Gianni Guadalupi Anthony Shugaar
Faszination Äquator Geschichten rund um den Globus
s&c 06/2008
Der Äquator zieht sei...
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Gianni Guadalupi Anthony Shugaar
Faszination Äquator Geschichten rund um den Globus
s&c 06/2008
Der Äquator zieht seit 3000 Jahren Entdecker und Forscher in seinen Bann. Einige der faszinierendsten Überlieferungen und sensationellsten Abenteuer rund um den Globus hat der italienische Historiker Gianni Guadalupi zusammengetragen. ISBN: 3442711827 Original: Latitude Zero. Tales of the Equator Aus dem Englischen von: Frank Auerbach Verlag: National Geographic Taschenbuch Erscheinungsjahr: 2002 Umschlaggestaltung: Petra Dorkenwald, München
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
BUCH
Der Äquator zieht seit 3000 Jahren Entdecker und Forscher in seinen Bann. Einige der faszinierendsten Überlieferungen und sensationellsten Abenteuer rund um den Globus hat der italienische Historiker Gianni Guadalupi zusammengetragen: von den altägyptischen Gewürzhändlern auf der Suche nach den sagenhaften Ländern Punt und Ophir bis zu den Portugiesen, die im 16. Jahrhundert den Seeweg nach Indien finden wollten, oder den Glücksrittern auf der Suche nach El Dorado.
AUTOREN
In den dreißig Jahren seiner schriftstellerischen Tätigkeit veröffentlichte der Historiker Gianni Guadalupi mehr als fünfzig Anthologien zu den Themen Reise und Entdeckung. Er trug Berichte über Expeditionen in die unbekanntesten Winkel dieser Erde zusammen. Zwei seiner erfolgreichsten Bücher sind auf Deutsch erschienen: Von Atlantis bis Utopia und Der Nil. Die Geschichte seiner Entdeckung. Gianni Guadalupi lebt in Italien. Antony Shugaar ist Autor, Übersetzer und Journalist. Er schrieb Bücher über New York und San Francisco, war als CoAutor tätig und übersetzte unter anderem eine MacchiavelliBiografie. Neben seiner Tätigkeit als Autor und Übersetzer arbeitet er für die National Geographic Society. Antony Shugaar lebt in Washington, D.C.
GIANNI GUADALUPI und ANTONY SHUGAAR
FASZINATION ÄQUATOR Geschichten rund um den Globus Aus dem Englischen von Frank Auerbach unter Mitarbeit von Reinlind Luk und Linde Wiesner
NATIONAL GEOGRAPHIC Ein Buch der Partner Goldmann und National Geographic Deutschland
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel »Latitude Zero. Tales of the Equator« bei Carroll & Graf, New York.
Coverfotos: oben: akg-images, Landkarte von Äquatorialafrika unten: akg-images, Amerigo Vespucci, hinten: British Library, Der Vogel Roch
SO SPANNEND WIE DIE WELT Dieses Werk erscheint in der Taschenbuchreihe NATIONAL GEOGRAPHIC ADVENTURE PRESS im Goldmann Verlag, München
1. Auflage November 2002, deutsche Erstausgabe © der deutschsprachigen Ausgabe NATIONAL GEOGRAPHIC ADVENTURE PRESS im Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH © 2001 by Gianni Guadalupi and Antony Shugaar Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Dr. Karl Pichler, München Umschlaggestaltung: Petra Dorkenwald, München Herstellung: Sebastian Strohmaier, München Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck ISBN 3-442-71182-7 Printed in Germany Das Papier wurde aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff hergestellt.
Wir widmen dieses Buch Gerda, Lisa, Giulia, Alessia und Arlie Tallulah.
INHALT
BUCH ......................................................... 2 AUTOREN .................................................... 3 INHALT ....................................................... 7 EINLEITUNG ................................................. 9 ERSTER TEIL: Altertum ................................ 20 Die Geheimnisse der Südlichen Meere ................ 26 ZWEITER TEIL: Südamerika .......................... 45 Der glücklose Konquistador ................................ 51 Der rebellische Konquistador .............................. 70 Der Mann, der auf die Amazonen traf ................. 85 Die Vermessung der Erde ................................. 102 Die Penelope von Riobamba ............................ 119 Die nackte Baroness .......................................... 135 DRITTER TEIL: Afrika ................................ 149 Die heilige Johanna des Kongo ......................... 153 Die unmöglichen Seen...................................... 167 Der entschleierte Nil......................................... 183 Der fehlende See .............................................. 200
Die Menschenfresser ......................................... 215 Die Titelseite .................................................... 225 Die Eroberung von Äquatoria ........................... 251 Die Katastrophen von Äquatoria ....................... 266 Das Herz der Finsternis ..................................... 299 VIERTER TEIL: Asien und Ozeanien ............ 319 Maluku ............................................................. 323 Der Weiße Raja ............................................... 347 Rund um die Welt in 35 Stunden ..................... 378 Tusitala in der Äquator-Stadt ............................ 386 QUELLENANGABEN .................................... 398 Altertum ........................................................... 399 Südamerika ....................................................... 400 Afrika ............................................................... 401 Asien ................................................................ 403 Ozeanien .......................................................... 404
EINLEITUNG
Die Weltgeschichte ist fast immer aus der Perspektive von etwa 45 Grad nördlicher Breite geschrieben worden. London liegt knapp oberhalb von 51 Grad nördlicher Breite, Paris bei etwa 49 Grad, München knapp nördlich von 48 Grad, Rom auf 42 Grad. Wenn wir den Streifen ins Auge fassen, der im Süden bis Kairo (30 Grad nördlicher Breite) und im Norden bis Sankt Petersburg (60 Grad nördlicher Breite) reicht, dann blicken wir auf die Bühne, auf der sich die westliche Kultur entwickelt hat. Asien liegt ein wenig weiter südlich: Peking auf 40 Grad nördlicher Breite, Tokio auf 35 Grad, Seoul auf 37 Grad. Nordamerika liegt in etwa den gleichen Breiten wie Asien: Washington, D.C., auf 39 Grad, Philadelphia auf 40 Grad, New York auf 41 Grad, Boston auf 42 Grad, Chicago auf 41, San Francisco auf 38, Los Angeles auf 34 Grad nördlicher Breite. Es heißt manchmal, New York wäre zwar nicht die Hauptstadt der amerikanischen Kultur, wohl aber die Hauptstadt des amerikanischen Kulturbetriebs. In ähnlicher Weise ließe sich sagen, der Gebietsstreifen zwischen dem 30. und dem 60. Grad nördlicher Breite hat 9
zwar nicht ein Monopol an der Weltgeschichte, wohl aber das Monopol der Weltgeschichtsschreibung. Die meisten Verlage, Rundfunk- und Fernsehsender, Universitäten und Bibliotheken der Erde schauen von diesem vergleichsweise schmalen Gebietsstreifen auf das Weltgeschehen. Geographische Breite ist so gesehen Schicksal und Bestimmung. Interessanterweise liegt dieser hier beschriebene Streifen fast genau in der Mitte zwischen dem Breitengrad Null (dem Äquator) und dem 90. Breitengrad (dem Nordpol). Das ist so, als würden wir ein geräumiges Zimmer bewohnen, aber nur dem Bereich in Augenhöhe Beachtung schenken und nicht auf die Decke (die Arktis) und nicht auf den Boden (den Äquator) blicken. In der jüngeren Vergangenheit konnten wir großartige Berichte von der Erkundung der »Dächer« der Erde (des Nord- und des Südpols) lesen. Aber die Geschichte und die Geschichten vom Äquator wurden nur häppchenweise erzählt oder gänzlich übergangen. In diesem Buch wollen wir Geschichten vom Äquator erzählen. Natürlich werden wir keine umfassende Darstellung des Lebens am Breitengrad Null während der letzten tausend Jahre liefern. Aber wir erzählen einige der spannendsten, abenteuerlichsten, überraschendsten und verrücktesten Geschichten von jener geographischen Linie. Der Äquator ist in gewissem Sinne das größte von Menschen geschaffene Objekt auf Erden. Die Erde hat 10
keine exakte Kugelform, sondern ist an den Polen abgeflacht und wölbt sich in der Mitte stärker nach außen. Wegen dieser äquatorialen Ausbuchtung ist die imaginäre Linie entlang dem Breitengrad Null länger als jede andere gerade Linie, die man auf der Erdoberfläche ziehen kann. Und infolge seiner Größe bewegt sich ein Punkt auf dem Äquator mit der Erdrotation schneller als jeder andere Punkt irgendwo sonst auf der Erde (wie die nach außen getriebenen Sitze eines Karussells, wobei die Pole die ruhenden Achspunkte dieses irdischen Karussells bilden). Der Äquator erhält mehr Sonneneinstrahlung als jeder andere Ort auf der Erde, und die Äquatorsonne steht in der Mitte des Himmels still. (Vor einigen Jahren wollte ein einfallsreicher Fotograf eine ausgedehnte Mehrfachbelichtungsaufnahme der Sonne machen: jeden Tag um zwölf Uhr mittags, ein ganzes Jahr lang. Das Ergebnis war eine leuchtende Ziffer 8 am Himmel. Hätte er die gleiche Bilderfolge am Äquator aufgenommen, dann wäre auf dem Foto ein einziger intensiver Lichtpunkt im Zenit zu sehen gewesen.) Der Äquator mag in gewisser Hinsicht ein von Menschen geschaffenes Konstrukt sein. Aber in anderer, ganz natürlicher Hinsicht sind die Dinge am Breitengrad Null anders als sonst wo. Die Wind- und Strömungssysteme der Erde unterteilen sich in nördliche und südliche Systeme. Der südliche Äquatorialstrom rauscht westwärts gegen die ostwärts drängende äquatoriale Gegenströmung im Pazifik und im Indischen Ozean. Ähnliche Grenzen zwischen Strömungen gibt es im Südatlantik 11
entlang der Äquatorlinie. Der Äquator stellt die Grenze zwischen den nordöstlichen Passatwinden und den südöstlichen Passatwinden dar. Ohne zu weit in Einzelheiten zu gehen, sei erwähnt, dass auch noch andere vorherrschende Windsysteme vom Äquator unterteilt werden (die Mauritius-Zyklone und die Bengalischen Zyklone im Indischen Ozean, die Willy-Willies und die Südsee-Orkane vor Australien, die Cordonazos vor Mittelamerika). Der Äquator ist also ein Ort aller Arten von interessanten Erscheinungen. Es ist zwar fraglich, ob die Coriolis-Kraft tatsächlich dazu führt, dass das Wasser, das aus einem Spülbecken in den Abfluss läuft, sich nördlich des Äquators im Uhrzeigersinn und südlich des Äquators im Gegenuhrzeigersinn dreht, aber jedenfalls markiert der Äquator die nautisch tote Zone: die Doldrums, den äquatorialen Windstillengürtel von Kalmen und unsteten leichten Winden sowohl im Pazifik wie auch im Atlantik. Was die Seefahrer im Zeitalter der Segelschiffe hinsichtlich der Doldrums empfanden, zeigt schon die Etymologie des Wortes: eine Verbindung von »dolt« und »tantrum«, Tölpel und Wüterich. Manche Seeleute starben eines schrecklichen Todes, wenn sie im Niemandsland zwischen nördlichen und südlichen Passatwinden festsaßen. Tatsächlich dürfte das jahrhundertelang übliche bizarre heidnische Brauchtum auf Segelschiffen, die den Äquator überquerten – mit dem Meeresgott Neptun und seinem Gefolge, mit zeremoniellem Untertauchen 12
und Verulken –, eher eine Feier des Überlebens der Doldrums gewesen sein als ein wirkliches Interesse an der Markierung des Breitengrades Null. Eine ähnlich rätselhafte, aber verhältnismäßig neue Bedrohung für unser gemeinsames Überleben entsteht durch den mächtigen Treibhauseffekt und die gegeneinander verlaufenden nördlichen und südlichen Tiefseeströmungen im Pazifik entlang der Äquatorlinie. El Niño ist eine Anomalie der tiefen äquatorialen Gewässer im mittleren Pazifik, die die Äquatorialwinde beeinträchtigt und in den letzten zehn Jahren weit reichende Auswirkungen gezeigt hat. Und nicht zuletzt findet die besondere Geschwindigkeit des Äquators ihre Bestätigung in der Entscheidung der Europäischen Raumfahrtbehörde, alle ihre Satelliten von Kourou in Französisch-Guayana aus in den Weltraum zu schicken. Die Staaten der Europäischen Union liegen allesamt zwischen 35 und 60 Grad nördlicher Breite, aber ein koloniales Erbe gestattet es der Europäischen Raumfahrtbehörde, die Startgeschwindigkeit ihrer Raketen um ganze 1600 Stundenkilometer zu steigern, indem sie sie entlang dem Äquator in Richtung Osten abschießen. Für die Amerikaner liegt der am weitesten südöstlich gelegene Punkt – und damit die höchstmögliche Startgeschwindigkeit über Wasser – auf Cape Canaveral im Südosten Floridas. Eines der Geheimnisse des Äquators war die Wasserführung des Kongo. Frühe Forschungsreisende sahen sich durch den beständigen Wasserstand des Flusses – 13
Fehlen von Niedrigwasser während der Trockenzeit und von Hochwasser in der Regenzeit – vor ein Rätsel gestellt. Die ersten paar Hundert Kilometer des Flusslaufs waren von Felsen und Stromschnellen unterbrochen, sodass die Forscher nicht weiter flussaufwärts vordringen konnten, um die Ursachen zu erkunden. Erst als der große Forschungsreisende des viktorianischen Zeitalters, Henry Morton Stanley, den Kongo seiner ganzen Länge nach von der Quelle bis zum Atlantik zu Fuß abgegangen war, gab es eine Erklärung. Der Fluss schlängelt sich von seiner Quelle aus, die südlich des Äquators liegt, nach Nordwesten und macht dann wieder eine Schleife vom Norden über den Äquator nach Süden. Folglich entspricht entlang dem Kongo die Trockenzeit nördlich des Äquators der Regenzeit südlich des Äquators und umgekehrt. Also regnet es immer irgendwann am Kongo, und sein Wasserstand kann nie ganz absinken. Aber nicht nur das Verhalten des Wassers und der Luft entlang des Äquators ist interessant, ebenso interessant sind die Landmassen. Beschränken wir uns nur auf den Äquator selbst, der von der internationalen Datumsgrenze (einer entfernten Verwandten des Äquators, die ungefähr mit dem 180. Längengrad übereinstimmt) ostwärts verläuft, finden wir die über etwa 1600 Kilometer ausgedehnten Linieninseln, Darwins Galápagosinseln, das nahezu 3000 Meter hoch gelegene Quito und die ecuadorianischen Anden, das sich über weitere 1600 Kilometer erstreckende nördliche Amazonasbecken und 14
dann das mächtige Amazonasdelta selbst. Nur wenig nördlich davon liegen Französisch-Guayana und die berüchtigte Strafkolonie der Teufelsinsel. Dann überqueren wir geradewegs den Atlantik an seiner schmalsten Stelle bis zum Golf von Guinea (der Einbuchtung der afrikanischen Küste, die – nach der Theorie des Urkontinents Pangäa – einstmals die nach Osten herausstehende Spitze der Landmasse Brasiliens eng umschloss) und dem kleinen Inselstaat São Tomé und Príncipe. Dann verläuft die Äquatoriallinie durch Libreville, die Hauptstadt von Gabun, durch Äquatorialguinea und 800 Kilometer durch den Kongodschungel. Interessanterweise durchschneidet der Äquator den 4375 Kilometer langen Fluss Kongo nicht nur einmal, sondern zweimal, einmal bei Mbandaka und einmal 800 Kilometer weiter östlich bei Kisangani. In rascher Folge erreicht der Äquator sodann den Rutanzigesee und die nebelverhüllten Ruwenzoriberge (die durch Dian Fossey berühmt geworden sind), Uganda mit der Hauptstadt Kampala, den drittgrößten See der Erde, den mächtigen Victoriasee, die Quelle des Nils, dann Nairobi und eine Ecke von Somalia. Darauf folgen der blaue Indische Ozean, die Korallen-Atolle der Malediven, Sumatra, Malaysia mit Singapur, Borneo, die Makassar-Straße, Celebes, die Molukkensee, die Spitze von Neuguinea, der Inselstaat Nauru (dessen Flagge aus einem blauen Feld mit einem gelben Streifen, der den Äquator darstellt, und mit einem weißen Stern, für die Insel selbst, besteht) und schließlich die Kiribati-Inseln, 15
die früher Gilbert-Inseln hießen, und natürlich die Linieninseln und die Doldrums im Pazifik. Dieser Linie durch den Sand und das Wasser, über die Berge und die großen Seen und Flüsse folgten einige der großen Entdecker, Träumer, Schwindler und Spinner der Geschichte. Einige ihrer Geschichten sind bekannt, viele davon kennt keiner, doch wir können wohl mit Recht behaupten, dass der Äquator bisher noch nie das verbindende Thema einer so erstaunlichen Sammlung von Abenteuergeschichten wie der vorliegenden gewesen ist. Wäre der Äquator ein Reich – das längste, schmalste Reich der Erde –, dann wäre er das Reich der außerordentlichsten Geschichten. Die Geschichten reichen zurück in älteste Zeiten – Geschichten von Riesenvögeln, die Elefanten schlagen, um ihre Jungen damit zu füttern, von unter der Mittagssonne kochenden Meeren, von den Reichen Punt und Ophir, seltsame Erzählungen von riesenhaften wohlwollenden Schlangen und schwimmenden Dracheninseln. Diese Sagen vom Äquator werden danach von den kaum weniger phantastischen und anregenden historischen Berichten abgelöst: Beispielsweise rüsteten kurz vor dem Anbruch des großen Zeitalters der Entdeckungen ein ehrgeiziger chinesischer Kaiser und ein wagemutiger Eunuchen-Admiral eine der großen Flotten der Geschichte aus. Diese gewaltige Formation majestätischer, luxuriöser Dschunken segelte von den südlichen Häfen Chinas hinaus durch die indonesische Inselwelt, 16
über den gesamten Indischen Ozean und ging beim fernen Mombasa im heutigen Kenia an Land. Nach sieben großen Seereisen kehrte die Flotte endgültig nach Hause zurück. Der Kaiser starb; eifersüchtige Wesire und neidische Hofschranzen vernichteten die Karten und Logbücher, damit kein künftiger Kaiser mehr sich hinauswagen könne auf die großen äquatorialen Meere Richtung Westen. Die große Welle chinesischer Erkundungen entlang dem Äquator ebbte zu der Zeit ab, als die Portugiesen damit begannen. Man hat ausgerechnet, dass Menschen in Goa in Südindien, die als kleine Jungen oder Mädchen die prächtige chinesische Flotte im Hafen beobachtet hatten, zu Lebzeiten auch noch die ersten portugiesischen Entdeckerschiffe im selben Hafen haben anlegen sehen können. Die meisten Geschichten vom Äquator, die in diesem Buch erzählt werden, stammen aus den darauf folgenden vier Jahrhunderten, dem großen Zeitalter der europäischen Entdeckungsfahrten. Es sind Geschichten ganz unterschiedlichen Strebens nach Ruhm und Gold. Sie reichen von der großartigen Weltumsegelung des Magellan, der den westlichen Seeweg in die große Südsee, den Pazifischen Ozean, entdeckte, bis zum spektakulären Wahn des Lope de Aguirre, jenes irrsinnigen Konquistadors, der auf den Wassern des Amazonas und des Orinoko eine schwimmende Republik baute, in der Gewalt und Anarchie herrschten. An Charakteren begegnen uns Schriftsteller wie Henry Morton Stanley, 17
der fortwährend riesige, bis zu den Zähnen bewaffnete Expeditionen durch Äquatorialafrika führte, um Leute zu retten, die gar nicht unbedingt gerettet werden wollten. Sie reichen von Sir Richard Burton, dem hervorragenden Orientalisten und Übersetzer von Tausendundeine Nacht, bis zu Emin Pascha, dem sanften, kurzsichtigen Entomologen, der zugleich während des Mahdiaufstands im Sudan ein vorzüglicher Gouverneur der Äquatorialprovinz war. In den Geschichten vom Äquator scheint es oft um ein zwanghaftes Streben, eine obsessive Suche zu gehen: nach dem vermissten Dr. Livingstone, nach dem schwer zu findenden westlichen Seeweg, nach der so lange leidenden Penelope von Riobamba und in einer verblüffenden südamerikanischen Sage nach dem Königreich El Dorados, des »Vergoldeten«, von dem es hieß, dass er in einer goldenen Stadt lebte, die sich an einem See befand, der jeden Morgen in einem zweiten Sonnenaufgang erglühte und mit dem wirklichen in Schönheit und Leuchtkraft wetteiferte. Einer nach dem anderen, Gonzalo Pizarro (der Bruder des Eroberers von Peru), Francisco de Orellana, Lope de Aguirre, Sir Walter Raleigh und viele, viele andere – sie alle jagten hinter El Dorado her, dessen Name zum Synonym für ebenso unermesslichen wie trügerischen Reichtum wurde. Und dann gibt es die Geschichte der nackten Baroness der Galápagosinseln, einer österreichischungarischen Aristokratin und Verführerin, die am Äquator einen luxuriösen Ferienort schaffen wollte, ein ver18
rücktes kleines Utopia der freien Liebe, das schließlich in rätselhaften Mordfällen unterging. Dann finden wir die Geschichte des Weißen Raja, eines viktorianischen Engländers, der auszog, ein Königreich zu finden, und der schließlich zum unumschränkten Alleinherrscher des Inselstaats von Sarawak wurde. Manche Geschichten erzählen von dem harten Kampf zwischen europäischen Abenteurern und den Völkern am Äquator, die zu entdecken und zu unterwerfen sie gekommen waren. Einige sind geradezu bezeichnend für die Kluft zwischen zwei Welten: etwa das Pathos der Geschichte von der heiligen Johanna vom Kongo, einer nicht in Vergessenheit geratenen Heldin des 18. Jahrhunderts und Märtyrerin einer synkretistischen Religion, auf dem Scheiterhaufen verbrannt durch die Machenschaften von Kapuzinermönchen, die eifersüchtig waren auf ihre Kraft und Beliebtheit. Einige Erzählungen sind nicht so krass, und sicherlich ist die von Robert Louis Stevensons langem Aufenthalt auf den Gilbert-Inseln eine der bezauberndsten: Der genesende Geschichtenerzähler bekehrt einen SüdseeTyrannen, den gefürchteten König Tembinok’, und erhält eine kleine Enklave auf einer Insel am Breitengrad Null – die Äquator-Stadt. Hier sind sie also: die Geschichten vom Äquator, ein Schatz an erstaunlichen Erzählungen und Berichten, verbunden durch die längste Kreislinie, die es auf Erden gibt.
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ERSTER TEIL:
Altertum
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Der Roch spielt in vielen Mythen um den Äquator eine Rolle. Es hieß, dass der Riesenvogel seine Jungen mit Elefanten füttert. – British Library, London, UK/Bridgeman Art Library 21
Für die Menschen des Altertums waren die Sonne am Himmel über ihnen, die wechselnden Jahreszeiten, die Vorstellung von Nord und Süd viel gegenständlicher und greifbarer als für uns heute. Beispielsweise wäre für unser modernes Empfinden ein bestimmtes Tiefblau eine attraktive Designerfarbe, eine Nummer auf einem Farbfächer, eine Farbkreide in einer der größeren Buntstiftpackungen. Die Welt der Antike hatte eine ganz spezielle Definition dafür: Es war die Farbe des Himmels, der sich auf der Oberfläche des Meeres spiegelt. Wir nehmen diesen tiefblauen Farbton einfach als solchen zur Kenntnis, während er für die Alten durch das Zusammenwirken von Himmel und Meer – zwei wichtigen und stets gegenwärtigen Faktoren des täglichen Lebens – entstand; und ähnlich spielte allein schon die Vorstellung des Äquators in der Kosmologie der Antike eine ganz andere und viel bedeutendere Rolle als für uns. Für uns ist der Äquator etwas Selbstverständliches: eine Linie auf dem Globus im Klassenzimmer unserer Grundschule oder vielleicht, später im Leben, ein großes Straßenschild in Kenia oder in Ecuador, das sich als Fotomotiv für unser Reisetagebuch anbietet. Wir wissen erheblich mehr, als wir verstehen. Wir »wissen«, was 22
der Äquator ist, aber wir wären wohl kaum in der Lage, unsere geographische Breite durch die Beobachtung von Sonne und Sternen zu bestimmen. Der griechische Philosoph Eratosthenes verglich zur Zeit der Sommersonnenwende den Mittagsschatten in Alexandria mit dem im heutigen Assuan und war dadurch im Stande, aus der Differenz die Krümmung der Erde zwischen diesen beiden Orten und schließlich den Erdumfang zu berechnen. Ohne Frage wussten die Menschen der Antike eine ganze Menge über die Gestalt der Erde und über die Lage des Äquators. Allerdings dürfte das, was ein paar große Männer wussten und auf Schriftrollen niederschrieben, keine große Verbreitung gefunden haben. Und so führte die Tatsache, dass die Hitze deutlich zunahm, je weiter man nach Süden vordrang, dass die Sonne gerade über einem stand und dass die Tiere und Menschen, denen man begegnete, anders und oftmals sehr wild waren, vielfach zu der Annahme, dass das Meer, gelangte man nur weit genug nach Süden, kochen würde, dass die Krokodile viel größere äquatoriale Verwandte hätten, die sehr wohl Drachen sein könnten, und dass das Meer an einem gewissen Punkt wie ein reißender Sturzbach im Nichts verschwände. Das folgende Kapitel, eine Sammlung von Geschichten über den Äquator, wie sie in der Welt der Antike im Umlauf waren, ist ebenso amüsant wie erstaunlich, und in diesem Sinne stellen wir die Erzählungen vor. 23
Aber wir sollten nicht über die Leichtgläubigkeit der Alten die Nase rümpfen. Denn schließlich haben sie trotzdem bereits viele Dinge richtig erkannt, und die Seefahrer, die sich ins Unbekannte hinauswagten, waren unglaublich tapfer, auch wenn ihre Taten nicht immer so genau bezeugt sind, wie das heute üblich ist. Stellen wir doch ein paar Vergleiche an: Selbst ein so bedeutender Wissenschaftler wie Galilei trug Scheuklappen. Er war wild entschlossen, den Versuchungen der Astrologie zu widerstehen, und weigerte sich deshalb, daran zu glauben, dass die Gezeiten von der Anziehungskraft des Mondes verursacht werden. Das wäre actio ab distans, Fernwirkung, Telekinese wie in der Magie, und deshalb bevorzugte Galilei eine Erklärung, die uns gänzlich verrückt erscheinen muss. Er nahm an, die Erde drehe sich ruckartig um ihre Achse, quietschend und eiernd wie ein altes Wagenrad; oder wie ein Wassereimer schwingt, der an einer Stange getragen wird. Und als Folge davon wären die Gezeiten nichts anderes als ein gewaltiges, globales Hin- und Herschwappen. Und auch heute noch dürfte es Teil des überlieferten Wissens der meisten Leser sein, dass durch die CoriolisKraft das Wasser nördlich des Äquators gegen den Uhrzeigersinn durch den Ausguss abfließt und südlich des Äquators im Uhrzeigersinn. Gehen Sie zu einem Waschbecken und lassen Sie das Wasser laufen: Für die Wahrscheinlichkeit, dass Sie es im Uhrzeigersinn abfließen sehen, spielt es keine Rolle, auf welcher Seite des Äquators Sie sich befinden. 24
Blicken wir also mit Toleranz und Verständnis auf unsere Altvordern. Und es gibt eine Geschichte, die uns bei all unserem Verständnis des Äquators zu ein wenig Demut verhelfen mag. Vor nicht allzu langer Zeit überflog eine Staffel von US-Kampfjets in untadeliger Formation den Äquator, mit Computernavigation und Autopilot, Tragflächenspitze an Tragflächenspitze. Als sie den Breitengrad Null kreuzten, drehte ihr Navigationssystem die Flugzeuge automatisch auf den Rücken, und so flogen sie in nach wie vor perfekter Formation weiter. Ein halbes Dutzend Piloten hing kopfüber in den Sitzen, unversehrt und wohlbehalten, aber ziemlich verängstigt und verwirrt.
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Die Geheimnisse der Südlichen Meere
Die Priester im alten Ägypten waren im Besitz uralten Wissens und die einzigen menschlichen Wesen, die den Aufbau unseres Planeten kannten. Sie wussten, dass genau in der Mitte der Welt ein Fluss verlief, der Nil, zu dessen beiden Seiten Streifen fruchtbaren schwarzen Bodens lagen, der Schlamm, der allen Geschöpfen Leben schenkte. Jenseits der beiden Streifen dunklen Bodens, in Richtung der aufgehenden Sonne und der untergehenden Sonne, lagen unendlich weite Flächen von rotem Staub: die todbringende Wüste. Und wenn man dem Lauf des Flusses weiter stromaufwärts über die tosenden Wasserfälle hinaus folgte, stieß man dort auf ein grenzenloses Land von blubberndem Sumpf und Rohrdickicht und jenseits davon auf ein chaotisches Labyrinth von tiefen Wäldern, eine Schattenregion, die von mächtigen Geistern und tanzenden Zwergen bewohnt wurde, die Reisende oder Kriegsherren gelegentlich stromabwärts mitbrachten, um die kleinen Leute dem allmächtigen Pharao als Geschenk zu übergeben. Noch weiter entfernt, jenseits der Katarakte und Rohrsümpfe und Dschungel, erhob sich ein mächtiger Berg, aus dem der große Nil entsprang. Dieser Berg war eine der vier Säulen, die das Himmelsgewölbe trugen. Und rund um 26
alles zog sich ein großer, breiter Ring von Wasser, den die Sonnenbarke auf ihrem täglichen Lauf befuhr. Der Rest war Finsternis. Dies war die Weltsicht der damaligen PriesterGelehrten. In den Hafenstädten am Roten Meer hatten die Leute jedoch eine sich davon stark unterscheidende Vorstellung von der Geographie der Welt. Wann immer sich die Seefahrer über die verhältnismäßig ruhigen Gewässer des Roten Meeres hinauswagten und nach Süden in Richtung der Sonne vorstießen, kamen sie ihr so nahe, dass sie mit versengter, ausgedörrter Haut zurückkehrten. Und diese Seeleute erzählten Geschichten: In dem großen Wasserring, den Schwindel erregend hohe Wellen kreuz und quer durchliefen, und jenseits der Meeresstraße, an deren Küsten würzig duftende Pflanzen wuchsen, gab es viele unbekannte Länder. Sie hatten einige besucht, manche hatten sich sogar dort aufgehalten und hatten überlebt, waren heimgekehrt und hatten berichtet. Ein Seemann zum Beispiel hatte Glück gehabt und war nach einem Schiffbruch mit seinem Boot von den Wellen an den Strand einer Insel gespült worden. Dort streifte er drei Tage lang umher, ohne ein anderes menschliches Wesen zu sehen. Er nährte sich von wilden Feigen, Trauben, Gurken, Beeren, Melonen, Fischen und Vögeln. Am dritten Tag entzündete er ein Feuer, um das Mitleid der Götter herabzurufen. Plötzlich vernahm er ein dröhnendes Geräusch, einem Donner ähnlich, und während die Bäume wankten und die Erde 27
bebte, sah er eine hundert Ellen lange Schlange auf sich zukommen. Die Schlange hatte einen zwei Ellen langen Bart; ihr Körper hatte die Farbe von Lapislazuli und schien mit Goldeinlegearbeiten verziert zu sein. Dieses riesenhafte Reptil richtete sich vor ihm auf, und als er vor Entsetzen auf dem Boden hingestreckt lag, fragte es ihn: »Wer hat dich hergebracht, wer hat dich hergebracht, du Kleiner, wer hat dich hergebracht?« Als der Schiffbrüchige der Schlange von seinen Abenteuern erzählte, wurde die gigantische Kreatur von Mitleid ergriffen. Sie fasste den Seemann mit ihrem Schlangenmaul und glitt mit ihm zu sich nach Hause. Dort wohnte er mit fünfundsiebzig anderen großen Schlangen – alle Mitglieder dieser ansehnlichen Familie. Das freundliche Reptil weissagte dem Ägypter, dass er vier Monate später von einem Schiff errettet werden würde. Und tatsächlich – vier Monate danach tauchte ein Segel am Horizont auf und hielt auf die geheimnisvolle Insel zu. Der schiffbrüchige Seemann kletterte hinauf ins Geäst eines besonders hohen Baumes und spähte, um die Mannschaft dieses großen Schiffes auszumachen. Dann lief er zu der riesigen Schlange, um ihr die Nachricht zu überbringen. Seine schuppige Gastgeberin jedoch wusste schon über alles Bescheid und wünschte ihm lediglich noch eine sichere Heimreise. Gerührt und aus lauter Dankbarkeit warf sich der gestrandete Ägypter vor der gütigen Schlange zu Boden. Die Schlange gab ihm Geschenke mit: Düfte und Gewürze, wie sie auf der Insel im Überfluss vorhanden 28
waren. Und sie sagte ihm voraus, er würde innerhalb von zwei Monaten wohlbehalten nach Ägypten zurückkehren. Dann eilte der schiffbrüchige Ägypter hinab zum Strand, wo ihn die ägyptische Mannschaft des rettenden Schiffes an Bord nahm, und sogleich wurden die Segel gesetzt. Als die Mannschaft zu der Insel zurückschaute, geriet sie immer weiter außer Sicht und verschwand unter den Wellen. In den Schänken der Hafenviertel wurden auch Geschichten von einer anderen Insel erzählt, die nicht von Schlangen, sondern von Menschen bewohnt war. Diese Männer hatten allerdings weiche, biegsame Knochen und waren bartlos. Mochten schon diese Eigenschaften seltsam sein, so besaßen die Leute noch ein weiteres, ausgesprochen eigenartiges Attribut: bis zur Zungenwurzel hinab gespaltene Zungen. Mit ihren gegabelten Zungen konnten sie nicht nur alle menschlichen Stimmen nachahmen, sondern auch den zwitschernden Gesang der Vögel und das Schreien und Brüllen aller Tiere imitieren. Sie konnten sogar gleichzeitig mit zwei verschiedenen Menschen sprechen, indem sie der einen Person mit der einen Zunge und der anderen Person mit der anderen antworteten. Auf dieser Insel waren das ganze Jahr hindurch Tag und Nacht gleich lang, und mittags warfen die Körper keine Schatten, weil die Sonnenstrahlen direkt von der Mitte des Himmels über ihnen auf sie hinabfielen. Unter dieser Mittagssonne gab es auch nicht so schwer fassbare Länder wie die Insel der Riesenschlange 29
oder die Insel der Männer mit zwei Zungen. Die Insel Punt beispielsweise war ein Synonym für Schätze. Die ägyptische Königin Hatschepsut sandte sogar eine ganze Flotte aus, um die Reichtümer von Punt einzusammeln: Ebenholz, Gummiarabikum, Myrrhe, Weihrauch, Elfenbein, Gold, Felle, Affen, Panther. Oder Ophir, wohin der Herrscher eines anderen Landes – König Salomo, der das kleine Reich der Israeliten in ein großes, prachtvolles Reich verwandelte, der die Königin von Saba liebte und der im Alter zu einem der weisesten Menschen auf Erden wurde – eine Expedition von Phöniziern, den Fuhrleuten des Meeres, entsandt hatte. Phönizier hatte er gewählt, weil die Israeliten sich nicht auf die Schifffahrt verstanden. Ophir lag unglaublich fern. Die Reise erforderte drei Jahre Segeln unter sengender Sonne, drei Jahre ohne Schatten. Schließlich, als Salomo seine phönizischen Erkundungsreisenden längst aufgegeben hatte, kehrten sie aus den Gewässern des Südens zurück. Die Laderäume ihrer Schiffe waren voll gestopft mit Gold und duftenden Hölzern, die man nie zuvor gesehen hatte. Das war Sandelholz, und der König befahl, aus diesem Sandelholz Zithern und Harfen anzufertigen, mit denen seine Sänger begleitet werden sollten. Jahrhunderte vergingen, und zahllose weitere Schiffe segelten von ungezählten weiteren antiken Häfen ab. Und immer wenn diese Schiffe heimkehrten, wurden den Südlichen Meeren noch mehr Wunder zugeschrieben. Da wurden Geschichten von fliegenden Fischen 30
erzählt, die nur so aufs Deck regneten oder in dahinfliegenden Schwärmen vorbeisausten. Andere berichteten von dem »Unterseemarkt«, einer geisterhaften Erscheinung, die sogar die erfahrensten Seebären in Schrecken versetzte. Nachts – aber manchmal sogar beim hellsten Tageslicht – änderte das Meer unter dem Schiff seine Farbe, und es hatte den Anschein, als würden drunten in den Tiefen viele Fackeln flackern. Monströse Gestalten tauchten auf; unten im Meer wurden Türme und Pavillons sichtbar; bösartiges Gelächter hallte über die Wellen, und dann folgte ein ganz bestimmtes Gemurmel und das Klimpern von Goldmünzen. Bassora, die große Hafenstadt am südlichen Ende des Persischen Golfs, Endstation der Indienroute in den Jahrhunderten, als Bagdad die Stadt der Kalifen war, wimmelte nur so von schwatzhaften Sindbads. Sie erzählten von riesigen Fischen mit so großen Flossen auf dem Rücken, als wären es die Segel von Schiffen; von Fischen mit menschlichen Gesichtern; von Bernstein, der auf dem Meeresgrund wuchs und nach einem Sturm an der Oberfläche trieb und die Gestalt von Kürbissen oder Trüffeln annahm; von weißen Wolken, die eine lange, schmale Zunge bis zur Wasseroberfläche ausstreckten, sodass die Wellen kochten und Schiffe verschlangen; von Inseln, auf denen Frauen herrschten, wo es Berge aus massivem Silber gab und wo Fremde fast roh gegessen wurden, nachdem man sie kopfüber in der Sonne abhängen hatte lassen, und wo Krebse, die von der Brandung angespült wurden, sich augenblicklich zu 31
Stein verwandelten, wenn sie den trockenen Sand berührten. Auf einer Insel lebte der Rukh – oder Roch –, ein Riesenvogel, dessen Eier so groß wie die Kuppel einer Moschee waren. Eine andere Insel wurde vom Karkadann bewohnt, der einen Elefanten mit seinem Horn aufspießen und unbeeinträchtigt weiter grasen konnte, ohne das zusätzliche Gewicht überhaupt zu spüren. Auf einer dritten Insel waren die Kupfergefäße versteckt, in die Salomo die bösen Geister eingesperrt hatte. Und auf einer vierten Insel wimmelte es von unzähligen Affen, die sogar dazu in der Lage waren, die großen Feluken, die auf den Strand gezogen worden waren, hochzuheben und dann mit ihnen im Dschungel zu verschwinden. In der Hafenstadt Bassora begegnete um 1170 der jüdische Reisende Benjamin von Tudela einem der phantasiebegabten alten Seebären des Wasserlabyrinths der Südlichen Meere. Dieser Seefahrer erzählte Benjamin, dass das heißeste der vielen unter der Äquatorsonne kochenden Meere Niqpa sei, das fortwährend von Stürmen gepeitscht würde. Manchmal vermag der Rudergänger das Schiff nicht mehr zu beherrschen, wenn es ein tobender Sturm in das Meer von Niqpa treibt, wo es sich nicht mehr von der Stelle rühren kann. Und dort muss die Mannschaft verharren, bis alle Nahrungsvorräte erschöpft sind und die Leute sterben. Auf diese Weise 32
ist schon so manches Schiff verloren gegangen. Aber schließlich haben die Männer eine Möglichkeit entdeckt, wie sie diesem verhängnisvollen Ort entkommen können. Die Mannschaft versorgt sich mit Rinderfellen. Und wenn dieser böse Wind weht, der sie in das Meer von Niqpa bläst, hüllen sie sich in die Felle, die sie zuvor wasserdicht gemacht haben, bewaffnen sich mit Messern und springen ins Meer. Ein großer Vogel mit Namen Greif erspäht sie; und im Glauben, der Seemann sei ein Tier, packt ihn der Greif, trägt ihn ans Land und legt ihn auf einem Berg oder in einer Bodenvertiefung ab, um ihn zu verschlingen. Da sticht der Mann schnell mit seinem Messer auf den Vogel ein und tötet ihn. Dann steigt der Mann aus dem Tierfell und geht zu Fuß auf die Suche nach einem bewohnten Ort. Auf diese Weise ist schon so mancher Seemann entkommen. Vielleicht hat Chou Ch’ü-fei, der eifrige chinesische Beamte der Hafenzollbehörden von Kanton, der 1178 eine Art Fragebogen mit dem Titel Antworten bezüglich dessen, was jenseits der Grenzen anzutreffen ist verfasste, die gleichen geschwätzigen Geschichtenerzähler der Südlichen Meere für seine Sammlung befragt. In seinen Antworten erzählte Chou Ch’ü-fei alle und jegliche Geschichten über ferne Länder nach, die er von Seeleuten, egal welcher Nationalität, erfahren konnte, denen er in dem großen Hafen begegnete, wo er arbeitete. Nicht weit von Java entfernt, so erzählte ihm ein 33
Seemann, gebe es eine große Sandbank mit Riffen, die sich meilenweit erstreckten. In der Nähe sei Wei-lü, ein riesiges Loch im Ozean, durch das das Wasser in die Tiefen der Neun Welten stürze. Vor vielen Jahrhunderten sei eine Dschunke von einem plötzlichen Sturm dorthin getrieben worden und habe gefährlich nah am Rande dieses Mahlstroms geschwankt. Die Mannschaft konnte bereits das Tosen des hinabstürzenden Wassers hören, und nirgends war Land zu sehen. Zum Glück für die Mannschaft drehte sich der Wind plötzlich, und sie war dadurch in der Lage, das Schiff in sichere Gewässer zu steuern. Zu jener Zeit waren Dschunken die größten Schiffe, die es auf der Erde gab: »so groß wie Paläste«, beschrieb sie ein Chronist; und die chinesische Flotte beherrschte die Meere. »Wenn sie ihre Segel hissen, dann sieht es aus wie viele, viele weiße Wolken am Himmel.« Es gab Dschunken von mehr als 150 Meter Länge, mit neun und sogar zehn Masten und Besatzungen von mehreren Hundert Mann. An Bord dieser riesigen Dschunken wurden Schweine gemästet, und es wurde Reiswein gebrannt. Die wohlhabendsten Passagiere und die höheren Offiziere hatten luxuriöse Kabinen, die sogar mit Bädern ausgestattet waren. Diese majestätischen orientalischen Ozeanriesen wagten sich sogar mitten in die gewaltigen Taifune und unter die Seeungeheuer, die diese Gewässer so gefährlich machten. Wenn es passierte, dass sie auf einer Insel landeten, deren Vegetation verbrannt war, dann wussten sie sehr wohl, dass dies keine richtige Insel war, überhaupt kein 34
festes Land, sondern in Wirklichkeit der Rücken der Drachenschlange. Da galt es, sofort die Segel zu setzen und die Flucht zu ergreifen. Alle Seeleute schnitten sich dann das Haar; und sie sammelten die Schuppen der Fische ein, die an diesem Tag ins Netz gegangen waren, und verbrannten die Fischschuppen. Nur durch solche Maßnahmen konnte sichergestellt werden, dass das große Seeungeheuer verschwand. Die Schiffe des »Himmlischen Kaiserreichs« wussten Gefahren dieser Art auszuweichen, und sie wagten sich bis an die Küsten Indiens, in den Persischen Golf und zum afrikanischen Festland, indem sie die Handelsrouten auf dem unberechenbaren südlichen Meer befuhren, die zwischen Sumatra und der Halbinsel Malakka hindurchführten (die Malakkastraße liegt zwischen dem Äquator und 5 Grad nördlicher Breite), wo sich labyrinthartig überall Inseln und seltsame – manchmal Furcht erregende – Landstriche erstrecken. Diejenigen, die beispielsweise in Lo-ch’a landeten, begegneten Menschen mit schwarzen Körpern und gelbbraunem Haar, scharfen Tierklauen und -krallen. Ihre Städte waren von tintenschwarzen Mauern umgeben. Der große Vorsteher des Schattenreiches hatte Ohren, die rückwärts an seinem Kopf saßen, eine Nase mit drei Nasenlöchern und Augenbrauen, die er wie Markisen über seine Augen herabsenken konnte. Je niedriger einer in der Hierarchie der Hofbeamten stand, desto geringer waren die Deformationen, bis sie ganz unten überhaupt verschwanden. 35
In San-fo-ch’i (heute Palembang auf der Insel Sumatra – 3 Grad südlicher Breite) war es dem König verboten, Getreide zu essen. Tat er es doch, fiel mit Sicherheit die Ernte schlecht aus. Deshalb wurde von ihm verlangt, nur Palmmehl zu essen. Der König durfte sich auch nur mit Rosenwasser, das aus den Blütenblättern gewonnen wurde, waschen. Hätte sich der König je mit gewöhnlichem Wasser aus einem Bach oder Fluss gewaschen, wäre das gesamte Land von schrecklichen Überschwemmungen heimgesucht worden. Der Monarch hatte eine überaus schwere Kopfbedeckung ererbt, die aus massivem Gold gemacht und mit kostbaren Edelsteinen besetzt war. Und nur der König war stark genug, sie zu tragen. Wenn der Thron frei geworden war, wurden die Söhne des verstorbenen Königs in den Palast gerufen, und derjenige von ihnen, der im Stande war, ein solch schweres Gewicht auf dem Kopf zu tragen, wurde als Nachfolger zum König ausgerufen. In Afrika gab es zoologische Kuriositäten in Hülle und Fülle. Im Land Pi-p’a-lo (dem heutigen Somalia) lebte ein Kamel-Kranich von zwei Meter Größe, er konnte fliegen, aber nur wenige Zentimeter über dem Boden. Einheimische Zauberer konnten sich in Vögel, wilde Bestien und Meeresgetier verwandeln. Wenn Eingeborene mit einem Kaufmann aus der Fremde in Streit gerieten, bedienten sie sich der Hilfe dieser Zauberer, die daraufhin das Schiff der Kaufleute mit einem Fluch belegten. Die Kaufleute konnten dann nicht absegeln, solange die Streitigkeiten nicht beigelegt waren. 36
An den Küsten dieses Teils der Welt lagen oft gestrandete Fische von außerordentlicher Größe, schnappten nach Luft und wanden sich, bis sie schließlich starben. Diese Meeresgeschöpfe waren zwanzig Meter lang und größer als ein Schiff. Ihr Fleisch war ungenießbar, aber die Eingeborenen gewannen aus ihren Kadavern Öl, das sich gut als Brennstoff für die Lampen eignete. Ärmere Eingeborenenfamilien verwendeten auch die getrockneten Skelette dieser riesenhaften Tiere als Gerüste für ihre Hütten. Im Jahr 1349 lasen viele Gelehrte in Europa – mit beträchtlicher Skepsis – ein Buch über die Wunder Asiens, das von einem venezianischen Kaufmann namens Marco Polo geschrieben (oder vielmehr diktiert) worden war. Zur gleichen Zeit schrieb in China ein ehemaliger Seemann mit Namen Wang Ta-yuan einen Bericht über seine Reisen durch das Gewirr kleiner und großer Inseln, das wir heute Indonesien nennen. Der Titel seines Buches Aufzeichnungen über die Barbaren der Inseln verbirgt – hinter einer scheinbar leidenschaftslosen wissenschaftlichen Haltung – und verrät zugleich die enorme Erleichterung des Verfassers, diesen Gegenden am Äquator lebend entronnen zu sein, wo die Hitze so groß war wie die Gefahren und Ärgernisse. Gefährlich dürften diese Regionen tatsächlich gewesen sein, sie waren aber auch ertragreich: China importierte aus den Südlichen Meeren so seltene und kostbare Güter wie Sandelholz, Muskat, das so genannte »Drachenblut« (den Saft einer Hülsenfrucht, den man zur Herstellung einer 37
besonderen Glasur verwendete) und eine große Menge von Sittichen, besonders beliebte Geschöpfe, die man zu jener Zeit in beinahe jedem Haus in China antraf. Um in den Besitz solcher Güter zu gelangen, mussten die Kaufleute und Seefahrer mit der Bevölkerung in den gefährlichsten, wildesten Gegenden dieser unzähligen Inselgruppen Tauschhandel treiben, von Banditen heimgesuchte Flüsse befahren, sich durch verworrene Dschungelgebiete kämpfen, wo Schlangen in der Größe von Drachen ihr Unwesen trieben, den vergifteten Pfeilen barbarischer Kopfjäger trotzen und sich den Gefahren schlimmster Tropenkrankheiten aussetzen. Trotzdem wurden diese Gewässer von zahlreichen chinesischen Schiffen aufgesucht. Und im Jahr 1405 segelte hier die erste von insgesamt sieben chinesischen Schiffsexpeditionen zur Erforschung der Äquatorgegend. Diese eindrucksvollen Expeditionen wurden vor allem durch den Wunsch der neuen Ming-Dynastie veranlasst, ihr kaiserliches Ansehen in den Augen der Völker nah und fern zu steigern, der offizielle Grund, wie er in der Dynastischen Geschichte der Ming dargestellt wird, war jedoch ein ganz anderer und mutet ziemlich grotesk an. Diesem Bericht zufolge rüstete der Kaiser Yung-lo die Expeditionen aus, um nach seinem Vorgänger Chien-wen zu suchen, der vom Thron abgesetzt worden und anschließend verschwunden war. Im Jahr 1405 erhielt der Eunuch Cheng Ho den Oberbefehl über die chinesische Flotte. Er war 1371 als Sohn muslimischer Eltern in der südlichen Provinz 38
Yunnan geboren worden. Unter dem Titel San-Pao t’ai-chien – oder Großer Eunuch von den Drei Juwelen – wurde Cheng Ho Kommandeur einer Flotte, wie man sie seit den Zeiten Kublai Khans nicht mehr gesehen hatte: 60 Dschunken, sowohl große als auch kleine, mit einer Besatzung von insgesamt 27000 Mann. Die Dschunken trugen Namen wie Gesegnete Seefahrt, Reiner Friede und Ewige Harmonie. Admiral Cheng Ho stand ein beeindruckender Generalstab zu Diensten, darunter zwei Generäle, etwa hundert weitere Offiziere, zwei Zeremonienmeister, ein Geomantiker, vier Meteorologen, an die hundert Ärzte und eine ansehnliche Zahl von Dolmetschern, die alle Sprachen Asiens sprachen – vom Arabischen bis zum Burmesischen. Außerdem waren sieben kaiserliche Eunuchen als Botschafter dabei, die von weiteren etwa 70 Eunuchen unterstützt wurden, die als Kämmerer und Kanzler fungierten. Schließlich gab es einen offiziellen Chronisten, einen Muslim mit Namen Ma Huan, der Dolmetscher für Arabisch war und über die erste Expedition einen Bericht mit dem eindrucksvollen Titel Ying-yai sheng-lan oder Die triumphale Vision des grenzenlosen Ozeans schrieb. Nachdem sie im Sommer 1405 in den Werften von Lungchiang in der Nähe von Schanghai vom Stapel gelaufen waren, warteten die Schiffe bis zum Ende des Jahres, um dann Segel zu setzen und mit Unterstützung des Wintermonsuns Kurs nach Süden zu nehmen. Zehn Tage später ging die gesamte Flotte im Hafen von Hsin39
chou in Champa vor Anker, dem heutigen Qui Nhon in Vietnam. Dann fuhr die Flotte entlang der Küste von Kambodscha, Siam (Thailand) und der Halbinsel Malakka (auch Malaiische Halbinsel genannt; sie erstreckt sich nach Süden bis zum 1. Grad nördlicher Breite), stieß in den Indischen Ozean vor und machte Zwischenstation auf den Nikobaren (etwa 7 Grad nördlicher Breite), deren »wilde und nackte« Bewohner die Phantasie wohl aller Seeleute reizte und beflügelte, die jemals diese Gewässer befuhren. Sogar der normalerweise nüchterne und sachliche Ibn Battuta behauptete, sie hätten Hundeschnauzen. Ma Huan schreibt, dass sie keine Kleidung tragen konnten, weil ihre Haut sonst sehr schnell mit Wunden und Ausschlägen bedeckt gewesen wäre. Der Grund dafür war folgender: Ihre Vorfahren hatten die Gewänder des Buddha gestohlen, als er auf seiner Heimreise von Ceylon, dem heutigen Sri Lanka (etwa 3 Grad nördlicher Breite), an ihren Gestaden badete. Daraufhin hatte der Buddha sie und ihre Nachkommen mit einem Fluch belegt. Nachdem die Flotte an der Insel Ceylon – die als heilig galt, weil der Buddha hier eine Zeit lang gelebt hatte – vorbeigesegelt war, teilte sie sich in zwei Geschwader auf. Das erste segelte Richtung Malabarküste an der Südspitze Indiens (8 bis 12 Grad nördlicher Breite), während das zweite geradewegs Kurs auf Aden nahm, nach Durchquerung des Ozeans bei Hormus vor Anker ging und dann die Fahrt Richtung Indien fortsetzte. Die beiden Geschwader vereinigten sich wieder 40
und segelten dann den Golf von Bengalen hinauf und entlang der Küste von Birma bis zu den Andamanen (12 Grad nördlicher Breite). Nach einem Besuch auf der Insel Sumatra und der Überwältigung ein paar unachtsamer Piratenflotten kehrten sie zu den südchinesischen Häfen zurück. Es war der 2. Oktober 1407. Dieser langen Seereise, die zwei Jahre gedauert hatte, folgte eine kürzere Expedition, die Anfang des Jahres 1409 mit Kurs auf Malakka, Sumatra und Südindien in See stach. Auf Ceylon wurde die Flotte in Kämpfe verwickelt, weil der Herrscher der Insel »verachtungsvoll und anmaßend« Tribut in Silber und Gold gefordert hatte. Als Cheng Ho sich weigerte, diese Abgaben zu zahlen, griff der König an. Bald jedoch musste er seine Tollkühnheit bereuen, weil der Admiral mit 2000 Elitekriegern an Land ging, den Palast besetzte und den König von Ceylon gefangen nahm, um ihn dann im Herbst 1411 in Ketten vor den Kaiser Yung-lo zu führen. Der Chronist dieser zweiten und fast aller folgenden Seereisen, der Hofbeamte Fei Hsin – der für sein Buch absichtsvoll auf den früheren Titel von Ma Huan zurückgriff: Die triumphale Vision des sternenbesäten Schiffes –, sprach in sehnsuchtsvoller Erinnerung von der Insel Java (8 Grad südlicher Breite), die er während der dritten Expedition (1412-1415) besucht hatte: »Die Bewohner Javas sind reich und elegant … Die Insel ist für ihre volkstümlichen Feste berühmt. Im zehnten Monat feiern die Javaner das Frühlingsfest, und jeden Monat 41
gibt es zur Zeit des Vollmonds ein Fest, das Tanz unter dem Mond genannt wird. Dutzende der lieblichsten Jungfrauen der Insel tanzen im Mondschein und halten sich bei den Händen. Eine von ihnen singt eine Liedstrophe, und all die anderen fallen mit dem Refrain ein, während sie den Reigen tanzen.« Aber andererseits schienen ihm die Javaner auch furchtbar empfindlich zu sein: »Wenn jemand es wagen sollte, mit ihnen zu scherzen und vielleicht ihre Haartracht zu berühren, geraten sie unweigerlich in Wut, ziehen einen Dolch und fordern den Unvorsichtigen zum Zweikampf heraus. Wer das Duell gewinnt, gilt als unschuldig. Sie haben wirklich höchst seltsame Vorstellungen.« Uns heutigen Lesern drängt sich der Gedanke auf, dass diese Schilderung ganz persönliche Erlebnisse des Autors auf Java widerspiegelt. Bei der vierten Expedition, die 1416 aufbrach, wagte sich der befehligende Eunuch bis an die Küste von Afrika. Die Chinesen unterhielten bereits Handelsbeziehungen mit den Hafenstädten Mogadischu im heutigen Somalia (2 Grad nördlicher Breite), Brava und Malindi an der Küste des heutigen Kenia (3 Grad südlicher Breite). 1415 hatte Malindi dem »Sohn des Himmels« eine Anzahl von »Tributleistungen« geschickt, darunter eine Erstaunen auslösende Giraffe. Anscheinend war das Hauptmotiv dieser Expedition eine phantastische Zoologie: Cheng Ho war den ganzen weiten Weg nach Afrika geschickt worden, um ein Einhorn zu suchen, ein Fabeltier, das Reichtum und Langlebigkeit symboli42
sierte. Cheng Hos Dschunken ankerten vor Mogadischu, das von »streitbaren Leuten« bewohnt wurde und von wo aus landeinwärts »nichts weiter als Sand« zu finden war. Die Flotte fuhr weiter nach Brava, wo es »unerträglich heiß« war, das aber glücklicherweise »von sehr schönen Frauen« bewohnt war, »die sich mit Ohrringen und Halsketten zu schmücken wissen und ihr langes schwarzes Haar zu hoch aufgetürmten Frisuren binden«. Im August 1419 kehrte Cheng Ho ohne Einhörner zurück, jedoch mit einer Anzahl afrikanischer Abgesandter. Der befehligende Eunuch stach im März 1421 abermals in See, um die Abgesandten zurück nach Somalia zu bringen. Die sechste Expedition des Admirals folgte 1424 und war eine Schnellreise nach Palembang (3 Grad südlicher Breite), der wichtigsten Handelsstadt Sumatras, um einen neuen Gouverneur auf der Insel in sein Amt einzuführen. Die siebente Expedition kostete den befehligenden Eunuchen das Leben. Den Auftrag zu dieser Expedition hatte er von dem neuen Kaiser Hsuan-ti erhalten, dem Nachfolger von Yung-lo, der 1424 gestorben war. Der befehligende Eunuch war jetzt 60 Jahre alt, und er ließ Anfang 1431 die Segel setzen. Im Laufe von zwei Jahren besuchte er zwanzig Länder, darunter Arabien. Als guter Muslim nahm er die Gelegenheit wahr und absolvierte seine Pilgerfahrt nach Mekka. Auf der Rückreise starb er – mitten auf dem Ozean, über den er zuvor so viele 43
Male gesegelt war. Die große kaiserliche Flotte legte 1433 im Heimathafen an und segelte danach nie wieder los. Die Dschunken verrotteten schließlich in den Docks. Am kaiserlichen Hof gewann die isolationistische Partei die Oberhand, aus welchen Gründen, das wissen die Historiker bis heute nicht. Mit der Verlegung der Hauptstadt von der südlichen, am Fluss Jangtsekiang gelegenen Stadt Nanking nach dem nördlichen, nur von Land umgebenen Beijing (Peking) schloss sich das China der Ming-Zeit in glanzvoller Selbstüberheblichkeit von der übrigen Welt ab. Als 1480, ein halbes Jahrhundert später, der Eunuch Wang Chih, der die Gunst des Kaisers genoss, nach Möglichkeiten suchte, die Leistungen seines Vorgängers fortzuführen, forschte er zunächst in den Archiven nach den Berichten über Cheng Hos Reisen, aber er fand nichts. Beamte, die gegen eine maritime Expansion waren, hatten alles vernichtet, um eventuelle gefährliche Versuche, diese Erkundungen aufs Neue zu beginnen, schon im Keim zu ersticken.
