aus einem großen Kleiderschrank und zwei sehr großen Betten, die geteilt durch eine kleine Konsole die ganze Zimmerbreite einnahmen. Zwischen Kleiderschrank und Eingangstür stand außerdem ein eineinhalb Meter hoher und sicher siebzig Zentimeter breiter, dunkelgrüner Panzerschrank mit englischem Firmennamen. An diesem Tresor, der älteren Datums war, machte Hagg sich jetzt zu schaffen. Er öffnete umständlich die Tür und holte diverse Behältnisse heraus. »In dieses Zimmer darf niemand herein, wenn dieser Schrank geöffnet ist.« Damit wollte er wohl ausdrücken, wie sehr er mir vertraute. Hagge zog mich auf eins der Betten, und wir zwei Frauen saßen nun da, während Hagg verschiedene Kistchen und Kästen vor uns aufbaute. »Aziza, gib ihr ein paar von den Goldreifen, du weißt schon, welche.« Hagge nahm nun einen kleinen Kasten aus Holz, öffnete ihn und nahm vier schwere goldene Armreifen heraus und zog sie mir über die Hand aufs Gelenk. »Alle haben diese Reifen, und du sollst nun auch welche haben.« Ich war sprachlos und wollte mich überwältigt von der Großzügigkeit überschwenglich bedanken. Davon wollte
aber Hagg nichts wissen. Er legte seinen Zeigefinger auf die Lippen und ließ mich schweigen. Offenbar suchte er etwas und räumte den einen oder anderen Gegenstand aus dem Schrank aufs Bett, und mit einemmal hatte er gefunden, was er suchte. Es war ein unscheinbares Leinensäckchen von etwa fünfundzwanzig Zentimeter Höhe und fünfzehn Zentimeter Breite. Er stellte es zur Seite und räumte nun den Tresor wieder ein. Während er sortierte und räumte, suchten meine Augen das untere Fach des Schranks nach einem kleinen grünen Heft ab, von dem ich wußte, daß es sich hier befinden mußte. Zwischen Akten und Papieren mußte mein Paß stecken, aber wo? Ich konnte ihn nicht entdecken. Aber selbst wenn ich ihn sehen würde, durfte ich nicht darüber sprechen. Sicher würde Hagg mißtrauisch werden, und das gute Einvernehmen zwischen uns wäre dahin. Fatma, Yazid und Omar waren zwischendurch in der Zimmertür erschienen, wurden aber gleich wieder hinausgeschickt. »Wartet draußen, Heike bekommt ein Geschenk von mir und wird es euch gleich zeigen.« Es war wohl nicht alltäglich, daß die Schätze aus dem Tresor bei geöffneter Zimmertür ausgebreitet dalagen, und sie machten große Augen. Als Hagg den Tresor wieder verschlossen hatte, ging er mit dem Leinensack in der Hand in den kleinen Saal, und Hagge und ich folgten ihm. Draußen saßen alle mit erwartungsvoller Miene und sahen uns an. Von meinen neuen gehämmerten goldenen Armreifen nahm kaum jemand Kenntnis. Dafür starrten alle auf das kleine Säckchen, das Hagg in der Hand hielt. Er öffnete es, sah hinein und schmunzelte. »Hier bekommst du etwas ganz Feines, Heiuka. Nimm es und halte es in Ehren. Und wenn ich gestorben bin, hast du etwas zur Erinnerung.« Die Familie wußte anscheinend, was er mir da schenken wollte. Alle waren überrascht und, wie mir schien, nicht
erfreut. Ahmed machte ein fast grimmiges Gesicht. Endlich gab Hagg mir das Säckchen, und ich sah hinein. Es war gefüllt mit alten Münzen. Ich nahm eine heraus und sah sie mir an. Sie war aus schwerem Silber und hatte eine Faruk-Prägung. Der Durchmesser mußte etwa fünf Zentimeter betragen. Ich schüttete nun alle Münzen auf das Polster des Sofas und sah mir meinen neuen Reichtum an. Die Münzen waren alle gleich, und es waren dreißig Stück. Ich war sprachlos und wollte mich bedanken, er aber legte wieder den Zeigefinger auf seine Lippen. Wo er diesen Schatz wohl erstanden hatte, sicher nicht auf einer Auktion. »Paß gut darauf auf, so etwas geht leicht verloren«, meinte er verschmitzt. »Ich konnte sie nicht von dir bekommen, sooft ich dich auch gebeten habe«, sagte Ahmed mißgestimmt zu ihm, »warum gibst du sie ihr?« »Hier gibt es eine besondere Situation. Ich habe es beschlossen und Schluß.« Alle standen nun um mich herum und sahen auf die ausgebreiteten Münzen. Ahmed nahm eine, wog sie in der Hand und sah mich an. »Was hältst du davon, Sharbat – Süße, wenn ich morgen mit dir zu unserem Juwelier gehe, dir einen Ring mit einem Rubin kaufe, und du überläßt mir diese Münzen. Du kannst ja doch nichts damit anfangen, aber einen Ring kannst du tragen.« Ich sah Hagg an. Der schüttelte mit dem Kopf. »Tu es nicht, Heiuka. Einen Ring bekommst du sicher noch mal, aber diese Münzen kannst du nirgendwo kaufen.« Als Ahmed merkte, daß ich zögerte, lockte er: »Es kann auch etwas anderes sein. Weißt du was, du suchst dir beim Juwelier etwas aus, was dir gefällt, vielleicht einen Ring und eine dazupassende Kette.«
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was für einen Wert diese Münzen darstellten, bekam aber durch die Anstrengung von Ahmed eine nebelhafte Vorstellung davon. Die Bestürzung meiner Schwägerinnen und Schwäger, die deutlich zu spüren war, als Hagg mir das Säckchen aushändigte, schlug mit einemmal ins Gegenteil um, und alle schüttelten mehr oder weniger heftig mit dem Kopf. »Ich würde sie behalten und nicht eintauschen. Bei deinem nächsten Kind bekommst du ohnehin ein schönes Schmuckstück oder sogar zwei. Dann wird dir das leid tun«, riet mir Fatma. Ahmeds jüngere Brüder lachten ihn verlegen an und meinten: »Heiuka, behalte sie, schweres Silber aus Faruks Zeit. Die bekommst du nie mehr wieder.« Nur Yazid verließ mit gesenktem Blick den Raum, als ob er damit nichts zu tun haben wollte. Hagge, die selten eine Gemütsbewegung erkennen ließ, saß auch diesmal im Schneidersitz neben ihrem Mann und sah mit niedergeschlagenen Lidern auf die Hände in ihrem Schoß. Meine Gedanken hatten einen anderen, praktischen Weg genommen. Schmuckstücke konnte ich am Körper tragen. Dieser Leinenbeutel mit erheblichem Gewicht würde in einem eiligen Koffer eher ein Hindernis sein, ganz zu schweigen von einer eventuellen Zollkontrolle. Aber im Ernstfall, wenn sich mir die Gelegenheit böte, dieses Land ganz schnell zu verlassen, würde ich dann überhaupt solche Überlegungen anstellen? Ich ahnte ja, daß es niemals zu diesem Ernstfall kommen würde. Und es waren Emotionen, Nebelschwaden, die sich spätestens dann auflösten, wenn Nessim auf mich zugelaufen kam. Ich würde nur mit ihm zusammen dieses Land verlassen können, und das ginge nicht in einer überstürzten Flucht.
Hagg sah mich abwartend an. Es irritierte mich, daß er sich nun mit keinem Wort mehr einmischte, mir die Entscheidung überließ, obwohl in diesem Haus nichts, aber auch gar nichts geschah ohne sein letztes Wort. Konnte ich mich wirklich auf sein Wohlwollen verlassen, oder wußte er von vornherein, daß ich mich dem Wunsch seines Ältesten nicht ohne erhebliche Konsequenzen für mich würde widersetzen können und der Schatz somit ohnehin in seinem Tresor bliebe. Obwohl ich von meinem Ehemann kaum je etwas hörte oder sah, abgesehen von seinem allabendlichen Kommando, hatte er natürlich Möglichkeiten, mich eine Mißstimmung fühlen zu lassen. Er konnte mir verbieten, das Haus zu verlassen, er konnte, durch Kleinigkeiten gereizt, auf mich einschlagen und behaupten, er täte es aus Liebe zu mir, um mich endlich zu erziehen. Niemand würde mich davor bewahren können. Bei aller Lethargie war er der zweitwichtigste Mann im Haus, und man begegnete ihm mit großem Respekt. Und meine sonderbaren Wünsche und Gewohnheiten hatte man ohnehin mit gemischten Gefühlen toleriert. Wenn er mir also Besuche bei Anna oder Spaziergänge in den Amerikanischen Club verbieten würde, wäre die Familie auf seiner Seite. Was hatte schon eine Frau alleine auf der Straße zu suchen. Jetzt lächelte mich Ahmed ganz lieb an: »Sharbat, du bist dumm. Was willst du mit Geld, das keinen Wert mehr hat, mit dem du nichts bezahlen kannst?« Ich sammelte die Silberstücke wieder in das Säckchen und übergab es ihm. »Ein schlechtes Tauschgeschäft, Heiuka. Ich hatte dich für klüger gehalten«, sagte Hagg und ließ sich seinen Gebetsteppich bringen. Die Angelegenheit war damit erledigt, und niemand sprach mehr darüber. Ein paar Tage später suchte ich mir beim Juwelier passend
zueinander Ring und Kette aus. Ich trug den Schmuck nie, er gefiel mir nicht.
1O
Der Zauber von Kairo
Eine Geschäftsreise nach Luxor verband Hagg gerne mit einem Besuch bei seiner ältesten Tochter in Kairo. Diesmal durfte auch ich mitfahren und lernte so nach über einem Jahr meine Schwägerin Rahn kennen. Da Hagge ihre Tochter Rahn nur selten sah – Hagge verließ das Haus so gut wie nie –, fuhr auch sie mit. Ahmed sollte, während Hagg nach Luxor weiterfuhr, mir Kairo zeigen und seine Mutter bei Einkäufen begleiten. Rahn war etwa in meinem Alter, vielleicht ein- oder zweiundzwanzig Jahre alt, und eine sehr warmherzige, liebenswürdige junge Frau. Klein und rundlich, hatte sie eine große Ähnlichkeit mit ihrer Mutter. Wie sie trug sie im Haus eine Galabija, und ihr tiefschwarzes Haar lag dicht am Kopf, mit Pomade wurde eine mögliche Löckchenbildung verhindert. Sie hatte vier Kinder im Alter zwischen drei und acht Jahren, wovon mir das jüngste besonders auffiel. Ein entzückendes kleines Mädchen mit hellblonden, leicht gelockten Haaren. Sie hätte eine Schwester von Nessim sein können. Der einzige Unterschied war die Hauttönung, Narins Haut war blaßolivfarben, ein reizvoller Kontrast zu ihrem hellen Haar. Nachdem man sich mit Umarmungen und vielen Küssen begrüßt hatte, gab es für alle eisgekühlte Getränke. Äußerst aufmerksam und ganz lieb kümmerte sich Rahn um jeden einzelnen, und Haggs Einwände, er müsse
gleich nach Luxor weiter, wurden von ihr höflich, aber bestimmt ignoriert. Sie wieselte durch die Wohnung, holte ihrem Vater Hausschlappen, ihre Mutter versorgte sie mit einer Galabija, damit sie es bequemer hatte, und ihren Bruder Ahmed schob sie in einen besonders großen Sessel. Dann zog sie mich in ihre Küche: »Heike, ich habe von Europäern gehört, daß ihr den Kaffee auf besondere Art zubereitet. Ich möchte dir gerne einen deutschen Kaffee machen, du mußt mir nur zeigen, wie es geht. Wenn du zu mir kommst, bekommst du dann immer einen Kaffee wie in deinem Heimatland.« Da es in einem arabischen Haushalt kein Filterpapier, keine Filter oder Kaffeekannen für die Zubereitung eines deutschen Kaffees gibt, improvisierten wir beide einen süßen Milchkaffee, der eher französisch schmeckte als deutsch, was ich ihr aber nicht sagen mochte. Sie freute sich, etwas Spezielles für mich zu haben, und selbst nach dreißig Jahren, als ich sie wieder besuchte, hatte sie die Zubereitung nicht vergessen und machte mir wieder einen Kaffee mit Milch und Zucker. Als Hagg dann endlich nach Luxor aufbrach, war es später Vormittag. Zu meiner großen Freude war Gamal gekommen, und voll Begeisterung zählte er Ahmed einige Sehenswürdigkeiten auf, die man mir unbedingt zeigen müsse. »Uns bleibt nur ein Tag, und das wird alles ein bißchen viel. Außerdem bin ich ein wenig angegriffen und muß Mama noch in die Stadt begleiten.« »Gut, dann machen wir es so. Zuerst gehen wir alle zusammen in die Shera-Fouad, Heike muß unbedingt die schönen Geschäfte sehen. Dann gehen wir ins Americain, trinken dort etwas, und dann zeige ich Heike wenigstens das Museum. Ihr könnt in der Zeit schon nach Hause gehen und euch ausruhen.«
»Einverstanden, das ist nett von dir.« Ahmed schien nur erleichtert, daß ihm die Mühe abgenommen wurde, mich etwas herumzuführen. Und so sah ich diese breit angelegte Einkaufsstraße, die Shera-Fouad, von der mir Gamal in Tanta schon vorgeschwärmt hatte. Es war wirklich ein Erlebnis, die Straße schien in den Himmel zu führen, ein elegantes Geschäft neben dem anderen. Mir schien, ich befände mich irgendwo in Europa. Wir flanierten von einem Geschäft zum anderen und sahen uns die Auslagen an. Hagge ging hier und da hinein, um Dinge zu besorgen, die man in Tanta nicht bekommen konnte. Mit meiner Vorliebe für elegante Schuhe hatte ich schnell gefunden, was mir gefiel, sogar mit einer dazupassenden Handtasche. Immer wieder machten mich Gamal und auch Ahmed auf interessante Dinge aufmerksam. Doch auch hier gab es die anderen Seiten der ägyptischen Gesellschaft. Schmale oder auch unbefestigte Gassen mit herumliegendem Unrat, abgebrochenen Eingangsstufen, kleinen Rinnsalen von undefinierbaren Abwässern und den dazugehörigen, mit Fliegen übersäten, schmutzigen kleinen Kindern gab es hier genau wie in Tanta. Nur bot sich in Kairo die Möglichkeit, es zu übersehen, es nicht zu bemerken. Als zivilisierter Mensch, der etwas auf sich hielt, betrat man diese Seitenstraßen nicht. Nur Touristen taten das und fotografierten sogar noch, was man gar nicht gerne sah. Ein kultivierter Ägypter war nicht kleinlich mit Münzen, um die man unaufhörlich angebettelt wurde, mied jedoch diese verwahrlosten Gassen. Die breiten Boulevards boten genügend Abwechslung, und es war auch meiner Familie nicht angenehm, von dreisten Bettlern angefaßt zu werden. Als wir dann etwas erschöpft das Americain betraten, machte ich große Augen. Ein großzügiges, elegantes Lokal, in dem man mit frischen Fruchtgetränken seinen
Durst stillen oder auch etwas essen konnte. Das Publikum machte auf mich einen sehr europäischen und auch eleganten Eindruck. Galabijas sah ich hier keine. Man orientierte sich an Frankreich, vielleicht auch an Amerika. Die ägyptischen Frauen gaben sich selbstbewußt, westlich schick gekleidet saßen sie an kleinen Tischen und schwatzten. Man sah zwar auch in Kairo Fellachinnen, die zum Teil verschleiert waren, hier hinein jedoch kam keine von ihnen. Wir ruhten uns ein wenig aus, erfrischten uns mit Mangasaft, und nachdem wir den Ablauf des restlichen Tages besprochen hatten, trennten wir uns. Ahmed, der einen etwas angeschlagenen Eindruck machte, mußte, da kein Dienstbote dabei war, Hagges Einkäufe schleppen, und sein Ächzen war förmlich zu hören. Gamal winkte ein Taxi heran, und er und ich fuhren ins Museum. Es wurden fünf wunderschöne Stunden. Voller Stolz zeigte er mir die Zeugen der alten Kultur Ägyptens. Wir wanderten von einer Ebene zur anderen, und er erklärte, redete und zeigte mir diese Herrlichkeiten. Ich war überwältigt. Vor einem goldenen Streitwagen mimte er lachend und voller Begeisterung den Königssohn, der diesen Wagen gelenkt hatte. »Heiuka, sieh dir das hier an! Ist Ägypten nicht schön?« Ja, hier war es schön, und ich mußte ihm begeistert zustimmen. Tage hätte man gebraucht, um alles zu sehen und zu würdigen. Da mir Gamal jedoch noch die Universität zeigen wollte und auch meinte, ich hätte zuwenig von der Stadt gesehen, brachen wir auf. Vom Taxi aus machte er mich immer wieder auf eindrucksvolle Gebäude aufmerksam, und schließlich nahmen wir uns eine halbe Stunde Zeit, um über die Löwenbrücke auf die andere Seite des Nils zu spazieren. Es würde bald dunkel sein, und unter uns floß breit und gelb der Nil. Fellachen in ihren langen Galabijas, mit Turban oder kleiner Kappe, dem Torbusch, auf dem
Kopf, lenkten gemächlich ihre Felluken über das Wasser. Fremd und beeindruckend war alles um mich herum, und in diesem Moment spürte ich wieder das Leben in mir. Sightseeing im Schnelldurchlauf, doch ich war Gamal so dankbar dafür. Durchatmen, reden und lachen, bewundern und staunen ohne Zurechtweisung oder Tadel. »Gamal, findest du, ich benehme mich wie eine Hure?« »Wer sagt das?« »Dein Bruder. Er hat sich verändert, seit wir hier in Ägypten sind, und sagt und tut manchmal Dinge, die ich nicht verstehe.« »Das sollte er nicht sagen. Du bist anders als unsere Frauen. Und nun im Heimatland, in seiner gewohnten Umgebung fällt ihm das wieder deutlicher auf als in Deutschland. Aber du mußt das nicht tragisch nehmen. Wenn er sich mit dir beschäftigt und dich auch manchmal beschimpft, ist das doch ein Zeichen dafür, daß er dich sehr liebt. Sieh mal, hätte ich zum Beispiel einer ägyptischen Schwägerin einen Museumsbesuch vorgeschlagen, hätte sie abgelehnt. Sie hätte gewußt, daß das nach unseren Sitten unschicklich ist und sie in ein schiefes Licht bringt. Du weißt das nicht und hast sofort zugestimmt. Verstehst du, was ich meine? Natürlich war die Erlaubnis von Ahmed notwendig, die er ja auch gegeben hat. Aber für ihn wäre es einfacher, nicht in einer solchen Situation zu sein. Es ist ihm einfach lästig, um etwas gefragt zu werden, dem er nur halbherzig zustimmen kann. Und mich hat es gereizt, dir ein Stück Kairo zu zeigen.« »Aber warum hat er dann eine Deutsche geheiratet. Diese ständigen Probleme und Mißverständnisse konnte er doch voraussehen?« »Daran erkennst du, wie sehr er dich liebt.« Die Einsicht in eine solche Logik blieb mir verschlossen. Die freundschaftlich liebenswürdige Art, mit der er mir
eine der aufregendsten und beeindruckendsten Seiten Ägyptens gezeigt hatte, hatte mich vergessen lassen, daß Gamal ein Mensch dieser Kultur, ein hineingeborenes Mitglied dieser Gesellschaft war, ein Bruder meines Ehemannes. Seine letzte Bemerkung machte mir dies wieder bewußt, und ich mußte darüber lächeln, wie mühelos ich auf Wolken zu heben war. Bei Rahn angekommen, hörten sich alle meine Begeisterung über das Gesehene lächelnd an. Aber auch leichtes Unverständnis war bei den Frauen zu spüren. Was für merkwürdige Interessen doch Europäerinnen hatten. Dem Vernehmen nach waren einige Damen der Familie wohl schon einmal vor den Pyramiden gewesen, hatten aber sonst nichts von den geschichtlichen Herrlichkeiten ihrer Heimat gesehen, interessierten sich auch nicht im geringsten für Monumente oder Bauwerke, die in allen Schulbüchern dieser Welt besprochen werden. Hagg, der inzwischen aus Luxor zurückgekommen war, lächelte mich an. »Daß Frauen sich überhaupt für solche Dinge interessieren. Du denkst über zu viele Dinge nach, Heiuka, Frauen sollten das nicht tun.« »Ich sage doch immer, die Deutschen haben nur verrücktes Zeug im Kopf«, ließ sich Ahmed vernehmen. Hagg sah ihn fragend an. »Warum hast du nicht deine Frau durch die Stadt geführt, warum hat Gamal das gemacht?« »Das wäre von der Zeit her nicht gegangen. Ich mußte mich um Mama und ihre Einkäufe kümmern, das weißt du doch, oder sollte ich sie alleine durch die Stadt laufen lassen?« Jeder wußte, daß Ahmed alles haßte, was seine Ruhe und Bequemlichkeit störte, und so wurde kein Wort mehr darüber verloren. Die Ausrede war zu fadenscheinig. Im Auto dichtgedrängt, fuhren wir spät in der Nacht,
nachdem Rahn uns noch ein üppiges Nachtmahl serviert hatte, nach Tanta zurück.
11
Ein Hoffnungsschimmer am Horizont
Die Renovierungsarbeiten in unserer Wohnung waren in vollem Gange, und es würde nicht mehr lange dauern, bis Ahmed, Nessim und ich auf die erste Etage in unser eigenes Reich ziehen konnten. Ahmed sprach lediglich über das Schlafzimmer, das in Auftrag gegeben worden war. Über Sitzmöbel, Tische oder sonstiges Mobiliar sagte er nichts. Und da ich auf Fragen immer nur hörte: »Inshaallah, bokera«, gab ich es schließlich auf. Es würde schon alles geschehen, ich mußte nur Geduld haben. Sonderbarerweise bemerkte ich an mir einen gewissen Gleichmut. Meine Skizzen mit Ideen für die Einrichtung hatte ich in eine Schublade gelegt, und dort blieben sie auch. Es interessierte sich eh niemand dafür und Ahmed am allerwenigsten. Alle Pläne und Unternehmungen wurden von Gottes Willen abhängig gemacht, und es würde wohl so sein, daß mich diese gottergebene Lethargie irgendwann auch einlullen würde und ich die Hälfte des Tages verschlief. Aber immer wieder war ein Nachmittag bei Anna willkommen. Ich fühlte mich wohl in diesem Haus, hütete mich aber davor, noch einmal Wein zu trinken. Mir schien, diese Besuche waren Ahmed im Laufe der Zeit ein Dorn im Auge geworden, und er wartete nur darauf, daß ich einen Fehler machte, damit er einen Grund hatte, mir die Fahrten dorthin verbieten zu können. Anna war überglücklich über ihre Schwangerschaft und wurde langsam rundlich. Es ging
ihr ausgezeichnet, und Alis Mutter umsorgte sie mit liebenswürdiger Umsicht. »Ahmed läßt sich gar nicht mehr sehen. Hat er viel zu tun? Es wäre doch schön, wenn ihr beiden uns abends einmal besuchen würdet.« »Ich glaube nicht, daß Ahmed das möchte. Er befürchtet vielleicht, daß ich geplaudert und mich bei dir beklagt habe.« Sie sah mich erstaunt und fragend an: »Über was beklagt, ist etwas vorgefallen?« Ich hatte ihr bisher nichts erzählt und auch nicht die Absicht gehabt, weil sie mit einigen Abstrichen alles in ihrer neuen Heimat in Ordnung fand. Aber nun kamen mir die Tränen, und ich erzählte ihr von verschiedenen Situationen, davon, daß Ahmed mich geschlagen hatte und daß das nach Aussagen meiner weiblichen Verwandten zur Ehe und Liebe dazugehöre und völlig normal sei. Daß mein Paß sich im Tresor meines Schwiegervaters befände und über Ahmeds Drohung, daß ich Deutschland nie mehr wiedersehen würde. »An manchen Tagen möchte ich meine Koffer packen und dies hier einfach als traurige Episode hinter mir lassen. Diese verschwommene Vorstellung der Menschen hier von Europa oder Amerika, verbunden mit dem absoluten Anspruch auf Reinheit und moralische Richtigkeit in ihrer Lebensweise überfordert mich oft. Hinzu kommt die gottergebene Lethargie und Gleichgültigkeit, der sogar ihre jahrtausendealte Kultur zum Opfer fällt. Ich habe es aufgegeben, mich bei Ahmed zu beklagen. Er lacht nur und freut sich darüber, daß ich das Land ohne seine schriftliche Erlaubnis nicht verlassen kann. Wenn man die Spielregeln nicht kennt und so Fehler nicht verhindern kann, ist der Alltag eine Aneinanderreihung von Demütigungen. Sich den von der Religion und den Männern erlassenen Gesetzen und Richtlinien zu widersetzen ist ungebührlich und wird bestraft. Würde ich je meine Empfindungen in der
Familie äußern, ich könnte deutsch sprechen und würde die gleiche belustigte Verständnislosigkeit ernten, denn: Frauen sollen gebären und Demut im Gehorsam zeigen, eigene Gedanken sind verpönt.« Anna sah mich bestürzt an, meine Enttäuschung und Verbitterung machten sie sprachlos. »Sicher sind dir Unterschiede zwischen deiner und meiner Familie nicht entgangen. Du hast das Glück gehabt, daß Alls Verwandte aufgeschlossen, westlich orientiert und nicht so sehr mit den alten Bräuchen verwachsen sind. Ahmed ist zu seinen Wurzeln zurückgekehrt, und alles, was ich von meiner Persönlichkeit und den Sitten her, in denen ich erzogen worden bin, anders mache, gilt in seinen Augen als hurenhaft. Wenn ich daran denke, daß auch Ahmed fünf Jahre in unserem Land gelebt hat, verstehe ich es zwar nicht, aber es ist so.« Ali war ins Zimmer getreten und begrüßte mich traurig. Er hatte alles gehört und versuchte nun, mich ein wenig zu trösten. Auch er war der Meinung, daß Ahmeds Verhalten nicht richtig sei. »Aber einmischen kann ich mich da nicht. Ahmed und ich haben uns erst in Deutschland kennengelernt. Hier in Tanta hatte jeder seinen eigenen Freundeskreis, und die Familien haben so gut wie nichts miteinander zu tun. Du verstehst also, daß unserer Beziehung keine Freundschaft zugrunde liegt, in der der eine dem anderen Ratschläge, Vorschläge oder gar Vorwürfe machen kann. Habe ich dich eben richtig verstanden, daß du gerne mit Nessim nach Deutschland zurückkehren möchtest?« »Da hast du mich richtig verstanden. Aber das zu erörtern ist sinnlos. Ich kann das Land ja nicht verlassen. Ahmed würde mir niemals eine schriftliche Erlaubnis geben, und meinen Paß würde er auch nicht herausgeben.«
Er sah seine Frau an, die der Unterhaltung schweigend zugehört hatte und auch jetzt nichts äußerte, wandte sich dann wieder mir zu und bot mir an: »Wenn du meine Hilfe brauchst, werde ich mich in dieser Richtung umhören.« Ich war zuerst einmal sprachlos und sah von einem zum andern. »Wie soll ich das verstehen? Würdest du mit Ahmed sprechen und ihn bitten, mich mit dem Kind gehen zu lassen?« »Nein, nein, so war das nicht gemeint. Das könnte ich Ahmed nicht fragen. Sieh mal, wenn Anna ihre Mutter besuchen möchte, kann sie jederzeit fahren. Ich hätte auch keine Befürchtungen, daß sie nicht zurückkäme. Du siehst, Ahmed und ich haben da verschiedene Ansichten. Mein Anspruch an den Gehorsam der Frau in der Ehe geht nicht so weit, daß ich sie gegen ihren Willen festhalten würde. Mit Umhören meine ich das Spiel von Beziehungen. Ich kenne Leute in der Regierung, die mir vielleicht behilflich sind, wenn ich sie darum bitte. Über diesen Kanal könnte ich eventuell an einen falschen Paß für dich und Nessim kommen.« »Mein Gott, Ali, würdest du das tun?« Sofort stellte sich bei mir ein Gefühl der Befreiung ein. Schon allein die Aussicht, jederzeit reisen zu können, keine Fesseln mehr zu spüren, ließ mich tief durchatmen. Vielleicht würde ich die Möglichkeit nie nutzen. Tief in meinem Innersten dachte oder hoffte ich, daß ich nach weiteren drei oder auch fünf Jahren hier in Ägypten mich besser eingelebt, mich angepaßt hätte. Vielleicht würde ich die vom Koran so streng aufgestellten Lebensregeln zu den meinen machen können und Sitten und Gebräuche nicht mehr als Ketten empfinden. Schließlich hatte ich mich auch an das fremdartige Essen und die Sprache gewöhnt.
»Heike, ich werde sehen, was ich tun kann. Es wird eine Weile dauern, ehe du in dieser Angelegenheit wieder von mir hörst. Aber du wirst von mir hören. Und noch eins: Wie eine solche Ausreise erfolgen wird, kann ich erst sagen, wenn ich mit den entsprechenden Leuten gesprochen habe. Ich könnte mir vorstellen, daß es heimlich und schnell, also fluchtartig passieren muß. Ich empfehle dir, kleines Handgepäck bereitzuhalten, damit du bei einem eventuellen Anruf das Haus schnell und ohne Umstände verlassen kannst, nur mit Nessim auf dem Arm und einer Tasche dabei.« Ich wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen. Er verabschiedete sich, und Anna sah mich schweigend an. Über ihre Schwierigkeiten in Tanta oder in der Ehe hatte sie zu mir nie gesprochen, jetzt sagte sie aber: »Glaube nicht, daß es für mich keine Probleme gibt. Was du erleben mußtest, wird mir sicher in diesem Haus nicht zustoßen, dafür gibt es eben anderes, mit dem ich fertigwerden muß.« Eine Erklärung gab sie dazu nicht, sie schwieg, und ich dachte an die anderen Frauen, die Ali in Köln gekannt hatte. »So wie es aussieht, wirst du hier wohl kein Kind mehr bekommen wollen. Würdest du mir Nessims Babyausstattung, Windeln, Hemdchen und Moltontücher überlassen? Ich würde die Sachen natürlich bezahlen.« Zu einer so praktischen Überlegung und einem so abrupten Themenwechsel wäre ich in diesem Moment nicht fähig gewesen, stimmte aber sofort zu. Da ich überhaupt kein eigenes Geld hatte, würde ich mit ein paar Pfund von Anna etwas flexibler sein. Ich würde wieder eine eigene Geldbörse besitzen und nicht um jeden Piaster bitten müssen. Ein schöner Gedanke. Etwas beklommen, aber doch aufgemuntert fuhr ich nach Hause. Ich saß in der Pferdekutsche und drückte Nessim
fest an mich. Die Fliegen, die Hitze, der Unrat in den Gassen, die gaffenden Leute, alles war mit einemmal halb so schlimm. Der Druck war weg. Radios plärrten, der Kutscher brüllte seine Achtungsrufe, Leute schrien und über allem der Muezzin, der aus vielen Lautsprechern in ohrenbetäubender Lautstärke die Gläubigen zum Gebet rief. Und ich saß lächelnd in der Kutsche und summte meinem Sohn eine deutsche Melodie ins Ohr. Er drehte sein Köpfchen zu mir und lächelte mich an. Meine Zufriedenheit übertrug sich auf ihn, und wir beide waren ein Herz und eine Seele. Zu Hause angekommen, blieb ich gleich auf der ersten Etage. Die wenigen Möbel, die es bisher in der neuen Wohnung gab, waren schnell aufgestellt. Der Schreiner hatte das Schlafzimmer geliefert, wobei ich nach meinen Wünschen nicht gefragt worden war. Es war einfach eines Tages da und ähnlich scheußlich wie die Möbel des Zimmers, in dem wir bei meinen Schwiegereltern gewohnt hatten. Doch da ich es leid war, von Ahmed ausgelacht zu werden, fand ich es schön und richtete mich ein. Endlich war auch Nessims Bettchen entsprechend meiner Zeichnung fertig geworden. Ein weites Zimmer wurde nun als Kinderzimmer beziehungsweise Gästezimmer eingerichtet. Außer Nessims Bett gab es noch ein Erwachsenenbett für die Zeit, in der meine Mutter uns besuchen würde. Die Säle und die weiteren Zimmer blieben leer. »Kommen denn noch Sessel oder Stühle und ein Tisch? Zum Essen müssen wir uns ja doch setzen können.« »Inshaallah, und essen können wir ja weiterhin oben«, war Ahmeds Antwort. Für die Küche lieh ich mir von oben zwei Stühle, und so saßen Nessim und ich bei unseren Mahlzeiten hier. Es war auch der einzige Raum, in dem ich mich wohl fühlte. Nessim schien das alles nicht zu bekümmern, er war guter Dinge und war die meiste Zeit des Tages damit
beschäftigt, auf seinem kleinen Po entweder von der oberen Wohnung in unsere runterzurutschen oder auf allen vieren wieder hinaufzukrabbeln. Dabei wußte er bereits sehr genau, wann er deutsch plappern mußte und wann arabisch. Manchmal gab ihm jemand von oben in Arabisch etwas mit auf den Weg, und auf halber Treppe rief er mir in deutscher Sprache zu, was ihm oben aufgetragen worden war. Das machte mich immer sehr glücklich, und ich fing ihn dann unten in meinen Armen auf. »Mama, Sakäja hat Mahschi (gefüllte Zucchini) gemacht, wollen wir raufgehen?« Er wußte, daß ich Mahschi besonders gerne mochte, wenn Sakäja sie gekocht hatte, und wir gingen zum Abendessen nach oben, um im Kreis der ganzen Familie zu essen. Häufig bekam ich Besuch von einzelnen Familienmitgliedern. Fatma oder die beiden jüngeren Schwäger. Dann saßen wir mit einem Glas Tee auf dem Balkon und schwatzten. Ahsähn kam immer dann, wenn sie Einkäufe zu machen hatte, zuerst bei mir vorbei, um zu hören, ob sie mir etwas mitbringen solle. Als sie bei einer solchen Gelegenheit aus der Stadt zurückkam, um Gemüse und Butter bei mir abzuladen, blieb sie ungewohnt lange am Tisch stehen und wollte mir etwas sagen, traute sich aber nicht so recht. »Setti Heike, ich muß Ihnen etwas sagen, das kann ich aber nicht hier in der Küche, weil jeden Moment jemand von oben hinter uns stehen könnte, den wir nicht bemerkt haben.« Das stimmte wohl, denn die Tür zum Küchenflur stand immer offen, weil die Klinke für Nessim zu hoch war. »Dann gehen wir doch durch«, sagte ich zu ihr und war neugierig geworden. Wir gingen auf den Balkon, und ich lehnte meine Arme auf das Geländer, sie blieb jedoch hinter mir stehen und sagte immer noch nichts. Auch hier
war es ihr offenbar zu gefährlich, denn von oben hätte man sie eventuell hören können. Ich nahm sie also bei der Hand, und wir gingen ins Schlafzimmer. Sie schloß die Tür und blieb dort stehen. Ich setzte mich aufs Bett. »Was gibt es, Ahsähn, hast du ein Geheimnis?« »Es ist nicht wegen mir. Seit längerem wollte ich Ihnen etwas sagen, was Sie wissen sollten. Man tuschelt, Sie sollten aufpassen. Alle hören, wie gut Sie sich mit Sidi Gamal verstehen, und in Kairo waren Sie sogar einen halben Tag mit ihm allein unterwegs. Wenn Sidi Ahmed nicht anwesend ist, wird darüber gelacht. Bitte entschuldigen Sie, es geht mich überhaupt nichts an und ich dürfte Ihnen das gar nicht sagen, es würde mir nur sehr leid tun, wenn Sie dadurch Schwierigkeiten bekämen. Sidi Gamal sollte das wissen, Ihr Ruf könnte leiden. Ich merke, daß es für Sie hier nicht leicht ist, aber es könnte durch üble Nachrede noch schwerer werden. Bitte erzählen Sie niemandem, daß ich Ihnen das heute gesagt habe.« Sie war ein sehr liebes Mädchen, und was sie hier machte, war riskant, es war ein Vertrauensbruch gegenüber ihrem Brotherrn, und ich würde bestimmt niemals darüber reden. Mir wurde warm im Magen, und ich wäre gerne zu ihr hingegangen und hätte ihre Hand genommen. Aber sie stand kerzengerade mit niedergeschlagenen Augen an der Tür, und was mich in diesem Moment bewegte, hätte ich ihr durch Vertraulichkeit nicht zeigen dürfen, das tat man einfach nicht. Sicher hatte es sie eine große Überwindung gekostet, ihren Vorsatz in die Tat umzusetzen. »Ahsähn, bitte sieh mich an. Ich bin gerührt, und Allah wird es dir danken.« Ein kleines Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, das Zuneigung und Verständnis anzeigte. Dann nickte sie kurz und verließ das Zimmer. Ich blieb noch eine Weile stumm auf dem Bett sitzen und dachte über das nach, was
mir Ahsähn gerade gesagt hatte. Diese Unterhaltungen mit Gamal, oft von Lachen unterbrochen, waren wohl für hiesige Verhältnisse zu intim. Man registrierte es, beäugte uns, und eine Liebesgeschichte war schnell interpretiert. Lebensbejahung und Lebenslust waren Grundzüge meines Wesens, und die würden mich hier teuer zu stehen kommen, wenn ich nicht achtgab. Es war für eine Frau unschicklich, in Gegenwart von Männern Frohsinn zur Schau zu stellen oder Freude zu zeigen, in jedem Fall wurde es zweideutig, wenn in diese Fröhlichkeit Männer miteinbezogen waren, ob es sich dabei um einen vierzehnjährigen Schwager oder einen siebzigjährigen Onkel handelte. Oft schon war mir bei Ahmeds jüngsten Brüdern Omar und Jussuf aufgefallen, daß, wenn ich ihnen im Vorbeigehen ein fröhliches »Hallo, wie war es in der Schule?« zurief, sie sich leicht verlegen ansahen und dann zur Seite wandten. Ein solches Verhalten war ihnen einfach zu fremd, und sie waren noch zu sehr Kinder, um ihre Reaktion hinter Höflichkeit zu verstecken. Hagg hatte meine Art, die in Deutschland niemandem besonders aufgefallen wäre, einmal mit Damm chafifa – leichtes Blut betitelt, wobei er es lieb gesagt und sicher auch so gemeint hatte. Natürlich hatte ich mittlerweile gelernt, daß man sich in der Öffentlichkeit gemessen gab, aber warum sollte ich mich in meinem eigenen Haus verstellen. Oft, wenn Gamal ein Lied singend zur Tür hereinkam, stimmte ich mit ein, er schwieg dann und ließ mich die nächste Zeile weitersingen. Wir lachten dann beide. Ich, weil ich stolz war, diese fremdartige Melodie zu halten und die Worte richtig auszusprechen, und er, zufrieden darüber, daß ich behielt, was er mich lehrte. In solchen Minuten der Fröhlichkeit fühlte ich ein Stückchen Freiheit. Das würde hier allerdings niemand verstehen können, weil die Beziehungen zwischen
Männern und Frauen sich ausschließlich auf Geschlechtlichkeit reduzierten. Daher sollte ich Vorsicht üben, das müßte mir doch gelingen, dachte ich. Einerseits froh und erleichtert, in meiner eigenen Wohnung schalten und walten zu können, war ich andererseits erstaunt über mich selber, eine Rundumzufriedenheit wollte sich nicht einstellen. Weder wurde ich gequält, noch litt ich Not an Materiellem, also müßte es doch möglich sein, aus dem mir zur Verfügung Stehenden das Beste zu machen. Aber es kam vor, daß mir bei einer Mahlzeit ohne äußeren Anlaß plötzlich Tränen in den gefüllten Teller tropften, und ich konnte nichts dagegen tun, nur ruhig warten, bis es aufhörte, und dann weiteressen. Natürlich war die arabische Auffassung von einem Eheleben eine ganz andere als die deutsche, das mußte ich gezwungenermaßen feststellen, obwohl ich in keiner Weise darauf vorbereitet worden war. Lüge und Wahrheit lagen hier so nah beieinander, daß ich nicht ergründen konnte, ob Ahmed mich in böser Absicht in grundlegenden Dingen belogen hatte oder ob es für ihn nur Schönfärberei gewesen war. Denn eine Frau war hier in dieser Männerwelt eine so unwichtige Angelegenheit, daß man ihr nichts erklärte, sondern einfach abwartete, ob sie eine »gute« Frau war. Wenn sie es nicht war, blieb ja noch die Züchtigung. Wenn sie allzuviele Schwierigkeiten machte, war da noch die Möglichkeit der dreimaligen Äußerung »Ich verstoße dich«, und schon war die Ehe aufgelöst. Und es war auch keineswegs so, daß die Vier-Frauen-Ehe ein alter Hut war, wie Ahmed mir am Tage unserer Eheschließung so vehement versichert hatte. Hagg hatte mal erzählt: »Mein Bruder hat drei Frauen. Für mich kommt das nicht in Frage, ich bin zufrieden mit meiner Aziza«, woraufhin Hagge sichtlich geschmeichelt
und verschämt lächelte. »Außerdem käme mich das zu teuer. Alle Frauen, die man heiratet, müssen gleich gehalten werden, und unter Umständen wird das ein erheblicher Aufwand.« Die unterschiedliche Wertigkeit von Männern und Frauen wird in Ägypten durch religiöse und gesetzliche Vorschriften zementiert. Schon ganz kleine Mädchen erleben hier täglich, daß Jungen in allem vorgezogen werden, und so wachsen sie in dem Bewußtsein auf, daß männliche Mitglieder der Familie mehr wert und auch klüger sind, weil in der Regel die Jungen bessere Schulen besuchen. Sie lernen täglich, daß die Meinung der Männer in jedem Fall maßgeblicher ist als ihre eigene. Und es ist für sie ganz selbstverständlich, daß diese Situation gottgewollt, also unumstößlich richtig ist. Die gottergebene Unterordnung gehört zu ihrem Leben, das Sichfügen zu ihrem Alltag. Auch Ahmed war mit dieser Geringschätzung der Frau aufgewachsen, und hätte er nicht einige Jahre in Deutschland gelebt, könnte ich seine jetzige Haltung eventuell verstehen. Aber so, wie die Dinge lagen, war es für mich nicht zu begreifen. Sein offensichtlicher Stolz, Macht ausüben zu können, indem er mir die Ausreise verwehrte, war kindisch und bösartig, wurde jedoch auch noch untermauert durch ein Gesetz, das eine schriftliche Erlaubnis des Ehemannes vorschrieb. Um keine Schritte in Richtung einer Flucht unternehmen zu können, die Geld kosten würden, fand ich seit unserem Umzug jeden Morgen einen Betrag von fünfundzwanzig Piaster auf dem Küchentisch. Mit diesem Schein konnte ich wirklich nur Brot, Fuhl oder Milch bezahlen. Das Risiko, von diesen zwei Mark fünfzig etwas zurückzulegen, bestand nicht, und so konnte ich keine unerlaubten Pläne schmieden.
Obwohl sich Ahmed kaum in unserer neuen Wohnung aufhielt, wurden eines Tages vier Sessel, ein Tisch und ein teppichähnliches Textilgebilde für den Fußboden gebracht – einen echten Teppich wie in der Wohnung meiner Schwiegereltern war ich nicht wert. Nun gab es sogar ein richtiges Wohnzimmer, und ich war sehr glücklich darüber, auch wenn der nachempfundene Chippendale-Stil gar nicht mein Geschmack war. Endlich konnte ich Anna einmal einladen, und wir konnten ganz unter uns sein. In meiner Vorfreude rief ich sie gleich an. »Wir können es uns gemütlich machen bei Kaffee und Kuchen, stricken und schwatzen, und kein Mensch wird uns stören. Ist das nicht herrlich? Wann kannst du kommen?« »Das ist im Moment leider nicht möglich. Mir geht es durch die Schwangerschaft gar nicht gut, und der Arzt meint, ich solle mich ruhig verhalten, am besten im Bett liegen. Wen es mir wieder bessergeht, rufe ich dich an.« Ich war sehr enttäuscht, aber ihr Zustand hatte selbstverständlich Vorrang. Ich hielt mich gerne in dem neuen Wohnzimmer auf, es erinnerte mich entfernt an die Wohnung meiner Mutter und ihre Gemütlichkeit. Wolle und andere Handarbeitsutensilien lagen bereit, mit denen ich mir die Zeit vertrieb. Denn die Monotonie und die Langeweile machten mir manchmal schwer zu schaffen. Als ich für Hagge eine Strickjacke begonnen hatte, die mich eine Weile in Anspruch nehmen würde, löste das bei allen verwunderte Begeisterung aus. Da Handarbeiten in der Familie überhaupt nicht üblich waren, wurde Hagges neue Strickjacke mit einem besonderen Lob für mich immer mal wieder erwähnt. »Was macht Hagges neue Jacke?« fragte Hagg öfter. »Es geht nur langsam voran. Zwischendurch mache ich noch schnell ein Pullöverchen für Nessim. Abends ist es doch recht kühl.«
»Sind bei euch die Frauen immer so beschäftigt?« »Wenn sie keinem Beruf nachgehen, beschäftigen sie sich eben zu Hause.« »Heiuka, du wirst ab nächste Woche ein Hausmädchen haben. Ich habe eines für dich eingestellt. Sie ist zwar erst zwölf Jahre alt, aber du kannst sie anlernen, ihr beibringen, wie du deinen Haushalt geführt haben möchtest. Sie wird für dich einkaufen, Nessim hüten, die Wohnung oder die Fenster putzen und dir bei allen Arbeiten zur Hand gehen.« Die Idee gefiel mir, und ich bedankte mich für seine Umsicht. Vor allem sollte sie oben Hagge und Sakäja beim Kochen auf die Finger schauen. Zum einen hatte ich Vorlieben für ägyptische Gerichte entwickelt, von denen ich die Zubereitung nicht kannte, zum anderen ging es mir ein bißchen an die Ehre, daß Ahmed in seinem eigenen Heim nichts Gewohntes zu essen bekam.
12
Alexandria
Schon seit einiger Zeit wurde die Reise nach Alexandria geplant, die die Familie jeden Sommer unternahm. In der heißesten Zeit hielt man sich verständlicherweise gerne am Meer auf, wo es erträglicher war. Direkt an der Strandpromenade gehörte der Familie eine Wohnung, die auch von den erwachsenen Kindern mit ihren Familien im Laufe des Jahres genutzt werden durfte. Schon seit Tagen herrschte große Geschäftigkeit. Ahsähn war ausschließlich damit beschäftigt, Vorräte zu sortieren, die Waschfrau zu beaufsichtigen, die Berge von Wäsche in Ordnung zu bringen hatte. Wenn Sakäjas Zeit es erlaubte, half sie tatkräftig mit und sorgte dafür, daß Ahsähn Getrocknetes zum Maquagi schaffen konnte. Langsam sammelten sich im Küchenflur Kisten und Körbe. Die Schneiderin war bestellt worden, um für Fatma, Hagge und mich verschiedene leichte Kleidungsstücke anzufertigen. Auch die Mädchen bekamen neue Galabijas. Die allgemeine Aufregung hatte sich auch auf mich übertragen, konnte ich doch endlich den neuen Badeanzug anziehen, den ich von meiner Mutter zu Weihnachten geschickt bekommen hatte. Sicher würde es eine schöne Abwechslung, und ich freute mich auf das Meer und auf die neu zu entdeckenden Dinge. Da Gamal, genau wie die anderen Geschwister, Ferien hatte, konnte der Chauffeur in Tanta bleiben. Gamal würde den Wagen fahren und als Vorhut Ibrahim und Ahsähn mit dem größten Teil des Gepäcks schon
einmal nach Alexandria bringen. Die beiden sollten die Wohnung säubern und herrichten, denn es war seit Monaten niemand mehr dort gewesen. Hagg hatte ich seit zwei Tagen nicht mehr gesehen, und ich fragte mich, ob er auf einer Reise nach Oberägypten vielleicht in Kairo bei Rahn Station gemacht hatte und anschließend noch Latifa besuchte. Denn sie wohnte ja jetzt auch in Maadi, einem Vorort von Kairo. Als ich Ahmed fragte, bekam ich die Antwort: »Du mußt nicht alles wissen, frag nicht so viel.« Ich würde schon erfahren, wo er gewesen war. Ich war jetzt fast jeden Abend oben bei Hagge und Hagg, denn es gab seit ein paar Tagen einen Fernsehapparat, ein sehr großes Gerät, das im kleinen Saal auf einer Anrichte stand. Obwohl die Programme mir überhaupt nicht zusagten, war es doch eine willkommene Abwechslung in dieser Monotonie. Leider verstand ich von den Nachrichten, die in Hocharabisch gesprochen wurden, kaum etwas, denn im täglichen Gebrauch benutzte man nur Umgangsarabisch. Die gesendeten Filme schienen einem Kinderprogramm entnommen. Liebesfilme nach Rosenresli-Art wechselten mit Geschichten aus der englischen Kolonialzeit, in denen die Engländer als böse Unterdrücker gezeigt wurden. Alles auf das Verständnis eines Zehnjährigen zugeschnitten. An einem Abend auf meinem Weg nach oben hörte ich auf der Treppe Haggs Stimme. Er war also wieder da. Erfreut ging ich durch die Haupttür in den großen Saal, da seine Stimme aus dieser Richtung zu kommen schien. Als ich ihn dort nicht sah, wandte ich mich zum kleinen Saal, und da kam er gerade auf mich zu. Er schien aus dem Bad zu kommen. Mit ausgestreckter Hand lief ich auf ihn zu. Er jedoch blieb abrupt stehen, sah mich schweigend an und nahm seine Hände auf den Rücken. Auch ich war nun stehengeblieben, meine ausgestreckte
Hand hatte ich zurückgenommen, und nun standen wir uns in etwa drei Metern Abstand gegenüber. »Läßt du mich bitte vorbei?« Ich war sprachlos, mir keiner Schuld bewußt, warum gab er mir nicht die Hand und stand da wie ein trotziges Kind mit auf dem Rücken versteckten Händen. Zur Seite tretend, ließ ich ihn vorbei und sah ihm nach, wie er in sein Zimmer ging. Still ging ich auf den Balkon und überlegte, was um Gottes willen geschehen sein konnte, warum er so merkwürdig reagiert hatte, warum er mir nicht die Hand gab. Hatte ich etwas getan, von dem ich nicht wußte, daß es falsch war? Wir hatten uns doch immer gut verstanden, hatte ich ihn mir mit einer Unüberlegtheit zum Feind gemacht? Aber wann, ich hatte ihn doch zwei Tage nicht gesehen. Ich überlegte fieberhaft, war auch ein bißchen panisch, kam aber zu keinem Resultat. Mir fiel einfach kein möglicher Patzer ein. Er war neben Gamal die einzige Person, die mir meine Andersartigkeit nicht übelnahm, sondern sie akzeptierte. Sicher hätte er mit mir gesprochen, aber konnte ich da so sicher sein? Vielleicht hatte ich ja mit einer Unachtsamkeit Hagge beleidigt, und sie hatte es ihm erzählt. Allerdings war ich vorsichtig in der Wahl meiner Worte und konnte mir das nicht vorstellen. Irgend jemand hatte den Fernseher angestellt, und ich ging langsam durch den großen in den kleinen Saal, um mich abzulenken. Traurig wie ich war, ging ich bedächtig und schaute vor mich hin. Als ich aufsah, bemerkte ich Hagg auf dem Sofa sitzend, einen kleinen Imbiß verzehren, den Sakäja gerade vor ihn hingestellt hatte. »Komm, iß mit mir eine Kleinigkeit, Heiuka, und mach nicht so ein Gesicht.« Verdutzt sah ich ihn an und war verwirrt. War das eben nur eine Laune, wollte er meine Reaktion erleben auf seine Unfreundlichkeit? Er lachte mich an.
»Komm, begrüß mich jetzt, du darfst mir jetzt wieder eine Hand geben. Ich habe Latifa besucht, um zu sehen, wie es ihr geht. Sie bewohnt eine sehr schöne, gerade fertiggestellte Wohnung ganz in der Nähe der Schule, in der Shiker unterrichtet. Ihr und den Kindern geht es gut, und ich soll dich grüßen.« Als ich immer noch nichts sagte, lächelte er mich an. »Ich muß es dir also erklären. Das könnte ja nun wirklich dein Mann übernehmen, aber er ist für alles zu bequem und schläft wohl jetzt. Paß auf, Heiuka, wenn ich mich gewaschen habe, um zu beten, darf ich keine Frau berühren. Beten darf ich nur im reinen Zustand.« »Soll das heißen, daß ich dich in einen unreinen Zustand versetze, wenn ich dich begrüße?« »Ja, so ist das.« Was war das für eine Religion? Mir schien, die Grundzüge dieser Lehre waren ausgerichtet auf die Demütigung der Frauen. Warum? War Mohammed ein Frauenhasser gewesen? Das konnte aber doch nicht sein, meines Wissens hatte er mehrere Ehefrauen gehabt. Um solche Rätsel zu lösen, müßte ich wohl wirklich zum Islam konvertieren. In einer Koranschule würde ich all das lernen, dem ich jetzt nur mit Fassungslosigkeit begegnen konnte. Natürlich hätte auch Hagg anders reagieren können, als ich auf dem Flur auf ihn zulief. Aber auch er war wohl irritiert, daß ich auf seine Geste nicht entsprechend reagiert hatte. Wie oft schon hatte ich mit Hochachtung bemerkt, wie er auf meine für ihn so fremde Art einging und mich das eine oder andere für ihn Unbekannte erklären ließ. Das gelang aber nicht immer, in diesem Fall hatte ich ihn wohl überrascht. Jeder in der Familie freute sich auf Alexandria. Abends saßen wir zusammen, und ich bekam von Gamal, unterstützt von Ahmed und Yazid, die Herrlichkeiten der Stadt geschildert. Man würde mir die Zitadelle zeigen, nach Abukir sollte es gehen, jenem Ort, der durch die
große Seeschlacht, in der 1798 Admiral Nelson die Franzosen schlug, bekannt geworden war. Und natürlich würde ich den Montazah-Palast sehen, die ehemalige Sommerresidenz von König Faruk. Die Behältnisse für unsere Zeit in Alexandria stapelten sich langsam im Küchenflur. Nachdem sie die Wohnung in Alexandria hergerichtet hatte, hat Gamal Ahsähn wieder mit zurückgebracht, und jetzt kümmerte sie sich um die letzten Vorbereitungen, die noch zu erledigen waren. Man wollte in zwei Tagen fahren, und Sakäja, die vor Tagen schon eine große Metalldose mit Kahk, Gebäck, gefüllt hatte, kochte nun auf Vorrat ein paar Gerichte für den ersten Tag in Alexandria, bis wir uns eingerichtet haben würden. Vorratsbehälter mit Fett, Zucker, Mehl und Reis standen übereinander neben den Koffern. Ahsähn bügelte noch ein paar leichte Kleidungsstücke, von denen im letzten Moment noch entschieden wurde, sie unbedingt dabeihaben zu müssen. Jeder der Familie war in Aufbruchstimmung, und man schlief unruhig. Am Tag der Abreise sollte es morgens um fünf Uhr losgehen, und ich war eine Stunde früher aufgestanden, um Nessim zu füttern und fertig zu machen. Nachdem ich meinen Tee getrunken hatte, ging ich nach oben. Ich hatte noch keine Geräusche gehört und wunderte mich schon ein wenig. Als ich klopfte, öffnete mir Sakäja, aber ansonsten herrschte Stille. »Habt ihr verschlafen, Sakäja, warum steht das Gepäck noch hier?« »Hagg und Hagge schlafen, und es wird wohl nicht nach Alexandria gefahren.« Ich sah sie erstaunt an. »Fahren wir denn erst heute mittag? Hat Hagg vielleicht noch etwas zu erledigen?« »Ich muß mich ums Frühstück kümmern, Setti Heike.«
Mehr war nicht aus ihr herauszubekommen, und ich ging wieder hinunter, um Ahmed zu fragen, was das Ganze zu bedeuten hatte. »Mein Vater hat sich gestern in der Nacht noch furchtbar über etwas geärgert, und die Reise wurde abgeblasen.« »Werden wir denn überhaupt nicht fahren, oder hat Hagg die Reise nur verschoben? Und über was hat er sich so geärgert, und wieso wird dafür die ganze Familie bestraft? Alle waren doch so voller Vorfreude.« Er sah mich eisig an. »Die Entscheidung liegt bei meinem Vater, und es steht uns nicht zu, ihn zu kritisieren. Frag ihn doch selber, wenn du nicht abwarten kannst.« Nessim kletterte auf allen vieren die Treppe hinauf, und ich ging hinter ihm nach oben, um zu hören, wie es weitergehen sollte. Als ich hereinkam, saßen Hagge und Fatma im kleinen Saal und frühstückten. Hagg war nicht zu sehen. »Was ist los, warum fahren wir nicht?« Sofort liefen Fatma die Tränen über das Gesicht. »Hagg hat so entschieden, und so wird es sein.« Auf weitere Fragen bekam ich keine Antwort. Das Gepäck blieb unberührt stehen, nur Gekochtes wurde wieder in die Küche geholt und für diesen Tag vorbereitet. Hagg hatte sich offenbar in Klausur begeben, den ganzen Tag ließ er sich nicht sehen. Am Nachmittag, an der Situation hatte sich nichts geändert, kam mich Gamal besuchen, Ahmed saß bei seiner Mutter. »So wie ich meinen Vater kenne, wird es spätestens übermorgen losgehen. Sein Befinden hat sich dann soweit gebessert, daß er einsieht, nicht die ganze Familie für eine Mißstimmung strafen zu dürfen. Wenn es ihm allerdings schwerwiegend genug erscheint, kann es sein, daß er die Reise endgültig streicht.« »Bitte, Gamal, erklär mir doch, was das zu bedeuten hat. Was ist passiert?«
»Heiuka, ich weiß es nicht. Niemand im Haus weiß es, außer Hagge vielleicht. Die wird dir aber nichts erzählen. Ich werde jetzt einen Freund besuchen, heute fahren wir sowieso nicht mehr los.« Oben begegneten mir nur betretene Gesichter, und selbst zum allabendlichen Tee erschien Hagg nicht; der ganze Haushalt war wie gelähmt. Am nächsten Morgen war alles unverändert. »Werden wir denn heute fahren, oder soll ich wieder auspacken?« fragte ich Ahmed. »Frag Hagg, wie soll ich das wissen.« »Aber Hagg verläßt sein Zimmer nicht. Also kann ich ihn nicht fragen.« »So geht es uns allen. Er wird sich schon besinnen.« »Kannst du dir denken, was vorgefallen sein könnte? Die ganzen Vorbereitungen, all die Arbeit ist getan, und alle sind so enttäuscht. Kannst du nicht mal mit ihm reden?« »Das werde ich sicher nicht tun. Inshaallah wird alles in Ordnung kommen.« Ich war verwirrt, und darüber hinaus hatte ich insgeheim die Befürchtung, ich könnte die Verursacherin dieser Katastrophe sein. Zwar war ich mir keiner Schuld bewußt, aber bei den hiesigen gesellschaftlichen Regeln tappte ich immer noch oft im dunkeln, vor allem, da mir keiner deutlich sagte, was von mir erwartet wurde. Ich konnte unwissentlich die hierarchische Ordnung gestört haben, und keiner würde mich direkt auf mein Versäumnis ansprechen. Aber was könnte Hagg, der Äußerungen von mir meistens freundlich und auch neugierig aufnahm, in dieser Hinsicht so nachhaltig verärgert haben? Meine Grübeleien brachten mich nicht weiter, und der Tag verging wie der vorherige. Kurz nachdem der Muezzin am folgenden Morgen das erste Mal die Gläubigen zum Gebet gerufen hatte, hörte ich Hagg auf der Treppe in gewohnt lautem Ton Sakäja zur Eile antreiben. Da die Türen offenstanden, hörte ich ihn oben rufend durch die Räume laufen und mit seinen
Kommandos die Schläfer wecken. Ohne lang nachzudenken, beeilte ich mich, fertig zu werden. Unser Gepäck stellte ich auf den Treppenflur, Sakäja und Ahsähn würden sich darum kümmern müssen, da Ibrahim in Alexandria geblieben war. Dann nahm ich Nessim auf den Arm und ging nach oben. Erstaunt sah ich die ganze Familie beim Frühstück sitzen, als wäre nichts geschehen. Hagg strahlte mich an: »Einen wunderschönen guten Morgen, Heiuka. Komm, frühstücke mit uns. Hast du gut geschlafen? Das Gepäck ist schon runtergebracht worden, und wir können gleich fahren.« Ich setzte mich und sah von einem zum andern. Fatma lächelte mich an, und Gamal zwinkerte mir zu, als wollte er sagen: »Hab’ ich doch recht gehabt.« Ansonsten sah ich um mich herum nur gleichmütige Mienen. Allein Ahmed sah seine Mutter leicht fragend an, wobei diese aber nicht einmal zu erkennen gab, ob die Frage bei ihr angekommen war. Allah meinte es gut mit uns, und in etwas mehr als einer Stunde saßen wir alle ziemlich zusammengepfercht im Auto und fuhren Richtung Alexandria. Wir hielten vor einem sehr schönen alten Haus direkt an der Uferstraße. Es hatte vier Stockwerke und einen Aufzug, der sehr bedächtig war und mit einer schmiedeeisernen Tür geschlossen wurde, wie man es noch manchmal in alten Filmen sieht. Unsere Wohnung lag im Penthouse, wobei man die letzten zwei Treppen zu Fuß hinaufgehen mußte; der Aufzug endete im vierten Stock. Bei unserer Ankunft empfing uns der Pförtner des Hauses, der unseren Ibrahim freundlich aufgenommen hatte. Die beiden tranken Tee und kümmerten sich nun um das Gepäck. Während die beiden das Auto ausluden, strebte Hagg allen voran dem Meer entgegen. Wir brauchten nur die Straße zu überqueren, ein paar Stufen hinunterzugehen, und selbst Hagge zog scheu ihre
Schuhe aus, als wir über den Sand ans Wasser kamen. Alle waren voll staunender Bewunderung und Dankbarkeit über die erfrischende Brise. Ich schaute über das Mittelmeer und schätzte die Entfernung bis Genua. Die Erkenntnis, daß es weder schwimmend noch in irgendeiner anderen Weise für mich möglich war, die Distanz zum anderen Kontinent zu bewältigen, ließ mich schlucken. Ahsähn und Ibrahim hatten für die Familie alles gut vorbereitet. Die Wohnung war sehr geräumig, es gab genug Zimmer für alle und in der Mitte der Wohnung einen recht großen Raum, in dem Ahsähn bereits das Teetablett vorbereitet hatte. Als Hagg nach seinem Gebetsteppich rief, konnten wir anderen unsere Koffer auspacken. Für Ahmed, Nessim und mich hatte man ein Zimmer in der Art eines Ateliers mit Glasdach und einer sehr breiten Fensterfront vorgesehen. Die Aussicht über das Meer war phantastisch, nur wurde es durch die sich aufheizenden Glasflächen sehr heiß, so daß wir uns kaum darin aufhielten. Die Tage in Alexandria bestanden hauptsächlich darin, daß Hagg und Hagge unter einem von Ibrahim bereitgestellten Sonnenschirm nahe am Wasser auf Stühlen saßen und den kühlenden Wind genossen. Beide blieben vollständig und korrekt gekleidet, wobei Hagg ein weites Seidenhemd mit dazugehöriger Hose und Hagge über einer weiten Galabija aus Seide einen weißen Schleier trug. Nie verlor sich das selige Lächeln aus ihrem Gesicht, wenn sie übers Wasser sah. Scheu und etwas verschämt blickte sie manchmal in die Runde auf die anderen Sommergäste. Ein Großteil der Frauen trugen Badeanzüge und spielten mit ihren Kindern im seichten Wasser. Anfang der sechziger Jahre war es nicht üblich, daß Frauen bekleidet ins Wasser gingen, so wie man es heute manchmal in moslemischen Ländern
beobachten kann. Selbstverständlich gab es keine Bikinis, aber ich sah sehr schön geschnittene Einteiler, und die Frauen bewegten sich ganz natürlich und selbstverständlich. Elegante Geschäfte in Kairo und Alexandria boten an, was in der westlichen Welt en vogue war, und die hiesigen Frauen nahmen es begeistert auf. Auch Fatma tobte im Badeanzug mit ihren kleineren Brüdern im Wasser herum. Endlich konnte sie lachen, kreischen und ausgelassen sein, wie es ihrem Alter entsprach. Jetzt war sie eine junge Frau von dreizehn Jahren, die sich benahm wie ein Kind in diesem Alter, deren Gesicht jedoch von einem Augenblick zum andern einen gesammelten, ernsten Ausdruck annahm, wenn sie die Blicke ihrer Eltern auf sich spürte. Dann kam sie gemessenen Schrittes zum Sonnenschirm und wickelte sich von Kopf bis Fuß in ein Badetuch. Auch Ahmed saß meistens korrekt gekleidet neben seinen Eltern. Natürlich tat ich mal wieder unwissentlich etwas, das Aufregung und Widerspruch hervorrief. Ich mietete mir ein kleines flaches Boot, setzte Nessim darauf und schwamm, das flache Wasserfahrzeug vor mir her schiebend, ein Stück ins Meer hinaus. Was für ein herrliches Gefühl, was für eine Glückseligkeit. Ich sah nur noch Nessim, Himmel, Meer und Sonne. Die Welt war doch so schön, warum nur wurde hier die ungetrübte Wahrnehmung dieser Schönheiten so eingegrenzt. Als ich mich umdrehte und zum Strand sah, hatte sich dort eine heftig gestikulierende Menschenmenge versammelt. Von weit weg konnte ich Rufe hören, und nun wurde mir bewußt, wie weit ich mich hatte treiben lassen. Außer Gamal konnte niemand in der Familie schwimmen, und nun sah ich ihn auf mich zukommen.