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ZWEITER TEIL:
Südamerika
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Diese bemerkenswerte frühe Karte von Südamerika bildet den Kontinent statt von Norden nach Süden von Westen nach Osten ab. Der Pazifik ist oben, der Atlantik liegt unten, Mittelamerika ist hier rechts und Feuerland auf der linken Seite zu finden. – Mit freundlicher Genehmigung von Thomas Suarez
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In vielfacher Hinsicht bewegt sich die Geschichte äquatorialer Abenteuer und Erkundungen direkt von der Alten Welt zur Neuen Welt und lässt bis ins 19. Jahrhundert Afrika beiseite. Afrika war bedauerlicherweise eine Quelle für Sklaven und Elfenbein, und die Europäer begnügten sich damit, an den Küsten mit den arabischen Sklaventreibern und Elfenbeinhändlern Geschäfte zu machen, wagten sich aber nie weiter landeinwärts als bis zu den Hafenstädten oder gelegentlich ein Stück entlang den großen Flüssen. Ganz anders war die Lage im äquatorialen Amerika. Ein Grund dafür war sicherlich das Amazonasbecken, wo sich der Fluss in voller Breite beiderseits des Äquators in den Atlantik ergießt. Die Geschichten, die wir in diesem Teil bringen, drehen sich fast alle um die Suche nach El Dorado, »dem Vergoldeten«. Dieser mythische König lebte angeblich in einer Stadt aus purem Gold in der Mitte eines großen Sees. Bei Sonnenaufgang leuchteten die Mauern der goldenen Stadt El Dorados so hell, dass man glauben konnte, es finde ein zweiter Sonnenaufgang statt. Armeen von Konquistadoren marschierten von ihren Stützpunkten in Peru aus wiederholt über die Anden. Die erste Expedition wurde im 16. Jahrhundert unter47
nommen. Über sie wird hier in der Geschichte von Francisco de Orellana, dem »glücklosen Konquistador«, erzählt. Zwei Jahrzehnte später ereignete sich die höchst erstaunliche und düstere Geschichte von Lope de Aguirre, dem »rebellischen Konquistador«, einem Mann, der Verrat und Gewalt stets allen anderen Möglichkeiten vorzuziehen schien. War Aguirre durch und durch ein Nihilist, so waren die Männer, die ihm nachfolgten, eher eine Gruppe herkömmlicher Bauernfänger, Schurken, Betrüger und Träumer. Einer von ihnen war der geniale Sir Walter Raleigh, der glaubte, El Dorado regiere in dem Land, das heute Guayana ist. Er war sich seiner Sache so sicher, dass er seinen Kopf darauf verwettete, er würde mit reicher Beute aus der goldenen Stadt nach England zurückkehren. Es gelang ihm nicht, und er wurde enthauptet. Andere setzten die Suche nach El Dorado fort, und insbesondere ein irischer Adeliger, Bernard O’Brien, behauptete, mit einer Stammesführerin in einer Stadt auf einer Insel zusammengetroffen zu sein, wo es Gold gegeben haben musste. Diese Verschmelzung der Sagen von den kriegerischen Amazonen mit denen der Stadt El Dorados setzt der Geschichte ergebnisloser Suchexpeditionen und Beutezüge ein Ende – der Jagd nach einem Phantom, die ein ganzes Jahrhundert der Erforschung Südamerikas bestimmte. Wir haben in diesen Teil noch weitere Geschichten vom amerikanischen Äquator aufgenommen: Im 18. 48
Jahrhundert reiste ein angesehener französischer Wissenschaftler, Charles Marie de La Condamine, mit einer Expedition der Französischen Akademie der Wissenschaften zum Äquator. Ziel der Expedition war die Vermessung der Erde an der Stelle ihres weitesten Umfangs. Wissenschaftlich gesehen war es ein Unterfangen von fragwürdiger Bedeutung, aber als bloßes Abenteuer finden wir die Geschichte erzählenswert. Eine weitere Erzählung, die als Anhängsel zu der von La Condamine gelten kann, ist eine der tränenseligen Schnulzen des 18. Jahrhunderts: die Geschichte der Penelope von Riobamba. Sie handelt von einem Franzosen, einem Teilnehmer an der Expedition von La Condamine, der fast zwei Jahrzehnte lang darauf warten musste, bis er zu seiner Braut heimkehren konnte, einem schönen Quechua-Mädchen, das er in der Gegend des heutigen Ecuador kennen gelernt hatte. Sie wartete auf ihn in ihrem Heimatort in den Anden, als er den Amazonas in seiner ganzen Länge hinabfuhr, und die Jahre vergingen, während europäische Kriege, die Intrigen von Missionaren und die natürlichen Hindernisse des Amazonasbeckens diese beiden unglückseligen Liebenden trennten. Am Schluss dieses Teils über das äquatoriale Amerika steht die Geschichte der nackten Baroness, einer Angehörigen der österreichisch-ungarischen Aristokratie, die den Ersten Weltkrieg und seine Folgen überstanden hatte. Sie verliebte sich in die Idee, auf den Galápagosinseln, am Äquator westlich vor der Küste Ecuadors, 49
einen Zufluchtsort für reiche Nichtstuer zu schaffen. Wie alle anderen Erzählungen dieses Abschnitts ist auch dies eine Geschichte von Besessenheit, fehlgeleiteten Energien, Träumen, die sich unter der grellen Äquatorsonne auflösten, und einer Dosis Verrücktheit.
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Der glücklose Konquistador
Im Jahr 1540 kam in der Stadt Quito, der heutigen Hauptstadt Ecuadors, die immer noch von den Bränden, die die letzten Inkas gelegt hatten, und von den anschließenden Zerstörungen durch die nachfolgenden spanischen Konquistadoren verwüstet war, ein neuer Gouverneur an: Gonzalo Pizarro. Gonzalo war der Bruder von Francisco Pizarro, dessen Laufbahn als Schweinehirt in einem kleinen Ort in der Extremadura Spaniens begonnen und ihn auf die schwindelnden Höhen des Herrn und Gebieters des sagenhaft reichen Perus geführt hatte. Gonzalo war ein für diese abenteuerlichen Zeiten typischer spanischer Soldat: körperlich robust, freimütig, von gewinnendem Wesen, ein ausgezeichneter Reiter, mutig in der Schlacht, beliebt bei seinen Leuten, ungebildet wie sein Pferd und voll ignoranter Verachtung für alles, was nicht kastilisch war. Der Posten des Gouverneurs jenes Hochlands in den Anden, der nördlichsten Provinz des zerschlagenen Inkareiches, beglückte ihn außerordentlich – nicht so sehr wegen der Ehre selbst, sondern weil er ihn insgeheim als Sprungbrett für ein größeres und wichtigeres Unterfangen betrachtete: die Eroberung der weiten, unerforschten Länder östlich der großen Ge51
birgskette, wo alle Spanier ein verborgenes zweites und vielleicht noch viel reicheres Peru als das erste wähnten. Schon einige Jahre zuvor hatte sich jemand in diese Wälder vorgewagt und war mit Berichten über die Zimtbäume zurückgekehrt. Zimt war damals eines der kostbarsten Gewürze, und man hatte bislang angenommen, dass Zimt nur auf jenen Inseln in Asien wüchse, die von den Rivalen der Spanier, den Portugiesen, besetzt gehalten wurden. Es sei Zimt von gleicher Beschaffenheit, sagten die Fachleute, die die Proben geprüft hatten. Er hinterlasse den gleichen wunderbaren Nachgeschmack und gebe dem Fleisch den gleichen Wohlgeruch. In jenen Zeiten, als Gewürze die wichtigste Ware im Handel zwischen Europa und dem Orient waren und die Gewinne aus dem Gewürzhandel unglaubliche Höhen erreichten, war die Entdeckung eines neuen Zimt-Landes im spanischen Indien ein Ereignis von höchster Bedeutung. Die Entdeckung des Zimts – so wichtig sie auch gewesen sein mochte – verlor jedoch an Bedeutung, als Gerüchte über die sensationellen Länder östlich der Anden zu kursieren begannen. Die Spanier, die bereits die erstaunlichen Reichtümer und Schätze von Peru ausgeplündert hatten, wollten nur zu gern glauben, dass auch der Rest des südamerikanischen Kontinents eine einzige riesige Schatztruhe sei. Es kursierte das Gerücht, viele Tagereisen östlich der Gebirge läge ein Königreich, dessen Herrscher so sagenhaft reich wären, dass im Vergleich zu ihnen selbst die Inkakaiser nur wie ein 52
Haufen Bettelmönche erscheinen würden. Der König wäre buchstäblich von Kopf bis Fuß mit Gold bedeckt, weil er jeden Morgen mit Goldpulver bestreut würde, das mittels eines duftenden Harzes an ihm haften bliebe. Und jeden Abend wusch er angeblich diese Goldschicht im Wasser eines Sees ab. Weil sein Kleiderschrank eine unerschöpfliche Goldmine war, konnte er sich an jedem neuen Morgen abermals von Kopf bis Fuß mit Gold bekleiden. Und das gesamte Königreich war – so hieß es – dem Gewand des Königs angemessen: El Dorado, »der Vergoldete«, wie die Spanier diesen Fabelkönig nannten, lebte glitzernd und glänzend inmitten einer Hauptstadt mit Namen Manoa, die voll metallener Paläste war. Diese Stadt bedeckte die gesamte Fläche einer riesigen Insel in der Mitte eines Salzsees von tausend Kilometer Länge, Parima-See oder auch Guatavita-See genannt. Die Stadtmauern von Manoa waren mit Goldplatten belegt, hieß es. Bei Sonnenaufgang reflektiere das Gold das Licht so hell und strahlend, dass die ganze Insel in der Mitte des Sees aufleuchte und wie eine zweite Sonne erscheine, die aus dem Wasser des Sees aufsteige. Tempel und Paläste seien innen und außen mit Gold verkleidet. Und die Armen bedeckten die Wände ihrer Häuser immerhin noch mit reinem Silber. Die Pflastersteine auf den Straßen seien Diamanten, und der Grund des Sees sei mit Perlen ausgekleidet. Tatsächlich erschien dieses Phantasiebild unendlich reicher Bodenschätze nicht weniger glaubwürdig als die ersten Gerüchte, die Cortés nach Mexiko und Pizarro 53
nach Peru gelockt hatten. Und nach deren beider unglaublichen Eroberungs- und Beutezügen neigten die spanischen Ausplünderer der mittel- und südamerikanischen Indianerreiche nur allzu gern zur Leichtgläubigkeit. Drei Monate nach seinem Amtsantritt oben in Quito brach Gonzalo Pizarro wieder auf und marschierte an der Spitze einer Expedition nach Osten, deren Aufgabe es war, Zimt und den vergoldeten König an seinem See zu finden. Der Zug bestand aus 340 Spaniern (einige Chronisten sprechen von 220; die Quellen weichen voneinander ab), 4000 Indios, 150 Pferden, 1000 scharfen Kampfhunden (sie waren die Geheimwaffe der Konquistadoren), einer Herde Lamas und einer großen Schweineherde, die man zur Verpflegung während der Reise brauchte. Das erste Hindernis, das überwunden werden musste, lag nur wenige Meilen außerhalb von Quito: die östlichen Kordilleren der Anden mit fürchterlich hohen Pässen, die nur auf Steinbockpfaden erreicht werden konnten und die von eisigem Sturmwind gepeitscht und von ständigen Schneeverwehungen zugedeckt wurden. Über hundert Leute erfroren, die meisten von ihnen Indios. Als die Expedition über den östlichen Abhang der Anden abstieg, traf sie auf ein neues Hindernis: die glühende Hitze des Tieflands und den unablässigen Tropenregen. Sie alle trotteten mühsam durch eine nicht enden wollende Sintflut, die sie sechs Wochen lang ununterbrochen durchnässte. Sie kämpften sich vorwärts durch knöcheltiefen, knietiefen und schließlich hüfttiefen 54
Dreck, wurden von Moskitoschwärmen überfallen und gestochen, hackten sich ihren Weg mit Macheten durch die dicht wuchernde Vegetation und schliefen auf Baumästen. Während sie mühsam vorankamen, holte eine Nachhut sie ein, die einige Zeit nach ihnen Quito verlassen hatte. Sie wurde von einem anderen Krieger aus der Extremadura befehligt, einem Verwandten der Pizarros: Francisco de Orellana, damals dreißig Jahre alt, fünf Jahre jünger als sein Kommandeur Gonzalo. Gonzalo Pizarro fasste den Entschluss, sich von dem Hauptverband seiner Leute abzutrennen und durch ein Tal vorzustoßen, das etwas weniger unwegsam erschien. Mit einem Trupp von rund 70 Mann wollte er sich auf die Suche nach den Zimtbäumen machen. Sie gingen alle zu Fuß, denn die Pferde sanken bis zum Bauch in dem Morast ein. Und tatsächlich fanden sie sie, nach vielen Tagemärschen in strömendem Regen: Sie waren schön und sehr groß, sie lieferten Zimt von allerbester Qualität, aber sie standen weit verstreut, es waren nur wenige, und sie wuchsen in einer so entlegenen Gegend, dass sie niemals gewinnbringend abgeerntet werden konnten. Und wo waren die glitzernden Städte des goldgepuderten Königs? Die wenigen ortsansässigen Indios, die befragt werden konnten, antworteten, dass sie noch nie Derartiges gehört hätten. Gonzalo Pizarro dachte, sie würden lügen. Er ließ sie mit Feuer foltern, von den wilden Kampfhunden beißen, doch diese sturen Indios weigerten sich zu reden. Nachdem sie dabei zugeschaut hatten, wie die Indios 55
unter der Folter starben, entschlossen sich die wütenden Spanier, den Rückweg zum Hauptlager einzuschlagen und von dort aus eine andere Route zu suchen. Als sie jedoch ein paar Tage später an ein Flussufer kamen, stießen sie zufällig auf eine kleine Flotte stromabwärts fahrender Kanus. Die Spanier veranlassten die Indios mit freundlichen Gesten zum Anhalten, boten ihnen Messer und Kämme im Tausch gegen Nahrungsmittel an und fragten dann den Häuptling – dessen Name Delicola war –, ob er irgendetwas über diese goldenen Wunder wüsste, die irgendwo im endlosen Dschungel versteckt sein sollten. Delicola, der nicht auf den Kopf gefallen war und der sehr wohl von Folter und Mord erfahren haben dürfte, mit denen seine Landsleute ein paar Tage zuvor gepeinigt worden waren, sah seinen einzigen Ausweg aus dieser Situation darin, den Spaniern zu erzählen, was sie am dringendsten zu hören wünschten: Er deutete in die Ferne, Richtung Osten, und sprach von einem Reich von Gold. Er zeigte ihnen sogar eine schmale Flussstelle, an der sie am leichtesten eine Brücke bauen könnten, und hoffte, dass sie ihn und seine Leute nun in Ruhe lassen würden. Als Pizarro die lang ersehnte Beschreibung vernahm, war er sicher, dass er sich auf dem richtigen Weg befand, und befahl dem Haupttrupp seiner Leute, ihm auf diesem zu folgen. Delicola jedoch wurde als Geisel genommen; er sollte sie zu El Dorado führen. Als der Rest der Leute eintraf, setzte sich die Expedition entlang dem Flusslauf in Bewegung. Es handelte 56
sich wahrscheinlich um den Fluss Coca, einen Nebenfluss des Napo. Delicola und seine Leute mussten in Ketten gehen und den Zug anführen. Es war ein schonungsloser Marsch: Alle paar Meilen musste ein tiefer, reißender Fluss durchquert, ein Sumpf überwunden werden. Menschen und Pferde wurden fortgespült oder in die Tiefe gezogen, Indio-Träger verschwanden unter dem Gewicht ihrer Lasten in den Sümpfen. Man traf auf keinerlei Eingeborene, die man hätte nach dem Weg fragen oder ihrer Nahrung berauben können. Ihre Vorräte gingen zur Neige, und die Spanier begannen damit, ihre Hunde aufzuessen. Eines Tages gelang es Delicola und seinen Leuten, in den Urwald zu entkommen. Niemand von den Spaniern oder den Indios war im Stande, sie im Dschungellabyrinth aufzuspüren. Wie sollten sie nun weiterkommen – ohne Führer und Träger? Pizarro befahl seinen Leuten, ein Segelschiff zu bauen und ihre Lasten sowie die Kranken auf dieses zu laden. Es kostete sie Tage um Tage. Sie fällten Bäume, bauten eine Schmiede, machten Holzkohle, schmolzen Hufeisen ein, um daraus Nägel zu gießen, nahmen Baumharz anstelle von Pech und alte Decken als Ersatz für Werg. Nachdem die Brigg schließlich vom Stapel gelaufen war, fuhr sie auf dem Fluss entlang, während die Männer am Ufer weitermarschierten. Die Nahrung wurde immer knapper, und die Landschaft wirkte immer verlassener, je breiter der Flusslauf wurde. Delicola hatte andeutungsweise gesagt, das Königreich des Ver57
goldeten begänne dort, wo der Fluss in einen größeren Fluss mündete. An dieser Stelle entschloss sich Pizarro, mit den meisten seiner Leute umzukehren und die eigenen Spuren in einem Zwei- oder Dreitagemarsch zurückzuverfolgen. Sobald sie eine weniger verlassene Gegend erreichten, wollten sie ein Lager aufschlagen. Unterdessen sollte die Brigg unter dem Kommando von Orellana flussabwärts fahren, bis sie im Königreich von El Dorado angekommen wäre. Dort sollte Orellana im Guten oder mit Gewalt Proviant beschaffen und zu den Übrigen ins Lager bringen. Ausgeruht und gestärkt wollten sie sich dann alle miteinander wie ein Schwarm von Habichten auf ihre Beute stürzen und die Eroberung vollenden. Orellana brach mit 57 Mann auf, den kräftigsten und tüchtigsten von allen, und nahm die meisten Hakenbüchsen und Armbrüste der Expedition mit. Gonzalo Pizarro und seine übrigen Leute warteten und warteten auf seine erfolgreiche Rückkehr. Sie aßen die letzten wenigen Pferde und die verbliebenen Kampfhunde auf. »Sie ließen nichts übrig, weder die Eingeweide noch die Häute, noch andere Teile«, verzeichnete einer der Chronisten getreulich. Schließlich brach Gonzalo Pizarro voller Ungeduld und Sorge wieder zu Fuß am Fluss entlang auf, wobei er feststellen musste, dass der Weg von unüberwindlichen Sümpfen versperrt war. Als man ein paar Kanus mit Eingeborenen zu fassen bekam, konnte eine kleine Gruppe der Leute Pizarros flussabwärts auf die Suche nach Orellana geschickt wer58
den. Der Suchtrupp kehrte eine Woche später mit leeren Händen zurück: Sie hatten weder eine Spur ihrer Kameraden noch der goldenen Städte gefunden. Pizarro befahl einen zweiten Versuch. Dieses Mal stieß der Suchtrupp noch weiter flussabwärts vor, bis zu der lange gesuchten Mündung in den Fluss Napo. Abermals – nichts! Keine spanischen Soldaten, kein Gold, keine Bauwerke. Es gab geringe Anzeichen dafür, dass Orellana hier vorbeigekommen war: Markierungen, die mit einem Messer in die Rinde eines Baumes geschnitten worden waren. Aber wo war die Brigg? Der Anführer des Suchtrupps vermutete, Orellana könnte vielleicht den Napo mit dem Coca verwechselt haben, und deshalb ruderten sie den Napo ein gutes Stück flussaufwärts. Sie hatten immerhin das Glück, auf eine große Maniok- (oder Kassave-) Pflanzung zu stoßen, die von den Indios verlassen worden war. Sie luden ihre Kanus bis zum Schandeck voll und kehrten zum Hauptlager zurück, wo mittlerweile ihre hungernden Kameraden – nachdem sie die letzten Reste ihrer Pferde und Hunde mit Beilagen aus Gras und Blättern verschlungen hatten – gezwungen waren, ihre Sättel und Peitschen zu kochen und zu essen. Pizarro hörte sich die Berichte an, die ihn zusammen mit dem lebensrettenden Maniok erreichten, und kam zu dem Schluss, dass Orellana und sein Trupp entweder ertrunken waren oder in einen Hinterhalt der Eingeborenen geraten sein mussten. Die Brigg war verloren; die Leute waren alle tot. Jetzt befahl Pizarro seinen Soldaten, zu der Maniok59
Pflanzung zu marschieren; hier könnten sie sich wenigstens satt essen und erholen. Dann zogen sie weiter zum Zusammenfluss der beiden Flüsse. Und hier tauchte wie ein Gespenst aus dem Dschungelgewirr eine hagere, zerlumpte Erscheinung auf: das, was von Hernán Sánchez de Vargas übrig geblieben war, einem der 57 strammen Krieger, die mit Orellana aufgebrochen waren. Und das war seine Geschichte: Er war ausgesetzt worden, als alle anderen, einschließlich Orellana, zu dem Schluss gelangten, es wäre unmöglich, flussaufwärts zu segeln, um wieder zu Pizarro und der Hauptgruppe zu stoßen, die Strömung war einfach zu stark. Und so legten sie ihr Schicksal in die Hände der Vorsehung und fuhren weiter flussabwärts in der Hoffnung, das offene Meer zu erreichen. Er allein hatte sich dem Vorhaben widersetzt, und so war er zurückgelassen worden, um im Dschungel zu verhungern. Die Enthüllung dieses niederträchtigen Verrats – denn so beurteilte Gonzalo Pizarro ebenso wie jeder nachfolgende Historiker der Conquista Orellanas Entscheidung – brachte Pizarros Entschlossenheit vollends ins Wanken. Alle Hoffnung war dahin. Jetzt blieb nichts weiter übrig, als zu versuchen, lebend über die Anden zurückzukommen. Sie marschierten stromaufwärts den Napo entlang, denn er schien im Großen und Ganzen aus der Richtung der Kordilleren zu kommen. Eine kleine Vorhut erkundete den Fluss mit dem Kanu und entzündete allabendlich ein riesiges Signalfeuer, um die Position an60
zugeben, in deren Richtung der Haupttrupp zu Fuß nachrücken konnte. Sie verzehrten die restlichen Vorräte von Maniok und wilden Früchten, die sie im Dschungel gefunden hatten. »Unter solchen Umständen zogen sie voran, halb verhungert, nackt, barfuß, von Wunden und Schwären bedeckt. Mit ihren Schwertern bahnten sie sich den Weg durch den Dschungel, während es ununterbrochen regnete und sie tagelang die Sonne nicht zu Gesicht bekamen und sich nicht trocknen konnten. Sie verfluchten sich immer wieder dafür, dass sie sich in diese Lage gebracht und solchen Entbehrungen und Strapazen ausgesetzt hatten, die leicht zu vermeiden gewesen wären.« Schließlich stießen sie auf ein Indio-Dorf, wo sie ein wenig Nahrung und Hinweise auf den kürzesten Rückweg nach Quito erhielten. Dieser kürzeste Weg war indes alles andere als leicht: noch mehr Dschungel, noch mehr Sümpfe, noch mehr Flüsse, die überquert, und Bäume, die gefällt werden mussten, um die Flüsse zu überbrücken. Eines Nachts träumte Gonzalo Pizarro, dass ihm ein Drache das Herz aus der Brust riss. Er ließ einen seiner Männer kommen, der einen Ruf als Astrologe und Wahrsager genoss. Dieser Mann erklärte, Gonzalo Pizarro würde bei seiner Rückkehr nach Quito erfahren, dass ein geliebter Mensch tot sei. Es stimmte: Sein Bruder, Francisco Pizarro, Generalgouverneur von Peru, war ermordet worden, während Gonzalo in den Urwäldern unterwegs gewesen war. 61
Die Odyssee endete im August 1542, zwei Jahre nachdem sie begonnen hatte. Die Überlebenden – kaum mehr als hundert – humpelten nach Quito hinein. Ein Augenzeuge erinnerte sich: »Sie alle, der General und die Offiziere und die gewöhnlichen Soldaten, waren halb nackt, weil ihre Kleidung in dem unablässigen Regen zerfallen war, zerlumpt und zerfetzt. Sie waren fast nur mit hinten und vorn zusammengebundenen Tierfellen bekleidet, einige trugen Kopfbedeckungen aus gleichem Material. Ihre Schwerter hatten keine Scheiden mehr, sie waren schartig und rostig. Ihre Füße waren bloß und voller Wunden und Risse, weil sie auf Dornen und Wurzeln getreten hatten. Sie waren alle so schwach und ausgezehrt, dass niemand sie wieder erkannt hätte.« Was Orellana betrifft, so wäre es wohl gerechter zu sagen, dass er eher ein Opfer der Umstände als ein Verräter war. Fra Gaspar de Carvajal, der künftige Erzbischof von Lima, war ein Teilnehmer von Orellanas Trupp, und er verfasste den einzigen authentischen Bericht. Carvajal zufolge fanden Orellana und seine Leute in einem Eingeborenendorf etwas Nahrung, als sie die Mündung des Coca-Flusses in den Napo erreichten. Hier entschloss sich der Kommandeur des Trupps, stromaufwärts zu Gonzalo Pizarro zurückzukehren, aber seine Leute drohten zu meutern. Sie ließen vom Expeditionsschreiber eine Petition aufsetzen, die sie alle unterschrieben und worin sie erklärten, dass es unmöglich wäre, sich gegen die Strömung flussaufwärts durchzukämpfen. Orellana fürchtete eine Revolte und gab den 62
Forderungen nach. Er bot demjenigen tausend Goldstücke, der zu Fuß stromaufwärts gehen würde, um Pizarro von der Entscheidung in Kenntnis zu setzen. Drei Mann meldeten sich freiwillig für diesen Auftrag – um das Gold zu bekommen –, aber letzten Endes machte sich keiner von ihnen auf. Was Hernán Sánchez de Vargas betrifft, der ausgesetzt worden war, so findet er bei Carvajal keine Erwähnung. Hatte er Vargas übergangen, weil er der einzige Zeuge eines gemeinschaftlichen Verrats war und Carvajal glaubte und hoffte, dass er tot im Dschungel läge? Oder war Vargas lediglich hinter den anderen hergezockelt und hatte den Weg verloren, während die anderen, nachdem sie auf ihn gewartet hatten, schließlich flussabwärts weitergefahren waren? Wir werden es nie wissen. Jedenfalls antwortete Orellana schriftlich auf die von seinen Leuten (49 von ursprünglich 57) unterzeichnete Petition. Er erklärte, dass er – wenn auch widerstrebend – bereit sei, sie auf einem anderen Weg in Sicherheit zu bringen, und dass er sich ihrem gemeinschaftlichen Willen fügen werde. Der einzig mögliche andere Weg war: den Napo-Fluss hinab. Sie beluden das Schiff mit noch mehr Nahrungsmitteln, die sie von den Indios erhalten hatten, darunter viele Schildkröten, und dann setzten sie Segel. Sie hielten sich in der Mitte des Flusses, und schließlich mündete der Napo in einen viel größeren Strom. Dessen Ufer waren nur wie schwarze Schatten fern am Horizont zu sehen. Die Eingeborenen schienen friedfertig 63
und gastfreundlich zu sein. Bei einem ihrer Dörfer landeten sie, um eine zweite Brigg zu bauen. Im April 1542 legten sie erneut ab, dieses Mal mit zwei Schiffen – die ordnungsgemäß auf die Namen Victoria und San Pedro getauft worden waren –, aber danach lief alles entsetzlich schief. Zuallererst: Hunger! Die Flussstrecke, die sie befuhren, war unbewohnt, und die Ufer waren so überwuchert und steil, dass man unmöglich anlanden konnte. Sie konnten auch so gut wie überhaupt nicht fischen. Am Schluss hatten sie nichts weiter zu essen als Gras, ein wenig Mehl und das Leder ihrer Gürtel. Und als sie schließlich wieder ein paar Eingeborene trafen, erwiesen sich diese als unerbittlich feindselig und griffen sofort an. Die Spanier mussten zwei Tage und zwei Nächte lang um ihr Leben kämpfen, während sie stromabwärts durch eine dicht besiedelte und äußerst kriegerische Gegend fuhren. Dann gelangten sie auf das Gebiet der Omagua. Diese Leute hatten große Mengen Porzellan in ihren Häusern, »das feinste Porzellan, das man je auf Erden gesehen hat, glasiert und geschmückt in allen Farben, so leuchtend und glänzend, dass der Betrachter nur staunen kann«. Das war ein gutes Zeichen, ein Zeichen von Reichtum. Die Spanier glaubten nun wieder, sie seien dem lang gesuchten El Dorado auf der Spur. Ihre Hoffnungen verdoppelten sich sogar, als sie von den Eingeborenen erfuhren, dass »jeder Gegenstand, der in ihren Häusern aus Ton gemacht war, landeinwärts statt dessen aus Gold und Silber gemacht würde«. 64
Orellana und seine Leute entschlossen sich, diese gleißende Gegend im Landesinneren anzusteuern. Aber sie waren gerade erst zweieinhalb Kilometer vorangekommen, als die engen Waldpfade, denen sie gefolgt waren, sich weiteten und zu majestätischen, pfeilgeraden Boulevards wurden. Dieses Anzeichen einer hoch entwickelten Zivilisation erschreckte sie eher. Sie fürchteten, sich unvermittelt einer gut ausgerüsteten herrschaftlichen Armee stellen zu müssen; deshalb ergriffen sie die Flucht, hasteten zurück zu ihren Briggs und fuhren schleunigst weiter flussabwärts. Die Eroberung wollten sie lieber auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Nachdem sie an der Mündung eines breiten, gewaltigen Nebenflusses mit tintenschwarzem Wasser vorbeigefahren waren, landeten sie im Paguana-Land bei einem Dorf, wo sie »etwas absolut Sehenswertes« erspähten: einen Baumstumpf von ungefähr drei Meter Durchmesser, auf dem eine geschnitzte Stadt stand, die von Mauern umgeben war und von zwei Jaguaren gestützt wurde. Die höflichen Eingeborenen erklärten ihnen, dies sei ein heiliges Symbol, einer Rasse von Kriegerinnen geweiht, denen das Dorf in Form von Papageienfedern und Palmwedeln zum Dachdecken Tribut entrichte. Weiter stromabwärts fanden sich die Spanier – als sie an Dörfern am Flussufer vorbeikamen, die sich zunehmend als feindselig erwiesen – »plötzlich auf dem vortrefflichen Gebiet und Reich der Amazonen«. Sie sahen sich von Kanus voller Krieger umringt, 65
und obwohl sie viele von diesen mit Büchsenschüssen und Armbrustpfeilen töten konnten, befanden sie sich noch immer in Gefahr, überwältigt zu werden. Inmitten der Schlacht riefen die Indio-Krieger die Hilfe der Amazonen herbei, welche ihre Geliebten waren. Ein Dutzend der Kriegerinnen kamen und standen ihnen bei und »kämpften, als ob sie hier das Kommando hätten«. Carvajal zufolge »sind diese Frauen sehr hellhäutig und groß, haben langes, geflochtenes Haar, das sie um den Kopf geschlungen tragen, sie sind sehr kräftig und laufen nackt herum, nur ihre Scham haben sie bedeckt; mit Pfeil und Bogen in den Händen kämpfen sie so gut wie zehn indianische Männer auf einmal, und eine Frau unter ihnen schoss doch tatsächlich einen Pfeil eine Spanne tief in eine der Briggs, weitere weniger tief, sodass unsere Briggs bald wie Stachelschweine aussahen.« Doch schließlich gelang es den Spaniern, etliche dieser Furcht erregenden Frauen zu töten, worauf die Indios der Mut zu verlassen schien. Als der umsichtige Orellana jedoch bemerkte, dass neue Verstärkung nachrückte, entschloss er sich, den Kampf abzubrechen und sich so schnell wie möglich stromabwärts zu entfernen. Die folgenden Tage brachten neue Kämpfe mit ganzen Flotten von Eingeborenenkanus. Erst als sie diesen fruchtbaren, aber gefährlichen Abschnitt des Flusses hinter sich gelassen hatten, fand Orellana Zeit, einen Gefangenen zu vernehmen, und natürlich befragte er ihn über die Amazonen-Kriegerinnen. Der Gefangene ant66
wortete, die Amazonen lebten ohne Männer in etwa 70 Dörfern. Ihre Häuser seien aus Stein und reich mit Gold und Silber ausgestattet (welche Überraschung!), sie verehrten Götzenbilder aus Gold und Silber, sie trügen Schmuck aus Gold und Silber, sie äßen von Geschirr aus Gold und Silber. Diese Frauen hatten von Fall zu Fall Verkehr mit Männern. Wenn sie die Lust überkam, bildeten sie einen großen Kampfverband und zogen gegen einen mächtigen Herrscher, der nicht weit entfernt residierte, in den Krieg. Von dort entführten sie Männer und hielten sie in ihrem Land als Gefangene, so lange es ihnen gefiel, und diese mussten ihnen ihr Verlangen befriedigen. Wenn sie feststellten, dass sie schwanger geworden waren, schickten sie die Männer zurück in ihre Dörfer, ohne sie in irgendeiner Weise zu verletzen. Später, nach der Geburt der Kinder, wurden die männlichen Babys getötet und die kleinen Leichname an die Väter zurückgeschickt. Die weiblichen Babys wurden mit großer Ernsthaftigkeit aufgezogen und in der Kriegskunst unterwiesen. (Aus Descubrimiento del Rio de las Amazonas von Caspar de Carvajal) Carvajal, ein gelehrter Mann, fügte hinzu, dass diese Frauen nicht im engeren Sinne als Amazonen bezeichnet werden könnten, weil sie, obgleich sie mit Pfeil und 67
Bogen kämpften, sich nicht eine Brust abschnitten, um dadurch besser mit dieser Waffe umgehen zu können, während »im Griechischen das Wort ›Amazone‹ bedeutet: ›die ohne eine Brust‹«. Nach verschiedenen Abenteuern mit feindseligen und mit friedfertigen Indios erreichten Orellanas zwei Briggs Ende August 1542 – ungefähr zu der Zeit, als die zerlumpten Reste von Gonzalo Pizarros Armee durch die Tore von Quito humpelten - die Mündung dieses grenzenlosen Flusses, den die Portugiesen vormals den Maranhao genannt hatten. Von nun an aber sollte er als der Rio de las Amazonas bekannt werden, wörtlich: der Fluss der Amazonen – der Amazonas. Ein paar Monate später reiste Orellana nach Spanien, um Karl V., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und König von Spanien (neben anderen Titeln), von seinen Entdeckungen zu berichten und sich gegen die Anklage des Verrats zu verteidigen, wobei er als Beweis die unschätzbaren Dokumente vorlegen wollte, die er bei sich trug. Er erlebte einen ziemlich kühlen Empfang, unter anderem weil der Fluss, den er befahren hatte, auf portugiesischem Gebiet ins Meer mündete und man deshalb internationale Komplikationen befürchtete. Doch schließlich entschied der Indien-Rat, dass der Amazonas von der Mündung flussaufwärts immer noch freies Territorium sei. Orellanas Berichten zufolge war dieses Gebiet ziemlich reich. Orellana wurde zum Gouverneur einer künftigen spanischen Provinz Nueva Andalucía 68
ernannt und mit der Eroberung und Kolonisation des neuen Landes beauftragt. Er stach im Mai 1545 mit vier Schiffen, vielen Hunderten von Siedlern und der Frau, die er in Spanien geheiratet hatte, in See. Die Reise wurde zum Desaster: Ein Schiff ging mitten im Atlantik verloren, die anderen drei segelten von der Mündung aus den Amazonas hinauf, erlitten aber zwischen den Flussinseln Schiffbruch. Orellana selbst verschwand – er ging in irgendeinem Winkel des riesenhaften Flusses verloren. Aber er war der Erste gewesen, der den Amazonas in seiner riesigen Länge vollständig befahren und dem Fluss seinen Namen und eine Legende verschafft hatte.
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Der rebellische Konquistador
Zwanzig Jahre später fuhr das Trugbild von El Dorado, dem Vergoldeten, eine Rekordernte an Opfern ein. Die eigentliche Geschichte beginnt erst 1559, aber die Ereignisse, die dazu führten, ziehen sich schon über das ganze Jahrzehnt davor hin. Das erste, ferne auslösende Moment der Geschichte von Lope de Aguirre findet sich im Jahr 1549: Ein paar Hundert Indios erreichten die Ostgrenze von Peru, indem sie dem Lauf des Huallaga-Flusses folgten. Das war das Ende einer Reise, die an der Atlantikküste in der Nähe der Amazonasmündung begonnen hatte. Diese paar Hundert Indios waren die einzigen Überlebenden einer Massenwanderung, die zwei Jahre zuvor begonnen hatte. Einigen Quellen zufolge waren mehr als 10000 Indios unter der Führung ihres Stammeshäuptlings Viraratu aufgebrochen und hatten ein übervölkertes Gebiet verlassen, wo sie ständig zu Kämpfen gegen Nachbarstämme um die knappen Nahrungsmittel und verfügbaren natürlichen Ressourcen gezwungen waren. Viraratu hatte beschlossen, mit seinem Volk nach einem freien und einladenden Land zu suchen. Sie bauten sich eine Flotte von Kanus und begannen, den Amazonas hinaufzurudern; aber immer wenn sie zu landen versuchten und sich niederlassen 70
wollten, stießen sie auf heftige Gegenwehr der dort ansässigen Stämme. Da sie bei jedem Versuch, eine neue Heimat zu finden, gescheitert waren, waren sie schließlich gezwungen, die ganze Strecke des Amazonas bis hinauf nach Peru weiterzuziehen, wo sie erschöpft und zahlenmäßig dezimiert ankamen. In ihren Berichten über die Reise den Amazonas hinauf beschrieben diese Indios große Dörfer, die sich am Fluss erhoben und deren Bewohner Gold und Silber in beträchtlichen Mengen besaßen. Es habe da wirklich ganze Straßen gegeben, in denen Goldschmiede wohnten, die diese Metalle verarbeiteten und gern bereit wären, sie gegen Geräte aus Eisen zu tauschen. Die Überlebenden konnten sogar Musterstücke vorweisen: Schmuck, Kolliers, Armreifen. Diese Berichte erweckten die verschwommene Geographie goldener Reiche und von Königreichen von Kriegerinnen zu neuem Leben. In der glühenden Phantasie der Spanier, die Peru kolonisiert hatten, zogen sich diese Gebiete in den unerforschten Gegenden des großen Flusses nach Osten hin. Die Träume von goldenen Städten entlang dem Amazonas waren verblasst, aber nie ganz vergessen worden. Jetzt brach das Goldfieber erneut aus: Es war allenthalben wieder die Rede von El Dorado, den Amazonen, Omagua und Manoa. »All dies«, so schrieb ein Chronist, Fra Pedro Simon, »erhitzte die Seelen und die Gemüter der rastlosen Männer, von denen es in Peru wimmelte und die stets bereit waren, leeren Gerüchten Glauben zu schenken, 71
so sehr, dass der Vizekönig befand, es sei das Beste, die große Menge ungestümer Leute irgendwie zu beschäftigen.« Ob er nun selbst daran glaubte oder nicht – diese Träume von neuen zu erobernden Gebieten kamen Don Andrés Hurtado de Mendoza, Marquis von Cañete, der damals im Namen des Königs von Spanien Gouverneur von Peru war, durchaus zupass. Peru hatte gerade erst einen jahrelangen Bürgerkrieg hinter sich, und das ganze Land war immer noch voller Querulanten, Außenseiter, Gammler, Banditen und Abenteurer aller Sorten. Die innere Ordnung wurde ständig von dieser kleinen Armee potenzieller Unruhestifter bedroht, einem Haufen niederträchtiger Individuen, die stets bereit waren, ihre Waffen zu gebrauchen. Sie waren zu viele, um sie einzusperren, zu rebellisch, um sie zu beschwichtigen. Wäre es aber möglich, sie alle – oder wenigstens die meisten von ihnen – zu rekrutieren und mit einer schönen neuen Expedition nach Osten zu schicken, durch ebendiese Dschungel, die die Armee von Gonzalo Pizarro verschlungen und erst ein paar Jahre später ein paar zerlumpte Knochengerippe ausgespuckt hatten, dann hätte der Gouverneur das schwer geprüfte Peru erfolgreich von ihrer lästigen Anwesenheit befreit. Und was auch immer dabei herauskäme – die spanische Krone würde in jedem Fall gewinnen: entweder durch die Ausschaltung dieser hartnäckigen Typen – durch Indianer-Massaker oder Tropenkrankheiten oder sonst ir72
gendwie – oder im Glücksfall, sollten sie tatsächlich Erfolg haben, durch die Eingliederung einer prächtigen neuen Kolonie in den Herrschaftsbesitz Seiner Majestät Philipp II. von Spanien. In solch einem Fall würden diese Lumpen sogar reiche Hidalgos, Konquistadoren und Helden des spanischen Weltreichs werden können. Andernfalls blieben sie, was sie waren: Galgenvögel, am besten verschollene oder umgekommene Galgenvögel. Gouverneur Mendoza hatte auch gleich den Mann zur Hand, der die Expedition leiten konnte oder von dem er es zumindest glaubte: einen jungen Hidalgo, Pedro de Ursua, 30 Jahre alt und in Pamplona geboren, ein wagemutiger Sohn von Navarra, der sich bereits in zahlreichen Kämpfen, die mit jener blutrünstigen Wildheit geführt wurden, die damals bei den Spaniern für militärische Tugend gehalten wurde, ruhmreich hervorgetan hatte, in Kämpfen gegen aufrührerische Indios oder meuternde afrikanische Sklaven. Ursua übernahm das Kommando ohne Bedenken, er war begeistert von der Aussicht, in die Fußstapfen von Hernán Cortés und Francisco Pizarro treten zu können, und fühlte sich geschmeichelt von den Pergamenturkunden, die ihn in fließenden Schriftzügen als Gouverneur der Reiche von Omagua und El Dorado nannten, sofern er sie eroberte. Unverzüglich gab er einen Aufruf zur Rekrutierung heraus, und dieser wurde vom Abschaum von Peru mit einmütiger Begeisterung aufgenommen. Unter den neu Angeworbenen war ein Mann, der 73
der böse Geist der Expedition werden sollte, indem er ihre Führung und letztlich ihre Ziele an sich riss und pervertierte: Lope de Aguirre, an den auf unterschiedliche Weise als Aguirre »den Tyrannen«, Aguirre »den Wahnsinnigen«, Aguirre »den Zorn Gottes« erinnert wird – Zielscheibe aller Schmähungen und allen Spotts jeglicher Chronisten der folgenden tragischen Ereignisse. Das physische und psychische Porträt, das einer seiner Abenteurer-Gefährten von ihm zeichnete, stellt deutlich einen neuen Caligula des spanischen Indien dar, der nur auf eine Gelegenheit wartet, jedwede Art von Niedertracht zu begehen: Er war von kleiner Statur, hatte ein durchschnittliches Aussehen, dabei ein hässliches Gesicht, das schmal und ausgezehrt wirkte. Sah er etwas oder jemanden an, so funkelten die Augen in seinem Gesicht, vor allem wenn er zornig war. In Gesellschaft anderer war er ungestüm und energisch. Er hielt schwere Arbeit aus und ganz besonders Mangel an Schlaf; selten sah man ihn schlafen, außer für ein paar Momente tagsüber, aber nachts traf man ihn immer wach an. Er konnte stundenlang marschieren und dabei enorm schwere Lasten schleppen, er war im Stande, zahlreiche Waffen zu tragen und zu gebrauchen; oft trug er zwei Kettenpanzer, ein Schwert und einen Dolch, eine Hakenbüchse oder eine Lanze und manchmal außerdem einen Brustharnisch. Er war 74
von Natur aus ein Feind alles Guten und Rechtschaffenen; voller Missgunst schaute er auf alles, was Ausdruck von Heiligkeit und Tugend war; er war der Freund und Spießgeselle eines jeden, der niederträchtig, gemein oder schändlich war; je mehr einer Diebstähle, Verbrechen oder Grausamkeiten beging, desto eher war er sein Freund. Er war stets gerissen, hinterlistig, verschlagen und heimtückisch; nur selten sagte er je die Wahrheit, und es war schon ein Wunder, wenn er einmal ein Versprechen hielt. Er war dem Laster verfallen, der Fleischeslust und der Gier; oft war er betrunken. Er war kein guter Christ, vielleicht ein lutherischer Ketzer oder Schlimmeres; und er beging die Verbrechen, die wir soeben aufgezählt haben, und ermordete Priester, Mönche, Frauen und Unschuldige und war nie bereit, diese Sünden zu bekennen, selbst wenn er dazu ermahnt wurde. Er war es gewohnt, seine Seele dem Teufel zu verschreiben; er vertraute Luzifer sich und seinen ganzen Körper an – seine Beine, seine Arme und sogar seine Genitalien. Er vermochte den Mund nicht zu öffnen, ohne gegen den Herrn und alle seine Heiligen zu lästern. Nie sprach er gut von jemandem, nicht einmal von seinen Freunden. Diese ekelhafte und schlaflose Ausgeburt der Gotteslästerlichkeit, bis zu den Zähnen bewaffnet – eher eine Gestalt aus einem Schauerroman als aus den Chroniken der Conquista –, war um die fünfzig Jahre alt, als er Ur75
suas Anwerbung folgte, und hatte eine reiche Vergangenheit voller Brutalitäten hinter sich. Er hatte in allen Bürgerkriegen gekämpft, die Peru in Blut schwimmen ließen, er hatte als Hilfsscharfrichter unter Gonzalo Pizarro gedient und sich den Spitznamen »El Loco« erworben, der Wahnsinnige. Er hatte eine Gruppe Indios sogar noch über das bei den Konquistadoren übliche Maß hinaus gepeinigt und wurde dafür 1548 von dem Alcalde Esquivel zu hundert Peitschenhieben verurteilt – eine Schmach für einen Edelmann, der er zu sein behauptete und dem Status nach auch war. Er ließ die Bestrafung stoisch über sich ergehen, aber er schwor Rache. Drei Jahre und vier Monate lang verfolgte er Esquivel unerbittlich; er spürte ihn auf, wo auch immer dieser Zuflucht suchen mochte: von Lima nach Quito, von Quito nach Cuzco, bis er seine Chance erkannte und sie ergriff: Er erdolchte den ehemaligen Alcalde in dessen Haus. Eine kaltblütige Tötung – und als Aguirre bemerkte, dass er seinen Hut neben dem Leichnam seines Feindes hatte liegen lassen, ging er zurück und holte ihn. Das zumindest ist die Darstellung, wie sie uns lange Zeit später von dem Historiker Garcilaso de la Vega überliefert wurde. Aber vielleicht ist es auch nur eine weitere finstere Legende, die um die Tatsachen herum gewoben wurde. Ursua brauchte ein paar Jahre, um Männer und Material aufzutreiben. Er war sich der schlimmen Erfahrungen seines Vorgängers Gonzalo Pizarro sehr wohl 76
bewusst und entschloss sich, nur auf dem Wasser vorzudringen. Er richtete eine Bootswerft am Ufer des Huallaga-Flusses ein und schickte Zimmerleute und Schmiede voraus, die eine ganze Flotte bauen sollten: elf Schiffe, große und kleine. Schließlich brach er im September 1559 mit 400 Spaniern, 500 Pferden, 2000 Indios und einer Anzahl Frauen von Lima aus auf. Zwei der Frauen sollten die Hauptfiguren – und Opfer – der tragischsten Episoden dieser Expedition werden: Lope de Aguirres Tochter, eine junge Mestizin, und die schöne Dona Inés de Atienza, Pedro de Ursuas Geliebte. Als diese Armee die Ufer des Huallaga erreichte, um sich einzuschiffen und stromabwärts zu fahren, stellte sich heraus, dass die meisten Schiffe bereits verfault und für die Flussfahrt nicht mehr tauglich waren. Das lag zum Teil an dem feuchtheißen Klima, zum Teil an der schlechten Qualität des für den Bau verwendeten Holzes und zum Teil vielleicht auch an der blanken Unfähigkeit der Schiffbauer selbst. Nun war man gezwungen, Flöße zu bauen, die schließlich im September 1560 ablegten und stromabwärts dem Zusammenfluss des Huallaga mit dem Marañón zustrebten. Nachdem der Marañón die Nebenflüsse Ucayali und Napo aufgenommen hat, schwillt er an und verbreitert sich und wird schließlich zum Amazonas. Ursua erwies sich bald als despotischer und unfähiger Führer. Die Verbindung von Arroganz und Mangel an Können erzeugte in der Masse seiner ohnehin schon 77
undisziplinierten Gefolgschaft bald Unzufriedenheit, und eine unter der Oberfläche lauernde Tendenz zur Meuterei kam rasch zum Durchbruch, schneller noch als unter der Führung eines fähigeren Kommandeurs. Die Versorgung war unzureichend, und nach vielen Monaten der Flussfahrt durch Gegenden, in denen keine Nahrung zu finden war und – schlimmer noch – nicht der geringste Hinweis auf Reichtümer, begannen die Leute zu murren und Ursua zu beschuldigen, dass er all seine Zeit damit zubrächte, es mit der verführerischen Dona Inés zu treiben, statt für den Erfolg der Expedition zu arbeiten. Es machte das Wort die Runde, der eigentliche Kommandeur der Expedition sei Dona Inés und das Schicksal der allerbesten Krieger von Peru hinge von den Launen einer Hure ab. Als sie Omagua erreichten, wo sie haufenweise Gold und Silber zu finden erwarteten, trafen sie nur auf erbärmliche, mit Palmwedeln gedeckte Hütten, die von feindseligen, verarmten Leuten bewohnt waren. Ursua befahl, ein festes Lager zu errichten, in dem sie das Ende der Regenzeit abwarten könnten. Von hier aus würden sie dann landeinwärts vorstoßen, in Richtung eines der vermuteten Standorte El Dorados. Jetzt wuchs die rebellische Stimmung: Die stolzen Konquistadoren, all die Hidalgos und Möchtegern-Hidalgos, »die doch aus Peru kamen, einem der reichsten und fruchtbarsten Länder der Erde, wollten sich viel lieber mit Brot und Fleisch voll stopfen, als dass sie zu schwerer Arbeit bereit gewesen wären«. 78
Die Meuterei brach schließlich am Silvesterabend vor Neujahr 1561 aus: Der unfähige und offen verachtete Ursua wurde von einer Gruppe von Verschwörern in seiner Hütte ermordet, und binnen weniger Stunden waren auch alle seine Getreuen tot. »Lang lebe der König! Tod dem Tyrannen!«, schrien die Meuterer. Und im Namen des Königs von Spanien wählten sie einen neuen Kommandanten, Fernando de Guzman, einen unbedeutenden Aristokraten, eindeutig nur eine Schachfigur und Marionette. Nach Augenzeugenberichten – die alle darauf bedacht waren, so viel Verantwortung wie nur möglich auf ihn zu schieben – war der führende Kopf des Komplotts Lope de Aguirre gewesen. Er erhielt eine Beförderung und wurde zum Maestro de Campo ernannt. Kurz darauf ordnete Guzman an, eine Urkunde auszufertigen und an den König zu senden, die die Ermordung Ursuas mit Beispielen seiner Unfähigkeit rechtfertigen und die Entschlossenheit der Expedition, weiter nach El Dorado zu suchen, bekräftigen sollte. All die Konquistadoren hatten etwas dagegen, ihre unerfreulichsten Taten schwarz auf weiß zu dokumentieren. Aguirre, der die Urkunde höhnisch mit »Aguirre, der Verräter« unterzeichnete, erklärte seinen einfältigen Kameraden, dass ihnen dieses Dokument wohl kaum helfen würde. Ihr seid jetzt alle Geächtete, sagte er ihnen. König Philipp II. von Spanien würde ihnen niemals diese Meuterei verzeihen. Und El Dorado habe schlicht und einfach sowieso niemals existiert. Oder 79
genauer: El Dorado existiere, aber es sei das Land, das sie verlassen hätten: Peru – reich an Gold und Silber und mit einem Überfluss an »Brot, Wein, Fleisch und schönen Frauen«. Und deshalb, sagte Aguirre, anstatt in diesem »wilden und verlassenen Land« wie Idioten herumzusitzen und zu leiden, wäre es doch besser, wenn sie die Rebellion, die sie bereits unwiderruflich in Gang gesetzt hätten, zu Ende brächten, indem sie in Peru die Macht ergriffen und sich von der spanischen Oberhoheit unabhängig erklärten. Aguirre muss zumindest über einige beeindruckende Fähigkeiten verfügt haben, denn es gelang ihm, nach und nach die Mehrheit der Männer zu überreden, seinen verwegenen Plan anzunehmen. Am 23. März wurde die Galionsfigur Guzman zum Fürsten von Peru ausgerufen und eine neue Urkunde aufgesetzt, in der sie alle erklärten, dass sie Philipp II. nicht mehr als ihren Herrn und Meister anerkannten. Während der neu ernannte Fürst in einfältiger Prahlerei schwelgte und verlangte, seinem Rang entsprechend mit Pomp und Firlefanz bedient zu werden, sowie eindrucksvolle Titel in Verbindung mit verschiedenen, noch zu erobernden Ländern Südamerikas vergab, leitete Aguirre die Expedition. Sie strebten nicht mehr der Amazonasmündung entgegen, sondern wandten sich nach Norden, überquerten den Äquator und drangen in das Orinokobecken ein, über den Rio Casiquiare, den Wasserlauf, der die beiden großen Flusssysteme über den Rio Negro, einen Nebenfluss des Amazonas, ver80
bindet. Aguirre wählte instinktiv diese auf keiner Karte verzeichnete Route und hatte großes Glück. Alles, was er suchte, war der kürzeste Weg zum Atlantik, und wie durch ein Wunder fand er ihn – durch das ganze labyrinthische Gewirr von Wasserläufen. Mittlerweile herrschte in der Expedition das Chaos. Sie hatten eine Revolution gemacht, und diese begann, wie alle Revolutionen, ihre Kinder zu verschlingen. Keiner traute mehr dem anderen, und jeder verschwor sich gegen jeden. Aguirre jedoch, den eine eifrige, treu ergebene Leibwache von etwa 50 HakenbüchsenSchützen – Basken wie er selbst – verteidigte, erwies sich stets als der Stärkere und spielte geschickt einen gegen den anderen aus. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass er als Einziger eine klare Vorstellung hatte. Jedenfalls machte Aguirre alle seine Feinde unschädlich, einen nach dem anderen, ehe sie ihn ausschalten konnten. Zuerst mussten Guzmáns Offiziere dran glauben; dann wurde Fürst Guzman selbst getötet, bevor er für seine niedergemetzelten Handlanger Rache nehmen konnte. Dann wurde die schöne Dona Inés getötet, wohl weil ihre Anwesenheit unter den Männern Unruhe stiftete, von denen jeder begierig war, ihr nächster Liebhaber zu werden. Viele einfache Soldaten, deren Namen niemand mehr kennt, wurden unterwegs getötet. Das Dorf, in dem die meisten dieser Morde begangen wurden, erhielt den Beinamen Pueblo de la Matanza, Dorf des Blutbads. Es scheint, dass dieses Massengemetzel an einem be81
stimmten Punkt Züge eines frühen Klassenkampfes avant la lettre annahm. Aguirre, so berichtet ein Chronist, »entschied, dass er keine Edelleute oder angesehenen Bürger mehr bei sich haben wollte, und so brachte er alle um, auf die diese Beschreibung passte; er nahm nur noch gewöhnliche Soldaten mit und ließ auch alle spanischen Frauen und die Kranken zurück.« Dieser Robespierre im Harnisch, Kopf einer schwimmenden Republik, besetzte als ersten Schritt auf seinem Rückweg nach Peru die Insel Margarita, die sich heute in venezolanischen Gewässern befindet. Nach 40 Tagen der Vertreibung und des Plünderns und der Ermordung aller örtlichen Würdenträger räumte er sie wieder. Aguirres ursprünglicher Plan scheint gewesen zu sein, über Panama nach Peru zurückzukehren. Aber dann änderte er die Richtung, landete im heutigen Venezuela und nahm die Stadt Valencia ein. Alle Bewohner flohen vor Entsetzen. Von Valencia aus sandte er einen Brief an König Philipp II. Dieses Dokument wurde oft als eindeutiger Beweis seines Wahnsinns gedeutet. Einige Gelehrte haben ihn auch den ersten, noch verworrenen und chaotischen Schrei nach Amerikas Freiheit und Unabhängigkeit genannt. Der Herrscher Spaniens und des spanischen Indien hat ihn vermutlich nie gelesen. Obwohl er inzwischen gemerkt haben musste, dass um ihn herum alles zusammenstürzte, marschierte Aguirre schließlich von Valencia nach Barquisimeto. 82
Auf diesem Marsch begannen jedoch seine Leute, ihm davonzulaufen, weggelockt von einem Versprechen der Amnestie für alle, die sich ergaben. Aguirre wurde von regierungstreuen spanischen Truppen eingekreist. Mit der Ausrede, Wasser suchen zu gehen, verschwanden seine Männer einer nach dem anderen. Am Schluss blieb nur noch ein einziger Mann an seiner Seite, er hieß Anton Llamoso. Verbittert fragte ihn Aguirre, warum er ihn denn nicht wie die anderen verlassen hätte. Llamoso antwortete schlicht, dass sie im Leben Freunde gewesen seien und nun zusammen sterben würden. Dann vollbrachte El Loco, der Wahnsinnige, seine letzte Tat – nicht ohne eine gewisse fürchterliche Würde. Er betrat das Zimmer seiner Tochter und sagte ihr: »Befiehl dich in Gottes Hand, meine Tochter, denn ich werde dich töten, damit man nicht voll Hohn und Spott auf dich zeigt oder du nicht in der Gewalt von jemandem landest, der dich die Tochter eines Verräters nennt.« Nach diesen Worten durchbohrte er sie mit seinem Schwert. Kurz darauf drangen Soldaten in den Raum und nahmen ihn lebend gefangen. Er hatte versucht, mit einer Hakenbüchse auf sie zu schießen, doch dann fiel ihm die Waffe aus den Händen, und er brach auf einem Bett gegenüber dem, auf dem seine tote Tochter lag, zusammen. Er wurde auf der Stelle hingerichtet – auf Drängen seiner eigenen früheren Gefolgsleute, die befürchteten, 83
er könnte, wenn er vor Gericht gestellt würde, Einzelheiten über ihre eigenen Untaten preisgeben. Sie richteten ihn selbst hin, indem sie mit ihren Hakenbüchsen ein Exekutionskommando bildeten. Sein Leichnam wurde dann enthauptet und gevierteilt. Die Leichenteile wurden in verschiedene Teile des spanischen Amerika gesandt, um als warnendes Beispiel zu dienen.
84
Der Mann, der auf die Amazonen traf
Als Aguirre und seine Desperados – kaum dass sie auf wunderbare Weise aus dem Wasserlabyrinth Amazoniens wieder aufgetaucht waren – die Flagge offener Meuterei hissten, indem sie zuerst die Insel Margarita besetzten und dann auf dem Festland ihren Eroberungsmarsch in Richtung auf Peru begannen, wurden hektische Kuriere eiligst über die Abhänge der Anden geschickt, um den kaiserlichen Behörden die Furcht erregenden Nachrichten zur Kenntnis zu bringen. In Santa Fe de Bogotá, der Hauptstadt von Nueva Grenada (das viele Jahre zuvor gegründet worden war), hatte der inzwischen betagte Konquistador Gonzalo de Quesada in aller Eile eine kleine Armee aufgestellt, mit der er sich hinab ins Tiefland wagen und dem meuternden Aguirre entgegentreten wollte. Quesada hatte persönliche Gründe für seinen Groll auf Aguirre und ganz besonders auf die von Ursua geführte Expedition, die in einem sinnlosen Blutbad geendet hatte. Auch er hatte sich 1557 offiziell bei Seiner Majestät Philipp II. darum beworben, mit der Suche nach El Dorado beauftragt zu werden. Und Quesada war durch die königliche Bevorzugung dieses jungen Edelmannes, der eine teure Expedition in die Ka85
tastrophe und in den Tod geführt hatte, zutiefst verletzt. Die kleine Armee, die Quesada aufgestellt hatte, um Aguirre zu bekämpfen, erwies sich als überflüssig, weil Aguirre schon hingerichtet und zerstückelt worden war, bevor sie überhaupt tätig werden konnte. Dennoch wurde Quesadas rasches Handeln dem König berichtet, und die vergessene Bewerbung des alternden Konquistadors wurde aus den Archiven geholt, um erneut in Betracht gezogen zu werden. Philipp II. – genannt El Rey Prudente, der kluge, vorsichtige König – war zögerlich und bedächtig in seinen Entscheidungen. Viele Jahre vergingen, ehe die lang erwartete Antwort aus Spanien eintraf. Erst 1568, als Quesada bereits 70 Jahre alt war, wurde er zum Gouverneur von El Dorado ernannt, sofern er die Gegend erobern würde, die dann diesen Namen tragen sollte: Sie würde sich über tausend Meilen erstrecken und im Süden von dem Fluss Caquetá begrenzt werden, der den Äquator quert und sich dann verbreitert und zum Fluss Japurá wird, der in den großen Amazonas mündet, im Norden durch den Fluss Pauto, der einen Teil des Orinokobeckens bildet. Diese weite Region sind heute die Llanos von Kolumbien und Venezuela. Quesadas Ansehen und seine ruhmvolle Vergangenheit – und natürlich die ewige Gier nach Gold – zogen zahlreiche Freiwillige an, meistens Veteranen, die schon früher unter Quesada gedient hatten. Der Kommandant, so bemerkte ein Chronist wenig schmeichelhaft, »wurde 86
von seinem endlosen Phantasieren über El Dorado, den Vergoldeten, so verwirrt und benebelt, dass sein kritischer Verstand und seine Fähigkeiten praktisch abgestumpft waren; so wurde er zum Opfer einer der beachtlichsten Täuschungen, die jemals in der Weltgeschichte vom Geist eines Irren Besitz ergriffen«. Kurzum, ein seniler Don Quijotte, der eine Armee schwächlicher, weißhaariger Veteranen anführte. Viele von Quesadas Leuten waren sogar noch älter als er selbst. Die Armee brach im April 1569 auf. Sie bestand aus 400 Männern, ziemlich vielen Frauen und einer Anzahl Indios, Negersklaven, Pferden, Kühen, Schweinen, Schafen und Ziegen. Sie marschierten langsam, nicht so sehr wegen ihres durchwegs fortgeschrittenen Alters, sondern um sich der gemächlichen Gangart des Viehs anzupassen. Allmählich gelangten sie vom Gebirge und seinen Ausläufern in die Prärien des Tieflandes und zogen Tag um Tag durch die grenzenlosen Weiten hohen, trockenen Grases. Es war Trockenzeit, und ein schlecht beaufsichtigtes Lagerfeuer breitete sich im Nu im Gras aus. Die Expedition war augenblicklich von einem rasenden Präriebrand umzingelt. Obwohl sie von Flammen eingeschlossen wurden, überlebten die Schatzsucher auf wunderbare Weise unversehrt. Die Pulverfässer explodierten allerdings, und so wurden die Hakenbüchsen der Expedition nutzlos. Sie marschierten weiter, immer weiter, in die graubraune Ferne, marschierten wie blind durch einen 87
Ozean von Gras, das ihnen hoch über die Köpfe wuchs, gepeinigt von allen stechenden Insekten, die es auf der Welt gibt. Nachts tauchten Fledermäuse aus der Dunkelheit auf, Vampire, die sich auf das Vieh stürzten und sein Blut saugten und sich auch bemühten, an Menschenblut zu kommen, und dazu in die Nasen und Finger und Zehen der schlafenden Schatzsucher bissen. Sie marschierten weiter, alle litten gleichermaßen, und jeden Morgen zählten sie ihre Toten, bevor sie weiterzogen. Sie marschierten voran durch das Pflanzenmeer, an dessen Ende sie El Dorado finden sollten. Aber es war kein Ende in Sicht, und als ihre Verzweiflung über ihre Träume die Oberhand gewann, kehrten sie schließlich um und gingen nach Hause. Am Ende des Jahres 1572 empfing Bogotá die zurückkehrenden Überlebenden: 25 Spanier, 4 Indios, etwa 20 abgemagerte Pferde, deren Rippen einzeln zu sehen waren. Der betagte Quesada brachte die wenigen ihm noch verbliebenen Jahre damit zu, seine Autobiographie zu schreiben. Er war »mittellos, und die Schulden lasteten auf ihm«. Diese Schulden vererbte er seiner letzten überlebenden Verwandten, der Nichte Doña Maria, und mit den Schulden den Titel des Gouverneurs von El Dorado, der durch königlichen Erlass erblich sein sollte, vorausgesetzt, dass die Erben sich weiterhin der Suche nach dem Vergoldeten widmeten. Doña Maria lebte in Spanien, wo sie mit dem Hidalgo Antonio de Berrio y Oruña verheiratet war, der sich in den jüngsten europäischen Kriegen ausgezeichnet 88
hatte. Nachdem das Ehepaar Quesadas zweifelhaftes Vermächtnis empfangen hatte, machte es sich mit seinen acht Kindern (sechs Töchtern und zwei Söhnen) nach Nueva Grenada auf und traf 1580 in Bogotá ein. Berrio war allerdings nicht mehr der Jüngste: 1520 geboren, war er demnach bereits 60 Jahre alt, als er sich auf die Suche nach seinem goldenen Erbe machte, einem Reich von Abertausenden von Quadratmeilen, das noch nie jemand gesehen hatte, von dem aber alle redeten. Schlimmer noch, sie redeten viel zu viel, und alles, was sie sagten, war widersprüchlich. Berrio hingegen war ein zielstrebiger, klar denkender Mann. Er begann damit, zunächst einmal alle die Gegenden auszuschließen, die schon von früheren Expeditionen erkundet worden waren. Sie alle waren mit leeren Händen zurückgekehrt. Was übrig blieb, war ein Gebiet von der Größe Spaniens, das zwischen den Llanos und der Mündung des Orinoko lag. Die Ansichten über diese Gegend wichen ebenfalls stark voneinander ab. »Manche sagen, dass dieses Land weitgehend unter Wasser stehe und überall Seen und Lagunen habe; andere behaupten, dass es da große und wohlhabende Königreiche gebe, und stellen sich vor, dass hier auch El Dorado sei, wo man wunderbare Dinge finden könne, wie sie sagen«, schrieb ein Geograph jener Zeit. Berrio, der ein hartnäckiger Forscher war, durchstreifte den verheißungsvollen weißen Fleck auf den Karten der Neuen Welt gründlich. Er fand jedoch nichts; allerdings begegnete er – dank einer abartigen Laune des Schicksals oder 89
infolge seiner unendlichen Leichtgläubigkeit – fortwährend Leuten, die ihn mit einer Fülle von Informationen über El Dorado versorgten. Jeder neue Informant schickte ihn in eine neue und andere Richtung. Gegen Ende all seiner Streifzüge, die von 1584 bis 1590 andauerten, hatte sich die mögliche Lage von El Dorado nach Südosten verschoben, in die Nähe des Flusses Caroni, eines südlichen Nebenflusses des Orinoko, der von den Höhen der Sierra Pacaraima nach Norden fließt. Dieses Mal war sich Berrio sicher, den richtigen Standort ausgemacht zu haben, insbesondere nach seiner Begegnung mit einem Spanier namens Martin de Albujar, der behauptete, tatsächlich schon in Manoa, der Hauptstadt El Dorados, gewesen zu sein. Er war Soldat, und während einer Expedition im Jahr 1576 hatten ihn Indios gefangen genommen. Zehn Jahre lang hatte er bei ihnen als Gefangener gelebt, bis es ihm schließlich gelungen war zu entkommen. Als wären die erstaunlichen wahren Abenteuer, die er tatsächlich erlebt hatte, noch nicht genug, meinte Albujar, noch eine Geschichte erzählen zu müssen, wie man ihn die ganze Strecke nach Manoa mit verbundenen Augen gehen ließ, damit er den Weg nicht erkennen könne. Seine Bewacher nahmen ihm erst die Augenbinde ab, als er unmittelbar vor den Toren der Stadt stand und hineingehen sollte. Danach brauchte er noch anderthalb Tage, um durch die Stadt bis zum Königspalast zu gehen, wo er eine angenehme Unterkunft erhielt und überhaupt gut behandelt wurde. Dort blieb er sie90
Porträt von Sir Walter Raleigh (um 1552 – 1618) aus »Memoirs of the Court of Queen Elizabeth« (»Erinnerungen an den Hof Königin Elisabeths«), veröffentlicht 1825. – Stapleton Collection, UK/Bridgeman Art Library 91
ben Monate; dann sagte er seinen Bewachern, dass er nach Hause zurückzukehren wünschte. Der König entsprach sofort seinem Wunsch und gab ihm sogar noch als Abschiedsgeschenk einen großen Goldschatz mit, den eingeborene Träger ihm nach Hause tragen sollten. Aber als sie das Flussufer erreichten, raubten die bösen Flussindianer unglücklicherweise alles. Wie sein Vorgänger Quesada musste Berrio glauben, was er zu hören bekam. Und er glaubte Martín de Albujars Geschichte. Ein paar Jahre später kam er mit seinem Glauben durch reinen Zufall mit einem anderen europäischen Edelmann in Verbindung, der ebenso von den Trugbildern der Schätze Amerikas besessen war: Sir Walter Raleigh. Raleighs glücklicher Aufstieg beruhte, wie es hieß, auf einer berühmten ritterlichen Geste viele Jahre zuvor: Angeblich hatte er spontan seinen Umhang über eine Drecklache gebreitet, damit Königin Elizabeth I. von England nicht ihre Schuhe beschmutzte. Wenn diese berühmte Geschichte sich so nicht ereignet haben sollte, wie man sagt, dann ist sie gut erfunden. Auf jeden Fall hat Raleigh irgendwie die Gunst der Königin gewonnen, und er erfreute sich einer bevorzugten Stellung bei Hof. Aber Raleigh war durchaus mehr als ein galanter Höfling; er war ein Mann mit genialen und vielseitigen Begabungen, ein weitblickender Politiker, ein talentierter, feinsinniger Dichter und Schriftsteller. Er hatte bereits etliche erfolgreiche Kriegszüge gegen die Spanier unternommen; er gründete die ersten englischen Kolonien in 92
Nordamerika, und zwar auf dem Gebiet von Virginia, das er nach Elizabeth, der Jungfräulichen Königin, so benannte. Dann jedoch fiel er bei der Königin in Ungnade, weil er heimlich Lady Elizabeth Throckmorton geheiratet hatte, eine von Queen Elizabeths Hofdamen (»meine langweiligen Damen«, wie sie sie nannte). Er wurde viele Wochen lang im Tower von London eingekerkert, bis er seine Freilassung erwirken konnte. 1595 tauchte er mit einer Flotte von vier Schiffen vor der venezolanischen Insel Trinidad auf und nahm sie im Handstreich ein. England befand sich mit Spanien im Krieg, und Raleigh hoffte, durch ein erfolgreiches militärisches Unternehmen die königliche Gunst zurückzugewinnen. Aber auf Trinidad fand er mehr, als er gehofft hatte: Er bekam Berrio und mit ihm El Dorado zu fassen. Ein El Dorado aus Worten: Berrio erzählte Raleigh alles, was er wusste, und darüber hinaus eine ganze Menge mehr, als er wirklich wissen konnte, aber was er sich vorstellte oder erhoffte. Raleigh wiederum schrieb und schrieb. Und nachdem er ein Stück weit das Orinokodelta hinaufgesegelt war und »dem Zorn des Flusses« getrotzt hatte, ohne indes etwas anderes als Reptilien und Insekten zu finden, kehrte er nach London zurück und veröffentlichte ein Buch mit dem deutlich propagandistischen Titel: The Discoverie of the Large, Rich, and Bewtifvl Empyre of Gviana, with a relation of the Great and Golden Citie of Manoa (which the Spaniards call El Dorado) [Die Entdeckung des großen, wohlhabenden und schönen Reiches Guayana, mit einem Bericht 93
über die große, goldene Stadt Manoa, die die Spanier El Dorado nennen]. Das Buch wurde zusammen mit einer hübschen Karte des labyrinthischen Parima-Sees veröffentlicht, an dessen Ufern die sagenhafte Hauptstadt zu finden sein sollte, »welche ob ihrer Größe, ihrer Reichtümer und ihrer vorzüglichen Lage bei weitem jede andere Stadt der Welt übertrifft«. Nun sah Raleigh seine Lebensaufgabe darin, dieses Reich für seine Königin zu erobern. Aber Elizabeth starb 1603, und Raleigh fiel bei dem neuen König, Jakob I., rasch in Ungnade. Bald landete er wieder im Gefängnis, und dieses Mal musste er 13 lange Jahre im Tower ausharren. Er verbrachte die Zeit damit, eine Weltgeschichte zu schreiben. 1616 gab der König schließlich seinen inständigen Bitten und den überschwänglichen Versprechungen, aus Guayana Schiffe voller Gold nach Hause zu bringen, nach. Raleigh wurde freigelassen, und er erhielt das Kommando über die lang ersehnte Expedition, die England eine Kolonie verschaffen sollte, die zehnmal so reich wie Mexiko und Peru zusammen wäre. Aber der König versah ihn auch mit außerordentlich strengen Anweisungen: Es war ihm unter allen Umständen verboten, einem Spanier auch nur ein Haar zu krümmen oder spanischem Besitz Schaden zuzufügen. Jakob I. brauchte Gold, aber er wollte Frieden bewahren. Die Aufgabe war schier unmöglich: Wie hätte Raleigh in das Innere eines Kontinents vordringen können, ohne den mit Sicherheit zu erwartenden Widerstand der Truppen in den verschiedenen spanischen Festungen an 94
der Küste zu überwinden? Und so kam es: Als die zehn englischen Schiffe in das Orinokodelta einfuhren und Barkassen aussetzten, die den Flusslauf bis zur Mündung des Caroni hinauf und dann diesen stromaufwärts rudern sollten, bis sie El Dorado und die sagenhaften Goldschätze erreichten, wurde ihnen der Weg von dem kleinen Fort San Tomé versperrt. Sie hatten keine Wahl, sie griffen an und überwältigten die spanische Festung. Sie hätten sich die Mühe sparen können, denn es gab keine Reiche und keine Reichtümer, weder da noch sonst irgendwo entlang dem Flusslauf des Caroni. Und als die Barkassen nach eineinhalb Monaten zum Flaggschiff zurückkehrten, wurde es dem voll Ungeduld und Sorge wartenden Raleigh klar, dass das Unternehmen ein Fehlschlag war. Schlimmer noch: Raleighs Sohn, Wat Raleigh, war bei dem Angriff auf die Festung San Tomé getötet worden. Die Flotte kehrte praktisch mit leeren Händen nach Hause zurück und brachte nur zwei erbärmliche Goldbarren mit, die in den rauchenden Ruinen des Forts gefunden worden waren. Raleigh bestand eigensinnig darauf, dass sie aus den Schätzen von Manoa stammten. Mittlerweile hatte der König von Spanien bereits lautstarken Protest gegen die willkürliche Zerstörung seiner amerikanischen Besitzungen erhoben. König Jakob zeigte sich unversöhnlich; vielleicht hatte er sogar auf diesen Ausgang der Geschichte gehofft. Sir Walter Raleigh wurde wegen Piraterie und Hochverrats angeklagt und vor Gericht gestellt. Er wurde für schuldig befun95
den und am Morgen des 29. Oktober 1618 enthauptet, nachdem er »lächelnd und völlig gelassen« die vielen Lords des Königreichs gegrüßt hatte, die als Zeugen seiner Hinrichtung gekommen waren. Doch das Buch, das er geschrieben hatte, wirkte weiterhin als Traumauslöser. Zwei Jahre nach Raleighs bitterem Ende unternahm einer seiner Offiziere, Captain Roger North, der bei der Expedition den Canori hinauf dabei gewesen war, einen Versuch, El Dorado im Handstreich zu nehmen. Er segelte den Amazonas hin-
Van Keulen: Guiana. Diese Karte zeigt den komplizierten Küstenverlauf von Guayana sowie die Berge im Landesinneren, wo man El Dorado vermutete, den Herrscher über ein Königreich von goldenen Palästen mit silberner Ausstattung. – Mit freundlicher Genehmigung von Thomas Suarez 96
auf. Der offizielle Expeditionsauftrag war nicht, Manoa zu finden, sondern lediglich, eine Siedlung für 120 angehende Farmer in der Neuen Welt, Engländer und Iren, einzurichten. Unter den Iren befand sich ein unternehmungslustiger junger Mann namens Bernard O’Brien, Sohn eines katholischen Edelmanns, dessen Landbesitz und Vermögen als Strafe für seine Beteiligung an einem Aufstand gegen die englischen Okkupanten im Jahr 1595 beschlagnahmt worden waren. Bernard war nach Amerika gekommen, um hier sein Glück zu suchen, und in der Hoffnung, die Ländereien seiner Familie wiederzuerlangen. Er hatte alles über die Äquatorgegend gelesen, was er nur in die Finger bekommen konnte, und er glaubte, dass das von Raleigh so gepriesene verborgene Reich irgendwo nördlich des großen Stromes liegen müsse. Mit einer von ihm geführten Expedition von 16 Leuten – zwölf Iren und vier Engländern – ließ er sich an einer Stelle an Land setzen, die die Eingeborenen Pataui nannten, was »Kokoshain« bedeutet. Die dortigen Eingeborenen waren Angehörige des SipinipoiaStammes, und sie zeigten sich bald freundlich, vor allem weil die Siedler großzügig Geschenke verteilten und gerne ihre Furcht erregenden Hakenbüchsen verwendeten, um die Feinde der Sipinipoias zu bekämpfen. »Dadurch«, schrieb O’Brien, »gewann ich ihre Zuneigung, und sie fühlten sich verpflichtet, für uns Tabak und Baumwolle anzubauen und uns mit Nahrung und Getränken zu versorgen.« 97
Allerdings war dies – eine kleine Plantage irgendwo verloren in der endlosen südamerikanischen Wildnis – nicht gerade das, wovon der wagemutige Ire wirklich träumte. Er beherrschte inzwischen vollständig die Sprache der Eingeborenen, und seine Sipinipoia-Freunde versicherten ihm, dass es die Amazonen gebe, und sie waren damit einverstanden, ihn auf der Suche nach diesen sagenhaften Kriegerinnen stromaufwärts zu begleiten. 50 Sipinipoias und fünf Büchsenschützen stiegen mit ihm in vier riesige Kanus, und sie ruderten Hunderte von Meilen den Fluss hinauf. Immer wenn sie einem neuen Stamm begegneten, warb O’Brien einen Stammesangehörigen als Dolmetscher an, und so kamen sie langsam, aber friedlich vorwärts, bis O’Brien schließlich glaubte, das lang gesuchte Ziel erreicht zu haben. Ein Indianerstamm zeigte ihm den Weg zu einer großen Insel, möglicherweise im Erepucu-See, wo eine Königin regierte, kein König. Sie wurde Cuña Muchu genannt, Große Dame. Und O’Brien, der vor lauter Ungeduld ganz aus dem Häuschen geriet, bat einen der Indios, die ihn begleiteten, die schönsten Geschenke, die O’Brien besaß, zu der Königin mitzunehmen. Obwohl diese Geschenke nicht mehr waren als ein Spiegel und ein Hemd aus holländischem Kattun, müssen sie doch einen guten Eindruck gemacht haben. Jedenfalls willigte die Königin ein, ihn zu empfangen. Und so stellte sich Bernard O’Brien, ein Edelmann aus Irland, am Hof der Amazonenkönigin vor, der erste und einzige Europäer, dem je diese begehrte Gunst und 98
diese Ehre zuteil wurden. Es hätte sich ein denkwürdiges Gespräch entwickeln können, aber anscheinend war es nur ein konventioneller Austausch von Höflichkeiten und Allgemeinplätzen. O’Briens eigenem Bericht zufolge war das Gespräch bei ihrer Begegnung nicht aufregender als während des Nachmittagstees bei einer selten besuchten Tante in Cork. »Sie fragte mich, ob ich die Geschenke gesandt hätte, und ich versicherte, dass es so war. Dann fragte sie, was ich wolle, und ich sagte, dass ich Frieden wünschte und die Erlaubnis, durch ihr Reich zu reisen und mit ihrem Volk Handel zu treiben. Sie sagte, dass sie meine Bitte erfüllen wolle, und als Gegengabe für meine Geschenke erhielt ich von ihr drei ihrer Sklavenmädchen. Ich gab ihr noch ein Hemd, das sie tragen sollte; es sah sehr vornehm an ihr aus. Nach einer Woche bat ich um die Erlaubnis, aufbrechen zu dürfen, und versprach zurückzukehren. Sie und ihre Untertanen drückten große Betrübnis über meinen Abschied aus.« War das alles? Nein, O’Brien fügte mit Nachdruck hinzu, er habe eindeutige Beweise vorgefunden, dass er wirklich bei den legendären Amazonen zu Besuch war: Während seines Aufenthalts habe er nur Frauen gesehen; kein einziger Mann war zu erblicken gewesen. Außerdem hatten diese Frauen »nur kümmerliche rechte Brüste, nicht viel größer als bei einem Mann, künstlich zusammengeschrumpft, um besser mit Pfeil und Bogen schießen zu können. Ihre linken Brüste waren dagegen völlig normal, wie die Brüste von Europäerinnen.« 99
Die Expedition entschied, sich nicht weiter nach Westen vorzuwagen, weil die Indios dort feindselig zu sein schienen; deshalb marschierte man an einem der großen Nebenflüsse des Amazonas stromaufwärts, vielleicht am Trombetas oder am Paru de Oeste, der genau aus der Gegend kam, wo Raleighs »Vergoldeter« angeblich herrschen sollte. Nachdem sie die Wasserscheide überschritten hatten, ohne auch nur ein bisschen Gold zu Gesicht bekommen zu haben, marschierten sie entlang dem Suriname-Fluss abwärts, bis sie den Atlantik erreichten. Sie beschlossen ihre Reise, indem sie über den Amazonas nach Pataui zurückkehrten. O’Brien fuhr 1624 nach Irland zurück, und als guter Sohn gab er das meiste Geld, das er in Amazonien verdient hatte, dafür aus, um seinen Vater aus dem Gefängnis freizukaufen. Er konnte allerdings nur ein Sechstel der Ländereien der Familie zurückkaufen, die konfisziert worden waren. Sein ruheloser Geist trieb ihn jedoch gleich wieder auf die Suche nach neuen Abenteuern: »Ich wollte neue Länder sehen, und ich reiste nach Dänemark, Moskau, Polen, Deutschland, Italien und Portugal.« 1629 war er wieder am Amazonas, obwohl die Portugiesen in der Zwischenzeit Pataui zerstört hatten, weil sie an dem Fluss, den sie als den ihren betrachteten, keine Fremden dulden mochten. O’Brien baute ein neues Fort, versammelte seine Freunde, die Sipinipoias, um sich und bekämpfte die Portugiesen. Doch schließlich musste er sich geschlagen 100
geben, und er stimmte den Kapitulationsbedingungen zu, die die Portugiesen auf einem Exemplar des Neuen Testaments beeidigten. Doch die Sieger brachen sofort diese Abmachungen und nahmen den Besiegten all ihren Besitz weg und töteten diejenigen, die sich dagegen wehrten. O’Brien wurde ein Jahr lang in Ketten gelegt und musste dann zu einem Stamm ins Exil gehen, von dem es hieß, dass dort noch Kannibalismus herrsche. Es lag auf der Hand – die Portugiesen wollten ihn in einem Kochtopf enden sehen, aber der Ire war einfallsreicher, als sie sich vorstellen konnten. Er bekehrte die Kannibalen und lehrte sie »eine bessere Art zu leben«. Leider schrieb er nicht mehr darüber, sodass es unserer Phantasie überlassen bleibt, sich die wunderbaren Abenteuer und die abenteuerlichen Fluchten vorzustellen, die er erlebte. 1634 kehrte er nach Europa zurück und brachte den Sohn eines Stammeshäuptlings mit. Kaum hatte er wieder den Fuß auf den Boden der Alten Welt gesetzt, schickte er eine Eingabe an König Philipp IV. von Spanien – der auch König von Portugal war – und forderte Wiedergutmachung für die Behandlung, die er durch die Untertanen des Herrschers in Brasilien erlitten hatte. Er erhielt keine Antwort. Aber das Dokument befindet sich noch immer im Generalarchiv des spanischen Indien in Sevilla. Und so können wir noch nach dreieinhalb Jahrhunderten den Bericht eines Iren lesen, der bei den sagenhaften Cuñantensecuima, den »Frauen ohne Männer«, gelebt hatte, wie die Eingeborenen sie nannten. 101
Die Vermessung der Erde
Im Jahr 1719 belagerte die französische Armee die spanische Festung von Roses, die die Straße durch Katalonien nach Gerona versperrte. Bei den französischen Truppen befand sich ein milchgesichtiger Offizier, der hier seine erste Kampferfahrung machte, ein 18-jähriger Draufgänger mit dem Namen Charles Marie de La Condamine. Der junge Offizier war der Gefahr gegenüber so kaltblütig, dass er sich offen dem feindlichen Feuer aussetzte, wobei er einen grellen, leicht erkennbaren scharlachroten Umhang trug. Mit der Zeit lernten die spanischen Kanoniere, den leuchtend roten Fleck auszumachen und als zweckmäßigen Orientierungspunkt für die Ausrichtung ihres Kanonenfeuers zu benutzen. Als die Vorgesetzten de La Condamines ihn für seinen Mut belobigten, ihn jedoch auch baten, nicht mehr sein Leben ohne guten Grund aufs Spiel zu setzen, erklärte der junge Offizier, dass er lediglich seiner wissenschaftlichen Neugier nachgegeben habe. Er wollte genau feststellen, wie lange die spanische Artillerie brauchte, um ihr Ziel anzupeilen. Neugier ist das Wort, das das Leben und die Persönlichkeit des künftigen Wissenschaftlers de La Condamine am besten auf den Punkt bringt. Neugier und Wissbegierde. Seine Neugier ließ 102
dann auch eine beträchtliche Ansammlung von legendären Anekdoten über ihn entstehen; heute ist es allerdings schwierig, Wahrheit und Übertreibung auseinander zu halten. Zu den besten Geschichten gehört diese: In Konstantinopel wurde de La Condamine einmal Zeuge einer besonders widerlichen osmanischen Folterung, der Bastonade, die darin bestand, die Fußsohlen einer Anzahl bejammernswerter armer Leute mit Stockschlägen zu misshandeln, weil sie sich irgendwelcher belangloser Vergehen schuldig gemacht hatten. Da er gern wissen wollte, ob die Bastonade wirklich so schmerzhaft wäre, wie man erzählte, ging de La Condamine in ein Ladengeschäft, stahl demonstrativ irgendeinen Nippesgegenstand und ließ sich erfreut zu 25 Schlägen verurteilen. Im Salon der Madame de Choiseul in Paris sah de La Condamine als ihr Gast, wie sie an ihrem Schreibsekretär saß und einen Brief abfasste. Heimlich erhob sich de La Condamine aus seinem Sessel und spähte über die Schulter der Grande Dame, während sie schrieb. Dabei konnte er die Worte entziffern: »Ich würde Ihnen mehr darüber berichten, aber im Augenblick liest Monsieur de La Condamine jedes Wort mit, das ich schreibe.« – »Oh, Madame de Choiseul«, rief er aus, »Eure Verdächtigung ist vollkommen unberechtigt. Ich versichere Euch, ich habe überhaupt nichts gelesen!« Bei der öffentlichen Hinrichtung von Damiens – der König Louis XV. zu ermorden versucht hatte und zum Tod durch Vierteilen mithilfe von vier Pferden verur103
teilt worden war: Je eines wurde an eines seiner Gliedmaßen gebunden und dann mit der Peitsche zum Galopp angetrieben – versuchte de La Condamine, sich als einer der Gehilfen des Henkers auszugeben, um den Vorgang besser aus der Nähe beobachten zu können. Die anderen Gehilfen entlarvten den Eindringling und wollten ihn zurück in die Menge drängen. »Lasst ihn doch zuschauen, Leute, lasst ihn zuschauen!«, rief da der Henker. »Er ist ein begeisterter Anhänger unserer Kunst!« Und am Ende kostete – wie wir es wohl schon erwartet haben – seine Neugier de La Condamine das Leben, allerdings im fortgeschrittenen Lebensalter von 73 Jahren. Als er erfuhr, dass ein junger Chirurg erstmals eine neuartige und äußerst risikoreiche Operationsmethode anwenden wollte, die die Heilung eines der Leiden möglich erscheinen ließ, unter denen der alternde Wissenschaftler litt, stellte er sich freiwillig als Versuchsperson zur Verfügung – und starb unter dem Skalpell. Dieser Mann, den man als eine Symbolfigur des Siècle des Lumières, des Zeitalters der Aufklärung, in Erinnerung behalten wird, war durch nichts daran zu hindern, an der Expedition teilzunehmen, die die Französische Akademie der Wissenschaften zum Äquator entsandte, um die wirkliche Gestalt der Erde zu bestimmen. Sir Isaac Newton hatte eine Theorie dargelegt, nach der unser Planet am Nordpol und am Südpol leicht abgeflacht und am Äquator ausgebuchtet sei. Der französische Astronom Jean-Jacques Cassini, der Hohepriester 104
des wissenschaftlichen Establishments in Frankreich, widersprach. Die Erde, so behauptete Cassini, sei ein längliches Sphäroid, das sich zu den Polen hin etwas in die Länge ziehe und am Äquator leicht nach innen gewölbt sei – wie »ein Mann mit einem dicken Bauch, der seinen Gürtel um die Taille zu eng zusammengezogen hat«. Die Auseinandersetzung zog sich hin und wurde zeitweise erbittert geführt. Cassini suchte nach Beweisen: Er schickte den jungen Jean Richter nach Guayana (etwa 5 Grad nördlicher Breite), um nach Anhaltspunkten zu suchen. Richter nahm eine Pendeluhr mit, um festzustellen, ob die Uhr am Äquator schneller liefe. Stattdessen, so berichtete er, schlug das Pendel langsamer aus, und das unterstützte Newtons These. Anstatt sich jedoch mit den Versuchsergebnissen abzufinden, geriet Cassini in Wut, beschimpfte Richter und nannte ihn einen Lügner und Verräter. Die Französische Akademie der Wissenschaften beschloss, dieses Problem ein für alle Mal zu lösen. 1734 rüstete sie zwei große Expeditionen aus: Eine sollte unter dem Kommando von Pierre Louis Moreau de Maupertuis nach Lappland ziehen, dem nördlichen Polarkreis am nächsten liegenden Punkt, den man erreichen konnte. Die andere sollte nach Neuspanien reisen: zum Äquator. Die Äquator-Expedition setzte sich aus zehn Teilnehmern zusammen: dem Astronomen Pierre Bouguer, dem Mathematiker Louis Godin, Godins Cousin Jean Godin des Odonais, Kapitän Verguin von der französischen Marine, dem Künstler und Zeichner Morainville, 105
Diese Karte von Nord- und Südamerika, die Ortelius im späten 16. Jahrhundert anlegte, zeigt ein seltsam verzerrtes Südamerika, das ein ungenau dargestelltes Großes Südland bildet. – Mit freundlicher Genehmigung von Thomas Suarez
dem Botaniker de Jussieu, dem Arzt und Chirurgen Senièrgues, dem Uhrmacher Hugot, einem Monsieur Mabillon und einem Monsieur Couplet. Und außerdem gehörte natürlich dazu: der unermüdlich wissbegierige de La Condamine, der sogar eine beträchtliche Summe aus eigener Tasche für die Kosten der Expedition beigesteuert hatte, um daran teilnehmen zu dürfen. Die Expedition stach im Mai 1735 von La Rochelle aus auf einem französischen Kriegsschiff in See; im November landete sie in Cartagena de las Indias in der da106
maligen Provinz Nueva Grenada, die einem Vizekönig unterstand. Hier schlossen sich zwei spanische Kollegen an, die Mathematiker Don Jorge Juan y Santacilia und Don Antonio de Ulloa. Gemeinsam brachen sie nach Puerto Bello auf, einer Hafenstadt, die bekanntermaßen von dem berühmten walisischen Freibeuter Henry Morgan geplündert und niedergebrannt worden war, und von hier aus reisten sie mit Kanus den Rio Chagres flussaufwärts bis zur Landenge von Panama. Das letzte Stück ihrer Reise bewältigten sie mithilfe von Maultieren, bis sie die Stadt Panama erreichten – ein weiteres berühmtes Opfer von Morgans Wütereien. In Panama waren sie gezwungen, etliche Monate zu warten, bis schließlich Ende Februar des folgenden Jahres ein spanisches Schiff Segel setzte und die Expedition nach Süden zum Äquator brachte und im Hafen von Manta in Ecuador anlegte. In der Ferne konnten die Wissenschaftler die hoch aufragenden Gipfel der gewaltigen Kordilleren sehen, der Bergkette der Anden. Die Expedition hatte nun die Audiencia Quito erreicht, aber ihr endgültiges Ziel lag noch weit weg, hoch oben auf den Bergen in der Ferne. Zwei der Expeditionsteilnehmer, Bouguer und de La Condamine, verabscheuten einander von Grund auf. Vom ersten Tag an hatte die beiden über alles und jedes wütend gestritten, und zwar ganz einfach deshalb, weil Bouguer ein puritanischer, pedantischer Moralist war, während de La Condamine sich als sorgloser Freigeist und verwöhnter Zögling der Pariser Salons gab. Man stelle sich nun ihre 107
beiderseitige Überraschung vor, als sie feststellten, dass sie beide allein in Manta bleiben würden. Der Ort erschien ihnen ideal gelegen, um mit ihren Vermessungsund Triangulationsarbeiten zu beginnen. Doch sie täuschten sich beide: Sie hatten es versäumt, den fast ständig herrschenden Nebel in Betracht zu ziehen. Zu spät entdeckten sie ihren Fehler, denn die anderen Mitglieder der Expedition waren bereits mit dem Schiff nach Guayaquil unterwegs, von wo aus sie die Kordilleren nach Quito hinaufsteigen wollten. Inmitten ihres unablässigen Gezänks begannen Bouguer und de La Condamine ihre astronomischen Beobachtungen und Pendelexperimente. Der andauernde Nebel machte es jedoch praktisch unmöglich, die Sonne bei Tag und die Sterne bei Nacht zu sehen. De La Condamine schlug vor, etwa 110 Kilometer weiter nach Norden zum Äquator selbst zu ziehen. Nach dem unvermeidlichen Streit darüber stimmte Bouguer schließlich zu. Sie luden ihre empfindlichen wissenschaftlichen Instrumente auf Maultiere und brachen auf, begleitet von Indio-Führern, die der Vizekönig zur Verfügung gestellt hatte. Sie zogen durch die Kakteen der küstennahen Wüste, an Uferlinien entlang, die nur von den Skeletten von Walen und Seelöwen unterbrochen waren, bis sie Kap Pasado (Cabo Pasado) etwa 50 Kilometer südlich des Äquators erreichten, wo sie drei Wochen lang blieben. Es war ein irdisches Inferno: erbärmliche Nahrung, bösartig stechende Insekten, Kakerlaken und rote Ameisen, die die Vorräte auffraßen, Moskitos, Blut 108
saugende Fliegen, Bienen, die sich einem in den Haaren verhedderten, Flöhe, die einem ihre Eier in die Haut zwischen den Zehen legten. Diese tägliche Folter war kaum dazu geeignet, die Nerven zu beruhigen oder gar wie Balsam auf die Feindseligkeit zwischen den beiden Wissenschaftlern zu wirken. Inmitten der grenzenlosen Stille jener äquatorialen Breiten hörten sie eines Nachts das Geräusch herannahender Pferde. Es waren drei Reiter. Sie hielten an, und einer der Reiter stieg ab und vollführte eine perfekte vornehme Verbeugung. Als er dies sah, senkte de La Condamine seine bereits entsicherte Pistole, die er, in der Überzeugung, es handle sich um Banditen, auf den Kopf des Reiters gerichtet hatte. Es stellte sich jedoch heraus, dass der vornehme Reiter Seine Exzellenz Pedro Vicente Maldonado y Sotomayor war, der Gouverneur der Stadt Esmeraldas in Nordecuador, der höchstpersönlich den ganzen Weg hierher gereist war, um ihnen »zu Diensten zu sein«. De La Condamine hätte sich keinen willkommeneren Besucher vorstellen können, denn Don Pedro war sozusagen de La Condamines Doppelgänger in der Neuen Welt. Don Pedro wurde von unstillbarem Wissensdurst getrieben. Er sprach Französisch, Spanisch und Quechua; er hatte auf dem Jesuitenkolleg in Quito studiert; er war ein fähiger Mathematiker; er hatte die beste bislang verfügbare Karte seiner Provinz angefertigt; und schließlich hatte er von einer Stelle am Ufer des Rio Esmeraldas aus eine Straße bis nach Quito gebaut, wobei er einen alten, präkolumbischen Pfad nutzte. Don 109
Pedro schlug vor, die beiden Franzosen sollten diese Straße nach Quito, der Hauptstadt der Audiencia, nehmen, nicht den langen, umständlichen Weg über Guayaquil. Neugier und Wissbegier aus der Alten Welt fanden auf der Stelle einen Geistesverwandten in der Neuen Welt. Don Pedro und de La Condamine wurden augenblicklich Freunde. Der unangenehme Bouguer befreite sie von seiner Gegenwart, indem er sich natürlich dafür entschied, die Route über Guayaquil zu wählen; die beiden neuen Freunde hingegen machten sich nach Esmeraldas auf. Die Stadt war von Afrikanern bevölkert, Überlebenden und Nachkommen der Überlebenden von dem Schiffbruch eines Sklaventransporters ein halbes Jahrhundert zuvor. Sie liebten ihren Gouverneur, sie waren stets fröhlich, und eine Gruppe von Stadtbewohnern ließ unter Lachen und Singen eine kleine Flotte von Einbäumen zu Wasser, um Don Pedro und seinen Gast auf dem Rio Esmeraldas flussaufwärts zu bringen. Während ihrer Reise nutzte de La Condamine stets die Gelegenheit, wenn sie ans Ufer gingen, und wagte sich in den Dschungel vor, der unterhalb der Anden den Fluss säumte. Hier entdeckte er vielerlei: einen Gummisaft, der aus Einschnitten quoll, die man in einem Baum namens Kautschuk machte; Smaragdlagerstätten; die Überreste einer längst vergessenen Kultur von Riesen; die Colorados-Indianer, deren Körper mit roter Pigmentfarbe bestrichen waren; ein seltsames Metall, das weder Gold noch Silber war und Platin hieß. Als der Fluss 110
nicht mehr schiffbar war, gingen sie zu Fuß durch den sumpfigen Dschungel weiter, bis sie schließlich bei den Ausläufern der Anden ankamen. Nun kamen sie kletternd voran, sie kämpften sich bergauf, wobei die Luft immer kühler und schließlich äußerst kalt wurde, es ihnen in den Ohren zu dröhnen und in den Köpfen schwindlig zu werden begann und sie nur noch kurz und flach atmen konnten. Trotzdem stiegen sie weiter hinauf bis zu einer Höhe von fast 4000 Metern. Sie überquerten den Kamm der Anden und wandten sich schließlich bergab in ein Hochtal, wo sie Weiden und bestellte Felder vorfanden. Hier konnten sie Pferde kaufen und zuletzt bequem reitend in Quito einziehen. De La Condamines Expeditionskollegen waren schon etwas früher angekommen und mit allen Ehren empfangen worden. Sie alle verdienten ja auch solchen Respekt, denn immerhin waren sie die »Vermesser der Erde«, eine Bezeichnung, die irgendwie nach Zauberei klang, nicht nur in den Ohren der Indios, sondern ebenso für viele der spanischen Siedler. Als die Wissenschaftler sich aber an die Arbeit machten und mit ihren neumodischen Instrumenten eisige Felsen erklommen und über entlegene Hochebenen wanderten, begannen sich Angst und Argwohn in die allgemeine Verund Bewunderung zu mischen. Und so glaubte dann die gesamte Audiencia Quito zu wissen, dass die rätselhaften Ausländer in Wirklichkeit nach dem Schatz der Inkas suchten. Sogar der neue Gouverneur wurde den französischen Wissenschaftlern gegenüber misstrauisch. Der 111
frühere Gouverneur, der ihnen einen triumphalen Empfang bereitet hatte, war unglücklicherweise abgelöst worden. Der neue Gouverneur schickte sich an, ihre Arbeiten zu behindern, er sandte Wachen aus, die die vermeintlichen Schatzsucher ununterbrochen beobachten sollten und die Indios, die im Dienst der Wissenschaftler standen, insgeheim ausfragen mussten. Diese entschlossen sich zuletzt, eine Nachricht an den Vizekönig im 1600 Kilometer entfernt im Süden liegenden Lima zu senden. Sie wählten für diese Aufgabe niemand anderen als de La Condamine aus, der sich zusammen mit Don Jorge Juan y Santacilia auf den Weg machen sollte. Die strapaziöse Reise war für ihn ein Vergnügen, bot sie ihm doch die Gelegenheit, Peru kennen zu lernen. Don Jorge und de La Condamine kehrten acht Monate später zurück und brachten Schreiben des Vizekönigs mit, in denen dem Gouverneur untersagt wurde, weiterhin ihre Arbeit zu beeinträchtigen. Die Vermessung der Erde wurde fortgesetzt, von Gipfel zu Gipfel, von Vulkan zu Vulkan, von Trockensteppe zu Hochtal, in der Kälte der Nacht und in der brütenden Hitze des Tages. Fast jeder Teilnehmer an der Expedition wurde irgendwann einmal krank, sie arbeiteten fieberhaft, und mit der Zeit waren sie alle erschöpft. Im Juni 1739 hatten sie die Triangulationsarbeiten nahezu abgeschlossen und machten sich daran, die mathematischen Ergebnisse auszuwerten, die die wahre Gestalt des Erdglobus zeigen würden, als ein Brief aus Paris eintraf, der sie davon in Kenntnis setzte, dass Monsieur de Maupertuis und seine 112
Kameraden von Lappland zurückgekehrt wären und ihren Auftrag erledigt hätten. Ihre Ergebnisse bewiesen, dass Newton Recht hatte: Die Erde sei an den Polen abgeflacht. Die französischen Wissenschaftler der Äquator-Expedition waren enttäuscht, weil ihre Kollegen in der Arktis sie geschlagen hatten; aber sie verdoppelten daraufhin einfach ihre wissenschaftlichen Anstrengungen. Ihre Vermessungen und Beobachtungen führten sie schließlich in die Stadt Cuenca, die 3 Grad südlich des Äquators lag und ein isolierter, rückständiger Ort war und, wie Don Jorge Juan schrieb, »von primitiven, rachsüchtigen und in jeder Hinsicht bösartigen Leuten« bewohnt wurde. Der Ruf der Wissenschaftler als Schatzjäger, die hinter dem Inka-Gold her wären – wenngleich offiziell durch die hochtrabenden Briefe des Vizekönigs entkräftet –, war ihnen vorausgeeilt und hatte hier sogar mehr Glauben gefunden als anderswo. Der Argwohn der Einheimischen wurde noch durch das Verhalten des Expeditionsarztes Senièrgues verschärft, der sich in Angelegenheiten mischte, um die er sich zu seiner eigenen Sicherheit besser nicht gekümmert hätte. Senièrgues bot seine ärztliche Hilfe einer der angesehenen Familien des Ortes an, den Quesadas. Die zwanzigjährige Tochter der Familie, die schöne Manuela, war mit Don Diego de León, einem Angehörigen einer anderen berühmten und mächtigen Familie am Ort, verlobt worden. Don Diego jedoch hatte Manuela sitzen lassen, um die Tochter des Alcalde, des Bürgermeis113
ters also, zu heiraten. Die Quesadas entschlossen sich, Senièrgues, ihren Arzt, um Rat zu fragen. Der hatte ja schließlich in der für Kultiviertheit und Eleganz berühmtesten Stadt der Welt gelebt. Sicherlich wüsste er, was zu tun wäre. Senièrgues schlug vor – und die Familie pflichtete dem bei –, dass es die beste Lösung wäre, die Kränkung durch Geld zu bereinigen. Der Arzt bot sich an, als Vermittler tätig zu werden, und ersuchte Don Diego, der beleidigten Familie eine bestimmte Summe als Entschädigung für sein Verhalten zu bezahlen. Don Diego, der treulose Freier, nahm diesen Angriff auf seine Brieftasche äußerst übel und begann, Gerüchte auszustreuen, die den weltläufigen Doktor Senièrgues mit der bezaubernden Manuela in Verbindung brachten. Eines Tages begegnete der französische Arzt zufällig Don Diego in Cuenca auf der Straße und forderte ihn zum Duell. Der bereits wegen der Gerüchte erzürnte Senièrgues wurde doppelt wütend, als Don Diego zwar die Forderung akzeptierte, aber auf Pistolen bestand. »Ein Ehrenmann kämpft mit dem Degen«, rief der Doktor, zog seine Waffe und machte einen Ausfall gegen Don Diego, um ihn auf der Stelle mit dem Degen zu durchbohren. Er verlor jedoch auf einem lockeren Pflasterstein das Gleichgewicht und stürzte schmachvoll zu Boden. Die Umherstehenden trennten die beiden Männer. Doch der öffentliche Unwille in der Stadt gegen die französischen Eindringlinge, die hinter den Schätzen des Landes und den Frauen der Stadt her waren, begann zu toben. 114
Sogar die Priester heizten die Stimmung weiter an, indem sie jeden Sonntag gegen die französischen Sünder und Verführer predigten. Die Spannungen wurden immer heftiger, und die Situation geriet am 29. August 1739 bei einem Stierkampf, zu dem die gesamte Bevölkerung von Cuenca gekommen war, außer Kontrolle. Auch Senièrgues hatte es gewagt zu erscheinen. Der Anblick des Franzosen, der neben Manuela in der Familienloge der Quesadas saß, brachte den Eigentümer der Arena, einen engen Freund Don Diegos, derart auf, dass er nicht mehr an sich halten konnte. Er ritt unmittelbar vor die Loge, richtete sich im Sattel auf und beschimpfte Senièrgues öffentlich und maßlos. Der Franzose erhob sich plötzlich, und der Eigentümer der Arena deutete diese entrüstete Reaktion als Auftakt zu einem körperlichen Angriff. Er wirbelte sein Pferd herum und verkündete der Menge, dass der Stierkampf wegen des abscheulichen Angriffs des Franzosen sofort abgebrochen würde. »Tod dem französischen Eindringling«, schrie der Pöbel, der sich um das erwartete Schauspiel betrogen fühlte. Senièrgues konnte noch Säbel und Pistole ziehen, aber keinen Gebrauch mehr davon machen. Er wurde niedergeschlagen, mit Steinen beworfen und schließlich von dem wütenden Publikum totgeprügelt. Seine Forscherkollegen versuchten, ihn zu retten, aber sie wurden überwältigt und geschlagen und mussten schleunigst hinter den dicken Mauern eines Klosters Zuflucht suchen. 115
Die Nachwirkungen dieser Tragödie zogen sich noch monatelang hin. Die Hauptanstifter – der Alcalde, der Eigentümer der Arena und Don Diego – wurden des Mordes für schuldig befunden, aber das Urteil bestand nur auf dem Papier, und die drei Männer bewegten sich nach wie vor frei. Dann war de La Condamine an der Reihe, einen schweren diplomatischen Fehler zu begehen. Die Anweisungen der Französischen Akademie der Wissenschaften waren klar gewesen: »Die geodätische Grundlinie der Vermessungen ist durch dauerhafte Markierungen zu kennzeichnen.« De La Condamine ordnete den Bau solcher Markierungen an: zwei Backsteinpyramiden, eine in Ayambara und eine in Caraburo, beide mit Gedenkinschriften. Es wurde jedoch versäumt, auf den Inschriften die Namen der beiden spanischen Expeditionsteilnehmer zu erwähnen: der Mathematiker Don Jorge Juan y Santacilia und Don Antonio de Ulloa. Schlimmer noch, auf jedem der beiden Monumente war oben deutlich die französische oder vielmehr bourbonische Lilie abgebildet. Das waren Dinge, die nach Ansicht der Behörden der Audiencia Quito den Geruch des Verbrechens einer Majestätsbeleidigung hatten, einer mutwilligen Missachtung der spanischen Krone. Es gab Anklagen, Streitschriften und schließlich Gerichtsverhandlungen. 1742 wurde ein Urteil gefällt: Die Namen der spanischen Mathematiker mussten hinzugefügt werden, die französische Bourbonen-Lilie war zu tilgen. Sechs Jahre später befand in Spanien selbst der Indien116
Rat, dass die Audiencia viel zu nachsichtig gewesen sei. Der Rat ordnete die völlige Zerstörung der Pyramiden an. Mittlerweile war die Expedition, die ihre Aufgaben erfüllt hatte, aufgelöst worden. Louis Godin blieb in Lima, wo er zum Universitätsastronomen berufen wurde. Der Botaniker Jussieu blieb in Quito. Was Godin des Odonais betrifft, so werden wir im folgenden Kapitel mehr von seinen Abenteuern erzählen. Die anderen Mitglieder der Expedition zogen entlang der Bergkette der Anden nordwärts nach Bogotá, stiegen am Lauf des Rio Magdalena hinab nach Cartagena und nahmen von dort ein Schiff zurück nach Frankreich. De La Condamine wiederum folgte seiner ihm angeborenen Neugier und wählte eine viel umwegreichere Route: Er entschloss sich, dem Lauf des Amazonas zu folgen. Im Archiv der Jesuiten in Quito war er auf eine Karte gestoßen, die von Pater Samuel Fritz, einem jesuitischen Entdecker, gezeichnet worden war. De La Condamine verließ Cuenca am 11. Mai 1743 und landete am 26. Februar 1744 in Cayenne in FranzösischGuayana (5 Grad nördlicher Breite). Unermüdlich stellte er Beobachtungen an: über das Gewässersystem des riesigen, breiten Flusses, die Fauna, die Flora, die Indios, die portugiesischen Siedler. Er sah, wie ein Karmeliter-Missionar in Pará seine bekehrten Eingeborenen erfolgreich gegen Pocken impfte. So kam er nicht nur mit einem persönlichen Kreuzzug gegen die Pocken und zugunsten der Impfung nach Frank117
reich zurück, sondern auch mit Chinin und Gummi. Er führte seine boshafte polemische Auseinandersetzung mit Bouguer fort, der vor ihm nach Hause zurückgekehrt war und allen Lorbeer für die wissenschaftlichen Erfolge der Expedition für sich einzuheimsen versuchte. Im Jahr 1757 – de La Condamine war inzwischen taub und teilweise gelähmt – heiratete er eine zwanzig Jahre jüngere Nichte. Schließlich war er vollständig gelähmt, und nur sein ruheloses Hirn war weiterhin tätig und verlangte nach neuem Wissen. Er schrieb eine nennenswerte Belohnung für denjenigen Arzt aus, der die Ursachen seiner Erkrankung feststellen könnte, aber das wissenschaftliche Niveau der Medizin war zu dieser Zeit noch viel zu gering. De La Condamine starb 1774 während der Operation, die zu riskieren er sich entschlossen hatte – seiner letzten Hoffnung und dem letzten Ansporn für seine außerordentliche Wissbegier.