»Heike, du bist zu weit geschwommen, du hast meinen Eltern angst gemacht.« Er schob jetzt das kleine Boot vor sich her, und ich schwamm neben ihm. »Es ist doch nichts passiert, und Nessim und ich haben uns sehr wohl gefühlt. Es war herrlich.« Als wir am Strand angekommen waren, zerstreuten sich die mitfühlenden Menschen und dankten Allah für meine und Nessims gesunde Rückkehr. Ahmed kam mit einem Grinsen im Gesicht auf mich zu und zischte mir ins Ohr: »Willst du meinen Sohn umbringen, du Tochter einer Hure. Man sollte dich einsperren.« Er nahm Nessim auf den Arm, drückte ihn an sich, und ich hörte Gebetsfetzen, die er dem Kind ins Ohr raunte. Hagge hatte sich wieder hingesetzt und starrte wie hypnotisiert vor sich in den Sand. Hagg kam mit bekümmertem Gesicht auf mich zu. »Heike, ich glaube, das war gefährlich, das solltest du nicht machen. Bist du wirklich geschwommen, oder hast du dich nur an dem kleinen Boot festgehalten?« »Ich bin geschwommen, Hagg, ich kann recht gut schwimmen. Ich hatte nur die Entfernung aus dem Auge verloren, ich wollte niemandem angst machen.« »Können bei euch alle Frauen schwimmen und machen dann so gefährliche Dinge?« »Die meisten Menschen können bei uns schwimmen, und das hier war nicht so gefährlich, wie es dir schien.« Zu einem solchen Auftritt kam es nicht wieder. Ich hörte aber von Ahsähn, daß Hagg öfters mit dem Fernglas vom Fenster aus nach mir Ausschau hielt. Nach einigen Überredungsversuchen hatte ich doch wieder die Erlaubnis erhalten, daß ich mit Nessim ans Meer gehen durfte. Da Sakäja in Tanta geblieben war, lag die Sorge um das Wohlergehen der Familie nun ganz bei Ahsähn, und so hatte sie keine Zeit, als Anstandsdame zu fungieren. Je nach Laune bestand Hagg darauf, daß mich
Jussuf und Omar oder auch Yazid begleiteten, wobei mir der heranwachsende Yazid als Aufpasser unsympathisch war. Lag es an seiner eigenen Unsicherheit als Heranwachsender oder an seiner Persönlichkeit? Er machte auf mich einen verschlagenen, hinterhältigen Eindruck, und ich fühlte mich in seiner Gesellschaft nicht wohl. Seine Geschäfte erledigte Hagg in dieser Zeit von Alexandria aus, und Ahmed und Gamal begleiteten ihn. Fatma hatte strikte Anweisung, das Haus ohne Begleitung nicht zu verlassen, meine Wenigkeit galt da nicht. Die Ehre einer Tochter war sehr viel wert. So hatte ich manchmal in unbewachten Zeiten Gelegenheit, alleine mit Nessim an den Strand hinunterzugehen. Ich nahm mir dann mein Radio und etwas zu lesen mit, und ich konnte so in aller Ruhe die wunderschöne Atmosphäre genießen, während mein Schätzchen im Sand spielte. Oft beobachtete ich ihn, wenn er sein neuestes Spiel spielte. Er blieb vor dem zurückweichenden Wasser stehen und wartete, bis die Wellen wieder auf ihn zukamen. Kurz bevor sie ihn erreichten, lief er laut kreischend in meine Richtung. Das wiederholte er immer wieder. Das Wasser war nicht unbedingt sein Freund, er schien Angst davor zu haben. Als ich ihn einmal mit seinem Bäuchlein ins Wasser legen wollte, um ihm zu zeigen, wie man sich mit Armen und Beinen im Wasser fortbewegen kann, ohne unterzugehen, klammerte er sich weinend an meine Arme. Ich nahm ihn dann auf den Arm, ging mit ihm bis zum Bauch ins Wasser, und das gefiel ihm dann schon besser. Auf meinen Armen konnte ihm das Wasser ja nichts tun, und er lachte wieder. Auch hier konnte ich die Deutsche Welle empfangen. Wenn ich die Erkennungsmelodie hörte, preßte ich den kleinen Apparat an mein Ohr und schaute übers Wasser. Die spielenden, schreienden Kinder, arabische
Wortfetzen, die rollenden Wellen, alles versank um mich herum, und ich hörte nur noch deutsche Musik. In solchen Minuten dachte ich manchmal über Ahmed nach. Was er tat, war unüberlegt und dumm. Warum nur nahm er mir das Gefühl, frei sein zu können. Das war mir so ungeheuer wichtig. Er kannte mich doch, wußte, wie ich meine Unabhängigkeit liebte, aber auch, wie glücklich ich mit ihm gewesen bin und wie sehr ich mich auf ein Leben mit ihm und seiner Familie gefreut hatte. Sein Verhalten machte alles für mich hier unnötig schwierig. Warum half er mir nicht, mich einzuleben? Warum unterstützte er mich nicht in meinen Bemühungen, Arabisch zu lernen und mich in seiner Familie zurechtzufinden? Es hätte alles so schön sein können. Und ich war ja auch zu Kompromissen bereit. Mit der Aussicht, einmal im Jahr nach Deutschland fahren zu können, wann immer ich das wollte, vielleicht zu Weihnachten oder an meinem Geburtstag, zu Ostern oder dem Geburtstag meiner Mutter, würde meine Sehnsucht ein Ende haben. Mein Heimweh hätte keine Grundlage mehr angesichts einer selbstbestimmten Ab- und Anreise. Gäbe er mir nur etwas mehr Freiheit, dann könnte er mir auch vertrauen. Nie würde ich ihn oder meinen Sohn zurücklassen, wenn das hier wirklich meine Heimat werden könnte. Aber ich wollte auch so leben dürfen, wie ich es mir vorstellte. Und dazu gehörten nun einmal meine Überzeugungen und Werte, auch meine deutsche Erziehung. Wie gerne würde ich mir hier eine kleine arabischdeutsche Oase aufbauen, eine Verbindung von Ahmeds und meiner Welt. Unsere Wohnung war wie geschaffen für ein solches Vorhaben. Ich würde den Kakerlaken zu Leibe rücken, die Palmen im Garten wässern, Blumen würde ich pflanzen, vielleicht einen Rasen ansäen, und Hagge und ich würden irgendwann auf Gartenstühlen im Grünen sitzen können. Ahmed und
ich könnten Freundschaften zu anderen deutscharabischen Paaren aufbauen, und Nessim würde von dieser kulturellen Offenheit und dem Hauch von cosmopolitischem Leben nur profitieren. Auch Ahmeds jüngere Geschwister könnten dadurch etwas mehr von der Welt erfahren und vielleicht auch mal nach Deutschland reisen. Vielleicht würde Ahmed ja die Liebe, die er so oft beteuert hatte, wieder in einer anderen Weise zeigen können, als er es jetzt tat. Ich wußte doch, wie liebenswürdig er sein konnte. Möglicherweise würde ich mich mit diesen Aussichten in zehn Jahren hier mehr zu Hause fühlen als im doch viel hektischeren Deutschland. Ich verlor mich in Phantastereien, und die Hoffnung, daß es jemals so sein könnte, verlor sich, sobald ich an die Genugtuung in Ahmeds Augen dachte, wenn er mir drohte, ich würde Deutschland nie wiedersehen. Durch eine ungewohnte Betriebsamkeit und laute Rufe in meiner Nähe schreckte ich aus meinen Überlegungen auf und bemerkte, daß einige Badegäste vorzeitig den Strand verließen. Andere machten ihrem Unmut Luft, indem sie schimpften, und immer wieder hörte ich das Wort Jahud – Jude. Eine Nachbarin, die wohl auch nicht mitbekommen hatte, worum es ging, fragte ihren Mann: »Was ist denn los, warum gehen die Leute, und warum schimpfen sie?« »Die drei jungen Männer, die dort Ball spielen, sind Juden, und die Leute wollen, daß sie verschwinden.« In einiger Entfernung hatten sich fünf oder sechs Ägypter zusammengetan und berieten, wie sie der Situation ein Ende machen könnten. Mit einem Mal gingen sie auf die ballspielenden Israeli zu, fingen den Ball und hielten ihn fest. Angespannt’ wartete ich ab, was geschehen würde,
und packte schon mal meine Sachen zusammen. Ich nahm Nessims Hand und sah nun, daß die Israeli auf die Ägypter zugingen und mit ihnen sprachen. Verstehen konnte ich nichts, sie waren zu weit weg. Da ich nicht in ein Handgemenge verwickelt werden wollte, spazierte ich mit Nessim langsam zu einem etwas entfernten Strandstreifen, der nicht als bewachter Strand galt, und breitete dort mein Handtuch aus. Nun beobachtete ich, wie die Israeli, die ihren Ball wieder bei sich hatten, friedfertig in meine Richtung kamen. Offenbar hatten sie sich sofort bereit erklärt, abseits weiterzuspielen, und der Strand füllte sich wieder mit Leuten. Ganz in meiner Nähe gab es viel Platz, und sie warfen sich abwechselnd den Ball zu. »Komm, spiel mit!« rief mir einer zu. Ein anderer rollte Nessim den Ball zu. Mir wurde heiß und kalt. Wenn die drei auch nur ein deutsches Wort von uns beiden auffingen, würden sie sicher feindselig werden. Der Ball kam wieder auf mich zugerollt, und ich muß einen etwas sonderbaren Eindruck gemacht haben. Einer der jungen Männer sah mich lächelnd an und kam langsam auf mich zu. »Ich kenne dieses Spiel nicht«, rief ich ihm entgegen. »Das lernst du schnell, komm rüber!« Was sollte ich bloß tun? Auf keinen Fall durften sie erfahren, daß ich Deutsche war. Unvorstellbar Schreckliches hatte mein Volk den Juden angetan, und nun wollten drei jüdische junge Männer, deren Eltern möglicherweise im Konzentrationslager umgekommen waren, mit der Tochter eines möglichen Henkerknechts Ball spielen. Unfähig, etwas zu tun oder zu sagen, stand ich einfach da, während der junge Mann mich erwartungsvoll ansah. Plötzlich konnte ich mich wieder bewegen, nahm Nessim bei seinem Händchen und rief dem jungen Mann zu: »Ich bin Deutsche.« Und etwas
leiser setzte ich hinzu: »Ihr könnt doch nicht mit mir spielen wollen.« Die Entfernung war nicht so groß, daß er mich nicht verstanden haben konnte, aber er blieb ganz ruhig. Die beiden anderen waren zu ihm getreten, und leise wurde etwas gesprochen, was ich nicht verstand. Noch aus einem anderen Grund mußte ich ganz schnell der Situation ein Ende machen. Es war nicht auszudenken, wenn jemand von der Familie mich hier mit drei jungen Männern vorfand. Also spazierte ich langsam auf die Treppe zu, die zur Straße führte, und sagte im Vorbeigehen: »Ich muß jetzt nach Hause, noch viel Vergnügen.« Einer von den dreien sagte: »Es ist alles in Ordnung, sollen wir nicht doch miteinander. Ball spielen?« »Das finde ich sehr freundlich von euch, aber ich muß wirklich gehen.« Sie sahen mir nach, und als ich mich an der Treppe noch einmal umwandte, hoben sie die Hände zum Abschied. Ich fühlte ein Zittern in mir und war fassungslos über diese Freundlichkeit. Sie hatten mich nicht einmal angespuckt. Ich hatte einmal von einer AuschwitzÜberlebenden gehört, die nie wieder ein deutsches Wort gesprochen hatte. Wie gut hatte ich diese Frau verstanden. Zu Hause verlor ich über mein Erlebnis kein Wort. Bei einer früheren Gelegenheit hatte ich in der Familie gehört, daß man Hitler für einen großen Führer hielt. Anstatt begeistert zuzustimmen, hatte ich gesagt: »Er war einer der größten Verbrecher der Weltgeschichte.« Bestürzt hatte man mich angesehen und geschwiegen. Alle saßen gemütlich beim Tee zusammen, und wir wurden freudig begrüßt. »Sim-sim, wie war das Wasser? Hast du keine nassen Füße bekommen?«
»Wir haben nur im Sand gespielt.« »Wie ich sehe, hast du das Radio mitgehabt und deine deutsche Sendung gehört.« »O ja, heute gab es besonders schöne Musik.« »Sag uns, Heiuka, wie findest du Alexandria? Ist es nicht wunderschön hier, und würdest du noch mal woanders leben wollen, wenn du die Wahl hättest?« Bei dieser Frage beobachtete Hagg mich ganz aufmerksam. »Hier ist es wirklich sehr schön, und besonders gefällt mir das Meer.« »Und wenn du demnächst deine Mutter besuchst, wirst du nicht zu lange dort bleiben, oder?« »Zunächst einmal wird sie mich hier besuchen, das weißt du doch.« Einer direkten Antwort war ich diesmal ausgewichen. Er wollte eine Beruhigung, und ich wollte ihn nicht belügen, ich wußte noch überhaupt nicht, was sein würde. »Gibt es in deiner Heimatstadt kein Meer?« »Bei uns in der Nähe gibt es kleine und auch große Flüsse, wie die Ahr oder den Rhein. Aber um ans Meer zu kommen, muß man schon ein paar Stunden fahren, und dann ist es dort natürlich nicht so schön warm. Mit euch meint die Sonne es besonders gut.« »Na siehst du, kein Meer, wenig Sonne. Ich sag es ja immer, der Herr ist mit uns«, schmunzelte er. Gamal erklärte gerade Fatma, welche Straße wir am folgenden Tag nach Abukir nehmen würden, und ich wurde aufmerksam. »Morgen fahren wir also nach Abukir, wie schön!« Hagge zeigte in eine Zimmerecke und sagte: »Schau, Ahsähn hat schon alles für ein Picknick zusammengestellt.« Ich sah Klappstühle, Decken und Tücher und den Sonnenschirm.
»Und morgen früh, wenn wir noch schlafen, wird Ahsähn Essen und Trinken richten, damit wir den ganzen Tag dort bleiben können.« »Dort können auch Nichtschwimmer gefahrlos ins Wasser gehen«, sagte Gamal, »auf weichem Dünensand kann man weit ins Meer hinausgehen, und Yazid und Fatma können auf Nessim aufpassen, während wir beide an einen Felsen schwimmen, von dem aus wir wunderbar die Festung sehen können.« Ich freute mich und sagte zu Ahsähn: »Und vergiß nicht das Hefegebäck von dem Straßenstand!« Sie wußte, daß ich damit diese köstlichen kleinen Hefekrapfen meinte, die sie mir hier in Alexandria oft zum Frühstück holte. Hagge hatte wohl gerade den Plan gefaßt, noch Obst und auch ein paar Leckereien einzukaufen, die sie selber aussuchen wollte, und so fuhren wir Frauen in Begleitung von Gamal in die Stadt. Wie immer, wenn Gamal mit einem solchen Sonderauftrag mit dem Auto unterwegs war, dehnte er die Fahrten gerne aus. Er war dann sein eigener Herr in diesem schönen Auto, ohne daß Hagg ihn zur Vorsicht anhielt. Im Aufzug flüsterte er mir zu: »Wir werden jetzt Hagge überraschen und fahren zum Montazah-Palast.« Wie zwei Verschwörer lächelten wir uns zu und gingen gemeinsam zu der in der Nähe liegenden Garage. Hagge und Fatma machten es sich hinten bequem, und ich saß vorne neben Gamal. Da Hagge schnelle Autofahrten nicht mochte, fuhren wir in gemütlichem Tempo die Corniche entlang. Es war ein Genuß, im offenen Wagen die Aussicht zu genießen, rechts hohe weiße Häuser, Villen und Hotels und links das Meer mit seinem wunderschönen Strand. »Gamal, du fährst in die falsche Richtung, ich muß in eine Geschäftsstraße in der Stadt. Und du bist auf dem Weg, die Stadt zu verlassen«, sagte Hagge auf einmal.
»Ich weiß, Mama, wir machen eine kleine Spazierfahrt zum Montazah-Palast. Heike muß den unbedingt sehen, und Fatma war, glaube ich, auch noch nicht dort. Wie gefällt dir das?« »Hab’ ich es mir doch gedacht. Und was meinst du, wird dein Vater dazu sagen?« schmunzelte sie. »Er muß es ja nicht erfahren.« »Das ist richtig.« Und so fuhren wir in bester Stimmung etwa zehn Kilometer die Uferstraße entlang und sahen in der Ferne vorgelagert den ehemaligen Privatstrand von König Faruk. In einer leichten Biegung begann dann die Mauer, die das gesamte Gelände umfaßt, und ein Blick auf die herrlichen Gärten und kleinen Pavillons, die sich dahinter befinden sollten, war uns verwehrt. Aber wir wollten ja zum Haupttor, durch das man auch zum Palast gelangte, und dann würden wir auch die Parkanlage sehen. Als wir dort ankamen, war das Tor versperrt, und die Zufahrt wurde uns von einem Soldaten verboten. Gamal erfuhr, daß der Palast gerade an diesem Tag von einem Staatsgast genutzt wurde, und daher hatte die Bevölkerung keinen Zugang. Wir waren sehr enttäuscht und fuhren nun in die Stadt, damit Hagge ihre Einkäufe tätigen konnte. Auf dem Rückweg von der Garage zum Haus, als wir gerade für abends noch Brot kauften, standen wir unvermittelt in einer Wolke von weißem Staub. Gamal trieb uns zur Eile an. Mit einem Seitenblick erkannte ich, daß die Leute sich Tücher vor das Gesicht hielten. Auf der Straße fuhr im Schrittempo ein Tankfahrzeug, das aus an den Seiten angebrachten Düsen Pulver versprühte und so Sicht und Atem nahm. Auch ich hielt mir jetzt ein Taschentuch vor Mund und Nase und sah erstaunt dem Wagen nach. »Nun beeilt euch doch, damit wir ins Haus kommen!«
»Was um Gottes Willen ist das für eine Schweinerei, man bekommt ja kaum noch Luft.« Der Pförtner nahm uns die Einkäufe ab, und wir flüchteten in den Aufzug. »Das gibt es erst seit Nasser, wir sollten dankbar sein. Das ist DDT-Pulver und befreit uns von Krankheiten und Ungeziefer. Diese Tankfahrzeuge fahren hier in regelmäßigen Abständen durch die Straßen.« Vollbepackt ging es am nächsten Tag stadtauswärts nach Abukir, ein kleines Fischerdorf, idyllisch und unbeleckt von jeder Zivilisation. Direkt im Schatten der Festung ließen wir uns nieder. Als erstes stellte Ahsähn Stühle für Hagge und Hagg auf, dann den Sonnenschirm, und schließlich legte sie ein großes Tuch auf dem Sand aus, auf dem Getränke und Leckereien ausgebreitet wurden. Jussuf und Omar planschten bereits im Wasser und riefen Nessim zu sich. Ich sah mich um und fand dieses Fleckchen Erde überwältigend schön. Die Festung war ins Meer gebaut, und so war eine Bucht entstanden, die sich wie ein Privatstrand ausnahm. Keine Menschenseele weit und breit, wunderschön weißer, weicher Sand, auf dem man weit ins Meer hineingehen konnte, ehe man den Grund unter den Füßen verlor. Und über mir der Himmel von einem Blau, das es nur hier gab. Paradiesisch! Auch jetzt gesellte sich Ahmed zu seinen Eltern und kam nicht ins Wasser. Da das Meer sich hier von seiner zahmen Seite zeigte und vor uns wie ein ruhiger grünblauer See lag, war auch Nessims Angst verschwunden, und wie ein Windspiel lief er rein ins Wasser und wieder raus. Es machte ihm sichtlich Vergnügen. Gamal und Yazid standen in Badehosen am Wasser, während mir Ahsähn ein Tuch als Sichtschutz hinhielt, damit ich mich umziehen konnte. Auch für sie wäre ein erfrischendes Bad sehr angenehm gewesen, nur solche Freuden blieben dem Personal verschlossen.
»Nein, dafür habe ich keine Zeit, Hagg und Hagge brauchen mich«, antwortete sie mir auf meine Frage. Und schon rief Yazid nach einem Glas Saft. Nachdem wir uns alle in einer wilden Wasserschlacht ausgetobt hatten, schwammen Gamal und ich auf einen Felsen zu, den wir im Meer herausragen sahen. Die Entfernung war größer, als ich zuerst angenommen hatte. »Kannst du noch, Heiuka, sonst häng dich an meine Schultern. « Als ich mich dem Land zuwandte und die Familie sah, die uns aufmerksam beobachtete, ließ ich das lieber bleiben. Hagg winkte uns zurück, und Gamal prustete vor Lachen. »Er hat Angst um dein Leben. Er kann sich nicht vorstellen, daß du wirklich schwimmen kannst, und Hagge glaubt sicher, daß da böse Mächte im Spiel sind, daß du vielleicht von einem Dschinn besessen bist.« An dem kleinen Felsen angekommen, bot sich uns ein herrliches Bild. Die jetzt etwas entfernte Festung erschien wie in den Felsen eingefügt, monumental erhob sie sich vor uns in einem Halbrund, während sich die Wellen unterhalb der Befestigungsmauer brachen. Weiter zurück, auf dem langgezogenen, ansonsten menschenleeren Strand hob sich unser Sonnenschirm, unter dem sich die Familie versammelt hatte, gegen den Sand ab. Sofort mußte ich an alte, gelbbraune Fotos aus den dreißiger Jahren denken. Unwirklich und idyllisch war das Bild, das sich mir dort bot. Offenbar wurde gegessen. Unscharf sah ich den gewichtigen Hagg und daneben seine Ehefrau, deren langer weißer Schleier sich im Wind bewegte. Offenbar hatte Ahsähn alle mit dem Gewünschten versorgt, denn auch sie saß jetzt ihrer Herrin zu Füßen. So stellte man sich den Orient vor, wenn man ihn noch nie gesehen hatte.
Für Europäer gab es da die herrlich pastellfarbenen Bilder aus Tausendundeiner Nacht. Märchen und Geschichten, die in blumenreicher Sprache erzählen, wie malerisch sich der fliegende Teppich über Minarette und säuberlich aneinandergereihte, weißgetünchte kleine Häuser bewegt. Frauen, die gemessenen Schrittes in erhabener Haltung schön geformte Gefäße auf ihren Köpfen transportieren. Über bodenlangen Gewändern sind ihre Schleier dekorativ um den Körper geschlungen. Solche Vorstellungen lassen keine Fragen offen, sie scheinen ihr eigenes Maß zu haben. Realistischen Anschein bekommen solche Bilder durch die alten, aufwendigen Ausstattungsfilme, in denen selbstverständlich keine wilden Müllkippen mitten in Wohngebieten, keine halb herabgefallenen Balkone und auch keine zusammengestürzten Hauseingänge gezeigt werden. In dieser auf Zelluloid festgehaltenen farbenprächtigen heilen Welt gab es auch keine halbverhungerten, schmutzverkrusteten Kinder, auf deren Gesichtern sich ungestört Schwärme von Fliegen niederließen. Warme, weiche Bilder, die sich mir eingeprägt hatten aus Kinderbüchern und den Kinovorführungen Mitte der fünfziger Jahre. Und Ahmed hatte mit den Schilderungen seines herrschaftlichen Elternhauses meine Vorstellungen ins Märchenhafte gesteigert. Eine Vision des Friedens und ein Zugehörigkeitsgefühl, das sich angenehm warm in meinem Magen breitmachte, ließ mich hoffen: Es wird alles gut, sieh nur die schönen Seiten.
13
Ein lang ersehnter und doch gefürchteter Besuch
Der Aufenthalt in Alexandria tat mir sehr gut. Das Meer und die Sonne, aber auch die Abwechslung von der Eintönigkeit in Tanta. Während einer Wasserschlacht mit der Familie hatte ich meinen Ehering verloren, was aber niemandem weiter auffiel. Als ich es Ahmed erzählte, meinte er nur gelangweilt, daß das nicht wichtig sei und er mir einen neuen besorgen würde. Das Besichtigungsprogramm von Gamal war im Laufe unseres Urlaubs letztendlich sehr zusammengestrichen worden, nicht etwa aufgrund zwingender Notwendigkeiten oder mangelnder Zeit. Man hielt es einfach für eine fixe Idee, einem weiblichen Familienmitglied Sehenswürdigkeiten zu präsentieren und damit die tägliche Schlafenszeit zu reduzieren. Ganz abgesehen davon, daß jedwede Körperbewegung, insbesondere von Ahmed, als Zumutung betrachtet wurde. Und angesichts der kleinen, warnenden Unterhaltung, die ich mit Ahsähn anläßlich meines Ausflugs zusammen mit Gamal zum Kairoer Museum hatte, äußerte ich keine Wünsche in dieser Richtung. Allerdings sollten wir an einem Tag, ganz ohne unser Zutun, ein bemerkenswertes Erlebnis haben. Nasser, der in der Lage war, unglaubliche Begeisterungsstürme in der Bevölkerung hervorzurufen, besuchte Alexandria anläßlich einer Parade. Seinen Weg zu dieser Veranstaltung nahm er über die Promenadenstraße und kam so an unserem Haus vorbei. Gerade als wir vom Strand kommend die Straße überqueren wollten, bemerkten wir die Aufregung unter
den Flanierenden. Man war stehengeblieben und sah einer Kolonne von Motorrädern entgegen, die von Soldaten gefahren wurden. Begeisterte Rufe wurden laut: »Nasser, Nasser.« Und nun sahen wir ihn. In einem offenen Cabriolet stand er aufrecht, sicher einen Kopf größer als seine Beschützer, und winkte mit ausgestrecktem Arm huldvoll in die Sonne. Als er dabei in die Runde blickte und mich als Europäerin erkannte, drehte er sich im Vorüberfahren zu mir hin, lächelte und grüßte in meine Richtung. Während Hagg mit unbewegtem Gesicht die Angelegenheit verfolgte, war Gamals Begeisterung grenzenlos. »Er ist nicht nur ein großer Führer, er macht auch eine gute Figur, findest du nicht, Heike?« Und obwohl ich eine solche Zurschaustellung schon immer skeptisch beobachtet hatte, mußte ich Gamal in dieser Hinsicht zustimmen. Nasser sah phantastisch aus. An Größe überragte er alle Männer seiner Begleitung. Sein braunolivfarbenes, kantiges Gesicht mit diesem energischen Kinn, dieser recht großen Nase und den wachen, intelligenten Augen war eine Augenweide. Und heute strahlte er in besonderer Weise sein Volk an. Die Menschen waren inzwischen aus den Seitenstraßen herbeigelaufen und bildeten ein Spalier. Immer wieder rief man seinen Namen, hob ihm die Hände entgegen, hielt Säuglinge hoch in die Luft, als bäte man um seinen besonderen Segen. Sie berauschten sich an seinem Imponiergehabe und jubelten ihm zu. Meine Begeisterung an diesem schönen Bild verflog, als ich überlegte, daß dieser gutaussehende Mann in seinem hervorragend geschnittenen, europäischen Anzug sich ebenso wie Hagg nicht beschmutzen würde, indem er eine Frau mit Händedruck begrüßte, wenn er gerade seine Gebetswaschungen vollzogen hatte. Auch die liebenswürdigste Geste eines Ägypters würde mich nie vergessen lassen, daß er ganz selbstverständlich davon
ausgeht, daß ein Wunsch einer Frau gegenüber ein Befehl ist, und er es nie akzeptieren könnte, würde dieser Befehl nicht auf der Stelle ausgeführt. Wie würde mein Sohn diese beiden Welten in späteren Zeiten auseinanderhalten? Der Alltag in Tanta hatte mich wieder, und nach vier Wochen Alexandriaaufenthalt wirkten die Stadt und das Haus wieder einmal schockierend auf mich. Um mich nach ihrem Befinden zu erkundigen und natürlich auch, um zu erfahren, ob es in der besprochenen Paßangelegenheit einen Fortschritt gab, rief ich bei Anna an. Da es ihr den Umständen entsprechend so leidlich ging, ließ ich Nessim diesmal zu Hause, um sie nicht zu ermüden, wollte ich mich nicht allzu lange aufhalten. In ihrer ruhigen, liebenswürdigen Art umsorgte Alis Mutter Anna, die sich nach Anordnung des Arztes still verhalten mußte. So lag sie auf einem Sofa, war aber guter Dinge. »In deiner Sache weiß ich nichts Genaues. Von Ali soll ich dir nur ausrichten, es sehe nicht schlecht aus. Er hat Kontakt aufgenommen zu diesem Regierungsmenschen und wird dich in den nächsten Tagen anrufen. Ich soll dich noch einmal an das kleine leichte Gepäck erinnern.« Ich war etwas enttäuscht, ließ mir aber nichts anmerken. Eigenartig berührte mich, daß sie zu dieser für mich so wichtigen Angelegenheit keine Meinung äußerte. Sie versuchte nicht, mich zum Bleiben zu überreden, bestärkte mich aber auch nicht, das Land zu verlassen. Es schien mir, daß weder das gleiche Schicksal noch dieses fremde Land uns freundschaftlich nähergebracht hatten. Meine Gefühle in bezug auf mein neues Heimatland waren ja durchaus zwiespältig. Die Liebenswürdigkeit der Menschen hier nahm mich immer wieder für sie ein, mit der Sprache hatte ich mich angefreundet, ja ich begann sie zu lieben, je mehr ich in der Lage war, mich in ihr verständlich auszudrücken. Und trotzdem fühlte ich mich nach einem Nachmittag bei Anna, an dem wir uns
in unserer Muttersprache unterhielten und uns über Dinge erheiterten, die hier niemals belächelt worden wären, immer auch getröstet und gestärkt. Doch der Besuch meiner Mutter in Tanta stand bevor, und meine Stimmung war so gut und ausgeglichen, daß mir kaum jemand etwas anhaben konnte. In ihrem letzten Brief, der während meiner Abwesenheit angekommen war, hatte meine Mutter mir das Datum ihrer Ankunft mitgeteilt, und das Vorgefühl, sie in einer Umarmung fühlen zu können, meine Hand in ihre legen zu können, eingehakt mit ihr in den Amerikanischen Club zu gehen, während sie Sim-sim an der Hand führte, war so überwältigend, daß ich bei jedem Gedanken an dieses Wiedersehen ein enges Gefühl im Halse spürte. Wie würde ich mich fühlen, wenn sie wieder abreiste? Ich durfte nicht daran denken. Der Abschied bei meiner Abreise nach Ägypten war für uns beide hart gewesen. Ich war ihr Lebensinhalt gewesen, nachdem mein Vater 1942 während des Zweiten Weltkrieges in Finnland ums Leben gekommen war, ich hatte ihn nie kennengelernt. Er ließ eine Frau zurück, die ihn abgöttisch geliebt hatte und mit der Trauer um ihn kaum fertig wurde. Sie war nicht stark, nicht mutig, nicht energisch. Und mit meinem freiheitsliebenden Naturell machte ich ihr viel Kummer. Meine Meinung tat ich überall auch da kund, wo sie vielleicht nicht gefragt war. Ich ging zu aufrecht, ich lachte zu laut. Menschen, die mir unsympathisch waren, ließ ich das sofort spüren, ich konnte gar nichts dagegen tun. Sie litt darunter und hielt mich immer wieder zur Zurückhaltung an. Hinzu kam, daß das Bewußtsein, die Witwe eines SS-Angehörigen zu sein, sie noch kleinlauter, noch scheuer machte. Unserer Liebe zueinander tat das jedoch keinen Abbruch. Auch wenn sie sich über meine Unverschämtheiten aufregte und viele Male ratlos die oft strapazierte Frage
stellte: »Was soll nur aus dir werden?« Wir blieben eine verschworene Gemeinschaft, und über Blödeleien und absurden Wortkonstruktionen konnten wir beide uns oft nicht mehr halten vor Lachen. Eingehakt schlenderten wir abends zum Kurkonzert, und sie erzählte mir zum hundertsten Mal, wie groß meine Ähnlichkeit mit Vati sei. Dem Anschein nach hatte sie wirklich an mich nichts von sich weitergegeben. Erst viele Jahre später, als es nicht mehr möglich war, hätte ich ihr erzählen können, daß sie mir sehr wohl von ihren Genen einige mitgegeben hatte. Wieder einmal ging ich in ihr Zimmer, um nachzusehen, ob alles am rechten Platz stand, ob sie sich wohl fühlen konnte. Ich öffnete den Kleiderschrank, setzte mich auf ihr Bett und sah mich um. Zufrieden stellte ich fest, daß diese Möbel keine Schnörkel hatten und sie hier gut aufgehoben sein würde. Mit einem kurzen Blick auf die Eingangstür beugte ich mich kurz hinunter und sah in der hintersten Ecke unter dem Bett meinen kleinen Fluchtkoffer stehen, den man auch dann nicht bemerken konnte, wenn man von der Tür auf das Bett zuging. Und da wegen der Hitze die Fensterläden so gestellt waren, daß die Zimmer immer im Halbdunkel lagen, würde Mutti diesen Koffer nie wahrnehmen. Erzählen wollte ich ihr nichts, würde ich es tun, wäre sie sehr beunruhigt, würde dieses Land mit schwerem Herzen wieder verlassen, und das wollte ich auf keinen Fall. Mein neu angestelltes Hausmädchen, das Hagg mir ja bereits angekündigt hatte, war die Tochter von Atalla, dem Chauffeur. So zerlumpt und verdreckt, wie sie von ihrem Vater abgeliefert worden war, wollte man sie mir wohl nicht präsentieren und hatte sie zuerst einmal durch Sakäjas Hände gehen lassen. Gebadet und in einer abgelegten Galabija von Ahsähn sah sie manierlich aus.
Nur ihre Haare waren ein nicht zu entwirrendes Gestrüpp von verfilzter Krause. »Durch ihre Haare kommt man nicht durch, Setti Heike. Wenn Gameläd sie aber jeden Tag bürstet, wird man sie irgendwann kämmen können.« Und da sie tagsüber das obligate weiße, straff umgebundene Tuch zu tragen hatte, sah man den verwahrlosten Kopf nicht, und mir sollte es recht sein. Auf meine Bitte hin besorgte Ahmed eine Matratze, die ich ihr in ein leeres Zimmer auf den Boden legte. Er hatte sich sehr widerwillig um diese Liegestatt für Gameläd gekümmert, und ich fragte ihn: »Wo soll sie denn schlafen, wenn sie schon kein Bett bekommt?« »Da, wo alle Dienstmädchen schlafen, unter dem Küchentisch.« Meine revolutionäre Absicht, ihr ein Bettuch auf die Matratze zu legen, wurde von der ganzen Familie mit Lachsalven quittiert. Für kühle Nächte mußte wohl eine Decke sein, dagegen hatte man nichts, aber ein Bettuch? Das war die verrückteste deutsche Idee, von der man je gehört hatte. Hagg gluckste vor Lachen. »Heiuka, willst du ihr nicht ein paar Strümpfe schenken oder ein paar von deinen hübschen Schlüpfern?« Und Gameläd, die seit dem Tag ihrer Anstellung mich auf Schritt und Tritt in gebührendem Abstand begleitete, hörte sich das an und hörte es auch nicht. Ehrfürchtig stand sie in einer Zimmerecke und sah mit unbewegtem Gesicht zu Boden. »Gameläd, geh in die Küche und beobachte Sakäja. Ich möchte, daß du kochen lernst, möglichst schnell, so gut wie sie.« Sakäja, die gerade mit einer Zeitung zu Hagg unterwegs war, lächelte bescheiden und bedankte sich tausendmal für dieses Kompliment. Auf Bitten oder Höflichkeit reagierte Gameläd überhaupt nicht. Mit kurzen, leise geäußerten Befehlen konnte sie
umgehen. Wünsche, die ich in dieser Art äußerte, wurden sofort und beflissen erfüllt. Jedoch ein Lächeln in ihre Richtung, wenn Nessim zum Beispiel etwas Drolliges sagte, schien sie gar nicht zu registrieren. Sie sah mich immer nur mit ihren großen schwarzen Augen und unbewegtem Gesicht an. Sie schien Angst vor mir zu haben, und wenn ich schnellen Schrittes in ihre Richtung ging, hob sie beide Arme vor ihr Gesicht. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie herausgefunden hatte, daß ich sie nicht schlagen würde. Nessim hatte sie gleich in ihr Herz geschlossen, und da es auch zu ihren Aufgaben gehörte, ihn zu betreuen, trug sie ihn überall herum. Sie drückte ihn dann liebevoll an sich, und ihm lächelte sie auch zu. Als ich sie das erste Mal anwies, im Wohnzimmer Staub zu wischen, beobachtete ich sie dabei, wie sie mit einem großen alten Tuch auf Möbel und Fensterbänke schlug. Im hohen Bogen schwang sie immer wieder eine alte Galabija über ihrem Kopf durch die Luft und ließ sie mit einem Knall auf das zu säubernde Möbelstück niedersausen. Da durch die Wüstennähe jeden Tag ein feiner gelber Sandfilm auf allen Möbeln lag, mußte diese Arbeit jeden Morgen verrichtet werden. Durch ihre Art, ein Tuch auf die Möbel niedergehen zu lassen, wirbelte sie diesen feinen Sand nur auf, der sich dann im nächsten Augenblick auf alle Gegenstände wieder niederließ. Es war zu komisch, ihr dabei zuzusehen, und ich ging auf den Balkon, um mein Lachen in den Griff zu bekommen. Dann zeigte ich ihr, wie diese Arbeit erledigt werden sollte. Jede Kleinigkeit, die sie bei mir lernte, wurde oben bei den beiden Mädchen berichtet, wo man wohl die Absonderlichkeiten der deutschen Setti diskutierte. So hatte ich doch wirklich die Eigenart, außer Ahmeds Anzügen alles selbst zu bügeln. Schon zweimal hatte Gameläd mich gefragt, ob sie das eine oder andere frischgewaschene Wäschestück zum Maquagi bringen
solle, und ich hatte sie statt dessen einkaufen geschickt. Man war sich nicht im klaren darüber, ob das nun besonders vornehm oder unschicklich war. Bei einer ägyptischen Herrin hätte man gleich Bescheid gewußt: unfein. Bei einer Chauageie jedoch wußte man zu wenig Bescheid. Sie hatten merkwürdige Gewohnheiten, lachten an der falschen Stelle und vergossen Tränen, wo das kein Mensch einzusehen vermochte. Sehr viel gab es in diesem so spärlich möblierten Haushalt nicht zu tun, und so schickte ich sie oft rauf, um zu hören, ob sie Ahsähn oder Sakäja zur Hand gehen könne oder ob etwas einzukaufen sei. Das machte sie gern, nahm dann Nessim auf den Arm und ging nach oben. Ich fand das sonderbar, weil sie von den beiden Mädchen oft in rüdem Ton herumkommandiert wurde, oder Ahmeds jüngere Geschwister hänselten sie in unschöner Weise aus lauter Übermut. Mir schien, sie hörte einfach daran vorbei. So war es ihr lieber und vertrauter, damit kam sie zurecht, viel eher als mit einer von mir gesummten Melodie, die ihre Ohren schlecht vertrugen. Für sie war alles bei mir etwas unheimlich, und sie brauchte noch Zeit, um sich daran zu gewöhnen. Zum allabendlichen Tee wurde ich oft von Hagg gerufen, oder Ahsähn kam mich holen. Ich saß dann da mit meinem Strickzeug, Nessim wieselte um uns alle herum, und Hagg zog ihn zu sich auf den Schoß und brabbelte in der Kleinkindersprache mit ihm. Natürlich durfte daran niemand etwas aussetzen. Brav und mit ernsten Mienen hörte man diesen Zwiegesprächen zu, und obwohl mir oft nach Widerspruch zumute war, hielt auch ich mich zurück. »Wann können wir deine Mutter in Alexandria abholen, Heiuka? Es ist doch bald soweit, oder?« »Genau in zwei Wochen, morgens um elf Uhr. Wenn ich sie oben an der Reling sehe, werde ich sicher in Ohnmacht fallen.«
»Freust du dich so sehr?« »Mehr, als ich sagen kann.« Ahmed teilte meine Begeisterung natürlich nicht, konnte er doch nicht wissen, was ich meiner Mutter erzählen würde. Er hatte ja auch nicht die geringste Vorstellung davon, wie gerne ich ihr ein harmonisches und geschöntes Bild vorführen wollte. Es gab keine legale Möglichkeit für mich, dieses Land zu verlassen. Ob ich nun unglücklich war, von Ahmed geschlagen und gedemütigt wurde, was immer mir auch noch passierte, es würde an der Unmöglichkeit, hier wegzukommen, nichts ändern. Würde ich es ihr erzählen, könnte sie keinen Schlaf mehr finden. Sosehr ich ihren Besuch, ihre Anwesenheit auch herbeisehnte, rückte doch meine Heimkehr dadurch in weite Ferne. Denn da ich sie ja jetzt sehen würde, gab es keine sofortige Notwendigkeit, Haggs Versprechen in Anspruch zu nehmen. Ich brauchte überhaupt nicht darüber zu reden. Frühestens in einem Jahr wäre der Zeitpunkt für eine Erinnerung an sein Versprechen, mich meine Mutter besuchen zu lassen, gekommen. Bis dahin mußte ich versuchen, mein Leben so erträglich wie möglich zu machen. Wozu meine Mutter unnötig aufregen? Ein kleines Hoffnungslichtlein brannte noch im verborgenen, vielleicht würde ich durch Alls Hilfe eines Tages mit Nessim auf dem Arm vor ihrer Türe stehen, und dann konnte ich ihr alles erzählen. Gamal erklärte mir gerade die Handlung eines Films anhand von Beispielen aus der englischen Besatzungszeit, als er mich fragte: »Warum bist du heute so nervös? Alle zwei Minuten greifst du dir an den Kopf.« Es war mir nicht bewußt gewesen, Hagge jedoch bestätigte Gamals Worte und setzte sich nun neben mich. Nach einem kurzen Blick auf meinen Kopf sagte sie zu Hagg: »Heike hat Läuse.«
»Bitte, was?« rief ich aus. Schallendes Gelächter von allen war die Antwort. Gleich nahm Hagge sich Nessim auf den Schoß und stellte fest, daß er keine hatte. Mir war nun wirklich nicht nach Lachen zumute, und ich sah fragend in die Runde. »Woher sollte ich solches Geziefer haben? Das ist doch unmöglich.« Ahmed konnte sich kaum beruhigen, so sehr amüsierte ihn die Sache. »Gibt es in Deutschland keine Läuse?« wandte sich Hagg an seinen Ältesten. »Soviel ich weiß, nicht.« Nun sah Hagg zu den drei Mädchen hin, die wie gewohnt in einer Ecke am Durchgang zur Küche auf dem Boden saßen. »Gameläd, komm her!« Sie stand auf und kam langsam auf uns zu, blieb zwei Schritte vor Hagg stehen. Mit zu Boden gesenkten Augen wartete sie. »Du Dreckstück hast im Bad deiner Herrin ihren Kamm benutzt, nicht wahr? Sakäja, hast du sie etwa nicht entlaust, als sie kam?« »Durch diesen Filz konnte man nicht durchkommen, Sidi.« Trotz ihrer Fülle sprang Sakäja behend auf ihre Füße und verschwand in Richtung Mädchen-Toilette, und ich hörte, wie sie sich dort einschloß. Sie wußte, daß jetzt ein Strafgericht stattfinden würde. Hagg stand langsam auf, würdigte Gameläd keines Blickes und murmelte, während er in Richtung Küche verschwand: »Du kommst mit mir, du Tochter einer Hündin!« Nur Hagge stand auf und ging auf den Balkon, während die anderen sich weiter unterhielten oder auf den Fernseher sahen, als sei nichts geschehen. Omar und Jussuf kicherten miteinander, und bei mir verstärkte sich der Eindruck, daß ein bißchen grausame Vorfreude im
Spiel war. Schon einige Male waren mir Jussufs oder Yazids Attacken auf Sakäja aufgefallen. Wenn sie für einen ihrer Sonderwünsche wegen anderer Arbeit keine Zeit hatte und nicht sofort zur Stelle war, hagelte es wütende Kinderfäuste, und sie stand ohne eine Miene zu verziehen und wartete, bis die Wut verraucht war. Während Hagge bei solchen Gelegenheiten manchmal eine Zurechtweisung an ihre Söhne aussprach, konnte in diesem Fall Hagg als oberste Instanz seiner Wut freien Lauf lassen. Für ihn gab es keine Verbote, und man durfte gespannt sein, wie das Mädchen nach dieser Lektion wieder auftauchte. Aus der Küche waren Gameläds Schreie und Beteuerungen zu hören. »Ich fasse Setti Heikes Sachen nicht an. Ich habe den Kamm nicht angefaßt, im Namen Gottes, ich rühre im Bad nichts an!« Je mehr sie versicherte, nichts angefaßt zu haben, desto heftiger hörte man das klatschende Geräusch des Hausschlappens, wenn er auf sie niedersauste. Das Schreien wurde langsam zu einem Wimmern und hörte schließlich ganz auf. Kurze Zeit später erschien Hagg und sagte zu mir: »Diese Hurentochter wird deine Sachen sicher nicht noch einmal benutzen. Leider wirst du dich jetzt einer etwas unangenehmen Prozedur unterziehen müssen. Wo ist Hagge?« »Auf dem Balkon.« Sie war jedoch bereits auf dem Weg zu uns, und auch sie bekam jetzt Vorwürfe zu hören. »Das hätte nicht passieren brauchen, hättest du diesem Geschmeiß etwas auf die Finger geguckt. Es war doch klar, daß sie Geziefer hatte, als sie hier ankam. Kümmere dich um Heike, damit sie diese Schweinerei los wird.« Sakäja, die wie aus dem Boden gestampft plötzlich wieder im Raum stand, hielt ihrer Herrin nun ein Gefäß hin. Ahsähn hatte zwei Handtücher in den Händen, und Hagge sagte zu mir: »Komm, Heike, wir gehen ins Bad.«
Sakäja holte für mich einen Stuhl, und Ahsähn legte mir, nachdem ich mich gesetzt hatte, die Tücher über Nacken und Schultern. Nun goß Hagge Petroleum über meinen Kopf und massierte die stinkende Flüssigkeit ein. Dann wickelte sie alte Tücher zu einem Turban um meine Haare. »Das ist nicht so schlimm, Heike, das ist uns allen schon passiert. Du hättest aber wirklich auch mal auf ihren Kopf gucken sollen. Das konnte man sich doch denken. Jetzt gehst du mit Ahsähn aufs Dach und setzt dich eine halbe Stunde in die Sonne. Das überleben die Läuse nicht, dann kannst du dir die Haare waschen, und alles ist wieder gut. Um Gameläd wird sich Sakäja kümmern.« Und dann war der große Tag da! Und wir fuhren los, um meine Mutter abzuholen. Schon in den vergangenen Tagen waren meine Gedanken und Gefühle ganz und gar mit ihrem Kommen beschäftigt. Die Aussicht, mit einem vertrauten Menschen Gespräche führen zu können, ohne sich verstellen zu müssen oder die Befürchtung zu haben, Regeln zu verletzen, die man nur oberflächlich kannte, ließ mich richtig aufleben. Wie oft hatte ich unsicheren Boden unter meinen Füßen, wenn Hagge bei einer Äußerung von mir mich mit fragenden und leicht irritierten Augen ansah, sie dann senkte und mit unbewegter Miene auf ihre Hände blickte. Bei ihren Kindern wurde schon mal getadelt, mit den Mädchen schimpfte sie vernehmlich, und auch Beschimpfungen hatte ich schon gehört, aber bei mir blieb sie nur stumm. Nichts Gutes, nichts Schlechtes, nur einfach Schweigen. Es war unergründlich und beklemmend. Wie aber würde ich vertraute Gespräche mit meiner Mutter ohne die Preisgabe der Dinge, die mich hier am meisten belasteten, führen können? Sie sollte nach ihrem Besuch bei mir und meiner neuen Familie zufrieden und ruhig in die Heimat zurückreisen können. Das Gefühl, ihre
einzige Tochter im Unglück zurückzulassen, sollte sie auf keinen Fall haben. Wie würde sie überhaupt auf dieses Land reagieren? Zwangsweise hatte ich mich an vieles gewöhnt, und auch zunächst sehr Fremdartiges war inzwischen alltäglich geworden. Der Muezzin störte mich schon lange nicht mehr, und wenn das Wasser gerade dann abgestellt wurde, wenn man sich im Bad eingeseift hatte, oder es plötzlich keinen Strom gab, wenn im Mund die Betäubung voll eingesetzt hatte und der Zahnarzt den Bohrer zur Hand nahm, der sich ohne Elektrizität nicht rührte, mußte man sich in Gleichmut üben. Das kam alle paar Tage vor. Ich sah schon alles mit anderen Augen, aber wie würde sie es empfinden? Dazu kam noch das, was man heute Kulturschock nennt – sie hatte gerade mal hier und da die eigene Landesgrenze gespürt, einen anderen Kontinent hatte sie nie betreten. Zwar gab es Radio und Zeitungen, aber von der Welt jenseits der großen Meere kam in unserer kleinen Stadt nicht viel an. Sie hatte schon begeisterte Berichte von ÄgyptenReisenden gelesen, die bis an ihr Lebensende über die Herrlichkeit der Baukunst im alten Ägypten erzählen konnten, sie hatten Dinge gesehen und erlebt, die sie trotz aller Anstrengung niemals würden, missen wollen. Doch Touristen behielten vor allem das Einmalige und Überwältigende, während sie das nur schwer zu Ertragende nach vier oder fünf Wochen aus ihren Erinnerungen streichen konnten. Meine Mutter würde nichts streichen können, immer wieder würden Briefe von mir ankommen, und auch wenn ich nicht klagte, würde sie vielleicht weinen müssen. Sie hatte mir ihre Scheu vor dieser großen Reise in einem Brief gebeichtet, und voller Erleichterung erreichte mich dann die Nachricht, daß ein Studienfreund von Ahmed zur gleichen Zeit wie sie eine Ferienreise in sein
Heimatland gebucht hatte. Man hatte Kontakt aufgenommen, und Mohammed hatte zugesagt, sich zu kümmern, dafür zu sorgen, daß sie in Italien den Anschluß nicht verpaßten, und ihr bei Verständigungsschwierigkeiten und Paßangelegenheiten hilfreich zur Seite zu stehen. Ich hatte den jungen Mann in Köln als sehr liebenswürdigen Menschen kennengelernt. Was also die praktischen Abwicklungen während der Reise betraf, konnte ich beruhigt dem Ankunftsdatum entgegensehen, Mutti war bei ihm in guten Händen. Ein halbes Jahr war Nessim alt gewesen, als sie ihn zuletzt gesehen hatte. Nun lief er schon am Händchen neben mir her. Vom Tag seiner Geburt bis zu unserer Abreise hatte sie ihn in ihrer Obhut gehabt, da ich damals noch berufstätig war und auch Ahmed nicht verfügbar war, weil er mit den Vorbereitungen ‘und Formalitäten für die Reise voll in Anspruch genommen wurde. Amüsiert hatte sie mir erzählt, daß bei Spaziergängen mit dem Kinderwagen Leute verwundert über diesen blondgelockten, kleinen Engel bei ihr stehenblieben. Meine Heirat mit einem Ägypter, also einem Afrikaner, war ausgiebig besprochen worden, und nun eilte die Nachricht schnell von Mund zu Mund: Das Kind war nicht schwarz! Es hatte keine schwarze Haut, keine schwarzen Haare, sehr sonderbar! Es war also für meine Mutter ein doppelter Abschied gewesen. Als wir beide uns vor der Abreise in den Armen lagen, hatte sie sich noch zusammengenommen, als sie dann aber »ihr« Schätzchen auf den Arm nahm, es fest an sich drückte und küßte, flossen Tränen. Kaum zu begreifen, wie leicht ich mich doch auf die Reise in das Land, wo Milch und Honig fließen sollten, begeben hatte.
Ich hatte sie gebeten, mir alltägliche Gebrauchsgegenstände, die ich hier nirgendwo gefunden hatte, wie Frottiertücher, Cremes und einige Schminkutensilien, mitzubringen. Sicher gab es in Alexandria oder Kairo all die Dinge, die Europäer gewohnt waren. Ich jedoch wohnte auf dem Land, und als Mitglied einer ägytischen Familie gab es bei Bedürfnissen in diese Richtung immer wieder Fragen, Bitten und Erklärungen, die mir im Laufe der Zeit lästig geworden waren. Abgesehen davon, daß solche Wünsche von Ahmed als verrückte deutsche Ideen abgetan wurden. Das Missen solcher kleinen Dinge läßt das Leben unpraktisch und provisorisch erscheinen, und ich freute mich darauf, wieder einen gewohnten Lippenstift benutzen zu können oder eine Creme auf meiner Haut zu verreiben, deren Geruch mir vertraut war und deren Konsistenz ich kannte. Dies alles war nun zum Greifen nah, sicher stand meine Mutter gerade an der Reling und sah aus der Ferne auf Alexandria.
14
Ich bin nicht mehr allein
Ich hatte kaum geschlafen vor Aufregung, und nun saßen Hagg, Ahmed und ich im Auto auf dem Weg zum Schiff, das meine Mutter nach Ägypten bringen würde. Langsam bogen wir in das Hafengelände ein, und Attala stellte den Wagen ab. »Heiuka, sieh da drüben, das muß das Schiff sein, mit dem deine Mutter ankommt. Wir wollen mal hinübergehen.« In diesem Moment sah ich Mohammed, einen kleinen Mann von sehr dunkler Hautfarbe und mit einem sorgfältig gestutzten Spitzbart. Er kam die Schiffsleiter herunter, ich begann zu laufen und rief seinen Namen. Wo er war, mußte auch meine Mutter sein, und tatsächlich, jetzt sah ich sie. Im gleichen Augenblick hatte sie mich erkannt, beide waren wir wie erstarrt stehengeblieben und sahen uns aus der Entfernung an. »Mutti«, schrie ich und rannte wie ein Kind die letzten Meter auf die Leiter zu. Nun hatten wir uns erreicht und lagen uns in den Armen. Ich flüsterte nur immer wieder: »O Mutti, o Mutti, endlich bist du hier.« Wir weinten beide, und ich war so erschüttert, daß mich ein regelrechtes Zittern überfiel. Wie ein Blitz schoß mir durch den Kopf: Wirst du durchhalten, was du dir vorgenommen hast? Minutenlang hatten wir wohl so dagestanden, und nun kamen Hagg und Ahmed langsam auf uns zu. Auch Mohammed stand etwas abseits und wartete taktvoll.