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Die Penelope von Riobamba
Die 1741 von de La Condamine geleitete französische Wissenschaftsexpedition zur Vermessung des Erdumfangs am Äquator hatte ein denkwürdiges romantisches Nachspiel, das oft unter dem Titel »Die Penelope von Riobamba« erzählt wird. Diese schier unglaubliche Abfolge von Ereignissen diente europäischen Verlegern während der nächsten 50 Jahre als unerschöpfliche Quelle herzzerreißender Geschichten. Die Verleger druckten diese schnulzige Romanze und druckten sie nach und legten sie immer wieder auf, sie schmückten sie mit neuen und zunehmend dramatischen Wendungen aus, um dem Geschmack einer wachsenden Leserschaft gerecht zu werden, die immer begieriger auf ungewöhnliche, kaum zu fassende oder tragische Schicksalserzählungen war. Ein Cousin des Astronomen Louis Godin, ein kräftiger junger Mann namens Jean Godin des Odonais, wurde mit der einfachen, jedoch strapaziösen – und jedenfalls wichtigen – Aufgabe betraut, die Vermessungskette der Expedition zu tragen und verschiedene Andengipfel zu erklettern und dort Messlatten und Landvermessungsstäbe aufzustellen, wie sie für genaue Messungen verwendet werden. Doch die wahre Liebe des jungen 119
Jean Godin galt der Sprachwissenschaft, und er verbrachte all seine freie Zeit bei den Indios und versuchte, deren Sprache zu erlernen. Das Schicksal, der listige Marionettenspieler mit menschlichen Leben, ließ Jean einen wohlhabenden kreolischen Herrn französischer Abstammung kennen lernen, der in der kleinen Stadt Riobamba an den Hängen des Chimborasso ansässig geworden war, einen gewissen Don Pedro Manuel de Grandmaison. Don Pedro hatte eine dreizehnjährige Tochter: Isabela. Sie sprach gleichermaßen fließend Französisch, Spanisch und Quechua. Isabela war mit Freuden bereit, dem eifrigen jungen Gelehrten beim Studium der Aussprache zu helfen. Die bereitwillige Lehrerin war jedoch mehr als ein vielseitiges Sprachtalent – sie besaß auch ein Paar schimmernder dunkler Augen, langes schwarzes Haar und einen so schönen Mund, dass Jean Godins Gedanken eher zum Küssen inspiriert als auf Quechua-Phoneme gelenkt wurden. Es war nur ein winziger Schritt von der Liebe zur Sprache zur Liebe zu dem schönen Mädchen, und der Vater der Angebeteten gab dem Heiratsantrag nur zu gerne seinen Segen. Eine ganze Karawane französischer Wissenschaftler und Landvermesser machte sich von Quito aus auf den Weg, um der Hochzeit ihres Landsmannes beizuwohnen. Ein Unglücksfall beeinträchtigte jedoch die Feierlichkeiten – und während der kommenden Jahrzehnte deuteten die Autoren, die die Geschichte erzählten, sie rückblickend als unglückliches Vorzeichen. Nur ein 120
paar Tage, nachdem sich das Paar das Jawort gegeben hatte, kletterte einer der Gäste, ein Zeichner namens Morainville, auf ein Gerüst, das die Baustelle einer von ihm entworfenen Kirche umgab. Aus Unachtsamkeit trat er auf ein morsches Brett und stürzte in die Tiefe, wobei er den Tod fand. Diese Verbindung von erfreulichen und unguten Ereignissen geschah 1741. Als ein Jahr später die Expedition ihren Auftrag erfüllt hatte, machte sich de La Condamine auf den Weg den Amazonas hinab und erreichte nach einer überaus langwierigen Reise im Frühjahr 1745 Paris. Jean Godin blieb in Riobamba zurück, bat aber den französischen Wissenschaftler, den verschiedenen Jesuitenmissionen, die an den Ufern des gewaltigen Flusses verstreut lagen, schon anzukündigen, dass er in Begleitung seiner jungen Braut bald die gleiche Route bereisen würde. De La Condamine bat die gastfreundlichen Missionare, die bevorstehende Reise des jungen Paares entsprechend logistisch zu unterstützen, aber Godins Abreise verzögerte sich nicht nur um Monate, sondern um Jahre. Erst Ende 1750 erhielt de La Condamine in Paris einen Brief seines einstigen Kettenträgers. Dieser Brief war im April desselben Jahres von Cayenne aus abgeschickt worden, der Hauptstadt von FranzösischGuayana. Godin schrieb, dass er gezwungen gewesen sei, seine Abreise immer wieder aufzuschieben, und zwar wegen Isabelas »häufigen Schwangerschaften«. Zuletzt habe er sich entschlossen, den Amazonas allein hinabzufahren, denn der Tod seines Vaters im Jahr 1748 121
habe es erforderlich gemacht, dass er nach Cayenne eilte, um die Familienangelegenheiten zu ordnen. Er bedankte sich herzlich bei de La Condamine für die Gastfreundlichkeit, die er vonseiten der verschiedenen Jesuiten-Missionsstationen entlang des Amazonas erfahren hatte; sogar nach so vielen Jahren hatten die Missionsbrüder ihn noch erwartet. Jean Godin bat de La Condamine, als Vermittler eine Verbindung zum französischen Marineminister Rouillé herzustellen, damit dieser den König von Portugal formell um die Erlaubnis ersuche, dass Godin nochmals den Amazonas stromaufwärts befahren dürfe, um dann mit seiner gesamten Familie wieder flussabwärts zurückzukehren. Der Wissenschaftler beeilte sich, bei Rouillé eine Audienz zu erhalten, der seinerseits zwischenzeitlich auch einen Brief von Godin erhalten hatte. De La Condamine suchte auch den portugiesischen Botschafter in Frankreich, La Cerda, auf. Alle, die damit befasst waren, entwickelten eifrigste Betriebsamkeit; Briefe wurden zwischen Paris und Lissabon und Pará und Cayenne hin und her geschickt, damit der ungeduldige Odysseus von Guayana die erforderlichen Pässe und Papiere erhielt, um wieder zu seiner angetrauten Braut, seiner Penelope, zu gelangen, die sich im fernen Riobamba nach ihm verzehrte. Doch in dem langwierigen und unzuverlässigen Netzwerk transatlantischer Kommunikation muss irgendetwas schief gelaufen sein. Vielleicht hatte jemand gelogen. Jedenfalls behauptete Lissabon, man habe die erforderlichen Dokumente ordnungsgemäß nach Pará 122
geschickt, und in Pará schwor man, nichts erhalten zu haben. Viele Monate verstrichen, und Godin, der in Cayenne festsaß wie in einem äquatorialen Reich der Lotusesser, hatte jede Menge Zeit, um eine umfangreiche Studie über die Nahrungsmittelpflanzen von Guayana und eine noch umfassendere Studie über die Nutzhölzer des Landes zum Abschluss zu bringen. Weiterhin unternahm er sogar Versuche, den Chinarindenbaum und den Zimtbaum an die klimatischen Verhältnisse in Guayana anzupassen. Als aus Monaten Jahre wurden, schrieb er wieder und wieder zunehmend unzufriedene und verzweifelte Gesuche um die nötigen Pässe. Der Ton seiner Briefe schlug von Ungehaltenheit in verzweifelte Wut um, weil mittlerweile während all der Verzögerungen und Übermittlungsfehler der Siebenjährige Krieg ausgebrochen war. Frankreich und Portugal waren nun offiziell verfeindet, und dass einem Franzosen erlaubt würde, ungehindert den Flusslauf des Amazonas entlang zu reisen, war nun gänzlich undenkbar geworden. Zudem war bekannt geworden – und jeder wusste alles in diesen Äquatorkolonien des 18. Jahrhunderts, denn die Neuigkeiten verbreiteten sich zwar langsam, aber umso nachhaltiger –, dass der befähigte, aber unvorsichtige Godin zusammen mit einer Fülle botanischer Proben für den Jardin des Plantes eine gründliche und detailgenaue Beschreibung der Schiffbarkeit des Amazonas nach Frankreich geschickt hatte, in der die verschiedenen Ankerplätze, wo eine Flotte anlegen könnte, aufgeführt waren. Die Beamten der 123
Kolonialverwaltung in Pará freuten sich über die glückliche Fügung, dass die Pässe Godin niemals erreicht hatten. Im Gouverneurspalast waren alle ein und derselben Meinung: Ganz klar – Godins Geschichte, dass er sich nach seiner fernen Ehefrau sehnte, war nichts als ein Trick. Dieser Franzose war ein Spion! Er hätte, wäre es ihm nur irgendwie möglich gewesen, die französische Marine mitten ins Herz Amazoniens geführt. Schließlich war der Siebenjährige Krieg 1763 zu Ende, und Godin begann unerschütterlich, neue Briefe zu schreiben, dieses Mal an den Richtigen: den Grafen von Hérouville, die rechte Hand des allmächtigen französischen Premierministers, des Herzogs von Choiseul. Und wie in einem Märchen warf am 18. Oktober 1765 eine portugiesische Galeere mit 30 Ruderern im Hafen von Cayenne Anker. Die Galeere war auf Befehl des Königs von Portugal von Pará her gekommen, und der Kapitän hatte die Anordnung, Godin bis zum ersten spanischen Außenposten zu bringen, dort zu warten, während er die Anden überquerte, um zu seiner Familie zu gelangen, und mit dieser zurückkehrte, und sie alle dann wieder stromabwärts mitzunehmen. Nach all den Jahren vergeblichen Bemühens und unendlicher Verzögerungen schien diese überraschende Mitteilung einfach zu schön, um wahr zu sein. Godin geriet angesichts dieser guten Nachricht schier aus dem Häuschen. Aber: War das vielleicht eine portugiesische Falle, ein Trick, um ihn gefangen zu nehmen und ihn in einem finsteren Kerker in Pará vermodern zu lassen? Sollte er für den 124
Rest seines Lebens die Rache dafür zu spüren bekommen, dass er einen Plan für die französische Eroberung des Amazonasbeckens entwickelt hatte? Godin zweifelte, erfand Ausflüchte, verzögerte die Abreise. Der Kapitän der Galeere wartete geduldig – auf Befehl des Königs. Der französische Gouverneur von Cayenne zeigte sich allmählich verärgert, während der Verdacht aufkeimte, Godins ganze Geschichte sei vielleicht frei erfunden. Hatte dieser Franzose möglicherweise die Hälfte der gekrönten Häupter Europas an der Nase herumgeführt? Vielleicht gab es gar keine Isabela, weder in Riobamba noch sonst irgendwo in der ganzen Weite des Vizekönigreichs von Nueva Grenada. Nach dem Austausch zunehmend beleidigender Briefe trug der französische Gouverneur Godin auf, Cayenne zu verlassen. Die Galeere legte Ende November ab und fuhr mit ihrem unwilligen Passagier an der Küste entlang, war aber nach 150 Kilometern noch weit von der Amazonasmündung entfernt, als sie Godin bei Oyapock an Land absetzen musste. Denn hier befand sich Godins Plantage, und er wollte noch einige Dinge mitnehmen, die er auf der Reise benötigte. Und jetzt wurde dieser Odysseus der Neuen Welt einfach krank und legte sich ins Bett – anstatt mit glühendem Eifer seinem südamerikanischen Ithaka weiter entgegenzustreben, anstatt sich zu den 30 Ruderern auf die Ruderbänke zu setzen und auch mit seiner Muskelkraft dazu beizutragen, dass die Galeere den mächtigen Fluss stromaufwärts eilte. War er wirklich krank, oder simulierte er nur? Wir werden es 125
nie erfahren. Aber wir wissen, dass er so aussah, als befände er sich an der Schwelle des Todes. Der Kapitän der portugiesischen Galeere, ein hartnäckiger Kerl, der fest entschlossen war, die Order seines Königs bis auf den letzten Buchstaben zu erfüllen, selbst wenn es Jahre dauern würde, blieb ganze sechs Wochen in der Bucht von Oyapock vor Anker liegen. Dann rief ihn Godin an sein Krankenbett und sagte ihm mit schwacher Stimme, er sei zu hinfällig, um reisen zu können. Ein Bekannter von Godin – ein gewisser Tristán d’Oreasaval – würde statt seiner den Amazonas hinauffahren und Godins Familie mit zurückbringen. Jetzt gab der Kapitän Godins Vorstellungen nach und legte am 24. Januar 1766 mit Tristán ab. Alle Galeerensklaven ruderten wie wild, und das Schiff kam auf dem Flusslauf des Amazonas voran und erreichte im August desselben Jahres Loreto, den ersten spanischen Außenposten. Und hier beginnt der wahrhaft tragische Teil der Geschichte. Godins Anweisungen zufolge sollte Tristán bis zur Jesuiten-Missionsstation La Laguna reisen und dort dem Pater Prior ein Bündel Briefe des Generaloberen des Ordens übergeben, von denen einer an den Pater Prior selbst adressiert war und ein anderer an den Provinzoberen in Quito, mit der Bitte, für Madame Godin die Reise von Riobamba bis zu der wartenden Galeere zu organisieren. In dem Päckchen mit den Briefen befand sich auch ein Brief an Madame Godin von ihrem Mann. Mit reichlich Geld zur Deckung all seiner Ausgaben brauchte Tristán nur in La Laguna zu bleiben und auf 126
die Ankunft der Dame und ihrer Begleitung zu warten, sie an Bord der portugiesischen Galeere zu geleiten und mit ihr nach Cayenne zu fahren. Stattdessen hielt sich Tristán länger in Loreto auf, um irgendwelche eigenen Geschäfte zu tätigen, und vertraute dreisterweise das Päckchen mit den Briefen einem spanischen Jesuiten an, den er dort zufällig getroffen hatte. Dieser erste Jesuit war allerdings im Begriff, nach Quito zurückzukehren, und übergab deshalb die Briefe einem zweiten Jesuiten, der sie wiederum einem dritten weitergab, welcher sie einem vierten anvertraute – und so immer weiter einer ganzen Kette umherreisender Jesuiten, bis die verirrten und verspäteten Briefe schließlich irgendwo zwischen Flüssen, Dschungeln und Bergen verschwanden. Brauchten die Briefe allzu lange, waren die Gerüchte umso schneller. Die Nachricht überquerte die Andenkordilleren, und eines schönen Tages erfuhr Isabela Godin, dass ein Päckchen mit für sie bestimmten Briefen über die Anden zu ihr unterwegs sei und dass eine königliche Galeere am Amazonas vor Anker liege und auf sie warte. Die Briefe selbst blieben so fern und unerreichbar wie das Mondgebirge. Und ein Schiff, das der König von Portugal geschickt hatte – das klang so verdächtig wie ein Äquatormärchen. Deshalb sandte die vorsichtige Dame ihren schwarzen Diener Joaquim, auf dass er sich mit eigenen Augen davon überzeuge. Joaquim fuhr bis Loreto, und hier sah er die königliche portugiesische Galeere, und außerdem traf er Tristán, und er kehrte eilends mit den guten Nachrichten zu127
rück. Nun wurden Vorbereitungen für die Reise getroffen: Isabela verkaufte Haus und Grund und Mobiliar und stellte einen Geleitzug zusammen. Aber all dies brauchte seine Zeit. Die Expedition war erst im Oktober 1769 zum Aufbruch bereit – nach mehr als drei Jahren. In Loreto wartete der gleichmütige portugiesische Kapitän in stoischer Gelassenheit. Er wusste nur zu gut, dass eine Reise über die Anden bis in die Amazonasdschungel eine anstrengende Sache war. Don Pedro Manuel de Grandmaison, der Vater der glücklichen Braut, die sich danach sehnte, nach einer Trennung von 20 Jahren ihren Mann wiederzusehen, brach einen Monat vor der größeren Karawane mit ein paar Dienern auf, um für Vorräte, Unterkünfte, Träger, Sänften, Kanus und Ruderer Vorsorge zu treffen. Isabela – die ihre vier Kinder von Jean Godin an Tropenkrankheiten hatte sterben sehen – wurde von einem zwölfjährigen Neffen, ihren beiden Brüdern, ihrem getreuen Diener Joaquim und drei Mestizinnen als Dienerinnen begleitet sowie von der üblichen Menge von IndioTrägern. Auch drei französische Herren schlossen sich der Gruppe an; ihre Namen sind in Vergessenheit geraten, aber einer von ihnen gab sich als Arzt aus, und das war in diesem Teil der Welt eine wertvolle Befähigung für einen Reisebegleiter. Als ein Brief von Don Pedro eintraf, der ihr mitteilte, es stünde alles bereit und Kanus und Ruderer würden im Dorf Canelos am Fluss Bobonaza warten, brach Isabela schließlich auf. Sie war überzeugt, dass der 128
schwerste und anstrengendste Teil der Reise im Aufstieg und darauf folgenden Abstieg bei der Überquerung der Gebirgskette bestehen würde. Wenn die Reisegesellschaft erst einmal Canelos erreicht hätte, würde die Strömung des Rio Bobonaza sie ruhig bis zum Zusammenfluss mit dem Rio Pastaza tragen, der sie dann hinab bis zum Amazonas würde treiben lassen, wo die lange wartende Galeere sie in Windeseile stromabwärts zur Küste bringen würde. Es war ein zermürbender Siebentagemarsch von Riobamba nach Canelos: über Pfade, die kaum mehr als zähflüssige Bäche von bodenlosem Morast waren (die Regenzeit hatte eingesetzt), durch den Dschungel, der von erstickender Feuchtigkeit durchnässt war und in dem es von brüllenden Bestien und zischenden Schlangen wimmelte. Und dann endlich: Canelos. Doch die große Überraschung: Das Dorf lag verlassen da. Der plötzliche, heftige Ausbruch einer Pockenepidemie hatte die Bewohner niedergemäht, und die wenigen Überlebenden waren in den Dschungel geflohen, um einer Ansteckung zu entgehen. Die Teilnehmer der Expedition schwärmten aus und konnten vier Überlebende finden. Madame Godin sprach in Quechua mit ihnen, überlud sie mit Geschenken und überredete sie, ihr behilflich zu sein, die Gruppe in einem Kanu und auf einem mit Proviant und Gepäck beladenen Floß stromabwärts zu bringen. Ihre Träger waren vor lauter Schrecken über Nacht davongelaufen. Die verbliebenen Mitglieder der Expedition trieben den Bobonaza bis zum Zusammenfluss mit dem Pas129
taza hinab. Aber der Pastaza hatte Hochwasser und war voll von gefährlichem Treibgut. Es sei unmöglich, bei Nacht den Fluss hinabzufahren, sagten die eingeborenen Ruderer. Am besten solle man anhalten und die Nacht am Flussufer verbringen. Am nächsten Morgen waren alle vier verschwunden. Doch jetzt gab es keine Umkehr mehr. Sie mussten nach besten Kräften versuchen, die heimtückischen Gewässer des Pastaza allein zu befahren. Sie stießen vom Ufer ab, hinein in die reißenden Fluten des Flusses, die mit fünf Knoten Geschwindigkeit zwischen massiven Mauern dichter Dschungelvegetation dahinströmten. Als ebenso unerfahrene wie unbeholfene Ruderer taten die Männer dennoch ihr Bestes, um Kanu und Floß zwischen treibenden Baumstämmen und aus dem Wasser ragenden Felsspitzen und -blöcken hindurchzusteuern. Einem der Franzosen flog unterwegs der Hut ins Wasser, und als er sich über die Bordkante lehnte, um ihn zu schnappen, bevor er außer Reichweite getrieben wurde, fiel er in den Fluss und ertrank. Gegen Abend rammte das Kanu frontal irgendein Hindernis unter Wasser. Das unsichere Wasserfahrzeug kenterte, und alle seine Passagiere wurden einfach in den Fluss gekippt – glücklicherweise nahe am Ufer. Sie schleppten sich aus dem Wasser, zogen das gekenterte Kanu ans Ufer und konnten sogar noch einige ihrer Vorräte retten. Als sie an diesem Abend um das Lagerfeuer saßen, entwickelte der selbst ernannte Arzt folgenden Plan für das weitere Vorgehen: Er würde zu130
sammen mit dem anderen überlebenden Franzosen und mit Joaquim im Kanu weiter stromabwärts bis zu dem Dorf Andoas fahren, das sie in fünf Tagen erreichen könnten. Von dort aus wollten sie Hilfe schicken. Der Plan wurde besprochen und gutgeheißen, und am nächsten Morgen brach das Trio auf. Die Tage verstrichen, doch keine Hilfe traf ein: fünf, zehn, fünfzehn, zwanzig Tage, ein ganzer Monat. Die Nahrung wurde knapp, und die bedauernswerten Stadtmenschen waren außerstande, sich den Überfluss des Dschungels, der sie umgab, zunutze zu machen. Jede Nacht wurde zur endlosen Tortur durch summende, schwirrende, Blut saugende Insekten, durch das beängstigende Rascheln und Knacken von Blättern und Ästen und die Geräusche und Stimmen von Tieren in der Dunkelheit. Schließlich befand die kleine Gruppe, dass sie lange genug gewartet habe; vielleicht waren die drei Männer überhaupt nicht bis nach Andoas gelangt, sondern im Fluss ertrunken. Die kleine Gruppe fertigte aus dem verfügbaren Material ein primitives Floß und bestieg dieses. Nachdem das zerbrechliche Gefährt die Mitte des Flusses erreicht hatte und von der Strömung davongetragen wurde, stieß es mit einem unter der Wasseroberfläche steckenden Baumstamm zusammen, blieb daran hängen und wurde von der Gewalt des Wassers auseinander gerissen. Die letzten Vorräte fielen in den Fluss und gingen verloren, und die Mitglieder der Expedition vermochten gerade noch lebend ans Ufer zu klettern. 131
Das war das Ende: Sie waren erschöpft, sie litten Hunger, denn sie hatten keine Lebensmittel mehr und weder die Kraft noch die Fähigkeit, sich aus dem Dschungel oder dem Fluss Nahrung zu beschaffen. Zuerst starb der zwölfjährige Neffe. Isabela, die einzige Überlebende, vermochte rückblickend nicht mehr zu sagen, ob die drei Mestizinnen ein paar Stunden oder ein paar Tage nach dem Neffen starben. Schließlich taten Isabelas beide Brüder den letzten Atemzug. Im Fieberdelirium lag Isabela Godin mitten unter sechs verwesenden Leichen, die sich in der feuchten Hitze des Dschungels rasch zersetzten. Irgendwie kam sie wieder zu Bewusstsein und richtete sich auf. Aus den Schuhen ihrer Brüder machte sie sich ein Paar Sandalen. Dann nahm sie einen heruntergebrochenen Baumast, auf den sie sich stützen konnte, und humpelte in den Dschungel, ohne die geringste Vorstellung, wohin sie ging – wie eine Schlafwandlerin, wie ein Gespenst. Mittlerweile war ihr glänzendes, rabenschwarzes, gelocktes Haar schneeweiß geworden. Stunden oder Tage nachdem sich Isabela von dem Leichenplatz am Flussufer geschleppt hatte, kam ihr getreuer Diener Joaquim doch noch zurück: an Bord eines großen Einbaums, der von vier kräftigen Indios aus der Jesuiten-Missionsstation von Andoas gerudert wurde. Er kam (zu) spät, aber es war nicht seine Schuld. Es lag an dem betrügerischen französischen Arzt, der, unfähig oder schäbig, Wochen mit der Zusammenstellung eines Rettungstrupps verschwendet hatte, bis Joaquim 132
schließlich die Jesuiten dazu überreden konnte, ihn allein aufbrechen zu lassen. Voll Entsetzen sah Joaquim die bis zur Unkenntlichkeit verwesten Leichen, die von Ameisen angenagt und von Aas fressenden Tieren zerrissen und verstreut zwischen Ranken und Zweigen im Unterholz lagen. Er war davon überzeugt, dass es keine Überlebenden mehr gab, kletterte wieder in das Einbaum-Kanu und fuhr flussabwärts bis nach La Laguna, wo er Don Pedro die tragische Mitteilung überbrachte; und dieser wiederum setzte sich hin und schrieb einen Brief an Jean Godin in Cayenne. Aber die unbeugsame Isabela, die Penelope von Riobamba, die eine Amazonas-Odyssee unternahm, um ihren zögerlichen Odysseus wiederzufinden, war noch am Leben. Neun Tage lang schlug sie sich durch das Labyrinth des Dschungels, ernährte sich von Früchten und Vogeleiern und stieß schließlich auf zwei Indios, die einen frisch geschnitzten Einbaum zu Wasser ließen. Sie konnte sie noch bitten, sie zur Missionsstation von Andoas zu bringen, dann brach sie vor Erschöpfung und Erleichterung ohnmächtig zusammen. Die Odyssee gipfelte in einer Apotheose: Noch jahrelang sprachen die Leute überall am großen Amazonas mit höchster Bewunderung von den Qualen der Madame Godin. In Loreto schließlich bestieg die wie durch ein Wunder Überlebende Amazoniens die portugiesische Galeere. Der getreue Kapitän hatte trotz der tragischen Nachrichten, die stromabwärts zu ihm durchgedrungen waren, gemäß der Order seines Königs 133
vor Anker ausgeharrt. Im Juli 1770 konnte Isabela endlich Jean Godin auf seiner Plantage in Oyapock in die Arme schließen. Drei Jahre später landete das glücklich vereinte Paar in einem französischen Hafen, wo es von Monsieur de La Condamine begrüßt wurde.
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Die nackte Baroness
Paris 1932. Eines späten Abends in einer Bar am Montmartre. Eine sehr schöne und elegante Frau raucht in einer Bernsteinspitze türkische Zigaretten und lauscht fasziniert einem Mann, der mit ungewöhnlichem Nachdruck auf sie einredet. Man hätte es für eine klassische Verführungsszene halten können, und in gewissem Sinne war es das auch. Die Worte des Mannes sollten bald bewirken, dass die Frau sich verliebte. Aber nicht in ihn. Vielmehr in eine ferne Inselgruppe am Äquator, die der Mann ihr als ein Paradies auf Erden beschrieben hatte. Er war Diplomat und arbeitete in der Botschaft von Ecuador in Frankreich, und er malte der Schönen in der Bar die Schönheit der Galápagosinseln aus: eine ferne, einsame Welt von etwa 50 Inseln, kleinen ebenso wie großen, von denen nur zwei bewohnt waren. Ein moderner Garten Eden, wo die Zeit in der Vorgeschichte stehen geblieben sei, ein Ort mit 200 Vulkanen und 1800 Menschen. Auf den Galápagosinseln lebten Tiere, die sich sonst nirgends mehr auf der Erde fänden, etwa Meerechsen und Riesenschildkröten, die bis zu 600 Pfund schwer und 500 Jahre alt würden. Hier hatte Charles Darwin, der die Inseln 1835 besuchte, erstmals die Grundgedanken ge135
fasst, aus denen sich später seine Evolutionstheorie entwickelte. Diese Inseln waren von den Wogen des Pazifik umtost, in treibende Nebelschwaden und dichte Nebelbänke gehüllt und von aufflammenden Vulkanausbrüchen erleuchtet. Der erste Mensch, der sie zu Gesicht bekam, ein spanischer Seefahrer im 16. Jahrhundert, nannte sie die Encantadas, Verzauberte Inseln. Sie verzauberten gleichfalls Herman Melville, den Autor des Romans Moby Dick, und er schrieb ein Gedicht über sie. Die Frau war so fasziniert von den Worten des Ecuadorianers, dass sie sich mit einem kleinen goldenen Bleistift Notizen auf einen Pappuntersetzer machte. Sie stellte sich den Galápagos-Archipel bereits als ein Reich vor, das sie erobern könnte, als eine Gelegenheit, ihrem Leben ein für alle Mal eine andere, neue Wendung zu geben. Und diese brauchte sie, denn sie war eines der Opfer der großen allgemeinen Katastrophe, die 14 Jahre zuvor die Österreichisch-Ungarische Donaumonarchie zerstört hatte, und hier in Paris gestrandet. Elisa von Wagner, 1896 in Innsbruck geboren, entstammte einer wohlhabenden Familie des niederen Adels, der Dynastie der Barone von Wagner-Wehrborn. Wie alle Mädchen ihres Alters und Standes war sie in Luxus und Kultiviertheit aufgezogen worden. Sie besuchte das exklusive Maria-Theresia-Lyzeum. Nach ihrer Einführung in die Gesellschaft bei dem üblicherweise prunkvollen Debütantinnenball tanzte und flirtete sie und wartete auf einen jungen Aristokraten, der um 136
ihre Hand anhalten würde. Aber der Erste Weltkrieg raffte die meisten verfügbaren Märchenprinzen dahin. Die Niederlage zersprengte das Reich, führte zur Revolution und gipfelte im Verlust des Familienvermögens. Elisas Welt war zusammengebrochen. Ihre Eltern starben beide. Im Alter von 23 Jahren entschloss sich die Baroness Elisa von Wagner, schön und lebenssprühend, wie sie war, Österreich und damit eine Zukunft in unvermeidlicher Armut zu verlassen. Sie machte sich mit dem Notgroschen, der ihr verblieben war, und vor allem mit ihrer unbestreitbaren Schönheit und ihrem Charme auf die Suche nach Glück und Vermögen. Der Orient-Express, der Zug der Träume und Abenteuer, brachte sie geradewegs nach Konstantinopel, wo das Osmanische Reich ebenfalls in Trümmern lag. In der türkischen Hauptstadt konnte eine Femme fatale – das war die Rolle, für die sie sich entschieden hatte – bei den Offizieren der alliierten Besatzungsarmeen (Engländern, Franzosen und Italienern) leicht Eindruck machen, ebenso bei den Weißrussen, die vor der bolschewistischen Revolution geflohen waren. Ganz wie in einem Film von Erich von Stroheim, einem anderen prominenten Emigranten aus der untergegangenen Welt des Hauses Habsburg, flossen Ströme von Champagner, drehte sich die Roulettscheibe, gab es intime Boudoirs, Revolverschüsse und schwirrende Degen. Und mittendrin fraß sich die männermordende Österreicherin durch die Herzen und Brieftaschen ihrer Verehrer. Ein britischer Hauptmann bat sie, ihn zu hei137
raten; sie wies ihn ab und er beging Selbstmord, indem er sich in den Mund schoss. »Was für ein Mondkalb!«, war der Kommentar der durch nichts zu erschütternden Elisa. Zwei russische Aristokraten trugen ihretwegen ein Duell aus; der Verlierer wurde durch einen Säbelstreich über die Wange entstellt. Ein dritter russischer Aristokrat, den sie verführte und dann fallen ließ, konnte sich nicht mit dem Gedanken abfinden, sie verloren zu haben. Er ging mit dem Dolch auf sie los, fügte ihr aber nur eine unbedeutende Wunde zu, von der nur eine winzige Narbe zurückblieb. Schließlich gewannen ihre Verehrer aus den höheren Gesellschaftskreisen den Eindruck, dass Elisa es ein wenig zu weit trieb. Nach und nach wandten sie sich von ihr ab und orientierten sich anderweitig. Das Geld wurde ihr knapp, und sie geriet auf eine ziemlich rutschige schiefe Bahn – wie es die Lieder der Cabarets in diesen wilden Zwanzigerjahren oft besangen. Bald häuften sich bei ihr Schwindel erregende Stapel von Rechnungen an, die sie nicht einmal ansatzweise bezahlen konnte. Stufe um Stufe sank sie immer tiefer, von den Grandhotels von Pera und Galata bis zu den Arbeitshäusern und Spelunken im türkischen Stambul. Sie landete in einem türkischen Restaurant als Kellnerin. Um überleben zu können, verführte sie den Inhaber und von Zeit zu Zeit einen Gast. Jedenfalls hatte sie längst begriffen, dass sie die Türkei am besten überhaupt verließ. Sie wartete lediglich darauf, dass ihr der richtige Typ über den Weg lief. Und er lief ihr über den Weg, vielmehr aß er eines 138
Tages an einem Ecktisch zu Abend: Monsieur Bousquet, ein französischer Geschäftsmann, der in Konstantinopel zu tun hatte. Elisa brauchte nicht mehr als einen Abend, um den kleinwüchsigen, untersetzten Mann mittleren Alters, Monsieur Bousquet, zu verführen, und ein paar Wochen später fuhren Monsieur und Madame Bousquet als anscheinend glückliche Neuvermählte an Bord eines Passagierschiffes nach Frankreich. Kaum waren sie jedoch in Paris, erlebte der unglückliche Monsieur Bousquet eine bittere Enttäuschung. Unter dem Vorwurf, dass er ein »impotenter Perverser« sei, verlangte Elisa die sofortige Scheidung. Sie wurde geschieden und – was ihr viel wichtiger war – erhielt eine beträchtliche Apanage. Diese Unterhaltszahlung genügte ihr jedoch nicht. Geld kann man schließlich nie genug haben, und so suchte sich die Baroness ein neues Opfer. Dieses Mal fand sie einen reichen Industriellen und wurde wegen ihrer perfekten Beherrschung zahlreicher Sprachen und der vorzüglichen Erziehung, die sie am Maria-Theresia-Lyzeum genossen hatte, seine Sekretärin. Binnen kurzem hielt er sie als seine Geliebte aus. Ausgehalten worden mochte sie wohl sein, aber treu war sie mit Sicherheit nicht. Sie hatte zahlreiche andere Liebhaber, darunter einen strammen, blonden amerikanischen Juden namens Robert Philipson. Er war ihr Lover, als sie den ecuadorianischen Diplomaten traf. Nur einen Monat nach dieser schicksalhaften Begegnung hielt die Baroness Elisa von Wagner in der Halle eines Pariser Hotels eine Pressekonferenz ab. Sie setzte 139
die versammelten Journalisten davon in Kenntnis, dass sie bald zu den Galápagosinseln aufbrechen würde, wo sie das »Wiederentdeckte Paradies« gründen wollte, ein Seebad, das seinesgleichen auf der Erde suchen würde, ausschließlich für den Elite-Tourismus, exklusiv für wohlhabende und kultivierte Gäste. Es sollte dort ein riesiges Hotel mit Swimmingpools, Tennis- und Golfplätzen, Reitställen, einem kleinen Hafen für die vielen Yachten, die dort festmachen würden, geben … , später vielleicht sogar ein Casino, ein Monte Carlo des Pazifik. Das ganze Projekt erfreute sich der Unterstützung der Regierung von Ecuador, die die verlassenen Inseln des Galápagos-Archipels zu etwas Ähnlichem machen wollte wie das, was die USA auf den Hawaii-Inseln geschaffen hatten. In Begleitung von Robert Philipson und einem deutschen Freund namens Lorentz, der einen Hang zum Abenteuer hatte, fuhr Elisa schließlich über den Atlantik und durch den Panamakanal. Sie gingen in dem ecuadorianischen Hafen Guayaquil von Bord, wo sie einen Zimmermann namens Chamuso engagierten, der ihnen einen provisorischen Wohnsitz bauen sollte, in dem sie leben konnten, während mit dem Bau des Hotels selbst begonnen wurde. Die Regierung stellte ihnen ein Schiff zur Verfügung, die Cristobal, mit dem die ganze Gruppe zu der Insel Floreana fuhr. Das Schiff dampfte sieben Tage lang dahin, und als es im Begriff war, vor der Insel zu ankern, entledigte sich die Baroness – in einem gleichsam heidnischen Ritus – all ihrer Kleider und tauchte splitter140
nackt und außergewöhnlich schön in das glitzernde blaue Wasser. Dann schwamm sie an den Strand und entstieg dem Wasser wie die schaumgeborene Venus, um ihr Inselreich in Besitz zu nehmen. Das Klima in diesem modernen Garten Eden war so angenehm, dass sie sich während der ganzen Dauer ihres Aufenthalts hier nicht mehr die Mühe machte, ihre Kleider wieder anzulegen. Sie trug lediglich einen Saphir-Ring und einen kleinkalibrigen Revolver, den sie sich an einem roten Seidenband um den Hals gehängt hatte. Die drei Männer und die verschiedenen Tiere, die sie mitgebracht hatten, landeten auf weniger spektakuläre Weise. Esel, Kühe und Kälber und ein gewaltiger Haufen Ausrüstungsgegenstände und Vorräte wurden an Land gebracht. Erste und wichtigste Aufgabe war – zumindest in der Theorie – das Auffinden eines idealen Geländes für das künftige Hotel mit all seinen Anbauten und reizvollen Anlagen. Dann sollte damit begonnen werden, das Land zu vermessen. Stattdessen jedoch vergingen die Tage, und niemand rührte einen Finger, außer der Zimmermann Chamuso, der eine kleine Hütte zusammenbastelte und dann sein Werkzeug beiseite legte und sich dem Rest der Gruppe in ihrem Nichtstun anschloss. Und wer hätte ihnen einen Vorwurf machen wollen? Hatte Adam im ursprünglichen Paradies auf Erden geschuftet? Dies hier war Eden, und auch wenn es nur eine Eva für drei Adams gab, so war sie doch vollkommen einsichtig und bereit, ihre Gunst allen von ihnen zu gewähren. 141
Und anderen noch dazu. Es stellte sich nämlich heraus, dass die Insel durchaus nicht völlig unbewohnt war. Es gab hier eine österreichische Familie, die die bedingungslose Rückkehr zur Natur suchte: Gerhard und Margret Wittmer und ihre halbwüchsigen Söhne Franz und Klaus. Dann war da ein Berliner Zahnarzt, Dr. Sigmund Ritter, mit seiner Geliebten, Dora Hilde Koerwin; sie waren beide strenge Vegetarier. Sigmund liebte keine halben Sachen: Bevor er Deutschland verließ, hatte er sich alle Zähne ziehen lassen, weil man sie nicht benötigt, wenn man nur Gemüse isst, und weil sie jederzeit kariös werden können. Und als die Baroness und ihre Gefährten gerade erst ein paar Monate auf der Insel waren, erfolgte ein wahrer Ansturm: 22 Norweger wurden von zwei Schwindlern auf der Insel abgeladen, die ihnen eingeredet hatten, wie leicht es wäre, die Insel zu kolonisieren und auf ihrem fruchtbaren Boden Landwirtschaft zu betreiben. Die 22 Norweger waren sämtlich Männer, und sie hatten alles mitgebracht, was man auf einer einsamen Insel benötigen würde, nur keine Frauen. Doch da war ja die Baroness in ihrer splitternackten Schönheit, und sie hieß alle Ankömmlinge willkommen. Und während die Tage in diesem äquatorialen Eden träge verstrichen, trieb es die Baroness abwechselnd mit einem – und manchmal auch zweien – nach dem anderen: den Norwegern, Dr. Ritter, seinem fünfzehnjährigen Sohn Franz und auch mit dem noch jüngeren Klaus. Dora Koerwin wurde schließlich auch von dem erotischen 142
Fieber angesteckt und tröstete sich in den Armen von Philipson und Lorentz und gelegentlich mit einem Norweger. Floreana wurde zu einer Inselrepublik der freien Liebe, aus der die Eifersucht gänzlich verbannt war. Oder vielleicht doch nicht ganz. Um Neujahr 1934 herum begannen sich seltsame Geschehnisse zu häufen. Im Spätherbst 1933 hatte man den Zimmermann Chamuso mit einem Schädelbruch unter einem Baum gefunden. Alle gingen ganz friedlich davon aus, dass er beim Pflücken von Früchten von dem Baum gestürzt sein musste. Da es ohnehin keine Polizei auf der Insel gab, war der Fall damit erledigt. Und auch Dr. Ritter war überhaupt kein »Fall«: Er bekam am 1. Januar unerträgliche Magenschmerzen und beängstigend hohes Fieber und starb in der Nacht zum 3. Januar. Als seine Geliebte, Dora Koerwin, Jahre später nach Europa zurückkehrte, schrieb sie, er sei nach dem Genuss von verdorbenem Fleisch gestorben. Ziemlich seltsam für einen Vegetarier, noch dazu einen Veganer! Dann waren die Norweger an der Reihe. 19 von ihnen wurden mit einem Mal krank, und sie litten unter den gleichen Symptomen wie der verstorbene Zahnarzt: Fieber, Erbrechen, Bauchschmerzen, Krämpfe, kalte Schweißausbrüche. Es gab keine Ärzte und keine Heilmittel, zumindest keine Medikamente gegen die Krankheit, unter der sie litten. Aus Angst, ihnen könnte das gleiche schlimme Ende drohen wie Dr. Ritter, entschlossen sich die Norweger, die Insel mit dem heruntergekommenen 143
Fischerboot zu verlassen, mit dem sie gekommen waren. Wenn es ihnen gelänge, eine der anderen Inseln zu erreichen, könnten sie dort vielleicht Hilfe finden. 19 fiebernde, elende, erbärmliche Norweger setzten Segel, sie waren völlig entkräftet und hatten allesamt Fieberphantasien und Halluzinationen. Als ihr Fischerboot schließlich in einem kleinen ecuadorianischen Hafen in der Nähe von Guayaquil landete, waren nur noch 16 übrig. Nach drei Tagen gab es nur noch vier Überlebende. Die anderen zwölf waren in dem Krankenhaus gestorben, in das man sie gebracht hatte. Auf Befragung durch die örtlichen Behörden gaben die Überlebenden an, die weiteren drei Norweger wären auf See gestorben und man habe sie über Bord geworfen. Aber das war gelogen. Acht Monate später wurde ein Patrouillenboot der ecuadorianischen Küstenwache, das an der Insel Genovesa vorbeifuhr, auf eine dünne Rauchfahne aufmerksam. Sie kam von den drei Norwegern, die noch am Leben waren und furchtbaren Hunger hatten. Sie waren von ihren Gefährten ausgesetzt worden, weil diese die drei für Todeskandidaten hielten. Nachdem sie auf dieser Insel mit nur geringen Nahrungsvorräten zurückgelassen worden waren, mussten die drei von Leguanfleisch leben, und vielleicht war es diese Diät, die sie geheilt hatte, denn ihre Krankheit war verflogen. Und die drei Norweger, die auf der Insel Floreana zurückgeblieben waren? Zwei von ihnen starben im Verlauf der nächsten drei Wochen. Nur einer überlebte. Er hieß Nuggard, und er war ein Mordskerl von fast 144
zwei Meter Größe und einem Gewicht von gut zwei Zentnern. Eines Abends gegen Ende Februar 1934 saß die Familie Wittmer im Freien beim Essen, als Lorentz erschien: aschfahl, schwitzend, atemlos vor Schrecken. Er bat darum, über Nacht bei ihnen bleiben zu dürfen. Er sagte, er habe große Angst, und schwor, die Insel am nächsten Morgen verlassen zu wollen. Den Grund wollte er jedoch nicht nennen. Die Wittmers dachten, er sei im Fieberwahn und würde ebenfalls diese seltsame Krankheit bekommen, die auf der Insel Floreana ihr Unwesen trieb, oder aber er habe mit Philipson Streit gehabt und der blonde Amerikaner habe gedroht, ihn umzubringen. Sie ließen ihn bei sich schlafen. In der Morgendämmerung kam die Baroness und sprach lange mit ihm, und als sie gegangen war, schien der Deutsche weniger Angst zu haben. Der nächste Abend brachte eine neue dramatische Entwicklung: Franz, der zu Elisas Hütte gegangen war, um dort seinen üblichen Anteil der Liebesgunst der Schönen entgegenzunehmen, fand die Tür weit offen. Keine Spur von der Frau oder von Philipson! Das Paar schien verschwunden zu sein. Die Insel war groß und voller Höhlen und Wälder. Sie konnten überall sein. Lorentz ging unterdessen zu dem letzten Norweger, dem Riesen Nuggard. Auf der ganzen Insel Floreana gab es nur noch ein einziges Boot, ein Einmannruderboot von drei Meter Länge. Lorentz wusste allerdings nicht, wie man mit einem Boot umging, er brauchte 145
einen Seemann wie Nuggard. Also musste er ihn überreden, mit ihm von der Insel zu fliehen. Deshalb erzählte Lorentz Nuggard, dass die Baroness, die gern Kräuter und bestimmte geheimnisvolle Beeren sammelte, die anderen Norweger mit einem von ihr unter Zugabe von – wie eklig! – Leguanspeichel gemixten Trank vergiftet habe. Zunächst widerstrebend und ungläubig, ließ sich Nuggard schließlich doch von Lorentz überreden. Er stimmte zu: Sie würden sich zu zweit in das Boot zwängen und Kurs auf die Insel Marquena nehmen – nur 60 Seemeilen weit und eine Route, an der lauter kleine Inseln lagen, wo sie im Notfall landen konnten. Dann könnten sie als zweite Etappe Chatham erreichen, wo es ein Fischerdorf und eine Polizeistation gab. Lorentz und Nuggard gingen gemeinsam zum Strand, brachten einen behelfsmäßigen Mast und ein Segel an dem Boot an und versahen es mit Vorräten und Trinkwasser. Am nächsten Morgen kamen sie wieder und wollten das Boot ins Wasser schieben und das Segel setzen. Während die beiden sich abmühten, das mittlerweile recht schwere kleine Schiff zu Wasser zu bringen, erscholl ein Pistolenschuss und hallte an den Felsen wider, die die kleine Bucht umgaben. Lorentz fiel tot oder sterbend in das Boot. Nuggard verdoppelte seine Anstrengungen, er keuchte und schob verzweifelt, um das Boot ins Wasser zu bekommen, aber Philipson war im Nu bei ihm und stach wieder und wieder mit seinem Jagdmesser auf ihn ein. Dann kletterte er mit der Baroness in das Boot und setzte das Segel. 146
So hat zumindest ein Autor die Ereignisse rekonstruiert. Es ist nur wenig von dem, was an jenem schicksalhaften Tag geschah, mit Sicherheit bekannt. Im April 1934 fanden jedoch Fischer das Ruderboot, das 40 Seemeilen entfernt von der Insel Marquena auf dem Meer trieb. In dem Boot lagen zwei Leichen, eigentlich schon zwei Skelette, die von den Seevögeln fast blank gepickt worden waren. Die Papiere wiesen die beiden Toten als Lorentz und Nuggard aus. Auf dem Boden des Bootes lag ein Ring mit einem großen Saphir, der Ring der Baroness Elisa. Im Dezember 1934 fuhr der holländische Entdeckungsreisende und Schriftsteller Victor von Hagen an der Insel Santa Cruz vorbei und sah etwas hohes Weißes oben auf einem Berg, der die kleine Bahía Negra überragte. Er landete, weil er neugierig war, worum es sich da handeln mochte, und bestieg den Berg. Oben fand er ein an einen Baum gebundenes Skelett. Es hatte keine Kleidung, aber von den Halswirbeln des Skeletts hing an einem roten Seidenband ein kleinkalibriger Revolver. So endete die Herrschaft der Bienenkönigin der Galápagosinseln – das vermuteten zumindest die ecuadorianischen Behörden, die sofort von der Mannschaft des Fischerbootes verständigt worden waren. Aber sie irrten sich. Eine spätere Autopsie ergab, dass es sich bei dem Skelett um die kläglichen Überreste eines Mannes handelte. Doch niemand suchte mehr nach der Baroness Elisa von Wagner, die in den Wellen des Pazifiks verschwunden war. 147
Einige Jahre später, im Februar 1946, wurde Floreana schließlich systematisch von amerikanischen und ecuadorianischen Soldaten durchsucht. Aber es ging ihnen nicht um die vermisste schöne Österreicherin, als sie lärmend die Wälder und Höhlen der Insel durchstöberten. Sie suchten – vergebens – Adolf Hitler! Gerüchten zufolge, die wiederholt in den Zeitungen von Panama zu lesen waren, hatte sich der Diktator mit einem UBoot zum Galápagos-Archipel davongemacht, zum letzten Paradies auf Erden.
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DRITTER TEIL:
Afrika
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Diese hübsche Karte von Westeuropa und Westafrika stammt aus dem Jahre 1563 und stellt die Entdeckungen von Fernando Gómez Ende des 15. Jahrhunderts dar. – Academia das Ciencias de Lisboa, Lissabon, Portugal/Bridgeman Art Library
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Merkwürdigerweise haben sich die meisten Geschichten im Schwarzen Erdteil später ereignet als jene in Südamerika. So richtig brach das Kolonialfieber zuerst in der Neuen Welt aus und zeitigte dort besonders heftige Wirkungen. Erst im Viktorianischen Zeitalter begannen Europäer, in Afrika die gleiche Art von Verwüstungen anzurichten, mit denen ihre »Erkundungen« im 16., 17. und 18. Jahrhundert das äquatoriale Amerika heimgesucht hatten. Abgesehen von der einleitenden Geschichte aus dem 18. Jahrhundert von der »heiligen Johanna vom Kongo«, spielen alle anderen Erzählungen vom Äquator in Afrika im 19. Jahrhundert. Wenn die Armeen und Expeditionszüge, die in Südamerika ohne Ende den Äquator entlangmarschierten, vom Gold – oder zumindest von der Illusion, Gold zu finden – angelockt worden waren, dann war der Köder für die Expeditionen in Äquatorialafrika modernerer Natur: Ruhm. Waren die Konquistadoren darauf aus, zu erobern und sich zu bereichern, so war es den Viktorianern in Afrika vorrangig um den Erwerb von Wissen und Kenntnissen zu tun. Wenn ihre Erkundungen zur Veröffentlichung erfolgreicher Bücher, zu gut dotierten Verträgen mit Zeitungen und zu Nebenerträgen aus 151
dem Gewinn bringenden, wenn auch blutigen Handel mit Kautschuk und Elfenbein führten, dann hat sich das eher zufällig so ergeben. Einige Namen in diesem Abschnitt unserer Geschichte des Äquators sind Sir Richard Burton, Sir Henry Morton Stanley, Dr. David Livingstone, Sir Samuel Baker, Lord Gordon von Khartoum, Emin Pascha und König Leopold II. von Belgien, Herrscher über den Kongo. Einige der Zielgebiete des Erkundens und Erforschens waren der Kongo, der Nil, der Victoriasee, der Albertsee und der Tanganjikasee. Und sollte es einen Geist geben, der über all dem schwebt, dann ist dieser Geist ohne Frage Mr. Kurtz aus Joseph Conrads Heart of Darkness (»Das Herz der Finsternis«), eine Gestalt, die nach dem Bild von Leuten geschaffen wurde, die Conrad während seiner Zeit als Flusslotse auf dem Kongo kennen gelernt haben dürfte.