»Ohne Mohammed wäre ich an manchen Stationen meiner Reise verloren gewesen. Er hat sich ganz reizend um mich gekümmert.« Nun kam er auf uns zu, um uns zu begrüßen und sich gleichzeitig zu verabschieden. Er wollte endlich seine Familie sehen, die in Kairo lebte, und den nächsten Zug dorthin nehmen. Unbefangen trat Hagg einen Schritt auf meine Mutter zu und sagte: »Ählen o Sählen, Salemäd – Seien Sie gegrüßt, herzlich willkommen.« Ahmed hatte sein verbindlichstes Deutschland-Gesicht hervorgeholt und begrüßte sie ebenfalls. Nach den obligaten Formalitäten konnten wir nach einer Weile das Gepäck verstauen, und es ging auf nach Tanta. Meine Mutter und ich schauten uns während der Fahrt manchmal wortlos an, wechselten aber kaum ein Wort. »Bist du müde, war es anstrengend?« fragte ich sie jetzt. »Beides, Kind, beides. Aber nun werde ich wieder wach. Verstehst du diese Sprache? Mir ist etwas wirbelig im Kopf. Wo ist unser Schätzchen, habt ihr ihn nicht mitgebracht?« »Wir wußten ja nicht, ob das Schiff pünktlich sein würde, und so konnten wir nicht absehen, wie lange wir unterwegs wären. Deshalb haben wir ihn zu Hause gelassen. Wir sind jetzt noch etwa eine Stunde unterwegs, und dann wirst du ihn sehen.« »Ist er wieder ganz gesund, und wie verträgt er das alles hier?« »Es geht ihm sehr gut, und er ist ganz wiederhergestellt. Nur schmal ist er geworden. Das Essen ist für ihn nicht mehr fremd, und mit der Hitze geht er um wie alle Leute hier. Mutti, er ist jetzt hier zu Hause, es ist sein Heimatland.« Etwas geistesabwesend sah sie durchs Fenster, dann sah sie mich an und meinte: »Und du, geht es dir gut? Du scheinst mir sehr schmal, kommst du zurecht? Hast du
dich von dieser rätselhaften Krankheit wieder ganz erholt?« »Mir geht es wieder blendend, dank Haggs Pflege kam ich schnell wieder auf die Beine.« Ahmed war wohl mit einem Ohr bei uns, sah ab und zu zu mir hinüber, und manchmal gab er eine Erklärung zu der Landschaft, die an uns vorbeizog. »Mein Gott, das arme Tier. Das ist ja furchtbar, man hat ihm sogar die Augen verbunden, damit es nicht wahnsinnig wird«, rief meine Mütter plötzlich und zeigte auf einen Wasserbüffel, der im Kreis ging, um durch die kontinuierliche Bewegung des Wasserrades die Bewässerung der Felder zu gewährleisten. »Das ist hier schon seit ewigen Zeiten so und gehört ins Bild, man denkt zuerst einmal an das Wasser für die Felder. Das ist wichtig, und ich glaube nicht, daß man darüber nachdenkt, wie es den Tieren dabei geht.« Ohne eine Miene zu verziehen, sah Ahmed mich an, und es wäre sicher taktvoller von mir gewesen, es etwas anders zu formulieren. Er übersetzte für Hagg, was wir gesprochen hatten. Dieser sah uns über die Schulter an und lächelte. »Ja, das ist Ägypten. Bei euch gibt es überall Wasser, bei uns nicht.« Der Empfang war herzlich. Daran, daß dienstbare Geister sich um fast alle Alltäglichkeiten kümmerten, hatte ich mich so gewöhnt, daß es mir nicht einmal mehr auffiel. Meine Mutter hingegen sah dem Transport ihrer Koffer und anderen Handreichungen staunend zu. Vorsichtig hielt ich sie hier und da am Arm zurück, wenn sie selbst Hand anlegen wollte – das wäre ihrer Würde abträglich gewesen. Solche Verhaltensregeln mußte ich ihr noch erklären, fiel mir ein. Zur Begrüßung aller anderen gingen wir gleich nach oben und saßen bei Obst und eisgekühltem Saft auf den Kanapees. Für die Unterhaltung waren natürlich immer Übersetzungen notwendig, und sie bestand hauptsächlich aus
Höflichkeitsfloskeln, die ich meiner Mutter übersetzte. Sie staunte, wie selbstverständlich ich mit dieser für sie so fremden Sprache umging, und Hagg meinte zu ihr: »Du hast eine kluge Tochter, sie lernt schnell.« »Wo ist denn nun Nessim«, wollte sie wissen. Ahsähn hatte ihn zu einer Besorgung mitgenommen, doch sie kam gerade zur Tür herein. Nessim saß, ein Beinchen hinten, ein Beinchen vorn, auf ihrer Schulter und ließ sich eine Feige schmecken. Er strahlte, als er mich sah, aber er wandte sich ab, als die fremde Frau auf ihn zukam. Er erkannte seine Großmutter nicht wieder, und sie war enttäuscht. Als wir dann aber zu viert ihren Koffer auspackten, freundeten sich die beiden schnell wieder an. Da gab es Spielsachen, Bilderbücher, Gestricktes und Genähtes für den kleinen Mann. Sie nahm ihn auf den Schoß, drückte ihn an sich, sprach mit ihm und erklärte ihm die Bilder in einem seiner neuen Bücher. Sie staunte sehr, wie schnell er von einer Sprache in die andere umschaltete. Mit Gameläd sprach er arabisch, mit uns beiden nur deutsch. Unter all den schönen und praktischen Dingen, die meine Mutter mitgebracht hatte, war auch ein Kaffeefilter mit Filterpapier. Sie war leidenschaftliche Kaffeetrinkerin, und ich hatte ihr geschrieben, daß es die für uns gewohnten Haushaltswaren hier nicht gab, doch so brauchte sie auf ihren geliebten Kaffee, aufgebrüht, wie sie es mochte, nicht zu verzichten. Nun gingen wir durch die Wohnung, und ich zeigte ihr alles. »Wann kommen die Möbel?« fragte sie, als wir durch die Säle gingen. Es mußte auf sie einen unwirklichen Eindruck machen, und mir fiel jetzt erst wieder richtig auf, wie kahl und ungastlich diese riesigen Räume ohne jedes Möbelstück wirkten. Für mich waren sie zu Schleusen zum Wohnbereich geworden, und ich verlor keinen Gedanken
mehr daran. Aber ihr wollte ich eine Erklärung geben: »Weißt du, Mutti, es ist durchaus möglich, daß unangekündigt nächste Woche oder in drei Wochen Möbel ankommen. Ahmed plant das. Hier laufen solche Dinge etwas anders als zu Hause. Da habe ich keinen Einfluß drauf, und es ist auch bequemer so.« Sie sah mich an und meinte: »Ach, da kenne ich dich aber anders. Doch wenn du so zufrieden bist, dann ist das ja in Ordnung.« Schweigend gingen wir durch die vielen Räume. Manchmal blieb sie kurz stehen, wollte wohl etwas fragen, tat es aber nicht. Sicher wollte sie mich nicht in Verlegenheit bringen. Sie konnte ja nicht wissen, wie erfolgreich mein Verstand meine Augen zum bloßen Hinnehmen bewegt hatte. Vieles Provisorische oder Häßliche nahm ich nicht mehr zur Kenntnis; es war ohnehin unabänderlich. Wichtigeres bekümmerte mein Gemüt. Als wir auf den hinteren Balkon kamen und sie hinuntersah, nahm sie eine Hand vor den Mund, um einen entsetzten Aufschrei nicht herausrutschen zu lassen. »Daran ließe sich doch sicher etwas ändern, wo kommt denn dieser ganze Unrat her?« »Da es hier keine Müllabfuhr gibt und man mit dem Müll aber irgendwohin muß, wirft man ihn aus dem Fenster.« »Das ist doch nicht dein Ernst?« »Doch, Mutti, so ist es.« Eigenartigerweise fühlte ich mich in der Defensive und erzählte ihr gleich von Sakäjas Kochkünsten, die ich als hervorragend schilderte. Doch noch während ich sprach, fiel mir ein, daß das für meine Mutter reiner Unsinn sein mußte, sobald sie einige der Gerichte probiert hatte, denn sie war die arabische Küche gar nicht gewöhnt und müßte sich erst einmal umstellen. Ich lächelte still in mich hinein und zog sie wieder in die Wohnung.
Als wir dann schließlich gemütlich beim Kaffee saßen, gab es so viel aus der alten Heimat zu berichten, daß wir gar nicht merkten, wie die Zeit verging. Ahmed war während des Nachmittags aus reiner Höflichkeit einmal für ein paar Minuten zu uns ins Wohnzimmer gekommen, erkundigte sich nach ihrem Befinden und wollte wissen, ob er irgend etwas für sie tun könne, ob sie einen Wunsch hätte. Daß diese Geste reine Formsache war, nichts bedeutete, und er in Wirklichkeit eher Angst vor ihr hatte, sagte ich Mutti nicht. Sicher hätte er für sein Leben gerne gewußt, was so besprochen worden war und ob ich mich bereits bei ihr beklagt hatte. Sein Unbehagen, das hinter einem zuckersüßen Lächeln verschwand, aber gut zu spüren war, hatte seinen Ursprung wohl nicht allein in meinen zu erwartenden Erzählungen. Längst mußte Mutti gesehen haben, daß an seinen Berichten und Schilderungen über seine Heimat, die er uns in Deutschland gegeben hatte, so gut wie nichts stimmte. Und das Bewußtsein, es mit einem Lügner zu tun zu haben, belastete ihren Aufenthalt hier vom ersten Augenblick an. Aus Kindertagen wußte ich nur zu genau, daß sie Lügen haßte. Sie verdammte nicht, sie sah nur den Sinn nicht ein und war immer der Meinung, daß mit einem Zugeständnis an eigenes Unvermögen Lügen vermieden werden könnten. Welchen Sinn hatten Lügen, wenn die erste eine weitere nach sich zog und die Schwierigkeiten daraus immer größer wurden. Welchen Grund konnte Ahmed gehabt haben, seine Heimat in für sie so unsinniger Weise zu vergolden? Ich hätte sie aufklären können, denn ich selbst hatte lange genug darüber nachgedacht. Je rosiger sein Land und seine Familie durch seine Erzählungen leuchteten, je weniger brauchte ich dem Rat von Freunden zu folgen, sein Land vor einem endgültigen Umzug erst einmal nur
zu besuchen. In diesem Fall hätte sich mein Aufenthalt auf wenige Wochen beschränkt. Das sah wohl auch Ahmed so. Meine Überlegungen in diese Richtung mußten beschwichtigt werden, auch wenn das für ihn mit Anstrengung verbunden war. Und von der Mühsal, mir unentwegt gutgelaunt Ägypten schönzufärben, war er ja von der Stunde an erlöst, in der ich ägyptischen Boden betrat. Dann war die Falle zugeschnappt. Seine Arbeit war getan, und der Fron, Liebenswürdigkeit zu mimen, eine fremde Sprache zu sprechen und um Dinge zu bitten, die jede Ehefrau ihm demütig von den Augen abzulesen hatte, war er enthoben. Solange meine Mutter bei mir war, trat Ahmed so wenig wie möglich in Erscheinung. Da wir nun fast ausschließlich deutsch kochten, waren auch die Mahlzeiten kein Anlaß, daß er sich zu uns setzte. Ich ließ mir öfter von Gameläd das eine oder andere Gericht von oben kommen, und Mutti beobachtete mich dann immer etwas verständnislos, wenn sie sah, mit welchem Appetit ich die exotischen Speisen aß. Nach mehrmaligem Probieren lehnte sie aber in der Regel dankend ab. Sie konnte sich mit diesem Essen nicht anfreunden. Immer mal wieder sah ich sie durch die Wohnung gehen, und wenn sie die Blicke schweifen ließ, fragte sie die natürlichsten – deutschen – Dinge. »Wann bekommt Gameläd ein Bett, auf dem Boden kann man doch kein Mädchen schlafen lassen.« Oder: »Warum kommt die Milchfrau nicht ins Haus herein?« Oder: »An das Bügeleisen muß unbedingt ein Stecker, das ist ja lebensgefährlich!« Ich steckte immer die kleinen Kupferdrähtchen direkt in die Steckdose. Doch auch sie verkniff sich diese Fragen nach einer Weile. Denn sie lernte, daß es hier Dinge gab, die man nicht ändern konnte. Aber trotz aller Widrigkeiten war unser Einvernehmen wie in alten Zeiten. Wir saßen im
Wohnzimmer beisammen, strickten, spielten mit Nessim, erzählten oder lachten über Merkwürdigkeiten, die wir vom Balkon aus auf der Straße sahen. Und natürlich fuhren wir mit dem Hantur in die Stadt. Dort angekommen, entließen wir den Kutscher, und es wiederholte sich jedesmal das gleiche Spiel. Von uns zwei Frauen, die wir als Europäerinnen gut zu erkennen waren, verlangte man den doppelten oder dreifachen Fahrpreis. In seiner Muttersprache dann zurechtgewiesen, sah der Mann mich verdutzt an, und wenn ich ihm den angemessenen Betrag in die Hand legte, setzte er kopfschüttelnd sein Gefährt wieder in Bewegung. Es war gut, daß man die Entrüstung meiner Mutter nicht verstehen konnte. Daß es hier zum Leben dazugehörte, durch Handeln und Feilschen bei täglichen Einkäufen und Besorgungen den bestmöglichen Gewinn zu erzielen, war ihr sehr fremd. Sie kam aus einer Welt, wo Waren zu Festpreisen angeboten und verkauft wurden, jede Abweichung davon war suspekt, betrügerische Absicht konnte dahinterstecken, oder Angebotenes war minderwertig. Ich mochte die hier übliche Art und feilschte gern, war immer stolz, wenn ich einen guten Preis erzielen konnte. Hagg hatte mich auf diesem Gebiet etwas unterwiesen und mir kleine Tricks beigebracht, für die ich so manches Mal dankbar war. Wie merkwürdig und befremdlich wir auf die Ägypter wirkten, wenn wir durch die Basargassen schlenderten, konnten wir wie in einem Spiegel an den Gesichtern der uns umdrängenden Menschen ablesen, und oft amüsierten wir uns darüber. Wie interessant und auch komisch waren doch diese zwei Europäerinnen, die in ihrem Alter wirklich etwas rundlicher sein sollten. Hinter uns, im angemessenen Abstand, ging Gameläd mit Nessim an der Hand oder auf der Schulter. Mitten unter schwarz verschleierten Fellachinnen oder mit
bodenlangen, farbigen Galabijas gekleideten Müttern, die ihre Kleinkinder meist auf der Schulter trugen, laut schreienden Getränke- oder Mangaverkäufern, unter weit flatternden Wäschestücken, die über die Gassen gespannt waren, nahmen wir uns wirklich exotisch aus. Nicht alles, was man uns nachrief, übersetzte ich meiner Mutter. Man machte sich gegenseitig aufmerksam, Kinder versuchten, unsere Hände anzufassen, und auch Erwachsene suchten oft Tuchfühlung. »Keine Angst, Mutti, die tun dir wirklich nichts. Sie wollen nur wissen, wie sich eine Europäerin anfühlt.« Solche Ausflüge machten wir allerdings nicht oft. Es diente im Grunde auch nur dazu, ihr die farbige Fremdartigkeit zu zeigen. Zu Hause würde sie viel zu erzählen haben und das eine oder andere unter Ausrufen des Staunens ihrer Bekannten hervorheben. Diese Expeditionen waren schon durch die aufwirbelnden Staubwolken, die das Atmen schwer machten, und die brütende Hitze kein reines Vergnügen. Dreckverkrustete, mit Fliegen übersäte Kindergesichter konnte meine Mutter nicht ungerührt ansehen, und mühsam war auch, daß man ständig dem herumliegenden Unrat ausweichen mußte. Über allem der typische Krach, bei dem man sich nur schreiend verständigen konnte, und der unvermeidbare Gestank, der uns in Verbindung mit dem herumfliegenden Staub den Atem nahm. Aus jedem Eingang kam in ohrenbetäubender Lautstärke Um Kalzoum mit ihren schluchzenden Liebeshymnen, schreiende Verkäufer boten die verschiedensten Waren an, Kutscher, die sich den Weg mit Achtungsrufen freimachten, und dann sicher Hunderte von Lautsprechern, verteilt über die ganze Stadt, die zur gegebenen Zeit Teile des Korans über die Häuser röhrten. Dann stellten wir fest, daß meine Mutter Flöhe bekommen und sie am Körper mit nach Hause getragen
hatte. Von diesen unangenehmen Belästigungen blieb ich verschont und hatte aus diesem Grund die Existenz dieser Tierchen nie bemerkt. Aber nun fiel mir wieder ein, daß meine Mutter zu den Menschen gehörte, die dieses Geziefer magnetisch anzog. Aus früheren Zeiten hatte sie manches Mal erzählt, daß aus einem vollbesetzten Kino sie in jedem Fall den einzigen vorhandenen Floh mit nach Hause nahm. Ihr gesamter Aufenthalt wurde dadurch beeinträchtigt, und wir gingen schließlich dazu über, jeden Abend zu ihrer Entflohung im Bad zu verschwinden. Stück für Stück zog sie ihre Kleider aus, legte sie ausgebreitet auf den Boden, und wir fahndeten dann gemeinsam nach den kleinen, schwarzen Quälgeistern. Taten wir das nicht, konnte sie im Bett kein Auge zutun, weil die Quälgeister sie blutsaugend traktierten. Und leider war es so, daß jeder, der von der Straße hereinkam, Flöhe mitbrachte, und diese dumme Kleinigkeit zerrte im Laufe der Zeit an den Nerven meiner Mutter. Als ich oben erzählte, wie sehr sie darunter litt, erntete ich allgemeine Belustigung. Aus Hagges Richtung hörte ich: »… Geschöpfe Gottes. Ihre Gesundheit kommt dadurch nicht zu Schaden, und das ist doch das Wichtigste.« Im Umgang mit den Kakerlaken hatte meine Mutter meine Art der Überlistung des Geziefers übernommen, ekelte sich aber nach wie vor in dem Bewußtsein, daß die Tiere, auch dann wenn man sie nicht sah, in jedem Kochtopf, in jeder Fensterspalte, unter Spülbecken und auf Tellern im geschlossenen Schrank ständig nur auf die Dunkelheit warteten, um herumzuspazieren. Trotz vieler Widrigkeiten und Provisorien hörte ich von ihr kaum je Klagen oder Beschwerden. Sie reagierte mit Schweigen, auch wenn sie mich oft fragend ansehen mußte. Hätte ich ihrem Staunen, ihrem Erschrecken und
ihrem Ekel zugestimmt, hätte ich mich möglicherweise nicht so unter Kontrolle halten können. Wenn wir erst einmal darüber sprächen, würde mein Gemüt so aufgerüttelt, daß ich alles herausschreien müßte, die mit Sand, Schutt und Schmutz bedeckte Stadt, diese Frauenverachtung, das Ungeziefer und die Hitze, die Mentalität der Menschen, ihre Gottergebenheit in alles und jedes, und wie ich das nicht mehr ertragen konnte! Das wollte ich nicht, obwohl ich oft nahe daran war. Wir besuchten häufig den Amerikanischen Club, der für sie eine ebensolche Erholung war wie für mich. Eine schöne, wenn auch anstrengende Abwechslung war ein Ausflug nach Kairo. Hagg hatte diese Fahrt vorgeschlagen, und so konnte ich ihr einen kleinen Teil dieser Weltmetropole zeigen. Auf Gamals Anregung hin sahen wir uns sogar die Pyramiden an, die auch ich noch nicht besichtigt hatte. Natürlich betrachteten wir diese großartigen Monumente vergangener ägyptischer Größe nur von außen. Was hätten uns diese Steinquader in ihrem Innern schon zu bieten gehabt, wenn ein ägyptischer Mann sich nicht einmal dafür interessierte? Zu Ehren meiner Mutter hatte die Familie zu einem großen Essen geladen, und auch einige Verwandte waren anwesend. Nach endlosen Höflichkeitsund Begrüßungsfloskeln, während der uns Ahmed wie Trophäen vorgeführt hatte, nahmen wir die Tafel, an der wir uns niederließen, in Augenschein. Eine unglaubliche Fülle von Gerichten, die auf dem Riesentisch eng beieinandergestellt waren, ließ uns staunen. Wunderschön anzusehen waren all die bunten Salate, Gemüse- und Fleischsorten. »Heiuka, du kennst unser Essen ja schon und weißt, was gut schmeckt, gib deiner Mutter davon, damit sie auch vom Essen gute Erinnerungen mit nach Hause nimmt«, sagte Hagg.
Immer wieder flogen Wortfetzen in Muttis Richtung: »Ählen o Sählen, Salemäd, esei Sahättek – Seien Sie gegrüßt, wie geht es Ihrer Gesundheit?« »Was hat sie gesagt, Liebchen?« Während sie sich durch die einzelnen Gemüse kämpfte, raunte ich ihr zu: »Sie begrüßt dich nur immer wieder und will wissen, wie es deiner Gesundheit geht. Du brauchst nichts zu erwidern. Lächle nur.« Mit einem Mal holte sie schreckerstarrt tief Luft und schaute entgeistert auf die Tischmitte. Bei den sicher zwanzig Personen und der entsprechenden Geräuschkulisse, dem lebhaften Hantieren mit Brot, Limonaden und Fleisch, während die Mädchen beständig von einem zum andern gingen, um eventuelle Sonderwünsche zu erfüllen, selbst Ibrahim hatte man, in eine neue, weiße Galabija gesteckt, nach oben zum Bedienen beordert, hatte man ihren verhaltenen Schreckensschrei nicht bemerkt. Sie nahm meine Hand, drückte sie und raunte: »Guck mal in die Mitte!« Und nun sah ich mitten zwischen all den Schüsseln den Kopf einer Kuh oder eines Rinds, der mit seinen weißgekochten Augen in unserer Richtung lag. Auch für mich war es ungewohnt und nicht sehr appetitlich. Und als hätte Hagg unsere Worte gehört und verstanden, erhob er sich jetzt, wies in Richtung Tierkopf, lächelte Mutti an und sagte feierlich: »Zu Ihren Ehren hat Hagge diesen Kopf zubereitet, und wie alle schon gesehen haben, ist ihr dies hervorragend gelungen. Das Gegarte im Innern dieses Kopfes ist eine Delikatesse, und die Augen sind etwas ganz Besonderes. Sagen Sie mir, welches Auge Sakäja Ihnen auflegen darf?« Während er noch sprach, überlegte ich fieberhaft, wie ich die Situation retten konnte. Alle Augen waren erwartungsvoll auf meine Mutter gerichtet, Sakäja stand mit einem Messer parat, und ich
hätte am liebsten laut gelacht. Wohl aus einem ganz anderen, schäbigeren Grund grinste Ahmed uns vom anderen Tischende her an. Er wartete gespannt ab und amüsierte sich königlich. Ich sammelte mich und übersetzte nun Haggs kleine Ansprache. Ganz leise, so daß Ahmed uns nicht verstehen konnte, sagte ich: »Mutti, lach nicht, zeig nicht dein Entsetzen, halt deine Gesichtszüge ganz fest unter Kontrolle. Als Ehrengast hast du die Wahl zwischen dem rechten und dem linken Auge aus diesem Tierkopf. Ich werde für dich so höflich wie möglich ablehnen. Wenn wir wieder unten sind, kannst du sagen, was du willst, nur jetzt nicht, bitte.« Ich war dann erstaunt, wie gerührt ihr Lächeln wirkte, als sie langsam den Kopf schüttelte. Zu Hagg gewandt sagte ich: »Meine Mutter bedankt sich vielmals, nur ist es so, daß dies eine Sitte ist, die wir nicht kennen. Sie hat in ihrem Leben noch kein Rinderauge gegessen, und sie ist der Meinung, daß sie das gar nicht zu würdigen wüßte. Darum tritt sie von ihrem Vorrecht zurück und überläßt dir und Ahmed diese Augen.« Alle hatten mir zugehört, und nun setzte allgemeines Erstaunen und Bedauern ein. Hagge sah in ihrer unbewegten Art lächelnd vor sich auf den Tisch, und ob sie nun ernsthaft verletzt war durch diese Zurückweisung, konnte ich nicht feststellen. Wir hätten auch nichts daran ändern können. Ahmed machte wohl gerade einer alten Tante klar, daß diese Deutsche gar nicht wußte, was sie da verschmähte, und grinste wieder in unsere Richtung. Die fröhliche Feier wurde etwas steif und förmlich, weil meine Mutter und ich die rustikale Gemütlichkeit und das zwanglose Zusammensein störten. Einigen Familienmitgliedern konnte man deutlich die Schwierigkeiten bei der Handhabung der Bestecke anmerken, doch in Gegenwart von ausländischen Gästen wollte man seine Erziehung zeigen. Leichter und lustiger
wäre es für die Familie gewesen, hätten sie mit Händen und Füßen, laut schmatzend und schlürfend zugreifen können, ohne auf uns Rücksicht nehmen zu müssen. Europäische Sitten waren nicht übel, wenn man sich amerikanische oder englische Filme ansah, aber eben doch sehr umständlich. Unser Besuch bei Anna war harmonisch, aber in gewisser Weise auch beklemmend gewesen. Annas Mutter war zeitgleich wie meine aus Deutschland zu Besuch, und so lernten die beiden Frauen sich kennen. Sehr verschieden voneinander, waren sie sich doch in einem völlig einig. Ihre Töchter hatten sich für ein Leben entschieden, das sie beide überhaupt nicht verstanden, und Annas Mutter hielt mit ihrer Meinung über dieses Land nicht hinter dem Berg. Anna und ich hatten unser Strickzeug bei der Hand, und unsere Unterhaltung beschäftigte sich mit den Alltäglichkeiten des Lebens. Annas Schwiegermutter saß mit in unserer Sofaecke, beteiligte sich an unserem Gespräch und trug ab und zu dem an der Tür stehenden Hausmädchen auf, noch etwas Kuchen oder Saft zu holen. Die zwei deutschen Mütter saßen etwas entfernt am Fenster und sprachen sehr angeregt miteinander. Gesprächsfetzen wie »… und dieser Dreck, ich verstehe meine Tochter nicht« flogen an unsere Ohren. Annas Mutter hörte ich ungeniert sagen: »Ich würde Anna sofort mit nach Hause nehmen, sie ist gesundheitlich nicht so stark wie es den Anschein hat. Aber sie will nicht, können Sie das verstehen?« Anna sah prüfend ihre Schwiegermutter an, aber beruhigt konnten wir feststellen, daß sie natürlich kein Wort verstand. Die Situation war selbstverständlich nur für uns beide peinlich, und Alis Mutter sah manchmal freundlich lächelnd zu den beiden hinüber. Der Heimweg führte uns hautnah durch die von den Müttern beanstandeten Unmöglichkeiten, unbefestigte Straßen ohne Bürgersteig, Krach, Dreck, gaffende
Müßiggänger, und meine Mutter meinte mit einem Mal: »Man sollte Unerträgliches nicht aus falschem Stolz hinnehmen.« »Was meinst du damit?« »Annas Mutter ist wie ich der Meinung, daß ihr beide hier nicht glücklich seid und nur den Anschein erweckt, um zu Hause nicht zugeben zu müssen, daß das Ganze ein Irrtum war, daß ihr unglücklich seid und nur des äußeren Scheins wegen hierbleibt.« Auf Anna mochte das ja zutreffen, obwohl ich eher glaubte, daß sie weniger wegen des guten Scheins als aus Liebe zu Ali hierblieb. Aber auch bei mir hatte Mutti nicht ins Schwarze getroffen, weil ich noch in derselben Stunde die Koffer gepackt und das Land verlassen hätte, wäre es möglich gewesen. Denn genau das war der Punkt: Ich wollte ihr auf keinen Fall sagen, daß ich gegen meinen Willen hier festgehalten wurde. Daß Ahmed meinen Paß unter Verschluß hielt, damit ich das Land nicht verlassen konnte, hätte sie wahrscheinlich zuerst einmal nicht geglaubt, weil eine solch dreiste Freiheitsberaubung für sie nicht vorstellbar war. Daß der Rahmen des vom Ehemann Erlaubten für die Frau hier willkürlich war und meist sehr klein gehalten wurde, hatte ich vor Mutti immer gut kaschieren können. Dadurch, daß Ahmed sich kaum je in unserer Wohnung aufhielt und sie durch die Besuche Gamals immer einen heiteren Eindruck gewinnen mußte und ich viele andere Dinge als nicht beachtenswert hinstellte, hätte sie meiner Meinung nach den Eindruck haben müssen, ich sei zufrieden, wenn auch mit Einschränkungen. Sie hatte das einzige Thema berührt, über das ich mit ihr nicht sprechen wollte, und um einer direkten Antwort aus dem Weg zu gehen, beschäftigte ich mich intensiv mit Nessim, rief dem Kutscher etwas zu und verjagte ein bettelndes Mädchen, das bei stockender Fahrt neben der
Kutsche hergelaufen war und nun immer wieder seine offene Hand auf meinen Fuß legte, obwohl es bereits eine Münze bekommen hatte. Ich selbst mußte mir eingestehen, daß ein Hoffen auf bessere Zeiten für unsere Ehe, auf eine Wiederbelebung meiner Zuneigung zu Ahmed sich immer mehr zu einem Hirngespinst entwickelt hatte. Es stand völlig außer Frage, daß unsere Ehe für die hiesigen Menschen ganz normal verlief. Ich hatte genug Zeit und Gelegenheit gehabt, um Eheleute hier in Ägypten zu beobachten, und was ich gesehen habe, oder das, was ich wahrgenommen habe, bestätigte meinen Eindruck. Liebe und Freundschaft in der Ehe bedeuteten ihnen etwas anderes als mir. In einer größeren Zusammenkunft von Menschen beiderlei Geschlechts hätte man nie herausfinden können, wer wessen Gatte ist. Selbst ein Mann und eine Frau, die sich sehr vertraut waren, tauschten niemals auch nur ein Lächeln der Verständigung. Die Miene des Mannes blieb, auch im Umgang mit seiner Frau, unnahbar und ernst. Die der Frau war gehorsam lächelnd. Einem Fremden konnte ein Ehepaar sich als miteinander völlig fremd darstellen. Und auch in vertrauter Umgebung verlor der Mann selten den Ausdruck des Gebieters. Warum das so war, habe ich nie herausgefunden. Von meinem Standpunkt aus war dies völlig überflüssig, da die Frau schon von der Erziehung her niemals vergessen konnte, wie die Machtverhältnisse geordnet waren, und seiner Würde konnte durch ihre Ergebenheit nie etwas geschehen. Von daher betrachtet, benahm sich Ahmed als Ehemann völlig normal. Für meine materiellen Bedürfnisse war hervorragend gesorgt, ich lebte in gutsituierten Verhältnissen, und kaum ein Wunsch blieb offen. Und als ich Gamal einmal zu diesem Thema befragte, meinte der: »Daß Ahmed dich über alles liebt,
daran gibt es keinen Zweifel. Du müßtest ihn einmal hören, wenn er vor Freunden oder Bekannten deine Vorzüge hervorhebt.« »Aber warum spricht er nie mit mir. So einfach ist das alles hier nicht für mich, und ein Zeichen des Verständnisses von ihm wäre mir sehr hilfreich.« »Offensichtlich bist du doch sehr zufrieden, und wenn ich das recht betrachte, trägt er dich auf Händen. Was sollte er da noch groß reden?« Daß ich ohne ein vertrautes Wort verdorrte, mich immer mehr in mich zurückzog und ich von draußen immer verständnisloser auf meine Mitmenschen sah, konnte ich ihm nicht erklären. Und auch für ihn schien körperliche Züchtigung dazuzugehören. Seine Frau liebte man deshalb nicht weniger, weil man ihr ab und zu eine verdiente Ohrfeige gab.
15
Geständnisse und – Tröstungen
Nach unserem Besuch bei Anna zog sich meine Mutter etwas von mir zurück. Sicher wartete sie auf ein erklärendes Wort von mir. Immer hatte ich bei ihr vehement meine Meinung vertreten, versucht, meinen Standpunkt klarzumachen, und mit lebhaften Worten offene Fragen von allen Seiten beleuchtet. Und nun erfuhr sie von mir nur ungewohntes Schweigen. Nessim hatte ich an diesem Tag früh ins Bett gebracht. Aus diesem Grund stand er wohl alle zehn Minuten an der Wohnzimmertür mit einer neuen Bitte. Er konnte noch nicht einschlafen, vielleicht war es noch zu warm, und ich nahm ihn auf den Arm, um ihm auf dem Balkon die Sterne und den Mond zu zeigen. Auf dem Weg dorthin hörte ich ein heftiges Klopfen an der seitlichen Eingangstür. Gameläd durfte manchmal zu ihren Eltern gehen und war nicht da. Während ich zur Tür ging, wiederholte sich das Klopfen noch heftiger, und als ich öffnete, stand Ahsähn vor mir, schluchzend und mit blutigem Gesicht. »Bitte, Setti Heike, lassen Sie mich rein.« Als ich hinter ihr Yazid wutschäumend die Treppe herunterlaufen sah, schob ich sie schnell in die Wohnung, stellte Nessim auf den Boden und stellte mich, den Eingang versperrend vor die Tür, indem ich die Hände rechts und links an die Türpfosten legte. Als Yazid bei mir ankam, schrie er: »Ahsähn, komm sofort hierher. Du
Tochter einer Hure, du dreckiges Miststück, dir werd’ ich es zeigen.« Ahsähn war hinter mir verschwunden und hatte sich ins Wohnzimmer geflüchtet. Yazid wurde sich nur langsam darüber bewußt, daß ich nicht vorhatte, ihn hereinzulassen. Er stand etwa einen Meter von mir entfernt, faßte mich aber nicht an. »Was machst du denn hier, stellst dich mir in den Weg? Schick Ahsähn heraus, und ich will das vergessen!« »Das werde ich sicher nicht tun. Sie hat sich zu mir geflüchtet, und vorläufig wird sie hier bleiben.« Ungläubig sah er mich an. »Das ist ja wohl nicht dein Ernst. Ahsähn hat zu tun, was sie gesagt bekommt, und da wirst du dich nicht einmischen.« Drohend kam er einen Schritt auf mich zu, und als ich auch dann noch nicht zur Seite ging, schrie er wieder nach Ahsähn. Um diesen Tobsüchtigen loszuwerden, machte ich die Tür mit einer schnellen Bewegung von innen zu und lehnte mich dagegen. Mein Herz klopfte im Hals, und ich brauchte ein paar Sekunden, um mich zu beruhigen. Im Treppenhaus war jetzt Ruhe, und auch von oben hörte ich keinen Ton. Hatte man sich taub gestellt? Zu überhören war dieser Auftritt nicht gewesen, und warum war Ahsähn niemand zur Hilfe gekommen? Ich ging jetzt ins Wohnzimmer und sah Mutti fassungslos an der Tür stehen. »Was um Gottes willen ist passiert?« »Das werde ich versuchen herauszufinden, Mutti.« Ich nahm sie am Arm, und wir gingen gemeinsam ins Zimmer. Ahsähn saß zusammengekauert auf dem Boden an der Wand und weinte immer noch. Ich holte aus der Küche ein feuchtes Tuch, um ihr das Blut abzuwischen. Es lief ihr aus der Nase, und auch die Lippe war
aufgeplatzt. Ein Auge würde wohl blau werden. Er hatte kräftig zugelangt. Ich setzte mich zu ihr auf den Boden und nahm ihre Hand. »Was war denn los, Ahsähn?« Was ich hier machte, war falsch, Yazid hatte völlig recht gehabt. Es ging mich nichts an, und ich hatte mich nicht einzumischen. Latifa oder Fatma hätten mit Sicherheit ganz anders reagiert und sich kommentarlos in ein anderes Zimmer gesetzt, während Ahsähn bestraft wurde. Da ich jedoch meistens das Falsche tat, würde man sich wahrscheinlich auch jetzt nicht sehr wundern. Ahsähn blieb zunächst stumm, hatte die Augen niedergeschlagen und fingerte an ihrer Galabija herum. »Hat Ahmeds Bruder sie so zugerichtet?« »Ja, ich denke, er wollte sie bestrafen.« »Mit Prügel? Wo sind wir denn hier?« Es hätte zu nichts geführt, wären wir in unserer Entrüstung gemeinsam nach oben gegangen, um zu berichten, was geschehen war. Man wußte es ohnehin und würde versuchen, mit einer belanglosen Bemerkung zu einem anderen Thema zu wechseln. »Was hast du falsch gemacht, Ahsähn, warum war Yazid so böse?« Sie gab keine Antwort und blickte vor sich hin. Mutti stand ratlos da und meinte: »Man muß doch etwas tun können.« »Hol ihr doch mal ein Glas Saft aus der Küche. Vielleicht beruhigt sie sich nach einer Weile, und wir erfahren dann, was geschehen ist.« Mutti ging in die Küche, und nun sah Ahsähn mich an und begann leise und schnell zu reden: »Ich tue ja alles, was er will, aber was er eben verlangt hat, kann ich nicht tun. Das weiß er auch, er hat nur nicht daran gedacht und war eben sehr wütend. Ich soll doch in drei Wochen heiraten und…« Sie begann wieder zu weinen, und ich hielt ihr das Glas Saft hin. Unter Schluchzen kam nun heraus, daß Yazid
sie immer mal wieder aufs Dach rief, um seine Glut zu kühlen. Sie war ihm auch bis zu einem gewissen Punkt immer zu Willen, nur ihre Unschuld durfte sie nicht verlieren, und diesmal war er wohl zu weit gegangen. Sie hatte Angst bekommen und versucht, sich zu wehren. Nun versuchte er mit Gewalt, sie gefügig zu machen, und mit letzter Kraft war ihr die Flucht gelungen. Als ich das übersetzte, sah meine Mutter fassungslos Ahsähn an und schüttelte nur immer wieder den Kopf. »Es war falsch, daß ich zu Ihnen runtergelaufen bin, Setti Heike. Sidi Yazid wird sehr böse auf mich sein. Aber diesmal hatte ich besonders große Angst. Was für eine Schande würde ich Hagge und Hagg machen. Hagg hat mir erst gestern gesagt, daß meine Hochzeit in drei Wochen stattfinden wird, er hat einen braven Mann für mich gefunden.« So war das also, in Anbetracht ihrer Verheiratung hatte sich ihre Angst vor der Entjungferung in Panik gewandelt, und in seiner Wut hatte Yazid wohl jede Kontrolle verloren. Diese Geschichten gehörten zum Alltag, und ich wußte davon. Wenn eine solche Sache jedoch eine derart gewalttätige Form annimmt und das betroffene Mädchen dann auch noch die Schuld bei sich sucht, beschleicht einen Entsetzen. Wir konnten nichts für Ahsähn tun, und sie schlich letztendlich leise nach oben und würde sich wohl in den nächsten Tagen nur in Hagges Nähe aufhalten. Da konnte sie sich einigermaßen sicher fühlen. Yazids Wut würde verrauchen, und schon morgen würde niemand mehr darüber reden. Meine Mutter saß schockiert in ihrem Sessel und sah mich abwartend an. Schließlich sagte sie: »Kind, warum willst du mir vorspielen, daß du hier glücklich bist? Ich sehe doch, daß das Leben hier bedrückend, ja unerträglich ist. Ist denn diese Ehe, die du da
eingegangen bist, überhaupt noch eine Ehe, wie wir sie uns vorstellen?« Und ich hatte mir eingebildet, alles gut vorbereitet und kaschiert zu haben, und nun saß ich vor ihr wie ein Häufchen Elend und wußte keine Antwort. Sie setzte sich neben mich aufs Sofa, sah mir ins Gesicht und nahm meine Hand. »Ich bin gefangen in diesem Land, ich kann es nicht verlassen.« Ich hatte es ganz leise gesagt, und alle aufgestauten Gefühle machten sich nun Luft. Meine Augen liefen über, und ich weinte und weinte und es wollte nicht mehr aufhören. Sie nahm meinen Kopf an ihre Schulter und wartete ruhig, bis ich wieder sprechen konnte. »Bitte erklär mir das. Das kann ja gar nicht möglich sein, du bist deutsche Staatsangehörige und hast einen deutschen Paß. Niemand kann dich hier gegen deinen Willen festhalten. Und auch Nessim ist Deutscher, ich kann das nicht glauben.« Ich erzählte ihr nun, wie Ahmed mich je nach Stimmung schlug, von den Drohungen, Beschimpfungen und auch, daß er meinen Paß im Tresor seines Vaters vor mir weggeschlossen hatte. Außerdem gab es da noch die schriftliche Erlaubnis des Ehemannes, ohne die keine Frau das Land verlassen konnte. Sprachlos sah sie mich an. Sie war nicht blind, und alles, was sie gesehen hatte, stand im scharfen Kontrast zu den Schilderungen Ahmeds über sein Heimatland, die er uns in Deutschland gegeben hatte. Aber Gewalt und Demütigungen in so unerträglicher Form wären ihr nie in den Sinn gekommen, das hätte sie Ahmed nie zugetraut. Höflich und liebenswürdig, wie er sich gegeben hatte, war das für sie unvorstellbar. Auch von Alis Anerbieten, mir falsche Pässe besorgen zu wollen, erzählte ich ihr, und sie wunderte sich, daß bei unserem Besuch in Annas Wohnung dies mit keinem Wort erwähnt worden war.
»Das muß geheim bleiben, und es ist auch nicht sicher, ob es ihm gelingt.« Meine Mutter war nicht gewillt, meine Situation so einfach hinzunehmen. »Ich kann das einfach nicht glauben, du bist Deutsche und wirst doch in deine Heimat fahren können, wenn du das möchtest. Und es muß auch einen Weg geben, an deinen Paß zu kommen. Wir werden das jetzt erst einmal überschlafen, und morgen überlegen wir uns, was wir tun können.« »Aber bitte, Mutti, Ahmed darf nichts von unserem Gespräch erfahren. Wenn er auch nur etwas wittert, werden mein Leben und dein Aufenthalt hier sehr unangenehm.« Wir kamen überein, uns möglichst so zu verhalten wie immer. Selbstverständlich waren jetzt Lügen und Verstellung mit dabei. Aber ich war nicht mehr allein, sondern hatte in meiner Mutter eine Verbündete und eine Trösterin gefunden. Wir überlegten gemeinsam, welche Auswege es für mich und Nessim geben konnte, und dabei fiel mir ein, daß es hier am Ort eine katholische Kirche gab, der eine französische Schule angeschlossen war. Für den Fall, daß uns jemand von der Familie oder ein Bekannter sah, hatten wir vorgesorgt, indem wir in der Familie von Muttis Absicht erzählten, die Messe besuchen zu wollen. Bei Omar, der diese Schule besuchte, erkundigte ich mich nach dem Weg. »Wir werden von Padres unterrichtet, die sind zwar ein bißchen verrückt, aber sehr freundlich.« »Meine Mutter möchte nur zur Messe gehen, sie möchte beten, und da hat sie mit den Padres nichts zu tun.« Wir suchten uns einen späten Nachmittag für unseren Weg in die Kirche aus, und Nessim ließen wir zu Hause. Daß wir das Haus verließen, wann immer wir wollten, war inzwischen selbstverständlich geworden. Ich hatte
mir zu Anfang meines Aufenthalts diesbezüglich schon einige Freiheiten erkämpft, und durch den Besuch meiner Mutter gab es über dieses Thema nichts mehr zu diskutieren. Schließlich wollte Ahmed sein Gesicht wahren. Wir gaben allerdings diplomatischerweise immer an, wo wir hingingen, sonst hätte ich eventuell nach Mutters Abreise mit Strafmaßnahmen zu rechnen. Als wir die Kirche betraten, waren wir in einer anderen Welt. Die Atmosphäre wirkte unwirklich auf mich. Tanta war und ist sehr orientalisch, doch von einer Minute zur andern hatte ich den Orient verlassen und befand mich auf etwa hundert Quadratmeter Abendland. Vorne zwischen den Bankreihen blieb ich starr stehen und sah geradeaus auf den Altar. Viele Jahre hatte ich keine Kirche mehr besucht, und nun war ich wieder ein Kind voller Achtung vor diesem heiligen Haus. Langsam ging ich auf den Altar zu und blickte auf den am Kreuz dargestellten Gott, und ich war mir plötzlich ganz sicher, so wie ich durch die vordere Tür die Kirche betreten und den Orient verlassen hatte, müßte ich die hintere Tür benutzen, um sie zu verlassen und von einer Minute zur anderen in meiner Heimatstadt auf der Hauptstraße zu stehen. Es war zwanghaft, und ich mußte mich zur Ordnung rufen. »Laß uns durch diese kleine Tür gehen, vielleicht führt die in die Sakristei, und wir treffen jemanden an, mit dem man reden kann«, hörte ich meine Mutter ganz vernünftig neben mir sagen. In diesem Moment kam jemand an den Altar und machte sich an den Kerzen zu schaffen. Es war kein Pater, aber wir konnten fragen. »Ich sage Pater Josef Bescheid, bitte warten Sie hier.« Pater Josef erschien nach einigen Minuten, und es stellte sich heraus, daß er Belgier war und Deutsch verstand. Ich hatte den Eindruck, meine Mutter wolle ihm jeden Moment um den Hals fallen, und ich mußte trotz unserer
Situation lächeln. Wir entschuldigten uns für diesen Überfall in der Kirche und erklärten, was uns hierhergeführt hatte. »Vielleicht können Sie uns einen Rat geben oder sogar helfen. Meine Tochter ist doch deutsche Staatsangehörige, und ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß sie dieses Land nicht verlassen darf.« »Die Gesetzeslage in einem solchen Fall kenne ich leider nicht. Wenn der Ehemann jedoch ihren Paß festhält, müßte sie für sich und das Kind falsche Pässe besorgen. Denn wenn der Mann sie nicht gehen lassen will und den Paß nicht herausgibt, würde sie gegen seinen Willen flüchten müssen. Sicher gibt es in Kairo oder vielleicht sogar hier in Tanta Leute, die ihr Pässe gegen Geld beschaffen können, wobei ich Ihnen leider sagen muß, daß das kein Angehöriger der katholischen Kirche sein wird. Wäre vor einiger Zeit eine Hilfe durch Verbindungsleute eventuell möglich gewesen, in unserer jetzigen Situation ist dies jedoch ganz ausgeschlossen. Die Nasser-Regierung möchte alle Fremdkonfessionen aus dem Lande weisen. Die von uns geleiteten Schulen sollen dann von inländischen Kräften betrieben und geführt werden. Wir sind damit nicht einverstanden und versuchen, uns zu wehren, allerdings können wir nicht viel dagegen tun. Wann wir das Land verlassen sollen, wissen wir nicht. Fest steht jedoch, würden wir uns eine Gesetzwidrigkeit zuschulden kommen lassen, könnte man dies als Grund für eine sofortige Ausweisung nehmen. Sie sehen also, selbst wenn ich wollte, ich kann nichts für Sie tun. An Ihrer Stelle würde ich mich einmal an die Deutsche Botschaft in Kairo wenden. Wenn jemand helfen kann, dann Ihre Leute dort.« Was wir uns erhofft hatten, wußten wir nicht so genau, aber auf eine solche klare Absage und Entmutigung
waren wir nicht gefaßt gewesen. Tief enttäuscht mußten wir diese Auskunft erst einmal verarbeiten. Uns war klar, daß wir unter allen Umständen zur Deutschen Botschaft wollten. Nur wie sollten wir es anstellen, unbemerkt nach Kairo zu kommen? »Ich könnte Hagg bitten, uns auf einer Fahrt nach Heluan in Kairo bei Rahn abzusetzen, um uns die Stadt noch ein bißchen näher anzusehen.« »Würde er das denn machen?« »Wenn er einen guten Tag hat, tut er mir jeden Gefallen, um den ich ihn bitte. Sollte er es aber als verrückte deutsche Idee aufnehmen, wird er sagen, daß er das auf keinen Fall tun kann, weil es viel zu gefährlich ist, zwei Frauen alleine durch Kairo gehen zu lassen. Oder er wird zustimmen und Rahn auftragen, uns keine Minute aus den Augen zu lassen, damit uns auch ja nichts passiert, wobei er natürlich in erster Linie unsere Ehre und unseren guten Ruf im Auge hat. Kriminalität gibt es so gut wie gar nicht in Ägypten. Wenn wir aber heimlich zur Botschaft fahren wollen, können wir keine Anstandsdame gebrauchen. Würde Rahn erzählen, wo wir waren, würde Ahmed hellhörig werden und mir möglicherweise für die Zukunft verbieten, das Haus zu verlassen. Die Begleitumstände würden für mich sehr unerfreulich sein.« »Mein Gott, wie hältst du das nur aus?« »Es gäbe eventuell noch eine andere Möglichkeit«, überlegte ich weiter, »wir könnten Anna bitten, uns zu decken.« »Würde sie denn da mitspielen?« »Ich glaube nicht, daß sie uns verrät. Wir geben vor, mit Anna und ihrer Mutter ihre Schwägerin am anderen Ende von Tanta zu besuchen. Wir würden vom Mittag bis zum Abend mit Anna bei Alls Schwester Zaida sein und könnten in dieser Zeit sicher nach Kairo fahren und auch wieder zurück.«
Nach weiterem Hin- und Herüberlegen entschlossen wir uns, nach meinem Plan vorzugehen. Wir würden dann zwar den Zug nehmen müssen, und mir war nicht ganz wohl dabei, aber eine andere Möglichkeit sah ich nicht. Daß wir schon wieder einen Besuch bei Anna machen wollten, nahm Ahmed zwar mit eisiger Miene auf, er konnte aber nichts dagegen vorbringen. Da nun auch Annas Mutter zu Besuch war, war es nur zu verständlich, daß wir diese geselligen Zusammenkünfte sooft wie möglich genießen wollten. Jeder mußte das verstehen. Als wir bei Anna erzählten, zu welchem Ergebnis unser Gespräch mit dem belgischen Pater gekommen war und was wir nun planten, reagierte sie etwas erschrocken, hatte aber grundsätzlich nichts dagegen, uns ein Alibi zu geben. »Aber was macht ihr, wenn euch Bekannte sehen, wenn euch Freunde von Ahmed erkennen?« »So weit denke ich erst einmal nicht. Ich muß einfach herausfinden, ob Ahmed mit seiner Behauptung recht hat. Vermutlich wollte er mich nur in Angst und Schrecken versetzen. Das würde ihm ähnlich sehen. Wenn ich zum Zwecke der Ausreise eine schriftliche Erlaubnis des Ehemannes benötige, warum schließt er dann den Paß weg. Ohne diese Erlaubnis würde der Paß alleine mir doch nicht weiterhelfen. Ich muß mir Klarheit verschaffen, und darum müssen wir nach Kairo.« Annas Mutter wandte sich ihrer Tochter zu: »Was für eine Situation. Du kannst froh sein, daß sich solche Fragen für dich nicht stellen.« Es verunsicherte mich, daß mit keinem Wort Alis Angebot bezüglich der falschen Pässe erwähnt wurde. Annas Mutter schien nichts davon zu wissen. Insgeheim hatte ich erwartet, Anna würde mir raten, doch erst einmal abzuwarten, was Ali erreicht hatte. Die Möglichkeit, auf der Fahrt nach Kairo gesehen und erkannt zu werden, war groß und auch riskant. Man hätte
sie hintanstellen können. Warum riet sie mir nicht in irgendeiner Form? Mit keiner Silbe erwähnte sie den Nachmittag, an dem ich mich bei ihr und Ali so bitterlich beschwert hatte. Es war so, als hätte es ihn nie gegeben. Beim Abschied faßten wir einen bestimmten Nachmittag der folgenden Woche ins Auge, damit eine Übereinstimmung darüber bestand, an welchem Tag wir ihre Schwägerin in ihrer Villa besucht hatten. Auf der Rückfahrt nach Hause fragte meine Mutter nüchtern: »Glaubst du, daß du ihr vertrauen kannst? Sie macht auf mich einen eher uninteressierten Eindruck. In umgekehrter Situation würdest du alle Hebel in Bewegung setzen, um ihr zu helfen. Und wenn Ali maßgebliche Männer in der Regierung kennt oder gar mit ihnen befreundet ist, warum ist sie dann so passiv? Ich finde das sehr befremdlich.« »Da hast du sicher recht. Ich bin mir aber ganz sicher, daß sie mich nicht verrät. Was das für mich für Konsequenzen hätte, kann sie sich ungefähr vorstellen, und das würde sie mir sicher nicht antun.« »Hoffentlich hast du diesmal mit deinen Gefühlen recht.« »Wenn sie für uns etwas verhalten reagiert, darfst du nicht vergessen, sie ist in einer ganz anderen Situation. Sie bleibt hier, weil sie aus Liebe zu ihrem Mann hierher gehört. Die Liebe zu ihm läßt sie Tanta mit all seinen widrigen Umständen, Ägypten mit seinen Sitten und Bräuchen ertragen. Ganz abgesehen davon, daß die Familie, in die sie hineingeheiratet hat, dem Westen gegenüber sehr viel offener ist. Geld und die damit finanzierbare Bildung ist wohl auch ein wichtiger Punkt. Die Abids sind nicht erst seit kurzer Zeit vermögende Leute, so wie das bei Abd El Katafs zu sein scheint. Damit erklärt sich eine großzügigere Einstellung zum Rest der Welt. Und da Ali nie auf die Idee käme, sie hier
gegen ihren Willen festzuhalten, besteht auch kein Zwang, aus dem sie ausbrechen müßte.« Würde ich weiterhin auf bessere Zeiten in meiner Ehe hoffen, wenn Ahmed seine Macht über mich nicht so offen zur Schau trüge? Würde ich Nessim zuliebe je eine Setti teiebe, eine brave Frau, werden können, wenn meine ganze Seele gegen diese Unterwürfigkeit und dieses Sichbeugen revoltierte? Gedanken, die ich unzählige Male in meinem Kopf hin- und herbewegt hatte. Aber ich behielt sie auch jetzt für mich, erzählte sie nicht meiner Mutter, denn sie würde es nicht verstehen. Da ich in Ägypten noch nie mit einem Zug gereist war, nutzten wir eine Stadtfahrt für angebliche Besorgungen und erkundigten uns am Bahnhof, wann Züge nach Kairo fuhren, ob man reservieren mußte, und sahen uns gleichzeitig um, ob wir uns auf irgendwelche Besonderheiten einrichten mußten. Vom Auto aus hatte ich einmal einen parallel fahrenden Zug beobachtet, der von der Geschwindigkeit her wohl ein Schnellzug war. Voll Schaudern betrachtete ich die auf den Dächern liegenden Menschen, die sich dort in beträchtlicher Anzahl verteilt hatten. Wie sie sich bei dieser Geschwindigkeit dort halten konnten, blieb mir ein Rätsel. Es konnte ja aber auch sein, daß der Zug ausgebucht war und diese Leute zu einem festen Zeitpunkt an ihrem Ziel ankommen mußten, und sie nahmen die nicht sehr komfortable Beförderung deswegen in Kauf. Allerdings wäre es mir ein zu großes Risiko gewesen, eher tot als lebendig an meinem Zielort anzukommen. Entsetzt hatte ich Hagg gefragt, wie so etwas möglich sei, und er meinte lachend: »Die mogeln sich auf die Dächer, wenn der Zug sich langsam in Bewegung setzt, und fahren, ohne zu bezahlen. Einfache Leute oder arme Bauern machen das eben so, und die Bahnbeamten sehen darüber hinweg.«
»Aber das ist doch lebensgefährlich, verbietet das niemand?« »Das kümmert diese Leute nicht, Gott ist mit ihnen.« Nachdem Mutti und ich den Bahnhof inspiziert und uns erkundigt hatten, buchten wir für den übernächsten Tag zwei Plätze erster Klasse. Welche Klassen noch zur Wahl standen, erfuhr ich nicht. Allein unser Erscheinungsbild hatte mir diese Entscheidung abgenommen. Europäer wurden automatisch dem Komfort zugeordnet. Nun hatten wir also unsere Fahrscheine und hätten beruhigt sein können. Aber schon jetzt sah ich mich beständig nach Bekannten oder Freunden von Ahmed um. Für ein eventuelles Zusammentreffen hatte ich mir ein paar Ausreden zurechtgelegt. Auch meine Mutter war nervös, und als wir wieder im Taxi saßen, entfuhr ihr ein: »Gott sei Dank.« Ich nahm ihre Hand und sagte: »Wir müssen uns ein wenig zusammennehmen. Was wollen wir denn übermorgen machen, wenn wir im Zug sitzen. Vielleicht sollten wir uns eine Galabija mit einem Schleier anziehen, kein Mensch würde uns dann erkennen.« Aber mein Versuch, die Stimmung etwas aufzuheitern, gelang nicht so recht. Plötzlich drückte meine Mutter ganz fest meine Hand. »Sieh mal nach vorn, oh, wie schrecklich, ich kann da nicht hinsehen. Kein Mensch tut etwas, niemanden interessiert das.« Unsere Kutsche war zum Stehen gekommen, es ging nicht mehr weiter. Die Ursache war eine Kutsche auf der Gegenfahrbahn. Das Pferd war im Lauf zusammengebrochen und lag zum Teil auf unserer Fahrspur. Der Kutscher stand nun auf dem Bock, hatte seine Peitsche in der Hand und schlug wie wild auf das Tier ein. Dabei brüllte er wüste Beschimpfungen. Er hatte wohl die Befürchtung, daß seine Fahrgäste, die noch ruhig im hinteren Teil der Kutsche saßen, sich nach
einem anderen Taxi umsehen würden. Unter der Peitsche versuchte das abgemagerte Tier, die Vorderläufe wieder auf die Straße zu stellen, rutsche aber mit dem linken Huf immer wieder zur Seite. Spaziergänger, die mittlerweile aufmerksam geworden waren, sparten nun nicht mit guten Ratschlägen. Vielleicht sollte man dem Tier den Futterbeutel in erreichbare Nähe legen, vielleicht war es aber auch nur Durst. Einige waren sich schadenfroh darüber einig, daß dem Kutscher recht geschehe, die ließen ihre Pferde immer halb verhungern, und das hatte er nun davon. Es war natürlich eine willkommene Gelegenheit, Fahrgäste anzubetteln, und unser Kutscher hatte alle Hände voll zu tun, diese Plagegeister zu verjagen. Meine Mutter hatte sich ganz in ihre Ecke gedrückt und sah in die andere Richtung, hielt aber meine Hand fest, als sei sie in Gefahr. »Du brauchst keine Angst zu haben, Mutti, man wird uns nichts tun. Das ist nur einfach unangenehm. Das mit dem Pferd ist kein Einzelfall, das geschieht hier jeden Tag. Man muß nur lernen, darüber hinwegzusehen.« »Ich würde das nie lernen.« Das am Boden liegende Tier hatte es noch nicht geschafft hochzukommen, aber unser Fahrer hatte nach einigen Versuchen seine Kutsche nun in einem Bogen um das Hindernis herummanövriert, und wir konnten weiterfahren. Als wir zu Hause angekommen waren, lief Nessim auf seine Großmutter zu, lief in ihre offenen Arme, und sie hielt ihn dort fest und drückte ihn an sich, als sei sie im Paradies angekommen. Bevor wir das Haus verließen, hatte ich Gameläd den Auftrag gegeben, die beiden Säle zu putzen. Obwohl sie nicht bewohnt wurden, mußte ab und zu der feine Sand, der selbst bei geschlossenen Fenstern durch die feinsten Ritzen hereinkam, durch nasses Wischen beseitigt werden. Die Arbeit war erledigt, und offenbar hatte sie sie mit Nessim gemeinsam gemacht, denn kleine
Wasserlachen waren noch überall verteilt, und Mutti hatte wieder einmal Veranlassung, über meinen Gleichmut zu staunen, als ich sagte: »Bei diesem Spiel hätte ich gerne zugesehen. Gameläd, mach uns Tee und Kaffee und bring uns beides ins Wohnzimmer!« »Setti, Hagg läßt Ihnen ausrichten, Sie möchten zum Tee raufkommen.« Als wir oben zur Tür hereinkamen, rief uns Hagg schon entgegen: »Esaiek Omu Heiuka – Wie geht es, Mutter von Heike?« Da meine Mutter natürlich nicht verstand, reagierte sie nicht, bis ich ihr Haggs Worte übersetzte. »Vielen Dank, mir geht es sehr gut«, sagte sie dann. Zur allgemeinen Erheiterung sollte sie nun die dazugehörige Antwort in arabisch nachsprechen. »Jede Höflichkeitsfloskel hat eine dazugehörige Floskel als Antwort. Hier würde sie Al hamdulillah heißen.« Als sie versuchte, die Worte nachzusprechen, mußten wir alle lachen. »Erzähl, Heiuka, wo seid ihr gewesen, was habt ihr gemacht?« »Wir sind im Hantur zum Bahnhof gefahren, da sich Mutti gerne das Gebäude ansehen wollte. Außerdem interessierte sie sich für eine leichte Bluse, da es ja doch sehr heiß ist. Leider haben wir aber nichts gefunden und sind anschließend ein bißchen durch die Straßen geschlendert. Butter und Käse haben wir zum Schluß noch besorgt.« »Du weißt ja, Heiuka, wenn dir etwas gefällt, darfst du nicht einfach kaufen. Erst ansehen, dann Qualität und Verarbeitung bemängeln und wieder hinlegen. Dann verläßt du am besten den Laden und gehst erst nach einer Weile wieder hinein. Und wieder überlegst du, befühlst den Stoff und machst ein skeptisches Gesicht. Dann nennst du einen Betrag, der je nach Artikel zwei bis drei
Pfund unter dem geforderten Preis liegt. Wenn du es nicht so machst, verlangen sie dir das Dreifache ab.« »Ja gewiß, Hagg, so mache ich das immer. Ich handele gerne, das weißt du doch.« »Deine Tochter ist eine kluge Frau«, wandte er sich nun an meine Mutter, »sie kommt gut zurecht hier, und Tanta gefällt ihr gut. Wie gefällt dir die Stadt?« »O sehr, die Leute sind freundlich, und es gibt viel zu sehen.« Sie lächelten sich zu, und ich mußte in mich hineinschmunzeln. Ahmed, der selten an irgendwen das Wort richtete und sich fast immer träge in einer Sofaecke lümmelte, betrachtete interessiert seine Schwiegermutter und fragte: »Konntest du an einer Messe teilnehmen? Ihr seid doch in der Kirche gewesen, oder?« »Ja, wir waren in der Kirche, haben sie uns jedoch nur ansehen können. Messen sind nur vormittags, dann werde ich noch einmal hingehen.« »Schade für dich.« Als er lächelte, war es nur sein Mund, der sich verzog, und ich fragte mich, wieso ihn das Thema so interessierte. Hatte der ägyptische Küster vielleicht zu Hause erzählt, daß zwei europäische Damen mit Pater Josef gesprochen hatten? Über die Kinder konnte diese Auskunft schnell wieder zurück zu meiner Familie gelangen. Und an Muttis aufgeregtem Erklären war unschwer zu erkennen, daß wir uns nicht nur nach den Zeiten für die Messen erkundigt hatten. Menschen, die ständig mit Halbwahrheiten und Lügen jonglieren, sind mißtrauisch und immer auf der Hut. Sollte er etwas vermuten? Wenn mir meine Phantasie jetzt vielleicht einen Streich spielte, fest stand jedoch: Er würde froh sein, wenn das Schiff mit meiner Mutter endlich wieder ablegte. Durch die strengen Gesetze der Gastfreundschaft und der Höflichkeit konnte er nichts unternehmen, um eine eventuelle Abreise zu beschleunigen. Ständig mußte
er zusehen, wie meine Bewegungsfreiheit durch ihre Anwesenheit einen immer größeren Rahmen bekam. Keinen Spaziergang, keinen Besuch bei Anna konnte er verbieten. Jeder in der Familie hätte mit Verständnislosigkeit reagiert. Man wußte ja mittlerweile, daß deutsche Frauen ein anderes Leben führten. Nie konnte er seiner Wut freien Lauf lassen, nie konnte er grob sein oder mich für eine deutsche Unverschämtheit bestrafen. Ich konnte nur hoffen, daß er das Versäumte später nicht nachholte.