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Die heilige Johanna des Kongo
Im Jahr 1483, dem annus fatalis (Schicksalsjahr), tauchte ein riesiges Kanu aus den donnernden Brechern des großen westlichen Ozeans auf – es war anders als alles, was man je zuvor gesehen hatte, und wurde überragt von großen weißen Flügeln, die in der kräftigen, grellen afrikanischen Sonne leuchteten. Langsam segelte es in die Mündung eines breiten, majestätischen Flusses hinein. Die Schaulustigen, die sich das Flussufer entlang aufgereiht hatten, standen regungslos vor Staunen da. Sie starrten umso verwunderter, als sie in dem großen Kanu Geschöpfe erkannten, Menschen ähnlich, aber mit weißer Haut, blass und farblos wie die Schatten der Toten, die drunten im Salzwasser lebten, im Reich der Geister. Vielleicht waren ja diese lebenden Toten, diese leibhaftigen Gespenster ganz einfach Boten aus der Welt der Vorfahren. War es so, dann waren sie keine sehr guten Botschafter, denn sie redeten in einer Sprache, die völlig unverständlich war. Aber sie brachten Geschenke mit: außerordentlich seltsame Gewebe, absonderliche Kleidungsstücke, glitzernde Gegenstände. Und so begrüßten die Zuschauer am Flussufer die bleichen Neuankömmlinge mit der gebotenen Ehrfurcht und einem unbestimmten, 153
aber durchdringenden Gefühl der Angst, wie es Besuchern aus dem Jenseits gebührte. Diese Botschafter aus dem Reich der Toten waren portugiesische Seefahrer unter dem Befehl von Diego Cão, und mit ihrer Karavelle wagten sie sich fast 90 Meilen, also fast 150 Kilometer, weit stromaufwärts bis zu den Wasserfällen von Yelala. Dort meißelten sie eine Inschrift in eine Felswand, die sogar heute noch von Vorüberkommenden gelesen werden kann. Dieser große Fluss, der mächtigste Strom, den die Portugiesen je zu Gesicht bekommen hatten, wurde Zaïre genannt; es ist der heutige Kongo (6 Grad südlicher Breite). An seinen beiden Ufern lagen die Provinzen eines großen Königreiches, das Kongo hieß. Der Herrscher, Nzinga Nkuwu, überhäufte die Neuankömmlinge mit Geschenken und Ehren. Knapp zehn Jahre, bevor Kolumbus westwärts segelte und Amerika entdeckte, entdeckten die Portugiesen eine neue Welt ganz eigener Art: Äquatorialafrika. Diese erste Aufsehen erregende Begegnung zwischen Europäern und den Menschen vom Kongo führte zu einer schnellen Bekehrung der Königsfamilie und vieler Würdenträger zum Christentum. Schnell, aber kurzlebig: Weniger als drei Jahre, nachdem Nzinga Nkuwu als Dom João I. getauft worden war, schwor er zugleich mit vielen anderen Bekehrten der neuen Religion ab und wandte sich wieder den alten heidnischen Bräuchen zu. Es war ihnen einfach unmöglich, ihren alten poly154
gamen Lebensstil aufzugeben. Und es lag nicht nur daran, dass ihre vielen ehemaligen Frauen »sich vom heimischen Herd vertrieben sahen und vor Wut und Zorn kochten«, wie damals ein Missionar schrieb. Vielmehr war es eine Tatsache, dass die Polygamie eine der Grundlagen der Landwirtschaft am Kongo bildete. »Ein Mann, der nur eine Frau hat, wird vom Hunger heimgesucht. Er hat wenig zu essen und genießt nur geringes Ansehen. In diesem Land arbeiten allein die Frauen, und sie versorgen die Männer mit Nahrung. Aber eine einzige Frau kann nicht einen Ehemann, sich selbst und ihre Kinder ernähren … Wenn aber ein Mann zwanzig oder sogar noch mehr Frauen hat, dann wird er eindeutig als ein Herr von Rang angesehen.« Dennoch hatte der neue Glaube hier und dort Wurzeln geschlagen. Der erstgeborene Sohn des Königs, Mbemba Nzinga, den die Portugiesen Dom Afonso nannten, blieb beispielsweise Christ und wurde deshalb in eine entlegene Provinz verbannt; als sein Vater starb, erlangte er nach einer erbitterten Schlacht gegen den offiziellen Thronerben, den Bastard Mpanzu Nzinga, den Thron. Es war eine heroische Schlacht, in der »unzählige Reihen« von Heiden gegen eine winzige Gruppe von gerade mal 36 Christen antraten. Wie es heißt, soll es Mbemba Nzinga, oder Dom Afonso, gelungen sein, den Feind durcheinander zu bringen und aufzureiben, und zwar dank des Einschreitens des heiligen Jakob, der auf einem großen weißen Pferd reitend vom Himmel herabgekommen sei und eine wehende Fahne 155
geschwenkt habe, auf der das Kreuz und die Inschrift In hoc signo vinces (»Unter diesem Zeichen wirst du siegen«) angebracht waren. Nach dieser Schlacht regierte der christliche König Afonso I. unbehelligt 37 Jahre lang. Während seiner langen und friedlichen Herrschaft verbreitete sich die katholische Religion und wurde durch kleinere, bescheidene, aber für die Menschen vom Kongo gleichwohl sehr überzeugende Wunder gefestigt und untermauert. Wie die Leute sagten, brauchte es nicht mehr als ein bisschen Gebet von eifrigen Missionaren, und siehe da, schon wütete eine Seuche in den Hühnerställen jener Kongolesen, die sich sträubten, sich zum Christentum bekehren zu lassen. Armer Kongo – er wurde christlich mittels manipulierter Ausbrüche der Hühnerpest! Als Nächstes kam eine Syphilisepidemie, eine Krankheit, die – wie die Missionare erklärten – bekanntermaßen all jene befiel, die sich der Sünde des Fleisches schuldig gemacht hatten. Während sich die Religion verbreitete, sprossen überall Kirchen. In der Hauptstadt M’banza Congo, die jetzt São Salvador hieß, wurde sogar eine Kathedrale gebaut. Der König war Christ geworden, die Mächtigen des Landes waren Christen geworden – und die Leute machten schulterzuckend mit. Aber sie bewahrten sich zumindest im Geheimen ihre alten Gebräuche, ihren alten Glauben. Die »Fetische«, die »Götzen«, die nicht umzubringen waren, überlebten im Verborgenen. Weil es gefährlich war, offen gegen die Symbole des von oben verordneten Glaubens zu kämpfen, wurden diese 156
Symbole assimiliert und als neue, aus Übersee importierte Mitglieder der heimischen Götterwelt willkommen geheißen. Folglich wurde von Heiligenstatuen gutes Jagdglück erbeten. Das Kruzifix wurde zu einem besonders wirkkräftigen Amulett, das vor bösen Geistern schützte, die sich im nächtlichen Dschungel drängten. Aus Jahren wurden Jahrzehnte, aus Jahrzehnten Jahrhunderte, und diese versteckte unterirdische Koexistenz erzeugte eine äquatoriale Pidgin-Variante des römischen Katholizismus. Die Widersprüchlichkeiten dieser Pidgin-Sekte kamen im späten 17. Jahrhundert auf dramatische Weise zum Durchbruch, als das Königreich von einer Krise erschüttert wurde. Die Portugiesen herrschten jetzt in Angola und hatten sich in offener Feindschaft gegen den Kongo gestellt. Mengenweise drängten Anwärter auf den Thron, die sich seiner bemächtigen und ihn besetzen wollten. 1665 wurde die Armee des Kongo bei Ambuila von den Portugiesen aus Angola und ihren Verbündeten, den Furcht einflößenden Yaka-Kriegern, vernichtend geschlagen. Dieser schlimmen Niederlage folgten 30 Jahre Chaos und Bürgerkrieg, der Zusammenbruch jeglicher geordneten Verwaltung und Regierung, Elend und Hunger. 1678 wurde São Salvador niedergebrannt. Die Kirchen, der Königspalast, das Jesuitenkolleg, das hundert Jahre davor gebaut worden war, alles wurde dem Erdboden gleichgemacht. Die Bevölkerung floh in den Busch. Zwanzig Jahre lang lag die Stadt verlassen da. Die »rückständigen Heiden« waren somit in den 157
Genuss der vermeintlichen Wohltaten von Zivilisation und Christentum gelangt. Zeiten der Not und Bedrängnis bringen ihre eigenen Propheten hervor. Eine Frau sah eine Erscheinung der Jungfrau Maria, die ihr von der Verärgerung ihres Sohnes über die Zustände im Kongo berichtete. Die Mutter Gottes sagte der Frau, sie solle jeden Tag bei Sonnenuntergang dreimal den Himmel anrufen. Ein junger Mann wanderte durch die Dörfer und verkündete, Gott würde alle diejenigen bestrafen, die sich weigerten, in die entvölkerte, verwüstete Hauptstadt zurückzukehren. 1704 entdeckte eine alte Frau mit Namen Ma Futa »das Haupt Christi, ganz und gar gezeichnet von den Dolchstößen des menschlichen Übels« (in Wirklichkeit war es ein Felsbrocken, den das Wasser des Flusses Ambriz ausgewaschen hatte). Die Mutter Gottes – behauptete Ma Futa – habe Katastrophen vorhergesagt, wenn der König nicht sofort wieder nach São Salvador zöge. Ma Futa vollbrachte Wunderheilungen. Die Königin hielt sie für eine Heilige und überredete den König, in die Ruinen seines in Schutt liegenden Palastes zurückzukehren. Das Königspaar beschützte Ma Futa auch vor dem Zorn und der Verfolgung der europäischen Missionare. Das waren jedoch erst Vorzeichen und Ankündigungen des Auftretens der großen und wahren Prophetin: Kimpa Vita, auf Portugiesisch Dona Beatriz, war eine junge Frau aus vornehmer Familie. Sie war Anfang zwanzig, ein sehr schönes Mädchen mit schlankem, graziösem Körper und feinen Gesichtszügen, bescheidenem 158
Benehmen und ernster, bedächtiger Ausdrucksweise. Ihr Offenbarungserlebnis hatte sie – wie es oft beim zweiten Gesicht der Fall ist – während der Qualen einer tödlichen Krankheit. Als sie leidend schon auf dem Totenbett lag, sah Beatriz die Erscheinung eines Mannes in der Kutte eines Kapuzinermönchs an ihrem Bett. Der Mönch sagte ihr, er sei der heilige Antonius und von Gott »in ihren Kopf« gesandt, auf dass sie ihrem Volk predige und für die Wiederherstellung des Königtums wirke. Beatriz »starb«, sie behauptete zumindest, sie habe gefühlt, wie ihre alte Seele sie verließ und durch die neue Seele des heiligen Antonius ersetzt worden sei, der sie wieder zum Leben erweckt habe. Plötzlich geheilt, erhob sich die junge Frau vom Krankenbett und erklärte ihren erstaunten Eltern, sie habe einen göttlichen Auftrag erhalten. Wie die heiligen Apostel verschenkte sie alles, was sie besaß, und zog sich – von irdischem Besitz und den Pflichten dieser Welt befreit – auf den Mount Kibangu zurück. Vom Gipfel dieses Berges aus verbreitete sich ihr Ruhm überall im Kongo, einem Land, das nach Zeichen und Wundern dürstete. Sie erklärte ihren ersten Anhängern, dass der heilige Antonius »der zweite Gott« sei und »die Schlüssel zum Himmel« besäße und dass er gegenüber dem Volk des Kongo Gnade walten lassen würde. Als sie vom Berg herabstieg und erstmals in der Stadt São Salvador auftrat, wurde sie bereits als Heilige verehrt. Die Würdenträger der Stadt boten ihr den Saum ihrer Gewänder zum Abwischen 159
des Mundes an, wenn sie aß, ihre Anhänger stritten sich um Essen und Trinken, das sie eigenhändig verteilte, die Edelfrauen der Stadt fegten den Weg vor ihren Füßen, wo auch immer sie ging. Es hieß, sie pflege »jeden Freitag zu sterben«, und an diesem Tag der Woche stieg sie auch regelmäßig auf gen Himmel, um »mit Gott zu speisen und vor ihm die Anliegen der Schwarzen vom Kongo und die Wiedergeburt des Königtums zu vertreten«. Und dann würde sie »jeden Samstag wieder geboren werden«. Sie vollbrachte Wunder und gebot der Natur: Entwurzelte Bäume standen wieder aufrecht, wenn sie nur an ihnen vorüberging. São Salvador wurde zum Mekka eines neuen Glaubens, eine magische Stadt des seit langem verkündeten Goldenen Zeitalters. Beim Wiederaufbau der Ruinen der Stadt würde man unerschöpfliche Lagerstätten von Edelsteinen und -metallen entdecken. Der Himmel über der Stadt würde auf wunderbare Weise »die Reichtümer der Weißen« herabregnen lassen. Wie durch ein Wunder drängten sich auf einmal wieder die Menschen in der Stadt São Salvador. Aus allen Ecken des alten Königreichs eilten Pilger herbei, um Beatriz zu verehren und solche Vorzeichen und Omen zu schauen. »Und so machte sich die falsche Heilige zur Wohltäterin und Hure und Herrin des Kongo«, schrieb ein entrüsteter Missionar. Eine schwarze Jeanne d’Arc. Innerhalb von zwei Jahren entwickelte die Prophetin eine richtige alternative Theologie mit eigener, gänzlich 160
afrikanischer heiliger Geographie. Das wahre Heilige Land war der Kongo, und die Begründer des Christentums gehörten der schwarzen Rasse an. Christus war in São Salvador geboren und im Wasser des Nsundi getauft worden; seine jungfräuliche Mutter Maria »war die Tochter eines Sklaven oder Dieners des Herzogs Nzimba Npanghi«; der heilige Franziskus »gehörte zur Familie der Herzöge von Vunda«. Schwarze und Weiße hätten zutiefst unterschiedliche Ursprünge: Die Weißen stammten von »einem weichen Stein namens Fuma«, während die Schwarzen »die Frucht des NsandaBaumes« waren. Und deshalb kleideten sich die Gläubigen in Gewänder nach der Art der Nsanda-Rinde, während die Häuptlinge als Zeichen der Zugehörigkeit und der Macht Kronen trugen, die aus den Fasern ebendieser Pflanze geflochten waren. Sie sangen katholische Lieder – das Ave Maria, das Salve Regina –, sie verabscheuten Sünde, Laster, Fetische, genau wie die Missionare, aber sie verehrten nicht das Kreuz, »weil es das Werkzeug war, mit dem Christus getötet wurde«, und sie warfen den europäischen Priestern vor, die göttliche Offenbarung (und das damit verbundene Füllhorn des Reichtums) zum ausschließlichen Vorteil der Weißen verfälscht zu haben. Es war eine nationalistische Religion, und sie brachte einem verzweifelten, von drei Jahrzehnten voller Katastrophen niedergedrückten Volk wieder ein bisschen Hoffnung, einen millenaristischen Glauben an einen sich auf wunderbare Weise verjüngenden Kongo. Die Stunde des Millenniums sollte bald 161
schlagen, denn Beatriz gebar – wie die Jungfrau Maria – einen Sohn, der der Retter seines Volkes werden sollte: »Ich kann es nicht leugnen, er ist mein«, sagte die strahlende Mutter, »aber ich weiß nicht, wie ich ihn empfangen habe. Ich weiß nur, dass er aus den Höhen des Himmels kam.« Doch es war diese göttliche Geburt, die sich schließlich als ihr Verderben erweisen sollte. Die Kapuziner-Missionare, die befürchteten, sie könnten allzu bald von der anschwellenden Woge der Bekehrungen zum »Antonianismus« – so lautete der Name der neuen synkretistischen Religion, die BeatrizAntonius gegründet hatte – weggespült werden, griffen nach der unerklärlichen Geburt als letztem Strohhalm zu ihrer eigenen Rettung. Damals stritten zwei Familien königlicher Abstammung um den Thron des Kongo, die Ki-Mulaza und die Ki-Mpanzu. Beide Clans versuchten, mit dem Feuer religiöser Revolution zu spielen, und beide hofften, dass die Welle der AntoniusReligion sie emportragen würde. Es gelang den KiMpanzu, im inneren Kreis der Prophetin Einfluss zu gewinnen. Der regierende Herrscher, Pedro IV., war jedoch ein Mitglied des Ki-Mulaza-Clans, und er spürte, dass sein Thron zu wackeln begann. Das war der geeignete Moment für die Missionare, zur Tat zu schreiten. Die Kapuziner erklärten dem König, dass eine Heilige vor allen Dingen keusch sein müsse und dass ihre Behauptung, ihr Kind – ein Knabe, die Reinkarnation des heiligen Antonius – sei vom Heiligen Geist gezeugt worden, lediglich hinterhältige Machenschaften 162
verschleiern solle. Dom Pedro zögerte und suchte, da er den Zorn der Bevölkerung fürchtete, nach Ausreden. Schließlich ließ er sich jedoch von den europäischen Missionaren beschwatzen und beschloss, eine Untersuchung zu veranlassen. Als Erstes wollte er Dona Beatriz nach Luanda in Angola schicken, dort solle der portugiesische Erzbischof über sie urteilen, und er befahl seinen Leuten, sie mit äußerster Vorsicht und Behutsamkeit festzunehmen. Die Kapuziner waren jedoch beunruhigt und erhoben Einspruch: Die Anhänger der »Hexe«, die Partisanen der »Ketzerin«, könnten sie während der langen Landreise leicht befreien. Wiederum schafften sie es, den König zu überreden, und schließlich gab er dem Druck nach: Der königliche Rat verhängte die Todesstrafe über den »falschen Sankt Antonius und ihren Schutzengel«. Der erwähnte Schutzengel war der vermutete – und jetzt verurteilte – irdische Erzeuger des neugeborenen Erlösers. Beatriz wurde am 2. Juli 1706 hingerichtet. Ein Augenzeuge der Exekution, der Kapuzinerpater Lorenzo da Lucca, einer von denjenigen, die so viel Eifer für »die Gerechtigkeit und Ehre Gottes« aufgebracht hatten, beschrieb das Schauspiel: Zwei Männer, welche Glocken trugen, erschienen und bezogen in der Mitte der riesigen Menge Stellung, und als sie mit ihren Glocken ein Zeichen gaben, wichen die Leute augenblicklich zurück und machten Platz für den Baschamucano oder Richter, der jetzt auftrat. Er war von Kopf 163
bis Fuß in einen schwarzen Umhang gehüllt und trug auf dem Kopf einen ebenfalls schwarzen Hut. Sowohl der Umhang als auch der Hut waren so erschreckend schwarz, so schrecklich, dass man glauben mochte, man fände nirgendwo sonst ein so entsetzliches Schwarz. Die Schuldigen wurden vor ihn geführt. Die junge Frau mit ihrem kleinen Sohn auf den Armen schien nun von Angst und Furcht erfüllt zu sein. Die Angeklagte saß auf der nackten Erde und erwartete die Verlesung des Todesurteils. Wir begriffen in diesem Augenblick, dass sie entschlossen waren, das Kind zusammen mit der Mutter zu verbrennen. Das erschien uns als zu große Grausamkeit. Ich eilte zur Umgebung des Königs, um etwas für die Rettung des Kindes zu unternehmen. Der Baschamucano hielt eine längere Ansprache, deren Hauptgegenstand die Lobpreisung des Königs war. Er zählte die vielen Titel des Königs auf und trug eine ganze Liste von Nachweisen für seine Hingabe an die Gerechtigkeit vor. Schließlich sprach der Baschamucano das Todesurteil über Dona Beatriz aus und stellte fest, dass sie mit ihren Ketzereien und Unwahrheiten unter dem falschen Namen des heiligen Antonius die Menschen getäuscht und betrogen habe. Infolgedessen hätten der Herr und König und der königliche Rat sie zum Tod durch Verbrennen auf dem 164
Scheiterhaufen verurteilt, zusammen mit ihrem ungesetzlichen Liebhaber. Sie wurden beide zu dem Scheiterhaufen geführt. Die Frau versuchte, ihren Glauben zu widerrufen, aber alle ihre Beteuerungen waren vergebens. In der Menge entstand eine so große Unruhe, dass wir Mönche keine Gelegenheit hatten, den verurteilten Gefangenen Trost zu spenden. Sie wurden sogleich eilends zu dem Scheiterhaufen gebracht. Dieser bestand aus einem riesigen Stapel von Reisigbündeln, und nachdem die Verurteilten auf diesen geworfen worden waren, wurden weitere Bündel von Strauchwerk auf sie getürmt. Der Mann und die Frau und das kleine Kind wurden dann bei lebendigem Leibe verbrannt. Die Henker waren offensichtlich damit noch nicht zufrieden, denn am nächsten Tag wurden noch Männer hingeschickt, die die übrig gebliebenen Knochen verbrennen mussten, sodass nur noch kleinste Aschenstückchen zurückblieben. So starb die heilige Johanna vom Kongo, Dona Beatriz, »mit dem Namen Jesu auf den Lippen«. Dies schrieb ein anderer Kapuzinermönch, Bernardo de Gallo, und schloss mit frommem Zynismus: »Armer Sankt Antonius, obwohl er es doch gewohnt war, zu sterben und wieder ins Leben zurückzukehren, dieses Mal starb er, scheiterte aber gänzlich daran, wieder aufzuerstehen.« Doch noch war nicht alles vorüber. Zwei Jahre spä165
ter musste König Pedro IV. eine Armee von 2000 Mann aufstellen, um einen Aufstand der AntoniusAnhänger niederzuschlagen. Am Ort der Hinrichtung von Beatriz, ihrem Liebhaber und ihrem Kind hatten sich »zwei tiefe Quellen aufgetan«, über denen »zwei wunderschöne Sterne erschienen«.
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Die unmöglichen Seen
Im Jahr 1848, als in den Hauptstädten Europas Revolutionäre Barrikaden errichteten und quer über den Kontinent Herrscherthrone unterschiedlichen Alters zu wanken begannen, bereiteten sich an der fernen und friedlichen Küste des heutigen Kenia zwei stramme und unternehmungslustige Missionare auf eine »Reise ins Innere« vor. Es waren deutsche Missionare im Dienst einer britischen Bibelgesellschaft. Sie hießen Krapf und Rebmann, und dies war nicht ihre erste »Tour«. Sie hatten bereits zahlreiche Ausflüge ins Landesinnere unternommen und einen Blick auf die schneebedeckten Gipfel des Mount Kenia und des Kilimandscharo geworfen – sie allerdings nicht bestiegen –, Eisgipfel, deren Vorhandensein die meisten europäischen Fachgelehrten noch rundweg bestritten. Die meisten Geographen waren überzeugt, dass es unter der Last der äquatorialen Hitze, die über dem Breitengrad Null brütete, überhaupt keinen Schnee geben könne. Während dieser neuen »Reise ins Innere« stolperten die Missionare über eine weitere geographische Unmöglichkeit. Arabische Sklaventreiber, die lange Karawanen von gefangenen Schwarzen den Sklavenhäfen an der ostafrikanischen Küste zutrieben, erzählten den beiden Deutschen von einem oder mehreren Binnenseen, die so groß wären wie Meere. Aus diesen uner167
messlichen Seen gehe ein Strom hervor, der nach Norden fließe, nach Ägypten. Das Vorhandensein dieser Seen und ihre Bedeutung als ursprüngliche Nilquelle war bereits von den Geographen des Altertums behauptet worden, allen voran Ptolemäus. Dieser große Naturwissenschaftler und Geograph, der etwa zwischen 90 und 168 n. Chr. lebte, hatte die Sammlungen in der großen Bibliothek von Alexandria gründlich durchforscht und eine maßgebende Beschreibung der Welt geliefert, die mindestens bis zum großen Zeitalter geographischer Entdeckungen, das im 15. Jahrhundert begann, wie eine heilige Schrift verehrt wurde. Ptolemäus behauptete, dass der Nil vom Mondgebirge herabfließe, das so hieß, weil seine Gipfel von einer glitzernden Schneedecke überzogen waren, die die Reisenden an das Mondlicht erinnerte und die ja tatsächlich nach Einbruch der Nacht das Mondlicht reflektierte. Der Nil, so stellte Ptolemäus weiterhin fest, fließe aus diesen Bergen und aus zahlreichen großen Seen, die an deren Fuß lägen. Die Existenz dieser Seen – und von äquatorialen Gletschern – war viele Jahrhunderte lang als ptolemäischer Glaubenssatz hingenommen worden und wurde erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts von der Wissenschaft in Zweifel gezogen. Wie könnten denn diese Gletscher und diese Seen der alles verdunsten lassenden Macht der sengenden äquatorialen Hitze widerstehen? Die europäischen Gelehrten lachten über solche Berichte – sie konnten eindeutig nur irgendwelche Märchen aus dem Altertum sein. 168
Und doch, als eine ziemlich skizzenhafte Karte in London eintraf, die Rebmann gezeichnet hatte und die einen Binnensee mit geschwungenem Uferverlauf zeigte, entschloss sich die Royal Geographical Society von Großbritannien, eine Expedition auszurüsten, die ein für alle Mal das Rätsel der Nilquelle lösen sollte. Das Kommando über diese Expedition wurde einer der eigentümlichsten Persönlichkeiten des Viktorianischen England übertragen: Richard Burton, damals 35 Jahre alt und bereits reich an Erfahrungen aus einer Reihe wagemutiger Abenteuer im Nahen Osten und in Afrika. Als Sohn eines Obersten der britischen Armee hatte der junge Richard nur kurz mit dem Gedanken gespielt, Geistlicher zu werden. Aber die Kirche war nichts für ihn; stattdessen trat er in die militärischen Fußstapfen seines Vaters und als Soldat in die Armee der englischen Ostindischen Kompanie. Burton war sprachbegabt – am Ende seines Lebens beherrschte er 40 Sprachen – und unersättlich wissbegierig. Seine Interessen reichten von der persischen Mystik bis zum Alltag in den Bordellen des Pandschab. Dieser Wissenshintergrund befähigte Burton auf ganz vorzügliche Weise zu einer seiner größten Leistungen: In späteren Jahren schuf er eine ungekürzte Übersetzung von Tausendundeiner Nacht, wobei er keine der erotischen Passagen ausließ und das Werk mit einem Apparat kritischer Anmerkungen versah, die schon für sich allein veröffentlicht eine ansehnliche Enzyklopädie der islamischen Sinnlichkeit abgegeben hätten. 169
Diese portugiesische Karte von Äquatorialafrika stellt den Victoriasee lediglich als eine Art größerer Ausbuchtung im Flussverlauf des Nils dar. – Mit freundlicher Genehmigung von Thomas Suarez
1853 hatte er als Afghane verkleidet eine Pilgerreise nach Mekka unternommen und sein Leben riskiert, indem er sich in die heiligen Städte Arabiens wagte, die für Ungläubige verboten waren. Burton kehrte mit den exakten Abmessungen der Kaaba nach Hause zurück, eines kleinen würfelförmigen Bauwerks im Hof der Großen Moschee von Mekka, das einen heiligen schwarzen Stein enthält, das von den Moslems als Haus Gottes angesehen wird und das Ziel ihrer Pilgerreisen ist. Er hatte die Kaaba in Spannen oder Handbreiten vermessen, weil es natürlich viel zu gefährlich gewesen wäre, einen Zollstock mitzubringen. Ein Jahr später, 1854, betrat Burton ein weiteres unantastbares Heiligtum: Harar (9 Grad nördlicher Breite), eine Stadt im 170
heutigen östlichen Äthiopien. In jenen Tagen war es eine reiche Sklavenhandelsstadt, die von einem autonomen Emir beherrscht wurde, der mit ebenso überschwänglicher wie förmlicher Gastfreundschaft diesen englischen Abenteurer empfing, der als arabischer Sklavenhändler verkleidet auftrat. Nachdem Burton mit heiler Haut wieder aus Harar herausgekommen war (einer Stadt, unwirklich wie eine Fata Morgana, wo Arthur Rimbaud, poète maudit und unsteter Reisesüchtiger, ein paar Jahrzehnte später als Waffenschmuggler lebte und sich eine Infektion am Bein zuzog, an der er dann im Alter von 37 Jahren starb), schloss er sich wieder drei anderen Offizieren der Armee der Ostindischen Kompanie an, die ursprünglich gemeinsam mit ihm aufgebrochen waren, um diese gottverlassenen Gegenden zu erkunden: Es waren dies die Oberleutnants Stroyan, Herne und Speke. John Hanning Speke, geboren 1827, war Zoologe und vor allem Jäger. Er hatte sich bereits in Indien mit seinen abenteuerlichen Jagdexpeditionen an den Hängen des Himalaja und in den Dschungeln Bengalens einen Namen gemacht. Die Aufgabe, die ihm bei der jetzigen Expedition zufiel, war die Entdeckung und Erkundung des Verlaufs eines episodischen Flusses, des Wadi Nogal. Er suchte danach, konnte ihn nicht finden und erklärte fälschlicherweise, dass es einen solchen Fluss überhaupt nicht gebe. Jetzt, da das Quartett wieder vollständig war, machte es sich auf, um die Trockenregion von Ogaden (8 Grad 171
nördlicher Breite) zu erforschen. Sie hatten gerade erst die Hafenstadt Berbera (10 Grad nördlicher Breite) im heutigen Somalia verlassen, als sie von einer Bande von Räubern und Mördern überfallen wurden. Stroyan wurde getötet, Speke schwer verletzt, Burtons eine Wange wurde von einem Speer durchbohrt, und nur Herne kam ungeschoren davon. Die drei Überlebenden wanderten buchstäblich ohne alles, aber glücklich, noch am Leben zu sein, etliche Tage an der Küste entlang. Völlig entkräftet vor Hunger und Durst stießen sie auf eine Gruppe britischer Marinesoldaten, die sie auf ihrem vor Berbera ankernden Schiff in Sicherheit brachten. Das war 1854 gewesen. Jetzt, im Jahr 1857, als Burton mit der Suche nach dem geheimnisvollen afrikanischen See (oder den Seen) betraut worden war, wählte er als Gefährten für dieses Forschungsabenteuer Speke aus. Die beiden Entdeckungsreisenden erreichten im Januar 1857 Mombasa (4 Grad südlicher Breite), einen Hafen im heutigen Kenia, und brachen von dort zu einer vorbereitenden Exkursion ins Landesinnere auf. Sie erkrankten allerdings sofort an Malaria und kehrten geschwächt und fiebernd zur Küste und zur Insel Sansibar (6 Grad südlicher Breite) zurück. Auf dieser Insel – dem Ausgangspunkt für nahezu den gesamten Sklavenhandel der Araber, die als Räuber, Plünderer, Händler und Sklaventreiber ins Herz des afrikanischen Kontinents vordrangen – bereiteten die beiden Entdecker ihre große Reise vor. Sie entschlossen sich, der Route der Sklavenkarawanen zu folgen. Diese Route führte zu einem 172
Ort namens Ujiji, der – wie es hieß – am Ufer des großen Sees lag. Der Sultan von Sansibar zeigte sich kooperativ und stellte ihnen einen Begleitschutz von BelutschenKriegern zur Verfügung. Die Mannschaft der Expedition wurde durch einen indisch-portugiesischen Koch aus Goa ergänzt, weiter durch einen befreiten Sklaven mit Namen Sidi Bombay, der die Eingeborenendialekte des Landesinneren sprach, durch zahlreiche Lastesel und noch mehr eingeborene Träger. Diese Träger würden die zunächst von den Eseln getragenen Lasten übernehmen, wenn die Tiere – wohl unvermeidlich – durch die Heimsuchungen der schrecklichen Tsetsefliegen dezimiert worden wären, die in weiten Bereichen der zu passierenden Gebiete ihr Unwesen trieben. Der lange, langsame Zug legte einen Weg von 800 Kilometern auf dem Pfad zurück, der von der Küste am Indischen Ozean bis nach Kazé – heute Tabora (5 Grad südlicher Breite), einer Stadt im Nordwesten von Tansania – führte. Hier hatten die arabischen Kaufleute eine Art Handelsposten eingerichtet. Der Pfad führte durch einen Flickenteppich kleiner »Sultanate«, wie die Kaufleute sie nannten; das waren afrikanische Stammesgebiete, die sich jeweils über mehr als 30 Kilometer erstreckten. In jedem dieser »Sultanate« forderte der Häuptling von jeder Karawane die Zahlung von Hongo, einem Wegezoll. Durch jede Verhandlung über Hongo gingen Tage mit entnervendem Gefeilsche verloren, denn es war der Brauch, einen maßlos überhöhten Zoll zu for173
dern, der dann nach und nach heruntergehandelt werden musste. Weitere Tage verbrachten sie, indem sie auf Regen warteten, ehe sie es wagten, bestimmte Gebiete zu durchqueren, die nicht zu bewältigen waren, wenn es kein Wasser gab. Aber am 7. November 1857, drei Monate nach dem Aufbruch von der Küste, marschierten schließlich Burton und Speke (wobei jeder sein Bestes gab, trotz heftig wütenden Fiebers einen kriegerisch aufrechten Eindruck zu machen) in die einladende Stadt Kazé ein, eine ausgedehnte Ansammlung von Hütten und winzigen bebauten Feldern im Herzen von Uniamwezi, dem Land des Mondes (in den Ohren der Forschungsreisenden sicherlich ein ermutigender Name, suchten sie doch nach Ptolemäus’ Mondgebirge). Die arabischen Kaufleute, die in Kazé wohnten, waren mit Lebensmitteln und allen Arten von Waren gut versorgt. In diesen Holzhütten entfaltete sich fast die gleiche Fülle an Luxus, die in Kairo oder Damaskus so reichlich vorhanden war. Die beiden weißen Wanderer konnten sich inmitten verschwenderischer islamischer Gastlichkeit bequem ausruhen und erholen. Als sie langsam wieder gesundeten und Informationen über diese Gegend zu sammeln versuchten, hörten sie Dinge, die sich massiv von den Berichten unterschieden, die von Missionaren nach Europa gebracht worden waren. Zum Ersten – es gab drei Seen: Nyasa, Ujiji und Ukerewe. Aus dem größten der drei Seen, dem Ukerewe, ging ein Fluss ab, den die Araber Djub oder Juba nannten und der nach Norden floss. Der impulsive Speke kam sofort 174
zu dem Schluss, dieser Wasserlauf müsse die Quelle des Nils sein. Er wollte sogleich dorthin eilen. Burton, der das Kommando über die Expedition führte, war vorsichtiger und zügelte seinen Untergebenen. Er beschloss, dass sie sich hier erst einmal so lange wie nötig erholen sollten. Dann würden sie nach Ujiji weiterreisen, wo eine endgültige Entscheidung getroffen werden sollte. Ein Monat der Ruhe verbesserte ihren Zustand, konnte aber ihre Gesundheit nicht völlig wiederherstellen. Während sie weiter nach Westen marschierten, litt Burton zeitweise unter Lähmungen und unter partieller Erblindung. Auch Speke hatte Schwierigkeiten mit dem Zustand seiner Augen, seine Sicht war verschwommen und sein Sehvermögen ging zuweilen gänzlich verloren. Als sie schließlich im Dezember Ujiji erreichten, konnte keiner der beiden Entdeckungsreisenden mehr erkennen als das wirre, verschwommene Glitzern des Wassers unter den Strahlen der tropischen Sonne. Ujiji war eine ähnliche Stadt am See wie Kazé, ein weiterer eilig aufgebauter Handelsposten, der für die Geschäfte mit den Stämmen der Gegend genutzt wurde. Diese nannten den See Tanganjika. Die beiden Forscher waren den ganzen weiten Weg hierher gereist, um den riesigen See zu kartographieren und die Uferlinie seines gesamten Umfangs zu Wasser abzufahren. Aber die Kanus der Eingeborenen waren zu klein, um die erforderliche Fracht an Nahrung und Handelsgütern transportieren zu können. Die arabischen 175
Sklavenhändler, die Europäern gegenüber ironischerweise höflich und hilfsbereit waren, boten Unterstützung an. Am anderen Ufer lebte ein arabischer Kaufmann, ein reicher Scheich, der sich eine Dhau gebaut hatte, ein typisches Segelschiff, wie es auf arabischen Gewässern benutzt wurde. Er verwendete die Dhau zum Fischen, für den Handel und zum Vergnügen. Aber um ihn fragen zu können, ob er die Dhau vermieten würde, musste man erst einmal den Tanganjikasee überqueren. Das gelang Speke in einem Einbaum, der von hilfreichen Winden vorangetrieben wurde, nachdem Speke dem örtlichen Häuptling den horrenden Preis von vier Dhoti merikani (Streifen amerikanischen Leinen-Bettzeugstoffs) und vier Kitindi (Armreife aus Messingdraht) bezahlt hatte. In der Mitte des Sees geriet Speke in einen heftigen Sturm, und der Einbaum wäre beinahe gesunken. Das Schlimmste aber kam noch, als Speke auf einer Insel landete, um hier die Nacht zu verbringen. Sein Zelt wurde von einem Schwarm Kakerlaken überfallen. Erschöpft, wie er war, versuchte er noch nach Kräften, sie abzustreifen und zu verscheuchen; aber er war so todmüde, dass er schließlich mitten in der wabernden Flut schwarzer Insektenkörper einschlief. Bald darauf erwachte er von einem stechenden Schmerz: Eines der Insekten war in sein Ohr gekrochen und wollte sich durch sein Trommelfell graben. In einem Anfall von Verzweiflung und durch den Schmerz am Rande des Wahnsinns bohrte Speke mit seinem Taschenmesser im Ohr herum, tötete die Kakerlake, aber 176
verletzte dabei auch sein Innenohr. In den folgenden Tagen infizierte sich die Wunde, die betroffene Seite seines Kopfes schwoll an, und es war ihm unmöglich zu kauen. Er war gezwungen, sich ausschließlich flüssig zu ernähren. Der Scheich, dem die Dhau gehörte, zeigte sich äußerst freundlich, nachdem er sein Erstaunen überwunden hatte, in seinem schwarzen Reich am Wasser einem weißen Mann zu begegnen. Er war sofort damit einverstanden, Speke sein Boot für den Fortschritt der unverständlichen und vermutlich törichten europäischen Wissenschaft zu leihen. Leider konnte er jedoch nicht die Besatzung der Dhau zur Verfügung stellen, weil er soeben im Begriff war, mit seiner getreuen und vielseitigen Schiffsmannschaft zu einer »Handelsreise« (was bedeutete: arglose menschliche Wesen zu entführen und in die Sklaverei zu verschleppen) in die unbekannten Länder im Süden aufzubrechen, in eine von den Sklavenhändlern noch unerschlossene Gegend, wo er hoffte, reiche menschliche Beute zu machen. Da jedoch für Speke die Dhau ohne eine Mannschaft, die das Schiff zu steuern vermochte, nutzlos war, musste er das Vorhaben gänzlich aufgeben. Er widerstand auch der Versuchung, das Angebot des Scheichs anzunehmen, ihn in Länder zu begleiten, die noch nie zuvor eines weißen Mannes Auge gesehen hatte. Stattdessen kehrte er in Burtons Lager zurück – und hatte mit dieser Entscheidung eine glückliche Wahl getroffen; denn der feine arabische Sklavenhändler wurde bald darauf mitsamt allen seinen Leuten 177
in einem Hinterhalt von Afrikanern umgebracht, die nicht willens waren, für ein weiteres Sklavenhandelsgeschäft als Ware herzuhalten. Sobald Burton und Speke wieder beisammen waren, entschieden sie, sich in Kazé neu zu formieren, und betraten im Juni 1858 wieder die Stadt. Dort erfreuten sie sich abermals der Gesellschaft ihrer arabischen Freunde. Während sie überaus süßen grünen Pfefferminztee schlürften, brachten sie das Gespräch auf die großen afrikanischen Seen. In den Beschreibungen jener levantinischen Geschichtenerzähler wirkten der unermesslich große Ukerewe-See und das blühende Reich von Uganda, das sich an seinen Ufern erstreckte, wie Schauplätze einer afrikanischen Version von Tausendundeiner Nacht. Dieses Mal ließ Burton jedoch Spekes Sichtweise gelten. Er gestattete es seinem Gefährten, aufzubrechen und die fraglichen Gewässer zu erkunden, obwohl er selbst zu krank war, um ihn begleiten zu können. Die kleine Karawane machte sich auf den Weg: der Dolmetscher Bombay, 20 Eingeborene als Träger, zehn Belutschen. Weil diese Muslime und folglich strenge Abstinenzler waren, beschimpften sie die eingeborenen Träger, weil sie die Gelegenheit jedes Aufenthalts nutzten, um sich mit Pombé, dem dortigen Bier, zu betrinken. Die Haupt-»Durchgangsstraße« durch das Land des Mondes war ein schmaler Fußpfad, der immer wieder im hohen Gras verschwand. Auf diesem kaum erkennbaren Weg lief der gesamte Handelsverkehr zu und von der Küste ab: Sklavenkarawanen, Viehherden auf dem 178
Weg zum Markt, Stoffe und Glasperlen, die in arabische Länder transportiert wurden. Der Pfad war sehr schmal, und man musste froh sein, überhaupt vorwärts zu kommen. Eines Tages stand Spekes vorderster Träger an einer Abzweigung des Pfades plötzlich frontal vor einem ihm entgegenkommenden Mann, der einen Elefantenstoßzahn trug und ebenfalls eine lange Reihe von Trägern anführte. Die beiden Träger starrten einander in wilder Entschlossenheit an; dann warfen sie sich aufeinander und rammten ihre Köpfe gegeneinander wie zwei wütende Widder. Bald taten auch alle anderen Mitglieder der beiden langen Karawanen das Gleiche. Der weiße Forschungsreisende fürchtete, es sei plötzlich irgendeine Stammesfehde ausgebrochen, ein Krieg, der durch das Gegeneinanderrammen der Köpfe ausgetragen würde. In dem Versuch, den Kämpfen Einhalt zu gebieten, stürmte er vor und wollte mit einer knorrigen Keule um sich schlagen. Aber eine plötzliche Unsicherheit blockte ihn ab: Er konnte Freund und Feind nicht unterscheiden. In seinen Augen eines Weißen sahen sie alle gleich aus. Auf einmal war das Handgemenge zu Ende, und eine der Reihen machte höflich der anderen Platz, um sie vorbeiziehen zu lassen, während sämtliche Träger von Herzen über den weißen Fremden lachten, der diese durchaus praktische Methode, das Vorfahrtsrecht auf einer engen Straße zu regeln, nicht begriffen hatte. Hier galt zudem auch das Recht des Hongo, und Speke fand sich in beträchtlicher Bedrängnis. Die hiesi179
ge Währung bestand aus bunten Glasperlen, und er führte nur weiße Glasperlen mit sich, die niemand als gesetzliches Zahlungsmittel akzeptieren würde. Abermals verursachten also die örtlichen Häuptlinge, ihre Berater und der Hang zu endlosem Gefeilsche wegen Kleinigkeiten Verzögerungen, die den ungeduldigen englischen Forscher zur Verzweiflung brachten. Die entnervendste Begegnung – aber vielleicht auch die bezauberndste – war die mit Ungagu, der Sultanin eines Stammes, dessen Gebiet quer zu Spekes Route lag. Ungagu verlangte, dass Speke einen beträchtlichen Umweg auf sich nahm, um sie zu besuchen und ihr seine Aufwartung zu machen. Die Etikette erforderte es, dass jeder Besucher der Sultanin tagelang darauf warten musste, bis er zu ihr vorgelassen wurde. Danach führte man den zunehmend erregten Speke durch einen irrgartenartigen Palast, der aus Hütten und Pferchen mit muhenden Rindern bestand. Schließlich wurde er auf eine Bank gesetzt und ausgiebig und in allen Einzelheiten von einer Hofdame untersucht, die danach ihrer Königin Bericht erstattete. Kurz darauf erschien die Sultanin selbst. Ihr Gang wirkte majestätisch infolge des kiloschweren Gewichts des Messingdrahts, der um die Elefantenschwänze und Zebramähnen gewickelt war, welche von ihrer Taille herabhingen und ihre Beine bedeckten. Sie war eine lächelnde, sechzigjährige Matrone, gekleidet in ein aus vielen Flicken und bunten Flecken zusammengesetztes arabisches Gewand. Sie nahm Spekes Hand, setzte sich ganz dicht zu ihm auf die Bank 180
und begann, seine Kleidung mit Zeichen größter Bewunderung zu betatschen und zu befingern. Als sie bei seiner Weste angelangt war, erklärte sie, dass diese ein geeignetes Geschenk für eine Herrscherin wie sie wäre. Speke gab bereitwillig seine Weste her und erhielt dafür als Gegengeschenk einen jungen Ochsen. Die Sultanin sprach auch voller Begeisterung über das Haar des weißen Forschers, das sie mit einer Löwenmähne verglich; dann nahm sie die Weste und zog sich zurück, wobei sie mit den Füßen durch den Dreck schlurfte. Um ein Kleidungsstück ärmer, aber letztlich in der Lage, seine Reise fortzusetzen, brach Speke auf und sah am Morgen des 30. Juli 1858 vom Gipfel eines Berges aus in der Ferne ein glitzerndes Licht zwischen dahinziehenden, sich langsam auflösenden Nebelschwaden. Dieses schimmernde Licht wurde vom Wasser des lange gesuchten Ukerewe-Sees widergespiegelt, den Speke unverzüglich zu Ehren seiner Königin in Lake Victoria, Victoriasee, umtaufte. Er litt unter Nahrungsmangel. Weil er es sich nicht leisten konnte, rund um dieses riesige Gewässer mit seinen vielen Inseln und Landspitzen zu reisen, behalf er sich damit, die Einheimischen zu befragen, und leitete aus ihren Antworten die Folgerung ab, der Victoriasee müsse die Hauptquelle des Nils sein. Erfüllt von Triumphgefühl eilte er zurück nach Kazé und hielt hier einen siegreichen Einzug wie ein römischer General, der nach der Eroberung einer Provinz heimkehrt. Aber Spekes Begeisterung wurde von Burtons wissenschaftlicher Strenge gedämpft: Es sei wohl 181
möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass der See die Quelle des Nils sei, aber es gebe nur einen Weg, um Klarheit zu schaffen, nämlich ihn zu Wasser zu umfahren und dann dem Fluss zu folgen, der aus ihm herausfloss. Vorerst, so stellte Burton fest, könne es lediglich als eine einfache Hypothese angesehen werden, dass dies die Nilquelle sei. Speke stimmte widerwillig zu; die Beziehung zwischen den beiden Forschern kühlte von jetzt an merklich ab. Sie entschlossen sich, unverzüglich und auf direktem Wege zur Küste zurückzukehren. Während dieser Reise sprachen sie nur noch wenig oder gar nicht miteinander. Von Sansibar aus nahmen sie ein Schiff nach Aden, wo Burton für mehrere Monate blieb, um sich in dem warmen und trockenen Klima zu erholen. Speke indes eilte an Bord eines vorüberkommenden Kriegsschiffes zurück nach England. Er hatte Burton als dem Leiter der Expedition versprochen, dass er dessen Rückkehr abwarten wollte, ehe er einen Bericht über ihre Entdeckungen veröffentlichen würde.
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Der entschleierte Nil
Wie Burton später voller Bitterkeit bemerkte, benötigte Sir Roderick Murchison, der Präsident der Royal Geographical Society, jedes Jahr einen »Löwen«, den er der Öffentlichkeit präsentieren konnte, einen Löwen, der mit seinem Triumphgebrüll die Damen erschauern ließ. Als Speke sein Versprechen Burton gegenüber, er würde seine vermeintliche Entdeckung nicht der britischen Öffentlichkeit enthüllen, brach und Murchison mitteilte, er wäre soeben von der Entdeckung der Nilquelle zurückgekehrt, hegte dieser weder Zweifel noch Bedenken, sondern glaubte Speke, ohne die Spur eines Beweises, aufs Wort. Und so wurde die Welt unverzüglich davon in Kenntnis gesetzt, dass es dank britischem Unternehmungsgeist gelungen sei, ein jahrtausendealtes Geheimnis zu lüften; und Speke ließ sich nur zu gerne zum Helden des Tages machen. Unterdessen erlangte sein nichts ahnender Expeditionsleiter arglos unter der grellen Sonne von Aden allmählich seine Gesundheit wieder. Als Burton im Mai 1859 nach Hause zurückkehrte, veranlasste ihn seine Verärgerung über Spekes Verhalten, das er für unmoralisch hielt, zu einer noch schärferen Kritik an dessen Behauptungen. Er stellte jetzt kur183
zerhand fest, dass der Nil sich aus mehr als nur einem einzigen See nährte. Tief verletzt wurde Burton dadurch, dass er von einer neuen Expedition ausgeschlossen wurde, deren Aufgabe darin bestand, das Vorhandensein des nach wie vor hypothetischen Abflusses zu überprüfen und gegebenenfalls nachzuweisen. Diese Expedition wurde – was denn sonst? – von Speke geleitet. Die öffentliche Meinung im Viktorianischen England stand fest auf Seiten des kultivierten englischen Gentlemans Speke und wandte sich gegen den groben und brüskierenden Iren Burton, den Stammgast in indischen Bordellen. Die Nation legte keinen Wert darauf, skeptische Einwände gegen eine bemerkenswerte Entdeckung zu hören, die der Queen Victoria zum Ruhme gereichte. Und wenn doch schon der See, der den großen Strom speiste, Victoriasee genannt wurde, dann müsste auch der Nil selbst, der all die Fruchtbarkeit in das ihn umgebende Tal trug, seine Kraft aus der Größe der Königin beziehen. In zunehmender Verbitterung floh Burton vor der vergifteten, gegen ihn gerichteten Stimmung in England und ging in die Vereinigten Staaten von Amerika, wo er zu den Mormonen in Utah und den Goldsuchern in Kalifornien reiste. Unterdessen bereitete Speke sich auf seine neue Expedition vor. Er lud einen alten Jagdgefährten vom Himalaja ein, an der Expedition teilzunehmen: James Augustus Grant, einen Offizier aus der Indien-Armee, geboren 1827 in Schottland. Gemeinsam schifften sie sich im April 1860 ein, und 184
Mitte August landeten sie auf Sansibar, wo sie von zahlreichen altgedienten Mitgliedern der vorigen Expedition begrüßt wurden, darunter dem unbezahlbaren Sidi Bombay. In der Zwischenzeit hatte sich die Situation im Landesinneren allerdings verschlechtert. Zwischen den verschiedenen Stämmen und zwischen afrikanischen Stämmen und den arabischen Sklavenjägern herrschte ein fortwährender Kriegszustand. Ein deutscher Forschungsreisender war bereits getötet worden. Trotz dieser ungastlichen Situation brachen Speke und Grant auf, wohl wissend, dass infolge der beharrlichen Kämpfe die Felder verwüstet und nicht bestellt und die Dörfer verlassen waren. Es bestand größte Wahrscheinlichkeit, dass sie nicht genügend Nahrung für ihre zahlreichen eingeborenen Träger finden würden. Trotzdem strebten sie nach Westen. Als sie jedoch die abgemagerten und verhärmten Überlebenden einer Handelskarawane trafen, die auf dem Rückweg aus dem Landesinneren nach Hause humpelten, und als sie vom Anführer dieses Zuges hörten, wie sie gezwungen waren, die Lederkleidung der Träger auszukochen, um sich eine dünne Brühe zu bereiten, entwickelten sie einen anderen Plan. Sie entschlossen sich, eine nördlichere Route zu wählen, die durch weniger bereistes Gebiet führte, und sich in zwei Gruppen aufzuteilen, wobei sie mehr oder weniger parallelen Wegen folgten. Das einzige greifbare Ergebnis dieses Plans war jedoch, dass sie doppelt so viel Hongo bezahlen mussten, weil die afrikanischen Häuptlinge sich weigerten, die zwei Kolonnen als 185
Teil einer einzigen Expedition anzuerkennen, und deshalb von beiden Zoll verlangten. Alles wurde besser, als sie das Gebiet von Karague westlich des Victoriasees betraten. Hier fanden sie ein äquatoriales Arkadien vor mit vielen Weiden und gut bestellten Feldern, bewohnt von friedlichen und höflichen Leuten. Am freundlichsten von allen war der König Rumanika, der – weit davon entfernt, hohe Zölle für die Erlaubnis zur Durchreise durch sein Land zu verlangen – seinen Untertanen befahl, die Fremden willkommen zu heißen und sie kostenlos mit allen Nahrungsmitteln zu versorgen, die sie benötigten. Und als Speke und Grant schließlich am 25. November Rumanikas Königspalast betraten, ein Durcheinander von Hütten und Höfen, aber auch mit einer schönen, von Arabern gebauten Audienzhalle ausgestattet, präsentierte sich die Herrscherfamilie mit einer Würde und Majestät, die ihren europäischen Entsprechungen in nichts nachstand. Der König erkundigte sich angelegentlich nach der Gesundheit seiner königlichen Cousins in Europa. Besonders bemerkenswert waren die königlichen Frauen. In diesem Königreich wurde Fettleibigkeit als höchster Ausdruck weiblicher Schönheit betrachtet, und die Frauen des Königs tranken fast ohne Unterbrechung eine Schüssel Milch nach der anderen. Diese strenge Diät hatte sie in der Tat sehr schön gemacht, jedenfalls nach den Maßstäben von Karague. Speke fand, dass ihre Fettwülste eher an riesige Puddinge erinnerten, und es bedurfte der Unterstützung von mindestens zwei oder 186
drei Sklavinnen, um jeder einzelnen Gemahlin des Königs beim Aufstehen aus dem Sitzen und beim Umhergehen zu helfen, was diese dann auch mit dem ungelenken Charme taten, der für diese pantagruelischen Damen in jenem Paradies der Fettleibigkeit bezeichnend war. Zwischen großen Tafeln, die sich ächzend unter Geflügel- und Geißbraten bogen, enthüllte der gute Rumanika schließlich den Grund für sein außerordentliches Wohlwollen den weißen Gästen gegenüber: Er wüsste mit Sicherheit, dass sie alle mächtige Zauberer seien, und er hoffte, von ihnen einen wirksamen Zauber zu erhalten, mit dem er seinen aufrührerischen Bruder töten könnte, der danach strebte, seinen Thron zu erlangen. Die Forschungsreisenden bestritten, über solche Kräfte zu verfügen; aber Rumanika war schon sehr beruhigt, als Speke ihm eine Pistole schenkte, die gewiss ebenso gut dazu taugte, einen Bruder umzubringen, wie irgendein Zauber oder eine Beschwörungsformel. Das war die allererste Feuerwaffe, die je in Karague gesehen wurde, denn die schlauen Araber hatten sich wohlweislich gehütet, solche gefährlichen Geschenke zu machen. Die Entdeckungsreisenden verlängerten ihren Aufenthalt, weil den Audienzen bei Hof Jagdausflüge und Festbankette und endlose Gespräche folgten, in denen sie viel über zahllose neue afrikanische Wunder erfuhren: Im Norden lag ein weiterer riesiger See, der Luta Nzige (später ergaben sorgfältige Erkundungen, dass der See verhältnismäßig klein war, und er erhielt den Namen Albertsee nach dem Prinzgemahl der Königin Vic187
toria); es gab endlose verworrene Urwälder, bewohnt von Ungeheuern, die junge Mädchen erwürgten, und von winzigen Männern, die in Bäumen lebten und mit vergifteten Pfeilen schossen; es gab Kannibalen, die ihre Zähne zu scharfen Spitzen schliffen und geräuschvoll und gierig Menschenfleisch fraßen. Etwas näher lagen weitere Königreiche, bis zu denen sich die Nachricht von der Ankunft der weißen Forscher verbreitet hatte. Und die Nachbarmonarchen wollten, dass sie auch ihnen an ihrem Hof die Aufwartung machten. Als erste Gesandte kamen Botschafter von Kamrasi, dem König von Unjoro, und sie brachten eine erfreuliche Nachricht: Andere weiße Entdeckungsreisende kamen in einem großen Schiff nilaufwärts gefahren und würden bald ankommen. Speke und Grant dachten, dies müsse John Peterick sein, ein Elfeinbeinhändler, der zugleich britischer Konsul in Khartoum war. Er hatte zugesagt, sich mit ihnen auf halber Strecke am Nil treffen zu wollen. Als sie von seinem Kommen hörten, schrieben sie ihm einen Brief, den sie einem eingeborenen Läufer anvertrauten. Als Nächstes kam eine feierlichere und bestimmtere Einladung von M’tesa, dem König von Uganda, der einen Besuch forderte. Der größte Teil des Victoriasees lag in seinem mächtigen Reich, und seine Kriegsflotte befuhr regelmäßig den See. Unglücklicherweise hatte Grant eine Beinverletzung, und die ehernen Gesetze von Uganda untersagten die Einreise von Kranken in das Reich. So musste Speke 188
allein aufbrechen. Er erreichte den Königspalast am 19. Februar 1862; das Durcheinander von Gebäuden bedeckte einen ganzen Hügel. In jenem Versailles von Pfählen und Palmwedeln galt eine äußerst komplizierte Etikette, die bei weitem starrer war als die am Hof des Sonnenkönigs im 17. Jahrhundert. In der Gegenwart ihres Herrschers hatten die Untertanen auf dem Boden zu knien, ihre Arme zum Gebet auszubreiten und endlos die Worte tuiyanzi-yanzi-yanzi zu wiederholen, eine Formel, die Dankbarkeit ausdrücken sollte. Dem König durfte nichts dargeboten werden, was nicht in irgendeiner Form verhüllt war. Diese Regel galt sowohl für Sachgeschenke als auch für menschliche Körper: Wer es wagte, sich im Staub zu Füßen des Thrones zu winden und dabei mehr Haut zu zeigen, als dem Herrscher genehm war, konnte auf der Stelle hingerichtet werden (als Grant schließlich ankam, untersuchte ihn der Zeremonienmeister des Hofes gründlich und beanstandete die unverhüllte Haut zwischen dem oberen Bündchen seiner Socken und dem unteren Saum seiner Hose). Als königliche Laune beliebte es M’tesa jedoch, sich die Mahlzeiten von nackten jungen Mädchen servieren zu lassen; aber jeder seiner Gäste, der es wagte, einen Blick auf sie zu werfen – oder auf die etwas mehr bekleideten Schönheiten seines riesigen Harems –, konnte im Handumdrehen enthauptet werden, genauso wie jemand, der versuchte, den Thron oder die Roben des Königs zu berühren. M’tesa war ständig von jungen Pagen umgeben, die darauf warten mussten, loszusau189
sen, um Befehle auszuführen (wenn sie zu langsam lossausten, konnte ihnen zur Strafe ein Speer durchs Herz gejagt werden). Phantastisch maskierte Zauberer waren für zweierlei verantwortlich: den bösen Blick abzuwehren und dafür zu sorgen, dass der Trinkkelch ihres Königs stets randvoll mit Palmwein gefüllt war. Speke bekam mit dem Hofzeremoniell von Uganda fast augenblicklich Schwierigkeiten, nachdem er die Hauptstadt erreicht hatte. Seine Ankunft wurde beim Königshof gemeldet, und man zeigte ihm rasch seine Unterkunft, weil die Audienz beim König für den nächsten Tag angesetzt worden war. Als die Sonne an diesem schicksalhaften Tag aufging, legte der Forscher seine beste Kleidung an, ließ zwölf seiner Leute rote britische Uniformjacken anziehen und belud seine Träger mit Geschenken für Seine ugandische Majestät. Die Kolonne setzte sich in einwandfreier Ordnung in Bewegung und marschierte hinter dem stolz im Wind flatternden Union Jack her. Irungi! Irungi!, riefen die Schaulustigen, die von überallher in der Stadt zusammengelaufen waren. Das Problem entstand, als Speke den Hof des Palastes betrat: Er wurde aufgefordert, sich auf den Boden zu setzen und auf den König zu warten. Auf den Boden? Niemals! Der entrüstete Engländer weigerte sich; man solle ihm einen Stuhl entsprechend seiner Würde und seinem Rang bringen. Die Höflinge waren angesichts dieser Missachtung des Protokolls entsetzt; jede Seite beharrte auf ihrer Forderung, und schließlich drehte sich Speke auf dem Absatz herum und verließ den Palast, 190
gefolgt von seinen Leuten, diesmal ein panischer Haufen, weil jeder von ihnen erwartete, dass ihm im nächsten Moment ein Eingeborenenspeer zwischen die Rippen gejagt würde. Stattdessen geschah überhaupt nichts. Denn als M’tesa von dem Vorfall erfuhr, folgerte er, dass allein magische Kräfte Grund für ein solch stolzes und anmaßendes Auftreten sein könnten. Er schickte sogleich einen Boten zu Speke und bat ihn, abermals zu kommen und seinen eigenen Klappstuhl mitzubringen. So gipfelte der Machtkampf zwischen EingeborenenEtikette und der Etikette des British Empire darin, dass sich die beiden Kontrahenten auf ihren jeweiligen Thronen gegenübersaßen und einander eine geschlagene halbe Stunde lang in völligem Schweigen anstarrten, während sie auf die Ankunft eines Dolmetschers warteten. Hin und wieder bedeutete der König dem Engländer, dass er seinen Hut abnehmen oder wieder aufsetzen, seinen Schirm öffnen oder schließen solle. Als der Dolmetscher schließlich erschien, befahl ihm der König, den Engländer zu fragen, ob dieser »ihn erblickt habe«. Als Speke antwortete, dass er den König sehr wohl erblickt habe, erhob sich M’tesa von seinem Thron und stolzierte aus dem Raum, wobei er den Gang eines Löwen nachahmte, einen Gang, der in Uganda einzig und allein das Privileg des Königs war. Der König ging zum Essen, denn er hatte geschworen, von der Ankunft des weißen Mannes bis zum Ende der Audienz zu fasten, und jetzt war er wirklich hungrig. In den folgenden Tagen wurden die Audienzen et191
was weniger steif und formell. Außerdem hatte Speke das Glück, Wohlwollen und Schutz der Königinmutter zu gewinnen. Die Witwe des vorigen Königs hatte sich entschlossen, den gelehrten weißen Zauberer bezüglich bestimmter Krankheiten zu konsultieren, von denen sie glaubte befallen zu sein. Die Behandlung, die er ihr verschrieb, entzückte sie: häufige und reichliche Gaben von Palmwein, ihrem Lieblingsgetränk. Die stämmige Königinmutter weckte mit ihren ständigen Audienzen, zu denen sie Speke rief, sogar die Eifersucht ihres königlichen Sohnes. Denn M’tesa beanspruchte den weißen Besucher für sich allein. Speke fühlte sich geschmeichelt durch die Ehren, die ihm zuteil wurden, doch gleichzeitig war er entsetzt über die Hinrichtungen, die tagtäglich im Palast für geringfügige Vergehen angeordnet wurden. Wenn ein Koch eine Mahlzeit nicht vollkommen einwandfrei zubereitete, bezahlte er das mit seinem Leben. Eine Nebenfrau, die es gewagt hatte, ihrem König eine Frucht anzubieten, wurde vor dem sofortigen Tod durch Erwürgen nur dank der Fürsprache von Speke selbst bewahrt. Als Speke dem König ein Karabinergewehr schenkte, befahl M’tesa einem gehorsamen Pagen, es an dem ersten Vorüberkommenden auszuprobieren. Und als dann ein Mann nach einem einzigen Schuss tot umfiel, dankte M’tesa Speke mit großem Ernst. Das Gewehr, so sagte er, »tötet recht hübsch«. Mit freundlicher Unterstützung seiner Palmweintrinkerin und Patientin, der Königinmutter, konnte Speke 192
M’tesa dazu überreden, Grant von einer Gruppe von Männern holen und in den Palast tragen zu lassen. Grant war immer noch nicht ganz genesen, als er am 27. Mai auf einer Tragbahre in den Palast gebracht wurde. Dennoch baten die beiden Forscher M’tesa um die königliche Entlassung, damit sie ihren Auftrag vollenden könnten: den Fluss, der aus dem See kam, zu finden und ihm zu folgen. M’tesa lehnte das Gesuch ab; doch eines Tages, in einem Augenblick wohlgelaunter Ablenkung, willigte er ein. Die Karawane verließ die Hauptstadt von Uganda in großer Eile, bevor M’tesa es sich wieder anders überlegen konnte. Grant erlitt jedoch einen Rückfall und entschloss sich, nach Unjoro zurückzukehren, um sich zu erholen. Speke zog allein weiter. Am 21. Juli 1862 konnte er schließlich auf den majestätischen Fluss hinabschauen, der aus dem See strömte und sich über einen spektakulären Wasserfall in die Tiefe stürzte. Speke nannte ihn zu Ehren des neuen Präsidenten der Royal Geographical Society von Großbritannien Ripon-Fälle. Dann folgte er dem Flussverlauf stromabwärts, um Grant zu finden. Als er die Grenze zum Unjoro-Gebiet erreichte, war er über die Art des Empfangs, der ihn erwartete, bestürzt: ein Hagel von Pfeilen. Er war genötigt, sich den Weg mit Gewehrfeuer freizukämpfen. Und dennoch erwartete ihn König Kamrasi. Was war geschehen? In seinem schriftlichen Bericht über seine Abenteuer erklärte Speke später, der König, »ungebildet, argwöhnisch und gnadenlos«, wäre davon in Kenntnis gesetzt 193
worden, dass zwei verschiedene, von Weißen geführte Expeditionen aus entgegengesetzten Richtungen in sein Königreich kommen würden. Daraufhin hatte er sofort gemutmaßt, dass die Fremdlinge auf Eroberungen aus wären. Sein Argwohn wurde noch durch beharrliche Gerüchte verstärkt, die ihm zu Ohren kamen und besagten, die Europäer wären Kannibalen und führten bei ihrer Reise durch Afrika in Schrankkoffern unglaublich wilde weiße Zwerge mit sich. Zu gegebener Zeit würden die Forscher einfach die Koffer öffnen und die angeblich mörderischen und ausgehungerten Zwerge herauslassen. Speke sandte auf der Stelle Läufer aus, um solche Gerüchte zerstreuen und den König beruhigen zu lassen. Sobald Speke wieder mit Grant zusammen war, zogen sie gemeinsam in die Hauptstadt, um dort ihre Aufwartung zu machen. Auch in Unjoro gab es eigene Zeremonielle und Protokolle. Hier verlangte man von ihnen, etliche Tage zu warten, und während dieser Zeit versuchten die Abgesandten des Königs nach Kräften, den beiden Entdeckungsreisenden so viel wie möglich zu entlocken, wobei sie es nicht an versteckten Drohungen fehlen ließen. Schließlich erklärte sich Kamrasi einverstanden, seine europäischen Gäste zu empfangen, nachdem er mit einem zweischneidigen Dolch und einem Chronometer im Wert von 50 Pfund Sterling zufrieden gestellt worden war. Möglicherweise hat diese ausgedehnte Empfangsprozedur die Beschreibung des Königspalastes durch die Gäste beeinträchtigt: Die Hütten seien dre194
ckig und voller Gestank, die Höfe mit einer dicken Kotschicht bedeckt, in der der König knietief umherwatete, um persönlich das Vieh auszuwählen, das für das Bankett zu Ehren der Gäste geschlachtet werden sollte. Er schien sich für die ältesten und ausgemergeltsten Rinder entschieden zu haben. Trotz der armseligen Unterkunft und dem Schmutz muss dies das wohlhabendste der drei Königreiche gewesen sein, die die Forscher besuchten, zumindest nach den königlichen Konkubinen zu urteilen. Die Frauen am Hof von Unjoro waren so fett, dass es acht kräftige Männer kaum schafften, eine von ihnen hochzuheben. Speke und Grant erfreuten sich dieser zweifelhaften Gastfreundschaft während vier langer Monate. Erst am 9. November wurde es ihnen gestattet abzureisen, nachdem sie zu diesem Zeitpunkt praktisch aller Habe ledig waren, die sie mitgebracht hatten. Sie folgten flussabwärts dem Lauf des Kefu, eines Nebenflusses des Nils, und suchten dabei besorgt den Horizont ab, in der beständigen Hoffnung, Petericks Leuten zu begegnen; stattdessen sahen sie immer häufiger »Spuren der Zivilisation«: Schmuckanhänger und Perlen, die in Europa hergestellt und von Händlern und Sklavenjägern hierher gebracht worden waren. Am 3. Dezember sahen sie in einem Ort namens Faloro ein großes Lager. Sie wurden von einem eingeborenen Soldaten in ägyptischer Uniform feierlich empfangen. Es stellte sich heraus, dass er der Anführer einer Bande von Elfenbeinjägern war, die ein maltesischer Kaufmann mit Namen De Bono ge195
dungen hatte, der in Khartoum lebte. Sie waren schon seit drei Jahren hier. Der Anführer wusste nichts über Peterick. Er selbst war im Begriff, mit seinen Leuten und dem erbeuteten Elfenbein heimwärts zu ziehen, und er bot den beiden Europäern an, sie dem Nil entlang nach Norden zu begleiten. Die britischen Entdecker waren jedoch ungeduldig und entschlossen sich, nach Apuddo voranzugehen. Als die Horde der Jäger – etwa 200 an der Zahl – auch dieses Dorf erreichte, fielen sie wie ein Heuschreckenschwarm darüber her. Sie nahmen sich auch noch den letzten Happen Nahrung und zwangen die Bewohner, sie zu bedienen und die Elfenbeinpakete zu tragen, wobei sie sie am Flussufer entlang trieben und das Peitschenknallen über den breiten Fluss hallte, bis sie endlich am 15. Februar in Gondokoro ankamen. Gondokoro mit seiner kleinen weißen, von österreichischen Missionaren gebauten Kirche, die jahrelang vergeblich versucht hatten, die Einheimischen zum Christentum zu bekehren, war der südlichste Vorposten der Zivilisation im Niltal. Grant und Speke kamen sich vor, als hätten sie bereits europäischen Boden betreten. Als Speke auf der Suche nach dem unauffindbaren Peterick im Dorf umherging, wurde er plötzlich von einer kräftigen, bärenartigen Umarmung durch einen hünenhaften bärtigen Mann – zweifellos ein Europäer – festgehalten. In seiner Verwirrung erkannte er erst langsam einen alten Freund und Jagdgefährten, Samuel Baker. Baker war in Begleitung seiner jungen und wagemutigen Frau so weit nach Süden vorgedrungen, 196
um Speke zu finden. Er habe gehofft, sagte Baker mit typisch britischer Ironie, Speke und Grant säßen im geheimnisvollen Gebiet des Äquators in einer fürchterlichen Klemme. Es wäre ihm ein Vergnügen gewesen, sie zu retten, um so an ihrem Ruhm teilhaben zu können. Einige Tage später – lange nachdem Speke und Grant jegliche Hoffnung aufgegeben hatten, ihn zu treffen – tauchte schließlich doch noch Peterick auf und bekannte in aller Aufrichtigkeit, dass er sich jede Menge Zeit gelassen habe, weil er vollkommen sicher war, keinen von ihnen noch lebend anzutreffen. Speke und Grant verließen am 26. Februar Gondokoro und setzten schließlich nach einer Abwesenheit von drei Jahren und zwei Monaten wieder den Fuß auf englischen Boden. Und sie verkündeten stolz, dass der Nil nun keine Geheimnisse mehr habe. Seine Hauptquelle sei der Victoriasee, wie Speke es stets behauptet habe. Die öffentliche Meinung war mit einem Mal voll auf ihrer Seite; aber dennoch konnte die Kontroverse nicht ganz aus der Welt geschaffen werden. Ein anderer Halbgott der Nation, der Afrikaforscher David Livingstone, äußerte seine Zweifel und vertrat eine deutlich andere Ansicht über die verschlungene Gewässerlandschaft des Nilbeckens. Burton wiederum war von seinen amerikanischen Reisen zurückgekehrt und behauptete jetzt, der Nil müsse zwangsläufig aus dem Tanganjikasee entspringen und keinesfalls aus dem Victoriasee. Vielleicht, so fügte Burton hinzu, würde der Nil auch noch durch Schmelzwasser vom Schnee des Kilimandscharo 197
und des Mount Kenia – Ptolemäus’ Mondgebirge – gespeist. Ein Jahr später veranstaltete die British Society for the Advancement of Science eine öffentliche Diskussion, um die Angelegenheit zu entscheiden. Das Podiumsgespräch sollte am 16. September 1864 in dem eleganten Kurort Bath stattfinden, wo Speke geboren worden war. Am Morgen der Diskussionsveranstaltung wurde ein Zettel von einem Mitglied der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften zum anderen herumgereicht. Sie alle saßen in gespannter Erwartung des »Nil-Duells«, wie die Boulevardpresse es betitelte, mitten unter einer riesigen Zuhörerschaft. Während der Zettel kursierte, breitete sich in dem Saal ein bedrücktes Schweigen aus. Captain John Hanning Speke war am Tag zuvor um vier Uhr nachmittags bei einem Jagdunfall auf dem Gut eines Cousins ums Leben gekommen. Man hatte ihn tot auf dem Boden liegend gefunden, mit einem Gewehrschuss durch die Brust. Die amtliche Untersuchung stellte einen Unfalltod fest: Während er über eine Felssteinmauer kletterte, muss Speke mit seinem Jagdgewehr an einem Zweig oder Steinvorsprung hängen geblieben sein, wobei sich der Abzug löste. Er war auf der Stelle tot. Viele jedoch, unter ihnen Burton, vermuteten einen Selbstmord. Der neurotisch angespannte, überempfindliche Speke, der von Auseinandersetzungen zermürbt und von der Angst besessen war, ihm könne der begehrte Lorbeer für die von ihm behauptete Entdeckung 198
der Nilquelle genommen werden, war vielleicht unter diesem Druck und unter den Gewissensbissen wegen seines Verrats an Burton zusammengebrochen. Was wahr ist, werden wir nie erfahren. Keine der Hauptfiguren dieses Kapitels der Entdeckungsgeschichte, das unerwartet in einem geheimnisvollen Tod durch einen Gewehrschuss gipfelte, wurde je wieder mit einer größeren Expedition betraut, obwohl in dem weiten, verschlungenen Nilbecken noch viele Fragen unbeantwortet geblieben waren. Sowohl Burton als auch Grant kehrten nach Afrika zurück, der Erstere als britischer Konsul am Golf von Guinea, der Letztere als Berater bei dem Feldzug, den Lord Napier 1868 gegen den Negus von Abessinien, Theodorus II., führte. Doch keiner von ihnen spielte »die Rolle des Löwen«, wie Sir Roderick Murchison wohl gesagt hätte. Burton starb 1890 in Triest in Italien, wo er britischer Konsul war. Hier verbrachte er seine letzten Jahre friedlich und schrieb zahlreiche Bücher. Er arbeitete in einer großen Halle, in der etliche Schreibtische oder -pulte standen; auf jedem lag das Material für eines seiner Bücher, und er arbeitete Tag für Tag an jedem dieser Plätze. Auf jedem Schreibtisch oder -pult stand ein Glas Wasser, und in jedem dieser Gläser eine duftende Jasminblüte. Grant starb zwei Jahre nach Burton in Nairn in Schottland. Er hatte sich die Rolle des Verteidigers von Spekes Angedenken zu eigen gemacht, und dies tat er mit solchem Eifer, dass er sich in seiner Unversöhnlichkeit weigerte, Burtons Bekanntschaft zu machen. 199
Der fehlende See
An jenem Tag im Februar 1864 in Gondokoro, als er Speke aus seiner brüderlichen Bärenumarmung, mit der er ihn zu erdrücken drohte, freiließ, fragte Samuel Baker, ob Speke denn auf seinen Reisen entlang dem Äquator »noch irgendwelchen Lorbeer übrig gelassen« habe, den er – Baker – »erringen könne«. Speke erzählte ihm von dem Luta-Nzige-See, von dem er am Hof des Königs Rumanika erfahren hatte. Baker fand, dass dieser See sicherlich mit dem Flusssystem der Nebenflüsse des Nils verbunden sein müsse und dass er ein seiner würdiges Ziel wäre, ein ganz besonderer Lorbeerzweig, den er um seine Stirn winden würde. Kaum einen Monat später brachen die Bakers – Mann und Frau – nach Unjoro auf. Samuel White Baker war zu dieser Zeit über vierzig. Er war 1821 in London geboren und entstammte einer bis zum Überfluss reichen Familie. Hinter ihm lag ein Leben voll lohnender Erfahrungen: Er hatte eine landwirtschaftliche Kolonie in Ceylon gegründet, im Krimkrieg gekämpft, den Bau der ersten türkischen Eisenbahn in der Dobrudscha überwacht, einer Gegend im Nordosten von Bulgarien und Südosten von Rumänien, zwischen Donau und Schwarzem Meer. Vor allem aber 200
war er wie sein Freund Speke ein großer Jäger. Unter den Trophäen, die er erbeutet hatte, befanden sich Bären vom Balkan und Tiger aus Bengalen. Er war jetzt zum zweiten Mal verheiratet, mit einer blonden Ungarin namens Florentine Ninian von Sass, die fünfzehn Jahre jünger war als er und wie er Abenteuerreisen und das Jagen liebte. Das glückliche Paar brach 1861 in den Sudan auf, reiste den Atbara hinauf, einen östlichen Nebenfluss des Nils, bis es an die Grenze nach Abessinien gelangte. Sie jagten, sie genossen einzigartige Sonnenuntergänge, sie liebten sich, und sie lernten Arabisch, weil Baker den einheimischen Dolmetschern misstraute und die Sprache selbst beherrschen wollte. Nachdem sie ein Jahr so verlebt hatten, reisten sie auf Umwegen über den Blauen Nil Anfang Juni 1862 hinab nach Khartoum (16 Grad nördlicher Breite). Diese Hauptstadt des ägyptischen Sudan, die 40 Jahre zuvor am Zusammenfluss des Weißen und des Blauen Nils gegründet worden war, hatte damals eine Bevölkerung von ungefähr 35000 Menschen, von denen 26000 Europäer waren, die meisten davon Abenteurer der übelsten Sorte. Um die folgenden äquatorialen Abenteuer verstehen zu können, müssen wir uns auf einen kurzen Exkurs über die Geschichte des Sudan einlassen. Der Sudan war ein erobertes Land. Zwischen 1820 und 1824 war die Armee des Mehmet Ali in den Sudan eingefallen und hatte ihn mühelos besetzt. Mehmet Ali war ein albanischer Offizier, der in den unruhigen Jahren nach Napoleons Invasion von Ägypten Besitz ergrif201
fen hatte. Nachdem er mit einer türkischen Streitmacht, die an Bord englischer Schiffe zur Bekämpfung der Franzosen hierher gebracht wurde, in Alexandria gelandet war, zeichnete sich der junge Offizier rasch durch taktisches Geschick und seine unbestrittene Fähigkeit zum Intrigieren aus. Und nachdem Ägypten zunächst von den Franzosen und dann von den Engländern aufgegeben worden war, lockte Mehmet Ali – an der Spitze einer Truppe von 10000 Soldaten, die fast alle Albaner und ihm bedingungslos treu ergeben waren – die Mamelucken, die bisherigen Herren in Ägypten, in eine Falle und löschte sie in einem Massaker restlos aus. Obwohl er formell im Namen des Sultans von Konstantinopel regierte, dem das Land offiziell unterstand, war Mehmet Ali ein Reichsgründer, und er war ausgezogen, das gewaltige Territorium des Sudan zu erobern und seinen Reichtum auszuplündern (obwohl er bald einsehen musste, dass es da nur sehr wenige Reichtümer zu plündern gab), vor allem aber, um hier Sklaven für die riesige Armee zu jagen, mit der er seine Expansionsgelüste verwirklichen wollte. Als er sich dann stark genug fühlte, meuterte er gegen die Herrschaft des Sultans und nahm Kreta und Syrien ein. Er wäre auch bis nach Konstantinopel vorgerückt, hätten ihm nicht die europäischen Mächte mit ihrem Einschreiten gedroht. Immerhin erreichte er ein Zugeständnis: Sein Amt als Vizekönig Ägyptens wurde nunmehr erblich. Im Jahr 1862 regierte sein Großenkel Said, und dieser versuchte, unter dem Einfluss europäischer Berater, in den sudane202
sischen Provinzen eine nicht ganz so schonungslose Ausbeutungspolitik zu betreiben. Dennoch war das Khartoum, das die Bakers empfing, eindeutig die Abfallgrube des ägyptischen Reiches. Kairo schickte in dieses Wüstengrab regelmäßig Schiffsladungen mit in Ungnade gefallenen Amtsinhabern und unerwünschten Personen jeglicher Art. Die Verlockung des schnellen Geldes zog Schurken und Verbrecher aus der gesamten Levante und aus Europa an: Griechen, Türken, Malteser, Italiener, Franzosen, Engländer, Österreicher und Preußen. Schiffslotsen vom Nil und nubische Bauern kamen hierher, um ihr Glück zu suchen. Die große Flotte der Segel- und Dampfschiffe zog Zimmerleute und Monteure an. Die Unmengen Pferde, Esel und Kamele, die von Karawanen und Armeen benutzt wurden, erforderten Futterknechte und Gerber, und wie in jeder anderen Stadt des weit verzweigten Netzwerks der islamischen Welt in Afrika und Asien gab es Schreiber, Pfeifenmacher, Wasserträger und umherziehende Händler aller möglichen Schattierungen. Überall am Nilufer be- und entluden halbnackte Eingeborene in einem nie endenden Getümmel Schiffe, und Kaufleute, die sich im Schatten behelfsmäßiger Veranden auf Diwanen ausstreckten, führten Verhandlungen und schlossen Geschäfte ab, während sie eine Wasserpfeife rauchten oder aus winzigen Tassen Kaffee schlürften. Die Garnison lebte vom Diebstahl, wie Baker nüchtern feststellte, und sämtliche Regierungsbeamte waren unredlich und pflegten Betrug und Diebstahl. Der Gouverneur selbst 203
lieferte mit seiner Korruption und seinen Amtsvergehen den Hauptgrund für den Niedergang des Landes. Kautschuk, Straußenfedern, Tierhäute, Elfenbein und Sklaven waren die Güter, die von Khartoum aus stromabwärts, nach Norden, verschifft wurden. Die wertvollste Ware überhaupt stellten die Sklaven dar. Der Sklavenhandel war theoretisch zwar verboten, tatsächlich aber bildete er die Grundlage des bescheidenen Wohlstands, der zu jener Zeit überhaupt im Sudan zu finden war. In einem Bericht über seine Abenteuer erklärte Baker in wenigen Worten, wie das Geschäft funktionierte. Alle, selbst wenn sie mittellos waren, konnten ein Darlehen erhalten, allerdings zu einem wucherischen Zinssatz von 100 Prozent. Hatte ein Abenteurer die Geldmittel erhalten, schloss er sich einer Bande von Räubern und Mördern an, wie man sie jederzeit in dieser verruchten Stadt finden konnte; und wenn es auf Dezember zuging, zogen sie stromaufwärts nach Süden in die Äquatorgegenden. Waren sie erst einmal über Gondokoro, den letzten ägyptischen Vorposten, hinausgelangt, schlossen sie ein Bündnis mit irgendeinem afrikanischen Stammeshäuptling, dem sie zufällig begegneten, und kreisten ein Dorf der Feinde dieses Häuptlings ein, brannten die Hütten nieder, töteten die Männer, verschleppten Frauen und Kinder und raubten das Vieh sowie Elfenbein und Nahrungsmittel. Der Häuptling wurde mit 30 oder 40 Stück Vieh bezahlt; 30 Prozent der Kühe und Ochsen wurden zur Entlohnung der ein204
geborenen Teilnehmer des Raubzugs abgezweigt; der Rest ging an den Sklavenjäger, der dann einen listig eingefädelten Streit ausnutzte, um seinen eingeborenen Verbündeten zu ermorden und dessen Leute ebenfalls zu versklaven. Das Vieh wurde dann im Austausch gegen noch mehr Sklaven und Elfenbein an benachbarte Stämme verkauft. Dieses Vorgehen wurde so lange wiederholt, bis eine ansehnliche Beute zusammengekommen war; dann brach die Karawane nach Khartoum auf.
Diese verhältnismäßig frühe Weltkarte von Grynaeus zeigt eine recht phantasievolle Darstellung des Nils, ein gestutztes Südamerika und einen winzigen Streifen Land, wo Nordamerika sein sollte. – Mit freundlicher Genehmigung von Thomas Suarez 205
Um Aufsehen zu vermeiden, wurden die Sklaven auf unterschiedlichen Wegen getrieben, und die Verbrecher kehrten als offensichtlich friedvolle Elfenbeinjäger mit ihrem Fang in die Stadt zurück. Alle, vom Gouverneur bis zum niedrigsten Beamten, waren in diese Geschäfte eingeweiht. Im »dreckigen und verruchten« Khartoum fand Baker eine Nachricht vor, die ihn mit Freude erfüllte. Der berühmte Peterick, der den Auftrag hatte, Speke und Grant zu retten, war irgendwo im tiefen Süden verschwunden und vermutlich tot. Die Royal Geographical Society hoffte auf Bakers Bereitschaft, den Auftrag zu übernehmen. Die wagemutigsten Neuvermählten von ganz Afrika hätten sich gar nichts Besseres wünschen können, und sie begannen sofort, ihre Expedition in das Gebiet der Äquatorseen vorzubereiten. Es bedurfte jedoch ermüdender Verhandlungen über sechs Monate hin, trotz des bescheidenen Geldflusses, der zur Verfügung gestellt wurde. All jene, die in den Sklavenhandel verstrickt waren – das heißt, die gesamte Stadt Khartoum und ihre Umgebung –, waren nämlich wenig daran interessiert, europäischen Augenzeugen, die möglicherweise von humanitären Anwandlungen geprägt waren, die Reise durch ihr Reich von Gewalt und Terror zu gestatten. Hinter der Maske erlesenster Höflichkeit türmte der Gouverneur Musa Pascha Hindernisse auf und verzögerte und sabotierte die Pläne der Bakers. Schließlich obsiegten jedoch deren Beharrlichkeit sowie das britische Pfund Sterling, und am 18. De206
zember 1862 hissten die Bakers die Segel ihrer drei Schiffe, die mit etwa hundert Mann besetzt waren, und fuhren den Weißen Nil stromaufwärts nach Süden. Zwei Monate später trafen sie in Gondokoro mit Grant und Speke zusammen, wo sie Kenntnis von dem noch zu entdeckenden großen See erhielten. Die Bakers entschlossen sich, Richtung Äquator weiterzureisen. Dafür hätten sie allerdings keine schlechter geeignete Zeit wählen können. Der Nil war infolge der winterlichen Regenfälle dramatisch angeschwollen und hatte riesige Landstriche überschwemmt und in unüberwindliche Sümpfe verwandelt. Die ungünstigen Winterstürme behinderten die Fahrt flussaufwärts. Neun endlose Monate lang lagen sie gezwungenermaßen vor Anker, während ihnen die Pferde und Maultiere wegstarben, ein Tier nach dem anderen, bis keines mehr übrig war. Erst im Januar 1864 konnten sie auf Ochsen reitend ihre Reise wieder aufnehmen und einen weiten Bogen östlich des Flusses landeinwärts schlagen. Am 22. Januar erreichten sie wieder den Nil, in der Nähe der KarumaFälle, jenseits derer das Königreich Unjoro begann. Am gegenüberliegenden Ufer stand jedoch die Armee des Königs Kamrasi, mit Absichten, die alles andere als freundlich waren. Ein paar Monate zuvor hatte eine Kolonne von Sklavenjägern das Land verheert, und die Leute von Unjoro fürchteten einen neuen Überfall. Baker bewältigte die ausweglose Situation mit einem Geniestreich: Er behauptete, der Bruder von Speke zu sein, stieg auf einen hohen Felsen und zeigte allen seinen lan207
gen blonden Bart, durch den er eine gewisse Ähnlichkeit mit seinem Freund, dem Entdecker, hatte. Noch stärker war der Eindruck, den seine Frau erzielte, als auch sie auf den Felsen stieg und ihr langes, blondes Lockenhaar öffnete, das ihr bis zur Taille hinabfiel. Die Krieger senkten ihre Waffen und vollführten einen Willkommenstanz. Zehn Tage später wurde Baker – den man auf einer Bahre trug, weil er einen besonders schlimmen Malariaanfall hatte – zu Füßen von König Kamrasi abgesetzt. Der Monarch von Unjoro zählte dem fieberkranken Forscher unverzüglich die zahlreichen Geschenke auf, die er von diesem als Tribut erwartete. Im Gegenzug ersuchte der Engländer darum, sogleich zu dem See gebracht zu werden, über den er in der Zwischenzeit erstaunliche – und falsche – Dinge erfahren hatte. Von den Eingeborenen war ihm erzählt worden, dass der See viel größer als der Victoriasee sei (tatsächlich aber hat er weniger als ein Zehntel von dessen Fläche). Der listige Kamrasi, der sich nicht so rasch die Gelegenheit entgehen lassen wollte, seine kostbare Beute auszunehmen, erklärte Baker, der See läge mindestens eine Sechs-Monate-Reise weit weg, und man müsste außerordentlich schwieriges Gelände durchqueren. Baker solle deshalb noch ausruhen und gänzlich genesen, bevor er sich auf einen solch anstrengenden Weg mache. Die Begegnung endete damit, dass der König Baker vorschlug, sie sollten Blutsbrüder werden – ein Angebot, das kein Gast ablehnen durfte. Unter dem Vorwand religiöser Hinderungsgründe konnte der For208
scher dies umgehen und statt seiner einen seiner Leute vorschicken; dieser Mann leckte das Blut aus einem Einschnitt im Unterarm des Herrschers, und der König tat umgekehrt das Gleiche. Baker, fiebergeschüttelt wie seine Frau, war der Verzweiflung nahe. Der See war zu weit entfernt, als dass sie ihn erreichen konnten, das Chinin war ihnen ausgegangen, und die Leute begannen ihnen davonzulaufen. Plötzlich und unerwartet wandten sich jedoch die Dinge zum Besseren. Ein freundlicher Angehöriger von Kamrasis Königshof flüsterte Baker ins Ohr, dass der See Luta Nzige in Wirklichkeit ganz in der Nähe sei, nur etwa zehn Tagesmärsche entfernt. Der König, dem klar geworden war, dass er seine Gäste restlos ausgequetscht hatte, und der bereits mit Kostbarkeiten wie einem Säbel und einer Flinte beschenkt worden war, entschloss sich, die Bakers ziehen zu lassen. Doch in der letzten Minute konnte er sich einer letzten, ganz besonderen Willkür nicht enthalten. Da sie doch bereits Blutsbrüder seien, sagte Kamrasi, könnten sie genauso gut Frauen tauschen. Ob Baker denn nicht eine hübsche, junge schwarze Frau, frisch und unschuldig, seiner weißen Frau, die doch, ehrlich gesagt, schon etwas schlaff und abgenützt aussehe, vorziehen würde? Baker wurde blass vor Wut, zog seine Pistole, zielte auf das Haupt des »unverschämten Monarchen« und drohte, ihm eine Kugel durch den Kopf zu jagen, falls er es wagte, diesen Vorschlag zu wiederholen. Gleichzeitig ließ Florence Baker heftigste Beschimpfungen in makellosem Arabisch 209
los, eine Flut von Beleidigungen und Kränkungen, die ihre eifrige schwarze Dienerin unverzüglich in Unjoro übersetzte. Der erschrockene und beschimpfte König entgegnete, dass es keinen Grund gebe, so verärgert zu sein. Er habe doch nur beabsichtigt, seine Gäste durch ein traditionelles Angebot zu ehren, wie es hierzulande dem guten Ton entspräche. Das empfindliche Paar, das immer noch vor Entrüstung schäumte, erhielt schließlich die Erlaubnis abzureisen. Bald fand es sich in einem grenzenlosen Labyrinth fauliger Sümpfe, in dem man nur noch zu Fuß weiterkommen konnte. Baker stieg von seinem Ochsen ab und platschte bis zur Hüfte im Wasser voran. Kurz darauf sah er voller Schrecken, wie seine geliebte Frau bewusstlos wurde und in den Schlamm sank. Sie hatte einen Sonnenstich bekommen. Sie war eine Woche lang verwirrt und musste unter gnadenlosen Regengüssen auf einer Bahre aus geflochtenen Zweigen getragen werden. Ihr Ehemann, der nur noch von der Verzweiflung vorangetrieben wurde, brach nach Tagen voller Sorgen, Fieber und Regen schließlich zusammen. Viele Stunden nach seinem Nervenzusammenbruch, als er das Bewusstsein wiedererlangte, hatte seine Florence ihre Krise überstanden und vermochte ihn wieder zu erkennen. Am Morgen des 14. März wurden sie für diesen erschöpfenden Marsch belohnt, als sie schließlich das Wasser des Sees erblickten, der ihnen wie »ein Meer aus Quecksilber« erschien. Baker tauchte hinein – eigentlich 210
fiel er hinein, so erschöpft war er – und trank hastig große Schlucke »aus der Quelle des Nils«, ganz schwindelig bei dem Gedanken, dass »keines Europäers Fuß je diesen Strand betreten hatte«. Der Luta Nzige wurde nach Prince Albert benannt, dem kürzlich verstorbenen Prinzgemahl der Queen Victoria. Aber er war nicht »der große Wasserspeicher des Nils«, wie Baker den See beharrlich nannte. Er war nicht mehr als ein kleineres Gewässer in einem weiten Becken. Sie fuhren in einem Kanu am nordöstlichen Ufer entlang, überlebten einen gewaltigen Sturm wie durch ein Wunder, und nachdem sie 13 Tage gerudert waren, erreichten sie das Dorf Magungu. Dort fanden sie die Stelle, wo der Fluss in den See eintritt. Sie ruderten flussaufwärts, bis sie zu einem eindrucksvollen Wasserfall gelangten, den sie Murchison-Fälle nannten. Hier geriet ihr Leben abermals in Gefahr, als ein wütendes Nilpferd ihr Boot zum Kentern brachte und sie in das von Krokodilen wimmelnde Wasser warf. Glücklicherweise war die vom Wasserfall verursachte reißende Strömung so stark, dass sie sie buchstäblich ans Ufer warf. Zwei Monate später kehrten sie – erschöpft, aber glücklich – in die bäuerliche Hauptstadt von Unjoro zurück, wo sie eine Überraschung erwartete: Der Kamrasi, der ein begehrliches Auge auf Mrs. Baker geworfen hatte, war überhaupt nicht Kamrasi, sondern sein Bruder M’Gambi; der echte Kamrasi hatte seinen Bruder vorgeschickt, der sich als König ausgeben sollte, weil er selbst sich vor dem Zauber und dem Bann jener weißen Zauberer zu Tode 211
fürchtete, vor allem vor jener weißen Frau mit langem, gelbem Haar, die alle Merkmale einer mächtigen Hexe hatte. Jetzt aber, nachdem er sich zu seiner Beruhigung davon überzeugt hatte, dass das Paar nicht gefährlich war, nahm er wieder seinen rechtmäßigen Platz ein. Baker, der über die »niederträchtige Komödie« verärgert war, gab sich gekränkt. Er ließ sich erst eine Zeit lang von dem Monarchen bitten, ehe er bereit war, sich mit ihm zu treffen. Als Rache erschien er in »der Tracht eines schottischen Gebirglers von Atholl, was die Bewunderung der Menge hervorrief«. Er saß gleichberechtigt auf einer Bank, die genau der von Kamrasi glich, »eine Bronzestatue mit düsterem Blick«, vor dem all die Untertanen im Staub krochen. Die Bakers blieben weitere sechs Monate in Unjoro und versuchten, wieder zu Gesundheit und Kräften zu kommen. Sie retteten das Königreich sogar vor dem Überfall einer Bande von 150 Sklavenjägern, die den weiten Weg von Khartoum hierher gekommen waren (während der »schwächliche« und »feige« Kamrasi in blankem Entsetzen floh). Baker hatte über seiner Hütte den Union Jack gehisst, und als der Anführer der Sklavenjäger bei ihm erschien, erklärte Baker, dass Unjoro unter britischem Schutz stehe. Baker würde dafür sorgen, dass die Sklavenjäger für jede feindselige Handlung durch Erhängen bestraft würden. Die Räuber zogen sich widerstandslos zurück. Kamrasi bat den Forscher, ihm den mächtigen Talisman aus Tuch zu überlassen, aber Baker entgegnete, dass die Flagge »nur in den 212
Händen von jemandem wirke, der sie zu verteidigen wisse«. Am Ende entschloss sich ein viel furchteinflößenderer Feind, König M’tesa von Uganda, dem unglückseligen Kamrasi den Krieg zu erklären. Als Kamrasi nach Norden floh, nahm er die Weißen mit und verließ sie in der Nähe der Karuma-Fälle. Es gelang ihnen, eine Nachricht an eine Karawane von Elfenbeinjägern zu schicken, der sie auf der Reise nach Süden begegnet waren und die immer noch in der Gegend unterwegs war. Mit der Kolonne der Elfenbeinjäger brachen sie heimwärts nach Norden auf. Aber sogar auf diesem letzten Abschnitt entrannen sie dem Tod nur um Haaresbreite, als die Karawane von einem Bari-Stamm angegriffen wurde. Viele der Jäger starben im Pfeilhagel. Im Februar 1865 zogen sie schließlich triumphierend in Gondokoro ein, nachdem sie zwei Jahre lang unterwegs gewesen waren. Rittlings saßen sie auf Ochsen, die in einer Art Galopp dahergestolpert kamen, hinter ihnen wehte der Union Jack im Wind, und überall waren feierliche Kanonenschüsse und Freudenrufe zu hören. Aber selbst da war ihre Odyssee noch nicht zu Ende. Das Schiff, das sie nach Norden brachte, den Weißen Nil hinab, geriet in eine Flaute und saß, als der Wind sich legte, in den Sümpfen von Sudd fest. Der Sudd war eine schreckliche Ausdehnung von Dreck, eine gottverlassene Wüste endloser Schilfrohrdickichte, wo der große Fluss all den Unrat auftürmte, den er in unentwirrbarem Durcheinander von den Bergen herab mitgebracht 213
hatte, bis all dies schließlich verrottete, wobei es tödlichen Gestank ausströmte. Hier starben viele der Männer, die die Bakers während der ganzen langen Reise treu begleitet hatten, praktisch in Sichtweite ihrer Heimat am Fieber. Im Oktober 1865 konnte Baker zu guter Letzt in Port Suez einen Krug Allsopp-Bier hinunterkippen – eine Wunschvorstellung, die ihn vier lange Jahre hindurch gequält hatte.
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Die Menschenfresser
Im verderbten Khartoum und trägen Sansibar machten Furcht erregende Geschichten die Runde. Sie bezogen sich auf unbekannte, undurchdringliche Dschungel, die sich wie eine Decke grünen Schattens, die nicht einmal von den Sonnenstrahlen durchdrungen werden konnte, meilenweit westlich der großen Seen Afrikas erstreckten. In diesen Wäldern waren selbst die Bäume bösartig. Man musste durch die verworrenen Lianenranken Tunnel schneiden, um überhaupt irgendwohin zu gelangen. Die Luft war so voller Feuchtigkeit, dass man wie in kräftigem Regen ging. Die Pflanzen bildeten Barrieren, die von Geistern errichtet waren – und von noch schlimmeren Wesen als Geistern: halb Menschen, halb Hunde, mit gewaltigen Stoßzähnen und mit fächerartigen Schwänzen, die Menschenfett als Würze verwendeten und sich nicht nur von ihren Gefangenen ernährten, sondern auch von ihren eigenen Verwandten, vor allem wenn diese Verwandten alt oder unpässlich waren (nichts ließ man in diesem Land der scharfen Zähne verkommen). Andere Schwarzafrikaner – die oft ihren Überfällen zum Opfer fielen und in ihren Kochkesseln endeten – nannten sie Niam-Niams, mit einem lautmalerischen 215
Namen, der das Geräusch schmatzender, kauender Kiefer wiedergeben sollte. Im November 1863 drang ein Weißer in das Gebiet der Niam-Niams ein, ohne sich von ihrem fürchterlichen Ruf abschrecken zu lassen. Er war 36 Jahre alt, Italiener und hieß Carlo Piaggia; er war kein ehrgeiziger Forschungsreisender, sondern nur ein armer Emigrant, der nach Afrika gekommen war, um hier sein Glück zu suchen. In Tunis, Kairo und an verschiedenen Orten dazwischen war er solch einfachen Tätigkeiten wie Gartenarbeit, Hutmachen, Buchbinden und Malen nachgegangen; dann tauchte er im Sudan auf, wo sein treffsicherer Umgang mit dem Gewehr es ihm ermöglichte, seltene Exemplare der hiesigen Tierwelt für zoologische Museen und für Sammler zu beschaffen. Oft litt er Hunger; er war so mager, dass er sich rühmen konnte, kein anderer Weißer habe je so wenig Schatten auf den Boden des Schwarzen Kontinents geworfen. Er kam zusammen mit einer großen Karawane von Elfenbeinhändlern aus Khartoum nach Zande – das war der Eingeborenenname für das Gebiet. Die Karawane sollte ihn hier zurücklassen, weiter nach Süden ziehen und ihn dann etwa ein Jahr später auf dem Rückweg wieder mitnehmen. In der Zwischenzeit würde der Jäger in diesem unverdorbenen Kannibalengebiet ohne Konkurrenz ein ganzes Lager an Jagdbeute aufgehäuft haben. Tombo, der Häuptling des Stammes, bei dem zu bleiben sich Piaggia entschieden hatte, hieß ihn gastfreundlich willkommen, wobei ihn die großzügigen 216
Geschenke des Europäers, Kupferringe und farbige Perlen, hinlänglich milde stimmten, dazu vielleicht auch die noch nie da gewesenen Kräfte dieses dürren Besuchers, der Tiere aus der Ferne töten konnte und der in seiner Tasche Feuer bei sich trug (in Gestalt einer Zündholzschachtel). Wohin auch immer er ging, von Dorf zu Dorf, wurde der weiße Mann geehrt, ja fast verehrt und keineswegs als Abendessen betrachtet. Schwangere Frauen folgten jedem seiner Schritte und starrten ihn durchdringend an in der Hoffnung, einen Sohn so weiß wie er zu gebären. Eines Tages lud ihn Tombo, der höfliche Kannibalenhäuptling, in seine Hütte zum Essen ein. Piaggia hatte bereits gegessen, aber er konnte kaum ablehnen, ohne den Häuptling zu beleidigen. »Ich nahm ein bisschen Fleisch von einem besonders großen Stück, das uns serviert wurde. Ich konnte nicht feststellen, von welchem Tier das Fleisch stammte. Es war überhaupt nicht faserig, und es war mit Grünzeug garniert. Der Geschmack kam mir ziemlich süß vor, und ich aß nur so viel, wie ich musste, um meinen Verpflichtungen als Gast nachzukommen. Aber weil Tombo darauf bestand, dass ich mehr essen sollte, sah ich mich gezwungen, noch einen Mund voll zu nehmen. Abermals fiel mir der besondere Geschmack auf, angenehm und leicht süßlich.« Piaggia dankte seinem Gastgeber und zog sich zurück, dann ging er in den Dschungel auf Jagd. Er war eine halbe Stunde lang gegangen, als er auf eine Gruppe 217
von Kriegern traf, die regungslos und sich auf ihre Speere stützend um einen Leichnam standen, der von einem Baumast hing. Aus dem Hintern des Leichnams waren große Fleischstücke geschnitten worden. »Tombo ertappte diesen Mann genau hier mit einer seiner Frauen«, erklärten die Krieger. »Er tötete ihn mit seinem Speer, hängte ihn auf und ließ ihn so zurück.« Ein plötzlicher, grauenhafter Gedankenblitz durchzuckte Piaggia. Er eilte zu Tombos Hütte, schrie ihn an und fragte ihn voll Zorn, warum er ihn überlistet habe, Fleisch von einem seiner Leute zu essen. Der Häuptling spielte auf einer Flöte und beendete sein kleines Konzert ohne jede Eile, um dann zu antworten: »Meine Leute sind deine Leute; wenn du ihnen nicht zeigst, dass du sie isst, wenn sie Böses getan haben, werden sie deine Frauen nicht achten. So handeln alle großen Männer.« Der Jäger blieb noch 18 Monate lang bei Tombos Stamm, und sein Aufenthalt wurde durch keine weiteren kulinarischen Vorfälle beeinträchtigt. Als Piaggia Abschied nahm, ließ er liebevolle Erinnerungen und seine langen Locken zurück. Die Frauen nahmen sich sein abgeschnittenes Haar und schmückten mit kleinen Büscheln davon ihre Grasgürtel. Fünf Jahre später erhielten die Menschenfleischesser einen zweiten Besuch von einem europäischen Reisenden, Georg Schweinfurth. Er war Deutscher aus dem Baltikum, russischer Untertan, geboren 1836 in Riga. Als Pflanzenkundler hatte er bereits im Sudan und in Äthiopien »botanisiert«. 1868 war er dann den Weißen 218
Nil entlang in der unvermeidlichen Begleitung der Elfenbeinhändler gereist, die durch die entlegensten Gegenden Zentralafrikas zogen; dass diese offiziell als unerforscht galten, nur weil noch nie ein Weißer seinen Fuß hierher gesetzt hatte, war ihnen ziemlich gleichgültig. Der Wissenschaftler reiste zuerst durch das Gebiet der Shilluk, deren Haar, das sie von Kindheit an mit rohem Kautschuk einzuschmieren pflegten, dem Kamm des Perlhuhns glich. Dann reiste er durch das Gebiet der eindrucksvollen bronzefarbenen Dinkas, die ihre Haut mit Asche puderten, ihre Haare wie Korkenzieher drehten und an ihren Armen und Beinen klimpernde Reihen metallener billiger Schmuckstücke trugen und außerordentlich lange Pfeifen im Mund hatten. Schließlich zog er durch das Land der Bongos, die von Sklavenjägern nahezu ausgelöscht waren, durch dichte Wälder riesiger Bambuspflanzen, wo man nur mit Mühe ein paar Zentimeter vorankam. Und zuletzt erschien er im Paradies der Botaniker, dem Land der »Tunnelwälder«, wie Piaggia sie so treffend beschrieben hat. Im Januar 1869 wurde Schweinfurth – wie schon sein italienischer Vorgänger – von den berüchtigten Menschenfressern herzlich willkommen geheißen. Schweinfurth beschrieb sie als eindrucksvolle Krieger mit messerscharf geschliffenen Zähnen, um damit besser beißen zu können, mit zu Spiralen oder Kämmen geformten Haaren, mit Zibetkatzenfellen bekleidet und bewaffnet mit Speeren und Krummsäbeln. Unter ihrem wilden Äußeren scheinen jedoch emp219
findsame Seelen verborgen gewesen zu sein, denn wie Tombo waren sie alle leidenschaftliche Musikliebhaber. Sie brachen in Tränen aus, während sie schier endlosen Harfen- und Mandolinenkonzerten lauschten, die auf den Rodungen zwischen ihren Hütten stattfanden. Die Dächer dieser Hütten waren allerdings mit zahlreichen menschlichen Schädeln geschmückt. In der Nähe waren in reicher Auswahl Fleischstücke auf Holzgestellen ausgelegt, um zart zu werden: Arme, Beine und andere anatomische Teile. Der baltische Entdecker und Botaniker fühlte sich jedoch von diesen Leichenregalen überhaupt nicht erschreckt, sondern er freute sich über die Musik der zahllosen umherziehenden Sänger, und so setzte er seinen Weg Richtung Äquator fort, verließ das Land der Niam-Niams und betrat das Gebiet der Mombuttu, die auch im Ruf standen, Kannibalen zu sein. Ihr König Munza erwartete die Ankunft der Expedition voller Ungeduld, weil er in den vorhergehenden Jahren bereits einmal von Elfenbeinhändlern besucht worden war und in der Zwischenzeit eine riesige Menge von Elefantenstoßzähnen aufgehäuft hatte, die er unbedingt gegen ganze Stapel Kupferarmreife tauschen wollte. Als Ehrengast wurde Schweinfurth von König Munza in Privataudienz in seinem Palast empfangen, einem riesigen Pavillon von 50 Meter Länge und 15 Meter Höhe. Auf eine Trompetenfanfare folgte zur Begrüßung ein auf einem Elfenbeinhorn gespieltes Solo. Der König schlug mit einem kleinen Strohkorb voller Steine den 220
Takt dazu. »Mit all dem Kupferschmuck an seinen Armen und Beinen, an Hals, Brust und Kopf – Armreife, Ketten, Ringe und Broschen – glitzerte und glänzte er wie ein Hängegestell mit kupfernen Küchengeräten«, erinnerte sich der Baltendeutsche. In Schweinfurths Beschreibungen der Afrikaner floss immer auch Spott ein: »Munza war ein Mann um die vierzig, von guter Statur, schlank, doch kräftig, und er stand gerade und steif da, als hätte er ein Stahlgerippe. Obwohl er schöne Züge besaß, war sein Gesichtsausdruck alles andere als gewinnend: eine Nero-Fratze, abgestumpft und gelangweilt. Um seinen Mund spielte ein Ausdruck, wie ich ihn bei sonst keinem Mombuttu gesehen habe: eine Mischung von Gier, Gewalttätigkeit und kultivierter Grausamkeit.« Diese scharfsinnigen psychologischen Beobachtungen schufen ganz gewiss Grundlagen für die Klischeebilder, die dann in den Vorstellungen der westlichen Welt von Reisenden, die in Schweinfurths Fußstapfen folgten, bestätigt wurden: ein Afrika, das von barbarischen Häuptlingen bewohnt war, die Weckeruhren an Ketten um den Hals hängen hatten. In seinem weiteren Bericht behauptete Schweinfurth sogar, Munza sei von seinen Stiefeln so ungeheuer beeindruckt gewesen, dass er geglaubt habe, sie seien wie die Hufe eines Pferdes Teile von Schweinfurths Beinen. Trotzdem war Schweinfurth äußerst verärgert durch den Umstand, dass der Häuptling die Geschenke des Europäers mit völliger Gleichgültigkeit entgegenge221
nommen hatte: eine Bahn schwarzes Tuch, ein Handfernrohr, eine Silberschüssel, eine Porzellanvase, ein Buch mit Goldprägung. Als Gegengabe für das Buch, das er nicht lesen konnte, das aber nur so von Gold glänzte, zeigte der Herrscher außerordentliche Großzügigkeit (oder einen besonderen Sinn für Humor) und schickte am nächsten Tag eine königliche Gegengabe. Schweinfurth erwachte am frühen Morgen vom Keuchen von etwa 20 riesenhaften muskulösen Trägern, die auf ihren Schultern die vier Wände einer Hütte trugen, während weitere Träger mit dem Dach folgten. Sie errichteten diese Hütte geschwind neben der des Forschers, und die Abgesandten den Königs erklärten, Schweinfurth könne nunmehr seine Schätze von unermesslichem Wert sicher aufbewahren, während sie, wenn er sie im Freien ließe, Schaden nehmen könnten. In den folgenden Wochen bestand Schweinfurths Hauptbeschäftigung darin, seine Doppelresidenz vor der übermächtigen Neugier der Eingeborenen zu schützen, die sich hier in großen Mengen versammelten, um den weißen Besucher zu bewundern. Um sie fernzuhalten, umgab Schweinfurth die beiden Hütten mit einem Zaun aus Dornengeflecht, schüttete Eimer voll Wasser in die Menge, zündete Schwarzpulverbahnen zwischen ihnen und warf laute Feuerwerkskörper mitten unter sie. All diese Bemühungen, die Menge zu zerstreuen, ließen sie nur noch anwachsen. Er wurde für sie zu einer Attraktion wie ein Kasperletheater. Besonders aufgebracht war er, wenn er auf die Suche 222
nach Pflanzen ging, weil dann die Gaffer – zumeist Frauen – ihm dicht auf den Fersen folgten und dabei oft seltene Pflanzenexemplare zertrampelten, die er sammeln wollte. »An die hundert von ihnen zogen hinter mir her; mit jeder Hütte und jedem Dorf, wo ich vorbeikam, nahm das Gedränge zu. Ich war der Verzweiflung nahe.« Wenn er versuchte, frühmorgens hinauszuschleichen und sich in einem Fluss zu waschen, wurde er unweigerlich von »irgendeiner grässlichen Frau, die durch das Blattwerk spähte«, beobachtet. Diese Tortur währte fünf Wochen lang, die ganze Zeit über, die der Forscher im Gebiet der Mombuttu verbrachte. Doch schließlich erlebte Schweinfurth eines Morgens eine angenehme Überraschung: Zwei liliputanische königliche Pagen, zwei Akka-Pygmäen, überbrachten eine Botschaft des Königs. Als er sie erblickte, war seine Freude riesengroß. Er hatte nämlich den König ersucht, ihm ein Exemplar dieser Zwergmenschen zu verkaufen. Jetzt tauschte der König nach ausgiebigem Handeln einen Pygmäen gegen einen Hund ein. Natürlich wählte Schweinfurth den kleineren der beiden, und als er ein paar Tage danach zur Küste aufbrach, nahm er das kleine Geschöpf mit. Der arme Pygmäe war ganz verstört, denn er glaubte, dass er als Nahrungsvorrat für die bevorstehende Reise dienen sollte, und schließlich starb er an Malaria, nachdem sie Ägypten erreicht hatten. Schweinfurth – der so viel zum Mythos von den wilden und mörderischen Afrikanern beigetragen hatte, sich selbst aber ziemlich 223
fühllos und gleichgültig gegenüber dem Geschick seiner Mitmenschen zeigte – hatte den Pygmäen Tikkitikki genannt.