16
In der Botschaft
Nun saßen wir in der Kutsche zum Bahnhof, um in Kairo Gewißheit zu erlangen, ob ich mich wirklich Ahmed schutzlos ausgeliefert hatte. Wir beide waren besorgt, daß wir auf einen Freund oder Bekannten der Familie treffen würden, denn dann könnte mich keine Ausrede mehr retten. Aber ich fürchtete mich auch vor der Auskunft in der Botschaft. Womit hatte ich zu rechnen? Den Gedanken, daß von Annas Seite her etwas durchsickern könnte, schob ich weit weg. Gameläd hatte ich den Auftrag gegeben, auf Nessim besonders gut achtzugeben. Er sei wohl etwas erkältet, und aus diesem Grunde könne ich ihn nicht mitnehmen. Tatsächlich war er in den letzten Tagen etwas weinerlich gewesen, und es mußte ja einen Anlaß geben, warum ich ihn ausgerechnet zu Annas Schwägerin nicht mitnahm. Denn dort gab es drei kleine Mädchen, mit denen er hätte spielen können, und der Garten um die Villa war groß und wunderschön. Es war also für alles vorgesorgt, und wir gingen schnellen Schrittes durch die Bahnhofshalle in Richtung Bahnsteig. Am einfahrenden Zug hatten wir gleich den Waggon der ersten Klasse ausfindig gemacht und gingen darauf zu. Aus unserer Absicht, so unbeachtet und diskret wie möglich zu reisen, wurde nichts. Schon durch die Art, wie der Betreuer der Fahrgäste in diesem Wagen uns dienstbeflissen an der Tür in Empfang nahm, dann mit
uns durch den ganzen Wagen lief, um den besten, kühlsten und geräumigsten Platz für uns zu suchen, wurden sämtliche Fahrgäste auf uns aufmerksam und sahen uns interessiert an. Sein devotes Gemurmel nahm kein Ende, und als wir uns endlich niederlassen konnten, stand er ein paar Minuten später mit Tee und Wasser wieder neben uns. Ich verstand ihn gut: Europäer waren in seinen Augen alle reiche Leute, und je aufmerksamer er war, um so größer würde das Trinkgeld ausfallen. Mit einer entsprechenden Bemerkung hätte ich ihn zum Schweigen bringen können, das Aufsehen wäre aber wahrscheinlich noch größer geworden, und so ließ ich es. Sein Repertoire würde er irgendwann abgespult haben, und dann würde für uns Ruhe einkehren. Der Wagen war vollklimatisiert, und wir hätten uns entspannen können. Man hatte uns die Rollos heruntergezogen, und so saßen wir im angenehmen Halbdunkel, schlürften unseren Tee, und hätte ich die Wahl gehabt, würde ich immer nur mit dem Zug reisen. Wir saßen uns gegenüber und konnten unsere Gedanken fast hören. Immer mal wieder hatte ich mich nach einem bekannten Gesicht umgesehen, aber niemanden bemerkt. Schon durch mein Äußeres erkannten mich viele Leute, die ich meinerseits aber nicht kannte. In Geschäften oder auf Straßen kam es vor, daß man sich zuraunte: »Da ist die deutsche Ehefrau von Ahmed Abd El Kataf.« Leute grüßten mich freundlich, die ich noch nie gesehen hatte, und es machte gar nichts, wenn ich nicht reagierte. Denn man wußte ja: »Das ist eine Deutsche, die versteht kein Wort.« So mußte es gar nichts bedeuten, wenn ich bisher niemanden bemerkt hatte, der mich kennen konnte. Wenn ich über die Situation, in der ich mich befand, nachdachte, bekam ich Angst. Sie machte sich in meinem Magen und in meinem Kopf breit, und meiner Mutter ging es nicht anders. Damit wir uns nicht unentwegt
damit beschäftigen mußten, was sein würde, wenn man entdeckte, wo wir gewesen waren, entschloß ich mich, ihr von Haggs Versprechen zu erzählen. Längst hatten wir aufgegeben, anhand der Symptome herausfinden zu wollen, um welche Krankheit es sich damals bei mir gehandelt haben könnte. Als ich ihr jetzt allerdings erzählte, daß es wohl sehr ernst gewesen sein mußte, daß vor meiner Zimmertür die Scheiche meinen Himmelsbeziehungsweise Höllengang bereits angestimmt hatten, überkam sie das Schaudern. Beim Erzählen und Überlegen fanden wir heraus, daß just in der Nacht, als Hagg an meinem Bett gestanden hatte und mich mit seiner Kur mit Blockeisstücken ins Leben zurückholte, meine Mutter aus dem Schlaf aufgeschreckt und bis zum Morgen nicht wieder zur Ruhe gekommen war. War es durch intensives Denken an einen geliebten Menschen das Spüren einer Gefahr, in der er sich befand? Sprach man da nicht von Telepathie? Oder war hier der Gott im Spiel, der nicht am Kreuze hing und den die Scheiche durch das Absingen ihrer Gebete so lautstark beschworen hatten? Wir würden es wohl nicht herausfinden. »Du glaubst doch nicht allen Ernstes an ein Versprechen, das dir hier von irgendwem gegeben wurde? Liebchen, kein Wort, kein einziges Wort könnte ich hier einem Menschen glauben. Du hast doch am eigenen Leib erfahren, was hier Worte gelten.« Nachdem ich ihr die Geschehnisse jener Nacht erzählt hatte, wollte sie mich mit aller Macht vor einer erneuten Enttäuschung bewahren, wollte verhindern, daß man mich auslachte, würde ich mich auf dieses Versprechen berufen. »An deiner Stelle würde ich wahrscheinlich genauso reagieren. Aber, Mutti, du hast nicht erlebt, wir er sich um mich gesorgt hat. Alle mieden mein Zimmer aus
Angst vor Ansteckung, obwohl kein Mensch diese Krankheit benennen konnte. Nur Hagg kam zu mir und hat mich versorgt wie einen Säugling. Seine Sorge war echt, und in seiner Angst schreckte er die gesamte Familie aus dem Schlaf, damit alle verfügbar waren. Mit den Scheichen hielten sie sich vor der Zimmertür auf und beteten gemeinsam. Er war richtig in Panik, und um das Schlimmste abzuwenden, gab er mir das Versprechen, nach Hause fahren zu dürfen, dich besuchen zu dürfen, wenn ich nur wieder gesund würde. Er glaubt an seine Worte. Gott ist mit ihm, wie er immer sagt, und er hat auf diese Weise versucht, seinem Gott mit dieser Art Wiedergutmachung mein Leben abzutrotzen. Er ist ein kluger Mann, und es war ihm klar, daß mein Zustand nicht allein durch die Krankheit hervorgerufen worden war. Er spürt, daß ich hier nicht glücklich bin, und würde das so gerne ändern. Welten liegen zwischen uns, und die Tatsache, daß er als Mann zur Welt gekommen ist, gibt ihm hier ganz selbstverständlich das Bewußtsein, von Natur aus wertvoller als jede Frau zu sein und über seinen weiblichen Mitmenschen zu stehen. Als Minderwertigere stehe ich in seiner Weltordnung hinter dem Mann und unter seinem Willen. Wie sollte er verstehen, daß ich mich in diese Ordnung nicht fügen kann und aus diesem Nichtfügenkönnen heraus unglücklich bin. Zu oft hat er mich in der letzten Zeit gefragt, ob ich hier glücklich bin. Er weiß genau, welches Risiko die Einlösung seines Versprechens bedeutete, wenn ich hier nicht zufrieden bin. Ahmed würde als gehorsamer Sohn mit mir nach Deutschland reisen, weil sein Vater ihm das befiehlt, und wenn ich mich dann weigere, nach Ägypten zurückzukommen, entehre ich nicht nur Ahmed, sondern auch Hagg. Aber im Augenblick ist die Bitte um Einlösung des Versprechens überhaupt nicht möglich. Es gäbe in Haggs Augen jetzt keinen Grund für mich, nach Deutschland zu reisen, weil
ich ja hier zu Hause bin, bei meiner Familie. Der einzige Grund einer Reise wärest du, doch du bist jetzt hier, wir sehen uns, und daher gibt es keine Veranlassung, daß ich so schnell schon nach Deutschland reise. Vielleicht könnte ich den Wunsch, dich zu besuchen, in einem Jahr äußern, und wenn es soweit ist, bin ich davon überzeugt, daß er ja sagt. Möglicherweise werden sie sich noch irgendeine Schliche, eine List einfallen lassen, um es hinauszuzögern, aber ich werde dich mit Ahmed und Nessim zu Hause besuchen. Für mich steht fest, daß er das sehr ernst gemeint hat, und ich vertraue ihm. Selbstverständlich möchte ich nicht in einer solchen Form auf einen Menschen angewiesen sein, und ich würde lieber als freier Mensch meine Entscheidungen selber treffen können. Hoffentlich komme ich heute diesem Wunsch etwas näher.« »O Kind, ich möchte dir wirklich keine Angst machen, aber ist dir klar, was in einem Jahr alles geschehen kann? Weißt du denn, was sich Ahmed alles einfallen lassen kann? Was er dir antun kann?« »Natürlich habe ich auch schon daran gedacht, aber wozu jetzt darüber nachdenken?« Unser guter Geist hatte uns zwischendurch immer mal wieder etwas Leckeres angeboten oder uns auf die Aussicht aufmerksam gemacht. Vom Fenster aus sahen wir die alten Brunnen, die von den Wasserbüffeln, blind und taub, solange sie lebten, umrundet wurden, und im Schatten unseres Zuges waren deutlich die blinden Passagiere auf dem Dach zu erkennen. Kurz vor Kairo wurden wir wieder devot auf unser Ziel aufmerksam gemacht und dann unter Gemurmel zur Tür geleitet. Meine Mutter sagte belustigt: »Die gräflichen Herrschaften waren in guter Hut.« Nach einem entsprechenden Trinkgeld entließ er uns mit Allahs Segen und allen guten Wünschen aus seiner Fürsorge. Vor dem wunderschönen Kairoer Bahnhofsgebäude
eilten uns bereits einige Taxifahrer entgegen. Mein Sinn stand diesmal nicht nach Feilscherei, und wir bestiegen den ersten Wagen, den wir erreichten, und ignorierten die dienstbeflissenen Fahrer. »Zur Deutschen Botschaft, bitte.« Wir befanden uns in einem schalterartigen Raum und wandten uns mit unserem Anliegen an eine Dame hinter dem Tresen. Reserviert teilte sie uns mit, daß sie uns da nicht weiterhelfen könne. Ich hätte mich vor meiner Einreise doch erkundigen können. Erst als ich resolut eine maßgebliche Person, die mir eine verbindliche Auskunft geben könne, verlangte, ließ sie sich herab. Nun saßen wir in einer Ecke des Raumes, der mit ein paar Sesseln ausgestattet war, und warteten. Nachdem ich dem Herrn, der nach einiger Zeit erschien, meine Situation und mein Anliegen vorgetragen hatte, sagte er: »Ich fürchte, da können wir Ihnen nicht helfen.« Ich verstand nicht. Selbst wenn die Gesetzeslage gegen mich war, wieso konnte mir auf deutschem Boden als deutsche Staatsangehörige eine Ausreise nicht ermöglicht werden. Ich hätte verstehen können, wenn man Vorbehalte in bezug auf meinen Sohn gehabt hätte. Er stand als ägyptischer Staatsangehöriger in Ahmeds Familienpaß. Das hatte Ahmed direkt nach Nessims Geburt ohne mein Wissen veranlaßt. Aber in diesem Moment befand ich mich als Deutsche auf deutschem Territorium. Da mußte es doch eine Möglichkeit geben. Aber nein, nach Aussage dieses Herrn gab es keine. »Sie dürfen sich glücklich schätzen, in diese Familie hineingeheiratet zu haben. Glück haben Sie gehabt, daß es Sie nicht in ein Dorf verschlagen hat. Kennen Sie ägyptische Dörfer?« Da saß ich in Deutschland und doch in einem luftleeren Raum, und in der Stimme dieses Herrn war nicht einmal ein Anflug von Bedauern zu verspüren. Da ich sitzen
blieb und ihn nur entgeistert ansah, wollte er diese Unterhaltung endgültig zu einem Abschluß bringen. »Bitte verstehen Sie, wir befinden uns in einem Gastland und sind an die Gesetze dieses Landes gebunden. Es ist richtig, daß Sie als Ehefrau eines ägyptischen Staatsangehörigen neben Ihrem deutschen Paß eine schriftliche Genehmigung Ihres Mannes benötigen. Dies gilt übrigens auch für ägyptische Frauen. Nur mit einer schriftlichen Ermächtigung des Ehemannes kann die Ehefrau ins Ausland reisen. Und generell gilt, daß die derzeitige Regierung eine Art Ausreisestop für alle Bürger verhängt hat, wobei es da Ausnahmen gibt. Eine solche Ausnahme wäre ein Auslandsstudium oder in Ihrem Fall die Eheschließung mit Ihnen. Eine ausländische Ehefrau verkörpert praktisch ein lebendes Visum. Ihr Mann könnte also jederzeit trotz Ausreisestop nach Deutschland fahren.« Gefangen! Ich konnte es fast körperlich spüren und faßte es trotzdem nicht. Automatisch setzte ich ein Bein vors andere, um aus diesem kleinen Stück Deutschland herauszukommen. Meine Mutter hatte einen Arm um mich gelegt, und Tränen liefen ihr aus den Augen. Ich würde vielleicht später weinen, im Moment war ich starr. Als uns der Orient in Tanta mit seinen Staubwolken, seinem Krach und der Hitze wieder umgab, konnte ich immer noch nicht begreifen, was ich gehört hatte. Und trotzdem mußte ich mir klarmachen, daß ich diese völlig legale Freiheitsberaubung zu akzeptieren hatte. Wenn keine Hilfe von außen kam – Ali mit falschem Paß oder die Einlösung von Haggs Versprechen –, würde mir nichts anderes übrig bleiben als warten. Warten auf den Tag X, an dem Ahmed den Wunsch hatte, deutsche Freunde oder Bekannte wiederzusehen, oder mir großzügig erlaubte, meine Mutter zu besuchen.
Zu Hause kam uns Gamal aus dem Wohnzimmer entgegen, um uns zu begrüßen. Er hatte Nessim auf dem Arm, und beide strahlten uns an. »Was ist los, Heiuka? Du bist ein bißchen blaß. Ist etwas passiert?« »Nein, nein, es ist nur sehr heiß. Wir werden jetzt einen Tee trinken, dann geht es mir gleich etwas besser.« Ich mußte mich fassen und wieder zur Tagesordnung übergehen. Im offenen Krieg würde ich untergehen. »Sieh einmal, was Ahmed für deine Mutter mitgebracht hat. Er fand, daß die Sessel hier nicht bequem genug für sie sind, und hat heute extra für sie diesen hier gekauft. Eben ist er gebracht worden.« Der neue Sessel sah tatsächlich sehr gemütlich und bequem aus. Gut gepolstert, mit erhöhter Rückenlehne, man konnte sich richtig in ihn hineinkuscheln. »Das ist aber sehr nett, ich habe aber doch nie über irgendeine Unbequemlichkeit geklagt«, sagte meine Mutter. »Da siehst du mal, wie Ahmed immer an euch denkt. Und du hast schon an seiner Liebe gezweifelt, Heiuka.« Meine Mutter setzte sich gleich in den neuen Sessel und nahm Nessim auf den Schoß. »Wo ist Ahmed? Ich möchte mich bei ihm bedanken«, sagte sie. Neu schien dieser Sessel nicht zu sein. Aber ich hatte mich schon daran gewöhnt, daß Ahmed gerne Gebrauchtes erstand, um Geld zu sparen. Mit diesem Möbel hatte er wohl eine gute Hand gehabt, Bezugstoff und Polsterung waren in sehr gutem Zustand, und die Sitzfläche war so geräumig, daß Nessim noch neben meiner Mutter Platz fand. Sim-sim hatte nun einen neuen Lieblingsplatz und turnte den Rest des Tages immer nur rauf und runter. Noch im Schlafanzug, rollte er sich zusammen und lag in dem Riesensessel. Er wollte auch darin schlafen. Gerade als meine Mutter ihn auf den Arm nehmen wollte, um ihn in
sein Bett zu tragen, hielt sie plötzlich inne, sah mich an und sagte: »Komm mal her und schau dir das an. Kennst du diese Tiere?« Ich stand auf und sah auf die Stelle, auf die ihr Finger zeigte. »Nein, kenne ich nicht. Was ist das?« »Das ist eine Wanze, und wenn die sich schon bei Licht und Bewegung hier oben auf der Lehne sehen läßt, kannst du davon ausgehen, daß dieser Sessel voll davon ist. Die gehen nämlich am liebsten nachts spazieren.« Mir fehlten die Worte, und ich sah sie sprachlos an. Wir brachten Nessim ins Bett und trugen den Sessel anschließend auf den Balkon. »Mutti, was soll ich tun?« »Kind, du kannst Ahmed höchstens sagen, daß du dieses Ungeziefer nicht in deinem Haus haben möchtest. Er wird den Sessel dann vielleicht wieder abholen lassen. Aber das Problem hier bin wohl ich. Sieh mal, ich bin jetzt fast drei Monate hier, und nach allem, was du mir erzählt hast, war deine Bewegungsfreiheit, bevor ich kam, sehr eingeschränkt. Seitdem ich hier bin, muß Ahmed mit ansehen, wie seine Frau zu jeder Tageszeit irgendwelche Besorgungen oder Besuche macht, ohne daß er etwas dagegen tun kann. Er würde dich wohl zu gerne zurechtweisen, kann das aber nicht, weil er vor mir dann zugeben müßte, daß dein Leben hier ganz anders zu verlaufen hat, als du es gewohnt bist. Nach seiner Schilderung damals sollte der ägyptische Alltag ja angeblich genauso wie der deutsche verlaufen. Würde er heute die Unterschiede zugeben, wäre seine Lügerei zu offensichtlich. Diese Wanzen sind sein letztes Geschütz. Er weiß, daß ich mich vor diesem Ungeziefer ekel, und freut sich wahrscheinlich jetzt schon auf meine Reaktion. Aber ich muß zugeben, daß ich mich hier grundsätzlich nicht wohl fühle. Gesagt habe ich dir zuliebe nichts, aber seit ein paar Wochen fühle ich mich matt. Die Hitze und all die anderen Umstände machen mir zu schaffen, und
wir sollten meine Abreise ins Auge fassen. Viel länger kann ich nicht bleiben, ich würde sonst krank werden.« Geahnt hatte ich diesen unabänderlichen Abschied schon eine Weile. Was ihr bisher leicht von der Hand ging, machte ihr nun Mühe. Sie sah schlecht aus, und der Muezzin ließ sie keine Nacht durchschlafen. Ich nahm mich zusammen: »Das verstehe ich. Du mußt nach Hause und wirst dich dort richtig erholen müssen.« Wie mir zumute war, konnte sie wohl sehen. Sie setze sich zu mir aufs Sofa, legte ihren Arm um mich und meinte: »Mir ist da noch etwas eingefallen. Was meinst du, wenn ich dir so in etwa einem halben Jahr schreibe, daß ich an einer schweren Krankheit leide, daß ich operiert werden muß. Dann könnte man hier doch gegen deinen Besuch bei mir nichts einzuwenden haben. Ich habe hier einen ausgeprägten Familiensinn festgestellt, und gegen meinen Wunsch, Nessim noch einmal sehen zu wollen, bevor ich eventuell sterbe, hat hier sicher niemand etwas einzuwenden.« Solche trickreichen Überlegungen entsprachen gar nicht der Persönlichkeit meiner Mutter, und trotz meines Kummers mußte ich über ihre Schliche lächeln. »Diese Idee ist wirklich nicht schlecht. Und wenn ich mir das recht überlege, könnten wir das so angehen. Ich bin gespannt, ob du mit diesem Einfall deinen arabischen Schwiegersohn überlisten kannst.« Wäre mir doch nur so leicht zumute gewesen, wie meine Worte klangen. »So ganz ohne Hoffnung bin ich ja nicht. Es könnte immerhin sein, daß Ali mir in der besprochenen Art helfen kann oder daß Hagg sein Versprechen einlöst, wenn ich ihn nach vielleicht einem Jahr darauf anspreche.« Noch am gleichen Abend besprachen wir oben in großer Familienrunde ihre Abreise.
»Daß du für Mutti den neuen Sessel gekauft hast, war lieb gemeint, wir können ihn aber nicht behalten, weil er voller Wanzen ist.« »Das ist ja wohl ein schlechter Scherz. Das wäre mir aufgefallen, und ich hätte ihn nie gekauft.« Er übersetzte seinen Eltern, was ich gesagt hatte, und nun waren alle entsetzt. Dieses Geziefer war wohl etwas Ehrenrühriges. Über Läuse oder Flöhe, Kakerlaken oder anderes unangenehmes Getier konnte man lachen, aber Wanzen gab es in keinem gepflegten Haushalt. Ohne diesen Sessel überhaupt einer Prüfung zu unterziehen, wurde Muttis Feststellung rundweg abgestritten. Das war wirklich nicht nett, was diese Europäerin da behauptete. Am nächsten Morgen war das Möbelstück, ohne noch ein weiteres Wort darüber zu verlieren, verschwunden. Aber selbst in den wenigen Stunden hatten die Wanzen Gelegenheit gefunden, sich in der Wohnung breitzumachen. Später fand ich sie auch in Nessims Kinderbett, und ich stellte die Bettfüße in kleine, mit Petroleum gefüllte Schalen. Ahsähn meinte, damit würde man das Ungeziefer vertreiben. Als meine Mutter die Absicht bekanntgab, abreisen zu wollen, löste das zuerst einmal heftigen Protest aus. Was war denn nicht in Ordnung, warum wollte sie abreisen? Gamal schlug sofort mehr Abwechslung vor. Ein gemeinsamer Kinobesuch vielleicht oder einmal nach Alexandria fahren. Ahmed sagte: »Sage mir, was dir nicht gefällt, und ich werde versuchen, das zu ändern. Aber du mußt noch einen oder zwei Monate bleiben, schon wegen Heike. Sie wird sicher sehr traurig sein, wenn du wegfährst.« Meine Mutter verneinte ruhig lächelnd: »Jetzt muß ich erst einmal zurück nach Hause. Vielleicht werde ich nach einem Jahr wiederkommen. So lange wie jetzt war ich noch nie von zu Hause weg, und Bekannte und Freunde fehlen mir. Das mußt du verstehen.«
Nachdem man der Höflichkeit Genüge getan hatte, wurden gleich die Formalitäten besprochen, und sicher würde Ahmed dafür sorgen, daß alles schnell und ohne Schwierigkeiten erledigt würde. Ihr großer Koffer, in dem sie mir und Nessim so viele schöne Dinge mitgebracht hatte, stand nun aufgeklappt in ihrem Zimmer, und nach und nach füllten wir ihn zuerst einmal mit den Sachen, die sie nicht mehr brauchte. Außer ein paar Andenken würde sie von hier nicht viel mitnehmen. Nun saß sie auf dem Kofferdeckel und sagte: »Komm, setz dich zu mir. Liebchen, du darfst jetzt den Kopf nicht hängen lassen. Viele Menschen leben mit der Hoffnung auf bessere Zeiten, und du wirst leben mit der Hoffnung auf eine Ausreise. Du mußt fest daran glauben, und es wird so sein. Eines Tages werden wir uns zu Hause wieder in den Armen liegen, und es wird nur ein böser Traum gewesen sein. Du darfst nicht vergessen, daß dich Nessim über so manches hinwegtrösten wird. Für den Fall, daß es unerträglich wird, sollten wir uns noch ein Geheimwort ausdenken, woraufhin ich dir dann umgehend meine Krankmeldung schicke.« Wir einigten uns auf den Satz: »Ich habe alles, was ich brauche.« Wenn sie diesen Satz in einem meiner Briefe lesen würde, gäbe eine Freundin sofort ein Telegramm auf. Ihr Wunsch, mich zu sehen, würde durch diese Form dringlicher gemacht. Meine Briefe wurden immer von einem Angestellten oder auch Ahmed selbst besorgt, und so konnte ich nie ganz sicher sein, ob sie nicht, bevor sie der Post übergeben wurden, geöffnet und gelesen wurden. Außerdem wurden Briefe und Pakete sporadisch an der Landesgrenze kontrolliert. Eine Verschlüsselung war also angebracht. Der Abreisetag kam viel zu schnell. Sie stand schon früh um fünf Uhr auf, und bis zur Abfahrt gegen elf Uhr trug sie unentwegt Nessim durch die Wohnung. Von der Küche zum Wohnzimmer, durch die Säle von einem
Balkon zum anderen. Und fortwährend hatten die beiden sich etwas zu erzählen. Das Gepäck stand bereit, nichts war mehr zu tun. Die Zeit vor einem Abschied ist eine schreckliche Zeit, und ich versuchte, sie mit Geschäftigkeit totzuschlagen. Nie hätte ich sie bitten dürfen, noch etwas zu bleiben, zu offen hätte ich ihr zeigen müssen, wie schwer mir dieser Abschied wurde. Auch ohne meine Tränen war ihr das Herz schon schwer genug. Umringt von der ganzen Familie verabschiedete sie sich von jedem. Allah würde sie beschützen, sein Segen würde mit ihr sein. Man nahm ihr noch das feste Versprechen ab, im nächsten Jahr wiederzukommen. Nun übergab sie Nessim Ahsähn, die so gut mit Kindern umgehen konnte. Da die Omi jetzt verreiste, brauchte er ein wenig Trost. Auf halbem Weg kehrte Mutti noch einmal um, nahm ihr Schätzchen von Ahsähns Arm und drückte es einige Sekunden fest an sich. Ganz eilig lief sie dann die Treppe hinunter und setzte sich in den Wagen. Wir wechselten kaum noch ein Wort. Reden war schwer, und wir wußten es beide. Da stand sie nun an der Reling und sah auf uns hinunter. Und ich stand starr auf der Kaimauer, konnte nicht winken, nicht lachen, nicht weinen, nicht einen letzten Gruß rufen. Ich wäre so gerne weggelaufen, nur nicht sehen, wie sich dieses Schiff in Bewegung setzt. Wie lange würde ich keinen einvernehmlichen Blick mehr auffangen können, kein verständnisvolles Lächeln? Jede Woche war zuviel, und es würde vielleicht Jahre dauern. Erst nachdem Hagg, Ahmed und ich wieder im Wagen saßen, löste sich der Knoten. Ich konnte weinen, es schüttelte mich, und ich versuchte, es so leise wie möglich zu tun. Klein zusammengesunken verkroch ich mich in die Sitzecke und konnte doch nicht vermeiden, daß Hagg mich hörte. Er drehte sich zu mir um,
streichelte mir übers Knie und sagte: »Maalesch, ja habibti – Es wird wieder gut, mein Liebling.« Ahmed verhielt sich sehr still. Ganz kurz ging mir durch den Sinn, daß ich seine Gegenwart kaum mehr wahrnahm. Auch daß er wahrscheinlich jetzt sehr erleichtert war, ließ mich unberührt. Er war mir gleichgültig geworden; gegen seine Macht über mich konnte ich nichts tun, und ich war erstaunt, daß ich in den Momenten, in denen er sie ausübte, meine Empfindungen einfach auslöschte wie einen Traum beim morgendlichen Erwachen. Mein Tag würde kommen!
17
Familienfeste
In den ersten Tagen nach ihrer Abreise verstand jeder, daß ich traurig war, und alle versuchten, mich auf ihre Art zu trösten. Fatma kam öfter auf ein Schwätzchen herunter, Hagg ließ mir einen großen Korb Manga bringen, weil er wußte, daß ich diese Früchte besonders gern mochte. Hagge ließ mir von Sakäja meine Lieblingsgerichte bringen. Auch Gamal kam fast jeden Tag, um mir Neuigkeiten zu berichten. Der Gedanke, daß er beim Verlassen von Hanans Haus am Vortag fast dem Ehemann in die Arme gelaufen war, erheiterte ihn ungemein. Er wußte sehr gut, wie gefährlich sein Tun war, wollte mich aber mit diesen Berichten auf andere Gedanken bringen. Und es gelang ihm in der Regel. Fatma brachte manchmal einen Teller von Sakäja gebackene Kahk, Gebäck, mit. Ich machte Tee, wir beide setzten uns dann auf den Balkon, und sie erzählte mir von der Schule. Sie setzte sich ganz nah an die Tür und sprach leise, damit man sie weder hören noch sehen konnte. Wenn junge Männer auf der Straße vorbeigingen, mußte ich mein Urteil abgeben. »Sieh mal, Heike, ist der nicht wunderschön. So schöne helle Haut und so groß«, kicherte sie. »Weißt du schon, daß Ahsähn nächste Woche heiratet?« »So schnell schon, nein, das wußte ich nicht.« »Den Auftritt mit Yazid hast du ja erlebt, und Hagg möchte nicht, daß sich das wiederholt, deshalb soll es schnell gehen. Ahsähn ist natürlich glücklich, aber mir wird sie sehr fehlen.«
»Wird an ihrer Stelle ein neues Mädchen kommen?« »Ja sicher, aber keine wird sein wie Ahsähn. Sie kennt alle meine Geheimnisse, sie war wie eine Freundin. Sie hat sogar für mich gelogen.« Fatma hatte Tränen in den Augen, und sie tat mir leid. Freundinnen, die sie in der Schule traf, durften das Haus ebensowenig verlassen wie sie, und so gab es für sie keine Treffen und keine Abwechslung außerhalb des Hauses. Sobald die Tageshitze nachließ, lebte jedermann auf. Und da Gamal der Animateur unserer Familie war, regte er mal dieses, mal jenes an, und manchmal gelangen ihm erstaunliche Dinge. Weil er so gerne Auto fuhr, brauchten wir Attala häufig nicht. Gamal kutschierte dann die ganze Familie, gestapelt in den für so viele dann doch zu kleinen Wagen, mal zum Kino, mal in den Amerikanischen Club. Alle putzten sich bei diesen Gelegenheiten heraus, und Hagg machte in einem seidenen Anzug den besten Eindruck. Auch Hagge schritt dann würdig in einem seidenen Gewand mit einem weißen Schleier umher und ließ dabei ihre jüngste Tochter nicht aus den Augen. Nötig wäre das nicht gewesen, denn Yazid und Gamal achteten streng darauf, daß Fatma uns mit gesenktem Blick folgte. Gerne hielt sie sich in Ahsähns Nähe auf, die die Nachhut bildete, um ab und zu mal ein Kichern oder ein Wort zu wechseln. Es gelang ihr nur selten. Immer wieder wurde sie von ihren Brüdern an die Seite der Mutter geschickt. Tatsächlich maulte sie manchmal, woraufhin ihr dann Ohrfeigen angedroht wurden. Der Kinobesuch war ein echtes Zugeständnis an mich. Hagg und Hagge fühlten sich offensichtlich gar nicht wohl. Mir zuliebe wurde ein amerikanischer Film mit arabischen Untertiteln ausgesucht, und ich amüsierte mich köstlich. Der Film interessierte mich gar nicht so
sehr, und ich verstand ohnehin nur die Hälfte. Interessant war das ganze Drumherum. Mit Blick auf den Sternenhimmel über uns saßen wir im Halbrund auf steinernen Bänken, in einem als Loge abgetrennten Abteil vor einer riesigen Leinwand. Während der Vorführung waren ständig laut schreiende Verkäufer mit Obst und Säften zwischen den Sitzreihen unterwegs. Allein das Feilbieten übertönte oft den Ton des Films. Besonders laut wurde es aber, wenn der Held des Films nach Meinung des Publikums zu zögerlich war. Er wurde dann angefeuert, oder vor der Leinwand versammelten sich junge Männer, die ihm mit Fäusten drohten. Ich fühlte mich in die Zeit versetzt, »als die Bilder laufen lernten«, wobei ich die selbstverständlich auch nur aus Filmen kannte. Am Ende der Vorführung brach ein Höllenlärm los, nicht enden wollender Applaus, Pfeifkonzert und Bravorufe in einem. Ich sah meinen Mann an und wünschte, er würde mir mit einem Blick oder einem Lächeln zeigen, daß er meine Verwunderung wahrnahm, vielleicht sogar verstand. Er war auch in Deutschland im Kino gewesen und wußte, daß dort niemand auf die Idee gekommen wäre, einem Leinwandakteur zuzujubeln oder zu applaudieren, weil man wußte, daß das bei Zelluloid nicht ankam. Hier war das Erleben unmittelbarer, und die Zuschauer reagierten ganz aus dem Bauch heraus. Aber Ahmed saß nur ungerührt da, ohne eine Miene zu verziehen, und wartete, bis der Tumult sich gelegt hatte und wir das Gebäude verlassen konnten. Von meiner Fahrt nach Kairo zur Deutschen Botschaft hatte Ahmed offenbar nichts erfahren, und auch von mir befürchtete Strafmaßnahmen wegen meines hurenhaften Verhaltens während Muttis Besuch blieben aus. Allerdings intensivierte sich jetzt seine Anstrengung auf die Zeugung eines weiteren Sohnes. Völlig
unverständlich für ihn und die gesamte Familie, daß ich nach gut zwei Jahren immer noch mit meinem Kinderkörper durch das Haus lief. Es war schon fast eine Schande, und immer wieder wurde ich darauf angesprochen oder auch zum Essen animiert. Das ging nicht mit rechten Dingen zu, und mit Sicherheit hatte Hagge bereits irgendeine Fellachin zu Rate gezogen, um zu erfahren, wie man diese Angelegenheit beschleunigen konnte. Neben Heilen, Entbinden und auch Beschneiden von Mädchen und Jungen kannten diese Frauen so manches Geheimnis, das einem weiterhelfen konnte. Mit Grausen erinnere ich mich an den Tag, als man mir Nessim in ein paar schmutzige Tücher gewickelt blutverschmiert nach Hause zurückbrachte. Ich war entsetzt der Meinung gewesen, mein Sohn habe einen Unfall gehabt, es sei etwas Schlimmes passiert. Er weinte laut und rief nach mir. Hagg und Ahmed kamen mit Ahsähn, die Nessim auf ihren Armen hielt, die Treppe herauf. »Was um Gottes willen ist geschehen?« Ahsähn lächelte mir beruhigend zu und meinte: »Es ist alles in Ordnung.« Als ich ihn im Zimmer aus den blutigen Tüchern wickelte, wußte ich, was geschehen war. Sein winziger Penis war mit einem blutdurchtränkten Stück Mullstoff umwickelt, und ich fragte Ahmed schockiert: »Warum hast du nicht mit mir darüber gesprochen? Und wo hast du das machen lassen? Das sieht nicht aus, als hätte ein Arzt das Kind verbunden. Da hätte ich doch dabeisein müssen, meinen Trost hätte er gebraucht, nicht den eines Hausmädchens.« »Der Eingriff ist fachgerecht durchgeführt worden, dafür habe ich gesorgt. Schließlich ist er mein Sohn. Dein Gezeter ist völlig unnötig.« »Sicher ist eine Nachbehandlung notwendig. Der arme Kerl weint die ganze Zeit, das muß doch sehr weh tun.«
»Das ist nicht das erste Kind, das beschnitten wurde, und diese kleine Wunde wird schnell verheilt sein.« Bei einem Jungen sah ich die Beschneidung, schon aus hygienischen Gründen, ein. Bei einer Tochter jedoch wäre ich nie damit einverstanden gewesen. Die Vorstellung, gegen eine Nacht- und Nebelaktion, in der man meine kleine Tochter verstümmelte, nichts tun zu können, ließ mich erschauern. Ich durfte hier nicht schwanger werden. Was mich noch im nachhinein irritierte, war die Tatsache, daß es keine Feier gegeben hatte. Schon früher hatte ich von Feiern anläßlich der Beschneidung eines Sohnes gehört, und immer galt dieser Eingriff als freudiges Ereignis, das als solches auch begangen wurde. Bei meinem Sohn gab es nichts dergleichen, eher war es eine heimliche Aktion im Halbdunkeln gewesen, und kein Mensch sprach darüber. Vielleicht würde sich diese Frage einmal irgendwann für mich von selbst beantworten. Und da es meine erste und wichtigste Aufgabe war, Kinder zu gebären, erscholl tagtäglich nach der Ruhezeit am späten Nachmittag vom anderen Ende des großen Saales aus Ahmeds Schlafzimmer seine Kommandostimme: »Ich warte!« Oft gab es dann noch eine Wiederholung gegen Mitternacht. Eine würdelose Angelegenheit, die mit Liebe oder Lust absolut nichts zu tun hatte. Aber auch hier hatte Ahmed die restliche Welt hinter sich gelassen. Nicht einmal ein vorgetäuschtes Lustgefühl war gefragt. Es hatte ja schließlich einen Grund, daß Frauen beschnitten waren. Zum Erhalt der Sitten war es nur von Vorteil, wenn eine Ehefrau so wenig wie möglich empfand, solange sie empfing und Kinder gebar. Vermutlich wäre es für ihn befremdlich gewesen, hätte ich mich bei dieser Unternehmung wohl gefühlt.
Nach der Abreise meiner Mutter bin ich in das Gästezimmer zu Nessim gezogen, so daß ich nicht mehr mit Ahmed in einem Zimmer schlief. Für die Familie war das nicht ungewöhnlich, es war ganz normal, daß eine Mutter bei ihrem Kind sein wollte und auch mit ihm den Raum teilte. Immer wieder fragte Nessim nach der Omi und freute sich wie ein Schneekönig, wenn man ihm einen Brief von Mutti ins Händchen gedrückt hatte, den er mir dann bringen durfte. Er saß dann auf meinem Schoß, machte den Brief auf, und ich las laut vor. Oft sah er mich erwartungsvoll an, ob ich mich auch freute. Und bei Erkundigungen nach Sim-sim rief er begeistert: »Ich komme bald.« Wo er diese oder ähnliche Worte aufgeschnappt hatte, war mir nicht klar. Bei dem krankhaften Mißtrauen Ahmeds war jedoch Vorsicht angebracht, und ich achtete zukünftig auf meine Worte, damit Nessim nichts Falsches weiterplapperte. Eine außergewöhnliche Einladung zu einem Geburtstag hatte die Familie erreicht. Fatma und Ahsähn sprachen in den höchsten Tönen von den Leuten, die uns eingeladen hatten. Auf mein fragendes Gesicht hin sagte Fatma: »Eine Cousine von uns feiert, ihr Ehemann bekleidet einen Posten in der Regierungsspitze. Wichtige Leute.« Die Obrigkeitshörigkeit und die überzogene Hochachtung vor hohen Stellungen war mir schon oft aufgefallen, doch ich konnte kein Verständnis dafür aufbringen. Ob die Hochwohlgeborenen auch näher bei Allah standen? Wahrscheinlich schon. Allein die Tatsache, daß sich in die Kreise dieser edlen Personen niemals eine Frau verirrte, auch beim Freitagsgebet waren Frauen ausgeschlossen, offenbarte ihre Nähe zum Himmel und ihre Einstellung über natürliche Ordnung und Wertigkeiten.
Als wir zu der Feier losfuhren, staunte ich ein wenig über Ahsähns besonders adrettes Aussehen. Sie trug eine neue Galabija und ein blütenweißes Mendil, ein Kopftuch. Sie hatte von Hagg den Auftrag, Nessim hinter uns herzutragen und ihn gegebenenfalls, wenn es zu lange dauerte und er vielleicht müde wurde, nach Hause zu bringen. Nur Hagg, Ahmed und ich fuhren von der Familie aus zu der Feier. Zur Begrüßung kam der Hausherr mit ausgebreiteten Armen auf Hagg zu, umarmte ihn und machte viel Aufhebens um uns. Viel zu laut dankte er seiner neuen europäischen Cousine für die Ehre ihres Besuches. Er konnte jetzt sicher sein, daß es alle gehört hatten, und prompt wandten sich uns alle Gesichter zu. In dem großen Raum befanden sich sicher an die vierzig Leute, die für diesen Anlaß sehr festlich gekleidet waren. Alle Damen trugen sehr elegante europäische Kleider nach der neuesten Mode, und die Schuhe, die ich sah, waren meist in der entsprechenden Kleiderseide gefertigt. Wäre man in der Fülle von farbenfroher Seide etwas wählerischer beim Makeup gewesen, hätte diese Buntheit die Augen weniger überfordert. Dicht aneinander standen an den Wänden goldverzierte Sessel und Sofas, auf denen sich einige ältere Herrschaften niedergelassen hatten. Indem mich Ahmed, dichtgefolgt von Ahsähn mit Nessim auf dem Arm, zur Hausherrin durchlotste, gab es immer wieder Ausrufe des Entzückens. Wann sah man schon ein so wunderschönes Kind? Diese helle Haut, diese Augen und erst die Haare. Der kleine Sonnenschein hatte Gold auf seinem Köpfchen, wie einmalig! Zu meiner Verwunderung reichten zwei Diener in schneeweißen Galabijas den Gästen nicht nur Säfte und Leckereien, es gab sogar Champagner. Also ging ich davon aus, daß noch weitere Europäer anwesend waren. Ich sah mich interessiert um, und immer wenn ich hochblickte, sah ich in die Augen einer jungen Frau, die in der äußersten Ecke
des Zimmers stand. Sie sah mich unverwandt an und lächelte nicht. Ahmed steuerte, indem er immer mal wieder nach rechts und links grüßte und lächelte, geradewegs auf sie zu. Nun standen wir vor ihr und Ahmed stellte uns einander vor, wobei ich erfuhr, daß sie Bäsma hieß. Auf ihrem Gesicht war nun ein süßliches Lächeln erschienen, und wie aus dem Boden gestampft, stand plötzlich ein Hausmädchen hinter ihr, das ein kleines Mädchen von vielleicht einem Jahr auf dem Arm trug. In Seide und Spitze gekleidet, mit einem pinkfarbenen Satinband um die dunklen Haare gebunden, wirkte das Kind wie eine bunte Puppe, und außer seinen großen schwarzen Augen war es ebenso leblos. Die Cousine Ahmeds haspelte zwanghaft ihre Höflichkeiten herunter, wollte zum Schluß unbedingt noch ein Mama oder Papa aus ihrer schönen, kleinen Tochter herauslocken. Das Kind reagierte jedoch nicht auf das Gurren seiner Mutter und blieb leblos auf den Armen des Mädchens sitzen. Nur die wunderschönen Augen wanderten von einem zum andern. Nun war der Höflichkeit Genüge getan und Ahsähn wurde mit Nessim nach Hause geschickt. Ahmed hatte ich in der Menge verloren, und ich ging noch mit Ahsähn zur Haustür. Bevor wir den Ausgang erreichten, stellte sie Nessim plötzlich auf die Erde und sah mich an. »Setti Heike, die Frau, mit der Sie eben gesprochen haben, wäre heute eigentlich die Ehefrau von Sidi Ahmed.« Ich sah sie groß an und verstand im ersten Augenblick nicht, was sie meinte. »Vor vielen Jahren sind Sidi Ahmed und Setti Bäsma einander versprochen worden. Der Ehevertrag wurde während Sidi Ahmeds Deutschlandaufenthalt geschlossen, und die Hochzeit sollte nach seiner Rückkehr, wenn er Doktor geworden war, stattfinden. Als Hagg von Ihnen erfahren hatte, wurde der Vertrag
rückgängig gemacht. Das war damals eine böse Sache, aber Setti Bäsma hat heute auch einen guten Mann.« Nachdem Ahsähn gegangen war, stand ich noch eine Weile in dem kleinen Vorraum und sah aus dem Fenster. Das war es also gewesen. Diese hölzerne, süßliche junge Frau hätte mich wahrscheinlich gerne aus dem Haus gewiesen samt meinem verlogenen Ehemann und meinem wunderschönen Sohn, hätte es in diesem Gefüge von Sitten und Höflichkeit nur eine Möglichkeit dafür gegeben. Sie tat mir leid, und ich hätte mich jetzt gerne etwas länger mit ihr unterhalten. Allein der Gedanke daran war sinnlos, und ich ging langsam zwischen den Leuten zu einer Fensterecke und trank einen Saft. Hinter mir vernahm ich mit einem Mal eine deutsche männliche Stimme: »Aus welcher Stadt kommen Sie?« Freudig überrascht sah ich mich um, und da stand ein hochgewachsener junger Mann vor mir, der auch ein Franzose oder Norditaliener hätte sein können. Flüssig und ohne jeden Akzent hatte er gesprochen, und ich fragte mich, warum man mir diesen Landsmann noch nicht vorgestellt hatte. »Ich komme aus Köln. Leben Sie in Ägypten?« Er lächelte. »Ja, ich lebe hier. Wie gefällt Ihnen Tanta?« »Ja, wissen Sie, mit einer Müllabfuhr, gleichmäßig verteiltem Wasser und einigen Reparaturkolonnen ginge es vielleicht.« Sein Gesicht wurde sehr ernst, ja fast böse, und er sagte: »Man sollte nicht alles mit europäischem Maß messen. Ich lebe zwar in Alexandria, wüßte aber nicht, was es gegen Tanta einzuwenden gäbe. Mein Name ist Hassan Abd El Husnie, und grüßen Sie Ihren Mann.« Damit ging er zum Ausgang. Wie vom Donner gerührt sah ich diesem vermeintlichen Deutschen nach und war tief beschämt. Hagg erschien neben mir. So ganz wohl fühlte er sich wohl nicht. Dieses bunte Gemisch von Frauen und
Männern war ihm doch eigentlich fremd, und diese Sektschalen und die dekolletierten Damen paßten so gar nicht in sein Weltbild. Während wir so dastanden und ein paar belanglose Worte wechselten, flogen die Floskeln der Anwesenden hin und her, und der Segen Allahs und seine Allgegenwärtigkeit schwebte über uns allen im Raum. Langsam gingen wir beide noch einmal von einem zum andern und tauschten uns in diesem Sinne aus. Allein die Verabschiedung in blumenreichen Wendungen, durch die sich nun auch wieder Bäsma quälen mußte, dauerte noch eine ganze Weile. Aber dann war die Vorführung endlich beendet, und ich war erleichtert, als wir wieder nach Hause fuhren. Die Hochzeit Ahsähns fand statt, und pflichtgemäß erschien auch Hagge diesmal bei der kleinen Feier. Der Bräutigam machte auf mich einen dümmlichen Eindruck, und immer wieder mußte ich Ahsähn prüfend ansehen. Aber sie schien zufrieden und glücklich zu sein. In einer neu gewonnen Würde saß sie ernst neben ihrem zukünftigen Ehemann und ließ die Trommler und ohrenbetäubenden Freudentriller über sich ergehen. Das kleine schmutzige Haus gehörte wohl der Mutter des Bräutigams, die mit Geschwistern und anderen Verwandten an einer Wand aufgereiht saßen. Mit ihren Kajalbalken um die Augen und den schwarzen Schleiern sahen diese Frauen finster aus, so als hätte Hagg den für Ahsähn ausgehandelten Vertrag nicht ganz erfüllt und sie ärgerten sich über die geschmälerte Einnahme. Was Ahsähns zukünftiger Ehemann beruflich machte, ob die Mutter bereits Witwe war, erfuhr ich nicht. Ich sah nur schwarz verschleierte Frauen, die im Bedarfsfall laut loskreischten. Hier wurden spätestens alle fünf Minuten die Höflichkeitsfloskeln bezüglich der Gesundheit und die durch unseren Besuch stattgefundene Erleuchtung des Zimmers wiederholt. Immer in der gleichen einfachen
und eintönigen Form. Hier gab es keine geistreichen oder eleganten Schlenker, wie ich sie bei Bäsmas Geburtstag erlebt hatte. Dort hatte man blumenreich in Hocharabisch parliert. Wenn Ahsähn auch hier wohnen mußte, würde sie es nicht leicht haben. Sie würde in dieser verwahrlosten Unterkunft die Wünsche ihrer Schwiegermutter erfüllen müssen, und die machte keinen liebenswürdigen Eindruck. Viele dieser schwarz umrandeten Augen waren oft auf mich gerichtet, und ich konnte mich eines Unbehagens nicht erwehren. Immer wenn Nessim an den Frauen vorbeiwieselte und eine von ihnen ihn auf den Schoß ziehen wollte, war in ungewohnter Eile Hagge zur Stelle, um ihn aus der Gefahrenzone des bösen Blicks herauszuholen. Sie lächelte die schwarzen Damen dann süßlich an, bedeckte Nessims Gesicht mit kleinen Küssen und brachte ihn in Sicherheit. Auch sie fühlte sich nicht wohl und quengelte bei Hagg, man möge nun endlich nach Hause gehen. »Du weißt, daß das nicht geht. Erst muß Ahsähn verheiratet sein.« Ich wußte zwar nicht, was an dieser Eheschließung noch fehlte, aber ich würde es abzuwarten haben. Stunden mußten vergangen sein, als sich das junge Paar erhob und an die Tür zum Nebenzimmer ging. Die Freudentriller schwollen zu einer Lautstärke an, wie ich sie noch nie gehört hatte, und man hätte schon Sorge um sein Trommelfell haben können. Bis das Brautpaar zur Tür gelangt war, hatte man dem jungen Mann noch einige schlüpfrige Anzüglichkeiten mit auf den Weg gegeben, und er strahlte über das ganze Gesicht. Ahsähn hatte sittsam die Augen niedergeschlagen, und beide verschwanden nun hinter dieser Tür. Nach einer kleinen Weile wurde die Tür von innen geöffnet, und eine Hand reichte ein blutbeflecktes Tuch heraus. Dieses Tuch wurde an einem langen Stock befestigt und wie eine
Fahne über die Köpfe der Anwesenden geschwenkt. Der Jubel war unbeschreiblich. Die Ehe war vollzogen, und Ahsähn hatte ihre Jungfräulichkeit unter Beweis stellen können. Wir konnten nun das Häuschen verlassen, in dem das Atmen immer schwerer wurde. Hagg hatte sein gutes Werk getan, und Hagge durfte sich anrechnen, daß ihrer Ziehtochter in ihrer Obhut nichts Verwerfliches geschehen war. Wenn ich da an Yazid dachte, mußte sie wohl auch erleichtert sein. Ahsähn habe ich nie wieder gesehen. Für Dienstboten hatte man sich nicht zu interessieren, egal, wie lieb sie einem geworden waren. Ich habe nie herausbekommen, was Hagg mit seinem Erstgeborenen besprach, noch wer dabei anwesend sein durfte oder ob der Vater mit seinem Sohn zufrieden war. Daß häufiger Gespräche stattfanden, die nicht immer nur einvernehmlich waren, bemerkten alle. So manches Mal bedachte Hagg seinen Ältesten, auf den er gerne stolz gewesen wäre, mit einem tadelnden Blick. Erledigungen oder Aufträge, die Ahmed übertragen wurden, gingen seinem Vater zu schleppend und zu träge voran. Bei Nachfragen nach diesem oder jenem sah er ihn oft fragend an und schüttelte auch gelegentlich leicht mit dem Kopf. Niemals jedoch kritisierte er ihn in Gegenwart der Familie. Hagg selbst ließ sich viel Zeit beim Essen, beim Schlafen, Muße beim Tee. Wenn es jedoch um Geschäfte und zu erledigende Angelegenheiten ging, nahm er dies forsch in Angriff. Ein einmal gefaßter Entschluß wurde schnell in die Tat umgesetzt. Ich war mir sicher, daß die intensive Anstrengung Ahmeds um einen weiteren Sohn aus dieser Richtung kam, und sicher wurden von Hagg auch für den Umgang mit mir Empfehlungen ausgesprochen. Und da seine Autorität umfassend für alle galt, wurden aus diesen Empfehlungen Befehle, und sein Ältester setzte sie beim Betreten seiner Wohnung flugs in die Tat um. Er war ein
gehorsames Kind. So wurden die während Muttis Besuch gewährten Freiheiten unmerklich eingeschränkt. Besorgungen, die ich in der Stadt zu erledigen hatte, wurden mir liebenswürdig abgenommen. Der Amerikanische Club war gerade an dem Tag geschlossen, wenn ich ihn besuchen wollte. Und daß Ahmed mich nicht wütend bestrafte, hatte ich sicher Haggs Klugheit zu verdanken. Aus welcher sozialen Schicht Hagg kam oder wo seine Wiege gestanden hatte, habe ich nie herausfinden können. Er verfügte über eine natürliche Autorität, wobei er als Mann allein von seiner Kultur und der Religion sehr unterstützt wurde. Schon sein Umgang mit mir, der Europäerin – neugierig, vorsichtig und sehr interessiert –, zeigte seine Intelligenz, die jedoch sicher nicht von einer höheren Schule verfeinert worden war. Er hatte keine Fremdsprachenkenntnisse, und das Allgemeinwissen, das man zu haben hatte in seiner Position, kitzelte er geschickt aus seinen gebildeteren Söhnen heraus. So wie ich ihn nach ein paar Jahren einschätzte, stammte er aus einem kleinen oberägyptischen Dorf. Vielleicht war er der Sohn eines Bürgermeisters, der im Verlauf des Regierungswechsels von König Faruk zu General Nasser durch Geschicklichkeit zu seinem Vermögen gelangt war. Bei seiner Frau Aziza war ich mir nie ganz sicher, ob sie lesen oder schreiben konnte. Wann immer sie etwas Geschriebenes in die Hände bekam, rief sie einen ihrer Söhne, es sich vorlesen zu lassen. Mit einem verlegenen Lächeln in meine Richtung erklärte sie dies immer mit ihrem schwachen Augenlicht. Die einfache Herkunft von Hagg und Hagge erklärt vielleicht auch ein Essensritual, das mir sehr fremd blieb und von dem ich von vornherein als Europäerin ausgeschlossen wurde. Die Mahlzeiten nahm die ganze
Familie gewöhnlich im großen, manchmal auch im kleinen Saal ein. Wenn sie es sich allerdings besonders gutgehen lassen wollte, blieb die Familie in der Küche. Hier wurde dann ein runder Tisch mit kurzen, etwa zwanzig Zentimeter hohen Stempen, von ungefähr eineinhalb Meter Durchmesser aufgestellt. Um diesen Tisch herum saß man dicht an dicht im Schneidersitz auf der Erde. Gemüse, Reis, Fleisch oder Salate nahm man sich mit abgerissenen Brotstücken aus großen Schüsseln. Bestecke gab es dann keine. Ein großer tönerner Wasserbehälter ging von Mund zu Mund, und die Mädchen krochen für die diversen Wünsche auf allen vieren zum einen oder anderen. Knochen oder Speisereste warf man neben oder hinter sich, die Abfälle störten keinen, und man konnte aus dem überfüllten Raum kaum ohne fettige Füße die Tür erreichen. Als ich das erste Mal die Familienrunde so vorfand, war ich sprachlos. Ich war auf der Suche nach Nessim gewesen und fand ihn hier auf dem Schoß seiner Großmutter. Meine Verlegenheit in diesem Augenblick übertrug sich wohl, und ein allgemeines Schweigen stand im Raum. Ich war ein Störenfried, und ungewollt ließ man mich das merken. Niemand lud mich neben sich. Man konnte keine Europäerin zu sich auf den Fußboden bitten, der mit Fleisch- und Reisresten bedeckt war. Schließlich hatte man amerikanische oder französische Filme gesehen. Auch bei allem guten Willen zum Eingewöhnen hätte ich mich bei dieser Art des Speisens nicht recht wohl gefühlt. Wußte ich doch, daß in dieser Küche ganze Heerscharen von Kakerlaken bereits in den Startlöchern saßen oder bei dieser dämmrigen Beleuchtung gar in den Schüsseln mitaßen. »Ich wollte Nessim umziehen, um Anna zu besuchen. Schon lange habe ich sie nicht mehr gesehen. Du hast doch nichts dagegen, Ahmed?«
Ahmed hielt seine fetttriefenden Hände hoch wie ein Chirurg vor einer Operation, sah mich und dann seinen Vater an und sagte: »Wolltest du nicht heute abend Hagge in den Amerikanischen Klub ausführen, Papa?« »Ja, weil es heute so furchtbar heiß war, wollten wir uns das gönnen. Den Besuch bei Anna kannst du doch verschieben, Heiuka, oder?« Ich war sicher, daß Hagge sehr überrascht war, aber das Spiel ging nahtlos weiter. Alle quälten sich mit vollen Bäuchen hoch, zogen sich um, und zwei Stunden später saßen wir bei Mangasaft im grünen Garten des Amerikanischen Clubs. Diese Strategie war auf die Dauer zu anstrengend, und eine bessere Lösung fand sich bald. Einkäufe der verschiedensten Art wurden jetzt so organisiert, daß man sie gemeinsam erledigte. Wenn ich neue Wolle zum Stricken benötigte, fiel Hagge ein, daß Fatma dringend einen neuen Faltenrock für die Schule brauchte. Oder sie nahm eine Kleinigkeit vom Juwelier für Latifas Kinder mit, die man in Kürze in Kairo besuchen wollte. Es war der Familie wohl auch zugetragen worden, daß ich forsch und erhobenen Hauptes zielstrebig durch die Basargassen ging, um meine Einkäufe zu tätigen. Diese Art entsprach so ganz und gar nicht ihrer Vorstellung von einer Setti teieba, einer braven Frau. Mit Hagge zusammen unterwegs zu sein hieß, daß ich gezwungen war, mich langsam und gemessen zu bewegen. Und meine Augen senkte ich schon deshalb, um Hagge nicht aus Versehen in die Fersen zu treten. So stimmte das Bild einer ägyptischen Ehefrau wieder. Schüchtern lächelnd und sehr stolz über die züchtige Schar hinter ihr, grüßte Hagge ab und zu beim Hochblicken die eine oder andere Person. Das Getuschle überhörte sie gnädig, sie wußte, daß sie schöne Kinder hatte.
Bei einem solchen Einkaufsausflug geschah es, daß ich seitlich von mir aus einem Geschäft deutsche Worte hörte. Wie elektrisiert stand ich still. Jussuf, der direkt hinter mir ging, stieß mich aus Versehen und blieb ebenfalls stehen. Fatma war aufmerksam geworden, und nun sah sich auch Hagge um. »Da müssen Deutsche in diesem Geschäft sein. Ich möchte gerne hingehen und mit ihnen ein paar Worte wechseln.« »Du hast dich verhört. Wo sollen hier Deutsche herkommen. Anna und du, ihr seid die beiden einzigen Deutschen in Tanta, jalla bina – gehen wir weiter.« Das hatte ich bisher auch geglaubt. Ich war mir aber sicher, mich nicht geirrt zu haben. Eine aufgeregte Freude saß mir im Magen, und diese Gelegenheit würde ich nicht ungenutzt vorübergehen lassen. »Hagge, bitte, ich möchte in diesem Laden nachsehen. Ich kann mich nicht verhört haben.« Ohne ihre Zustimmung abzuwarten, ging ich in das Geschäft und sah mich um. Und tatsächlich, da standen zwei Frauen und zwei Männer, die sich in deutsch berieten, ob sie kaufen oder es lieber lassen sollten. Still blieb ich hinter den Leuten stehen und genoß die vertrauten Laute. Ich war selbst überrascht von dem Glücksgefühl, das ich verspürte, und mir wurde plötzlich bewußt, wie sehr eine Sprache auch Heimat bedeuten kann. Ich löste mich aus meiner Versonnenheit und sagte leise: »Sind Sie als Touristen hier? Sie sind doch Deutsche?« Alle vier drehten sich zu mir um und sahen mich erstaunt an. »Nein, Touristen sind wir nicht«, sagte die eine Frau, »ich glaube, die gibt es hier in Tanta nicht. Hier wird eine Pipeline gebaut. Und unsere Männer arbeiten daran mit als Ingenieure. Aber was hat Sie hierher verschlagen?«
»Ich bin mit einem Ägypter verheiratet. Meine Familie wartet draußen bereits ungeduldig, und ich muß gehen. Aber sagen Sie mir doch bitte, wo Sie wohnen. Vielleicht kann man sich einmal wiedersehen.« Hagge hatte Jussuf zu mir hereingeschickt, um mich zu holen. Sie stand mit reservierter Miene vor der Tür und wartete. »Wir wohnen hier in Tanta in dieser breiten Straße, die die Stadt halbiert, Nummer 37. Kommen Sie uns doch einmal besuchen. Wir würden uns sehr freuen.« »Also in der Shera El Bahr 37. Ich werde versuchen, das Haus zu finden.« Ich ging schnell zu meiner Familie zurück und bemerkte, daß Hagge ungehalten war. Ich entschuldigte mich und sagte: »Das waren wirklich Deutsche, ist das nicht großartig. Sie wohnen hier in der Shera El Bahr.« Sie lächelte mich an und sagte: »Wie schön.« Und ich konnte ihr »Ach, du lieber Gott« fast hören. Mit mir war man vor keinen Unannehmlichkeiten gefeit, schon wieder brachte ich Unruhe ins Haus, und gerade das wollte man doch vermeiden. Ahmeds jüngere Geschwister fanden diese Begegnung sehr aufregend und sprudelten gleich damit heraus, als wir zu Hause ankamen. Ahmed sah fragend seine Mutter an. »Ja, stellt euch vor, Heike hat unterwegs Deutsche getroffen. Ist das nicht schön?« sagte sie. »Wo sollen die denn herkommen? Hier gab es nie Deutsche«, gab er mit eisiger Miene zurück. »Zwei Ehepaare wohnen hier in Tanta. Die Männer sind Ingenieure und bauen hier eine Pipeline.« »Ah ja. Anna hat übrigens vorhin für dich angerufen, und ich habe ihr gesagt, daß du dich in den nächsten Tagen bei ihr melden wirst.« Seiner Reaktion entnahm ich, daß es doch wohl wieder zu Ausgehverboten kommen würde, weil er sich denken
konnte, daß ich die beiden deutschen Ehepaare wiedersehen wollte, mich eventuell sogar bereits mit ihnen verabredet hatte. Später erfuhr ich, daß Anna schon einige Male angerufen hatte, es war nur nicht ausgerichtet worden.
18
Eine Hoffnung stirbt
Auf ein Wiedersehen mit Latifa freute ich mich sehr, und ich war auch neugierig, wie es ihr ergangen war seit der Übersiedlung nach Kairo. Alles, was ich gehört hatte, war sehr allgemein gehalten. Ihrer Gesundheit ginge es gut, ihre neue Wohnung wäre schön, und ihre Kinder wuchsen heran. Auf einer mit Schotter bedeckten Fahrbahn auf einer noch im Bau befindlichen Straße fuhren wir an einem parkähnlichen Gelände vorbei, in dem sich die Schulanlage befand, in der Shiker unterrichtete. Vereinzelt standen gegenüber dieser Grünanlage Zweifamilienhäuser, vor denen sich die hier und da gesetzten Bananenstauden etwas verloren ausnahmen. Vor einem der Häuser spielten Kita und Anwar im Bauschutt mit einer Messingkanne, die ich aus einer Vitrine in Latifas Wohnung in Tanta kannte. Und dann trat Latifa vor die Haustür, um uns zu begrüßen. Sie hatte den Wagen vom Fenster aus gesehen. In einer weiten Galabija kam sie uns entgegen, wobei sie ihre Mutter zur Vorsicht mahnte, da die Hausstufen, die nie ganz fertig geworden waren, bereits wieder herausbrachen. Die anderen neu erbauten Häuser um ihres herum sahen ähnlich halbfertig und doch bereits heruntergekommen aus. Armierungseisen ragten aus den abschließenden Mauern heraus, als wolle man noch eine Etage aufstocken, aber da in Tanta fast alle Häuser so aussahen, glaubte ich nicht an einen wirklichen
Weiterbau. Wäscheleinen wurden manchmal daran befestigt. Latifa zeigte uns die Wohnung, eher gelangweilt als stolz. Sie schien sich nichts aus diesen Räumlichkeiten zu machen, was man den Zimmern auch ansah. Lieblos waren Sessel und Vitrinen im Salon zusammengestellt, und die Kinder hatten wohl von ihrem Spielplatz vor dem Haus Steine und Bausand auf den Sitzflächen verteilt. Hagg sah sich angewidert um und fragte: »Tifa, wo ist das Mädchen, das ich dir bei meinem letzten Besuch mitgebracht habe?« »Ach, Papa, die laufen doch alle weg. Die taugen alle nichts.« Fatma lachte: »Hast du sie wieder verdroschen, stimmt’s?« Hagge sah ihre Tochter Latifa traurig an, die lächelnd in einem goldverzierten Sessel saß und offensichtlich wieder schwanger war. Behäbig ging sie nun in die Küche, um Tee zu machen. Ihre Hände und Füße waren dick geschwollen, und wenn das Lächeln aus ihrem Gesicht verschwand, erinnerte sie mich an die Statuen im Museum. An diesem wunderschönen Gesicht hatte sich nichts geändert, und als sie mir lächelnd Tee mit Gebäck reichte, kamen mir ein paar Zeilen in den Sinn, von denen ich nicht mehr wußte, wo ich sie gelesen hatte: »Wohin steckst du die vielen Tränen, die du nie geweint hast? Hoffentlich überrascht dich nicht eines Tages ihre Springflut.« Die Springflut war gekommen, viele Jahre später. Als Shiker von seinem Dienst nach Hause kam, setzte er sich zu uns. »Na, was sagt ihr zu diesem schönen Haus? Hier muß es einem doch gutgehen, nicht wahr?« Er sah seine Frau an, und sofort erschien auf ihrem Gesicht wieder dieses steinerne Lächeln. »Wenn es denn einmal fertig wird«, sagte sie.
Stolz streichelte Shiker ihren Bauch, doch sie sah gelangweilt an ihrem Leib herunter. Um die trübe Stimmung etwas aufzuheitern, schlug Hagg einen Bummel durch Kairo vor. Man könne sich die schönen Geschäfte ansehen, vielleicht etwas Nettes kaufen oder im Americain etwas trinken. Latifa verzog gequält ihr Gesicht: »So wie ich jetzt aussehe, gehe ich nicht gerne unter Menschen. Schuhe kriege ich nicht mehr über die Füße, und anzuziehen habe ich auch nichts.« Protestierend nötigte Shiker nun Hagg und Hagge vor Latifas Kleiderschrank. Um ihnen zu zeigen, daß ihre Tochter nicht die Wahrheit sagte und der Kleiderschrank bis zum Rand gefüllt war, riß er die Schranktüren auf. Daß der Kleiderschrank voll war, stimmte insofern, als daß alles, was eventuell einmal auf Kleiderbügeln an der Stange gehangen hatte, nun wild durcheinander in einem Berg auf dem Schrankboden lag. Ein wildes Chaos von Oberbekleidung, Unterwäsche, Büstenhaltern und Schuhen lag bis zur Mitte des Schranks aufgetürmt übereinander. »Latifa, warum in Allahs Namen sieht es in deinem Kleiderschrank so aus?« fragte Hagge ihre Tochter. »Die Kinder spielen gerne mit meinen Kleidern, und warum sollte ich es verbieten? Sie passen mir doch sowieso nicht mehr, jetzt nicht und später auch nicht.« Ich ging aus dem Zimmer. Ich konnte Latifas Lächeln nicht mehr ertragen. Vom Küchenfenster aus sah ich die Kinder draußen im Schutt spielen, und so nebenbei kam mir in den Sinn, daß Latifa jetzt wohl gerade erst so siebzehn Jahre alt sein mußte. Als ich mich wieder der Tür zuwandte, um in den Salon zu gehen, sah ich mich kurz um. Der Boden war übersät mit Speiseresten, schmutziges Geschirr von Tagen stand auf den Schränken, und während ich vorsichtig nach draußen ging, beobachtete ich eine dicke Kakerlake, die
versuchte, sich aus dem Ausguß hochzuhangeln. Hier gab es viel zu tun. Da Hagg niemanden vom Personal mitgenommen hatte, mußte man sich selbst bedienen. Latifa war nicht wie Rahn, die liebenswürdig quirlig ihre Eltern umsorgte und darauf bedacht war, daß es ihnen an nichts fehlte. Kita kam hereingestürmt, nahm die Hand ihres Großvaters und wollte zu ihm auf den Schoß. Hagg wehrte das Kind ab: »Latifa, wasch deiner Tochter die Hände, sie macht alles schmutzig.« Gehorsam stand Latifa schwerfällig auf und ging mit Kita aus dem Raum. Die Stunde des Gebets war gekommen, und Hagg zog sich ins Schlafzimmer zurück, um zu beten. Hagge wandte sich nun an Shiker: »Was ist los bei euch, warum ist es überall so schmutzig? Habt ihr euch gestritten?« »Es ist überhaupt nichts«, meinte Shiker. »Latifa hat sich nur gestern nicht wohl gefühlt und kam deshalb nicht dazu, ihre Arbeit zu erledigen. Heute geht es ihr etwas besser, und gleich wird sie in die Küche gehen und uns etwas zu essen machen.« Hagge schüttelte den Kopf, als verstünde sie nicht: »Hätte ich das geahnt, wäre Sakäja mitgekommen. Sie hätte hier mal gründlich Ordnung gemacht und die Kinder gebadet. Sie sehen aus wie Straßenkinder. Würde man hier kochen wollen, müßte man zuerst die Küche und das Geschirr abwaschen.« Sie schwieg, da Hagg das Zimmer betrat. Er sagte nur kurz angebunden: »Jalla bina, Aziza – gehen wir.« Alle sahen ihn erschrocken an. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, ging er hinaus und auf das Auto zu. Attala öffnete ihm die Tür, und er stieg ein. Es blieb uns nichts anderes übrig, als uns ihm anzuschließen. Latifa, die noch mit Kita im Bad beschäftigt war, kam
herausgelaufen und erfaßte schnell die Situation. Jetzt lief sie, so schnell es ihr möglich war, an das Wagenfenster zu ihrem Vater, und ich sah, wie sie auf ihn einredete. Starr und unbeweglich saß er da, sah geradeaus und ignorierte seine Tochter. Sie wurde immer lebhafter und redete und redete. Entschuldigte sie sich für das Chaos? Bat sie ihn um etwas? Wollte sie wieder zurück in ihr Elternhaus? Wir konnten nichts verstehen. Aber ich konnte, als wir langsam auf den Wagen zugingen, Tränen über ihr Gesicht laufen sehen. Nun kam sie auf Hagge zu, nahm ihre Hand und legte sie auf ihr nasses Gesicht: »Mama, er will nicht«, stellte sie völlig niedergeschlagen fest. »Natürlich nicht, wie kannst du hier auf der Straße so die Fassung verlieren und eine solche Szene machen? Er wird dich wohl nächste Woche noch einmal besuchen, wenn er aus Heluan zurückkommt. Jetzt wisch dir in Allahs Namen die Tränen ab und fasse dich.« Und damit setzte Hagge sich ins Auto. Hagg hatte sich die ganze Zeit nicht gerührt, und Latifa ging nun noch einmal zu seinem Fenster. Jetzt lächelte sie und hob die Hand zum Gruß. Hagg winkte kurz zurück, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Shiker war nicht mehr herausgekommen. Er hatte die Szene wohl vom Fenster aus beobachtet und würde seine Frau entsprechend in Empfang nehmen. Ahmed sah seine Mutter an und sagte: »Unmöglich, was ist nur in sie gefahren? Wenn sie das öfter macht, ist es kein Wunder, daß Shiker sie straft.« Während der Rückfahrt wurde kein weiteres Wort gesprochen. Hagg zog sich zu Hause in sein Zimmer zurück, und ich sah ihn ein paar Tage nicht. Über Latifa wurde nicht mehr gesprochen. Ich brauchte Tage, um mich von diesem deprimierenden Besuch bei Latifa zu erholen. Öfter als sonst nahm ich
Nessim auf den Arm und kam mir doch so verloren vor. Eine Rolle Zeitschriften aus Deutschland war angekommen, und so hatte ich eine kleine Abwechslung. Aber immer wieder glitten meine Gedanken nach Kairo. Niemals würde Latifa die Zwänge, die ihr durch ihre Geburt in dieser Kultur auferlegt worden waren, überwinden können, und noch niemals hatte ich hier eine Frau gesehen, die sich so sehr, mit einer stillen, lächelnden Hartnäckigkeit dagegen auflehnte. Ohne jedes Verständnis beobachtete die Familie dieses Phänomen, und Hagge nahm es als Versagen ihrer Erziehung tiefbetrübt zur Kenntnis. Ich war davon überzeugt, daß sich Latifa selber nicht verstand, und die Zeit würde zeigen, wie lange ihre Kraft noch reichte. Da man zu jener Zeit noch nicht in der Lage war, den genauen Termin einer Niederkunft zu bestimmen, war man auf Ungefährangaben angewiesen, und nach Annas Aussage dauerte es noch etwa einen Monat, bis sie ihr Kind zur Welt bringen sollte. Nach Auskunft des behandelnden Arztes war alles in Ordnung, und sie würde das Kind eventuell zu Hause auf die Welt bringen. Hier war es so Sitte und nichts sprach dagegen. Als ich sie wieder einmal besuchte, verliefen die Stunden gemütlich, und wir unterhielten uns über dieses und jenes. Ich erzählte ihr von meinem Besuch in der Botschaft. Meine aussichtslose Lage tat ihr zwar leid, aber sie entrüstete sich nicht wie ich, sondern blieb ziemlich teilnahmslos. Wußte sie mehr als ich? Oder hatte sie gar von diesem Gesetz in Deutschland bereits gewußt? Es war niemals ein Thema zwischen Ahmed und mir gewesen. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, bei einer Heirat mit ihm in eine solche Falle zu tappen. Eine Landesregierung, die einen Menschen gegen seinen Willen festhielt, gab es in meiner Vorstellung nicht – heilige Einfalt. Für mich war es immer selbstverständlich
gewesen, eine unerträgliche Situation beenden zu können, es gehörte in meinen Augen zur Würde eines Menschen, sich frei zu entscheiden. »Ich habe etwas Feines für dich, sieh mal hier.« Sie hielt mir eine Flasche mit grünem Inhalt hin. »Den mußt du probieren, heißt Escorial und schmeckt vorzüglich.« »Du weißt doch, wenn Ahmed Alkohol an mir riecht, bekomme ich Schwierigkeiten.« »Ach was, das schmeckt wie Pfefferminz und riecht auch so. Zur Feier des Tages trinke ich auch ein Gläschen.« Sie ließ sich zwei Gläser bringen und wir prosteten uns zu. »Von Ali soll ich dir übrigens bestellen, daß er eine Nachricht für dich hat. Genaues weiß ich nicht, es hörte sich aber nicht schlecht an.« Ich sah Licht im Dunkeln, würde dieser böse Spuk bald zu Ende sein? »Das ist ja großartig! Darauf trinke ich noch einen.« Ich nahm Nessim vom Boden hoch und tanzte mit ihm durchs Zimmer. Allerdings hütete ich mich, ihm etwas zu sagen, er würde es zu Hause nachplappern. Meine Fröhlichkeit gefiel ihm sehr, und er zappelte auf meinen Armen. »Jetzt beruhige dich, höre dir zuerst einmal an, was Ali dir zu sagen hat«, meinte Anna. Und wie gerufen stand Ali plötzlich in der Tür und lächelte uns an. »Ich habe Heike gerade gesagt, daß du ihr etwas zu sagen hast.« »Ja, das stimmt, Heike. Aber ich möchte ungestört und ganz in Ruhe diese Angelegenheit mit dir besprechen. Dafür gehen wir am besten in mein Kontor im Holzlager. Nessim kann ja solange hierbleiben, und du holst ihn später ab.« Während wir ein Stück weit die Straße hinuntergingen, sagte er: »Bist du immer noch entschlossen, heimlich Ägypten zu verlassen?«
»Wenn das auch mit Nessim möglich ist, bin ich mehr denn je entschlossen, dieses Land zu verlassen.« In einer großen Lagerhalle, in der zu beiden Seiten einer freigehaltenen Fahrspur sich fast bis zur Decke Bretter stapelten, ging Ali auf einen Raum zu, der in der hinteren Ecke der Halle abgetrennt worden war und als Büro diente. Es herrschte absolute Ruhe, kein Mensch war zu sehen. Ali machte Licht und ließ sich auf einem Bürosessel nieder. »Setz dich doch. Leider werden wir keinen Tee haben können, da bereits Feierabend ist.« Ich wunderte mich ein wenig, da im allgemeinen in Betrieben und Geschäften bis in die Nacht gearbeitet wurde. Und Hausmeister oder Pförtner konnte man hier zu jeder Stunde bei Tag oder Nacht für eine kleine Dienstleistung herbeirufen. Aber vielleicht hatte Ali das so arrangiert, damit auch wirklich niemand erfuhr, daß dieses Gespräch stattfand. Außerdem würde es für hiesige Verhältnisse ein merkwürdiges Licht auf mich werfen, wenn mich jemand alleine mit Ali Abid in seinem Kontor gesehen hätte. Ich setzte mich also und sah ihn erwartungsvoll an. »Ein Freund von mir, der in der Regierung angestellt ist, hat über einen Bekannten, der wiederum im entsprechend richtigen Amt sitzt, die Möglichkeit, dir falsche Pässe zu besorgen. Das wird wahrscheinlich nicht billig sein, da ja auch noch eine dritte Person daran beteiligt sein wird.« »Hast du eine Vorstellung, wie teuer das wird? Hat dein Freund dir etwas gesagt? Du weißt ja von Anna, daß ich kein eigenes Geld besitze, außer den paar Pfund, die ich von ihr für die Babysachen bekommen habe.« »Das weiß ich, da wollen wir jetzt überhaupt nicht drüber sprechen.« »Ich bin dir ja so dankbar, Ali. Aber wie wird die ganze Sache praktisch ablaufen? Und was bringt mir ein Paß für
den Jungen und für mich, wenn ich die Erlaubnis von Ahmed nicht habe, das Land zu verlassen?« »Daran haben wir auch gedacht. Kontrollieren wird das an der Landesgrenze beim Durchgang zum Schiff in Alexandria ein kleiner Wichtigtuer, der Ahmeds Schrift nie gesehen hat. Also werden wir eine Ermächtigung aufsetzen, mein Freund weiß da Bescheid, und die wirst du vorzeigen. Wie sollte jemand auf die Idee kommen, daß etwas damit nicht stimmt?« »Ist das nicht riskant? Und wie echt werden die Pässe aussehen?« »Da brauchst du dir überhaupt keine Gedanken zu machen, unser Mann kommt an Originaldokumente heran, da wird kein Mensch an der Echtheit zweifeln.« »O mein Gott, ich kann es kaum glauben. Daß du das für mich tust, dafür kann ich dir nie genug danken.« Er stand langsam auf, kam lächelnd auf mich zu und setzte sich vor mich auf die Tischkante. »Doch, das kannst du. Wenn ich jetzt nett zu dir bin und du dann nett zu mir, ist die Sache erledigt.« Begriffsstutzig sah ich ihn an, und er wurde ganz liebenswürdig. »Heike, du mußt doch gemerkt haben, daß du mir schon in Deutschland gefallen hast. Schon seit langem träume ich davon, es mit dir einmal richtig gemütlich zu haben.« Er rückte auf dem Tisch ein Stückchen näher an mich heran und beugte sich zu mir runter. Als ich ihn plötzlich so dicht vor mir sah, fiel mir auf, daß seine Brillengläser ziemlich dick waren, und durch diese Gläser lächelten mich seine Augen süßlich an. »Du meinst doch nicht im Ernst, daß du und ich…« »Doch, das meine ich, ich kenne deutsche Frauen, die da gar nicht so zimperlich sind.« »Ali, ich verstehe nicht ganz, ist das etwa eine Bedingung, die du stellst?«
»Du hast von Risiko gesprochen. Auch ich und mein Freund riskieren eine Menge. Das kann man doch nicht unbelohnt lassen. Da bist du doch sicher meiner Meinung. Wir werden uns ein paar schöne Stunden machen, und du hast Pässe und Ermächtigung und kannst abreisen.« »Aber Ali, ich würde dir alle Unkosten ersetzen, sobald ich in Deutschland bin, meine Mutter würde mir das Geld leihen, bis ich wieder eine Anstellung gefunden habe. Verlange das nicht von mir.« Ich versuchte, ruhig zu bleiben, und stand langsam auf. Ich überlegte fieberhaft, wie ich die Situation in den Griff bekommen könnte. Vielleicht könnte ich ihn vertrösten. Ja, vielleicht war ein Handel möglich. »Gut, Ali, du sorgst für meine und Nessims Ausreise, und bei deiner nächsten Reise nach Deutschland werde ich mich revanchieren. Du kannst dich darauf verlassen. Hier gebe ich dir jetzt das Versprechen, und in Deutschland kannst du es einlösen.« Ich stand jetzt mit dem Rücken zur Wand, und er stand dicht vor mir. »Heike, darauf kann ich mich nicht einlassen. Selbst wenn du in deiner Heimat mit mir in einem Zimmer sitzt, ist die Entfernung zu groß, wenn du weißt, was ich meine. Haben wollte ich dich schon immer, und hier ist die Gelegenheit. Entweder jetzt oder gar nicht.« Er hatte gesprochen wie ein Vater zu seinem Kind, freundlich ruhig, aber bestimmt. Er war mir unangenehm nah gekommen, und ich drückte mich rechts an ihm vorbei. Während ich durchs Zimmer ging, war ich zu einem Entschluß gekommen: »Nein, Ali, ich kann das nicht.« »Ach, ich habe mich für dich entschieden, und du entscheidest dich gegen mich. Meine Hilfe wäre dir sicher gewesen. Du mußt wissen, was du tust.«
Wie ein Automat murmelte ich: »Ich kann das nicht, ich kann das nicht.« Er sah mich jetzt böse an und sagte: »Ich bringe dich jetzt raus. Den Weg zum Haus wirst du ja alleine finden.« Ich ging nicht gerne allein durch diese schmalen Straßen. Hier gab es keine Straßenbeleuchtung, und es war schon fast dunkel. Sobald die Leute hier eine Chauageie witterten, suchten sie Tuchfühlung und bettelten um eine Münze. Normalerweise hätte mir kein Mensch zugemutet, hier alleine herumzulaufen. Man hätte mich bis zu meinem Ziel begleitet und mich nicht solchen Belästigungen ausgesetzt. Aber das war keine normale Situation. Wie betäubt ging ich die Straße entlang zum Haus der Abids, um Nessim abzuholen. Als ich klopfte, kam ein Hausmädchen und übergab mir den Jungen. »Setti Anna hat sich hingelegt. Sie fühlt sich nicht gut. Ich werde Ihnen einen Hantur besorgen, damit Sie sicher nach Hause kommen.« Außerstande, einen klaren Gedanken zu fassen, hörte ich wie aus der Ferne Nessims Stimme. Was er jedoch erzählte, verstand ich nicht. Geistesabwesend streichelte ich ihm über das Köpfchen. Ich hatte das Bedürfnis, mich zu verkriechen, keinem Menschen zu begegnen. Nur nicht reden müssen. Ich würde sofort in Tränen ausbrechen müssen. Zu Hause kam mir mein Mann aus dem Wohnzimmer entgegen. Ich war erstaunt, weil er sich in der Regel bei seinen Eltern aufhielt und so gut wie nie anwesend war, wenn ich nach Hause kam. »Da bist du ja, ich habe auf dich gewartet. Du bist lange weggeblieben. Gameläd, bring Nessim zum Abendessen hinauf«, und zu mir gewandt sagte er: »Wie war es bei Anna?«
Er kam einen Schritt näher und sah mich aufmerksam an. »Hauch mich an, so etwas habe ich mir doch gedacht. Du hast bei Anna wieder Alkohol getrunken. Du weißt, was ich davon halte, und setzt dich einfach darüber hinweg.« Er nahm meinen Arm und zog mich in mein Schlafzimmer. »Das ist jetzt vorbei. Du wirst zu diesen Leuten nicht wieder hingehen. Hast du mich verstanden?« Er schlug mich rechts und links ins Gesicht, stieß mich auf mein Bett und schrie nun auf mich ein: »Du dreckige Hure, du Tochter einer Hündin, wie oft habe ich dir das schon verboten. Wenn ich noch einmal höre, daß du Anna besuchst, wird mir schon eine feine Strafe für dich einfallen. Antworte, ich will jetzt von dir hören, daß du da nie wieder hingehst.« Ich hatte mich langsam aufgerichtet und stand nun vor ihm, schwieg und sah ins Leere. Mein Kopf war leer, und ich verstand kaum, was er sagte. »Hast du nicht gehört? Ich will eine Antwort.« Als ich weiterhin schwieg und durch ihn hindurch sah, nahm er seinen Hausschuh und schlug auf mich ein. Ich fiel wieder aufs Bett, und wie an Fäden gezogen, kam ich wieder hoch. »Wie ist deine Antwort?« »Ich werde dort nicht wieder hingehen.« Während er das Zimmer verließ, sagte er: »Ich werde dir schon beibringen, dich nicht wie eine Hure zu benehmen und damit unsere Familie in Verruf zu bringen.« Mechanisch zog ich mich aus und legte mich unter die Decke. Als Gameläd mit Nessim an die Zimmertür kam, um zu sehen, wo ich war, sagte ich ihr: »Ich fühle mich nicht wohl und habe mich hingelegt. Du machst bitte Nessim für die Nacht fertig und bringst ihn dann ins Bett.« Die Situation war für sie wohl so ungewohnt, daß sie fragte: »Soll ich oben Bescheid sagen, daß man nach einem Arzt schickt?«
»Nein, nein, ich bin nur sehr müde. Außerdem friere ich, und im Bett ist es warm.« Als sie nach geraumer Zeit mit Nessim im Schlafanzug wieder in unserem Zimmer erschien, legte sie ihn in sein Bettchen, deckte ihn zu und wandte sich mir zu: »Gute Nacht, Herrin, soll ich wirklich nicht Sidi Ahmed Bescheid sagen?« »Nein, das sollst du nicht. Laß das Licht brennen und mach jetzt die Tür zu. Gute Nacht, Gameläd.« Sim-sim war schnell eingeschlafen, und ich stand noch einmal auf, sah auf ihn hinunter und gab ihm einen GuteNacht-Kuß. Als ich wieder lag und an der Decke eine Wanze über Nessim. Bett sich bewegen sah, kehrten langsam meine Gedanken zurück. Gleichzeitig begann ich so sehr zu frieren, daß ich zitterte. War dies die unerträgliche Situation, von der meine Mutter und ich gesprochen hatten? Sollte ich ihr nun diesen Brief schreiben, wie wir es abgemacht hatten? Würde Anna wieder anrufen, was würde Ahmed ihr sagen? Gab es überhaupt Kontakt zwischen Ali und Ahmed? Konnte ich Anna und Ali trauen? Was würde Ahmed tun, wenn er je von meiner Absicht erfuhr, heimlich das Land zu verlassen? Wie würde dann seine Strafe aussehen? Warum hatte Anna mich überredet, diesen Escorial zu trinken, obwohl sie doch wußte, wie Ahmeds Reaktion wäre, würde er es merken? Warum hatte ich mich überhaupt überreden lassen? Warum saß Ahmed zu meinem Empfang bereit, wo er das doch sonst nie tat? Was konnte ich jetzt tun? Meine Gedanken ließen sich nicht ordnen, und ich schnatterte derart, daß ich mir eine weitere Decke holte. Mein Körper beruhigte sich etwas, und schließlich schlief ich ein. Es dauerte Tage, bis sich auch mein Gemüt beruhigte. Zu begreifen, daß Ali meine Situation aufs schäbigste ausnutzen wollte, fiel mir sehr schwer. Für mich war die Welt immer gut gewesen, und auf eine solche Art
hintergangen worden zu sein, mußte ich für mich erst einmal realisieren. Natürlich überlegte ich auch, ob ich mit meiner Gegenleistung je die Pässe bekommen hätte. Bei dem Gedanken, daß Ali den Freund in diesen Handel eventuell mit einbezogen hatte, überkam mich Ekel.
19
Es gibt keinen Ausweg
Der Familie war aufgefallen, daß ich still geworden war. Ich sang nicht mehr, ich lachte nur noch selten und ging kaum noch zu meinen Schwiegereltern. Ob Hagg seinen Ältesten befragt hatte, wußte ich nicht. Er ließ mich durch Gameläd rufen, und als ich nach oben kam, sah er mich forschend an und meinte: »Bist du krank? Fehlt dir etwas, ich höre dein Lachen nicht mehr, und du kommst nur noch selten zum Tee.« Ich sah ihn an und mußte die Tränen zurückhalten. »He, benti, melek – Tochter, was ist los? Deine Augen sind traurig, warum?« Was geschehen war, konnte ich ihm nicht sagen. Niemals hätte er mich verstanden. Über meinen Plan zur Flucht würde kein Gespräch möglich sein, und die Strafaktion seines Sohnes würde er wohl billigen, wenn auch mit Einschränkung. Schließlich schlug er ja eine Europäerin, und mittlerweile wußte Hagg, daß diese Frauen das nicht als selbstverständlich hinnahmen und darüber sehr verletzt sein konnten. Dem Vernehmen nach mußte man sogar damit rechnen, daß sie unbegreiflicherweise auf Rache sannen. Doch er würde verstehen, daß ich in letzter Zeit ständig fror, und so sagte ich: »Ich fühle mich elend, und trotz zwei Decken friere ich selbst im Bett.« »Der Winter ist in diesem Jahr wirklich sehr kalt. Ich werde dir eine kleine Heizung mitbringen, dann fühlst du
dich wieder etwas wohler. Sakäja, mach Tee für uns und bring Gebäck.« Wie gut tat ein bißchen Zuspruch, schon die einfache Frage nach meinem Wohlergehen machte mich glücklich. Als Hagge von Sakäja von unserer Unterhaltung erfuhr, kam sie mit einer Decke und wickelte mich ein. Es war wirklich sehr unangenehm, keine Heizmöglichkeit zu haben. Auch in großen, gut ausgestatteten Häusern gab es keine Heizungen, da selbst im Winter das Thermometer selten unter zwanzig Grad fiel. Wenn im Sommer die Hitze bei vierzig Grad lag, war man für kühlende Fliesen dankbar. Wenn jedoch die übliche Wintertemperatur unterschritten wurde, empfand man selbst achtzehn Grad als ausgesprochen kalt. Es lag wohl auch ein wenig an meiner Verfassung, die nicht die beste war. In der Villa von Annas Schwägerin hatte ich einen offenen Kamin gesehen, der bei meinem Besuch kalt blieb. Es war Sommer gewesen, und die Sonne wurde durch Fensterläden ausgesperrt. Kein Mensch dachte an wärmende Flammen, die aber jetzt in ihrem Haus sicher angenehm loderten. Nur wenige Häuser verfügten über diesen außergewöhnlichen Komfort. Meine Familie und alle anderen Leute wärmte sich an kalten Wintertagen unter Bettdecken. Man hielt sich im wärmenden Bett auf und stand nur zum Gebet, für Besorgungen oder vielleicht zum Essen auf. Lethargie machte sich breit, und wenn im Hause normalerweise schon nicht viel gelacht wurde, war es dann besonders betrüblich. Nachdem mir Hagg aber tatsächlich eine kleine Heizung mitgebracht hatte, wurde mir merklich wohler. Eine etwa sechzig Zentimeter hohe und dreißig Zentimeter runde, schwarz lackierte Röhre, die sich zum Fuß hin für die Aufnahme eines Petroleumbehälters verbreiterte. Am oberen Ende befand sich eine kleine Platte, auf der ich
eine Tee- oder Kaffeekanne zum Wärmen abstellen konnte. Die Verkleidung dieses Öfchens hatte bis zur Hälfte gitterartige Aussparungen, die die Wärme entweichen ließen. Zwar hatte dieser Ofen die unangenehme Eigenschaft, Petroleumgeruch zu verbreiten, und wenn der Docht oberhalb des Behälters nicht genau eingestellt war, qualmte er entsetzlich, so daß man immer mal wieder durchlüften mußte, aber so war es mir lieber, als mich tagsüber im Bett verkriechen zu müssen. Bei geschlossenen Türen hielten Nessim und ich uns nun ausschließlich im Wohnzimmer auf und verbrachten viel Zeit miteinander. Gemeinsam sahen wir uns dann wohl zum hundertsten Male die von Mutti mitgebrachten Bilderbücher an. Immer wieder erklärte ich Sim-sim die Bilder und erzählte ihm dazu erfundene Geschichten. Nebenbei strickte ich kleine Anzüge mit passenden Mützen. Auch kleine Handschuhe hätte ich gerne gemacht, nur würde es so kalt sicher nicht werden. Gameläd gesellte sich nach getaner Arbeit oft zu uns. Neben der Tür auf dem Boden saß sie dann an ihrem angestammten Platz völlig regungslos im Schneidersitz, die Hände im Schoß, jederzeit bereit, aufzuspringen, sollten ich oder Nessim einen Wunsch äußern. Auch mit mir lächelte sie nun manchmal, sie hatte sich eingewöhnt. Beköstigt wurde sie nach wie vor von oben, da man das europäische Essen nun wirklich nicht genießen konnte. Und obwohl ich sie sehr oft zu Sakäja geschickt hatte, um zu lernen, traute sie sich doch noch nicht richtig. Irgendwann würde ich ihr befehlen zu kochen und dann sehen, ob sie oben aufgepaßt hatte. Gamal, der in letzter Zeit immer nur kurz vorbeigesehen hatte, war wieder öfter unten. Er war viel mit Freunden unterwegs gewesen und besuchte natürlich auch Hanan bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Die Familie seines Freundes Chälid hatte ihn nach Port Said eingeladen, wo sie ein Haus besaß. Die Rückkehr von Chälids Bruder
aus Amerika sollte gefeiert werden, und die Freunde wollten in dieser schönen Stadt direkt am Meer gemeinsam etwas Zeit verbringen. In hohen Tönen erzählte mir Gamal von Chälids Eltern. »Das sind reizende Leute, und vermögend sind sie auch. Hier in Tanta, in Alexandria und in Port Said besitzen sie große Häuser. Ein weiterer Sohn ist noch in Amerika und wird wahrscheinlich auch dort bleiben. Er hat sein Studium jetzt beendet, und für ihn steht eine gute Position bei einer Bank in Aussicht. Farid, der Bruder von Chälid, der jetzt zurückgekommen ist, hat eine junge Frau kennengelernt, die er heiraten möchte. Sie soll auch aus einer sehr guten Familie kommen und wunderschön sein. Sie wollen nicht hierherziehen, sondern in Amerika leben.« Ich sah durchs Fenster und sagte: »Eine kluge Entscheidung.« Er sah mich forschend an. »Bist du nicht ehrlich? Du versprichst meinem Vater doch immer, daß du nach einem Besuch bei deiner Mutter zurückkommst, weil du jetzt hier zu Hause bist. Daß du hier zufrieden und glücklich bist.« »Ach, Gamal, was sollte ich ihm denn sagen? Du weißt doch, in welchem Zwiespalt er sich befindet. Einerseits hat er mir ohne die Zustimmung Ahmeds das Versprechen gegeben, als ich so krank war, und andererseits sieht er mich in letzter Zeit oft traurig. Natürlich befürchtet er, daß ich im Ernstfall nicht zurückkomme. Ahmed würde ihm dann die größten Vorwürfe machen.« »Sei offen, Heiuka, würdest du wiederkommen?« Ich sah ihn hilflos an. »Dein Bruder ist kein idealer Ehemann für mich. Er hat sich seit unserer Ankunft hier sehr verändert, und manchmal habe ich furchtbares Heimweh.«
»Er liebt dich über alles, das weiß ich. Du hast doch mittlerweile verstanden, daß hier bei uns nur eine gehorsame Frau ein gutes Leben haben kann, und er beklagt sich eben gelegentlich über dich. Vor einigen Tagen hörte ich einem Gespräch zwischen Hagg und Ahmed zu. Mein Vater wies ihn zurecht und gab ihm zu bedenken, daß du eben eine Europäerin bist. Daß Ahmed das vorher gewußt habe und er deine Sitten und Gebräuche kennengelernt hat und jetzt nicht so tun könne, als wärest du verrückt. Natürlich bekümmert es meinen Vater auch, daß du nicht zu unserem Glauben übertrittst. Alle mögen dich hier sehr, aber die Verschiedenartigkeit ist schon sehr groß.« Er nahm Nessim auf den Arm, spielte ein wenig mit ihm und sah mich dann wieder an. »Heiuka, du kannst mir vertrauen. Wenn du mir etwas sagst, werde ich es für mich behalten. Keine Menschenseele wird je davon erfahren.« Er hatte sicher mehr begriffen als alle anderen. Ich blieb jedoch vorsichtig und lächelte ihn nur an. Um ihn abzulenken, sprach ich ihn wieder auf den ersten Teil unseres Gesprächs an. »Studiert Chälid auch an der Kairoer Universität?« »Ja, er studiert Jura. Er wird bald fertig sein und dann auch ein Jahr nach Amerika gehen. Seine Verheiratung hat man bereits ins Auge gefaßt. Bei diesen Überlegungen hat man auch über unsere Fatma gesprochen. Sie gefällt Chälid sehr gut. Nur weiß ich nicht, ob Hagg da mithalten kann. Im Vertrag wird es um eine beträchtliche Summe gehen. Chälids Eltern sind sehr reiche Leute, und da Hagg alle Töchter gleich behandeln muß, kann man nicht absehen, wie er sich entscheidet. Natürlich ist das auch eine Sache der Verhandlung, und wenn Chälid sagt, Fatma soll es sein und keine andere, wird man sich sicher einig werden.«
Schon öfter war mir aufgefallen, daß Fatma, sobald Chälid erschien, um Gamal zu besuchen, in aller Eile den Raum verließ. Wenn eine Begegnung unvermeidbar war, grüßte sie den Freund ihres Bruders nicht etwa, sondern blieb wie gelähmt stehen und schlug die Augen nieder, so als ob ein hoher Würdenträger an ihr vorbeiginge, dem sie Ehrerbietung schuldig sei. Nun wußte ich, aus welchem Grund sie sich so sonderbar benahm. Sicher hatte man in ihrer Gegenwart mögliche Verhandlungen angedeutet, um sie an ein besonders sittsames Verhalten zu erinnern. Vor einiger Zeit war sie einmal zu mir auf den Balkon gekommen mit vor Eifer und Verlegenheit ganz rotem Gesicht und hatte mir, als die beiden jungen Männer unten aus der Haustür traten, zugeflüstert: »Heike, findest du Gamals Freund Chälid nicht auch wunderschön?« Ahsähn war damals hinter ihr auf den Balkon getreten, um sie schnell wieder hereinzuholen, und die beiden verschwanden kichernd nach drinnen. Ich erinnerte mich auch an meinen ersten Besuch in Latifas Wohnung. Fatma hatte damals bedauernd gesagt, daß sie niemals mit dreizehn Jahren heiraten würde wie ihre Schwester. Jetzt war sie gerade vierzehn geworden, und liebend gerne hätte sie die Schuluniform mit einem Hochzeitskleid vertauscht, um endlich in den ehrbaren Stand einer verheirateten Frau zu kommen und Kinder gebären zu können. Unverheiratet war eine Frau ein Nichts; das sogen die kleinen Mädchen hier schon mit der Muttermilch in sich ein. Es gab für mich nur wenig zu tun, und so verliefen die Tage monoton. Doch langsam tauchte ich aus meiner Depression auf. Das Wetter erschien mir wieder milder, und ich spazierte mit der vorher erteilten Erlaubnis von Ahmed manchmal wieder in den Amerikanischen Club. Eine vertraute Melodie aus dem Radio ließ mich
mitsummen, und meine Gedanken beschäftigten sich vorsichtig mit den beiden deutschen Ehepaaren, die ich noch nicht besucht hatte, aber deren Bekanntschaft oder sogar Freundschaft mir sicher guttun würde. Wie könnte es mir gelingen, diese Leute heimlich zu besuchen? Wie sollte ich das anstellen, wenn uns Gameläd doch immer begleitete? Inwieweit sie beauftragt war, mich zu überwachen, wußte ich nicht. Ein Risiko wollte ich jedoch auf keinen Fall eingehen. Ich hatte schon als Vorbereitung im Vorbeifahren auf die Hausnummern in der Shera El Bahr geachtet und wußte ungefähr, auf welcher Höhe sich das Haus befand, das die Nummer 37 trug. Mir würde sicher noch einfallen, wie ich Gameläd ausschalten konnte. Alle Zeit der Welt hatte ich, um mir einen Trick auszudenken, eine kleine Schliche, wie sie hier von allen angewandt wurde. Eile war nicht vonnöten.
2O
Ramadan und Opferfest
Für Ahsähn hatte sich kurz nach ihrer Verheiratung ein Ersatz gefunden. Zwar kam einmal die Woche eine Waschfrau, die auch meine Wäsche besorgte, dennoch war die anfallende Arbeit für Sakäja allein zuviel. Vor allem aber hatte Hagge, um Sakäja zu entlasten, in der letzten Zeit viel in der Küche gestanden, was ihr einfach zu anstrengend war. So gab es also jetzt Leila, die von Sakäja eingewiesen wurde. Sie war etwa fünfzehn Jahre alt, und auch sie war verdreckt und verlaust bei uns im Haus angekommen. Sie war freundlich und gefällig, nur wenn ich ihr in die Nähe kam, blieb sie immer wie angewurzelt stehen und sah mich unsicher und zugleich untertänig an. Ob sie das aus Angst oder Neugier tat, war mir nicht klar. Ich lächelte sie dann an und sagte zu ihr: »Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, ich tue dir nichts.« Als Sakäja dies einige Male mitbekommen hatte, nahm sie Leila bei der Hand und ging mit ihr auf den Balkon. Danach unterließ das neue Mädchen die Gafferei. Sie gewöhnte sich an mich genau wie Gameläd und schleppte leidenschaftlich gerne Nessim durch die Gegend. Aber vor allem übernahm sie jetzt die Pflicht, Fatma zur Schule zu begleiten. Es war zeitlich nicht immer übereinzubringen, daß ihr größerer Bruder Yazid sie brachte, und selbst dann, wenn sie zur gleichen Zeit Schulbeginn hatten, war sich Hagge nie ganz sicher, ob Yazid Fatma nicht aus Bequemlichkeit das kleine Stück zwischen seiner und ihrer Schule allein gehen ließ. Das
war Fatmas gutem Ruf abträglich, und da zudem Leila und Fatma noch nicht sehr vertraut miteinander waren, war es für Hagge sehr beruhigend, daß Leila dieses Amt jetzt übernahm. Dadurch, daß die beiden Mädchen sich noch fremd waren, war Fatma gezwungen, sich sehr korrekt zu verhalten, und konnte nicht etwa mit einer Freundin, die sie unterwegs traf, den Eindruck, den man von dem einen oder anderen Jungen hatte, erörtern. Wenn ich Fatma fragte: »Na, wie gefällt dir Leila?« verdrehte sie die Augen zum Himmel und sagte: »Ahsähn wäre mir lieber. Kein Wort kann man mit ihr wechseln. Sie kommt doch geradewegs vom Dorf und ist so dumm wie Bohnenstroh.« Der Ramadan war eine besondere Zeit. Einen ganzen Monat lang wurde von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gefastet. Auf dieses Gebot wurde in der Familie Abd El Kataf streng geachtet, wenngleich es auch hier Ausnahmen gab. So konnte ich beobachten, daß Sakäja für die Schulpflichtigen immer einen kleinen Imbiß bereit hatte. Auch Kranke und Schwangere waren grundsätzlich ausgenommen. Die meisten Familienmitglieder jedoch quälten sich acht oder neun Stunden mit leeren Mägen durch den Tag, ohne zu murren, ohne zu klagen. Man legte sich hin, versuchte zu schlafen, um den Hunger zu vergessen. Gesprochen wurde wenig, und die Lethargie war kaum zu ertragen. Während des Tages war nur das Personal auf den Beinen und hatte mehr Arbeit denn je. Die Mahlzeit, die bei Sonnenuntergang fertig sein mußte, war nicht zu vergleichen mit einem normalen Mittagoder Abendessen. Beim letzten Gebet des Tages fand sich die Familie im kleinen Saal ein und versammelte sich um den Tisch. Sakäja und Leila liefen eilig los, die Schüsseln aus der Küche zu holen. Sie liefen hin und her, und es nahm kein Ende. Riesige Mengen an Reis, Fleisch und Gemüse, Salate und Suppen, Enten und Hühner und
Berge von Bauernbrot wurden aufgetragen. Den ganzen Tag hatte man sich auf diese Stunde gefreut und konnte es nun kaum erwarten, daß Hagg als erster das Mahl eröffnete. Unmengen wurden in sich hineingestopft. Immer wieder wurden kleine Pausen gemacht, während denen sich zum Beispiel Ahmed leicht schaukelnd hinund herbewegte, wohl um der Verdauung etwas nachzuhelfen, um Platz zu schaffen. »Allah, Allah!« wurde immer wieder ausgerufen, und die Wonnen nahmen kein Ende. Sakäja saß wie immer in ihrer Ecke auf dem Boden und aß nun auch. Den ganzen Tag war sie mit Vorbereitungen und Kochen beschäftigt gewesen, und ich fragte mich schmunzelnd, ob sie nicht hier und da eine Kleinigkeit probiert hatte. Leila mußte bis später warten, da sie unentwegt mit diversen Bitten von Hagg oder den Kindern beschäftigt war. Auch Gameläd umkreiste die Runde, um allen gerecht zu werden. Entweder mußte neues Wasser geholt werden, oder eine Gemüse- oder Fleischschüssel war leer und wurde in der Küche nachgefüllt. Langsam und ehrfürchtig wurde gegessen, damit auch kein vorzeitiges Sättigungsgefühl entstand. Schließlich wollte man ein neues Hungergefühl so lange wie möglich hinauszögern, und man tat sein Bestes. Wenn dann letztendlich nicht mal mehr ein Reiskorn in den Magen paßte, lag die Familie mehr als sie saß stöhnend auf ihren Stühlen und pries Allah für seine Gnade. Von dem verwüsteten Tisch erhoben sie sich dann ächzend, um ein oder zwei Stunden zu schlafen. Diese Völlerei war auch nur auf diese Weise zu ertragen, das verstand ich gut. Abend für Abend wiederholte sich dieses Spiel, und ich lernte die Vielfältigkeit der ägyptischen Küche kennen und schätzen. Nessim genoß diese Mahlzeiten sehr. Er bekam zwar sein eigenes Tellerchen, lief aber am liebsten von einem zum andern und ließ sich Fleischstücke, in kleine Brotstücke
gepacktes Gemüse oder zu Kugeln geformten Reis in den Mund schieben. Wiederholt sah ich ihn bei Sakäja auf dem Boden sitzen, und gemeinsam aßen sie dann beide aus ihrer Schüssel. Er fühlte sich sehr wohl, plapperte, aß und trank, rutschte dann über auf dem Boden verstreute Essensreste, und ich fragte mich insgeheim, wo er normale Tischmanieren, die er irgendwann einmal brauchen würde, lernen sollte, wenn er sie nicht von seiner Familie nachahmen konnte. Da mußte ich mir wohl etwas einfallen lassen. In Europa war etwas anderes gefragt. Die Krönung des Ramadan war das abschließende Fest, das drei Tage dauerte. Ich war der Annahme gewesen, nach den allabendlichen Mahlzeiten im Fastenmonat könnte es keine Steigerung mehr geben. Weit gefehlt! Außer der Reihe wurde von Bauern der nahe gelegenen Dörfer zum Ende der Fastenzeit lebende Hühner, Enten, große Gefäße mit landesüblicher Butter, Reis oder riesige Körbe mit Obst und Gemüse gebracht. An einem jener Abende hatte wohl ein Bauer das Bestellte nicht mehr nur mit einem Esel transportieren können, sondern war mit seinem Kamel vor die Haustür gekommen und hatte es dort angebunden. Das Tier versperrte den ganzen Eingang, und ich versuchte etwas ängstlich, an ihm vorbeizukommen, um zur Treppe zu gelangen. Noch nie war ich einem Kamel so nah gewesen, und ich staunte über seine Größe, vor allem aber über die Höhe des Tieres. Es wollte mir nicht gelingen, an ihm vorbeizukommen, weil immer dann, wenn ich mich ihm näherte, es einen kleinen Ruck auf mich zu machte und ich verängstigt zurückwich. Für einen Betrachter mochte das sicher belustigend gewesen sein, ich fand es sehr ärgerlich; kam ich doch von meinem Stadtgang nicht ins Haus. Letztendlich ging ich zur Straße zurück, um zum Balkon um Hilfe zu rufen. Sofort kam der Fellache die Treppe heruntergelaufen. Unter Verbeugungen
entschuldigte er sich tausendmal für seine Unachtsamkeit und schob das Kamel von der Haustür weg, so daß ich vorbeikam. Oben angekommen, hörte ich Fatma schimpfen: »Ich habe auch Angst vor diesen Viechern und mag ihnen nicht zu nahe kommen. Konnte der Bauer das Tier nicht an der Straße anbinden?« Offenbar hatte sich jemand über meine Ängstlichkeit amüsiert, und sie verteidigte mich. Die Hauptbeschäftigung von Sakäja war nun wieder Backen und Kochen. Kleintiere wie Tauben, Hühner und Enten schlachtete sie selbst und rupfte sie anschließend, für mich immer ein interessantes Schauspiel. Sogar Hagge stand in der Küche, um sich um die Zubereitung von Gebäck und Süßigkeiten zu kümmern. Das wollte sie weder Leila noch Sakäja überlassen. Zuckerwerk und das feine Gebäck mußten in großer Menge hergestellt werden, denn die ganze Familie war schon in Vorfreude auf diese so sehr süßen Leckereien, die den Höhepunkt des Ramadan-Schmauses darstellten. Für Gameläd gab es viel zu lernen, und ich hoffte, sie würde es später in meinem Haushalt anwenden. Darüber hinaus würden sich alle in neuen Kleidern präsentieren können. Schon vor Wochen war bei der Schneiderin Entsprechendes in Auftrag gegeben worden, und auch die Hausmädchen sahen in ihren neuen Galabijas zum Fest besonders adrett aus. Da ich als Katholikin nicht fastete, verliefen meine Tage normal. Die halbe Stadt befand sich im Dämmerschlaf, das mich jedoch nicht zu kümmern brauchte. Es zeigte sich ein Lichtstreif am Himmel, weil Ahmeds Wachsamkeit etwas nachließ. Er mußte wie alle andern hungern und schlafen und hungern und schlafen, und durch diesen monotonen Umstand traf man ihn kaum ansprechbar an, und ich hatte meine Spaziergänge zum Amerikanischen Club wieder aufgenommen. Es war kein
Widerspruch erfolgt, und Gameläd war durch die Vorbereitungen für das Fest so in Hagges Haushalt beschäftigt, daß sie mich nur selten begleiten konnte. Ich war dafür sehr dankbar, denn so mußte ich keine Geschichte erfinden, um alleine ausgehen zu können. Ich benutzte diese Freiheit auch, um die deutschen Ehepaare zu besuchen, die ich im Basar getroffen hatte. Das Haus Shera El Bahr Nr. 37 fand ich schnell, und als mir eine der Frauen die Tür öffnete, war sie freudig überrascht. Sie hatten alle nicht geglaubt, mich wiederzusehen. Jetzt stellten wir uns vor, die Ehepaare Schröder und Laschke lebten noch nicht lange in Tanta, und auch sie waren an einer Bekanntschaft interessiert. Eine ganze Weile war seit unserer ersten Begegnung vergangen, und immer mal wieder hatten sie Ausschau nach mir gehalten, mich aber nicht noch einmal gesehen. Nessim, der angesichts der fremden Gesichter angefangen hatte zu weinen, mußte beruhigt werden. Weder das Ehepaar Laschke noch die Schröders hatten Kinder, und sie bemühten sich mit einer Engelsgeduld um Sim-sim. Nach einer Weile und mit Hilfe von ein paar Bonbons lachte er wieder, und auch hier wurde gestaunt über seine Haar- und Hautfarbe. »Mein Mann ist blond und hellhäutig wie auch die meisten seiner Geschwister. Es ist also gar nicht so erstaunlich, daß Nessim blond ist.« »Erzählen Sie doch mal, was Sie hierher verschlagen hat. Sie sind also mit einem Ägypter verheiratet, aber wie kommt es, daß Sie nicht in Kairo oder Alexandria wohnen?« »Mein Mann hat in Köln Medizin studiert, und wir haben uns dort kennengelernt. Geheiratet haben wir dann auch in Köln und sind hierher nach Tanta gezogen, weil die Familie meines Mannes hier lebt.« »Fühlen Sie sich denn hier wohl? Sie leben in der Familie ihres Mannes? Geht das denn gut?«
»Ich habe eine eigene Wohnung im Haus meines Schwiegervaters, und es läuft so normal, wie es möglich ist. Es ist eben alles anders, und man muß sich eingewöhnen.« »Das schaffen wir wohl nie. Für drei Jahre haben sich unsere Männer verpflichtet, und wir werden wohl durchhalten müssen. So wie hier haben wir uns das nicht vorgestellt. Dieser Dreck, dieses Ungeziefer, diese Leute, mit denen kein Umgehen ist. Unsere Männer haben unglaublich zu kämpfen mit den hiesigen Arbeitern. Ohne Aufsicht tun die gar nichts, sie sind faul und auch unehrlich. Wir haben hier ein Dienstmädchen. Wenn ich der zugucke, wie die bei der Arbeit einschläft, möchte ich wild werden.« Die Empörung über Arbeitsverhältnisse und häuslichen Kleinkram nahm kein Ende. Was und wie diese Leute hier das eine oder andere machen, mittelalterlich, umständlich, zum Totlachen. Kleine Anekdoten wurden erzählt, und man konnte sich nicht mehr beruhigen vor Lachen. Die Dummheit der Menschen hier war grenzenlos. Was immer ich als Themenwechsel anbot, wurde nur wieder ein Anlaß, von neuem über Dreck, Faulheit, diese ewige Beterei oder Geziefer herzuziehen. Daß das Leben hier für einen Europäer schwer war, brauchte man mir nicht zu sagen. Die freundschaftlichen Gefühle für diese Leute, die meine Ohren mit meiner Sprache verwöhnt hatten, waren verflogen. Ja, es gefror in mir, und ich war nahe daran, sie zurechtzuweisen. Hatten sie denn nicht auch Freundlichkeit, Liebenswürdigkeit, Hilfsbereitschaft kennengelernt? Die Sprache war wunderschön, doch sie bezeichneten sie als Gurgeln. Immer noch gab es Dinge, die ich verabscheute, die ich nie begreifen würde und die mich deprimierten. Aber gezwungenermaßen hatte ich so viel Zeit damit verbracht, gegeneinander abzuwägen, den guten Willen
und die Freundlichkeit der Leute hier zu erkennen. Diese fremde Welt hatte mich geknebelt und so unglücklich gemacht, und doch gab es Zeiten der Zufriedenheit und Zugehörigkeit. Vieles hatte ich liebengelernt, und ohne dieses Gefühl des Gefangenseins, für das Ahmed verantwortlich war, würde mein Sehnen nach Deutschland nicht so heftig sein. Ich würde mich heimisch fühlen können. Mein geliebter Sim-sim wuchs hier auf. Vielsprachigkeit und Toleranz würden für ihn selbstverständlich sein, wenn er von Zeit zu Zeit mit seinen Eltern zwischen den Kontinenten reiste. Hier in diesem Haus würde ich für meine Probleme kein Ohr finden, ich hatte sie nicht einmal anklingen lassen, und das war gut so. War ich doch hierhergekommen, weil ich die Tür nach Deutschland einen Spaltbreit offen gesehen hatte. Wie hatte ich vergessen können, daß für jeden das eigene Problem – und sei es noch so klein – das größte ist. Ein weiterer Höhepunkt im Jahr war das Opferfest, das acht Wochen nach den Ramadan-Feiertagen begangen wird und vier Tage dauert. Ähnlich wie zum Ramadan und seinen abschließenden Festtagen quoll die Küche über von leckeren Dingen. Eine zusätzliche Hilfskraft hatte unter Sakäjas Aufsicht Gemüse und Salat zu putzen, Kleintiere zu schlachten und Vorbereitungen so zu treffen, daß das Fest ein voller Erfolg werden konnte. Bei meiner kurzen Visite in der Küche staunte ich über die bereits fertiggestellten Gerichte, die in großen Kupfertöpfen übereinandergestapelt auf einem Tisch standen und von Sakäja gerade in den alten Eisschrank gestellt wurden, wobei sie kleingeschlagenes Blockeis um die Gefäße verteilte. Nach den Mengen, die bereits vorbereitet waren, denn selbst auf dem Balkon standen Behälter übereinander, wurde wohl Besuch erwartet. Als ich Fatma fragte, meinte sie: »Es kommt eigentlich kein
Besuch. Aber zum Fest kommen immer ein paar arme Verwandte aus den Dörfern und auch hier aus der Stadt. An die muß man ja auch denken.« Diese Tage würden orgiastisch werden und die Mägen würden ihre liebe Not haben. Man rieb sich jetzt schon die Hände. Sogar einen lebenden Hammel schleppte man am Strick die Treppen hinauf aufs Dach. Hagg, der einen Metzger bestellt hatte und seine Arbeit selbst überwachen wollte, war schon auf dem Weg nach oben. Und alle wollten zuschauen und folgten ihm. Fatma kam rufend zu mir hinunter: »Heike, komm, das willst du doch sicher auch sehen.« Aber wir kamen etwas zu spät. Das Tier war bereits tot, hing an den Hinterläufen, und sein Blut floß in einen bereitgestellten Behälter. Häuten und Zerlegen interessierte niemanden mehr, und nachdem Hagg mit dem Schlachter noch über die Portionsgrößen gesprochen hatte, gingen wir langsam wieder nach unten. Hagg war des Lobes voll über diesen Hammel. Es würde ein herrliches Festmahl geben mit diesem zarten Fleisch. Am späteren Abend kam Sakäja, die auf dem Dach dem Metzger zur Hand gegangen war, mit großen Schüsseln in die Küche. Omar und Jussuf liefen zu ihr und trugen lachend einen kleinen Eimer, der mit gesäuberten Därmen gefüllt war, in den Raum. Sie spielten damit herum und machten Faxen, bis Sakäja protestierend ihre Schätze wieder zurückholte. Sie konnte es nicht dulden, daß man in solcher Weise mit Nahrungsmitteln umging. Schließlich würden die Därme mit dem Verschiedensten gefüllt zu einem Gaumenschmaus verarbeitet werden. In der folgenden Nacht gab es in der Küche keine Ruhe. Sakäja, Leila und Gameläd waren bis zum Morgen damit beschäftigt, das Fleisch zu verarbeiten und Köstlichkeiten daraus vorzubereiten. In zwei Backöfen brutzelte es auf
den Blechen, in Töpfen köchelte es langsam vor sich hin, und das ganze Haus war durchzogen von den verschiedensten Gerüchen. Festtagsstimmung breitete sich aus, und in Erwartung der Herrlichkeiten am folgenden Tag ging man erst sehr spät zu Bett. Und dann war der große Festtag da. Obwohl die dienstbaren Geister die halbe Nacht in der Küche beschäftigt gewesen waren, wurde am Morgen schon eine üppige Mahlzeit aufgetragen. Die Mädchen trugen neue Galabijas und neue Kopftücher und schienen ausgeruht und wohlgelaunt. Auch die jüngeren Geschwister Ahmeds führten neue Kleider vor, und ich mußte zu allem meine Meinung und mein Lob kundtun. Alle Männer hatten sich sorgfältig angekleidet und waren nun auf dem Weg zur Moschee. Die Frauen blieben davon ausgeschlossen und hatten heute in der Moschee nichts zu suchen. Beten konnte man letztendlich auch zu Hause, und schließlich gab es eine Menge zu tun. Verschiedentlich hatte ich Sakäja während des Abräumens beobachtet, wie sie immer wieder durch die Eingangstür im Treppenhaus verschwand, achtete aber nicht weiter darauf. Nach einer Weile nahm ich Nessim bei der Hand, um hinunterzugehen. Ich wollte einen bereits angefangenen Brief fertigstellen, und ab und zu mußte ich Gameläd ein bißchen auf die Finger gucken. Auf meinem Weg zur Treppe blieb ich erstaunt in der Tür stehen. Stufe für Stufe saßen die merkwürdigsten Gestalten. Am Geländer entlang hatte man eine schmale Spur zur Treppenbenutzung frei gelassen. Die Menschen saßen bis zum Parterre, und jeder hatte einen Blechteller und auch Brot in der Hand. Ein Raunen und Rufen erhob sich, als ich versuchte, in meine Wohnung zu kommen. Die Armen der Stadt und auch mittellose entfernte Verwandte hatten sich hier versammelt, um entgegenzunehmen, was Hagg als reicher Mann
verpflichtet war, ihnen zukommen zu lassen. Auch Leute, die Atalla immer versuchte, vom Autofenster zu vertreiben, wenn sie mich anbetteln wollten, saßen hier nun zu meinen Füßen, und ich zögerte. Zerlumpte Frauen riefen Allahs Segen auf mein Haupt und priesen die Schönheit meines blonden kleinen Sohnes. Sie hoben die Arme, um mein Kleid zu berühren und Nessims kleine Hand in die ihre zu ziehen. Offenbar war Hagge in diesem Moment eingefallen, was mich auf der Treppe erwartete, und hatte mir Sakäja nachgeschickt. Ibrahim wurde gerufen, und dieser kam nun aus seinem Verschlag am Hauseingang heraus, um mich sicher hinunterzubringen. Oben bei mir auf dem Treppenabsatz angekommen, nahm er Nessim auf eine Schulter, bat mich vor sich, und im Gänsemarsch ging es nun eine Etage tiefer. Die Versammelten wurden nicht müde, meine Schönheit und die meines Sohnes zu preisen. Mein Glück und die Anzahl meiner Söhne sollten sich vermehren, und die Güte und der Großmut Allahs sollte mich ewig begleiten. Und obwohl Ibrahim mir auf dem Fuße folgte, gelang es der einen oder anderen Frau mit ihrem aus dem Schleier herausgestreckten Arm einen meiner Füße zu berühren, woraufhin er dann sehr wütend gegen die Hand trat, die sich hervorgewagt hatte. Mit schwarzen Kajalbalken umrandete Augen sahen mich dann demütig an, und eine Entschuldigung wurde geflüstert. Unten angekommen, übergab mir Ibrahim Sim-sim und ich schloß von innen die Tür. Erleichtert atmete ich auf. Was nur ließ mich so schaudern? Diese Leute waren gutmütig, und sie waren so dankbar für die warme Mahlzeit, die ihnen Hagg schenkte. Niemals hätten sie mir oder Nessim auch nur ein Haar gekrümmt. Woher aber kam dieses ungute Gefühl in mir, das der Angst ziemlich nahe war? Ich dachte darüber nach und ahnte entfernt, wie stark diese Handvoll Leute vor mir auf dieser Treppe sein
würden, wären sie an eigenständiges Denken gewöhnt und man würde ihnen erzählen, daß ich Ungläubige Allah nicht als meinen Gott anerkannte und sie für dumm und schmutzig hielt. Die Ergebenheit vor den Hochgestellten würde dann vielleicht nicht mehr als Schutz reichen. Sicher wußte General Nasser, was er tat, wenn er auf die Einhaltung der Schulpflicht keinen allzu großen Wert legte.