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Die Titelseite
Die Entdeckungen, die von der Speke-GrantExpedition und später von den Bakers im Gebiet der großen Seen gemacht wurden, ließen viele Fragen nach der Quelle des Nils unbeantwortet. 1866 hatte die Royal Geographical Society in der Person des unsterblichen Sir Roderick Murchison die Verantwortung, das letzte Wort über die verzwickte Frage zu sprechen, dem Mann übertragen, der von allen als Fürst der Afrikaforscher angesehen wurde, demjenigen, der als Erster Afrika von einem Ozean zum anderen durchquert, dem Mann, der den Ngamisee und den Njassasee entdeckt hatte, der dem Lauf des Sambesi bis zur Flussmündung gefolgt war: David Livingstone. Livingstone war zu der Zeit 53 Jahre alt und wahrlich der größte damals lebende Forscher. Er war auch – und das vor allem – ein Einzelforscher. Als man ihm nun das Kommando über eine zahlreiche und undisziplinierte Expedition übertragen hatte, erwies es sich, dass er unfähig war und auch kein Interesse hatte, sie zu organisieren und zu leiten. Kurz nachdem die Karawane von der Küste zur Region der Seen im Landesinneren aufgebrochen war, löste sich auch schon der Zusammenhalt, und die Nachhut wurde immer weiter ausei225
nander gezogen. Der Anführer drängte vorwärts, während die Kolonne langsam folgte, den Eingeborenen in arroganter Weise Nahrung und Besitztümer abnahm und das Vieh misshandelte, das massenhaft starb. Livingstone war angewidert vom Verhalten seiner unerzogenen Horde und schickte die meisten zur Küste zurück. Schließlich blieb ihm nur eine Truppe von fünf jungen schwarzen Afrikanern, mit denen er ins Innere, jenseits vom Tanganjikasee, verschwand. Von Sansibar aus, dem Resonanzboden von allem, was in Afrika geschah – und auch von vielem, was nie geschah –, drangen beunruhigende Berichte nach Europa. Einige von Livingstones Eingeborenenträgern versuchten ihr unwürdiges Benehmen und ihre peinliche Rückkehr zur Küste dadurch zu kaschieren, dass sie verkündeten, der Forscher sei ermordet worden. Nachdem aber ihre aufgeregten Berichte von Leuten, die das Innere Afrikas gut kannten, gründlich und kritisch geprüft worden waren, erwiesen sie sich als widersprüchlich und kaum glaubwürdig; dennoch: Es gab keine Nachrichten von Livingstone, und das Schweigen wurde Besorgnis erregend. Man entwarf Pläne für eine Rettungsexpedition. Zum riesigen Ärger der Profis (Ärger, der sich bald in giftigen Angriffen äußerte) war es ein bloßer Dilettant, der Livingstone dann rettete: Der Forscher wurde von einem Journalisten gerettet. Der berühmteste Satz in der Geschichte der Erforschung Afrikas (»Dr. Livingstone, nehme ich an?«) wurde am Morgen des 10. November 1871 in Ujiji, dem arabi226
schen Stützpunkt am Tanganjikasee, ausgesprochen. Der angeblich verschollene Forscher lebte dort dank der Großzügigkeit der höflichen Sklavenhändler einigermaßen wohlbehalten, und zwar schon seit Monaten. Livingstone sandte haarsträubende Geschichten von der Grausamkeit der Sklavenhändler nach Europa; den Sklavenhändlern wiederum gelang es, jene Berichte geduldig abzufangen und sie zu vernichten, bevor sie die Küste erreichen konnten. Als Neuankömmling auf der afrikanischen Bühne spielte der Retter die nächsten zwanzig Jahre eine Hauptrolle auf dieser Bühne. Seine beeindruckende Persönlichkeit warf einen langen Schatten auf seine verschiedenen Rivalen und rief in gleichem Maße Bewunderung wie Abscheu hervor. Sein Pseudonym war Henry Morton Stanley, aber geboren war er 1841 als John Rowlands in Denbigh, Wales. Seine ersten Lebensjahre schienen aus einem Dickens-Roman zu stammen: eine elende Kindheit voller Hunger, Streit, Demütigung; mit 15 Jahren Emigration in die Vereinigten Staaten, wobei er als Schiffsjunge arbeitete, um die Überfahrt zu bezahlen; eine zufällige Begegnung in New Orleans mit einem großzügigen Amerikaner namens Henry Stanley, der beschloss, ihn zu adoptieren. Später kämpfte er noch im amerikanischen Bürgerkrieg, und danach schrieb er seine ersten paar Artikel für den New Yorker Herald, der ihn als Korrespondenten nach Abessinien schickte, mit dem Auftrag, über die englische Expedition gegen König Theodorus II. zu berichten, der etliche weiße 227
Europäer als Geiseln gefangen hielt. 1869 kam der Herausgeber des Herald, James Gordon Bennett, zufällig nach Paris und lud Stanley ein, ihn zu begleiten. Er übertrug ihm eine beträchtliche Reihe von Aufgaben. Er sollte nach Ägypten reisen, um der Eröffnung des Suezkanals beizuwohnen, dann sollte er nilaufwärts fahren und alles und jedes beschreiben, was für amerikanische Touristen interessant sein könnte. Danach ging er nach Jerusalem, Konstantinopel, auf die Krim und in den Kaukasus, weiter nach Persien und schließlich Indien, und die ganze Zeit sandte er Berichte. Als er Bombay erreicht hatte, erfuhr er, er solle mit dem Schiff nach Sansibar fahren, von wo aus er ins Landesinnere nach Zentralafrika marschieren und Livingstone finden sollte, falls dieser noch am Leben wäre; ansonsten solle er den Beweis für Livingstones Tod finden. Als Stanley schließlich im Januar 1871, nachdem er jeden anderen Ort auf der Liste, die ihm von James Gordon Bennett gegeben worden war, abgeklappert hatte, nach Sansibar kam, suchte er Dr. Kirk auf, der Livingstone auf seiner Forschungsreise zum Sambesi begleitet hatte. Kirk erzählte Stanley, dass die letzten Berichte Livingstones aus Ujiji gekommen seien, aber das läge schon einige Zeit zurück. Seitdem wären überhaupt keine Nachrichten mehr eingetroffen. Stanley hegte keine große Hoffnung, Livingstone zu finden, aber er hatte genug Geld (vom Herald zur Verfügung gestellt) und heuerte eine Karawane einheimischer Träger an, von denen viele schon an der Speke228
Henry Morton Stanley in seinen ruhigeren späteren Jahren. – Stapleton Collection, UK, und Bridgeman Art Library 229
Expedition teilgenommen hatten. Er brach sofort auf, in der Hoffnung, nicht auf halbem Weg von der Regenzeit eingeholt zu werden. Er war gezwungen, einen großen Umweg zu machen, weil ein Eingeborenenhäuptling, Mirambo, gegen die arabischen Sklavenhändler heftig Krieg führte und die ganze Region im Chaos versank. Er brauchte acht Monate, um den Tanganjikasee zu erreichen. Er hatte die zwei weißen Männer, die mit ihm aufgebrochen waren, verloren, die englischen Seeleute Furquhar und Shaw, die beide vom Tropenfieber dahingerafft wurden. Unterwegs hatte er immer mehr überzeugende Hinweise und immer nachhaltigere Gerüchte über die Anwesenheit eines »weißen Mannes mit einem langen Bart« in Ujiji gesammelt. Was am wichtigsten war: Er hatte seine eigene Berufung als Kommandeur entdeckt, der fähig war, alle Hindernisse zu überwinden – vielleicht sollte man sagen, sie zu überwältigen. Schließlich hatte er sein Ziel erreicht und die Nadel im Heuhaufen gefunden, einen einzelnen verschwundenen weißen Mann in der Weite des afrikanischen Kontinents. Der Mann mit dem langen Bart in Ujiji war kein anderer als Livingstone. Zwischen dem jungen Journalisten und dem fast 30 Jahre älteren Forscher entstand eine sofortige Freundschaft. Stanley empfand für Livingstone fast den Respekt und die Liebe eines Sohnes. Mit verbesserter Fürsorge und Nahrung gewann Livingstone seine Gesundheit wieder. Er wollte unbedingt seine Forschungstätigkeit wieder aufnehmen; Livingstone glaubte immer noch, 230
dass der Tanganjikasee Teil des Nilbeckens wäre. Die beiden Männer brachen zusammen auf und umsegelten den nördlichen Teil des Sees, wobei sie entdeckten, dass Livingstone Unrecht hatte. Der Tanganjikasee hatte nichts mit dem Nil zu tun. An diesem Punkt beschloss Stanley, zurück zur Küste zu reisen, aber trotz der Bitten des jüngeren Mannes weigerte Livingstone sich, ihn zu begleiten. Er sagte, seine Mission sei es, die begonnene Aufgabe zu Ende zu führen, und er war entschlossen, die Region westlich des Tanganjikasees zu erforschen. Die beiden Männer trennten sich in Tabora, wo Livingstone blieb, um auf Vorräte zu warten. Stanley eilte gen Osten nach Sansibar – er erreichte die Insel in nur 54 Tagen – und brachte seine sensationelle Titelstory mit: Die Entdeckung des verschwundenen Forschers, zusammen mit Livingstones unschätzbaren Tagebüchern und einem Artikel, den er exklusiv für den Herald geschrieben hatte. In Bagamoyo an der Küste kreuzte sich sein Weg mit einer Rettungsexpedition, die die Royal Geographical Society organisiert hatte. Ein Mitglied der Expedition war einer von Livingstones Söhnen, Oswell Livingstone. Als er erfuhr, dass sein Vater noch lebte und dass er zu spät dran war, um ihn zu retten, machte er einfach kehrt und fuhr nach England zurück. Der Triumph Stanleys als Journalist – sein Buch Wie ich Livingstone fand wurde in alle wichtigen Sprachen Europas übersetzt und stieg sofort zum Bestseller auf – wurde durch den Neid derer überschattet, die er ge231
schlagen hatte. Rivalisierende Zeitungen deuteten an, Stanley sei ein Schwindler und habe alles nur erfunden. Altgediente Afrikaforscher waren äußerst empört über die Heldentat jenes bisher unbekannten, aber mit einer glücklichen Hand versehenen reisenden Korrespondenten. Nicht nur, dass er seinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben verdiente – er hatte sogar seine britische Staatsbürgerschaft aufgegeben, um Amerikaner zu werden! Genau betrachtet waren die Angriffe auf Stanley Ausdruck eines nationalen Schuldgefühls: England schämte sich in der Tat dafür, jahrelang seinen größten Forscher ignoriert zu haben, der inmitten einer Menge tragischer Gerüchte verschwunden war und dann von einer amerikanischen Zeitung anstatt von einer nationalen Expedition gerettet wurde. Livingstone war sich dieser komplizierten Wendungen nicht bewusst und wartete in Tabora geduldig auf die Vorräte, die man ihm versprochen hatte. Als sie fünf Monate später ankamen, brach er sofort in hektischer Eile auf: Er war 59 Jahre alt; sein Körper war von den Krankheiten, die er sich in Afrika zugezogen hatte, und den Mühen, die er auf sich genommen hatte, geplagt; vielleicht spürte er, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, und er war entschlossen, das Geheimnis der wahren Quelle des Nils zu lösen, bevor er dieses Leben verlassen musste. Er starb zehn Monate, nachdem er Tabora verlassen hatte, am 1. Mai 1873, in einem Dorf unweit des 232
Bangweolosees, des Sees, den er vier Jahre zuvor entdeckt hatte. Sein Leichnam wurde von zwei loyalen Eingeborenen, Susi und Chima, auf einer Bahre zur Küste getragen. Sie brauchten fast zehn Monate, um die 1000 Meilen zurückzulegen. Livingstone wurde am 18. April 1874, fast ein Jahr nach seinem Tod, mit offiziellem Glanz und Gloria in der Westminster Abbey bestattet. Inzwischen war Stanley als Kriegskorrespondent mit der britischen Expedition gegen die Aschanti gereist, im heutigen Ghana (zwischen 5 und 10 Grad nördlicher Breite). Als er von Livingstones Tod erfuhr, beschloss er, das Lebenswerk des Forschers zu vollenden. Sein enormer Bekanntheitsgrad erleichterte es ihm, die benötigten Geldmittel von zwei Zeitungen zu erhalten: seinem eigenen New Yorker Herald und der englischen Zeitung The Daily Telegraph. Am 21. September 1874 erreichte er Sansibar und begann, die größte Karawane zu organisieren, die der Schwarze Kontinent je gesehen hatte. Die Kolonne, die in fast militärischer Präzision aufgebaut war, hatte eine Länge von mehr als 800 Metern. Es gab vier weiße Männer: Neben Stanley waren es Frederick Barker und zwei Brüder, Edward und Frank Pocock, die wegen ihrer Entschlossenheit und Disziplin ausgewählt worden waren. Es gab 356 schwarze Afrikaner einschließlich der Träger und Soldaten. Große, kräftige Männer trugen jeder einen Stoffballen von 60 Pfund. Kleinere Männer trugen Säcke mit Perlen, die 50 Pfund wogen. Junge 233
Männer trugen Munitionskisten oder Nahrungsvorräte von 45 Pfund. Ältere oder vertrauenswürdigere Träger trugen kostbare, zerbrechliche Instrumente, zum Beispiel Thermometer, Barometer und Kameras. Den Trägern, die wegen ihres weichen, regelmäßigen Ganges bekannt waren, vertraute man die drei Chronometer an, in Baumwolle gepackt und in einer Kiste verschlossen, die nicht mehr als 25 Pfund wog. Zwölf eingeborene Führer, herrlich ausgestattet mit scharlachroten Umhängen, die ihren Rang bezeugten, überwachten die Kolonne. Am Ende der Prozession waren zwei Dutzend phantastisch starke Männer, die ein zwölf Meter langes, hölzernes Boot trugen, die Lady Alice, die in sechs Teile zerlegt war, wobei jeder Teil von vier Männern getragen wurde. Jeder dieser Bootsträger erhielt mehr Lohn und doppelte Nahrungsrationen, und sie erfreuten sich des Privilegs, ihre Ehefrauen mitnehmen zu dürfen. Und so gab es auch 36 Frauen, die Küchenutensilien trugen, und sechs Kinder. Andere Kinder wurden im Laufe der langen Reise geboren. Das Ziel der Expedition war der Victoriasee. Um den See zu erreichen, musste die Kolonne jedoch durch ein Land marschieren, das von Unruhen zerrissen war und in dem das Tropenfieber wütete. Am 17. Januar 1875, genau zwei Monate nach dem Abmarsch von Bagamoyo, holte sich das Fieber sein erstes weißes Opfer: Edward Pocock. Einige Tage später traf Stanley nach der Ankunft in Ituri zum ersten Mal auf feindliche Eingeborene und 234
beschloss, sich den Weg gewaltsam freizukämpfen, was drei Tage dauerte und 53 Männern das Leben kostete. Das war der erste in einer langen Reihe von Kämpfen, die sich immer wieder auf Stanleys Forschungsreisen ereigneten und unfehlbar in geplünderten und niedergebrannten Dörfern endeten. Das war auch einer der unbestrittenen Vorwürfe, die von Stanleys Kritikern erhoben wurden: Er war arrogant und ungeduldig, er schreckte vor nichts zurück, um seine Ziele zu erreichen, und nur zu oft beendete er die entnervenden Verzögerungen durch stammespolitische Diplomatie mit Gewalt, wobei er sich wenig um das Leben seiner Gegner und nur wenig mehr um das Leben seiner eigenen Männer kümmerte. Er war gleichgültig gegenüber den weniger unmittelbar sichtbaren Auswirkungen: Viele, die später durch die Gegenden reisten, die er als Erster erforscht hatte, spürten die Folgen seiner Aggression gegen die Eingeborenen, wenn sie sich nicht sofort seinen Forderungen beugten. Er besaß die Mentalität eines spanischen Eroberers des 16. Jahrhunderts. Stanley trat bestimmt nicht in die Fußstapfen seines Idols Livingstone, der heil durch halb Afrika gewandert war und mit seiner sanften Entschlossenheit die Herzen der Schwarzen und Araber gewonnen hatte. Am 26. Februar erreichten die Überlebenden das Ufer des Victoriasees. Sie wurden vom lokalen Häuptling, Kaduma, freundlich empfangen, einem gewaltigen Trinker von schaumigem Bier, das ihm von einem 15jährigen schwarzen Ganymed in seinem Lieblingskelch 235
serviert wurde, einem ausgehöhlten Kürbis, der ein Quart fasste. Kaduma war es gewöhnt, zwei oder drei Stunden des Trinkens mit der gleichen Zeitspanne Schlaf abwechseln zu lassen. Stanley musste seinen ganzen mageren Geduldsvorrat einsetzen, um aus den kurzen Intervallen, in denen der Häuptling nüchtern war, irgendeinen Vorteil zu ziehen. Schließlich erhielt Stanley ein Stück Land zugewiesen, wo er sein Lager aufschlagen konnte, auch wurde ihm die Kooperation des Häuptlings bei dem beängstigenden Projekt, den ganzen See zu umsegeln, zugesagt. Als die Lady Alice zusammengebaut war, machte sich der Forscher mit einer Mannschaft von elf schwarzen Seeleuten auf den Weg, die alle gegen ihren Widerstand zum Dienst gezwungen worden waren: Sie scheuten, den Zorn des Gottes des Großen Wassers heraufzubeschwören. Und dieser Zorn zeigte sich während der folgenden Wochen des Navigierens in vollem Umfang: heftige Stürme, Linien von feindlichen Kriegern am Seeufer, die ein Anlegen verhinderten, Kanuladungen von Seepiraten, die die seltsame Flotte zu umzingeln versuchten, und ältere Fischer, die schadenfroh darüber kicherten, wie die ungeübten Seeleute nur mühsam vorwärts kamen. Arme Götter Afrikas! Sie konnten das gnadenlose Vorwärtskommen Stanleys (und seiner Gewehre) nicht verhindern. Schließlich beschlossen die Götter Afrikas, sich dem mächtigen weißen Zauberer und Eindringling anzuschließen, und auf ihre Fürsprache ist vielleicht teilweise zurückzuführen, dass ihm in der Hafenstadt Usa236
vara ein triumphaler Empfang bereitet wurde: Trommelwirbel, flatternde bunte Bänder, Salven von Gewehrfeuer und Begrüßungsrufe einer Menge, die hübsch in rote, weiße und schwarze Kleider gewandet war. Stanley, der Kolumbus des Victoriasees, hatte das weite, reiche und mächtige Reich von Uganda betreten. In dem Moment, als der Forscher seinen Fuß auf ugandischen Boden setzte, kniete ein Bote des Königs vor ihm nieder und überbrachte die Einladung zum Empfang bei Hofe, sobald er sich ausgeruht und gestärkt habe. Während der Bote sprach, zeigte er mit einer ausladenden Geste auf das üppige Willkommensgeschenk, das der König dem Forscher geschickt hatte. Am Ufer aufgereiht standen 14 gemästete Rinder, 8 Ziegen, 8 Böcke, 100 Bananenbüschel, 3 Dutzend Hühner, 4 Krüge voll Milch, 4 Scheffel Süßkartoffeln, 500 Maiskolben, ein Korb mit Reis, 20 frische Eier und 10 Karaffen mit Palmwein. Nachdem Stanley und seine Männer dank der Großzügigkeit des Herrschers gut gegessen hatten, wuschen sie sich, zogen sich um, bemühten sich, ihre zerschlissene Kleidung zu bürsten und zu scheuern, und folgten dann zwei Pagen, die sie einen Berg zur Residenz des Kabaka hinaufführten, des Monarchen, des höchsten Herrschers, des Königs von Uganda: M’tesa. Nachdem sie durch ein Dutzend weitläufiger Höfe gegangen waren – in jedem wurden die Gäste mit überwältigendem Lärm und Dröhnen von Musikin237
strumenten begrüßt, jedes seltsamer und lauter als das vorige –, wurden Stanley und seine Männer an der Türschwelle der Audienzhalle vom König persönlich empfangen. M’tesa schüttelte herzlich Stanleys Hand und führte ihn durch zwei Reihen von Höflingen zu dem Stuhl, der für den europäischen Forscher reserviert war. Die große Halle wurde durch Reihen hölzerner Säulen in drei Schiffe geteilt. Vor jeder Säule stand ein königlicher Wächter steif in Habachtstellung und in eine einwandfreie Uniform gekleidet: roter Umhang, schwarzes Hemd, weiße Hose mit einem roten Streifen, weißer Turban, geschmückt mit einem Schimpansenfell. Alle Wächter waren mit einem Gewehr bewaffnet. Seit der Zeit Spekes hatte die Zivilisation in Uganda große Fortschritte gemacht. M’tesa saß auf seinem Thron – »einem hölzernen Bürostuhl« – und lud seinen weißen Gast ein, zu seiner Rechten auf einem Eisenhocker zu sitzen, während die einzelnen Würdenträger des Hofes auf Strohmatten saßen. Die nackten Füße des Herrschers ruhten auf einem weißen Kissen, das auf einem Leopardenfell lag, das wiederum auf einem Teppich aus Smyrna lag; vor dem König stand ein Elefantenstoßzahn, der auf Seidenglanz poliert war; hinter ihm waren ein Eisenspeer und ein Kupferspeer, Insignien des ugandischen Königshauses, gehalten von zwei Wächtern. Zwei bestickte türkische Pantoffeln warteten auf die königlichen Füße. Der König trug über seiner weißen ugandischen Robe einen außerordentlich eleganten Kaftan, und auf seinem rasierten Kopf thronte ein roter Fes. 238
M’tesa war etwa 30 Jahre alt. Die überraschende Wandlung des eingebildeten, oberflächlichen und blutrünstigen Tyrannen, den Speke beschrieben hatte, zu einem »Fürsten, der Sympathien Europas würdig«, wie er von Stanley dargestellt wurde, war das Werk eines muslimischen Predigers gewesen, Muley bin Salim, der die Gebräuche an M’tesas Hof im Laufe der letzten paar Jahre verbessert und arabisiert und ihn so »auf gleiche Ebene mit den Höfen von Sansibar oder Oman« gestellt hatte. Beeindruckt von der Schnelligkeit, mit der die Zivilisation fortgeschritten war, wollte Stanley sofort den Prozess vorantreiben, indem er dem Herrscher und seinen Untertanen »die Lehren des Jesus von Nazareth« vermittelte. In der Zwischenzeit ruhte sich der Forscher aus und genoss die Annehmlichkeiten des höfischen Lebens. Die 200 Schönheiten, die den königlichen Harem bildeten, wurden ihm präsentiert, es gab eine Prozession von Kriegskanus, eine Krokodiljagd, einen Empfang von Botschaftern aus nahen und fernen Reichen, darunter – welche Überraschung! – ein weißer Mann, der Franzose Linant de Bellefonds, der aus Karthoum gekommen war, um eine Allianz zwischen Ägypten und Uganda vorzuschlagen; als gastronomische Geschenke hatte er Gänseleberpastete, Würstchen und Sardinen mitgebracht. Stanleys Mission bestand jedoch darin, seine Umsegelung des Sees fortzuführen und zu seinen Männern am anderen Ende des riesigen Gewässers zurückzukeh239
ren. Er bat M’tesa um eine Eskorte von Einbäumen und um Vorräte, und der umgängliche Herrscher sicherte ihm die Erfüllung seiner Wünsche zu. Aber sobald der Admiral der ugandischen Marine, Magassa, mit seinen Untergebenen außerhalb der Reichweite des Hofes war, lieferte er weder Vorräte noch Eskorte, und die Rückkehr zum Basislager von Stanley und seiner Mannschaft geriet zu einer neuerlichen Odyssee mit ständigem Hunger und Angriffen von Eingeborenen, die nur durch die zielgenauen Gewehrschüsse des Kommandeurs in Schach gehalten werden konnten. Und als sie das Lager erreichten, warteten nur schlechte Nachrichten auf sie: Barker war an Typhus gestorben, und die örtlichen Eingeborenenhäuptlinge hatten sich verschworen, das Lager auszulöschen. Stanleys Rückkehr kam gerade recht: Sowohl durch Bitten als auch durch Drohen brachte er Lukundje, den König von Ukerewe, dazu, ihm 50 Einbäume zu geben, mit denen er alle seine Männer nach Uganda transportieren konnte. In der Zwischenzeit hatte M’tesa dem benachbarten Häuptling Uvuma den Krieg erklärt; damit wurde es für Stanley unmöglich, den Albertsee zu erreichen, wie er gehofft hatte. Mit gewohnter Energie beschloss Stanley, das Hindernis zu umgehen, indem er M’tesa half, seine Feinde zu besiegen. Es war nicht so leicht, wie Stanley erwartet hatte: Uvumas Leute waren echte Amphibien und teuflisch geschickt im Seekampf. Die ugandische Kriegsflotte dagegen war mit Landratten bemannt. Sie waren ihren Feinden zahlenmäßig überlegen, aber sie 240
konnten nicht schwimmen und manövrierten bestenfalls ungeschickt. Sie erlitten zahlreiche Niederlagen. Stanley dachte über die großen Zahlen bei der königlichen Armee nach – 150000 Männer, im Gefolge 100000 Frauen und Kinder – und hatte eine Idee, die eines persischen Satrapen würdig gewesen wäre: Wenn jeder dieser wimmelnden Untertanen mehrere Tage lang Steine in den See werfen würde, wäre der Kanal zwischen dem Seeufer und der Insel Inghira, Uvumas Hauptzitadelle, bald aufgefüllt, und die Ugander könnten bequem auf der Insel einfallen, ohne sich die Füße nass zu machen. Mit dem Unternehmen wurde, unter Singen und Tanzen, gleich begonnen, es dauerte aber länger als erwartet. Der Kanal war nur zur Hälfte gefüllt, als der Herrscher die Geduld verlor und erneute Seekämpfe befahl, die trotz der unermüdlichen Mühe des Hofzauberers wieder in vernichtenden Seeniederlagen endeten. Es sah schlecht aus, aber Stanley hatte eine weitere geniale Idee. Er ordnete an, drei große Kriegskanus, jedes mehr als 20 Meter lang, zu einer großen Plattform zusammenzubinden. Auf dieser Plattform ließ er eine kleine Festung aus Zuckerrohr bauen. In der Festung war Platz für mehr als 150 Scharfschützen. Es war mehr als eine schwimmende Barrikade und weniger als ein modernes Kriegsschiff. Die Plattform wurde, geschmückt mit bunten Bändern, zu Wasser gelassen; gekrönt mit der amerikanischen Flagge und vor Gewehrläufen strotzend, kam die Plattform kurz vor der uneinnehmbaren Insel majestätisch und gefährlich in Sicht. 241
Von diesem Kriegsschiff, wie es noch nie eines gegeben hatte, donnerte eine mächtige Stimme und verlangte Uvumas Kapitulation vor den Streitkräften des Königs. Ein Geist, dachte Uvuma, ein Seegeist, herbeigerufen durch die Zauberkraft des weißen Zauberers. Und Uvuma ergab sich M’tesa, dem Unbesiegbaren. So endete der Krieg, und M’tesa bedankte sich bei Stanley mit einer Eskorte von 2000 Kriegern, die ihn durch das feindliche Territorium von Unjoro geleiten sollten, wo noch Kabba Rega regierte. Nach dem Pech des Königs mit den Bakers wollte er mit Weißen oder Ägyptern nichts mehr zu tun haben. Nachdem Stanley den Verlauf des Alexandra-Nils, des heutigen Kageraflusses, des wichtigsten Zulaufs des großen Flusses, aufgezeichnet und festgestellt hatte, dass Spekes Hypothesen im Großen und Ganzen korrekt waren, kehrte er kurz nach Uganda zurück und reiste dann nach Süden zum Tanganjikasee. Im Laufe dieser Reise lernte er eine weitere große afrikanische Persönlichkeit jener Zeit kennen, den gefürchteten Mirambo, Häuptling der Ruga-Ruga. Mirambo kämpfte gegen die arabischen Sklavenhändler und wurde von diesen als wilder Bandit dargestellt. Stattdessen sah Stanley in ihm »einen Patrioten, einen afrikanischen Gentleman, gekleidet wie ein reicher Araber bis hin zu den Pantoffeln … Sein Gebaren ist würdevoll und ohne Arroganz; nur die Ruhe und Autorität seines Blicks verraten sein napoleonisches Genie, das er in dieser Region während der vergangenen fünf Jahre gezeigt hat.« Die beiden 242
Kommandeure, einer weiß und einer schwarz, wurden Blutsbrüder (Stanley hat nicht wirklich Blut gegeben, sondern nahm durch einen Vertreter an der Zeremonie teil) und tauschten Geschenke aus. Ende Mai 1876 betrat die Karawane, der die amerikanische Flagge voranwehte, die reiche Stadt Ujiji (5 Grad südlicher Breite) im heutigen Tansania am Tanganjikasee, und ein paar Tage danach befahl Stanley, die Lady Alice zusammenzubauen und im weitgehend unerforschten Tanganjikasee zu Wasser zu lassen. Seine arabischen Freunde verabschiedeten sich von ihm wie von einem, der in den unvermeidlichen Schiffbruch abreist. Keiner glaubte daran, dass die zerbrechliche hölzerne Schale die heftigen Stürme des Sees überstehen könne. Aber die Götter des Tanganjikasees waren den wagemutigen Seeleuten wohl gesonnen (die etwas Praxis auf ihren Fahrten auf dem Victoriasee gewonnen hatten), und 51 Tage später war Stanley zurück. Er war um den ganzen See gesegelt und hatte bewiesen, dass Livingstone falsch lag; der Tanganjikasee hatte überhaupt nichts mit dem Niltal zu tun. Offen blieb noch, wo der große Fluss, bekannt als der Lualaba, verlief. Er floss westlich des Tanganjikasees nach Norden. Livingstone hatte die Theorie aufgestellt, dass dies der wahre obere Verlauf des Nils sei. (Tatsächlich ist es das Quellgebiet des Kongo.) Stanley verließ Ujiji endgültig Mitte August, und im Oktober erreichte er Muana Mamba, eine arabische Handelsstation nicht weit vom Lualaba, wo er eine weitere denkwürdige Bekanntschaft machte. Diese weitläu243
fige Region wurde von Tippu Tib regiert. So lautete der Spitzname eines arabischen Sklavenhändlers, der eigentlich Ahmed ben Mohammed hieß und ohne dessen Erlaubnis sich nicht ein Blatt zwischen dem Lualaba und dem Tanganjikasee bewegte. Tippu Tib (dessen Name ursprünglich lautmalerisch war und das Geknatter von Gewehrfeuer wiedergab, das immer die Ankunft dieses Kriegsherrn aus Zentralafrika in den Dörfern ankündigte, die er zu plündern gedachte) machte auf den Forscher enormen Eindruck. Stanley beschrieb ihn als großen Mann mit einem schwarzen Bart, mit negroiden Gesichtszügen, in der Blüte seines Lebens. Er hatte ein hübsches, intelligentes Gesicht, mit einem nervösen Tick in den Augen und außerordentlich weißen Zähnen. Seine weißen Gewänder waren einwandfrei, sein roter Fes leuchtend und neu, sein Gürtel fein gearbeitet, und sein Dolch war mit Silberfiligran geschmückt. Dieser reiche Herr hatte schon 1874 den englischen Forscher Cameron auf einem Stück des Lualaba begleitet, aber die Expedition war durch die Feindseligkeit der Eingeborenen gestoppt worden. Stanley war erfreut zu erfahren, dass sein Vorgänger in der Gegend gescheitert war, und er lud Tippu Tib ein, mit ihm den Fluss hinunterzufahren und auch seine 400 bewaffneten Männer mitzubringen. Tippu Tib zeigte in einem bezaubernden Lächeln seine außerordentlich weißen Zähne und nannte eine Zahl. Nach einigen Verhandlungstagen wurde der Vertrag verfasst und unterschrieben, auf Englisch und Arabisch. Tippu Tib war einverstanden, Stan244
ley auf 60 Märschen (etwa 1000 Kilometer) gegen 5000 Dollar zu begleiten. Dann könne er nach Hause zurückkehren. Am Abend vor der Abreise hatte der Kommandeur der Expedition ausführlich die beste Route mit dem einzigen anderen überlebenden weißen Forscher, Frank Pocock, besprochen: Sollten sie dem Fluss folgen oder die Umgebung erforschen, die noch völlig unbekannt war? Zuletzt beschlossen sie, nach dem Wurf einer Münze zu entscheiden. Aber die Münze zeigte sechsmal hintereinander Zahl, während Stanley Kopf gewählt hatte. Am Ende ignorierte Stanley das Ergebnis des Münzwurfs und beschloss, dem Fluss zu folgen, den er nach Livingstone umbenannte. Von Nyangwé, der allerletzten arabischen Station an der Schwelle zum Unbekannten, marschierten Stanleys 146 eingeborene Träger und Tippu Tibs 400 Plünderer nach Norden und befanden sich bald in den unerwarteten Schrecken des Regenwaldes. Gezwungen, sich in unveränderlichem Dämmerlicht durch die verschlungenen Büsche und hängenden Ranken hindurchzuschlagen und -zuschneiden, triefend vom Wasser, das von den Blättern herablief, kamen die Träger nur ein paar Kilometer pro Tag voran. Darüber hinaus bewegten sie sich auf das Gebiet von Kannibalen zu, eine Aussicht, die die Stimmung der Männer kaum verbesserte. Nach etwa zwei Wochen erschöpfenden Marschierens war Tippu Tib (der keine Ahnung davon gehabt hatte, in welches Dornengestrüpp Stanley ihn führen würde) so weit, den Vertrag zu brechen. 245
Bei dieser Geschwindigkeit, meinte er, würde es ein Jahr dauern, die 1000 Kilometer voranzukommen, die sie vereinbart hatten, und die Rückkehr würde ein weiteres Jahr dauern. Stanley versprach ihm 2600 Dollar, wenn er ihn auf 20 Märschen am anderen Ufer des Lualaba begleiten würde, wo es weniger gefährlich sein sollte. Der Araber willigte widerstrebend ein und verfluchte diesen Dschungel, der nur »für Affen, Wilde und wilde Tiere« taugte. Als sie das Dorf Kampunzu erreichten, wo der Fluss fast zwei Kilometer breit war, ließ Stanley die Männer die Lady Alice – deren sechs Teile im Urwald eine enorme Last gewesen waren – zusammenbauen und zu Wasser lassen, und die Expedition bewegte sich teilweise mit der Strömung hinab und teilweise am Ufer entlang. Die Teilnehmer wurden von Hunger geplagt, weil die Eingeborenen bei der Ankunft von Fremden flohen, anstatt der Karawane Nahrungsmittel zu geben, oder die Fremdlinge sogar mit Giftpfeilen angriffen. »Essen, Essen, Essen – wir müssen heute essen!«, sangen die Kannibalen im Chor unter den Bäumen; und die sowieso schon beschwerliche Reise verwandelte sich in eine endlose Reihe von Zusammenstößen, um Essen zu erhalten und dem Gegessenwerden zu entgehen. Nach zwölf der 20 Tagesmärsche, auf die man sich geeinigt hatte, entschieden die Araber, dass sie genug hätten. Stanley konnte sehen, dass sie so erschöpft und demoralisiert waren, dass ein weiteres Drängen sinnlos war. Er beschloss, Tippu Tib die gesamte vereinbarte 246
Summe zu zahlen, und überhäufte ihn und seine Hauptleute mit Geschenken. Am nächsten Tag begab sich die Expedition unter dem »süßen, traurigen« Abschiedsgesang von Tippu Tibs schwarzen Räubern mit Kanus auf den Fluss, die sie aus den verlassenen Eingeborenendörfern mitgenommen hatten, und setzte ihre Reise auf dem Wasser fort, den Fluss entlang, »der sie nach Sansibar bringen würde«, wie Stanley zu sagen pflegte, um seine Männer zu trösten, die inzwischen angesichts des Schicksals, das sie erwartete, offen weinten. Und es gab genug Grund zum Weinen. Tag für Tag ertönten von beiden Flussufern Kriegsrufe und stampfende Trommelschläge, kleine Kanuflotten fuhren hinaus, Pfeil- und Speersalven pfiffen herunter. Und statt dass die Strömung des großen Flusses sie sanft und sicher zum Meer brachte, nach dem heiß ersehnten Sansibar, begann sie, über eine Reihe von Katarakten und Stromschnellen zu stürzen und zu brausen. Wo die Stromschnellen zu rasant wurden, war es nötig, am trügerischen Ufer zu landen und sich in den gefährlichen Wald zu wagen, alles Gepäck abzuladen und einen Pfad freizuhauen; sie zogen ihre Boote und das Gepäck mit roher Gewalt hinauf und hinunter, bis sie wieder befahrbare Gewässer erreichten – und das die ganze Zeit unter einem Speer- und Pfeilhagel. Sie brauchten ganze 22 Tage für die Portage um den siebten Katarakt – der immer noch Stanley-Fälle genannt wird –, wobei sie unaufhörlich von enthusiastischen Kannibalen angegriffen wurden, die noch nie so viel Menschenfleisch gese247
hen hatten. Viele dieser Kannibalen wussten tatsächlich nicht, was ihnen geschah. Wenn sie soeben im Geist ein Menü zusammenstellten, konnte es geschehen, dass ein Donnerschlag losbrach und sie von Gewehrfeuer getroffen umfielen. Beim Zusammenfluss mit dem Aruwimifluss (etwa 160 Kilometer vom heutigen Kisangani, einst Stanleyville, flussabwärts und auf etwa 1 Grad nördlicher Breite vom Äquator entfernt gelegen) wurde eine regelrechte Schlacht geschlagen. Etwa 50 riesige Kanus stießen vom Ufer ab; in jedem Kanu paddelten etwa 40 Ruderer, die sich vorbeugten und ihr Boot zum Rhythmus eines Kriegsgesanges vorwärts trieben. Am Bug stand ein Dutzend junger Krieger, geschmückt mit Papageienfedern; achtern bemühten sich acht Steuermänner, das Boot zu steuern; in der Mitte waren die Häuptlinge und rannten hin und her. Trompeten, Hörner und Gesänge machten einen schrecklichen Lärm. Stanley ließ alle seine Kanus in einer Linie festmachen, und zehn Minuten ununterbrochenes Gewehrfeuer überwältigte die Angreifer, die flohen. Sie wurden von Stanleys Männern zum Flussufer hinuntergejagt, über die Pfade ihrer Dörfer und weiter, in den Wald, wo sie sich zerstreuten und wo sie gnadenlos niedergemetzelt wurden. Schließlich wurde ihnen in Chumbiri, nun schon recht nahe an der Flussmündung, ein angenehmeres Willkommen bereitet. Der König empfing sie persönlich, mit der ganzen Entourage all seiner Ehefrauen; den Reisenden wurden Delikatessen serviert. Die Ehefrauen 248
waren besonders sehenswert: Sie waren schön, und die Mode ihres Stammes forderte, dass sie schwere Kupferhalsbänder trugen – je größer die Zuneigung des Königs, desto schwerer das Halsband. Die Lieblingsfrauen des Königs trugen etwa 40 Pfund Kupfer um den Hals. Stanley beäugte die liebreizenden Damen des Harems des Königs kritisch und rechnete sich aus, dass der Häuptling ein bewegliches Schatzhaus von etwa 1400 Pfund Kupfer besaß. Als Stanley den König fragte, was mit den Halsbändern, die man nicht entfernen konnte, geschehen würde, wenn eine seiner Gattinnen starb, lächelte der glückliche Ehemann und schaute Stanley liebevoll an, als ob ihm die Frage besonders gefiele. Dann zog er mit bedeutungsvollem Blick den Finger über die Kehle. Der Abstieg zur Flussmündung ging recht friedlich vonstatten, auch wenn es immer noch ausgesprochen harte Arbeit war. Schwierigkeiten blieben der Karawane jedoch weiterhin auf den Fersen. An den Zinga-Fällen, jenseits des Stanley Pool, ertrank Frank Pocock, der neben Stanley der letzte überlebende Europäer war. Am 31. Juli 1877, am Katarakt von Isangila (etwa 5 Grad südlicher Breite) ließ man die Lady Alice nach 11000 Kilometern treuen Dienstes zurück, und die Karawane marschierte zu Fuß weiter. Inzwischen war der Atlantik nicht mehr fern, aber auf der letzten Etappe des Marsches wurde es unmöglich, Nahrung zu beschaffen. Sie befanden sich nun unter zivilisierten Afrikanern, die nicht für Kupferdraht oder Tuchfetzen tauschten. Hielt 249
Stanley sie für Wilde? Hatten sie zufällig Rum dabei? Nein, sie hatten keinen Rum, und Stanley machte verärgert mit dem Hauptteil der Kolonne Halt und schickte fünf Männer, die etwas Englisch konnten, zur nahe gelegenen portugiesischen Handelsstation Borna. Sie brachten eine Botschaft, gerichtet an »welchen Gentleman auch immer«, der zufällig in Borna wohnte, und baten um Vorräte mit dem Versprechen, ihre Ausgaben zu bezahlen. Am 6. August kehrten die Boten mit einer Karawane und mit Essen zurück, und am 9. August, genau 999 Tage, nachdem sie Sansibar verlassen hatten, betraten die Überlebenden, auf wandelnde Skelette abgemagert, Borna (6 Grad südlicher Breite). Es waren noch 114 von den ursprünglich 356 eingeborenen Trägern. Sie waren dem ganzen Lauf des Kongo gefolgt, in seiner ganzen Ausdehnung. Stanley hatte ein weiteres großes Geheimnis der afrikanischen Wasserkarte gelüftet, und keiner konnte mehr seinen Status als Livingstones Nachfolger anzweifeln.