21
Verzweiflung
Wochen waren vergangen, und ich hatte von Anna nichts mehr gehört. Ob sie zwischenzeitlich ihr Baby bekommen hatte? War es ein Junge oder ein Mädchen? Einen Anruf von ihr würde man mir sicher verschweigen. Und ich wagte nicht, dieses Thema anzusprechen, es war tabu geworden. Auch ohne Ahmeds ausdrückliches Verbot, dorthin zu gehen, zog es mich nicht mehr in dieses Haus. Meine Erfahrung dort hatte mich tief verletzt, und selbst Anna gegenüber verspürte ich nun Mißtrauen. Die Nachrichten im Radio oder im Fernsehen wurden in Hocharabisch vorgelesen, das ich nicht verstehen konnte. Ich bedauerte das sehr, und so sagte ich einmal: »Ich möchte sehr gerne Hocharabisch lernen.« Wir saßen oben alle beim Tee zusammen, und man sah mich interessiert und verständnislos an. »Was soll der Unsinn? Du kannst dich unterhalten und verstehst alle sehr gut. Wozu also Hocharabisch?« fragte mein Mann. »Dann könnte ich Nachrichten verstehen, Ansprachen von Nasser enthalten manchmal Wörter, die ich nicht kenne, und den Koran könnte ich dann auch begreifen.« Hagg wurde sofort aufmerksam und meinte: »Das ist eine gute Idee. Man könnte einen Scheich bitten, ihr Lehrer zu sein.«
»Sie will ja nicht nur den Koran lernen, sondern Hocharabisch verstehen«, sagte Gamal, »ich könnte ihr Lehrer sein, und wir alle würden ihr helfen. So wie sie Umgangsarabisch mit unser aller Hilfe gelernt hat, würde das auch mit Hocharabisch gehen.« Alle nickten, nur Ahmed machte ein mißmutiges Gesicht. Offenbar hielt er das für Zeitund Energieverschwendung. Auch seine Mutter enthielt sich einer Meinung, sie sah in der ihr eigenen Art mit niedergeschlagenen Augen auf ihre Hände im Schoß und schwieg. Sie hielt meinen Wunsch wohl auch für völlig überflüssig. Viel sinnvoller wäre es, ein weiteres Kind zu bekommen, dazu brauchte man kein Hocharabisch. Hagg hatte der Gedanke, einen Scheich als Lehrer anzustellen, regelrecht beflügelt, und er überlegte laut: »Man könnte dem Scheich ihren Wunsch klarmachen, und er würde Heike im Verlauf des Sprachunterrichts auch den Koran lehren. Dann wäre es auch eventuell möglich, daß sie unsere Schrift lernt.« »Oh, das wäre wunderbar. Würdest du dich einmal umhören, wer eventuell dazu bereit ist«, wandte ich mich an Hagg. »Ja, so Gott will, werde ich jemanden finden.« Daß man mir auf diesem Wege den Islam näherbrachte, machte mir nichts aus, lernen war immer gut. Und für Hagg war es sicher ein guter Gedanke, daß man mich so ganz nebenbei in diese Religion einwies, wo ich doch selbst mit der Aussicht auf eine Erbberechtigung seinerzeit nichts von einer Konversion wissen wollte. Selbstverständlich würde eine Weile vergehen, ehe ein Scheich ins Haus käme, um mich zu unterrichten. Ein Plan und seine Ausführung waren zwei grundverschiedene Dinge. Wenn eine Angelegenheit besprochen wurde, die irgendwann in die Tat umgesetzt werden sollte, wurde sie fürs erste in Allahs Hände gelegt. Dort ruhte sie, bis man sich erinnerte oder erinnert wurde. Wenn sich dies zwei-
oder dreimal wiederholt hatte, ging man davon aus, daß Allah mit dem Plan einverstanden war, und er wurde realisiert. Also konnte ich mich darauf einstellen, daß ich etwa ab dem kommenden Winter Hocharabisch lernen würde; mit der ersten Hitze war gerade erst der Sommer ins Land gekommen. Es war wieder heiß geworden. Die Jahreszeiten wechselten immer plötzlich, ohne die milden Übergangszeiten, die ich im Frühling oder Herbst von zu Hause gewohnt war. Es gab auch kein erstes frisches Grün. Bäume, die hier vor sich hin dorrten, schlugen nicht aus. Es blieb alles trist und braun verstaubt und wurde jetzt nur von der unbarmherzigen Sonne grell ausgeleuchtet. Wie sollten hier auch Bäume oder Pflanzen ausschlagen. Seit zwei Jahren hatte es keinen Tropfen geregnet und selbst die Hydranten der Stadt lagen in Allahs Hand. Wenn es ihm gefiel, hatten die Stadtbeamten ein Einsehen und öffneten die Zuläufe. Wenn es ihm nicht gefiel, wurde es vergessen, und niemandem konnte man einen Vorwurf daraus machen. Tanta ist eine wüstennahe Stadt, die die Wolken, die von Alexandria herüberzogen, gar nicht erst an sich herankommen ließ. Sie verflüchtigten sich, ehe man sie in der Ferne gesehen hatte. Ich erlebte es in drei Jahren einmal, daß Allah ein Einsehen hatte und sich eine kleine Wolke über Tanta entleerte. Es war ein Ereignis. Fatma hatte vom Fenster aus gesehen, daß vereinzelte Tropfen fielen. Sie kam in den großen Saal gelaufen und rief: »Wasser, Wasser, es regnet. Kommt es euch ansehen.« Im Handumdrehen waren alle in heller Aufregung. Die Hausmädchen und die jüngeren Geschwister liefen die Treppe hinunter auf die Straße. Der Rest der Familie versammelte sich auf dem zur Straße gelegenen Balkon. Und nun sahen wir, daß viele Leute sich dort bereits aufhielten. Man hob die Arme zum Himmel, Triller der Freude waren zu hören, und man pries Allah. Nach zehn
Minuten war die Wolke leer. Die Straße war nicht einmal geschlossen feucht geworden, vielleicht waren die meisten der wenigen Tropfen aber auch sofort verdampft, als sie die Erde berührten. Enttäuschung konnte ich keine bemerken, nur die Freude blieb. Allah hatte in seiner Großmut gezeigt, wie gut er es mit den Menschen in Tanta meinte, und man dankte ihm überschwenglich. Auch Sim-sim freute sich und lachte, weil alle lachten. Ich nahm ihn auf den Arm, und während ich mit ihm wieder in meine Wohnung ging, erzählte ich ihm von vielen grünen Bäumen, von Blumen und grünen Rasenflächen. »Wenn wir die Omi besuchen, kannst du von ihrem Fenster aus drei große Kastanienbäume sehen, unter denen ich schon als Kind gespielt habe. Kastanienbäume sind wunderschön und haben große Blätter wie Fächer. Im Mai blühen die Bäume und sind übersät mit rosafarbenen oder weißen Kerzen. Nach einer Weile entstehen Früchte, die wie kleine grüne Kugeln aussehen. Noch etwas später platzen diese Früchte auf und zum Vorschein kommt die Kastanie, eine braune Kugel mit einem hellen Fleck. Damit kann man dann wunderschön spielen. Als ich klein war, habe ich Männchen daraus gebastelt oder Ketten, die ich dann der Omi und mir um den Hals gelegt habe.« Ich stellte mir vor, wie Sim-sim drinnen am Fenster stehen würde und staunend dem Regen zusah, wie er in Bächen die Scheibe herunterlief. Wann würde es soweit sein? Wir würden unsere Füße in Springbrunnen kühlen, Gänseblümchen pflücken oder den Ameisen zusehen. Mit solchen Gedanken beschäftigte ich mich ganz bewußt nicht oft. Sie waren zu anstrengend und zehrten an mir. Ich fühlte mich nicht mehr so lebendig und gesund wie zu Anfang meines Aufenthalts.
Um die Hitze des Tages zu überstehen, war ich sogar dazu übergegangen, in der Mittagszeit eine Stunde zu schlafen. Kaum hatte ich mich niedergelegt, schlief ich ein, als wäre ich körperlich erschöpft. Das jedoch konnte es nicht sein. Vielmehr war es so, daß mir die Demütigungen, auch die kleinen über den ganzen Tag verteilt, die ich von Ahmed erfuhr, zu schaffen machten. Es war doch nicht so einfach, zu überhören oder gar sich daran zu gewöhnen, wie ich mir das zu Anfang gedacht hatte. Es kam öfter vor, daß er mich während einer Unterhaltung in der Familie über die Menschen in Deutschland, ihre Art zu leben oder zu essen plötzlich lächelnd ansah und sagte: »Alle deutschen Frauen sind Huren.« Das sagte er natürlich auf deutsch, und ich saß stumm da. Hätte ich entsprechend reagiert, hätte es vor den anderen einer Erklärung bedurft. Eine solche Beleidigung hätte Hagg erläutert haben wollen. Wie ich ihn kannte, hätte er seinen Ältesten in einem solchen Fall in Anwesenheit der Familie zurechtgewiesen. Man hätte heftig auf Ahmeds Beleidigung reagiert mit dem einzigen Resultat, daß ich meiner Strafe sicher war. Ahmed würde unten in unserer Wohnung wieder ausrasten, mir die verdienten Ohrfeigen verabreichen, bevor er mich in sein Bett befahl. In Anbetracht des geplanten Arabischunterrichts wurde ich nun öfter mit der Erklärung des einen oder anderen Wortes vorbereitet. Vorwiegend Gamal pickte sich aus Ansprachen von Nasser oder den Nachrichten Worte heraus, übersetzte sie, ließ sie mich nachsprechen und fragte mich nach einer Weile ab. Aber auch Fatma, Omar und Jussuf übersetzten, wenn ich nachfragte, und sie ließen sich dann zum Beispiel das kehlige K wiederholen und amüsierten sich, wenn es mehr als ein kleiner Ruck in der Kehle war. Sie lobten mich aber auch, und so wurde die Sache zu einem richtigen Spaß. Nur Yazid
hielt sich zurück, er ignorierte meine Übungen vollends und ging schweigend an uns vorbei, wenn wir über ein Wort lachten, das mir nicht gelingen wollte. Aber auch die endlosen Gesänge von Um Kalzoum über Liebesglut, Sehnsucht und unerfüllte Träume boten mir Anlaß zu lernen, und ich hörte Worte, die ich noch nicht kannte. Lachend wurde ich oben begrüßt, wenn ich auf der Treppe eine Liedzeile von ihr gesungen hatte, Worte und Melodie jedoch nicht ganz stimmten. Begeistert schlug Hagg sich auf die Schenkel. Es gefiel ihm ganz einfach, wie ungeniert ich manches falsch aussprach. Natürlich wurde ich sofort berichtigt und mußte es so lange wiederholen, bis es richtig war. Daran beteiligten sich dann alle. An einem angehauchten H zum Beispiel wurde endlos gefeilt, und alle freuten sich, wenn es dann saß. Oder man ließ mich bis hundert zählen, wobei dann Jussuf, der Jüngste, die Führung übernahm. Er achtete darauf, daß ich keine Zahl ausließ und das R bei arba, vier, am Gaumen rollend nur andeutete. Die Hitze wurde fast unerträglich in diesem Jahr, und wenn Hagg von seinen Geschäften nach Hause kam und das Haus betrat, war er schweißüberströmt und sprach von der kochenden oder brennenden Welt. Hagge stand dann mit einem großen Handtuch für ihn bereit, und er verschwand fürs erste im Bad, um sich Erleichterung zu verschaffen. Nach einem kleinen Imbiß und einem kühlen Getränk legte er sich dann nieder, und niemand durfte ihn mehr stören. Die Unantastbarkeit der Schlafens- und Essenszeiten ist ein fester Bestandteil der ägyptischen Sitten, auch in meiner Familie. Niemand wurde gestört, wenn er aß, und niemand wurde geweckt, wenn er schlief. Auch bei einer dringenden Sache, einem wichtigen Telefonanruf zum Beispiel, bot der Anrufer sofort ein späteres Gespräch an, wenn er erfuhr, daß der Verlangte aß oder schlief. Die
Achtung vor diesen elementaren Dingen des Lebens gefiel mir sehr. Eine solche Rücksicht, auch vor dem jüngsten Familienmitglied, war mir unbekannt, sowie auch das große Selbstverständnis im achtungsvollen Umgang miteinander. Allerdings galt dies alles selbstverständlich nicht für Bedienstete und Personal. Und wieder war eine Reise nach Kairo, ein Besuch bei Rahn geplant. Gern nahm ich das Gedrängle im Auto in Kauf, wenn es um eine solche Abwechslung ging. Lieb und fürsorglich, wie Rahn war, konnte man sich bei ihr nur wohl fühlen. Wie immer wurden diese Besuche in Kairo mit Haggs geschäftlichen Besorgungen in Oberägypten verbunden. Diesmal waren auch Fatma und Omar mit dabei. Bei unserer Ankunft ließ Hagg uns vor Rahns Haus aussteigen und fuhr gleich weiter nach Heluan. Erst am Abend bei seiner Rückkehr würde er seine Tochter begrüßen. Als sich die schmiedeeiserne Aufzugstür öffnete, stand Rahn bereits in der geöffneten Wohnungstür, um uns willkommen zu heißen. Sicher hatte sie das Auto vom Balkon aus gesehen. Ihr freudiges Palaver war wunderschön. Nacheinander nahm sie uns in den Arm, um jeden von uns zu küssen und an sich zu drücken. Fatma hatte sie lange nicht mehr gesehen, und an den Schultern gefaßt schob sie sie auf Armeslänge von sich und betrachtete ihre kleine Schwester. »Jesseläm, bäet Arussa helua – Mein Gott, bist eine schöne Braut geworden«, woraufhin Fatma die Augen niederschlug und rot wurde. Omar wurde von der kleinen hellblonden Narin in die Wohnung gezogen, um ihm etwas zu zeigen. Die übrigen Kinder waren in der Schule. »Kommt rein, ich habe das Frühstück vorbereitet. Ich habe extra Daamäea für dich besorgt, Heiuka, weil du die so gerne magst. Wir müssen nur noch deinen europäischen Kaffee machen, da mußt du mir noch einmal helfen.«
Es war so gemütlich bei ihr, als wir zusammensaßen. Sie hatte sogar an Butter gedacht, die hier sonst niemand aß. Später kam dann Gamal von der Universität herüber, und wir verbrachten gemeinsam den Tag. Als wir die breiten Boulevards mit den schönen Geschäften entlangschlenderten, hakten wir Frauen uns ein, und Fatma war voller Begeisterung. Sehr selten war sie in Kairo, und ihre Bewunderung war groß. Was gab es nicht alles in diesen eleganten Schaufenstern zu bestaunen. Mich interessierten weniger die Auslagen, ich genoß dieses europäischorientalische Flair. Auch wenn man hier Reparaturbedürftiges niemals sofort in Angriff nahm und zuerst einmal in Allahs Hände legte, verfielen Häuser nicht bereits kurz nach ihrer Fertigstellung wie in Tanta. Ich hatte gelernt, lästige Bettler mit einem Lächeln zu übersehen, und sie störten mich nicht mehr im geringsten. Ich betrachtete die großen imposanten Wohnhäuser mit ihren Marmoreingängen, in denen meist stattliche, sehr dunkelhäutige Sudanesen in weißen Galabijas und einem roten Tarbusch auf dem Kopf, die gerne als Pförtner angestellt wurden, erhaben demonstrierten, daß Unbefugte unerwünscht waren. Einem eintreffenden Hausbewohner wurden fürsorglich die Einkäufe abgenommen und die Aufzugtür geöffnet. Ruhig und freundlich bekam man auf jede Frage eine Antwort, und auch wenn man in dunklen Ecken nicht vom Boden essen konnte, war diese Art wohltuender als die hektische Betriebsamkeit eines reinlichen Hausmeisters in Deutschland, dem kein Stäubchen entging. Neben der zuvorkommenden Freundlichkeit war immer wieder die große Kinderliebe zu spüren. Jedes ins Haus gehörende Kind wurde freundlich begrüßt und zum Aufzug begleitet. Hier brauchte kein Kind Angst vor einem Portier zu haben, weil es vielleicht einmal zu laut war oder im Eingang etwas fallen gelassen hatte.
Wie wunderschön waren die großen alten Hotels, die direkt am Nil erbaut waren, die Bäume entlang der breiten Straßen am Fluß waren grün belaubt, nicht braun und verdorrt und mit feinem Sand bedeckt wie in Tanta. Orient und Okzident waren hier so nahe beieinander, und diese Mischung hatte einen unaussprechlichen Reiz, eine Atmophäre voller Flair. Elegante Hotelgäste wurden vom Portier an ein Taxi geleitet, während eine Bäuerin in ihrer langen schwarzen Galabija und mit darübergewundenen Schleier, einen großen Korb auf dem Kopf tragend, vielleicht zur Küche am Hintereingang unterwegs war, um Obst oder Brot abzuliefern. Auf der vierspurigen Straße war reger Verkehr zu beobachten. Esel zogen im eiligen Tritt ihre Lastkarren mit ihrem obenauf thronenden Herrn, wobei sie von laut hupenden deutschen und amerikanischen Autos überholt wurden. Seltener, aber doch gelegentlich wurde ein Kamel an einem Strick durch dieses Gewühl gezogen. Immer wenn ich durch Kairo oder auch durch Alexandria ging, träumte ich davon, hier zu wohnen, hier zu leben. Welche Möglichkeit hatte ich, Ahmed zu einer Übersiedlung zu überreden? Ohne einen triftigen Grund würde niemand meinen Wunsch verstehen. Vielleicht sollte ich doch einmal mit Geduld und Geschick beginnen, Hagg von meinem Wunsch zu erzählen und bei ihm meine Sehnsüchte deutlich machen, denn bei meinem Schwiegervater war am ehesten die Erfüllung eines Wunsches möglich. Würde ich ihm verständlich machen können, was das für mich bedeutete? Viel Zeit würde allein mein vorbereitendes Schwärmen für eine dieser Städte in Anspruch nehmen. Ahmeds Bequemlichkeit und seine Vorliebe für gutes Essen mußten berücksichtigt werden, das nur mit einem guten Hausmädchen, das wirklich zu kochen verstand, ihm zu bieten war. Aber wollte ich das überhaupt? War es nicht
vielmehr so, daß ich mit diesem Mann nicht einmal im Paradies glücklich sein konnte? Gegen Abend saßen wir im Americain, schlürften unseren Saft und ließen die Leute an uns vorbeiflanieren. Fatma, die mich immer wieder auf das eine oder andere aufmerksam machte, schwärmte noch immer von den schönen Dingen, die sie heute gesehen hatte. »Ihr müßt mich öfter besuchen. Vor allem Heike, für die Kairo ja etwas ganz anderes ist als Tanta«, schlug Rahn vor und überlegte kurz. »Weißt du was, ich rede mit Ahmed, und bei deinem nächsten Besuch bringst du Nessim mit und bleibst eine Woche hier. Was hältst du davon?« Ich war begeistert, bezweifelte jedoch, daß Ahmed damit einverstanden sein würde. Normalerweise waren bei Plänen und allgemeinen Überlegungen für die Zukunft alle zuversichtlich und hoffnungsvoll, aber in diesem Fall meinte sogar Gamal: »Daraus wird wahrscheinlich nichts werden. Ahmed liebt es nicht, wenn Heike unterwegs ist, und ich kann das sogar verstehen. Eine gute Frau hält sich im Haus des Mannes auf, das weißt du aber doch auch, Rahn.« Gamal wußte sehr genau, daß Ahmed immer bemüht war, mir bloß keine Möglichkeit für eine Flucht zu gewähren. Offen gesprochen wurde selbstverständlich nie darüber, Gamal war es jedoch sicher nicht entgangen, daß meine Beziehung zu Anna nicht mehr bestand, daß Bekanntschaften mit Deutschen nach Möglichkeit unterbunden wurden, daß ich jeden Morgen fünfundzwanzig Piaster ausgehändigt bekam, einen Betrag, der nicht einmal für ein Bahnticket zur nächsten Stadt gereicht hätte. Aber abends, nachdem Hagg und Ahmed aus Heluan nach Kairo zurückgekehrt waren, brachte Rahn unbeirrt dieses Thema zur Sprache. Sobald sie Vater und Bruder eine Kleinigkeit zu essen bereitet hatte, fragte sie Ahmed:
»Ich habe Heike eben vorgeschlagen, uns hier eine Woche mit Nessim zu besuchen. Was hältst du davon? Nessim könnte mit Narin spielen. Für Heike habe ich einen Delikatessenladen entdeckt, der diesen Aufschnitt anbietet, von dem sie schon erzählt hat. Viele Läden könnte ich ihr zeigen, für die in den paar Stunden an einem Tag nie Zeit ist. Wir könnten Latifa besuchen. Also, was sagst du?« Er setzte ein liebenswürdiges Lächeln auf und dankte seiner Schwester für ihre Freundlichkeit. Er wünschte ihr Allahs Segen und sagte: »Inshaallah, bald.« Damit war die Angelegenheit erledigt, und niemand sprach wieder darüber. Gamal war bereits aufgebrochen, er mußte zu einer bestimmten Uhrzeit in seinem Wohnheim sein, und wir machten uns auch auf den Weg nach Tanta. Eine neue Jahreszeit brachte auch immer die Schneiderin ins Haus. Für einen neuen Sommer oder Winter benötigte man neue Kleider. Die Schneiderin, deren Namen ich nie erfuhr, kam schon seit Jahren in dieses Haus und war sehr geschickt. Hagge hatte für einen solchen Tag immer eine Liste mit diversen Kleidungsstücken, die angefertigt werden sollten. Da wurden Blusen, Röcke und Jacken für Fatma, Kleider, Jacken und leichte Mäntel für Hagge und auch hier und da Galabijas für die Hausmädchen bestellt. Und seitdem ich hier war, wurden meine Wünsche gleich mit aufgenommen. Meine Maße hatte die Schneiderin früher bereits festgehalten, und nun zeigte ich ihr die Abbildung einer Modezeitschrift aus Deutschland. In Erinnerung an die Geburtstagseinladung von Bäsma mit den festlich gekleideten Damen hatte ich mir in Kairo ein paar Meter Silberlame gekauft, um für eine ähnliche Gelegenheit gerüstet zu sein. Es sollte ein schmales Etuikleid werden, was sich in dem Journal sehr elegant ausnahm. Außerdem brauchte ich noch ein Kostüm und einen Hausanzug. Auch dazu hatte ich Anregungen in der Zeitschrift gefunden, und ich war sicher, daß die
Schneiderin mit ihrer Geschicklichkeit die vorgegebenen Bilder genau kopieren würde. Bisher war es immer so gewesen, und die angefertigten Kleider waren zu meiner vollen Zufriedenheit ausgefallen. Als die Beratungen beendet und alles in Auftrag gegeben war, zog sich Hagge in ihre Sofaecke zurück. Von meinem Geschmack hielt sie so gar nichts. Auch bei ihren erwachsenen Töchtern mußte sie mitunter schlucken, enthielt sich aber jeder Äußerung bei einem etwas zu offenen Kleiderausschnitt oder einem allzu engen oder zu kurzen Rock. Schließlich waren sie verheiratet, und Ratschläge in dieser Richtung waren überholt, denn die Ehemänner der neueren Zeit liebten es, wenn ihre Frauen europäisch schick daherkamen, und die Ehemänner hatten schließlich das letzte Wort. Fatma sah sich interessiert meine Modezeitungen an. »Wenn du in deinem Heimatland ein neues Kleid brauchst, bestellst du dann auch die Schneiderin oder kann man diese schicken Sachen in Geschäften bereits fertig kaufen?« fragte Fatma mich. »Schneiderinnen gibt es zwar schon noch, aber meistens findet man in Geschäften, was man sucht. Und Konfektion ist natürlich immer billiger als Maßgeschneidertes.« »Ach ja, würden wir in Kairo wohnen, könnten wir das vielleicht auch so machen. Da habe ich wunderschöne Sachen gesehen, die ich mir gerne gekauft hätte. Hier in Tanta kannst du dir Galabijas und vielleicht Schlafanzüge kaufen, aber wirklich schicke Sachen kriegst du nicht.« Ihre Mutter, die uns zugehört hatte, sah sie strafend an und brachte sicher die schicken Dinge, die Fatma im Kopf hatte, mit Gefallsucht in Verbindung. Öfter wurde um ein paar Zentimeter Rocksaum gefeilscht, weil Fatma ihren Faltenrock der Schuluniform vor dem Knie enden ließ, und nach Hagges Geschmack sollte das Knie
bedeckt sein. Fatma war schon heimlich bei der Schneiderin gewesen und hatte die abgemessene Länge für einen neuen Faltenrock kürzer in Auftrag gegeben, und Hagge ärgerte sich dann später über die Vergeßlichkeit der Schneiderin. Ahsähn, die natürlich Bescheid wußte, sah bei solchen Gelegenheiten mit völlig ausdruckslosem Gesicht ihrer jungen Herrin in die Augen und verließ dann den Raum. Sie log nicht gern, aber für kein Geld auf der Welt hätte sie Fatma auch nur mit einem Zwinkern verraten. An diesem Nachmittag war es mal wieder unerträglich heiß, und obwohl ich mir für diesen Tag einen Spaziergang zum Amerikanischen Club vorgenommen hatte, verschob ich ihn auf den Abend, vielleicht hatte jemand von der Familie Lust mitzugehen. Alle Türen und Fenster waren geschlossen, und es war fast dunkel in der Wohnung. Bei der kleinsten Bewegung brach der Schweiß aus, und alle hatten sich hingelegt, selbst die Mädchen lagen auf dem kühlenden Steinfußboden in der Küche und ruhten sich aus. In der absoluten Stille wollte ich Nessim vorsichtig auf den Arm nehmen, der auf einem Sofa eingeschlummert war, ließ ihn aber dann doch liegen. Wenn er wach wurde, käme er auch alleine zu mir runter. Ich brauchte ihn also nicht zu stören, außerdem saß Gameläd vor dem Sofa auf der Erde, die auch mit dem Schlaf kämpfte. Daher nahm ich nur meine Modejournale und ging zur Treppe. Auf dem Podest zwischen zwei Treppen bemerkte ich eine Bewegung hinter mir. Ich blieb stehen und drehte mich um. Mit einem Grinsen im Gesicht stand Yazid vor mir. Dieses Grinsen bezog ich zuerst einmal nicht auf mich, denn mir war er eher immer ausgewichen, und ich konnte wirklich nicht sagen, daß er mir sympathisch war. Überrascht und etwas erschreckt sagte ich zu ihm: »Du
schläfst nicht? Wolltest du etwa in dieser Hitze rausgehen?« »Nein, ich habe etwas Besseres vor.« Während er das sagte, gab er mir einen leichten Stoß, und ich stand nun ganz in die eine Ecke gedrängt. »Was soll das, Yazid? Bist du verrückt geworden?« »Vielleicht bin ich ja verrückt, aber mit Gamal tust du lieb, mit Gamal lachst und singst du und ihn küßt du auch.« Sein Grinsen war nun breiter geworden und er war mir unangenehm nah gekommen. »Und so wie du ihn küßt, wirst du jetzt mich küssen!« Durch Hilferufe würde ich sicher jemanden wecken und herbeiholen können, aber wie würde die Situation für mich aussehen? Wie würde mein Wort, das einer Frau, gegen das vom Sohn des Hauses gewertet werden? »Du bist im Irrtum, Yazid, wie kommst du auf eine solche Idee? Niemals habe ich Gamal geküßt. Dein ältester Bruder ist mein Ehemann, weißt du eigentlich, was du da sagst?« »Mir kannst du nichts erzählen. Ich habe euch beide beobachtet, das geht ja schon eine ganze Weile so, und jetzt bin ich dran.« Ich dachte an Ahsähns warnende Worte, nachdem Gamal mir ohne eine weitere Begleitung das Kairoer Museum und ein bißchen von der Stadt gezeigt hatte. Ich hatte auch einmal erlebt, wie man in unserer Straße eine vermeintliche Ehebrecherin mit Stöcken vor sich her trieb. Die Frau hatte versucht, indem sie beide Arme schützend um den Kopf gelegt hatte, vor dieser wild schimpfenden Meute zu flüchten. »Sharmota, sharmota – Hure«, rief man hinter ihr her. Meine Familie hatte sich wegen des Geschreis auf dem Balkon versammelt. Man nickte sich zustimmend zu, und Sakäja, die auf der Straße mit einem Hausmädchen aus der Nachbarschaft sprach, wußte zu berichten, daß diese Frau schon immer unanständig freundlich mit Männern redete, die sie kaum
kannte, jetzt bekam die ihre verdiente Tracht Prügel. Keine Sekunde brauchte ich daran zu zweifeln, daß, würde jemand wach und aufmerksam werden, Yazid die Situation so darstellen würde, als hätte ich mich angeboten. Und mit meiner fremdartigen lockeren Art, mit der ich nach Ahmeds Meinung die Familie in Verruf brachte, war mir eine solche Morallosigkeit durchaus zuzutrauen. Angst packte mich, und ich war in diesem Moment wie gelähmt. Als Yazid jedoch seinen Oberkörper an meinen lehnte, doch die Füße stehen ließ, reagierte ich blitzschnell. Ich stieß ihm mein Knie zwischen die Beine, und er nahm mit einem verhaltenen Schrei die Arme von der Wand und griff sich an die schmerzende Stelle. Blitzschnell fiel ich mehr als ich lief die letzten Stufen hinunter in meine Wohnung und verschloß von innen die Tür. Völlig kraftlos und bewegungsunfähig lehnte ich mich in der Diele an die Wand und ließ mich langsam auf die Erde gleiten. Noch immer war es im Haus totenstill, und ich hockte minutenlang dort auf dem Boden und zitterte wie Espenlaub. Als das Zittern nachließ, stand ich auf und ging ganz ruhig in die Küche. Mein Kopf war völlig leer, und ich fühlte auch nichts. Ganz ruhig schloß ich die zweiflügelige Küchentür, legte zwei Handtücher vor die Tür auf den Boden, klinkte beide Fenster ein und ging zum Gasherd. Ich öffnete alle fünf Knöpfe an der Bedienungsleiste und klappte dann die Backofentür auf. Nun legte ich mich auf den Boden und meinen Kopf auf die Backofentür mit dem Gesicht ganz dicht an die Öffnung. Das leise Zischen des ausströmenden Giftes war beruhigend, und ich wartete auf die Ohnmacht, die sich ja wohl vor dem Tod einstellen mußte. Ich überlegte noch, ob für meine Unternehmung zwei bis drei Stunden reichen würden. Erst dann würden meine Verwandten langsam aufwachen, und es würde Tee geben. Das Gas hatte mich
nach einer ganzen Weile in einen Schwebezustand versetzt, und mit einem Rest von Verstand bemühte ich mich, ganz tief einzuatmen, um die Sache zu beschleunigen. In diesem Moment hob mich jemand hoch. Entfernt hatte ich ein berstendes Krachen gehört, war aber nicht mehr in der Lage gewesen, die Augen zu öffnen. Ich lag auf dem Bett, in dem ich die ersten Monate nach meiner Ankunft geschlafen hatte. Man hatte mich also in die Wohnung meiner Schwiegereltern hochgeholt. Als ich die Augen aufschlug, stand Ahmed vor mir. Er hielt mir ein Glas Tee hin und sagte: »Setz dich auf und trink diesen Tee. Er wird dir guttun.« Diesmal lächelte er nicht und sah ernst auf mich runter. »Ich verstehe dich nicht. Dir geht es besser als den meisten Menschen auf dieser Welt. Was bringt einen Menschen nur zu einer solchen Untat? Du hast die ganze Familie in Aufruhr versetzt, so etwas ist unglaublich.« Dann erzählte er mir noch, daß er sich während der ganzen Zeit in seinem Zimmer aufgehalten habe. Er hatte geschlafen, und obgleich sein Zimmer am Ende des großen Saales und zur Straße lag, grenzte es gleichzeitig an den Treppenaufgang und hatte eine direkte Zugangstür zum Treppenhaus. Es war als Salon geplant, damit eventuelle Gäste keinen Umweg durch die ganze Wohnung zu nehmen brauchten. Einen Salon mit goldenen Sesseln, Tischchen und Vitrinen hatte ich nicht haben wollen und diesen Raum als Ahmeds Schlafzimmer eingerichtet. Durch die Nähe zum Treppenhaus war man in dem Zimmer in der Lage zu hören, was auf der Treppe geredet wurde. Ich wurde mißtrauisch, ohne es ihm zu zeigen. Hatte er wirklich nichts gehört, schlief er so fest? Oder sollte ich hier eventuell in eine Falle gelockt werden? Handelte es sich um eine jener Intrigen, die zu planen man sich hier viel Zeit ließ und durch Tüfteln und Sinnieren
undurchschaubar perfekt machte. Man war unglaublich stolz und amüsierte sich königlich, wenn es gelungen war, jemanden zu übertölpeln, hinters Licht zu führen oder einer Untat zu bezichtigen. Hatte Ahmed möglicherweise hinter der Tür in seinem Bett gelegen und gewartet, wie die Auseinandersetzung zwischen Yazid und mir ausginge, um dann durch seine Tür plötzlich auf die Treppe hinauszutreten und mitansehen zu können, wie mir Yazid Gewalt antat? Oder dachte auch ich schon in Winkelzügen und belastete mich mit düsteren Gedanken, die mir das Leben noch schwerer machten? Unklarheiten wurden hier nicht ausgeräumt, nichts wurde klar und deutlich. Auf eine direkte Frage gab es nie eine konkrete Antwort, und mit Allahs Hilfe ließ man auch gerne so manches im Nebel. Unentwegt wurden kleine Fallstricke gesponnen, und Über- oder Untertreibungen gehörten zum täglichen Leben. Um damit zurechtzukommen, mußte man wohl damit aufgewachsen sein. Wenn ich mit meiner Vermutung recht hatte, würde Ahmed sich keine Gedanken zu machen brauchen wegen des Versprechens, das Hagg mir vor langer Zeit einmal gegeben hatte. Eine Frau, die die Ehre ihres Ehemannes durch Sittenlosigkeit besudelte, wurde drakonisch bestraft. Ein ihr gegebenes Versprechen wurde ungültig; sie war nicht mal mehr einer Beachtung wert. Inwieweit dieses mir von Hagg gegebene Versprechen mehr als ein Strohhalm war, konnte ich nicht sagen, es war in letzter Zeit nicht mehr darüber gesprochen worden. Hagg betrat das Zimmer, zog sich den kleinen Sessel, der immer vor der Frisierkommode stand, neben das Bett und saß mir nun gegenüber. Ahmed war leise hinausgegangen und hatte die Tür hinter sich zugezogen. Ich erinnerte mich an die schweren Wochen meiner Krankheit, als Hagg täglich voller Fürsorge mein Befinden überwacht hatte. Jetzt trug er eine weiße Galabija, ließ unentwegt
seine Bernsteinkette durch die Hände gleiten und sah mich an, sehr ernst und schweigsam. Mit einem Mal sagte er sehr leise: »Warum hast du das getan? Das hättest du nicht dürfen.« Dann fuhr er lauter fort: »Was du getan hast, hat Allah den Menschen verboten. Seine Strafe wird furchtbar sein, und ich kann nur für dich beten.« Wäre ich fähig gewesen, nachzudenken, als ich mich vor den Gasherd legte, hätten Gedanken an mein Kind mich eventuell davon abhalten können. Auch Bilder meiner Mutter und die Vorstellung, wie sie von meinem Tod erführe, wären zu traurig gewesen; nie hätte ich ihr das antun können. Mich hatten keine Gedanken an meinem Tun gehindert, wie ein Automat war ich nur dem einen Wunsch nachgegangen, endlich ein Ende zu machen. Begreifen, Verstehen und Hinnehmen waren mir abhanden gekommen. Und Yazid war nur ein Tropfen in dem großen Faß gewesen, der es dann zum Überlaufen gebracht hatte. Ich war kein sehr gläubiger Mensch, und Gott war mir nie besonders nah gewesen und ob Hagg haderte, berührte mich nicht. Mochte er beten um die Verzeihung meiner Todsünde, zu Allah, den Propheten oder Jesus Christus, der ja wohl eher für mich zuständig war, mir war das völlig gleichgültig. Wenn Gott, falls es ihn gab, mir bei meinem Jammer zugesehen hatte, konnte er mir auch bei meiner Suche nach einem Ende dieses Jammers zusehen. Nichts und niemand auf dieser Erde und im All hatte das Recht, mich für meine Verzweiflung zu strafen. Eine Reise nach Deutschland wäre in meiner momentanen Verfassung für mich Seligkeit und Heilung gewesen. Nur gab es in diesem Teil der Erde niemanden, der das begriff. Ein Trugschluß, wie sich herausstellen sollte. Gamal, der auf Wochenendbesuch war, kam mich sogleich besuchen, als er von dem Vorfall erfuhr. Ich hörte ihn schnellen Schrittes durch den kleinen Saal
kommen, und in der Wohnzimmertür blieb er wortlos stehen, sah mich an, kam auf mich zu und nahm mich in seine Arme. Er umarmte mich wahrhaftig und hielt mich fest. Und endlich liefen die Tränen. Ich weinte, als könne ich nie wieder aufhören. Als der Krampf sich löste und die Tränen langsam versiegten, sagte er warm lächelnd: »Jetzt bist du ganz zugequollen und überhaupt nicht mehr schön.« Noch eine Weile saßen wir schweigend auf dem Sofa, und dann fragte er: »Was ist so Furchtbares geschehen. Erzähl mir, warum du das getan hast. Dafür muß es einen Grund gegeben haben, du bist doch im allgemeinen ein fröhlicher Mensch. Hagg war außer sich, du weißt vielleicht nicht, daß das in unserer Religion eine der größten Sünden ist. Nur Gott darf das Leben nehmen, das er gegeben hat. Mein Vater ist ein streng gläubiger Mensch, aber auch er hat sich Gedanken gemacht und ein langes Gespräch mit Ahmed gehabt. Hagge hat mir erzählt, daß er meinen Bruder zu sich ins Zimmer gerufen hat. Zuerst hat er wohl ruhig mit ihm gesprochen, ihn aber dann fürchterlich angebrüllt. Es sei an der Zeit, daß du deine Mutter besuchen müßtest. Ahmed sei selbst daran schuld, wenn er befürchten müsse, daß du nicht zurück kämest. Zweieinhalb Jahre habe die ganze Familie beobachten können, wie gleichgültig und oft feindselig er dich behandelt habe. Und wenn er eine Frau aus einem fernen Land heirate, müsse er wissen, daß sie sich anders verhält als eine Frau aus Ägypten. Natürlich müsse die Frau tun, was der Mann sagt, aber was denn noch Schreckliches passieren müsse, ehe er sich herablasse. Wir alle liebten dich und der einzige Weg, daß du dich hier heimisch fühlst, wäre der der Freundlichkeit und des Verständnisses. Und zum Schluß hat er ihm tatsächlich eine Art Ultimatum gestellt. Zwei bis drei Monate gebe er ihm Zeit, um wieder ein normales Eheverhältnis herzustellen. Sonst würde er
dafür sorgen, daß du deine Mutter besuchen kannst. Allerdings würde Nessim dann hierbleiben, um zu gewährleisten, daß du wieder zurückkommst.« Ich sah Gamal sprachlos an und konnte erst einmal gar nichts sagen. »Nun sag mir aber bitte, was geschehen ist.« Gamal machte einen so aufrichtigen Eindruck. Er war mir wie ein Bruder, den ich nie gehabt hatte, und ich war nahe daran, ihm die Geschichte mit Yazid zu erzählen. Ein letzter Rest an Zweifel hielt mich davon ab. Ich konnte auch bei ihm nicht kalkulieren, wie er reagieren würde. Würde er über seinen kleinen geilen Bruder lachen oder würde er ihn zur Rede stellen? Letzteres wollte ich auf keinen Fall, weil möglicherweise dann die ganze Familie davon erführe. Die Schuldfrage in einer solchen Angelegenheit brauchte nie geklärt zu werden, weil zweifelsfrei die Frau die Verführerin war. Selbst bei genauer Schilderung des Hergangs auf der Treppe würden Zweifel an meiner Moral sich festsetzen. Meine Stellung hier war kompliziert genug, und so erzählte ich Gamal nur von Ahmeds Unfreundlichkeit, von meinem Heimweh und daß ich mich sehnte, meine Mutter wiederzusehen. Er nickte, verstand und meinte: »Warte noch eine kleine Weile und sprich Hagg dann auf sein Versprechen an. Ich denke, so wie er mit Ahmed gesprochen hat, wird sich alles zum Guten wenden, und vielleicht kannst du ja das nächste Weihnachtsfest mit Nessim und Ahmed in Deutschland erleben.« Unter anderen Umständen wäre ich jetzt aufgesprungen und singend und lachend durch die Zimmer gehüpft, beglückt allein von dieser Vorstellung. Aber in mir war kein Singen und Lachen. In letzter Zeit hatten mich meine depressiven Stimmungen häufiger an mir selber zweifeln lassen. So hatte ich die Gewohnheit
angenommen, wenn ich abends Sim-sim ins Bett gebracht hatte, Gameläd oben bei den anderen Dienstmädchen war und ich mich in der Wohnung allein aufhielt, den immer noch unmöblierten kleinen Saal mit immer der gleichen Anzahl von Schritten zu durchmessen. In meinem imaginären Viereck ging ich immer acht mal acht Schritte und brauchte überhaupt nicht aufzuhören. Ich ging und ging und zählte und zählte, und manches Mal kam ich irgendwann zu mir, und in dem nebelhaften Bewußtsein, bald verrückt zu werden, lief ich hinauf und setzte mich wie die andern vor den Fernseher.
22
Ein kurzes Durchatmen
Man wich mir nicht aus, aber einen gewissen Abstand nahm ich jetzt wahr. Die unbefangene, warme Freundlichkeit bei den jüngeren Geschwistern Ahmeds vermißte ich. Sie hatten mich immer behandelt wie ihre Schwester, und nun fühlte ich ihre Augen beobachtend auf mir ruhen. Unerwarteterweise umgab mich jetzt Hagge mit einer Fürsorge, die nicht nur mir auffiel. Sie zitierte mit dreimaligem Händeklatschen Sakäja mehrmals herbei. Kahk, Gebäck, sollte sie für mich bringen, den Schmand, den sie beim Abkochen der so fetten Gamussenmilch für mich auf einem Tellerchen gesammelt hatte, mußte sie aus der Küche holen, und Flagge sah mir befriedigt zu, wie ich ihn mit Behagen verzehrte. Viele Kleinigkeiten fielen ihr jetzt ein, um mich zu verwöhnen. Einmal nahm sie meine Hand, als ich neben ihr auf dem Diwan saß, sah mich lieb an und meinte: »Allah ist bei uns, bald wirst du wieder fröhlich sein. Ich bin mir ganz sicher.« Und so kündigte sich eine Erholungsphase für mich an, ähnlich der Zeit nach meiner Krankheit. Abwechslungen wurden organisiert. Gemeinsame Spaziergänge zum Amerikanischen Club, Einkaufsbummel, bei denen ich mir immer etwas Hübsches aussuchen sollte. Hagg ließ riesige Mengen Manga in die Wohnung schleppen mit der Order: »Wenn Heiuka genug davon hat, können auch die anderen davon haben.« Noch heute habe ich eine Vorliebe für dieses Obst. Ungewohnte Freundlichkeiten
erfuhr ich auch von meinem Mann, und ich fand nicht die Spur von Gezwungenheit im Ton seiner Stimme. Bei einer Autofahrt auf längerer Strecke, Gamal fuhr, fragte mich Ahmed, ob ich nicht Lust hätte, den Wagen zu fahren. Stotternd vor freudiger Überraschung war ich einverstanden. Solche kleinen Begebenheiten brachten den Alltag für mich wieder ins Lot. Äußerlich, versteht sich. Nur Yazid ging mir auffällig aus dem Weg, ich sah ihn kaum noch. Bei den Hausmädchen hatte ich den Eindruck, daß die Neugier, mit der sie mich immer betrachtet hatten, einer gewissen Ängstlichkeit gewichen war. Meinen Selbstmordversuch konnten sie am wenigsten begreifen. Wie konnte man sich derart versündigen, und es war ihnen ganz klar, daß ich von einem ganz besonders teuflischen Dschinn besessen sein mußte. Gameläd war geflohen und wollte nicht mehr bei mir arbeiten, sie hatte Angst vor mir. Ibrahim hatte sie am Ende der Treppe, als sie geheimniskrämerisch eines Tages runterschlich, abgefangen, als ihm auffiel, daß sie ungewohnt rundlich geworden war. Er wußte sofort, was das bedeutete, und hatte sie gegen ihren Willen an der Hand nach oben gezogen. Mit der Auskunft, er müsse Gameläd zu Hagg bringen, kam er kurz an meine Tür und zog das Mädchen dann weiter hinter sich her. Es stellte sich heraus, daß sie mit dem Entschluß, die Stellung bei mir aufzugeben, mehrere Kleidungsstücke von mir übereinandergezogen hatte, ehe sie endgültig das Haus verlassen wollte. Während der Strafpredigt, die Hagge und nicht Hagg, die sie auch ausgezogen hatte, ihr hielt, stand sie mit gesenkten Augenlidern wortlos da und verzog keine Miene. Hagg wollte mich trösten: »Mach dir nichts daraus, ich werde dir ein neues Mädchen mitbringen. Gameläd taugte sowieso nicht viel.« Daß man die Sache und auch
den Diebstahl so ruhig aufnahm, sagte mir, daß man Gameläds Angst verstand, und mit dieser Erkenntnis konnte auch ich die Reaktionen der einzelnen Familienmitglieder besser nachvollziehen. Bald fand man zum alten lockeren Ton zurück, und ich hielt mich mit Nessim, der ohnehin ständig zwischen oben und unten pendelte, viel in der Wohnung meiner Schwiegereltern auf. Man rief mich zu Mahlzeiten, wenn es etwas gab, das ich besonders gerne mochte, oder zum Tee am frühen Abend, und es war schön so. Trost, der bei Gamals Erzählung über die Unterredung zwischen Hagg und Ahmed nicht in mir aufgekommen war, empfand ich jetzt. Nach seinen Worten war eine Deutschlandreise nun doch in den Bereich der Wahrscheinlichkeit gerückt. Dieses Wissen versetzte mich in gute Stimmung, und jetzt empfand ich sogar wieder so wie früher das Gefühl der Geborgenheit in dieser großen Familie. Doch oft fühlte ich in Gedanken Schnee in meinen Händen oder sah Springbrunnen inmitten von grünem Rasen, und dann lachte ich in Vorfreude mit den anderen, die sich ihrerseits über einen lustigen Film amüsierten. Ich habe Ahmed nie als Vater erlebt. Er und Nessim lebten, so wie es sich mir darstellte, als Bekannte nebeneinander her. Kaum, daß Ahmed jemals das Wort an Sim-sim richtete oder ihn einmal auf den Arm nahm. Von liebevoller Fürsorge und freundlichen Worten, mit denen die ganze Familie unseren Sohn umgab, konnte bei ihm keine Rede sein. Wenn er jedoch von ihm sprach oder über ihn erzählte, tat er das mit großem Stolz und mit einer spürbaren Befriedigung. Die Mentalität der Menschen hier, ihre Sitten und Gebräuche konnte ich auch nach langer Zeit nur zum Teil durchschauen, und mir dämmerte, daß es die Sitte gebot, eine große Leistung, etwas sichtbar unnachahmlich Vollbrachtes für sich selbst zwar anzuerkennen, es aber
niemals mit Worten zu erwähnen oder zum Ausdruck zu bringen, daß man sich daran freute. Gute Dinge, die einem widerfuhren, hatte Allah gesandt, man war besonders würdig. Schon der Vorzug, mit dem Ahmed gesegnet war, als Erstgeborener durch diese Welt gehen zu dürfen, war eine Gunst Allahs, mit der er ausgezeichnet wurde, und nun war ihm durch Allahs Güte und mir als Instrument die Leistung gelungen, einen Sohn zu zeugen, hellblond, schön und von allen bewundert. Da zeigte man keine Eitelkeit, indem man dieses Kind liebkoste oder freundlich mit ihm tat. Über vorzeigbaren Besitz, und sein Besitz waren ich und auch sein Sohn, sprach man nicht. Mit Sicherheit achtete er die Würde seines Sohnes, dieser würde eines Tages auch ein Mann sein. Sie wurde jedoch nach Gutdünken bis zu einem gewissen Alter des Kindes, zehn oder zwölf Jahre, durch die eigene ersetzt. Meine Würde existierte in seinem Weltbild nicht. Ich war eine Trophäe, mit der man nach Belieben verfahren konnte. Wahrscheinlich verstand das hier jeder, nur ich tat mich schwer. Aber nun kamen Tage, an denen Ahmed, durch seinen Vater aus seiner Lethargie zur Aktion aufgerufen, mit alten Schulfreunden zu Hause erschien und mit ihnen Tee trank. Da war unter anderem Jehja, ein großer, schmaler junger Mann, der immer ganz lieb mit Nessim spielte, aber an mich kaum je ein Wort richtete. Das tat man nicht. Wenn die Freunde einen Stadtgang machten, thronte Sim-sim auf Jehjas Schultern und jubilierte. Vom Balkon aus sah ich ihnen nach, winkte meinem Sohn hinterher und freute mich. An die Tatsache, daß Ehefrauen zu Hause zu bleiben hatten, wenn die Männer ins Café oder auch zu Besorgungen in die Stadt gingen, hatte ich mich gewöhnt, es kränkte mich keine Sekunde mehr. Meine kleinen Freiheiten hatte ich mir erkämpft und war damit zufrieden.
Ahmed war in vieler Hinsicht wie ausgewechselt. In kleine Späße bezog er mich jetzt mit ein, sprach manchmal wieder deutsch mit mir und erinnerte sich so zum Beispiel an Frau Müller aus Köln, unsere Wirtsfrau der kleinen möblierten Wohnung, die wir nachts aus dem Bett geklingelt hatten, als sich bei mir Nessims Geburt ankündigte. Sie war eine leutselige, freundliche Frau, die erschreckt über meine zerplatzte Fruchtblase ein Taxi besorgte, damit ich schnell ins Krankenhaus kam. »Jetzt eilt es, halt dich ganz ruhig, Kind«, hatte sie zu mir gemeint. »Frau Müller werden wir besuchen, wenn wir in Deutschland sind, sie war immer sehr freundlich.« Ich sah ihn ungläubig an. Seit zweieinhalb Jahren war Deutschland nur noch etwas Schlechtes gewesen und fand lediglich bei seinen Strafaktionen noch Erwähnung. Sein »Du wirst Deutschland nie wiedersehen« war zu einer gängigen Drohung geworden, die für mich durch ihre Häufigkeit den anfänglichen Schrecken eingebüßt hatte. Natürlich durfte ich das Gespräch mit Gamal nicht erwähnen und fragte scheinheilig: »Wie meinst du das? Hattest du vor, nach Deutschland zu reisen?« »Möglicherweise habe ich Wichtiges in Deutschland zu erledigen. Mit Hagg überlege ich schon seit einiger Zeit, eine Firma zu gründen, die die verschiedensten deutschen Waren nach Ägypten importiert, vor allem Elektrogeräte. Das geht natürlich nur mit Haggs finanzieller Unterstützung oder Beteiligung. Darüber, wie wir das am besten regeln, verhandeln wir zur Zeit. Bei der ersten persönlichen Fühlungnahme mit Ämtern oder Lieferern könntest du deine Mutter besuchen. Das wird natürlich noch Monate dauern, aber geplant ist es schon mal.« »Du sprichst nicht von Nessim. Mutti möchte ihren Enkel nach so langer Zeit auch noch einmal in die Arme
nehmen können. Du hattest doch nicht vor, ohne ihn zu reisen?« »Nein, nein, wir werden zu dritt fahren, aber zuerst einmal nicht lange bleiben, vielleicht zwei bis drei Wochen.« Was für eine Komödie, und sie war so leicht zu durchschauen. Er sah mich offen und lächelnd an und wartete offensichtlich auf meine Freude. Verhalten tat ich ihm den Gefallen, und er schien etwas erstaunt, daß kein Luftsprung, keine verrückten freudigen – eben typisch deutschen – Ausrufe erfolgten. Meine falsche Reaktion bemerkend, rief ich zu Hagg hinüber, der uns gegenübersaß und uns schon eine Weile beobachtete: »Du weißt das sicher schon, Hagg. Ahmed, Nessim und ich werden meine Mutter in Deutschland besuchen. Was für eine Freude. Das hättet ihr mir auch schon früher sagen können.« »Ja, natürlich weiß ich das. Ahmed muß in Geschäften nach Deutschland. Wir hatten uns gedacht, man könnte das eine mit dem anderen verbinden. Es sollte eine Überraschung für dich sein. Wenn sich die Sache gut anläßt, würdet ihr öfter fahren. Wie findest du das?« »Phantastisch, das wäre herrlich!« Wenn auch nur ein Wort davon stimmte, würde ich meinen geheimen Plan, sofort nach meiner Rückkehr in Deutschland die Scheidung einzuleiten, erst einmal zurückstellen können. Ich könnte abwarten, weil es dann immer wieder eine Möglichkeit gäbe, diese Absicht in die Tat umzusetzen, falls sich Ahmeds momentane Stimmung als rein zweckgerichtet herausstellte. Wäre das aber nicht auch wieder unklug und riskant für mich? Denn sobald ich ägyptischen Boden betrat, stand ich wieder vor dem Problem, ohne ihn das Land nicht verlassen zu können oder aber nur mit seiner schriftlichen Einwilligung.
Ich war mir sicher, daß, würde ich sofort nach meiner Ankunft die Scheidung betreiben und einem Rechtsanwalt meine Ehe schildern, sie nach dem Schuldprinzip zuungunsten Ahmeds sofort geschieden und Nessim mir zugesprochen werden würde. In einem solchen Fall hätte ich mit der gesamten Familie gebrochen. Es würde eine Schande für Ahmed sein, er verlöre sein Gesicht, er käme ohne seinen Sohn zurück, und das würde man mir sicher nicht verzeihen. Wollte ich das? Ich sah in die Runde und war mir sicher, das wollte ich nicht. Ich mochte sie alle sehr, und eine Feindschaft mit ihnen war mir unvorstellbar. Aber mein Mißtrauen saß tief, und auch Hagg, von dem ich in all der Zeit nur Wohlwollen erfahren hatte, konnte ich da nicht ausnehmen. Es waren die Winkelzüge in der hiesigen Art zu denken und zu handeln, mit denen ich nicht zurechtkam. Bei allen Planungen stand an erster Stelle Allahs Wille, und auch dann war nicht klar, ob ein Nein nicht doch ein Ja war. »Für wann habt ihr das geplant?« fragte ich und kannte schon fast die Antwort. »Inshaallah, bald, Heiuka, nur keine Hast. Du kannst dich schon darauf freuen und es deiner Mutter schreiben. Ich sage dir, versprochen ist versprochen.« Und wieder diese Doppelbödigkeit. Auf was bezog er sich hier, auf unser jetziges Gespräch oder auf sein Versprechen während meiner Krankheit? Ja, ich schrieb den Brief nach Deutschland, aber anders, als Hagg sich das gedacht hatte. Ich fürchtete aus den verschiedensten Gründen einen Rückzug und traute Ahmed ohne weiteres zu, daß wenn ihm die Angelegenheit im nachhinein zu gewagt erschiene, er mir sagen würde: »Das war nur ein Scherz, wir wollten mal sehen, wie du reagierst, in zwei Jahren können wir noch einmal darüber reden.«
Während ihres Besuches hier hatten meine Mutter und ich uns auf einen »Notsatz« verständigt für den Fall, daß mein Leben hier unerträglich geworden war. Schon oft hatte ich daran gedacht, ihn ihr zu schreiben, aber noch keinen Gebrauch davon gemacht. »Ich habe alles, was ich brauche«, schrieb ich ihr jetzt unverfänglich im Zusammenhang mit dem Brieftext. Hierauf würde mir ihre Freundin berichten, daß Mutti schwer erkrankt sich im Krankenhaus befinde und mein Besuch dringend erforderlich sei. Wir waren damals davon ausgegangen, daß Hagg, wenn nicht Ahmed, eiligst eine Passage buchen würde. Schließlich war ich ihr einziges Kind. Wie lange ich auf eine Reaktion aus Deutschland warten mußte, konnte ich nicht absehen. Verzögerungen in der Postbeförderung waren an der Tagesordnung, und man konnte froh sein, wenn Briefe oder Päckchen nicht verlorengingen. Ich hatte mir ein Sicherheitsnetz gespannt und mit der gebotenen Geduld, die ich hier tagtäglich hatte üben können, würde ich sehen, ob es hielt. Daß auch Hagg und Ahmed nicht frei von Mißtrauen mir gegenüber waren, zeigte sich öfter. Ahmed hatte seine berechtigten Gründe. Schließlich hatte unsere Beziehung mit Schönfärbereien begonnen, und als die Heirat beschlossene Sache war, waren es nicht mehr nur Schwindeleien, er hatte sein Heimatland in Farben gemalt, die ich niemals so wahrnehmen konnte, weil nichts daran tatsächlich stimmte. Hinzu war sein feindseliges Verhalten gekommen, sobald wir ägyptischen Boden betreten hatten. Er mußte damit rechnen, daß ich ihn verlassen würde, sobald ich in meinem Heimatland angekommen war. Meine emotionale Verbundenheit mit seiner Familie nahm er entweder nicht wahr, oder er hielt sie für vorgespielt. Bei Hagg war das anders. Er setzte alle Kraft daran zu erreichen, daß es nichts gab, was mich von hier fernhielt,
wobei er versuchte, zu ergründen, was mich verletzte, was mir schmerzlich oder allzu fremd war. Das war natürlich nicht leicht für ihn, schließlich war er vorher noch nie mit einer Europäerin umgegangen. Es gab da Dinge, die er mit seinem Kulturverständnis nicht vereinbaren konnte, insbesondere in bezug auf Frauen, und es war für ihn bestimmt nicht leicht, zwischen seinen eigenen Töchtern und mir zu unterscheiden. Wieviel Toleranz bedurfte es da, wenn man mir unbegleitete Spaziergänge mit Nessim erlaubte und dies sogar befürwortete, wenn sich selbst der Schulgang der eigenen Töchter ohne Begleitung selbstverständlich ausschloß. Und Ahmed war ihm da nie eine Hilfe gewesen. Er hatte mich immer als verrücktdeutsch abgetan. Schwach, träge und lethargisch, wie Ahmed im Grunde war, konnte er durch die Heirat mit einer Ausländerin, es hätte auch eine Französin oder Italienerin sein können, in seiner Welt ohne weitere Anstrengung glänzen und Lorbeer ernten. Ein abgeschlossenes Studium mit einem Doktortitel war nun nicht mehr vonnöten. Der Sohn war im Kosmos der Familie die Krönung, und nun ruhte er sich aus, im Hause seines Vaters und auf seiner Brieftasche. Da er sehr wohl merkte, daß Hagg nicht einverstanden war mit seinem Tun, inszenierte er jetzt dieses Kabinettstück. Möglicherweise glaubte er an diesen Im- und Export. Ich konnte es nicht wissen und mußte abwarten, ob Allah mit ihm war. Inwieweit Hagg seinem Ältesten traute, würde ich wahrscheinlich nie erfahren. Gegen die Unmöglichkeit, ihn im Ausland zu kontrollieren, würde ihm sicher noch etwas einfallen. Auf einmal wurde die Möblierung des großen Saales in unserer Wohnung geplant. Mein anfängliches Interesse an der Inneneinrichtung meiner Wohnung wurde wieder geweckt, und ich beteiligte mich an der Unterhaltung
zwischen Hagg und Ahmed. Ich erklärte meine Vorstellungen, und Hagg hörte zu. Dann lächelte er und meinte: »Wir werden den besten Schreiner beauftragen, da kannst du sicher sein. Alles wird vorzüglich, und es wird dir gefallen.« Natürlich war das eine klare Absage an meine Wünsche, aber konnte es mir letztendlich nicht egal sein? War das Ganze nicht wieder ein Scheinmanöver? Ahmed winkte lächelnd ab, nur tat er es diesmal nicht von oben herab und unfreundlich, sondern eher so, wie wenn man einem Kind ein Hirngespinst austreiben will. Es wurde dann über Holzart, Stil und Anzahl der Sofas und Sessel, die Größe des Eßtisches und mehr geredet. Es interessierte mich nicht mehr wirklich, und ich holte mir mein Strickzeug. »Wenn alles fertig ist, und auch der kleine Saal irgendwann möbliert wird, wirst du eine wunderschöne Wohnung haben, Heiuka. Ahmed hat mir erzählt, daß die Wohnung deiner Mutter sehr viel kleiner ist und ihr nur wenig Platz hattet. Hier können Sim-sim und seine Geschwister, die er nächstens haben wird, sogar Fahrrad fahren. Wenn ihr von eurer Reise zurückkommt, wird vielleicht schon alles fertig sein.« Da war er wieder, der Wunsch nach weiteren Kindern, ein Thema, das die ganze Familie beschäftigte. Wer sich Geschwister für Nessim am sehnlichsten wünschte, war nicht auszumachen. Aber für alle war klar, daß mein noch immer mädchenhafter Körper nicht normal war, und Ahmeds Anstrengungen in Richtung weiterer Kinder hielten unvermindert an. Ohne Erfolg, Gott sei Dank, wie ich jeden Monat erleichtert feststellen konnte. Mein Verhältnis zu Gamal hatte sich seit unserem letzten Gespräch verändert. Er hatte mir berichtet, wie Hagg Ahmed ins Gebet genommen hatte, und diese Ehrlichkeit, alle hier üblichen Geheimniskrämereien außer acht lassend, hatte mir zu denken gegeben. Ich hielt ihn für
vertrauenswürdig und sollte nicht enttäuscht werden. Wir hatten uns eingehend über Deutschland, die Art, dort zu leben, wie ich Ahmeds Bekanntschaft gemacht hatte, die hier eine Unmöglichkeit gewesen wäre, unterhalten. Und irgendwann hatte ich erzählt, wie mein Leben aussehen würde, käme ich nicht mehr nach Ägypten zurück. »Ich würde wieder als Sekretärin arbeiten. In Köln möchte ich leben zusammen mit Nessim. Irgendwie würde ich das organisieren. Vielleicht würde ja Mutti zu mir ziehen. Sie hat sich seit Vatis Tod in dieser kleinen Stadt etwas verloren gefühlt und hätte wieder eine Aufgabe.« »Bist du fest entschlossen, nicht mehr wiederzukommen?« »Nein, Gamal, ich bin durchaus nicht entschlossen. Aber Ahmed hat es mir in der ganzen Zeit meines Aufenthaltes hier nicht leicht gemacht. Daß er jetzt, wo von einer Deutschlandreise gesprochen wird, verständnisvoller und höflicher mit mir umgeht, könnte bedeuten, daß es wieder so sein wird wie früher, wenn wir erst einmal aus Deutschland zurückgekehrt sind. Dann hätte ich nicht mehr die Möglichkeit, nach Deutschland zu fahren. Und davor habe ich Angst. So kann ich nicht leben, und es würde die Zeit kommen, wo mir der Versuch, mich umzubringen, gelingt. Die Vorstellung, daß Nessim ohne Mutter oder mit einer Ersatzmutter heranwächst, ist für mich entsetzlich. Als ich jedoch vor ein paar Wochen mein Leben mit Gas beenden wollte, war alles über mir zusammengeschlagen, und in meinem Gehirn war nichts als Leere. Nicht immer wird jemand dasein, der mir zur Seite steht. Hagg wird nicht ewig leben, und auch du wirst dir irgendwann dein eigenes Leben mit einer eigenen Familie einrichten. Was soll ich tun? Gib mir einen Rat.« »Ich habe da eine Idee. Wenn in Deutschland nach ein paar Wochen die Rückreise geplant wird, stellst du
Ahmed ganz einfach vor die Wahl. Entweder er händigt dir deinen Paß aus und dazu eine schriftliche generelle Erlaubnis zum Verlassen des Landes, oder du verweigerst die Rückfahrt. Ich bin sicher, er wird dir den Paß geben, es liegt ihm zu viel daran, daß du hier bist. Wenn du dann deinen Paß mit dem erforderlichen Schreiben vor ihm in Sicherheit bringst, muß er befürchten, daß du ihn verläßt, wenn sein Verhalten unerträglich wird. Wäre das nicht eine Lösung?« Nachdem er nach oben gegangen war, blieb ich noch eine ganze Weile unbeweglich sitzen und dachte über seinen Vorschlag nach. Seine Gedanken waren nicht typisch arabisch, aber mir wären sie nie eingefallen. Ähnliche Unterhaltungen mit Gamal zeigten mir, daß ich in ihm einen Freund gefunden hatte, hier für mich von unersetzbarem Wert. Niemals hat er mein Vertrauen mißbraucht, und für die Möglichkeit, meine Seele durch Reden befreien zu können, bin ich ihm bis zum heutigen Tage dankbar. Am Umgang miteinander änderte sich nichts. Schon früher war er bei jedem Wochenendaufenthalt in Tanta zu mir heruntergekommen, und wir unterhielten uns und lachten miteinander. Kaum je streiften wir dieses heikle Thema. Bei ständig offenen Türen hätte uns jemand unbemerkt belauschen können, und über Dinge, die niemand hören durfte, redeten wir nur in der Küche, von wo aus wir die Wohnungstür im Auge hatten. In dieser Zeit der Ungewißheit, hoffend und bangend und zugleich zweifelnd, ob aus dieser Reise je etwas werden würde, hatte Ahmed seine Schläfrigkeit scheinbar überwunden, und ganz normale Gespräche fanden statt. So erzählte er mir eines Tages, als wir alle zusammen beim Tee saßen, und er machte sich sogar die Mühe, es einmal zu mir in deutsch und für die Familie arabisch zu berichten: »Anna hat übrigens einen Sohn bekommen, ist das nicht schön? Nur wird sie leider jetzt keine Kinder
mehr haben dürfen. Ganz zum Schluß der Schwangerschaft kündigten sich Komplikationen an, und das Kind kam im Krankenhaus mit Kaiserschnitt zur Welt. Nach Meinung der Ärzte sei eine weitere Geburt für Anna lebensgefährlich.« Man fand diesen Umstand sehr traurig, und alle waren voller Mitgefühl. »Wie hast du das erfahren?« wollte ich wissen. »Ich traf Ali in der Stadt. Das ist schon einige Wochen her. Zur Zeit halten sie sich in Alexandria auf.« Daß es den Abbruch der Beziehungen gegeben hatte, erwähnte niemand mit einem Wort, obwohl es keinem entgangen sein konnte. Auf Anfrage hatte Ahmed sich sicher eine plausible Erklärung dafür einfallen lassen. Oft blieben offene Fragen aber auch unbeantwortet, und es konnte sein, daß niemand je eine Auskunft erhielt. Man akzeptierte, lächelte und legte es in Allahs Hand. Da zwischen den Familien keinerlei Beziehungen bestanden, sich Ahmed und Ali lediglich durch ihren Deutschlandaufenthalt kannten, war kein allgemeines Interesse an einer näheren Auskunft vorhanden, und man erwähnte die Familie Abid nicht wieder. Ahmed und Hagg traf ich in der folgenden Zeit öfter in ernsthaftem Gespräch. Da Hagg in dem geplanten Unternehmen der Investor war, wollte er natürlich jetzt von seinem Sohn Einzelheiten über Gepflogenheiten des Handels im europäischen Raum wissen. Natürlich mußte Ahmed zugeben, nichts über Zölle und Grenzbestimmungen zu wissen, aber immer betonte er seine fabelhaften Beziehungen in Deutschland, von denen ich nie etwas bemerkt hatte. Er hatte Preise für deutsche Elektrogeräte im Kopf, und man verglich sie mit den hiesigen. Ganz zu schweigen von den Großhandelspreisen, zu denen man in Zukunft einkaufen würde, waren auch zu normalen Konditionen gute
Geschäfte zu machen. Das waren Aussichten, die man nutzen mußte, vor allem weil die Deutschen den Arabern im Handeln unterlegen waren, und vor diesem Hintergrund würde Ahmed die besten Abschlüsse machen. Selbstverständlich wurde das Thema gewechselt, wenn ich in die Runde kam. »Heiuka, du kannst dich freuen, ich habe mit dem Schreiner gesprochen, und er wird nächstens ins Haus kommen, um sich die Räume anzusehen. Er wird mit dir dann besprechen, wie groß die Anrichten und der Tisch sein sollen. Dann mußt du dir noch überlegen, wie viele Stühle du haben möchtest.« Mir war nicht ganz wohl dabei, daß der ChippendaleImitations-Spezialist mit Hagg meine Wohnung verplant und möbliert hatte, aber zum Protest reichte mein Elan einfach nicht mehr. Außerdem würde die Zeit zeigen, ob diese materiellen Dinge für mich in der Zukunft noch von Bedeutung sein würden. Ich tat erfreut, und er fuhr fort: »Übrigens, hättest du Lust, in der nächsten Woche noch einmal mit nach Kairo zu fahren? Du könntest dann mit Rahn die Geschäfte besuchen, die europäischen Brotbelag führen, und auch nach Sachen suchen, die man hier in Tanta nicht bekommt. Außerdem hat mir Fatma erzählt, daß du das letzte Mal Schuhe mit einer dazupassenden Tasche gesehen hast. Für eure Reise würdest du das doch gut brauchen können. Was meinst du?« »Gerne komme ich mit nach Kairo. Deine Tochter Rahn ist eine ganz liebe, und ich bin sehr gerne bei ihr.« Er schmunzelte, sah seinen Sohn Ahmed an, dann wieder mich und meinte: »Ahmed und ich haben jetzt alle offenen Fragen bezüglich der Firmengründung besprochen. Ahmed sollte jetzt mit entsprechenden Leuten in Deutschland Kontakt aufnehmen. Was hältst
du davon, wenn ihr in etwa einem Monat reisen würdet? Die Visaanträge sind bereits gestellt.« Ich konnte nicht fassen, was ich da hörte, und ging zu ihm. Ich setzte mich dicht neben ihn, nahm seine Hand und sah ihm ins Gesicht. »Ist das dein Ernst, Hagg, oder machst du einen Scherz?« »Damit würde ich keine Scherze machen, Heiuka. Du wirst deine Mutti wiedersehen und nach ein paar Wochen glücklich wieder hierher zurückkommen. Hagge wird noch ein hübsches Geschenk für deine Mutter kaufen, und du wirst sie von uns allen grüßen.« Ich hatte seine Hand nicht losgelassen und nahm nun meine zweite Hand hinzu, um seine mit meinen beiden fest zu umschließen. Es war mir nicht bewußt, ich sah ihn nur an und sagte leise: »Vor langer Zeit hast du es mir versprochen, und nun hältst du Wort. Ich fahre wirklich heim.« Er sah mich fest an und sagte dann so leise, daß nur ich seine Worte verstehen konnte: »Enttäusch mich nicht.« Warm stieg es mir in die Kehle, ein leichtes Zittern überfiel mich, und nun liefen die Augen über. »Bestimmt nicht«, versprach ich. Aber selbst in dem Augenblick höchster Glückseligkeit hielten mich die Konventionen davon ab, ihn zu umarmen oder zu küssen. Alle beobachteten uns in diesem Augenblick, und sicher hätten sie es verstanden, wenn ich in übergroßer Freude seine Hände geküßt hätte. Aber immer noch war mir eine solche Geste in ihrer Untertänigkeit so fern und erschien mir unehrlich wie die unterwürfige Floskel »Tahte amrik – unter deinen Willen«, die bereitwilligen Gehorsam und die Verleugnung des eigenen Willens aussagt. Meine Natur ließ es nicht zu, solche Worte auszusprechen. Während alle anderen längst wieder zur Tagesordnung übergegangen waren, saß ich immer noch eine ganze Weile neben Hagg. Ich war einfach nicht in der Lage,
mich zu bewegen. Starr saß ich da und betrachtete nach und nach jeden einzelnen meiner Verwandten. Fatma mit ihren großen schwarzen Augen, die, wenn sie lächelte, immer die Lider senkte. Da waren Omar und Jussuf, noch Schulbuben, die im Übermut ihre Attacken gerne gegen Sakäja ritten. Blauäugig und drahtig der eine und rund und behäbig der andere, vom Typ her eher ein Araber. Mit einem Mal wurde mir bewußt, daß ich mich wie ein Zuschauer im Theater fühlte, und in dieser Sekunde begriff ich es nicht. Gehörte ich nicht dazu? Langsam stand ich nun auf, nahm Nessim von Sakäjas Arm und sagte zu ihr: »Ich muß meiner Mutter einen Brief schreiben.« Und erst jetzt, als ich Stufe für Stufe mit Nessim in meine Wohnung ging, sah ich Mutti zu Hause am Bahnhof stehen, der Zug lief ein und kam zum Stehen, und sie fing mit ausgebreiteten Armen Nessim auf, und ich hörte sie sagen: »Ich hab’ so auf euch gewartet. Endlich seid ihr da.«
23
Haggs Tod
Ahmed hatte es nicht an Umsicht fehlen lassen und mir genügend Pfundscheine in einem kleinen Päckchen in die Hand gedrückt, damit ich mir in Kairo meine Wünsche erfüllen konnte. Meine Vorliebe für Accessoires war bekannt und auch die Tatsache, daß diese Leidenschaft ganz schön ins Geld gehen konnte. Noch vor gar nicht allzulanger Zeit hatte Ahmed mir meinen Leichtsinn in diesen Dingen vorgeworfen und gemeint: »Wenn du schon kein eigenes Vermögen in die Familie eingebracht hast, möchte ich dich bitten, mein Geld nicht für unnützen Tand zum Fenster rauszuwerfen.« Jetzt hätte ich einkaufen und verschwenden können, so wie es mir in den Sinn kam, aber merkwürdigerweise verspürte ich kein allzugroßes Bedürfnis mehr danach. Hunderte von Kleinigkeiten, die ich früher wehmütig in den Schaufenstern bewundert hatte, übersah ich diesmal einfach. In mir war kein Interesse mehr für diese Dinge, viel zu sehr hielten mich Gedanken an die geplante Heimreise in Bann. So gerne wollte ich glauben, Haggs Worten vertrauen, und doch war die stille Angst in mir nicht zu bezwingen. Es brauchte nicht viel zu passieren und die geplante Reise wäre wieder ein Wunschtraum. Nichts hatte ich von Visaanträgen oder der Planung einer Kontaktaufnahme mit einem Reisebüro bemerkt, und genauso lautlos konnte auch eine Annullierung vonstatten gehen, wenn Ahmed in einer Stunde des
Nachdenkens zu dem Schluß kam, daß das Risiko zu groß sei. Da mit mir nichts besprochen und geplant wurde, konnte ich immer nur aufmerksam hinhören und gut beobachten, ob alles seinen Gang nahm. Auf meinen Brief an meine Mutter war noch keine Reaktion erfolgt, und ich überlegte, ob er bei einer Kontrolle abhanden gekommen sein konnte. Rahn hatte mich in ihrer Liebenswürdigkeit zu dem Geschäft geführt, von dem sie mir berichtet hatte, und in diesem Feinkostladen gab es tatsächlich feine Wurstwaren und Delikatessen, die ich zu Anfang meines Aufenthaltes so vermißt hatte. Nun stand ich vor diesen herrlichen Dingen ohne jede Lust, hineinbeißen zu wollen. Lag es an meinen Augen, oder war es Einbildung? Die angebotenen Waren hatten eine merkwürdige Färbung, und sie schienen mir aus Knetmasse gefertigt. Rahn pries mir an, was es zu sehen und zu kosten gab, und sah erstaunt in mein Gesicht. Sie kannte mich anders und war gar nicht zufrieden mit mir. Von diesen Dingen hatte ich ihr sehnsüchtig vorgeschwärmt und ihr fröhlich erzählt, wie gut Schwarzbrot mit Schinken schmeckt. War es denn möglich, daß mich jetzt nichts daran reizte? So war es, und ich verstand mich selber nicht. Schon die Vorstellung, neugierig und angewidert beim Essen beobachtet zu werden, wenn ich eine aus Schweinefleisch hergestellte Wurst verzehrte, verdarb mir jeden Appetit. Pasterme, ein hiesiger, auf besondere Art haltbar gemachter Schinken vom Rind, der dem deutschen Rauchfleisch sehr ähnlich war, schmeckte hervorragend, und da brauchte man keine Schweinefleischerzeugnisse. Mit offenen Augen träumte ich, als wir am Nilufer entlangspazierten, von einem Leben in Alexandria oder hier in Kairo. Ich stellte mir Nessim in seiner blauweißen Schuluniform vor, wenn er mittags aus der Schule nach
Hause kam. Hätte er nach dem Essen seine Schularbeiten gemacht, würden wir einen Spaziergang machen, Tante Rahn oder Tante Latifa besuchen. Viel schöner wäre es natürlich in Alexandria, wo die unbarmherzige Sonne durch eine ständige Meeresbrise erträglich war. Während ich einen Spaziergang unternähme, würde er ein Stück ins Meer schwimmen. Uns von weitem zuwinken und lachen, deutsch, arabisch, englisch reden, zur Übung oder weil uns einfach danach war. Und in den Sinn kam mir der von Gamal gewiesene Weg. Gab es da nicht auch die Möglichkeit im Rahmen einer kleinen Erpressung, wie er mir vorgeschlagen hatte, einen Wohnort zu erzwingen? Meinen Paß in Händen, wäre ich in der Lage, den einmal ausgeübten Druck auszuweiten. Zu einem Verweilen in diesem Land wäre ich nur dann bereit, wenn Ahmed ohne Gewalt gegen mich auskäme und eine Übersiedlung von Tanta nach Alexandria oder Kairo in Angriff nähme. Aber wäre das eine Basis für unsere Ehe, für unsere Zukunft? Wie immer bei solchen Überlegungen und Wachträumen fand ich mich am Ende in einer Sackgasse, und die Lösung war dann nur noch die Scheidung. »Heike, wo bist du mit deinen Gedanken?« rief mich mit einem Mal Rahn an. Ich kam mir ertappt vor und lachte verlegen. Sie drückte meinen Arm und meinte: »Ich kann dich ja verstehen, du hast an die Reise gedacht und freust dich auf deine Mutter. Du mußt nur aufpassen, daß Simsim sein Arabisch nicht verlernt, er wird uns sonst nicht mehr verstehen«, scherzte sie. Es war spät geworden, und wir wunderten uns. Um diese Zeit befanden wir uns in der Regel bereits auf der Rückfahrt nach Tanta. Wir überlegten und suchten nach einer Erklärung für die Verspätung. Hatte es vielleicht eine Autopanne gegeben? Hatten Hagg und Ahmed nach Marktschluß noch etwas zu erledigen gehabt und vergessen, mir zu sagen, daß es später würde? Es war bereits dunkel, und nachdem wir zusammen gegessen
hatten und die Kleinsten im Bett waren, setzten wir uns auf den Balkon, um auf den Wagen zu warten. Alle machten sich langsam Sorgen, und Mahmud, Rahns Ehemann, war so unruhig, daß er nicht stillsitzen, geschweige denn schlafen konnte. Also ging er bis zur nächsten Straßenecke, von wo aus er dem Auto entgegensehen konnte. Es mußte ja jeden Moment kommen. Rahn war inzwischen in einem Sessel eingenickt, und ich hatte mich im Kinderzimmer zu ihrer Tochter Fufu ins Bett gelegt. Im Halbschlaf hörte ich laute Schreie. Sofort sprang ich auf die Füße und rannte in die Diele. In der offenen Haustür standen Rahn und ein mir unbekannter Mann. Rahn schrie immer wieder, ohne ein Wort zu sagen, hoch und so lange, bis ihr der Atem versagte. Dann holte sie tief Luft und begann aufs neue. Hinter dem fremden Mann erschien nun Ahmed. Er hinkte und hielt sich den Kopf. Rahn, die nicht aufhörte, ihre hohen Schreie auszustoßen, wurde nun von Mahmud zu einem Sessel geführt, und auch Ahmed hatte sich gesetzt. Die Kinder, mittlerweile aus dem Schlaf hochgeschreckt, standen um Rahn herum und sahen mit großen Augen ihre Mutter an. Die Kleinen fingen an zu weinen. Für Ahmed war Tee gemacht worden, und nun begann er zu erzählen: »Auf der Rückfahrt wurde aufkommender Nebel immer dichter und wir sind kurz vor Kairo auf ein parkendes Auto gerast. Vor vier Stunden etwa ist das passiert. Baba war auf der Stelle tot. Man hat ihn noch ins Krankenhaus gebracht, aber eine Rettung war nicht mehr möglich. Als ich ihn noch einmal sehen wollte, hat man mir dringend davon abgeraten. Sein Schädel sei auf der rechten Seite eingedrückt und sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit zerschnitten. Ich habe nur leichte Verletzungen, und man hat mich im Krankenhaus versorgt. Den Wagen kann man nicht mehr benutzen. Durch den Aufprall hat sich der Motorraum zur Hälfte in den Fahrgastraum
geschoben. Es wird wohl auch nicht mehr zu reparieren sein. Attala hat das parkende Auto sicher übersehen, er ist auch tot. Wir müssen jetzt ganz schnell zurück zur Familie nach Tanta, eventuell mit einem Taxi.« Rahns Schreie waren wieder lauter geworden, und ich wünschte mir, sie würde aufhören. Aber niemanden außer mir schien es zu stören, man ließ sie schreien. Zu schnell aus dem Schlaf hochgefahren, die schreiende Rahn mit ihren wimmernden Kindern vor mir, empfand ich das Ganze wie einen schlimmen Traum. Eine andere Möglichkeit gab es doch gar nicht, das mußte ein Alptraum sein. Ahmed übertrieb wieder maßlos. Sicher lag Hagg im Krankenhaus, vielleicht auch schwer verletzt, aber tot war er bestimmt nicht. Das war nicht möglich, einfach nicht vorstellbar. Ich saß stumm und reglos in einem Sessel und begriff überhaupt nichts. Mahmud hatte sich auf den Weg gemacht, um den kleinen Firmenwagen seiner Druckerei zu holen. Ahmed trieb zur Eile, und ich suchte schlafwandlerisch meine Sachen zusammen, umarmte Rahn und die Kinder noch einmal und ging zum Aufzug. Sie alle würden morgen nachkommen. Ein so kleines Auto hatte ich noch nicht gesehen. Die hintere Rückbank füllte ich mit meinen fünfzig Kilo fast ganz aus, mit dem Kopf stieß ich ans Dach, und Ahmed war es kaum gelungen, auf den vorderen Sitz zu kriechen, obwohl sich noch ein Teil seiner Leibesfülle auf den Fahrersitz drückte, so daß der fremde Mann, der das Vehikel fuhr, an die Fahrertür gequetscht wurde. Schon einige Male hatte ich vom Nebel in England erzählen hören, mit so dichten Schwaden, daß man keine Hand vor Augen sähe. Aber das, was sich in dieser Nacht über Kairo gelegt hatte, mußte schlimmer als englischer Nebel sein. Wir fuhren im Schrittempo gegen eine weiße Wand. Aber auch in diesem Tempo war unsere Fahrt lebensgefährlich. In der Bemühung, die Sicht zu
verbessern, hatte der Fahrer die Windschutzscheibe hochgeklappt, so daß sie senkrecht über dem Autodach stand. Ich überlegte, ob Mahmud dieses Wägelchen selbst konstruiert und gebaut hatte, vielleicht für seine Kinder. Anstatt eine bessere Sicht zu haben, pfiff uns jetzt ein eiskalter, nasser Wind um die Ohren, und ich fror erbärmlich. Gegen Morgen bei der Ankunft in Tanta gab es die Fortsetzung des Grauens dieser Nacht. Noch in der Nacht hatte man nach Bekanntwerden des Unfalls mit den Vorbereitungen zu den Trauerfeierlichkeiten begonnen. Die Straße war gesperrt worden, und über die gesamte Breite der Straße wurde in einer Länge von ungefähr einhundert Metern riesige buntbedruckte Planen zu einem Trauerhaus zusammengefügt. Unser Fahrer fuhr das Spielzeugauto direkt vor eine Gruppe von Arbeitern, die noch damit beschäftigt waren, den Innenraum des Zeltes auszustaffieren. Ahmed ächzte sich aus der Blechumklammerung, und sofort erschienen Schaulustige und auch Bekannte aus der Nachbarschaft und umringten ihn. Man verneigte sich und versuchte, seine rechte Hand zu küssen, die er wegzog, wie es auch Hagg immer getan hatte. Und obwohl ich mich immer noch weigerte, an Haggs Tod zu glauben, ahnte ich doch langsam, daß Ahmed nicht übertrieben hatte. Als ich ausgestiegen war, blieb ich starr stehen und sah auf dieses buntbedruckte Wüstenhaus. Es war keine einzige Frau zu sehen. Ahmed erklärte mir in knappen Worten, daß der Brauch eine Feier in diesem Rahmen fordere, wenn eine Persönlichkeit wie sein Vater gestorben sei. Das riesige Zelt wurde innen mit Teppichen ausgelegt und mit vielen goldlackierten Stühlen möbliert. An den äußeren Seitenpfosten hatte man rechts und links je einen Lautsprecher angebracht. Diese Lautsprecher übertrugen
pausenlos ohrenbetäubend mehrere Tage lang fromme Gesänge des Korans. Als ich auf die Haustür zuging, scholl mir trotz der alles übertönenden Koran-Suren aus den Lautsprechern aus dem Hausinnern noch nie Gehörtes entgegen. Ein Mädchen, dessen Namen ich nicht kannte, kam mir mit Nessim auf dem Arm entgegengelaufen. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, und sie stieß Schreie aus, wie ich es ähnlich bereits bei Rahn in Kairo gehört hatte. Natürlich begriff mein kleiner Schatz nicht, um was es ging, aber auch sein Gesichtchen war verweint, und ich nahm ihn auf meinen Arm, um ihn zu trösten. Hinter mir betrat eine Gruppe von schwarz verschleierten Frauen das Haus. Während sie die Stufen hinaufgingen, nahmen sie ihre schwarzen Schulter- oder Kopftücher, zerrissen sie und schrien wild durcheinander. Sie machten auf mich einen derart teuflischen Eindruck, daß ich mich zuerst einmal in meine Wohnung flüchtete. Ich war mir nicht sicher, ob sie nicht jeden Moment geifernd auf mich losgehen und auch meine Jacke zerreißen würden. Nachdem ich Nessim beruhigt hatte, der angesichts der Klageweiber wieder angefangen hatte zu weinen, und auch ich mich etwas beruhigt hatte, nahm ich mir ein Herz und ging nach oben. Obwohl ich mittlerweile glaubte, herausgefunden zu haben, daß diese infernalischen Schreie hierzulande wohl zum guten Ton der Trauer gehörten, ich mich jedoch außerstande fühlte, da mitzuhalten, mußte ich mich doch als Ehefrau des ältesten Sohnes des Verstorbenen und nunmehr Familienoberhaupts aller unter die trauernden Frauen mischen, um zu zeigen, daß auch für mich ein geliebter Mensch nicht mehr unter den Lebenden weilte. Laut weinend kam Sakäja mir entgegen und nahm mir Nessim ab. Ich ging nur wenige Schritte und befand mich in einem Inferno. Das gesamte Haus war angefüllt mit schwarz verschleierten Frauen, die in Gruppen von
vielleicht sechs oder acht zusammensaßen und sich in den Sälen zum Teil auch auf dem Boden verteilt hatten. Waren die einen vom Schreien heiser, wurden sie von anderen abgelöst, so daß die Räume unentwegt von diesen hohen langgezogenen Schreien angefüllt waren. Ich konnte kein bekanntes Gesicht finden, bis Fatma plötzlich vor mir stand und mir um den Hals fiel. Sie zog mich zu mir bekannten Tanten und Cousinen, die ich in all den schwarzen Schleiern nicht hatte entdecken können. Im kleinen Saal an ihrem gewohnten Platz saß Hagge auf dem Kanapee umringt von weiblichen Verwandten. Als sie mich sah, streckte sie mir beide Hände entgegen und zog mich zu sich. Neben ihr saßen Jussuf und Omar, die sich als Kinder noch unter den Frauen aufhielten, und so hockte ich mich vor Hagge auf die Erde, stützte meinen Kopf an ihre verschränkten Beine, und sie legte eine Hand auf mein Gesicht. Fatma kauerte sich neben mich, nahm die freie Hand ihrer Mutter und tätschelte sie beruhigend. Hagges Stimmbänder hatten durch die Strapazen aufgehört zu funktionieren, und ich hörte sie leise wimmernd weinen. In diesem Moment dachte ich nicht daran, was Haggs Tod für mich bedeutete. Ihr Schmerz mußte furchtbar sein. Sicher hatte sie die volle Tragweite des Geschehenen noch nicht begriffen, und jeder neue Tag würde ihr brennend bewußt machen, daß mit Hagg das Licht ihres Lebens von ihr gegangen war. Nie wieder würde sie seine herrische Stimme hören, wenn er einen seiner Söhne zurechtwies, sein kleiner Gebetsteppich würde ungenutzt bleiben. Sein zufriedenes Gesicht nach einem erfolgreichen Arbeitstag hatte sie mit stillem Wohlbehagen erfüllt, und auch seine tyrannischen Launen hatten zu ihrem Leben dazugehört. Von den zwölf geborenen Kindern hatte sie heute noch acht, die sie stützen und trösten konnten. Aber alle würden irgendwann einmal gegangen sein, und dann hätte sie ihr
Leben ruhig und zufrieden mit ihrem Ehemann Mohammed, dem sie so treu ergeben gewesen war, beschließen können. Durch dieses schreckliche Unglück gab es für sie keine Zukunft mehr. Alle wichtigen Dinge, ob es sich um die Verheiratung Fatmas oder um Geldangelegenheiten handelte, um mögliche Schlichtungen in den Ehen ihrer Töchter, Entscheidungen jedweder Art gingen mit dem heutigen Tag in die Hände ihres ältesten Sohnes über, der seinen Vater als Erstgeborener zu vertreten hatte. Wie allen Menschen, die ein schweres Unglück trifft, war ihre Welt ins Wanken geraten, und ich hoffte, daß Allah ihr beistehen würde. Als ich nach einer Weile nach Nessim Ausschau haltend in die Küche kam, fand ich Sakäja in Gesellschaft einiger fremder Dienstmädchen, die ihr zur Hand gingen. Viele der Kondolierenden hatten eine Begleitung mitgebracht, die den Auftrag hatte, im Trauerhaus in der Küche helfend zuzugreifen. Platten mit Süßigkeiten und kleinen Gemüsehäppchen wurden gerichtet und mit Getränken zu den Gästen getragen. Schluchzend gab Sakäja ihre Anweisungen. Ohne Ausnahme zeterten und weinten alle, auch wenn sie Hagg noch nie gesehen hatten. Nessim fand ich auf Leilas Arm, und gerne hätte ich ihn zu uns in die Wohnung hinuntergebracht. Ich war übernächtigt und wollte mich unten etwas hinlegen. Da es aber noch keinen Ersatz für Gameläd gab, ließ ich ihn wohl besser hier bei diesen Mädchen. Eine reichte ihn der anderen, und jede wollte den kleinen Blondkopf einmal halten und mit ihm lachen. Wurde Nessim dann weitergereicht, wechselte der Gesichtsausdruck von einem Moment zum anderen – hier Lachen, dort Weinen und Schluchzen, ganz wie es die Situation forderte. Schon in der relativ kurzen Zeit, in der ich mich unter den Trauernden aufhielt, fing ich manchen verwunderten
und auch befremdeten Blick auf. Ich schrie nicht, ich weinte nicht, und wenn die Frauen sich kurz erholten, tuschelten sie, und es war gut zu spüren, daß ihnen mein Verhalten mißfiel. Während ich langsam und leise grüßend durch die Menschen ging, trafen mich schiefe Blicke, und hier und da schwoll ein schriller Trauerschrei ohrenbetäubend an, um mich wohl darauf aufmerksam zu machen, daß mein Verhalten ungebührlich sei. Die Nacht war in den Tag übergegangen, ohne daß ich auch nur eine Sekunde Ruhe hätte finden können. Die ständige Anspannung und die folgenden Stunden nach der Nachricht von Haggs Tod hatten mich erschöpft, und ich sehnte mich nach ein wenig Schlaf. Auf der Treppe war ein reges Kommen und Gehen von schwarz verschleierten Gestalten. Und immer wieder diese hohen, schrillen Schreie, sobald man mich sah. So wie jede Höflichkeits- oder Begrüßungsfloskel eine dazugehörige Antwort forderte, konnte es ja sein, daß man sich bei einem Todesfall mit diesen Schreien begrüßte. Das wäre zumindest eine Erklärung für die verständnislosen Blicke, wenn ich schwieg. Man hatte mir dazu nichts gesagt, und selbst wenn zum Beispiel Fatma oder Ahmed mir dazu etwas erklärt hätten, wäre es mir unmöglich gewesen, wie eine Hysterikerin loszuschreien. In mir waren andere Töne, und eine stumpfe Apathie hatte mich ergriffen. Vergebens hatte ich auf ein bißchen Entspannung gehofft. In meiner Wohnung konnte natürlich keine Stille sein, das ganze Haus bebte von diesem unvorstellbaren Lärm. Und vor allem die beiden Lautsprecher an dem Trauerzelt kreischten die ganze Zeit, von denen einer direkt auf das Küchenfenster hallte. Und obwohl ich in allen Räumen die Fenster und Fensterläden geschlossen hatte, dröhnte mein Kopf. Mit Watte verstopfte ich mir
die Ohren, zog mir in meinem Bett die Decke über den Kopf und versuchte zu entspannen. Es wollte mir nicht gelingen. Nun, da ich zusammengerollt auf meinem Bett lag, summte mein ganzer Körper, und ein Gefühl von tiefer Trauer machte sich in mir breit. So hautnah hatte ich den Tod noch nicht erlebt, und ich mußte mit seiner Endgültigkeit zurechtkommen. Dieses Haus war ohne Hagg Abd El Kataf nicht vorstellbar. Auch ich hatte mit ihm einen Menschen verloren, mit dem ich bei aller Verschiedenartigkeit über Probleme sprechen konnte, für die er mit seiner diplomatischen Haltung mir gegenüber und seiner Autorität gegenüber seiner Familie meistens eine Lösung gefunden hatte. Was sollte nun werden? Würde die Deutschlandreise stattfinden? Haggs vertrautes »Mälek ja benti – Was hast du, meine Tochter?« hörte ich ihn fragen, und endlich fühlte ich heiß die Tränen in mir aufsteigen. Nachdem ich gegen Morgen wach wurde, sah ich Nessim in seinem Bettchen liegen. Eines der Mädchen hatte ihn versorgt und war so leise gewesen, daß ich nichts bemerkt hatte. Ahmed hatte ich seit der Ankunft aus Kairo am Vortag nicht mehr gesehen, und nun fiel mir auf, daß auch seine erwachsenen Brüder wie vom Erdboden verschluckt waren. Abgesehen von den Koran-Suren, die pausenlos erklangen, war es im Haus ruhig geworden. Es mußte noch sehr früh sein, und ich ging zu Sakäja, um nachzusehen, ob Ibrahim bereits Brot geholt hatte. In der Küche fand ich das große Brotbrett, von dem ich mir zwei warme Fladen nahm. Da ich niemanden sah, man schlief wohl noch, huschte ich schnell wieder in meine Wohnung und machte Frühstück. Unerwarteterweise erschien trotz der frühen Stunde Ahmed in der Küche und setzte sich an den Tisch. Als er sah, daß das obligate Fuhl fehlte, gab er Ibrahim an der
Treppe die Anweisung, welches zu besorgen. Während wir warteten, hatten wir Zeit, miteinander zu reden. »Ich habe dich gestern den ganzen Tag nicht gesehen. Auch Gamal und Yazid habe ich vermißt. Viele Leute waren hier, und es ist sicher aufgefallen, daß ihr nicht an der Seite eurer Mutter wart.« »Niemand hat uns vermißt. Wir waren unten im Zelt und haben Geschäftsfreunde und Verwandte, die uns ihre Teilnahme ausdrückten, mit Tee und Kaffee bewirtet. Du bleibst bitte bei den Frauen im Haus, wie sich das gehört.« »Wann wird die Beerdigung stattfinden?« fragte ich. Ich rechnete wegen des Klimas spätestens am folgenden Tag mit der Bestattung. »Damit hast du nichts zu tun. Frauen bleiben beim Tod eines Angehörigen im Haus.« »Soll das heißen, daß auch Hagge an der Beerdigung von Hagg nicht teilnehmen wird?« »Ja, so ist es.« Entgeistert sah ich ihn an und konnte es kaum glauben. »Ein paar Tage später werden die Frauen zu Haggs Grab gehen und sich von ihm verabschieden. So ist es Sitte, und du wirst dich ihnen anschließen.« Ibrahim, der nun mit dem Fuhl in der Tür stand, bekam die Anweisung, uns aufzutun und Nessim aus seinem Zimmer zu holen, den wir rufen hörten. Ahmed, der jetzt das Familienoberhaupt und Ibrahims erster Chef geworden war, sagte: »Ibrahim, achte auf deine Kleidung. Zieh dir eine frische Galabija an und geh unten im Zelt nach dem Rechten sehen. Leila wird dir zur Hand gehen und alles vorbereiten. Tee und Kaffee sollten bereitstehen, schon bald werden die ersten Kondolierenden erscheinen.« Ich war erstaunt über seinen autoritären Ton und auch darüber, daß er so früh am Tag bereits so hellwach war. Das war bei ihm ungewohnt. Konnte das etwas zu
bedeuten haben? Diese neue Würde wirkte keineswegs aufgesetzt, mit großer Selbstverständlichkeit schien er in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Ich sah meinem Mann hinterher, der nun im Bad verschwand, um sich für diesen Tag bereit zu machen, der wieder sehr anstrengend sein würde. Heute, am ersten offiziellen Trauertrag, würden auch Freunde und Verwandte von außerhalb anreisen, und ich fragte mich, wie wohl die Nachricht von Haggs Tod in nur zwei Tagen übermittelt werden konnte. Nicht alles ging per Telefon, und zur damaligen Zeit verfügten zudem nur die Priviligierten über einen Anschluß. Bevor Gamal seinen erwachsenen Brüdern nach unten folgte, kam er kurz zu mir herein, um mich zu begrüßen. Seit jenem schrecklichen Tag in Kairo hatten wir uns nicht mehr gesehen, und ich sah ihm ernst entgegen, als er in die Küche kam. Er setzte sich zu mir an den Küchentisch, nahm meine beiden Hände und sah mich wortlos an. Nach einer Weile sagte er: »Ist das nicht schrecklich? Mußte das ausgerechnet unserem Hagg passieren. Mein Vater fehlt mir so sehr, und jeden Augenblick sehe ich ihn durch die Tür treten.« »Ahmed war nur leicht verletzt«, sagte ich. »Ja, er war nur leicht verletzt. Er saß ja immer hinten«, sagte Gamal mit ausdruckslosem Gesicht. »Was wird jetzt werden, Gamal?« Er wußte gleich, was ich meinte, ohne daß ich näher darauf einging. »Du mußt dir keine Sorgen machen. Die Formalitäten waren ja erledigt, und die entsprechenden Unterlagen mußten nur noch abgeholt werden. Mein Bruder kann nicht so tun, als sei nichts vorbereitet. Die Reise wird stattfinden, da kann er nicht zurück. Wohl wird eine Trauerzeit eingehalten werden müssen, das kann sich aber höchstens um einen Monat handeln. Ich möchte dich noch einmal an unser Gespräch erinnern. Sei klug, insbesondere jetzt, wo dein Mann die
Entscheidungen fällt.« Ironisch fügte er hinzu: »Er macht seine Sache gut, wie es scheint. Meine Geschwister und ich werden ihm bei der Machtverteilung etwas behilflich sein müssen.« Ich sah ihm nach, wie er durch den Seiteneingang auf das Trauerzelt zuging. Es war mittlerweile später Vormittag, und ich sah, wie sich die ersten Trauergäste vor dem Haus nach dem Brauch trennten. Die Ehemänner gingen auf das Zelt zu, und die Frauen kamen ins Haus. Ich schloß wieder alle Fenster und Fensterläden, um den pausenlos psalmodierenden Scheich und die wieder einsetzenden Schreie von oben etwas zu dämpfen. Mit Nessim ging ich ins Wohnzimmer, wo ich mich dann nicht mehr im direkten Klangbereich der Lautsprecher befand. Selbst Nessim, der normalerweise ständig in Bewegung war, von einer Wohnung zur anderen lief, war einverstanden, daß die Wohnungstür geschlossen wurde, und setzte sich ruhig mit seinen Bilderbüchern in einen Sessel. Ich versuchte, mich zu beschäftigen, nahm mir mein Strickzeug, und schon glitten die Gedanken ab zu jener Nacht, in der dieses schreckliche Unglück geschehen war. Ich sah den zertrümmerten Wagen, sah Hagg und den Chauffeur auf den Vordersitzen eingeklemmt, blutüberströmt liegen. Hatte ihn der Tod überrascht, oder hat er noch etwas sagen können? An wen hat er wohl in der letzten Sekunde seines Lebens gedacht? Nie mehr würde ich von ihm hören: »Daeili ja benti, eschrab shei ma nana – Komm, meine Tochter, trink Tee mit Pfefferminz.« Das war immer der Auftakt zum gemütlichen Teil des Tages, wenn die Hitze nachließ und alle sich um ihn herum versammelten. Immer trug er dann eine weite weiße Galabija und thronte als Patriarch der Familie im Schneidersitz auf seinem Diwan. Nie trug er eine Kopfbedeckung, aber immer lag seine Bernsteinkette dicht neben ihm, die er in
jeder Mußeminute aufnahm und durch die Finger gleiten ließ. Diese Gedanken waren so schmerzlich, daß ich meine Handarbeit sinken ließ und die Hände vor mein Gesicht nahm. Unmerklich war Nessim vor mich getreten, zog meine Hände um sein Körperchen und wollte auf meinen Schoß. Als ich ihn an mich drückte, fragte er ganz leise: »Wann kommt Giddi (Koseform von Großvater) wieder?« »Bald, bald, mein Sohn.« Meine Tränen tropften auf seine Ärmchen, und er patschte mir ungeschickt an die Augen, um das Wasser wegzuwischen. Allen anderen Familienmitgliedern ging es so wie mir, nur wurden sie in diesen Tagen abgelenkt von den Heerscharen von Menschen, die ihre Teilnahme bekundeten, und von diesem infernalischen Getöse, in dem jeder Erinnerungsgedanke untergehen mußte. Hier ging man so anders mit Trauer um, man schrie sie hinaus und ertrug so das Leid, das nur die Zeit erträglich macht, in verschleierter Form und nahm ihm so die Spitze, die sich in die Eingeweide bohrt. Mutti hatte mir vor vielen Jahren einmal von dem Tag erzählt, als sie die Nachricht von Vatis Tod erhalten hatte, wie verzweifelt sie gewesen war und wie sie von der Stille um sie herum fast erdrückt worden wäre. Ein Briefträger hatte ihr das Telegramm übergeben, in dem ihr mitgeteilt worden war, daß Martin Wagner zur Ehre des Vaterlandes heldenhaft sein Leben gelassen hatte. Kein Bruder, keine Schwester, die sie hätten in den Arm nehmen können und ihr vielleicht geholfen hätten, zu begreifen. Nur ich war da, damals etwa so alt wie Nessim heute, und mich hatte sie auf den Arm genommen und gesagt: »Vati ist tot.« Ich hatte natürlich nicht einmal ihre Worte verstanden. Aus jener Zeit
existiert ein Foto von ihr, das sie auf der Bonn-BeuelerRheinbrücke zeigt. Eine junge Frau im dunklen, strengen Schneiderkostüm mit einem etwa dreijährigen Mädchen an der Hand. Die Brücke ist völlig menschenleer, auch ohne jedes Fahrzeug, und die junge Frau kommt in ziemlicher Entfernung auf den Fotografen zu. Sie scheint vollkommen allein mit ihrer kleinen Tochter, und das Foto drückt in seiner Art so gegenwärtig die Verlassenheit, die sie empfunden hatte, aus, daß es mich noch heute beim Betrachten anrührt. Still und leise, ohne auch nur eine Träne in der Öffentlichkeit zu vergießen, hatte sie den Kummer um den Verlust des geliebten Mannes lange Zeit mit sich herumgetragen. Auch hier würden Ruhe und der Alltag wieder einkehren, und man würde Hagg schrecklich vermissen. Wie oft hatte ich beobachtet, wie Gamal zu seinem Wochenendbesuch die Treppe hochgestürmt kam und immer zuerst seinen Vater begrüßte. Diese lockere, manchmal übermütige Art, die insbesondere seinem Ältesten völlig abging, genoß er bei Gamal. Gutmütig ließ Hagg sich auf kleine Wortgefechte mit seinem zweiten Sohn ein, wies ihn schmunzelnd hier und da zurecht, kehrte aber niemals den mächtigen Vater heraus. Niemand von der Familie hätte es gewagt, so mit ihm zu reden, und auf allen Gesichtern war in solchen Augenblicken ein tastendes, leicht verschämtes Lächeln zu sehen in Erwartung eines Donnerwetters, das Gamal in seine Schranken wies. Aber der wußte genau, wo bei seinem Vater die Grenzen waren, und natürlich wußte er auch, daß Hagg ihn besonders mochte. In stiller Übereinkunft verstanden die beiden sich auch ohne Worte. War zum Beispiel nach vorherigem Geplänkel bei einem doch ernsten Thema eine Entscheidung oder Meinung gefragt, schwieg Gamal augenblicklich, wenn sein Vater ihn ernst ansah. Auch wenn Gamal nicht
immer seiner Meinung war, stellte er doch niemals die Autorität seines Vaters in Frage. Das Wort haadr fiel viele Male am Tag. Von den Kindern, auch den erwachsenen, an ihre Eltern, vom Dienstpersonal an die Familienmitglieder immer dann, wenn von einem Elternteil oder einem Höhergestellten eine Bitte, ein Wunsch oder eine Anweisung geäußert wurde. Es drückte respektvollen Gehorsam aus und wurde im Ton tiefer Demut geäußert. Bei Gamal war mir schon aufgefallen, daß er dieses Wort sehr selten benutzte, und wenn es im Gespräch mit seinem Vater geschah, fehlte der Betonung die Demut völlig. Er benutzte es wie eine Einverständniserklärung, höflich, neutral und mit offenem Blick, was bedeutete, daß er die Bitte eines zu respektierenden älteren Freundes erfüllen würde, sobald er Zeit fände. Das Verhältnis der beiden war von einer Harmonie geprägt, die nicht zuletzt in der spontanen, offenen Art Gamals begründet war, die Hagg auch an mir so gemocht hatte, obwohl ich eine Frau war. Und viele Male hatte ich ein Bedauern in seinem Gesicht beobachten können, wenn er bei entsprechender Gelegenheit seinen Ältesten ansah. Die Zeiten der Heiterkeiten waren wohl für immer vorbei. Haggs Nachfolger würde wohl kaum mit seinem Bruder über sich selbst lachen. Wenn auch nicht gern, so mußte ich mich doch aufraffen und mich oben unter die Trauernden mischen, mich sehen lassen. Stufe um Stufe gingen mein Schätzchen und ich der oberen Wohnung entgegen. Oben angekommen, nahm gleich ein Mädchen Nessim in seine Obhut, und ich konnte mich meinen Verwandten zuwenden. Genauso schrecklich wie am Vortag, angefüllt mit schwarz verschleierten Klageweibern, die mit schrillem Wehklagen die Welt von ihrem Schmerz unterrichteten, fand ich die Räume vor. An ihrem gewohnten Platz saß Hagge, diesmal umringt von allen
ihren Töchtern. Rahn und Latifa waren mit ihren Familien von Kairo eingetroffen, und kamen beide auf mich zu, als ihre Mutter sie auf mich aufmerksam gemacht hatte. Wir umarmten uns, und ich stellte fest, daß Rahns Stimme nun völlig verschwunden war und sie nur noch flüstern konnte. Latifa drückte meine Hand und zog mich langsam auf den rückwärtigen Balkon. Dort standen wir dicht beieinander und schwiegen eine Weile. »Es zerreißt mir das Herz, wenn ich daran denke, daß ich kein gutes Wort mehr mit ihm wechseln konnte.« »Ach richtig, ihr habt euch das letzte Mal bei unserem Besuch in Kairo gesehen, als er so böse auf dich war«, erinnerte ich mich. »Nein, wir haben uns danach noch mal gesehen. Auf seinem Rückweg von Heluan war er kurz bei mir und brachte mir ein Mädchen aus einem der Dörfer dort oben. Badäja ist erwachsen und nicht wie die anderen, die noch halbe Kinder waren. Sie ist geschickt und vertrauenswürdig, und ich bin nun nicht mehr so ans Haus gebunden wegen der Kinder. Wir haben aber an diesem Tag kaum ein Wort gewechselt. Er war mir wohl immer noch böse und hatte es sehr eilig, nach Hause zu kommen. « Nun fiel mir auch auf, daß sie wieder schlanker geworden war. Da ich jedoch wußte, daß der vielgelobte Kindersegen nicht gerade Latifas Lieblingsthema war, verlor ich kein Wort darüber. Später würde ich noch Gelegenheit haben, die Schönheit des neuen Babys zu bewundern. Da ich das Bedürfnis hatte, mich ein wenig mitzuteilen, sagte ich zu ihr: »Bei uns in Deutschland ist alles so anders. Sicher mache ich auch bei diesem Anlaß wieder viel falsch. Die Frauen sehen mich manchmal tadelnd an.« Sie wußte gleich, worauf ich anspielte, und drückte meine Hand: »Mach dir bloß nichts draus. Viele dieser Weiber sind nur aus Neugier hier, dann haben sie wieder etwas zu tratschen. Ich könnte dir ein Lied davon
singen, wie sie mich schon durch die Zähne gezogen haben. Die meisten sind strohdumm, sieh einfach darüber hinweg.« Langsam gingen Latifa und ich durch die Menschenmenge in den Sälen, und hier und da kam eine entfernte Verwandte auf sie zu, die sie Jahre nicht mehr gesehen hatte, um sie mit kurzen Küßchen zu begrüßen. Zu mir sagte sie: »O Schreck, da muß man aufpassen, daß man nicht kleben bleibt.« Ich sah sie erstaunt an: »Das ist doch nicht dein Ernst?« »Ich finde sie alle widerlich, wenn du den Rücken drehst, zerreißen sie sich das Maul.« »Solche Leute gibt es bei uns auch, sie treten nur nicht so in Massen auf.« Wie zwei Verschwörer zwinkerten wir uns zu und gesellten uns wieder zu Hagge. Eine Weile saß ich noch inmitten dieser Menschen, die mir doch so lieb waren. Ich gab mir Mühe und blickte wie eine anständige Frau zu Boden, hatten mich doch so viele im Visier. Unzählige Frauen gingen aus und ein, alle klein und rund und von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet mit einem ebensolchen Schleier. Immer wieder kamen welche auf Hagge zu und umarmten sie, und ich fuhr, ohne es zu wollen, zusammen, wenn sie losschrien. Es erinnerte mich an einen Film über Rußland, den ich vor langer Zeit einmal gesehen hatte. Dort wurden Wölfe gezeigt, die die Köpfe zum Himmel hoben, indem sie losheulten. Es war einfach apokalyptisch, und ich ertrug es nicht länger. Unter einem Vorwand ging ich in meine Wohnung, und es würde in diesem Chaos wahrscheinlich kaum auffallen, wenn ich für eine Weile verschwunden blieb. In der Küche gab ich Nessim noch ein Küßchen und ließ ihn oben, nachdem ich festgestellt hatte, daß sich die Mädchen schon wieder freundlicheren Dingen
zuwandten. Sie kicherten verhalten über Geschichten, die sie sich erzählten, und lachten mit Nessim. Ich hatte nicht erfahren können, wann nun die Bestattung stattfand oder stattgefunden hätte. Keine der Frauen hatte ein Wort darüber verloren. Genausowenig hatte ich eine Ahnung davon, auf welche Weise der Leichnam zu seiner Ruhestätte gelangte. Wurde er durch die Stadt getragen, oder gab es einen Leichenwagen? Wie sahen hier Särge aus? Ich würde Gamal fragen. Der würde mir Antworten auf meine Fragen geben, ohne sie als deutsches Geschwätz abzutun. Jedenfalls stand für mich fest, daß ich an dem Friedhofsgang der Frauen nicht teilnehmen würde. Alleine würde ich mit einer Kutsche zum Friedhof fahren. In Ruhe und mit guten Gedanken wollte ich mich von Hagg verabschieden und noch ein bißchen Zwiesprache halten. Ich hatte mich ihm so verbunden gefühlt, war er doch für mich eine Art Vaterersatz geworden. So offen für alles Neue, so tolerant, wie er mir gegenüber gewesen war, konnte seinen Platz niemand einnehmen. Wie würde mein Leben hier jetzt weitergehen, wie würde Ahmed sich verhalten? Wenn ich dem glauben könnte, was Gamal gesagt hatte, würde die Deutschlandreise stattfinden. Vage glaubte ich daran, aber was würde dann sein? Meine Mutter würde nichts unversucht lassen, mich zur Scheidung zu überreden. Und so wie sie Ahmed und die Fremdartigkeit in diesem Land kennengelernt hatte, war das auch zu verstehen. In dem Moment jedoch, in dem ich einen Anwalt mit dieser Angelegenheit beauftragen würde, bekäme die Sache einen offiziellen Charakter. Ahmed würde der Familie mitteilen, welche Schande ich über ihn und die gesamte Verwandtschaft gebracht hatte, und der Bruch wäre vollzogen. Ich hatte hier in Ägypten noch nie von einem Fall gehört, in dem eine Frau die Scheidung verlangt hatte. Was immer in einer Ehe
passieren konnte, dieses Recht stand ihr nicht zu. Wenn eine Trennung vollzogen wurde, ging sie vom Mann aus und war in jedem Fall mit Ehrlosigkeit für die Frau verbunden. Besonders hart, ja unerträglich würde für die Familie die Tatsache sein, daß Nessim bei einem Prozeß mir zugesprochen würde. Ahmed hatte sich in diesen drei Jahren mir gegenüber so manches zuschulden kommen lassen, was zu einem Scheidungsbegehren meinerseits berechtigte. So wie ich über das ägyptische Recht gar nichts wußte, hatte ich von dem deutschen nur geringe Kenntnis. Aber ich wußte mit Sicherheit, daß Kinder aus geschiedenen Ehen nicht dem Partner zugesprochen wurden, der die Ehe zerrüttet hatte. Da konnte ich also unbesorgt sein, man würde mir Nessim nicht nehmen können. Wenn ich mich jedoch in Gedanken mit einer eventuellen Rückkehr beschäftigte, ergriff mich ein banges Gefühl. Konnte es sein, daß Ahmed sich zu Hause durch die Autorität seines Vaters erdrückt gefühlt hatte und daher mit ihm kaum umzugehen war? Und wenn zudem das in Angriff genommene Im- und Exportgeschäft wirklich aufgebaut werden sollte, könnte ich ihm behilflich sein, ihm zur Seite stehen in mancherlei Hinsicht, und unsere Ehe würde möglicherweise ein ganz anderes Gesicht bekommen. Aber die Situation war für mich nicht kalkulierbar und auf nichts konnte ich bauen, und im schlimmsten Fall würde es so sein, wie es die vergangenen drei Jahre lang gewesen war. Meinen Fürsprecher hatte ich vorgestern verloren. Die etwas heimtückische Lösung, die Gamal mir vorgeschlagen hatte, meinen Paß vor einer Rückreise aus Deutschland an mich zu bringen und auch nicht wieder aus den Händen zu geben, um ihn gegebenenfalls als Druckmittel zu benutzen, erschien mir zeitweise gut. Doch sollte aus den geschäftlichen Reisen und den geplanten
Unternehmungen nichts werden, würde mein Paß mir unter Umständen nichts nutzen. Ohne eine offizielle Scheidung würde es kein Sorgerecht für mich geben, und eine gemeinsame Ausreise mit Nessim wäre so gut wie unmöglich. Wie ich es auch drehte und wendete, das Problem war kaum zu lösen. Auf meinen Brief nach Hause hatte ich immer noch nichts gehört, und ich mußte wohl davon ausgehen, daß er verlorengegangen war. Und wenn alles in erwarteter Weise verlief, war er auch nicht mehr von Bedeutung. Nun schrieb ich Mutti einen neuen Brief, in dem ich ihr erzählte, was geschehen war. Ich berichtete ihr von dem Unfall, bei dem Hagg ums Leben gekommen war, wie traurig die ganze Familie war und daß das Unglück auch mich hart getroffen hatte. Und da sie aus Erzählungen und Briefen von meinem Verhältnis zu Hagg wußte, konnte sie mir das sicher nachfühlen. Und endlich konnte ich ihr berichten, daß wir uns bald wiedersehen würden. Ohne Einzelheiten zu erwähnen, teilte ich ihr lediglich mit, daß wir in etwa zwei Monaten hier abreisen würden, da noch eine Trauerzeit eingehalten werden müßte. Ihr Gesicht konnte ich mir so gut vorstellen. Fassungsloses Staunen und Freude, Freude. Nun würde sie bei jedem Stadtgang nach Spielzeug für Nessim Ausschau halten und winterliche Kleidung für ihn besorgen. »Ja, Heike kommt zurück mit dem Kleinen und ihrem Mann«, würde sie auf Fragen von Bekannten glücklich antworten. Der Tag ging zur Neige, und als ich oben den kleinen Saal betrat, um mich zu Hagge zu setzen, sah ich bei meinen Schwägerinnen betretene Gesichter. Hagge war ganz in sich zusammengesunken und schluchzte pausenlos. Sie zerrte mit beiden Händen an ihrem Schleier, und ich dachte, sie hätte eine Nervenkrise. Latifa und Rahn sahen mich stumm an, und nun hörte auch ich, was wohl Hagges Weinkrampf ausgelöst haben
mußte. Hinter der verschlossenen Tür zu Hagges Zimmer war ein wilder Streit im Gange. »Wir werden zu dritt den Inhalt des Tresors sichten, und du hast nicht das Recht, das allein zu tun«, hörte ich Gamal sagen. Offenbar hatten die drei erwachsenen Brüder sich nach der Verabschiedung der letzten Gäste nun in dem Zimmer versammelt, in dem der Tresor stand. So wie es den Anschein hatte, war Ahmed zuerst einmal unbemerkt in das Zimmer gehuscht, dann aber von seinen beiden Brüdern dabei überrascht worden, wie er den Geldschrank öffnen wollte. Darüber war man sich fürchterlich in die Haare geraten. Verständlicherweise. Sicherlich mußte vieles geklärt und Unterlagen in Augenschein genommen werden, die Aufschluß gaben über die Vermögenslage, über Bankgeschäfte und auch den Kauf von Häusern, die Hagg im Laufe der Jahre erworben hatte. Niemand wußte etwas Genaues. Allgemeine Betroffenheit herrschte jetzt darüber, daß noch während der Trauerfeierlichkeiten ein für alle Ohren zu vernehmender offener Streit ausgebrochen war. Offensichtlich traute man Ahmed nicht, denn schließlich gab es eine beachtliche Menge an Schmuck und auch Bargeld in diesem Schrank. In welcher Richtung nun eine Einigung stattgefunden hatte, war nicht herauszufinden. Nach einiger Zeit erschienen Ahmed, Gamal und Yazid in scheinbarem Einvernehmen, um mit der Familie zu Abend zu essen. Davon, wie Erbangelegenheiten hier geregelt wurden, hatte ich nicht die geringste Ahnung. Daß aber Frauen bei allen wichtigen Angelegenheiten außen vor blieben, erlebte ich in den nächsten Tagen wieder einmal hautnah. Hier gab es keine Regelung, die in etwa einem Berliner Testament entsprach, mit der Hagg seinen Besitz seiner Frau hätte vermachen können und die Hagge vor räuberischen Söhnen hätte schützen können. Vor solchen unbotmäßigen Gedanken war sie ohnehin gefeit, Allah
stand ihr bei. Lediglich der Streit unter ihren Söhnen hatte sie tief bekümmert, war Hagg doch erst vor drei Tagen von uns gegangen. Die Auseinandersetzung unter ihren Söhnen nahm sie sehr mit, aber darüber hinaus kam es mir in den letzten Tagen so vor, daß sie bei dem Versuch, dieses große Unglück zu begreifen, den Verstand verlieren würde. Bewegungslos und stumm wie eine Statue saß sie auf ihrem Kanapee, und ab und zu entfuhr ihr ein tiefer Schluchzer. Aber selbst dann hob sie ihren Blick nicht, sondern sah unentwegt auf ihre im Schoß liegenden Hände. Wenn ich über die vergangenen Jahre nachsann, kam mir die Entwicklung in diesem großen Haushalt wie eine langsame Auflösung vor. Die kleine Tochter von Latifa starb, kaum daß sie geboren war. Ahsähn, die alle so gemocht hatten, war verheiratet worden und hatte eine Lücke hinterlassen. Gameläd hatte ich durch meinen Selbstmordversuch vertrieben, und gestern erfuhr ich, daß Ibrahim zum Militär einberufen worden war und ob er hier seinen Dienst wieder aufnehmen würde, wußte man nicht. Und nun hatte die Familie diesen harten Schlag hinnehmen müssen, der wie ein Blitz auf sie niedergefahren war, und sicher würden einige Angehörige den Schmerz um diesen Verlust nie verwinden. Nach vier Tagen war das Trauerzelt abgebaut worden, und der Alltag konnte wieder einkehren. Aber jetzt, da sich keine Gäste mehr im Hause befanden und es still geworden war, saß die Trauer in allen Ecken und Winkeln fest und alle Mienen spiegelten sie wider. Ich hatte das Gefühl, daß lediglich die Dienstboten sich Neuigkeiten von einem zum anderen Zimmer zuriefen oder sich in normaler Lautstärke unterhielten, auch schon einmal lachten. Die Familie schien sich im Flüsterton zu unterhalten, und bei Hagge sah es so aus, als ob sie überhaupt nicht in den Alltag zurückfinden könne. Sie
saß immer noch ohne jede Bewegung stumm auf ihrer Bank und ließ alles um sich herum geschehen. Man spürte an allem, daß der Haushalt ohne Führung war, obwohl Sakäja ihr Bestes tat. Leila war noch nicht lange genug im Haushalt und brauchte für vieles genaue Anweisungen, und manches Mal hörte ich Sakäjas ungeduldige Kommandos, wenn in den Bädern noch keine Ordnung herrschte, bevor zum Beispiel schmutzige Wäschestücke aus den Zimmern für die Waschfrau zurechtgelegt wurden. Die Betten mußten gemacht und die Fenster geputzt werden, und alles dümpelte vor sich hin, wenn Hagge sich nicht ab und zu in den Zimmern sehen ließ. Sie konnte sich nicht befreien aus ihrer Depression, und sogar die Sittsamkeit ihrer jüngsten Tochter verlor sie aus dem Blick. Es kam vor, daß Fatma den Schulweg allein antrat und Sakäja ihr Leila hinterherschickte, weil es Hagge entgangen war, daß Fatma alleine das Haus verlassen hatte. Auch Fatmas Schuluniform unterzog niemand mehr einer letzten Inspektion, und als ich sie sich beschweren hörte, ihre Bluse sei nicht gut genug gebügelt, wurde sie von Yazid zurechtgewiesen. Sie solle sich auch mal selber kümmern, meinte er. Für Sakäja war das alles zuviel.
24
Abschied
Ahmed hielt sich nun nur noch oben auf. Alle Arbeiten und Geschäfte oblagen nun ihm, und selbstverständlich mußte er seiner Mutter zeigen, daß er in der Lage war, Hagg zu ersetzen. Alle begegneten ihm mit größtem Respekt, und die jüngeren Geschwister wagten kaum, ihn anzusprechen. Eine Gelegenheit, zur Deutschlandreise eine Information zu bekommen, ergab sich immer nur nach der Hitze des Tages in den ersten Abendstunden, wenn man sich von der Mittagsruhe erhob. So sagte ich eines Abends zu Ahmed: »Wenn ich eure Gespräche richtig verstanden habe, würden wir in etwa drei Wochen nach Deutschland aufbrechen. Formalitäten bezüglich der Visa und der Reisebuchung waren ja erledigt. Wie sehen deine Pläne jetzt aus? Es wird nicht mehr darüber gesprochen, und ich müßte doch wissen, ob und wann wir fahren, wegen der Vorbereitungen, die zu treffen sind.« »Du wirst dich gedulden müssen, jetzt können wir natürlich nicht fahren. Du wirst verstehen, daß ich Hagge jetzt nicht im Stich lassen kann, und außerdem verbietet eine Trauerzeit von vierzig Tagen eine Reise ohnehin.« Ich wollte mich mit dieser vagen Aussage nicht so schnell zufriedengeben und hakte nach: »Das verstehe ich. Abgesehen von der Trauerzeit, die natürlich eingehalten werden muß, könnte dich danach aber Onkel Amer bei allen Geschäften und Marktfahrten vertreten. Er war immer mit dabei und ist bestens informiert. Und
Gamal würde sicher gerne seiner Mutter Hagge den nötigen Beistand geben, damit sie mit den Kindern und dem Personal nicht alleine ist. Und auch Yazid ist schon fast erwachsen, und ich habe gehört, wie er es versteht, mit Nachdruck Anweisungen zu erteilen, und man gehorcht ihm.« Wenn er mich früher mit kurzen, knappen Worten abgefertigt hatte, sah er mich jetzt überlegend an, und mir kam der Gedanke, daß er dabei an seinen Vater dachte und mir eine Antwort in seinem Sinne geben wollte. »Vielleicht hast du recht. Ich werde noch einmal mit meinen Brüdern reden, und vielleicht kann man es für einige Wochen so regeln, wie du es eben vorgeschlagen hast. Eventuell können wir direkt nach der Trauerzeit reisen. Ich sage dir noch Bescheid, dann kannst du das Notwendige organisieren.« Wie erleichtert war ich. Hagg schien auf ihn herabzusehen und ihm zuzunicken. Tief bewegt wandte ich mich ab und ging nun hinauf, um Hagge ein freundliches Gesicht zu zeigen. In der Küche erinnerte ich Sakäja an die Teezeit, die aber bereits mit dem riesigen Tablett hantierte und noch fehlenden Zucker und Milch zu den Gläsern stellte. Dann lief ich durch die Zimmer und trommelte alle zusammen. Als wir uns um Hagge versammelt hatten, hob sie plötzlich den Kopf und sagte ganz leise: »Sakäja, bring Kahk«, und sah mich dabei ausdruckslos an. Ich lächelte sie an und klatschte dreimal heftig in die Hände, denn ihre so leise gesagten Worte hatte Sakäja nicht hören können. Sofort kam Sakäja herbeigewieselt, und ich wiederholte Hagges Worte. Nun lächelten alle Hagge an, und die Erleichterung war zum Greifen spürbar. Sie hatte gesprochen, sie hatte sich bewegt, es würde alles gut werden. Und mir hatte sie wohl sagen wollen, daß ich mir auch ohne meinen Gönner keine Sorgen um mein
Wohlergehen zu machen brauchte. In seinem Sinne würde alles weitergehen. In den folgenden Wochen beschäftigte ich mich mit Gängen in die Stadt und mit Einkäufen. Viele Dinge waren zu besorgen, die man auf einer weiten Reise braucht. Immer wieder fiel mir noch etwas und noch etwas ein, was Nessim oder ich noch unbedingt benötigten. Zur Schneiderin hatte ich geschickt und noch ein warmes Kostüm in Auftrag gegeben. Aber auch Ahmed erzählte abends in der Familienrunde, daß er bei seinem Schneider war, um sich noch zwei Wollanzüge machen zu lassen. Und als ich nach etwa zwei Wochen von ihm erfuhr, daß seine Brüder und auch Hagge mit meinem Vorschlag bezüglich der Regelung in seiner Abwesenheit einverstanden wären, konnte ich mich endlich auf einen festen Tag der Abreise einstellen. Immer wieder nahm ich Nessim auf den Arm und tanzte mit ihm durch die leeren Säle. Es gefiel ihm, wenn ich ihn lustig im Walzerschritt herumwirbelte und ihm zu einer heimischen Melodie immer wieder vorsang: »Nach Hause, nach Hause fahren wir. Das wird so schön und die Mutti ist da und es wird regnen und schneien.« Einen großen Koffer hatte ich mitten in einem Zimmer offen hingelegt, und wir beide legten immer mal wieder etwas hinein. Oft mußte ich alte Bilderbücher wieder zurücklegen und Nessim erklären, daß es bei Omi viele neue Bilderbücher gab und anderes Spielzeug. Nur sehr widerstrebend trennte er sich von den alten Büchern, deren Inhalt er schon auswendig konnte. Auch leichte Hemdchen und Höschen, die eher für das hiesige Klima geeignet waren, schleppte er an und vieles legten wir dann gemeinsam lachend wieder in seinen Schrank zurück. Wenn wir beide abends mit guter Laune oben zur Tür reinkamen, lief er auf Hagge zu und rief von weitem: »Wir packen, und ich brauche keine Bücher. Ich bekomme viele neue.« Dann kletterte er auf ihren Schoß,
sie streichelte sein Köpfchen und drückte ihn an sich. Mich fragte sie einmal: »Wie lange werdet ihr fortbleiben?« »Ahmed meint, daß wir vier bis fünf Wochen bleiben.« »Das wird dich glücklich machen. Aber mir wird Nessim schrecklich fehlen. Ich werde es nicht erwarten können, bis er wieder hier ist.« Manchmal hatte ich regelrecht Angst, sie könnte durch übernatürliche Kräfte meine Gedanken lesen und würde mich bis an mein Lebensende verfluchen. So vieles konnte auf dieser Reise für mich passieren, und ich war mir ja gar nicht sicher, ob und wann ich mit Nessim wieder hiersein würde. So oft hatte ich Pläne geschmiedet und sie wieder verworfen. Nach einer Lösung hatte ich gesucht und doch noch keine gefunden. Immer wieder sagte mir meine Vernunft, daß eine Scheidung für mich das Sinnvollste wäre, aber meine Träume blieben hier, zeigten mir ein Leben in Alexandria oder in Kairo. Davon konnte Hagge unmöglich etwas wissen, auch nicht über Gamal, denn selbst mit ihm hatte ich über diese Hirngespinste nicht gesprochen. Dessen ungeachtet, ging mir durch den Sinn, daß bei all den vielen und oft merkwürdigen Menschen, die ich hier kennengelernt hatte, Hagge für mich immer wie eine Auster verschlossen geblieben war. Nun sah ich sie an und versuchte, ihr in die Augen zu blicken. Sie beschäftigte sich gerade mit Nessim und ließ kurz ihre Augen zu mir rüberwandern, sah mich für einen winzigen Augenblick an und wandte sich wieder Nessim zu. Die Farbe ihrer Augen war so dunkel, fast schwarz, daß man die Pupillen nicht ausmachen konnte. Es sah aus, als hätte sie schwarze Haftschalen eingesetzt, die nicht die leiseste Regung ihrer Seele und ihrer Gedanken durchlassen. Noch nie zuvor war mir das so intensiv aufgefallen, wohl auch, weil sie immer so sittsam vor sich sah. Und in diesem Moment hatte sie eine
beängstigende Wirkung auf mich. Konnte es sein, daß ich es bei ihr mit dem bösen Blick zu tun hatte, den man hier so sehr fürchtete? Die Dienstmädchen, aber auch Fatma und Latifa hatte ich manchmal flüstern hören, was dieser so gefürchtete Blick anrichten konnte und wie man sich davor hüten mußte. Vor allem Fellachinnen verfügten manchmal über Kräfte, die sich der Vorstellungskraft eines normalen Menschen völlig entziehen. Böse Wünsche, Schicksalsschläge und Krankheiten wurden Wirklichkeit, wenn der Haß groß genug war. Hagges Herkunft kannte ich nicht, und daß sie mich von Anfang an mit einer gewissen Vorsicht behandelt hatte, war mir schon oft aufgefallen. Erst ganz allmählich, als Hagg ganz offen seine Sympathie für mich bekundete, war sie zugänglicher geworden. Wie oft jedoch hatte ich kurze Blicke zwischen Mutter und Sohn beobachtet, wenn zwischen Hagg und mir etwas erörtert wurde, das sie für völlig unnötig hielten. Ganz besonders liebenswürdig sprach sie mit ihrem Ältesten, wenn ihn sein Vater mal wieder ins Gebet genommen hatte oder mit ironischem Ton seine Trägheit erwähnte. Als Scherz waren solche Worte gemeint, und doch ging Hagge bei solchen Gelegenheiten in die Küche und befahl Sakäja, Sidi Ahmed eine übriggebliebene Leckerei der letzten Mahlzeit zu bringen, als wolle sie ihn trösten. Es herrschte ein bemerkenswertes Einvernehmen zwischen den beiden in Blicken und Gesten. Um es zu erkennen, mußte man genau hinsehen, und ich wußte natürlich nicht, inwieweit sich das gegen mich richtete. Um ihren Sohn zu beeinflussen, bedurfte es natürlich nicht des bösen Blicks, und ich mußte insgeheim über mich selbst lachen. Wie schnell ich doch mit meinen Zweifeln und Ängsten die hiesige Art zu denken übernahm und Spuk und böse Geister von mir Besitz ergriffen. Und doch, trotz meiner offenkundigen Eingewöhnung, mir war nicht klar, warum, sehnte ich
den Augenblick herbei, in dem ich mit Nessim an der Hand europäischen Boden betrat. Ich hatte es kaum mehr erwarten können, und nun schien es soweit zu sein. Hagge erzählte mir, Ahmed habe ihr in der Früh erzählt, daß er bei seiner heutigen Fahrt nach Kairo die letzten erforderlichen Papiere für unsere Reise abholen wolle, und dann würde ich endlich wissen, wann ich den Koffer schließen konnte. Hagge und Ahmed begegneten sich jeden Morgen, weil Hagge zum ersten Gebet gegen vier Uhr bereits aufstand und für ihren Sohn bei dieser Gelegenheit ein Glas heißen Tee machte. So wußte ich nie, was besprochen worden war oder in welcher Stadt er sich gerade aufhielt. Auch von der Neuanschaffung eines Autos hatte ich nichts erfahren. Daß es jedoch einen neuen Wagen gab, erzählten mir die Kinder. Wer ihn fuhr, wußten sie nicht. Wenn wir nur gut und sicher mit unserem Gepäck nach Alexandria kamen, dann konnte mir alles andere gleichgültig sein. Ich sah Ahmed erwartungsvoll entgegen, als er später als gewöhnlich nach Hause kam. Gleich hinter ihm in der Tür erschien nicht nur Onkel Amer, um die Tagesabrechnung aufzustellen, wie er das immer tat, sondern auch Gamal war mitgekommen, was mich wunderte, denn es war mitten in der Woche. Sakäja holte aus der Küche neues Teewasser, und man machte es sich gemütlich. »Weißt du nun, wann wir abreisen?« fragte ich Ahmed, nachdem er sich für mich viel zuviel Zeit mit der einzig wichtigen Neuigkeit gelassen hatte. In seinem Gesicht war keine Bewegung, als er sagte: »In drei Tagen werden wir fahren«, und nach einer Atempause von ein oder zwei Sekunden fuhr er fort: »Aber Nessim bleibt hier.« Schlechte Witze und Schadenfreude immer auf Kosten eines anderen, das kannte ich sehr gut. Und ich wartete
auf das schallende Gelächter, das auf mein entsetztes Gesicht hin folgen mußte. Ich wartete vergebens. Stattdessen sagte Ahmed, während er aus dem Fenster sah: »Du weißt, daß ägyptische Staatsangehörige nicht ohne weiteres ausreisen können. Es muß dafür einen wichtigen Grund geben, und wenn diese Angabe akzeptiert wird, wird neben einem Visum eine Ausreiseerlaubnis ausgestellt. Bei einer ausländischen Ehefrau wird diese Erlaubnis sofort ausgestellt, und ich kann jederzeit in dein Heimatland reisen. Bei Nessim sieht das anders aus. Für ihn wird nicht einfach so eine Ausreiseerlaubnis ausgestellt. Da ich ja aber weiß, wie großen Wert du darauf legst, daß er mitfährt, nicht zuletzt wegen deiner Mutter, habe ich mich nach einer Möglichkeit erkundigt, an eine solche Erlaubnis heranzukommen. Es gibt einen Weg, den wir aber unmöglich beschreiten können. Es wird von der Regierung eine Kaution erhoben, und zwar in einer Höhe, die wir in unserer momentanen Lage, durch Haggs Tod, nicht aufbringen können.« Entgeistert und ungläubig sah ich meinen Mann an und dann von einem zum anderen. Niemand sah mich an, still sah jeder vor sich oder zur Balkontür hinaus und mit einem Mal erfaßte ich, daß alle Bescheid wußten. Und es war das ein Schweigen des Einverständnisses. Jeder einzelne würde unzugänglich werden, wenn ich die Bitte äußern würde, gemeinsam einen Weg zu suchen, um diesen Kautionsbetrag zusammenzubringen, wobei ich nicht wußte, in welcher Höhe er hinterlegt werden sollte. Eine Farce, ein ganz böser Trick, ging es mir durch den Kopf. Hagg Abd El Kataf war ein reicher Mann gewesen und selbst jetzt, wo möglicherweise nach seinem Tod eine Aufteilung des Vermögens durch einen Anwalt angestrebt wurde, weil einzelne Familienmitglieder das wünschten, würde in jedem Fall der Teil des Kapitals, der Ahmed zufiel, als Bürgschaft für Nessim hinterlegt
werden können. Und überhaupt, warum zählte die Staatsangehörigkeit eines ausländischen Elternteils in diesem Zusammenhang nicht? Diese Situation zeigte klar und deutlich, wie sehr sie mir doch alle mißtrauten. Trotz all meiner Versprechungen im Laufe meines Aufenthalts, vor allem an Hagg, glaubte niemand wirklich an meine Rückkehr. Und im Ernstfall wären Nessim und das Kautionsgeld für die Familie verloren. Würde man jedoch Nessim hierbehalten, könnte man das als Garantie für meine Rückkehr nehmen. Meine Gedanken hatten sich überschlagen, und vor Enttäuschung und Wut schlug mir nun mein Herz im Hals. Meine Sprachlosigkeit schlug in Hysterie um, und ich schrie, wie ich in diesem Hause noch nie geschrien hatte. »Du willst mir doch nicht etwa sagen, daß dieser Betrag Millionenhöhe erreicht und du dich deswegen außerstande siehst, ihn aufzubringen. Das Versprechen deines Vaters schloß Nessim mit ein, und wenn er sehen oder hören könnte, was für ein übles Spiel du mit mir treibst, er würde sich im Grabe umdrehen.« Während meines Ausbruchs hatte Ahmed sein Duldsamkeitslächeln auf dem Gesicht, das jetzt plötzlich verschwand. Er stand auf und machte einen Schritt auf mich zu. Und wie verabredet, fuhren Hagge und Gamal dazwischen und riefen fast gleichzeitig: »Halt dich zurück, Ahmed, sie ist aufgebracht.« Deutsch war gesprochen worden, und niemand hatte verstanden, was ich gesagt hatte. Der Anlaß des Gesprächs und Ton und Gestik machten jedoch allen klar, daß ich versuchte, mich zu wehren. Auch wenn kein Mensch Verständnis für diese europäische Entladung, insbesondere bei einer Frau, hatte, sahen Fatma und Gamal mich mitleidig an. Ahmed bewegte sich wieder zu seinem Platz und sagte leise, aber sehr böse in meine Richtung: »Versündige dich nicht und laß meinen Vater aus dem Spiel.«
Jetzt wußte ich, welche Gemeinheit er sich ausgedacht hatte. Die ganze Zeit über hatte ich schon das Gefühl gehabt, daß sich über mir etwas zusammenbraut, und in diesem Moment entschied ich mich: »Dann werde ich jetzt runtergehen und den Koffer wieder auspacken. Wenn Nessim hierbleiben muß, werde ich auch nicht fahren. Eine so weite Reise mache ich nicht ohne meinen Sohn, und was soll ich Mutti sagen?« Alle sahen mich entgeistert und sprachlos an, mit einer solchen Reaktion hatte man offenbar nicht gerechnet. Es sollte sich doch nur um vier oder fünf Wochen handeln, dann würde ich ihn wieder bei mir haben. Wieso machte ich ein solches Theater? Mit meiner Unversöhnlichkeit und europäischem Verständnis in fast allen Dingen hatte man schon immer seine Schwierigkeiten gehabt. Eine brave und gehorsame Frau setzte sich erst gar nicht Situationen aus, in denen sie mit Strafe zu rechnen hatte. Wie oft schon hatte die Familie und insbesondere meine Schwiegermutter mißbilligend miterlebt, wie ich mich in Männergespräche eingemischt und Ahmed mit unfaßbaren Äußerungen in Rage gebracht hatte. Hinzu kam, daß ein weiteres Kind immer noch auf sich warten ließ. Alles Gründe, die ein anderer Mann möglicherweise zum Anlaß genommen hätte, eine zweite Frau zu heiraten oder mich zu verstoßen. Da gab es hier keine großen Schwierigkeiten, und vorhandene Kinder wurden immer dem Mann zugesprochen, aus welchen Gründen auch immer eine Trennung vollzogen wurde. Das wußte hier jede Frau, und jede mußte sich darauf einstellen, daß ihr das einmal passieren konnte. Es gehört also zum Leben einer Frau und wurde als gottgewollt hingenommen. Auch wenn sicher so manche an dieser Regelung schon zerbrochen war; waren Mutterschaft und Kinder nicht Berufung und Beruf zugleich und oft auch das einzige, an das sie ihr Herz hängen konnten. Gegen eine Trennung von Kindern rebellierte man nicht, dadurch änderte sich
gar nichts, und meine Verwandten sahen sich außerstande, mich zu verstehen. Sie konnten natürlich auch nicht wissen, daß in diesem Fall für die eine Hälfte der Ehe ein anderes Gesetz galt. Ich war Deutsche und Nessim war in Deutschland geboren, so daß er halb Deutscher und halb Ägypter war. Im Ernstfall hatte ich, da war ich mir ganz sicher, nicht zu befürchten, Nessim zu verlieren. Aber möglicherweise witterte Ahmed Schwierigkeiten und hatte aus diesem Grund die Geschichte mit der Kaution eingefädelt. Den Tränen nahe, erhob ich mich nun, um runterzugehen. Der große Koffer war im Laufe der Zeit so voll geworden, daß ich schon meine Zweifel gehabt hatte, ob er noch zu schließen sein würde. Und nun stand ich davor, ohne einen Finger rühren zu können. Ganz still sah ich mir den Berg von Kleidern, Schuhen und Spielsachen an, die Nessim und ich mit auf die große Reise nehmen wollten. Ich öffnete die Kleiderschranktüren und begann langsam, Stück für Stück in den Schrank zurückzulegen und im Haus wieder zu verteilen. Automatisch versah ich diese Arbeit, ohne Emotionen und ohne nachzudenken. Nach einer Weile fühlte ich Erschöpfung und Müdigkeit und setzte mich auf mein Bett. Nun kamen langsam die Tränen, Weinen verwandelte sich in Schluchzen und wollte lange nicht aufhören. Unter der permanenten Willkür, der ich ausgesetzt war, litt ich wohl am meisten. Mit dem Gesicht auf dem Kissen hatte ich halb auf dem Bett gelegen und Ahmeds Eintreten nicht bemerkt, bis ich seine Stimme hörte. »Deine Querelen bin ich so über. Steh auf! « Als ich nicht reagierte, zog er mich an einer Hand hoch, hielt mich bei den Schultern und schrie los: »Ich habe Pläne gemacht, wichtige Dinge habe ich vor. Geschäfte mit Deutschen will ich machen und Beziehungen anknüpfen, und du wirst mir das nicht
zerstören. Für Verhandlungen in deutscher Sprache brauche ich deine Hilfe, und also werden wir reisen. Du und ich werden reisen, und da gibt es keine Widerrede. Du wirst jetzt Nessims Sachen aus dem Koffer nehmen und deine wieder einpacken. Richte dich darauf ein, daß wir in drei Tagen abfahren. Ab Alexandria werden wir ein türkisches Schiff bis Genua und von dort den Zug bis Köln nehmen.« Noch eine Zeitlang stand ich da und sah ihm hinterher. Dann ging ich langsam auf den Balkon und setzte mich dort hin. Auf dieser Straße geschah nie viel. Außer einer gelegentlichen Pferdekutsche gab es so gut wie keinen Verkehr. Und doch lenkte mich ein in Lumpen gekleideter Straßenhändler mit seinen Rufen ab: »Sudani, Sudani – Erdnüsse!« Zwei Kinder kamen aus einem gegenüberliegenden Haus gelaufen und kauften ihm zwei aus Zeitungspapier gedrehte Tüten mit Nüssen ab. Es war dunkel geworden, und wie ich so still in der Dunkelheit dasaß, dachte ich an Latifa und wie oft sie mitunter bis in die Nacht hinein Stunde um Stunde auf dem Balkon verbracht hatte. Das Ausmaß ihres Unglücks war ihr, denke ich, nie bewußt geworden, und doch vermittelte sie ihrer Umwelt durch ihr trauriges Schweigen immer den Eindruck, als dächte sie unentwegt über ihr Schicksal nach und wie sie ihm entrinnen könne. Wenn dem jedoch so gewesen wäre, hätte sie sicher bereits der Wahnsinn gepackt. Langsam begann wieder mein Verstand zu arbeiten, und ich beleuchtete mein Problem von allen Seiten. Wenn vor einiger Zeit noch eine Reise nach Deutschland als Hirngespinst abgetan worden war, wurde sie jetzt befohlen. Als Sicherheit sollte mein Sohn hierbleiben. Das garantierte meine Rückkehr. Ich wollte mich jedoch frei entscheiden können, ohne den Zwang, hierher zurückkehren zu müssen. Die Möglichkeit, mich mit
meiner Mutter zu besprechen oder einen Anwalt zu Rate zu ziehen, um zu erfahren, was die Rechtslage in meinem Fall vorsah, war mir verwehrt. Stimmte das denn überhaupt? Nein, das stimmte nicht. In jedem Fall konnte ich mir Rat einholen, ob nun Nessim dabei war oder nicht. In einer unverbindlichen Beratung würde ich erfahren, was ich schon zu wissen glaubte. Diese Ehe würde aus Verschulden meines Ehemannes geschieden werden, und Nessim würde mir zugesprochen. Ein Problem sah ich einzig in der Reise, für die Nessim eine Begleitperson benötigte. Das würde nicht einfach, aber nicht unmöglich sein. Zur Not würde ich mit einer Schiffs- oder Fluggesellschaft Kontakt aufnehmen und mich dort erkundigen, ob man mit der Betreuung eines Dreijährigen nicht eine Person des Personals betrauen konnte. Unerquicklich würde für die Familie noch der Tag sein, an dem ein Regierungsbeamter, vielleicht unterstützt von einem Angestellten der Deutschen Botschaft, Nessim hier abholen würde. Mit einem entsprechenden Gerichtsbeschluß würde man aber dagegen nichts unternehmen können. Nessim würde bei mir aufwachsen. Warum nur war ich so verzweifelt gewesen? Augenblicklich ging es mir besser. Die Zeit ohne Simsim würde schwer werden, und auch meine Mutter würde sehr traurig sein. Aber er würde ja bald schon bei uns sein, und ich würde die Zeit gut nutzen. Einmal auf deutschem Boden, wäre ich in der Lage, wieder nach alter Gewohnheit zu agieren, ohne daß mir ständig Ungehorsam vorgeworfen wurde und mir für eine völlig normale Bemerkung eine Ohrfeige drohte. Denn nun war ich fest entschlossen, sofort die Scheidung einzureichen. Ein bißchen bange war mir bei dem Gedanken an die praktische Abwicklung von Nessims Übersiedlung nach Deutschland. Aber mit dem entsprechenden Schriftstück eines Richters durfte das nur eine Frage der Zeit sein.
Hagg hatte diese Welt verlassen, und ich konnte keine Hilfe mehr von ihm erwarten, mich brauchte aber auch kein Gewissen zu plagen, wenn ich nun in meinem Heimatland blieb. Für Naivität und Unwissenheit hatte ich meinen Teil bezahlt, den Rest würde Ahmed begleichen müssen. Ich hoffte nur, daß es ihm sehr weh tun würde. Gefaßt ging ich wieder zu meinem Koffer und sortierte aus. Als ich Nessims Sachen alle wieder an ihren Platz zurückgelegt hatte, betrat plötzlich Gamal das Zimmer. »Du siehst, ich habe wieder einmal recht gehabt. Nächste Woche wirst du sehr glücklich sein, und wir sind sehr traurig. Hier habe ich dir ein kleines Geschenk aus Kairo mitgebracht.« Er gab mir ein kleines Päckchen. Ich wickelte es aus und hatte ein Zigarettenetui in der Hand. Als ich es öffnete, war es gefüllt mit Zigaretten der Marke, die ich mir hier ab und zu kaufte. Auf den Filter der letzten Zigarette hatte er seine Initialen gemalt, und ich mußte lächeln. »Versprich mir bitte, daß du diese erst rauchen wirst, wenn du wieder hier bist, oder«, und hier machte er eine Pause, »du wartest so lange, bis ich in ein paar Monaten von Leipzig zu dir nach Köln komme.« Ich sah ihn erstaunt an, und sofort klärte er mich auf: »Zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Vereinigten Arabischen Republik besteht ein Abkommen über Bildungsaustausch. Im Rahmen dieses Austauschs kann ich über die Universität Kairo ein paar Monate in Ostdeutschland verbringen. Ich habe mich angemeldet, und wahrscheinlich wird es klappen.« War das eben eine Abschiedsrede? Wußte er mehr als ich? Mein Mißtrauen wurde wieder wach, und wenn ich an die Szene dachte, die sich eben oben im kleinen Saal abgespielt hatte, dachte ich auch an sein Schweigen. Aber wie hätte ich erwarten können, daß er Stellung bezieht? Von unseren Gesprächen durfte niemand erfahren, und selbstverständlich durfte ich in meinem
Vertrauen zu ihm nicht so weit gehen zu vergessen, daß er ein Mensch dieser Kultur war und der Bruder meines Mannes. Auch wenn Unstimmigkeiten seit dem Tod von Hagg zu spüren waren, blieb ich eine Fremde. Und trotz unseres guten Einvernehmens war ich eine Frau. Welchen Sinn hatte seine Absicht, im Rahmen des Bildungsaustauschs sich ein paar Monate in Leipzig aufzuhalten? War das reines Interesse, weil eben auch die Frau seines Bruders Deutsche war, der Wunsch, sich im Ausland weiterzubilden, oder steckte etwas anderes dahinter? Wußte er denn nicht, daß seit 1961 von der DDRRegierung mitten durch Berlin eine Mauer errichtet worden war, die es unmöglich machte, ohne weiteres von dem Ostteil Deutschlands in den westlichen zu reisen? Ich hatte darüber in den deutschen Zeitschriften gelesen, doch sicher waren Meldungen über diese Grenze auch in den hiesigen Medien erschienen. Meine Überlegungen behielt ich für mich, obwohl ich ihm gerne einige Fragen gestellt hätte. Ich schloß das Etui und bedankte mich. Schon im Begriff, nach oben zu gehen, drehte er sich um und sagte: »Heiuka, was auch geschieht, ich werde auf Nessim achten, egal wie lange du dort drüben bleibst.« Ich hob meine Hand, um ihn zu unterbrechen, und sagte: »Du mußt dir da keine Gedanken machen, Nessim wird nach Deutschland kommen, er wird bei mir leben, denn er ist nicht nur Ägypter, sondern auch Deutscher. Und da gibt es Gesetze, die nicht nur auf der Seite deines Bruders sind.« Noch einmal kam er zurück und gab mir einen kleinen Kuß auf den Mund, dann ging er aus dem Zimmer. Ich stand da und sann ihm hinterher. Ein echter Freund in dieser so fremden Welt war er mir gewesen. Die Angst, die bei seinen Worten in mir aufgestiegen war, schob ich zur Seite und schloß nun endgültig meinen Koffer.
In den folgenden Tagen ging es mir ähnlich wie meiner Mutter an dem letzten Tag ihres Aufenthalts. Von den frühen Morgenstunden bis zu ihrer Abfahrt hatte sie Nessim durch die Wohnung getragen, mit ihm gelacht und ihn an sich gedrückt. Und nun ließ ich ihn kaum mehr aus den Augen oder von meiner Hand. Im normalen Tagesablauf war er oft in der Obhut der Mädchen, sie trugen ihn während ihrer Hausarbeit auf einer Hüfte mit sich herum, kümmerten sich ganz lieb und erfüllten ihm jeden Wunsch. Jetzt aber verbrachte ich jede Minute des Tages mit ihm, spielte und lachte mit ihm. Wir spazierten zum Amerikanischen Club oder fuhren im Hantur in die Stadt. In der Kutsche saß er auf meinem Schoß eng an meinen Körper gelehnt, ich verbarg mein Gesicht in seinen blonden Löckchen, und die Wehmut überkam mich. Wie lange würde ich ihn nicht sehen? Würde er mich sehr vermissen? Würde er nicht die deutschen Wörter, die er bis jetzt neben den arabischen gelernt hatte, vergessen? Und ich schwor mir insgeheim, meine ganze Kraft zu mobilisieren, um das Scheidungsverfahren und die letztendliche Übersiedlung von Nessim zu beschleunigen. Am Tag der Abreise mußten wir um fünfzehn Uhr nach Alexandria aufbrechen, und nun wußte ich auch, warum Gamal mitten in der Woche von Kairo nach Tanta gekommen war. Er sollte uns fahren, weil man wohl dem neuen Fahrer noch keine guten Ortskenntnisse zutraute. Natürlich hatte ich kaum geschlafen und war schon früh auf den Beinen. Mit Nessim an der Hand nahm ich eine stundenlange Wanderung auf. Von Zimmer zu Zimmer, von Balkon zu Balkon gingen wir beide, und ich verabschiedete mich von jedem Möbelstück, von der Balkonaussicht und von der Sonne. Nessim verhielt sich ganz ruhig, und ab und zu nahm ich ihn auf den Arm und flüsterte ihm ins Ohr: »Wenn ich gleich wegfahre, mußt du nicht weinen. Wir werden bald wieder miteinander
spielen. Bald bin ich wieder da.« Auch oben in der Wohnung ging ich von Zimmer zu Zimmer, und in dem Raum, in dem mich Hagg vor so langer Zeit gesund gepflegt hatte, blieb ich eine Weile und erinnerte mich. Von der geöffneten Tür aus sah ich das große Porträt von ihm, daß über einer Anrichte im großen Saal hing, und ging darauf zu. Es war kein besonders gutes Bild, aber seine mir so vertrauten braunen, wachen Augen sahen auf mich herunter, und ich hielt Zwiesprache. Ich war unendlich traurig, denn so hatte ich dieses Land niemals verlassen wollen. Es wurde Zeit, und so wie ich vor drei Jahren gekommen und begrüßt worden war, standen jetzt alle wieder an der seitlichen Eingangstür und verabschiedeten mich. Jeder einzelne, sogar die Jungen umarmten mich, und alle hatten Tränen in den Augen. Fatma weinte laut, und Hagge sagte zu mir: »Bleib nicht so lange fort.« Ich sah ihr ins Gesicht, und wie immer waren ihre schwarzen Augen völlig ausdruckslos. Angesichts dieser Abschiedsszene wurde Nessim nun doch unruhig und begann zu weinen. Man rief Ibrahim, der ihn auf seine Schultern nahm und mit ihm die Treppe hinunterging. Das Gepäck war bereits verstaut, und Gamal saß hinter dem Steuer. Die Familie stand auf dem Balkon und sah auf uns hinunter. Ich ging auf die andere Straßenseite und betrachtete noch einmal die Hausfront und winkte hinauf, dann ging ich zu Ibrahim, der etwas abseits stand, und nahm Nessim auf meinen Arm. Ich drückte ihn fest an mich, dann gab ich ihn zurück an Ibrahim, der ihn wieder auf seine Schultern setzte. Sprechen konnte ich nicht, der Kloß in der Kehle hinderte mich daran. Dann saß ich im Wagen auf dem Rücksitz, und Gamal fuhr langsam an. Bis zur Straßenbiegung sah ich durchs Rückfenster und sah Ibrahim mitten auf der Straße stehen, wie er Nessims Beinchen an seine Brust drückte. Nessim hatte nun sein
Gesichtchen verzogen, er weinte. Und durch das Summen in meinen Ohren hörte ich ihn von weitem rufen: »Mami, Mami!« Als wir um die Ecke bogen, nutzten auch die Versuche, mich selbst zu trösten, nichts mehr. Ich zog meine dunkle Brille auf und ließ die Tränen kommen. Zwanzig Jahre sollten vergehen, ehe ich Nessim wiedersah.
25
Ein Neubeginn
Wann genau endete meine Ehe? Für mich begann der Weg in die Freiheit, als ich mich in Köln weigerte, gemeinsam mit Ahmed aus dem Zug zu steigen, um mit ihm bei Freunden zu wohnen. Vor allen Leuten im Zug konnte er nicht gewalttätig werden, und so setzte ich mich durch und fuhr weiter, nach Hause, zu meiner Mutter. Meine Ehe wurde später nach deutschem Recht geschieden, aber nie nach islamischem. Unter der Trennung von Nessim litt ich entsetzlich, und es war nicht nur die Trennung von ihm. Schuldgefühle stellten sich ein, die selbst heute gelegentlich noch in mir hochkommen. Halbe Nächte hat meine Mutter an meinem Bett verbracht, redend, tröstend, wenn ich nicht aufhören konnte zu weinen. Sie sorgte dafür, daß ich regelmäßig versuchte zu essen, und brachte mich schließlich zu dem Arzt, der mich schon als Kind bei Erkältungen behandelt hatte. Er sah mich an und meinte: »Du brauchst ein Kind, heirate wieder. Dann wird sich der Schmerz legen.« Eine Psychotherapie schloß sich an, nachdem ich meiner Mutter erzählt hatte, daß mich nachts immer wieder der gleiche Traum plagt: Ich saß mit Nessim im Zug und wir fuhren nach Hause, nach Bad Neuenahr. Als der Zug das Ziel erreicht hatte, wollte ich sein Händchen nehmen und aussteigen, doch ich war gelähmt. Ich konnte mich nicht bewegen, und Nessim war zu einer Wachspuppe geworden.
Ein Zurück gab es nicht. Die Tür nach Ägypten hatte ich zugeschlagen, als ich einen Rechtsanwalt mit der Scheidung beauftragt hatte. Erst nachdem ich von der Besprechung mit ihm nach Hause kam, wurde mir die Endgültigkeit bewußt. Man trennt sich nicht ungestraft von einem Muselmanen. Ohne Scham, sozusagen öffentlich die Angelegenheit vor einen Richter zu zerren war eine Kränkung besonderer Art. Das Scheidungsbegehren einer Frau befleckt nicht nur den betroffenen Mann, sondern die gesamte Familie. Die Schande, die man den Betroffenen zufügt, muß getilgt werden. Ein so ungeheuerliches Ansinnen wird in der Regel hart bestraft. Und wenn die körperliche Züchtigung so ausfällt, daß die Frau dabei umkommt, trifft den Mann keine Schuld. Niemals darf man sich in dieser Art gegen den Ehemann erheben, und man hat Verständnis für sein Verhalten. Das hatte auch meine Mutter verstanden, und sie mahnte mich, wenn ich vor lauter Sehnsucht nach dem Kleinen von Rückreise sprach: »Liebchen, was hat dein Kind von dir, wenn sein Vater dich totschlägt. Die Familie kennst du und weißt, daß es ihm dort gutgeht. Er hat eine liebevolle Großmutter, ein Kindermädchen, das für ihn durchs Feuer geht. Er wird die besten Schulen besuchen, und eines Tages wirst du ihn wiedersehen. Er wird dich suchen, dich sehen wollen, da bin ich ganz sicher.« Unzählige Wege mit der Bitte um Auskunft und Hilfe zu Behörden, Ämtern und Anwälten waren erfolglos. Ich schrieb an Zeitungen und Illustrierte; meine Briefe wurden zwar abgedruckt, aber Hilfe wußte niemand. Mein Sohn war ein ägyptischer Staatsbürger, und eine Entführung hätte Unsummen gekostet, die ich nicht hatte. Ich begann wieder in meiner alten Firma zu arbeiten, und dort lernte ich meinen jetzigen Mann Franz kennen. 1967
heirateten wir, und ein Jahr später kam unsere Tochter Michaela zur Welt. Als dann 1970 mein Sohn Oliver geboren wurde, war meine Zeit so ausgefüllt, daß Trauerphasen nur noch selten waren. Ich war jedoch in jener Zeit nicht in der Lage, auch nur mit einem Wort Nessim zu erwähnen. Das ging so weit, daß, wenn ich bei einem Arzt nach der Anzahl meiner Geburten gefragt wurde, ich mit »zwei« antwortete. Ich konnte einfach nicht über ihn sprechen. Etwa zu dieser Zeit bekam ich von Ahmed das erste Foto von Nessim zugeschickt. Kommentarlos sandte er mir in der Folgezeit ein- bis zweimal im Jahr ein aktuelles Bild von ihm. Was ihn dazu bewog, weiß ich bis heute nicht. Die Qual, die ich beim Betrachten der Bilder empfand, läßt sich nicht beschreiben. In Reihenfolge klebte ich sie in ein Album ein und betrachtete sie nur, wenn ich alleine war. So konnte ich über die Jahre verfolgen, wie er langsam erwachsen wurde. Michaela und Oliver wußten mittlerweile, daß sie einen Bruder in Ägypten hatten, Gespräche darüber fanden jedoch nie statt. Noch immer war ich dazu nicht bereit. Dann geschah das Unfaßbare. 1979 rief mich ein Freund Ahmeds an, der nach seinem Studium in Deutschland geblieben war, aber seinen Urlaub immer in Ägypten verbrachte. Er habe mit meinem geschiedenen Mann gesprochen und dieser sei nun bereit, ein Wiedersehen zwischen Nessim und mir zu erlauben. Ob ich einverstanden sei. Unfähig, das Gehörte zu begreifen, brachte ich keinen vernünftigen Satz heraus. Damit wir uns am Flughafen nicht verfehlten, würde er mit Nessim auf mich zukommen. Er würde ihn auf seiner Rückreise von Ägypten im Sommer mit nach Köln bringen. Ich war völlig verstört und holte mein Album hervor. Jedes einzelne Foto betrachtete ich minutenlang und sah jetzt, daß in diesem Gesicht Veränderungen vorgegangen
waren, die ich vorher nie wahrgenommen hatte. Zu Anfang, mit zehn etwa, lachten die Augen in dem fröhlichen Jungengesicht, und seine Welt schien in Ordnung zu sein. Ein andermal hatte man ihn in Alexandria aufgenommen, und er ritt lachend auf einem Esel am Meer entlang. Schelmisch blitzten seine Augen, wohl in dem Bewußtsein, daß sonst nur Fellachen diese Tiere ritten. Auf den folgenden Fotos waren seine Augen ernster, ich meinte, Traurigkeit darin zu sehen. Aus dem Lausbub mit den fliegenden Locken war mit den Jahren ein melancholischer junger Mensch geworden, der unbeteiligt und kühl in die Kamera schaute. Die neueste Ablichtung zeigte ihn nun ohne Locken, die Haare hatte er sich auf Stiftlänge kürzen lassen, die Augen zeigten sich fast stechend, und der Mund war zu einem schmalen Spalt zusammengepreßt. In der Nacht vor dem großen Tag hatte ich kaum geschlafen. Michaela und Oliver, normalerweise sehr lebhafte Kinder, verhielten sich still und sahen mich manchmal scheu und auch erwartungsvoll von der Seite an. Michaela gab mir ein Glas Wasser, damit ich die Beruhigungstablette nehmen konnte, die mein Mann mir empfohlen hatte. Mir fielen ständig irgendwelche Gegenstände aus den Händen und ich stolperte durch die Wohnung. Im Auto sprach niemand ein Wort, und Franz legte ab und zu schweigend eine Hand auf mein Knie, als wolle er sagen, Kopf hoch, endlich ist es doch soweit. In der Ankunftshalle im Flughafen standen meine Lieben einen Schritt hinter mir, so als wollten sie mir Raum lassen, wußten sie doch, daß ich in kritischen Momenten immer Platz um mich brauchte und auch nie das Bedürfnis gehabt hatte, mich trostsuchend anzulehnen. Ich erlebte diese Momente wie in einem luftleeren Raum, völlig losgelöst von den Gedanken der vielen
vergangenen Jahre, und starrte wie gebannt auf die herausströmenden Reisenden. Plötzlich stand der Mann, den ich als Freund Ahmeds in Erinnerung hatte und den ich etwa fünfundzwanzig Jahre nicht gesehen hatte, vor mir. »Nessim wird gleich hier sein, er war etwas hinter uns.« Dann zeigte er auf einen Mann, der allein durch die Abfertigung kam, wünschte mir alles Gute und verschwand diskret. Sehr langsam und mit vorsichtigen Schritten kam mein Sohn mir entgegen. Ich blieb bewegungsunfähig einfach nur stehen und wartete. Alles um mich herum war versunken, und wie in Zeitlupe kam der junge Mann von untersetzter Statur in einem blauen Jeansanzug auf mich zu. Die großen graugrünen Augen Ahmeds mit den langen Wimpern, die ich so geliebt hatte, gab es in diesem Gesicht nicht. Aus dem runden Gesicht seines Vaters sahen mich meine Augen an, nur daß sie nicht braun, sondern hell waren. Er schien jünger zu sein, als er tatsächlich war und lächelte nur scheu. Erst als er unmittelbar vor mir stand, löste sich meine Starre. Zuerst hielt ich ihm meine Hände hin, dann umarmte ich ihn, und so blieben wir wohl eine Weile einfach stehen und rührten uns nicht. Die Enge in meinem Hals, die die Luft zum Atmen nur mit kurzen Rucken durchgelassen hatte, ließ jetzt nach, und ich murmelte ein ums andere Mal: »Mein Gott, mein Gott, Sim-sim, mein Junge.« Meine spärlichen Englischkenntnisse probierte ich gar nicht erst aus, vom ersten Augenblick an sprach ich arabisch mit ihm, so als würde ich diese Sprache täglich benutzen. Ich staunte über mich selbst und war dankbar für dieses große Wunderwerk, das ich unter meiner Schädeldecke trug und solche Erinnerungskunststücke erst möglich macht. So wie Michaela und Oliver mich in den letzten Stunden still angesehen hatten, so betrachteten sie nun Nessim, und er sah lächelnd auf sie
hinunter. Franz, mein Mann, hieß ihn willkommen, nahm seine Reisetasche und brachte mit seinen praktischen Handgriffen auch mich wieder in diese Welt zurück. Michaelas englische Begrüßung, die sie sich extra aus dem Schulbuch herausgesucht hatte, war untergegangen, und sie war enttäuscht. Als sie im Auto einen neuen Anlauf nahm, um Nessim nach dem Verlauf seiner Reise zu fragen, wandte er sich an mich: »Was hat sie gesagt, Mama?« Vorsichtig versuchten wir herauszufinden, wo die Schwierigkeiten lagen, und stellten fest, daß Nessim keine Sprache außer seiner Landessprache verstand. Wir waren überrascht, hatten wir doch etwas ganz anderes erwartet. Ahmeds Geschwister hatten französische oder amerikanische Schulen besucht, und auch Nessim sollte doch die bestmögliche Erziehung erhalten haben. Wie konnte das sein? In der zweiten Woche seines Aufenthaltes besuchten wir meine Mutter. Nessim war hocherfreut, als ich ihm erzählte, daß seine Großmutter ihn gerne sehen möchte. Wir saßen gemeinsam im Wohnzimmer, und sie sagte mir: »Siehst du, Liebchen, habe ich nicht immer gesagt, du wirst ihn wiedersehen?« Und so, als nähme sie nicht zur Kenntnis, daß er kein Wort von dem verstand, was sie sagte, erzählte sie ihm aus der Zeit, als sie mit ihm im Kinderwagen durch Bad Neuenahr spaziert war. Er nickte dann liebevoll und auch gehorsam und wandte sich dann an mich: »Was hat sie gesagt, Mama?« Und obwohl wir alle immer wieder bei solchen Gelegenheiten lachen mußten, gewöhnten wir uns an diese Unterhaltungen im Dreieck. Ob während eines Einkaufsbummels oder wenn die Kinder sich in ihren Zimmern die Zeit vertrieben, immer wieder hörte ich die Frage, von Michaela und Oliver in deutsch, von Nessim in arabisch: »Was hat er gesagt?«
Und dann rief mich Nessim 1984 an, um mir den Tod seines Vaters mitzuteilen. Seine Stimme war bedrückt, und er schien mit den Tränen zu kämpfen. Ich konnte seine Trauer nicht teilen. Endlich hatte ich die Möglichkeit, das Land wiederzusehen, von dem ich alle Berichte, alle gesellschaftlichen und politischen Veränderungen aus der Ferne verfolgt hatte. Da ich nach ägyptischem Recht nie geschieden worden war, war ich immer noch die Frau von Ahmed Abd El Kataf, und zu seinen Lebzeiten hätte ich damit rechnen müssen, nicht mehr ungehindert in mein Heimatland zurückreisen zu können. Jetzt, da er tot war, war der Weg frei, und ich unternahm eine Reise in die Vergangenheit. Mit Feindseligkeit oder Zurückhaltung hatte ich gerechnet. Niemals aber mit einer derart herzlichen, freudigen und offenen Begrüßung. Von einer Umarmung zur anderen und immer wieder die Worte, besonders von meinen Schwägerinnen: »O mein Gott, daß wir dich noch einmal wiedersehen.« Ich wurde herumgereicht, zum Essen eingeladen und zu Ausflügen. Stolz begleitete mich Nessim auf meinen Wegen, und als meine Schwägerin Rahn aus Kairo anrief, wann ich endlich käme, fuhren Nessim und ich zu ihr. Sie hatte in einem Restaurant, das auf einer Landzunge in den Nil hineinragte, ein Essen arrangiert und zu dieser Gelegenheit Kinder und Kindeskinder mit Ehemännern und Frauen zusammengerufen. Alle waren gekommen, und ich saß neben meinem Sohn in dieser großen Gesellschaft, sah versonnen über den Nil, betrachtete wieder und wieder meine Verwandten, und selten im Leben hatte ich ein solches Glücksgefühl gespürt. Nessim sprach nie viel über seine Familie, hat sich aber immer wieder in verehrenden Worten über seinen Vater geäußert. Er schien ihn sehr zu lieben, und ich wollte daran nichts schmälern. Aber eines Tages war es mir
zuviel geworden, und ich wollte ihn auf den Boden der Tatsachen holen, ihm zeigen, daß es da auch Dinge gegeben hatte, die nicht so großartig gewesen waren. »Wäre es nicht schön, du könntest dich heute mit deinen Geschwistern in ihrer Sprache unterhalten? Was wäre so schlimm daran gewesen, hättest du in den vergangenen Jahren einmal im Jahr drei oder vier Wochen hier bei uns verbracht? Viel Leid wäre mir und dir erspart geblieben bei einer solchen Regelung.« Was kam da nicht alles in mir hoch, und ich redete weiter, achtete nicht auf seine Verwunderung. »Als ich 1960 mit deinem Vater in Tanta in der Shera El Fathi Straße ankam, hat er heimlich meinen Paß in den Tresor deines Großvaters gelegt und gab ihn mir auch nicht auf meine Bitten hin heraus. Ohne Paß war ich eine Gefangene, findest du das gut?« In seinem Gesicht war grenzenloses Staunen zu sehen, das dann aber einem verschmitzten Lächeln wich, und mit Stolz sagte er: »Baba war immer schon ein kluger Mann.« Sprachlos sah ich ihn an, und es gab nichts, aber auch gar nichts mehr zu sagen. Welche Tragweite die Erziehung meines Sohnes über den Zeitraum von zwanzig Jahren in der Kultur des Islam hatte, war mir in diesem Moment glasklar geworden. Heute versuche ich, den Kontakt zu meinen ägyptischen Enkelkindern so eng wie möglich zu halten. Vor allem die beiden Mädchen kommen jetzt langsam in ein Alter, in dem sie mich für einige Wochen in Deutschland besuchen können. Sie werden viel Fremdartiges und vielleicht für sie Unbegreifliches sehen, und ich hoffe, daß ich ihnen mit meiner Erfahrung über diese kulturellen Klippen hinweghelfen kann. Ich hoffe auch sehr, daß ich aufkommendes Heimweh während eines Besuches vertreiben kann. Sollte mir das nicht gelingen, werde ich ihre Heimreise unverzüglich veranlassen – sie
werden nach Hause fahren, aber wiederkommen, da bin ich sicher.
ENDE