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Die Eroberung von Äquatoria
In den 1860er Jahren schien Ägypten dazu entschlossen zu sein, die Pracht pharaonischer Zeiten wiederherzustellen. Der Vizekönig Ismail, der 1863 auf den Thron gekommen war und den persischen Titel Khedive oder »Meister« angenommen hatte, war ein Mann mit grenzenlosem Ehrgeiz und einem weiten Blick. Gebildet, intelligent, scharfsinnig, geizig in kleinen Dingen und großzügig bei großen, träumte er davon, sein Land zu modernisieren und seine Herrschaft bis zum Horn von Afrika auszudehnen. Internationale wirtschaftliche Entwicklungen schienen für seine Pläne günstig zu sein: Der amerikanische Bürgerkrieg hatte den Preis für Baumwolle in die Höhe getrieben, und die ägyptische Ernte war fünfmal mehr wert als vorher. Diese Einnahmen erlaubten es Ismail, ein umfangreiches Programm öffentlicher Arbeiten in Angriff zu nehmen: Bewässerungskanäle, Eisenbahnen, Telegrafenleitungen und Dampfschiffe machten aus dem Niltal eine ehrgeizige levantinische Imitation des Rheinlands, wobei ägyptische Trägheit einen Hauch liebenswerter Exotik hinzufügte. Diese moderne nordafrikanische »Industrielle Revolution« erreichte im November 1869 ihren Höhepunkt, als nach zehn Jahren Grabungsarbeiten die Eröffnung 251
des Suezkanals anstand, einer der eindrucksvollsten Leistungen der Technik im 19. Jahrhundert. Die Feierlichkeiten waren einer Regierung würdig, die ihren Blick auf eine Zukunft mit Fortschritt, Reichtum und Ruhm gerichtet hatte. In Kairo und Alexandria hatte man die verfallensten Bezirke dem Erdboden gleichgemacht und durch breite Boulevards mit Apartmenthäusern im europäischen Stil ersetzt. In Kairo war ein Opernhaus gebaut worden, und der größte lebende Komponist, Giuseppe Verdi, wurde beauftragt, eine Oper zu einem ägyptischen Thema zu schreiben: Aida. In Port Said errichtete man drei prächtige Pavillons: einen für berühmte Gäste aus islamischen Ländern, einen zweiten für die gekrönten Häupter Europas und einen dritten für europäische Bürgerliche. Der österreichischungarische Kaiser Franz-Joseph nahm ebenso teil wie die Kaiserin Eugénie von Frankreich (die ihrem Ehemann Napoleon III., der in Paris geblieben war, telegrafierte: »Ein zauberhafter Empfang. Ich habe in meinem Leben noch nie so etwas gesehen.«). Unter den Gästen befanden sich auch der Erbprinz von Preußen, Friedrich Wilhelm, sowie russische Großfürsten und deutsche Fürsten. Am Morgen des 17. November war der Kanal, der von Priestern aller Religionen gesegnet worden war, voller Schiffe und Boote, die von Wind und Dampf angetrieben wurden und die Flaggen jedweder Nation trugen; in der glitzernden neuen Stadt Ismailia setzte die Schiffsflotte eine Menge an Herrschern, Botschaftern, 252
Wissenschaftlern, Aristokraten und Magnaten an Land, die durch ein Galabankett, endlose Feuerwerke und einen Ball geehrt wurden, der von 10000 brennenden Laternen erleuchtet war. Während Europas Crème de la Crème zur Feier der »Verwandlung Afrikas in eine Insel« (wie die eher rhetorisch gesinnten Journalisten damals schrieben) tanzte und dinierte, gab es eine bemerkenswerte Abwesenheit: die der englischen Königsfamilie. Großbritannien war gegen den Kanalbau, ein von Frankreich geleitetes Projekt, gewesen und ergriff diese Gelegenheit, sein Missfallen auszudrücken. Aber einige Monate vorher hatte der britische Thronfolger Edward, Prince of Wales, mit seiner Frau Alexandra eine Kreuzfahrt auf dem Nil gemacht. In seinem Gefolge befand sich Samuel Baker, der wegen seiner Arabischkenntnisse als Dolmetscher ausgewählt und von Königin Victoria in Anerkennung seiner Entdeckungen am Äquator mit dem Titel eines Baronet geehrt worden war. In Kairo hatte Ismail einen Maskenball gegeben, um die Ankunft des Prinzenpaares zu feiern; während des Balls wurde Sir Samuel Baker wie in einem guten Feuilletonroman zu einer Privataudienz mit dem Khediven gebeten, der ihm eine heikle, aber schmeichelhafte Aufgabe anbot. Es ging um Folgendes: dem Sklavenhandel im Sudan ein für alle Mal ein Ende zu bereiten. Obwohl Ismail ihn schon per Dekret abgeschafft hatte, war er immer 253
noch ein blühendes Geschäft. Ja, er blühte wie nie zuvor. In den weitläufigen anarchischen Territorien im Süden und Westen von Karthoum hatten die führenden Sklavenhändler ausgewachsene unabhängige Herrschaftsgebiete gebildet, wo sie wie Könige lebten. Sie waren die »Sultane des schwarzen Elfenbeins« – wie der Sklavenhandel, in Anspielung auf den anderen mörderischen Handel der Region, genannt wurde –, und sie waren alle sudanesische Araber. Einer von ihnen hatte mehr als 2500 bewaffnete Männer auf seiner Lohnliste. Ein anderer, Agad, beherrschte ein Gebiet von über 200000 Quadratkilometern. Aber der reichste und berühmteste war Zobeir, der früher Schreiber für einen Elfenbeinhändler gewesen war. Er befehligte nun 30 Zeribes (arabisch für die befestigten Zeltdörfer, die in den zu plündernden Gebieten aufgebaut wurden). Ein Gouverneur von Karthoum, der seine Gunst gewinnen wollte, hatte Zobeir den Titel eines Pascha gegeben. Er herrschte in Bahr al-Ghazal, einer Provinz im äußersten Süden des heutigen Sudan. Sein Palast enthielt Dutzende von Zimmern; jeder Raum war mit französischen Tapeten ausgekleidet und mit Sofas gefüllt, die den ganzen langen Nil heraufgebracht worden waren. Es gab Dutzende von in Seide gekleideten Sklaven, die den Gästen inmitten der an den Mauern angeketteten Löwen Kaffee, Pfeifen und Sorbets servierten. Bei seinen Banketten flossen Arrak und aus Hirse gebrautes Bier in Strömen, was offen gegen die Vorschriften des Korans verstieß. Es gab sogar Champagner, wenn auch lauwar254
men, und die Freuden der Tafel wurden vermehrt durch die Lieder und Tänze nackter schwarzer Tänzerinnen. Bis dahin hatte Ismails Dekret zur Abschaffung des Sklavenhandels nur die eine Wirkung gehabt, dass die Preise von Sklaven stiegen und die Händler noch reicher wurden. Aber nun hatte der Khedive beschlossen, kühn zu handeln, da er seine Nation in die Gemeinschaft der Großmächte bringen und sie deshalb als wirklich zivilisiert präsentieren wollte. Baker wurden der Rang eines Generals und der Titel eines Pascha angeboten, dazu 10000 Pfund Sterling pro Jahr während der vier Jahre, die man für die Aufgabe veranschlagt hatte, und ferner eine Armee von 1700 Mann, die er nach Gutdünken ausrüsten konnte. Baker nahm den Posten an und machte sich sofort an die Arbeit, wobei er auch die kleinsten Details seines Unternehmens penibel überwachte, das eine komplexe militärische Expedition werden sollte, der es an nichts fehlte, »von Nadeln bis Eisenbrechstangen, von Taschentüchern bis zu Segeln«. Er holte zehn Europäer dazu, die als vereinte Generalstabschefs dienen sollten: seinen Neffen Julian, einen Leutnant der Royal Navy; einen Arzt; zwei Ingenieure; fünf Schreiner; und einen Lagerhausaufseher, der die riesige Menge an Ausrüstung verwalten sollte. Unter dem Material befanden sich sogar vorgefertigte Hütten aus verzinktem Blech und eine ganze Flotte an zerlegten Booten, die von Kamelen in das Gebiet südlich der Katarakte transportiert werden 255
sollten. Das größte der Schiffe war ein Raddampfer von über 30 Meter Länge. Die Armee an sich war in zwei Regimenter von Schützen aufgeteilt – ein sudanesisches, ein ägyptisches – (das zum großen Teil aus Knastbrüdern bestand, wie es in Ägypten unter dem Khediven unvermeidlich war, wo für alle öffentlichen Arbeiten Zwangsarbeiter eingesetzt wurden), eine Kavallerieschwadron und zwei Batterien Kanonen. Baker nahm Anleihen bei Napoleon und Ali Baba und schuf eine persönliche Leibwache aus 40 Scharfschützen, die die Vierzig Räuber genannt wurden. Rote Banner, die den islamischen Halbmond trugen, flatterten im Wind, als 90 Dampfschiffe und 55 Segelschiffe, alle bis über die Schandecks beladen, den Nil hinauf dampften und segelten, während die Truppen in Kolonnen am Ufer entlangmarschierten. Im Februar 1870 entluden sie die Schiffe außerhalb der Stadt Karthoum und vor den Augen ihrer verwunderten Bewohner: eine Unmenge Ballen, Kisten, Zelte, Vierbeiner und Zweibeiner. Vom Gouverneur bis zum niedersten Bettler stand die ganze Stadt da und starrte, staunte und fluchte. Das Ende des Sklavenhandels würde auch das Ende der Stadt bedeuten – oder zumindest von Karthoum als dem Sumpf des ägyptischen Reiches. Der Pascha Baker, mit rotem Fes auf dem Kopf und bekleidet mit der grellen Uniform eines Generals des Khediven, übersät mit Orden unter seinem langen Bart, stattete dem feindlich gesinnten Gouverneur einen Besuch ab, vorgeblich aus Höflichkeit, aber in Wahrheit, um 256
ihn einzuschüchtern. Baker beschloss dann, so bald wie möglich aufzubrechen, um Verzögerungen oder Sabotage zu vermeiden. Er segelte mit 1000 Mann und natürlich mit Florence, seiner geliebten, mutigen und loyalen Frau, den Weißen Nil stromaufwärts. Aber der erste Feind, den er in diesem Land zu schlagen hatte, war die Natur. Als die Boote das ausgedehnte Sumpfgebiet des Sudd erreichten, entdeckte man, dass alle einstmals befahrbaren Kanäle nun von Pflanzenmassen blockiert waren, die flussabwärts getrieben und zu einem riesigen, sich über Meilen erstreckenden Gestrüpp angewachsen waren. Jeder dazu fähige Mann kletterte in den Dreck hinunter und hackte zwei Monate lang auf die Schilfbänke ein, während ihm das Wasser bis zum Gürtel stand. Sie kamen etwas vorwärts, aber es war lächerlich: Man hatte nur eine oder zwei Meilen gewonnen. Nun floss das Wasser ab, weil die Trockenzeit begonnen hatte. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als aufzuhören und auf die Flut gegen Jahresende zu warten. Die Flotte zog sich nach Norden nach Malakal zurück, wo sie die sieben Monate erzwungener Untätigkeit gut nutzte und die Boote, die flussabwärts kamen, abfing und beschlagnahmte und die Sklaven, die zum Markt nach Karthoum transportiert werden sollten, befreite. Die Sklavenhändler hatten noch nicht bemerkt, dass sich die Situation geändert hatte, oder hofften, dass sich Baker wie alle Paschas in Ägypten schließlich der Korruption beugen würde. Ende Dezember kam endlich die gesegnete Flut, und 257
59 Schiffe mit 1600 Menschen an Bord, Männern und Frauen, segelten nach Süden, nur um erneut in dem amphibischen Inferno des Sudd gefangen zu werden. Wieder platschten die Soldaten in den Dreck hinunter, hackten auf Pflanzen ein und zogen die Boote an Tauen weiter. Wieder starben sie zu Dutzenden, als Opfer von Malariafieber und Hitzschlag. Im März 1871 begann das Wasser zurückzugehen, aber das Schilf war immer noch da, und Baker gab fast die Hoffnung auf, noch hindurchzukommen. Er fühlte sich verpflichtet, es noch einmal zu versuchen. Er wagte sich ein Stückchen weiter und stellte fest, dass sie sich verführerisch nahe am offenen Wasser befanden. Die kurze, noch verbleibende Distanz war jedoch wegen des Tiefgangs seiner größeren Schiffe unmöglich zu überbrücken. Dennoch war der Engländer hartnäckig und einfallsreich und lief in aussichtslosen Situationen zu Hochform auf. Er entwarf schnell einen Plan, der vielleicht niemand anderem eingefallen wäre: Er beschloss, einen groben, provisorischen Damm zu bauen, um den Wasserstand des Nils anzuheben und damit seine auf Grund gelaufenen Boote freizubekommen. Tagelang schlugen die Schreiner Pfeiler und Balken in den Boden, die Soldaten füllten Sandsäcke und banden Schilfbündel zusammen. Schließlich kam die entscheidende Stunde des letzten Versuchs. Baker erinnerte sich später: Ich stand auf einem der gestrandeten Schiffe, nur wenige Meter von der Reihe der Pfähle entfernt. 258
Die Männer waren alle auf ihren Posten. Die Hornisten und Trommler standen auf einem anderen Schiff, bereit, das Signal zu geben. Beim ersten Hörnerklang hoben jeweils zwei Männer die Säcke mit Sand und Lehm. Sofort gaben alle Trommeln und Hörner das Signal zum Beginn, und 500 schwere Säcke wurden in die Reihe Pfähle geworfen und von den Männern fest hineingestampft. Die Truppen arbeiteten nun mit enormer Kraft. Es war ein Wettlauf zwischen Sudanesen und Ägyptern; das war eine Arbeit, an die Letztere in ihrem Land gewöhnt waren. Die Seeleute arbeiteten so betriebsam wie die Truppen; Holz- und Lehmhaufen wurden mit außerordentlicher Geschwindigkeit niedergelegt, während einige hektisch auf der vermengten Masse herumstampften und -tanzten; alle schrien und riefen vor lauter Aufregung, und die Hörner und Trommeln machten dauernd ohrenbetäubenden Lärm. Eine lange Doppelreihe von Männern bildete ein Transportcorps und reichte einen nicht enden wollenden Vorrat an Ruten an die Arbeiter weiter, die im Wasser standen und die zusammenhängende Masse festkneteten. Um 14.15 Uhr war der Fluss völlig eingesperrt, und die Männer arbeiteten noch energischer am Oberbau des Dammes, der sich nun wie ein Übergang etwa 100 Meter von Ufer zu Ufer erhob. 259
Um 15.30 Uhr war das Wasser so weit angestiegen, dass die Männer an einigen Stellen schwimmen mussten. Der Dampfer, der hoffnungslos festgelegen hatte, und die ganze Flotte schwammen fröhlich im Teich. Nachdem Baker den Nil bezwungen hatte, konnte er sich nun den Sklavenhändlern zuwenden. Einen Monat später erreichte die Expedition Gondokoro, das seit Jahren verlassen dalag; von der österreichischen Missionsstation standen nur noch trostlose Ruinen. Der englische Pascha beschloss, diesen verlassenen Ort zur Schaltzentrale seiner zukünftigen Unternehmungen zu machen. Er ließ ein von einer kleinen Festung gesichertes Dorf bauen und ordnete an, die Felder zu pflügen und zu besäen. Als die Arbeit beendet war, befahl er seinen Männern, die zerfetzten Lumpen, zu denen ihre Uniformen geworden waren, im Nilwasser zu waschen und sie so gut wie möglich zu flicken. Am nächsten Morgen, dem 26. Mai 1871, gab er seinen Leuten den Befehl, sich für eine Parade aufzustellen, und ließ eine flatternde ägyptische Fahne am Fahnenmast aufziehen. Pascha Baker verkündete hoch zu Ross, dass Ägypten eben eine neue Provinz annektiert habe, die Äquatoria heißen sollte, auf Arabisch Hatalastiva, mit einer Hauptstadt namens Ismailia auf dem Boden des verschwundenen Gondokoro. Sein Generalstab speiste an jenem Abend gebratene Gazelle und einen Plumpudding, der 260
für eine solche Gelegenheit sorgsam aufgehoben worden und reichlich mit Rum getränkt war. Es war alles sehr schön, aber auch sehr theoretisch. Die afrikanischen Stämme, die in der Gegend lebten, wussten noch nicht, dass sie im Namen des Khediven von dem barbarischen Brauch der Sklavenjagd befreit worden waren. In der Tat konnten sie den Unterschied zwischen ihren derzeitigen Befreiern und den früheren Räubern nicht sehen. Die Palisade, die das neu gegründete Ismailia umgab, war Ziel eines täglichen Giftpfeilhagels. Selbst der am wenigsten feindlich gesonnene Eingeborene weigerte sich, Nahrung für die Hunderte hungriger Mäuler zu liefern, die auf dem Fluss gekommen waren, und um nicht zu verhungern, mussten die Soldaten plündern, wie es die Sklavenhändler getan hatten. Aus der verärgerten Stadt Karthoum kam kein Nachschub, sowohl wegen des Ressentiments der dortigen Behörden als auch, weil der Nil wieder mit dem undurchdringlichen Sudd verstopft war, was ein ausgezeichnetes Alibi für diejenigen lieferte, die heimlich hofften, die Expedition werde einfach irgendwann still im Geheimnis der äquatorialen Wüste verschwinden. Soldaten begannen nacheinander zu desertieren, und bald wurde aus dem Rinnsal ein Strom. Als Baker eines Tages von einem Streifzug zur Rekrutierung von Nahrungsmitteln in einem Nachbardorf zurückkehrte, stellte er fest, dass seine großartige Armee sich in der Sonne Äquatorias einfach in Luft aufgelöst hatte: 1000 Mann waren auf 30 Schiffen den Nil hinab geflohen. Aber der 261
unerschütterliche englische Forscher – der, selbst wenn er gewollt hätte, nicht hätte zurückweichen können, weil er einfach im Sumpfgebiet des Sudd hängen geblieben wäre -beschloss, eine Garnison in Ismailia zu lassen und mit einer Kolonne Soldaten vorzurücken, um das ganze Land zu durchstreifen. Er erreichte Fatiko so schnell, dass die dortigen Sklavenhändler nicht entkommen konnten; sie ergaben sich und befolgten seinen Befehl, den Sklavenhandel aufzugeben und sofort nach Karthoum zurückzukehren. Dann marschierte er noch weiter nach Süden und betrat das Königreich Unjoro, wo er 1864 von zwei Kamrasis, einem echten und einem angeblichen, begrüßt worden war. Beide waren schon tot und Kabba Rega, Sohn des echten Kamrasi, regierte in seiner Hauptstadt Masindi. Sein Thron wurde jedoch von anderen Prätendenten beansprucht, und es herrschte Bürgerkrieg. Der Krieg brachte den Sklavenhändlern ein einträgliches Geschäft, weil die Ware reichlich und billig war. Wie ein afrikanischer Cortés war sich Baker sicher, dass ein kühner Angriff die einzige Chance war. Er betrat Masindi wie ein Eroberer, verlor keine Zeit, jeden Sklavenhändler, den er finden konnte, zu verhaften, und ließ die ägyptische Flagge über der Stadt hissen. Der verwirrte und gedemütigte Kabba Rega wurde sofort persönlich vorstellig und flehte den Engländer um Nachsicht an. Ismails Reich erstreckte sich jetzt bis ins Herz des Schwarzen Kontinents, bis 160 Kilometer nördlich des Äquators. 262
In Masindi (2 Grad nördlicher Breite) jedoch trog der Schein ebenso wie in Ismailia. Der raffinierte Kabba Rega hegte nicht die geringste Absicht, Untertan des Khediven zu werden, und er spann schon seine Intrigen. Eines Tages kam ein großzügiges Geschenk für die ägyptischen Truppen: sieben riesige Krüge voller Palmwein. Viele Soldaten tranken erfreut und viel. Es wäre weiser gewesen, die Vorschriften des Korans zu befolgen. Einige Minuten später wanden sich 40 Männer in schrecklichen Schmerzen. Glücklicherweise hatten die Offiziere das vergiftete Getränk nicht gekostet, und nachdem sie den Opfern Brechmittel verabreicht hatten, bereiteten sie sich auf den unvermeidlich folgenden Ansturm vor. Der Angriff kam am nächsten Morgen. Es waren etliche Tausend Krieger von Unjoro, aber Bakers Soldaten besaßen verbissene Disziplin und zahlreiche Gewehre. Die Gewehre erwiesen sich als überlegen. Es war eine Schlacht ohne Gnade: Masindi wurde niedergebrannt, die 8000 Einwohner gerieten in Panik und flohen in den Wald. Die Sieger blieben allein in einem Meer von Schutt und rauchender Asche zurück und beschlossen, das Schlachtfeld ebenfalls zu verlassen. Baker befahl seinen Männern, auch das allerletzte noch stehende Haus zu verbrennen – das war die neu gebaute Residenz des khedivischen Gouverneurs, eine Hütte, deren königliche Einrichtung aus Modezeichnungen bestand, die man aus Zeitschriften herausgerissen und an die Wand geheftet hatte. 263
Die Kolonne ließ zahlreiche Leichen zurück – ihre eigenen und die des Feindes, getötet von Gewehrschüssen und dem Hagel von Giftpfeilen der feindlichen Soldaten, die im hohen Gras lauerten – und kam dann an den Victoria-Nil, den Flussabschnitt, der vom Victoriasee in den Albertsee fließt. Dort schloss Baker ein Bündnis mit einem Häuptling, der ein Feind von Kabba Rega war, und versprach ihm die trügerische Aussicht, den Platz des Möchtegerngiftmischers auf dem Thron von Unjoro einzunehmen. Dann brach Baker auf der Suche nach Verstärkung mit einigen Soldaten nach Fatiko auf. Er würde sie ganz sicher brauchen, denn inzwischen hatte sich herumgesprochen, Baker sei tot; das ganze Land wurde von vernichtenden Kämpfen zerrissen, und bewaffnete Banden zogen schlachtend und plündernd umher. Samuel Baker jedoch war sehr lebendig, und er fiel über seinen Feind her wie der Wolf über die Herde. Er griff einen Hauptsklavenhändler an, Mohammed Uat el-Mek, und schlug ihn so gründlich, dass er Gehorsam auf den Koran schwor und ihm sogar half, mehr Männer zu rekrutieren. Andere Sklaventreiber verließen das Land, und so konnte der Engländer endlich gegen Kabba Rega vorgehen, den er auf eine Insel im Albertsee jagte, wo der ehemalige König kläglich Zuflucht suchte. Das Schlimmste schien vorüber zu sein, und von August 1872 bis März 1873 operierte Baker von Fatiko aus und organisierte die äquatoriale Provinz, von der noch mindestens die Hälfte völlig unerforscht war. Fünf Mo264
nate später kehrte Baker mit seiner geliebten Florence nach Kairo zurück. Der Khedive Ismail wurde blass, als er die Rechnung für das Unternehmen erhielt: eine halbe Million Piaster. Aber Ägypten hatte nun sein Reich und konnte sich unter anderen Mächten behaupten; es bat im Namen der aufgeklärten Zivilisation um die Kredite, die es letztlich in einen großen nationalen Bankrott führen sollten.
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Die Katastrophen von Äquatoria
Im Jahr 1873 verließ Sir Samuel Baker den Hof des Khediven Ismail, ausgestattet mit großen Ehren und mit der beträchtlichen Summe von 40000 Pfund Sterling in der Tasche, und segelte vom Hafen Alexandria zurück nach England; er war recht zufrieden mit der Arbeit, die er geleistet hatte, und er war sicher, dass er dem Sklavenhandel im ägyptischen Sudan einen tödlichen Schlag versetzt habe. In Wirklichkeit sahen die Dinge ziemlich anders aus. Zahlreichen Zeugen zufolge waren die Auswirkungen jenes plötzlichen Kreuzzuges gegen die Sklaverei – der Grundlage der sudanesischen Wirtschaft – viel schlimmer als das Übel, das der Kreuzzug hätte beseitigen sollen. Vor allem sanktionierte der Koran weiterhin das Recht, Sklaven zu besitzen, und für die Ohren jedes guten Moslems klang die Abschaffung der Sklaverei wie Häresie. Darüber hinaus war keiner derjenigen, die mit dem Sklavenhandel ein kleines Vermögen gemacht hatten, bereit, die Chance, dieses Vermögen zu vergrößern, aufzugeben, und schon gar nicht im Namen irgendeines abstrakten Prinzips, das von europäischen Ungläubigen auferlegt wurde und in eklatantem Widerspruch zu den tiefen religiösen Überzeugungen und den Lebensweisen stand, die es schon seit Jahrhun266
derten gab. Der Sklavenhandel würde nicht über Nacht verschwinden können, und tatsächlich verschwand er überhaupt nicht: Er ging nur in Deckung und verließ die leichteren, einfacheren Wasserwege, die man bisher mit Zustimmung und Teilnahme der ägyptischen Behörden benutzt hatte. Der Handel fand einfach neue Wege. Von Karthoum aus, wo Boote mit »schwarzem Elfenbein« beladen nicht mehr den Nil hinunterfuhren, schrieben europäische Konsuln an ihre Hauptstädte, dass der Verkehr gestoppt worden war. In Wahrheit wurden, nachdem der Transport auf dem Fluss eliminiert worden war, die Qualen der von Sklavenhändlern gefangenen schwarzen Afrikaner nur noch viel schlimmer. Vorher waren etwa zehn Prozent der menschlichen Ware, die in die Frachträume der Sklavenschiffe gepfercht wurde – ohne Wasser oder Luft –, gestorben. Nun stieg die Todesrate auf 30 Prozent, in einigen Fällen auf 50 Prozent, da die Gefangenen Hunderte von Meilen marschieren mussten, den Nil hinter sich ließen und nach Kordofan liefen, durch die Sahara, und schließlich das ferne Tripolis erreichten, wo sie als Sklaven verkauft wurden. Die Sklavenhändler scherten sich wenig um den Schwindel erregenden Anstieg der Verluste, denn als der Sklavenhandel illegal geworden war, stiegen die Preise für Sklaven um mehr als das Zehnfache. Das Los des überlebenden Sklaven verbesserte sich mit dem Verkauf; die Vorschriften des Korans stellten sicher, dass Sklaven in islamischen Ländern einigermaßen menschlich behandelt wurden, etwa wie ein 267
zweitklassiges Familienmitglied mit begrenzten Rechten. Die Schrecken, wie sie in Onkel Toms Hütte beschrieben werden, waren Spezialitäten christlicher Herren. Ismail war sich der Schwierigkeiten, den Sudan vom Sklavenhandel zu befreien, sehr wohl bewusst. Er kam zu dem Schluss, dass er die Hilfe eines für seine enorme Energie bekannten Mannes brauche. Die Wahl fiel auf Charles George Gordon. Gordons Name war von Nubar Pascha genannt worden, einem ägyptischen Minister, der den englischen Offizier einige Jahre zuvor in Konstantinopel getroffen hatte. China-Gordon, wie er genannt wurde, war 1833 geboren und hatte seinen Spitznamen erhalten, als er im »Reich des Himmels« gegen die Taiping-Rebellen kämpfte, die die Mandschu-Dynastie zu stürzen drohten. Er war wegen seiner militärischen Fähigkeiten, seiner Furchtlosigkeit und vor allem wegen seines christlichen Sinnes für Barmherzigkeit und Ehrgefühl zur Legende geworden. Mehr als einmal wechselte er scharfe Worte mit den chinesischen Behörden, die die Kapitulationsbedingungen verletzen wollten, indem sie lästige Gefangene einfach hinrichteten. Gordon war ein Idealist, der große Taten vollbringen wollte und jetzt gerade unglücklich seine Zeit in der düsteren Hafenstadt Galatz am Schwarzen Meer verschwendete, wohin er als britisches Mitglied der Internationalen Donaukommission geschickt worden war. Er hieß den ägyptischen Vorschlag enthusiastisch willkommen; diese Gelegenheit würde ihn endlich aus der bürokratischen Provinz befreien, die seiner großen 268
Ambitionen unwürdig war. Im Februar 1874 war er in Kairo, und Ismail verlieh ihm den Titel des Generalgouverneurs von Äquatoria, der von Karthoum unabhängig und nur dem Khediven selbst Rechenschaft schuldig war. Man gab ihm nur »herrlich vage« Anweisungen: Er sollte die ägyptische Herrschaft ausweiten und die Sklaverei abschaffen. Mitte April betrat Gordon Pascha, wie er nun genannt wurde, seine Hauptstadt am oberen Weißen Nil, dem Dorf mit Hütten und Bruchbuden, das Baker in Ismailia umbenannt hatte, das aber von allen weiterhin Gondokoro genannt wurde. Gordon fand die kleine Siedlung trostlos und ungesund, und er ließ in der Nähe, am gegenüberliegenden Flussufer, eine neue Stadt Lado bauen. Er fand auch, dass die ägyptische Herrschaft über Äquatoria bestenfalls nominell war: Es gab nur zwei Garnisonen, eine in Gondokoro und eine in Fatiko. Im restlichen Äquatoria zogen Kolonnen von Sklavenhändlern frei herum und fingen ungestraft Sklaven. Der Generalgouverneur entfaltete ein Maß an Energie, das ihn während der nächsten paar Monate »beinahe umbrachte«, und weitete mithilfe seiner europäischen Leutnants die Kontrolle über das Territorium allmählich aus; er richtete befestigte Außenposten entlang des Nils und seiner Hauptnebenflüsse ein. Gordon zerstörte Sklavenlager, vertrieb korrupte ägyptische Funktionäre ohne Skrupel und entwarf grandiose Expansionspläne, die Ismail mit seinen pharaonischen Ambitionen natürlich sehr gefielen. Sein amerikanischer Leutnant, Chail269
lé-Long, wurde nach Uganda geschickt, wo er von König M’tesa herzlich willkommen geheißen wurde, der willens schien, eine vage Form von ägyptischem Protektorat zu akzeptieren; später kam am ugandischen Königshof ein zweiter Gesandter aus dem Norden an, eben Linant de Bellefonds, der mit M’tesa und Stanley französische Pastete und Würstchen gegessen hatte. Inzwischen erforschte Chaillé-Long die von Kannibalen beherrschte Gegend von Mombuttu, die klimatisch ideal für eine Kolonialisierung schien. Und so hisste man die ägyptische Flagge, und eine kleine Garnison wurde errichtet. Weiter südlich gelang es Gordons italienischem Leutnant Romolo Gessi, Schiffe mit eisernem Rumpf bis zum Albertsee zu schleppen, auf dem er trotz Regengüssen, riesigen Wellen, Eingeborenenangriffen und Meutereien seiner verschreckten sudanesischen Mannschaften, die nur an das Wasser des ruhigen Nil gewöhnt waren, die große Wasserfläche umschiffte. Auf diese Weise kam auch Unjoro theoretisch unter den Einfluss Ägyptens. Aber Gordons Pläne gingen viel weiter: Er träumte davon, das ganze Horn von Afrika für das Ägypten des Khediven zu annektieren. Ismail besaß schon Massaua, regiert von seinem Schweizer Helfershelfer Munzinger; Munzinger besetzte dann Zeila in Nordsomalia und schickte von dort eine ägyptische Kolonne aus, die vom Emirat Harar Besitz ergriff. In aller Heimlichkeit schlug Gordon dem Khediven ein gewagtes Spiel vor. Von Kairo bis Uganda war es ein Treck von 5000 Kilometer über Land, durch äußerst 270
raues Terrain, oft fast das ganze Jahr unpassierbar. Von Suez nach Uganda war es noch weiter, 5300 Kilometer, aber nur 500 Kilometer davon gingen über Land, und die Strecke war viel besser passierbar. Der Rest war zu Wasser zurückzulegen. Das laut Gordon logische Vorgehen war, zum Beispiel in Mombasa, an der Küste des heutigen Kenia, eine Basis zu bilden und von dort aus Verbindungen mit dem Inneren herzustellen. Mit einem solchen Ausgang am Indischen Ozean könnte das ägyptische Reich endlich eine lebendige Realität werden. Ismail musste nicht lange überzeugt werden. Im September 1875 gingen 1300 Mann unter dem Kommando von Chaillé-Long aus vier ägyptischen Dampfschiffen, die von einem schottischen Kapitän namens MacKilleb befehligt wurden, an der Mündung des Jubbaflusses, oder Webi Jubba, bei Chisimayu (Kismayu im heutigen Somalia, etwa 30 Kilometer südlich des Äquators am Indischen Ozean) an Land; diese Expedition bildete den einzigen Moment in der Geschichte, dass sich Äquatoria tatsächlich bis zum Äquator erstreckte. Mombasa, weiter südlich und viel günstiger gelegen, hatte man ausgeschieden, um nicht den Zorn des Sultans von Sansibar zu wecken, der Mombasa zusammen mit der ganzen Küste kontrollierte. Aber wie armselig und trostlos Chisimayu auch gewesen sein mag, es gehörte ebenfalls zum Besitz des Sultans, und der war nicht bereit, es aufzugeben. Er wandte sich an seine englischen Freunde, die es nicht gern sahen, wie sich die Ägypter in einem Gebiet ausbreiteten, das beunru271
higend nahe zu Indien lag. Und als Chaillé-Long ein paar Wochen später in der schwülen Hitze ungeduldig darauf wartete, seinen Marsch ins Landesinnere nach Uganda anzutreten und in jedem Dorf, durch das er kam, eine rote Flagge mit dem Halbmond zu hissen, war er erstaunt, ein britisches Kanonenboot in den Hafen von Chisimayu einlaufen zu sehen. Er erhielt vom Kapitän des Kanonenboots neue und entschieden andere Befehle, und unter der Drohung britischer Kanonen befahl er seine Männer auf die ägyptischen Dampfschiffe zurück und segelte davon. Es war eine schlechte Zeit für die Ägypter. Im November geriet Munzinger – der nach Abessinien einmarschiert war, um den Negus Johannes zu stürzen und ihn durch den viel gefügigeren Menelik auf dem Thron zu ersetzen – in einen Hinterhalt von Danakil-Banditen. Er wurde mit allen seinen Männern abgeschlachtet. Im März erging es einer Strafexpedition noch schlechter, die vom erbosten Khediven unter dem Kommando seines Sohnes Hassan (der in Deutschland Militärtaktik studiert hatte) ausgeschickt worden war. Als die ägyptischen Kräfte, etwa 10000 an der Zahl, das eritreische Hochland erreichten, gruben sie sich ein und warteten in ihren Gräben auf den unvermeidlichen abessinischen Angriff. Die Abessinier, mindestens 70000 an der Zahl, umzingelten sie wie eine Wolke von Heuschrecken. Die erfahreneren ägyptischen Offiziere rieten dazu, geduldig in den starken Befestigungen zu warten, die von Kanonen und Remington-Gewehren gut beschützt 272
waren. Innerhalb einiger Tage wären die Feinde, wenn ihnen die Vorräte ausgingen, gezwungen sich zu zerstreuen. Aber Hassan verachtete, was er als Horde schwarzer Wilder betrachtete. Er suchte militärischen Ruhm und wagte sich ins offene Feld hinaus. Den ganzen Tag mähten die Ägypter, die in kompakter Formation vorwärts gingen, mit ihren überlegeneren Waffen die Abessinier Reihe um Reihe nieder. Als dann jedoch die Munition rar wurde, war Hassan gezwungen, den Rückzug in das befestigte Lager anzuordnen. Rückzüge sind nie leicht, aber dieser war unendlich komplex, weil die ägyptischen Soldaten allesamt wussten, dass es abessinische Praxis war, Gefangene zu kastrieren. Keiner wollte hinten der letzte Mann sein; was ein ordentlicher Rückzug hätte sein sollen, wurde zu einer panischen Flucht. Die Kämpfer vermischten sich so gründlich, dass der ägyptische Artilleriehauptmann nicht den Nerv hatte, den Feind zu bombardieren; er fürchtete, ebenso viele Ägypter wie Abessinier zu töten. Allmählich drangen die Abessinier zusammen mit den fliehenden Ägyptern in die Befestigungen ein. Nur eine einzige Schanze vermochte zu widerstehen, und hinter den Wänden verbrachten die überlebenden Ägypter eine schreckliche Nacht, als sie die Schreie ihrer weniger glücklichen Kameraden hörten, als diese kastriert wurden. Am nächsten Tag begannen Verhandlungen, aber der Negus verlangte bedingungslose Kapitulation. Die belagerten Soldaten konnten nur entkommen, weil sich ei273
ner der abessinischen Häuptlinge, Ras Bariù, bestechen ließ. Im Tausch gegen den gesamten Schatz der Expedition – 20000 Pfund Sterling und 30000 Silbertaler – ließ Ras Bariù die Straße nach Massaua unbewacht. Hassan kam am nächsten Tag dort an, allein, auf dem Pferd, nachdem er die ganze Nacht hindurch galoppiert war. Einige Überlebende folgten einen Tag später, erschöpft und verrückt vor Schrecken. Keine ägyptische Armee versuchte es jemals wieder, Abessinien zu erobern. Ras Bariù erging es auch sehr schlecht; der Negus vermutete seinen Verrat und ließ ihn blenden. In der Zwischenzeit hatte Gordon seinen Abschied eingereicht, weil er merkte, dass er gegen die Sabotage der ägyptischen Behörden, die in den Sklavenhandel verwickelt waren, keine adäquate Unterstützung erhielt. Der Khedive überredete ihn, den begonnenen Auftrag fortzuführen. Er ernannte Gordon auch zum Generalgouverneur des Sudan, des Darfut und der ägyptischen Äquatorialprovinzen. Das verlieh Gordon endlich die absolute Macht über ein immenses Territorium, das mehr als die Hälfte der Größe von ganz Europa umfasste. Für die Sklavenhändler brachen endlich schwere Zeiten an. Gessi, der bei dieser Aktion den Spitznamen Garibaldi von Afrika erhielt, durchkämmte Bahr alGhazal; er jagte und fing Suleiman, den Sohn des größten Sklavenhändlers der Region, Zobeir Pascha, und ließ ihn – nach einem »Fluchtversuch« – durch ein Exekutionskommando erschießen. Zobeir Pascha selbst wurde unter irgendeinem Vorwand nach Kairo ge274
lockt, wo er gefangen genommen und festgehalten wurde. Nach drei Jahren strapaziöser Expeditionen beschloss Gordon, müde und gesundheitlich angeschlagen, aber zuversichtlich in der Überzeugung, »die Sklavenhändler in ihren Höhlen zerschlagen« zu haben, sich selbst eine wohlverdiente Pause zu gönnen. Er verließ sein Büro im Sudan und bestieg im Januar 1880 ein Schiff nach England. Sechs Monate zuvor war sein Gönner Ismail vom Sultan in Konstantinopel – formell immer noch Ägyptens oberster Herrscher – auf Geheiß der europäischen Mächte abgesetzt worden; der Khedive hatte bei ihnen enorme Schulden aufgehäuft, die er nun nicht abzahlen konnte. Anstelle des Khediven regierte nun sein Sohn Tawfiq. Gordon hinterließ Tawfiq den Sudan mit einem äquatorialen Appendix, der sich bis zum Albertsee erstreckte, ein Territorium, das er nun für befriedet hielt und auf dem Weg in eine bessere Zukunft sah. Tatsächlich sollte dieses Territorium die schwärzesten Tage seiner ganzen Geschichte erst noch erleben. Der Sudan war in Wirklichkeit ein Pulverfass, das bei der leisesten Erschütterung in die Luft fliegen konnte. Im Laufe von Jahrzehnten der Besetzung hatten die Ägypter einen Fehler nach dem anderen, eine Schandtat nach der anderen, eine Repression nach der anderen begangen. Gordon hatte eine Gruppe Europäer berufen, die das Gouverneursamt in den einzelnen Regionen ausüben sollten: die Deutschen Giegler und Emin, der Österreicher Slatin, der Engländer Lupton, alle ehrlich, 275
alle mit den besten Absichten im Kampf gegen die Sklaverei und den Sklavenhandel. Aber das war zu wenig, und es kam viel zu spät. Der Hass der Sudanesen auf die von ihnen so genannten »Türken« – und damit war jeder gemeint, der aus dem Norden gekommen war, um sich an der Beute jenes Eldorado der Armen zu mästen – war inzwischen unerbittlich geworden. Zu den »Türken« zählten die Malteser und die Griechen, die in den Sudan einfielen, um Handel zu treiben, Gasthäuser zu eröffnen, kleine Läden aufzubauen; als »Türken« galten die katholischen und protestantischen Missionare, die die Erlaubnis des Khediven besaßen, sich in moslemisches Land einzuschleichen und die Lehren eines fremden Glaubens zu verbreiten; vor allem waren »Türken« die ägyptischen Beamten und Soldaten, stärker verachtet und verhasst als alle anderen »Türken«, weil man sie als Verräter des Islam ansah, falsch, korrupt, grausam, faul und inkompetent, die nur rauben, Leistungen ohne Bezahlung fordern oder Steuern erheben konnten, die mit dem Gewehr eingefordert wurden. Und nun hatten die schlimmsten all dieser »Türken« den Krieg gegen den Sklavenhandel erklärt! Die Unzufriedenheit schlug um in offene Wut. Diese unerträgliche Bande von Häretikern aus Kairo und ihre weißen Lakaien wollten die Schwarzen befreien, und das zielte direkt auf die überlebenswichtigen Interessen des Sudan. Und als daher ein Mann aufstand und sich selbst zum Boten Gottes proklamierte, gesandt, die ganze Welt zu befreien und die Reinheit des wahren Glaubens wiederherzustellen, 276
wurde er vom ganzen Sudan als der Mahdi, »der, der erwartet wird«, willkommen geheißen. Der neue Prophet, Mohammed Ahmed, 32 Jahre alt, der Sohn eines Kameltreibers aus Dongola, hatte sich mit einem Leben in Gebet, Meditation und Buße den Ruf eines außerordentlich frommen Mannes erworben. Er verkündete in seiner Einsiedelei auf einer Insel im Weißen Nil die Ankunft einer neuen Ära, und immer mehr Pilger kamen, um seinen Predigten zu lauschen. Die Pilger sahen ihn, erkannten ihn und verkündeten, sein Gesicht trage die Zeichen, die der Erwartete oder Messias tragen sollte: einen Leberfleck auf der linken Wange, eine Lücke zwischen seinen oberen Schneidezähnen. Der Häuptling eines Kriegerstammes von Kordofan, der Baggaras – die große Sklavenhändler waren – , erkannte ihn als den Mahdi. Dieser Funke setzte den ganzen Sudan in Brand. Ein heiliger Krieg sollte die verhassten »Türken«, die ägyptischen Unterdrücker, hinwegfegen. Die Armeen, die zur Niederschlagung der Rebellen ausgesandt wurden, wurden eine nach der anderen vernichtet, selbst die Armeen, die von europäischen Kommandanten geführt wurden. Und die modernen europäischen Waffen jener Armeen gelangten schließlich in den Besitz der Anhänger dieses Nachfolgers Mohammeds. Am Ende des Jahres 1883 war sogar die Hauptstadt Karthoum bedroht. Die britische Regierung, die Ägypten im Jahr davor besetzt hatte, nachdem es zu anti-europäischen Ausschreitungen gekommen war, entschied, dass Karthoum nicht mehr zu halten 277
war, und bat Gordon, die Evakuierung von Europäern und Ägyptern zu organisieren. Gordon nahm die Aufgabe an, aber er wollte die Stadt verteidigen, nicht sie aufgeben. Er erreichte Karthoum am 18. Februar 1884, befestigte es, reorganisierte die demoralisierte Garnison und füllte die Vorräte und Nahrungsmittel gerade noch rechtzeitig auf. Am 12. März begann eine Belagerung, die elf Monate dauern sollte und erst am 26. Januar 1885 endete, als es den Anhängern des Mahdi gelang, eine Bastion im Überraschungsangriff einzunehmen und in Karthoum einzudringen. Gordon wurde auf den Stufen seines Wohnsitzes von einer Speerspitze durchbohrt und dann enthauptet. Der Kopf, in ein Tuch eingewickelt, wurde kurz darauf dem Mahdi zu Füßen gelegt. Der ganze Sudan war verloren. Die Gouverneure des Darfur und des Bahr al-Ghazal, Slatin und Lupton, hatten sich ergeben müssen und waren nun Sklaven im Rebellenlager. Alles, was vom ganzen ägyptischen Reich übrig blieb, war Äquatoria, die südlichste Provinz, regiert von Emin Bei. Äquatoria war eine isolierte, unerreichbare Provinz, eine Phantomprovinz. Aber es war eine Provinz, die Emin Bei zu verteidigen entschlossen war. Emin Beis eigentlicher Name war Eduard Schnitzler. Er war deutscher Jude, 1840 in Preußen geboren. Er besaß einen Universitätsabschluss in Medizin und hatte auch Naturkunde studiert. Dann hatte er sich entschlossen, sein Glück im Osmanischen Reich zu suchen. Er hatte in der Tat sein Glück gefunden – relativ gesehen – 278
, als er in die Dienste eines Paschas trat. Als sein Gönner starb, kehrte er kurz nach Preußen zurück und ging dann nach Ägypten und in den Sudan, wo Gordon ihn als Arzt einstellte. Seitdem nannte er sich Emin Effendi Hakim, »der bewährte Doktor«. Er hatte sich den Titel Bei und die Position des Gouverneurs von Äquatoria verdient, indem er für Gordon delikate diplomatische Missionen an den Höfen Ugandas und Unjoros ausführte. Als der Mahdiaufstand ausbrach, war er in der Isolation seiner Residenz in Lado geblieben. Von Karthoum trafen keine Dampfschiffe mehr mit Vorräten ein. Alles, was aus dem Norden ankam, waren Gerüchte, einige erschreckend, andere erstaunlich – zum Beispiel, dass Gordon jederzeit mit einer riesigen Armee und Dutzenden von indischen Elefanten anrücken würde. Was stattdessen kam, waren die Vorläufer der Armee des Mahdi, die die nördlichsten Garnisonen von Äquatoria anzugreifen begannen. Emin Bei erlag nicht der Versuchung, seinen Feind in einer offenen Schlacht herauszufordern, in der er sicherlich zahlenmäßig unterlegen gewesen wäre. Stattdessen wählte er eine elastischere Strategie, Guerillakrieg mit vielen kleinen Blitzschlachten, wobei die Armee des Mahdi ins Innere des Territoriums gelockt wurde, wo sie nicht mehr auf die Unterstützung der Eingeborenen zählen konnte. Er fügte ihm unzählige kleine Verluste zu. Auf diese Weise wurde der anfängliche Schwung des Mahdi verlangsamt; Emin Bei und Äquatoria wurden in Frieden gelassen. 279
Es stimmt, seine Provinz war auf ein kleines Gebiet seiner ursprünglichen Größe reduziert worden, und die Hauptstadt war aus Sicherheitsgründen von Lado nach Vadelai verlegt worden, 320 Kilometer weiter südlich. Aber in diesem Regierungsbezirk, wo die totale Isolation ihn zum totalitären Monarchen machte, lebte Emin friedlich mit zwei weiteren Europäern, einem italienischen Hauptmann namens Gaetano Casati und einem russisch-deutschen Forscher namens Vassily Junker. Emin verbrachte die Zeit mit seinen geliebten entomologischen und botanischen Studien. Er war ein erstklassiger Verwalter; er vermehrte den Reichtum des Landes, das man ihm anvertraut hatte, und wartete ab, bis er ihn wieder nach Norden, nach Kairo schicken konnte. Er häufte Gummi, Kaffee, Elfenbein und Baumwolle an. Er hatte genügend Vorräte, ein paar Tausend gut bewaffnete Soldaten, Kanonen, zwei Dampfschiffe, ägyptische und sudanesische Offiziere, mit denen er auf gutem Fuß stand, wohl auch weil er formell zum Islam übergetreten war. Vielleicht gefiel es ihm sogar heimlich, dass er von niemandem Befehle empfing; vielleicht war er erfreut bei dem Gedanken, eine eigene kleine Welt zu haben, die er nach eigenem Gutdünken formen konnte. Aber nach vielen ruhigen Monaten schaffte es der lange Arm des Khediven Tawfiq, ihn zu erreichen. Und damit begann der Ärger. 1886 gelang es Kairo, dem Gouverneur von Äquatoria (via Sansibar) Neuigkeiten und Ratschläge zu übermitteln: Gordons Tod, der Fall von Karthoum, der 280
Triumph des Mahdi im ganzen Sudan, die Unmöglichkeit, ihm Hilfe zu schicken. Dennoch könne Emin eine Evakuierung der Provinz organisieren, indem er mit all seinen Leuten zum Indischen Ozean marschierte. Es war, milde ausgedrückt, ein gewagtes Unterfangen, und es hätte leicht zum kompletten Desaster werden können: Es bedeutete, eine Reise von Tausenden von Meilen durch feindliches Territorium zu machen, mit einer unvergleichlich großen Karawane, die aus 10000 Menschen bestand, die Hälfte davon Frauen und Kinder. Der Gouverneur, der absolut keinen Grund sah, ein Gebiet zu verlassen, das fest in seiner Hand war und wo das Leben besser war als jemals zuvor, machte den Fehler, die Idee seinen Offizieren und Soldaten zur Überlegung zu unterbreiten. Diskussionen, Meinungsverschiedenheiten, sogar heftige Dispute folgten; Emin verlor langsam die Kontrolle über seine Männer. Jedenfalls schickte er zur Feststellung, ob der Massenexodus eine praktikable Option war, Casati zum Hof des Königs von Unjoro, um mit ihm ein Bündnis zu schließen und um die Erlaubnis zu erhalten, durch sein Reich zu ziehen. Er schickte Junker nach Sansibar, um über die tatsächliche Situation Äquatorias Bericht zu erstatten. Casati wurde in Unjoro mit erdrückender Gastfreundschaft empfangen, die nach einiger Zeit wie eine versüßte Gefangenschaft aussah; schließlich floh Casati. Junker gelangte erfolgreich nach Sansibar, und im Dezember 1886 war er gesund und wohlbehalten in Kairo, wo sein großer Eifer die umfangreiche Maschi281
nerie eines Rettungsversuchs in Gang setzte, der für den ahnungslosen Emin tödlich ausgehen sollte. Plötzlich wurde Emin Bei, der bisher von der restlichen Welt glücklicherweise ignoriert worden war, von der Presse und den übertriebenen Aussagen Junkers zum Held des Tages gemacht: ein Militärkommandant und Wissenschaftler, der in der einen Hand den Säbel schwang und in der anderen eine Insektenlupe hielt, ein furchtloser Europäer allein im Herzen des Schwarzen Kontinents, allein, verlassen, isoliert und umgeben von wimmelnden Horden fanatischer Wilder. Er war Livingstone und Gordon in einem, in größeren Schwierigkeiten, als die beiden jemals gewesen waren, ein Symbol der Zivilisation, das gerettet werden musste, koste es, was es wolle. Und wem konnte man diese Rettung besser anvertrauen als dem Retter par excellence? Einstimmig trompeteten die Zeitungen der Welt den Namen von Henry Morton Stanley. Das mag ein großer kollektiver humanitärer Impuls gewesen sein, aber eine weitere Nachricht aus dem abgelegenen Äquatoria hat vielleicht zu diesem Chor mit beigetragen: Während Emin Bei isoliert gewesen war, hatte er langsam in den baufälligen Hütten von Vadelai einen Vorrat an Elfenbein angehäuft, der nun 100000 Pfund Sterling wert war – ein Schatz, der ebenfalls vor den Barbaren gerettet und zu Gunsten der Zivilisation bewahrt werden musste. In England stellte man ein Komitee zusammen, das die Rettungstruppe organisieren sollte. Spenden flossen, Freiwillige meldeten sich. 282
Stanley nahm natürlich den Oberbefehl über die Expedition an, und es gelang ihm – wobei er allen Widerstand überstimmte –, seinen eigenen Plan für die Rettung durchzusetzen. Stanley hatte vor, Äquatoria von Afrikas Westküste her zu erreichen, nicht von Osten, und dabei würde er seinen geliebten Kongo hinauffahren. Es mag der längere Weg erschienen sein, aber er behauptete, es sei der sicherere und leichtere Weg, wo es genügend Wasser und Nahrung gab. Im Januar 1887 brach der amerikanische Forscher nach Sansibar auf, wo er die erfahrenen Träger und die Waren beschaffte, mit denen er mit den Eingeborenen Tauschhandel betreiben wollte. Was am wichtigsten war, er holte Tippu Tib zu sich, den arabischen Kaufmann, der die Region östlich der Stanley-Fälle beherrschte und auf den er zählte, alle benötigten Träger zu beschaffen, um das Elfenbein aufzuladen, wenn es soweit war. Am 18. Januar landete die Expedition an der Mündung des Kongo. Sie belief sich auf 800 Mann, darunter elf englische Offiziere, mit 524 Gewehren bewaffnet. Von Léopoldville bis Yambuya, am Zusammenfluss des Aruwimiflusses mit dem Kongo, war die Reise auf den Dampfschiffen, die nun regelmäßig auf dem großen Fluss des »Unabhängigen Kongostaats« fuhren, sicher und leicht. In Yambuya errichtete Stanley ein großes befestigtes Lager, und er stellte die für seine Rückkehr nötigen Vorräte zusammen, weil er auf dem gleichen Weg zurückkehren wollte. Er beauftragte Major Barttelot und den Naturforscher Jameson mit der 283
Aufsicht über das Lager. Sie sollten dort auf die von Tippu Tib versprochenen Träger warten. Am 28. Juni betraten Stanley und die 380 Mann seiner Vorhut die tropfenden Schatten des großen Kongo-Regenwaldes. Wir marschierten zum Tor hinaus, Kompanie für Kompanie im Gänsemarsch. Jede mit ihrer Flagge, ihrem Trompeter oder Trommler, jede mit ihrem Hilfstrupp, mit 50 ausgewählten Männern als Voraustruppe, die die Hippe und die Axt schwingen sollten, um junge Bäume zu fällen, eine Handbreit der Baumrinde abzuschälen, die Blätter abzuschneiden und auf den Rattan einzuhauen, alle störenden Zweige zu entfernen, die den beladenen Trägern im Weg sein könnten, Bäume zu fällen, um damit Bäche passierbar zu machen, am Ende einer Tagesetappe aus Büschen und Zweigen Zeribas oder Bornas um das Hüttenlager herum zu formen. Die Voraustruppe sollte einen Weg finden oder, wenn keiner zu finden war, den dünnsten Teil des Dschungels auswählen und ohne Verzögerung einen Tunnel hindurchschlagen, denn es ist äußerst ermüdend, mit einer schweren Last auf dem Kopf in der Hitze zu stehen. Nach 155 Tagen erblickten sie endlich den ersten Lichtschimmer, Vorboten des offenen Landes; nach 166 Tagen, am 4. Dezember 1887, verließen sie den Dschungel und näherten sich dem Albertsee in der Hoffnung, 284
bald das Wasser zu sehen. Sie erreichten das ersehnte Seeufer dann am 13. Dezember und begannen sofort, die Eingeborenen eindringlich zu befragen: Wo sind die weißen Männer? Wo ist das große Kanu, das Rauch spuckt? Und die Eingeborenen antworteten: Ihr seid die ersten weißen Männer, die wir je gesehen haben, und hier ist das einzige Kanu, das Rauch spuckt, eines, das wir anzünden. Darüber hinaus hatten alle Stämme der Umgebung bald die Waffen gegen diese unangekündigten Eindringlinge erhoben. Stanley beschloss, sich in eine weniger aufgeladene Gegend zurückzuziehen, etwa 320 Kilometer vom See entfernt. Dort baute er Befestigungen und wartete auf die Nachhut unter Barttelots Kommando, die inzwischen ihren Marsch mit den von Tippu Tib geschickten Trägern begonnen haben musste. Und er schickte seinen Leutnant Stairs noch weiter zurück, um den zerlegten Dampfer Advance zu holen, den man wegen der Transportschwierigkeiten zurückgelassen hatte. Mit der Advance würde er das nördlichste Ufer des Albertsees im Territorium von Äquatoria erreichen können. Inzwischen machten in Vadelai, dem EntomologenParadies, seltsame Gerüchte die Runde. Die sprechenden Trommeln erzählten von weißen Männern, die aus dem großen Wald herauskamen und dann sofort wieder darin verschwanden. Im Februar 1888 drehte Emin mit seinem Dampfschiff eine Runde um den See, aber die Uferbewohner gaben ihm nur vage oder widersprüchliche Informationen. Und so hinterließ Emin bei den 285
Stammeshäuptlingen Briefe für diese Phantombesucher und kehrte nach Vadelai zurück, um Insekten zu studieren. Kein Stück Papier ging je im riesigen und undurchdringlichen afrikanischen Labyrinth verloren. Als Stanley im April mit dem unerlässlichen Dampfschiff zurückkehrte, erhielt er sofort einen in Wachstuch eingeschlagenen Brief des Gouverneurs. Schließlich fand das lang erwartete Treffen am 29. April statt, am Westufer des Sees, nahe von Msua, dem südlichsten Stützpunkt in Äquatoria. Stanley sah, wie ein Etwas unter Pfeifen und Dampfwolken aus dem See herauskam: Es war das Dampfschiff Khedive, und Emin und Casati stiegen herunter, umgeben von zahlreichen ägyptischen Offizieren. Diese Männer sahen nicht im Geringsten aus, als ob sie gerettet werden müssten, bemerkte der Forscher in seinem Buch, und er konnte seine Verärgerung nicht verheimlichen. Sie trugen alle rote Fese und makellose weiße Uniformen, die frisch gewaschen und gebügelt waren; sie waren alle rasiert und parfümiert, das Abbild von Gesundheit und Wohlergehen, während Stanley und seine Männer aussahen wie – nun, sie sahen aus wie Männer, die die letzten sechs Monate durch einen äquatorialen Dschungel marschiert waren. Dem Treffen folgte ein raffiniertes und opulentes Bankett, das die Geretteten den Rettern boten; beim Essen unterhielt man sich gehoben in perfektem Englisch. Emin sprach ein Dutzend Sprachen fließend. Der Amerikaner war, gelinde gesagt, irritiert, aber er war so weit gereist, um zu retten und – bei Gott – ret286
ten wollte er. Er bemühte sich, dem neu ernannten Pascha (der Khedive hatte Emin befördert, und Stanley selbst hatte das Ernennungsdekret überbracht) die ausgesprochen schreckliche Situation zu erklären, in der Emin sich nun befand; er beschwor die Schreckgestalten des Mahdi, der Könige von Uganda und Unjoro herauf, die bereit waren, ihn jederzeit anzugreifen. Emin und Casati konnten sich selbst oder Äquatoria jedoch nur schwer in Stanleys Übertreibungen wieder erkennen. Beide Männer liebten Afrika und die Afrikaner – der Gouverneur hatte eine Abessinierin geheiratet, die leider gestorben war, und sie hatten eine Tochter, die
Henry Morton Stanleys Hut. Stanley trug diesen Tropenhelm, während er quer durch Afrika marschierte, um anderen Entdeckern zu Hilfe zu eilen, die allerdings gar nicht wussten, dass sie Rettung benötigten, oder überhaupt nicht gerettet werden wollten. – Royal Geographical Society, London, UK/ Bridgeman Art Library 287
noch bei ihm in Vadelai lebte –, und beide Männer waren genau dort, wo sie waren, ganz zufrieden. So ging es auch den meisten Ägyptern und Sudanesen, die Ehefrauen, Kinder, Felder und Häuser hier hatten. Sie hatten in Äquatoria eine Situation für sich vorgefunden, wie sie sie in Kairo oder Karthoum nie hätten erhoffen können. Für Äquatoria waren das Jahre großen Wohlstands gewesen. Die einzigen Dinge, die allmählich knapp wurden, waren Munition und europäische Medikamente, aber es gab genügend Ersatz aufgrund des Erfindungsreichtums der Eingeborenen und heimischer Kräuter. Stanley jedoch blieb hart. Er sprach überhebliche Drohungen aus; er setzte Ultimaten. Es war seine Aufgabe, sie alle in die »zivilisierte Welt« zurückzuführen. Er spielte außerdem ein doppeltes, ja ein dreifaches Spiel. Falls Emin zum Beispiel in die Dienste des Königs von Belgien treten wollte, dann könnte er vielleicht hier bleiben als Repräsentant des unabhängigen Kongostaates, an den Äquatoria vorläufig angeschlossen werden würde. Oder er und seine Männer könnten zum Victoriasee marschieren und dort die britische Flagge hissen – in der Tat arbeitete dort eine englische Handelskompanie und versuchte, Kenia und Uganda unter ihre Kontrolle zu bekommen. Emin Effendi Hakim, »der bewährte Doktor«, weigerte sich, diejenigen zu verraten, denen er gedient hatte, er weigerte sich, seinen Souverän, den Khediven von Ägypten, zu verraten. Aber er war ein sanftmütiger Mann, von Natur aus zaudernd, und Stan288
ley gelang es, unter seinen Männern Zwietracht zu säen. Sie begannen, darüber zu reden und zu streiten, ob sie bleiben oder gehen sollten. In der Zwischenzeit machte sich Stanley zunehmend Sorgen um das Schicksal seiner Nachhut, die schon vor einiger Zeit hätte aufschließen sollen. Stattdessen vergingen Tage, Wochen und Monate ohne Nachricht. Was war aus Barttelots Kolonne geworden? War sie vielleicht in der Tiefe des Dschungels ausgelöscht worden? Im Februar hatte er Boten ausgeschickt, um die Kolonne zu treffen, aber auch von ihnen hatte er nichts gehört. Sie schienen verschwunden zu sein, vom Dschungel verschluckt. Am 16. Juni beschloss der Amerikaner, mit einigen Begleitern zurückzugehen, um selbst herauszufinden, was passiert war. Bei jeder Biegung und Kurve des Weges spähte er gespannt durch die Pflanzenkorridore in der Hoffnung, Barttelot zu entdecken. Aber erst zwei Monate später, am Morgen des 17. August und nach fast 1000 Kilometer Marsch, erblickte man an einem Ort namens Banalya, nur 150 Kilometer von Yambuya entfernt, endlich ein Lager in einer Lichtung: die Nachhut, besser gesagt, was davon übrig war. Sobald Stanley durch die Holzpalisade geschritten war, wurde er mit dem schrecklichen Anblick eines Beinhauses konfrontiert. Die Luft stank nach totem Fleisch; Leichen lagen verstreut, unbestattet, auf dem Boden. Sterbende Männer lagen auf schmutzigem Stroh, ihre Gesichter ausgezehrt und gezeichnet von den Pocken. 289
Von den 271 ursprünglichen Mitgliedern der Nachhut hatten nur 102 überlebt; von den fünf weißen Offizieren zeigte sich nur einer – Bonny – dem Kommandeur. Bonny erzählte Stanley, dass Barttelot, nachdem er klare Anzeichen von Verrücktheit zu zeigen begonnen hatte, einen Monat zuvor bei einem Streit mit einem Schwarzen getötet worden war, dass sich Jameson auf die Suche nach Tippu Tib gemacht hatte, um mehr Träger zu bekommen (später erfuhr man, dass auch er tot war), dass Troup ernstlich krank nach England zurückgeschickt worden war und dass Ward zur Mündung des Kongo zurückmarschiert war, um nach London zu telegrafieren und weitere Instruktionen zu bekommen. Die Männer hatten schon in Yambuya begonnen, wie die Fliegen zu sterben, an Fieber, Typhus, perniziöser Anämie, Hunger und Pocken. Tippu Tib hatte viel weniger Träger geliefert – und elf Monate später als vereinbart. Nachdem Barttelot nichts mehr von Stanley gehört hatte, waren er und die anderen schließlich davon überzeugt, dass er im Wald gestorben sei, da ihnen entsprechende Gerüchte von Eingeborenen zugetragen worden waren. Es schien nicht viel zu geben, was Stanley hätte tun können, um diese Katastrophe zu mildern. Er gab den Überlebenden gesunde Nahrung (viele waren gestorben, weil sie sogar zu schwach waren, die Mahlzeiten zu kochen, und rohen Maniok gegessen hatten, der giftig ist) und brach einige Tage später mit denen, die laufen konnten, wieder auf; die Sterbenden – 40 von 100 – 290
überließ man ihrem unentrinnbaren Schicksal. Der Rückmarsch – obwohl nicht zu anspruchsvoll, da er durch bekanntes Terrain führte – kostete weiteren 106 das Leben, 38 davon waren Mitglieder der unglückseligen Nachhut. Am 20. Dezember erreichten sie Fort Bodo, das Lager, das Stanley 320 Kilometer entfernt vom Albertsee errichtet hatte. Dort warteten seine restlichen Männer auf ihn, zusammen mit lauter neuen Sorgen: Es hatte schon seit einiger Zeit keine Nachrichten mehr von Emin und Jephson gegeben (Letzterer war ein Offizier, den Stanley geschickt hatte, um den Pascha auf einer Truppeninspektion der Garnisonen von Äquatoria zu begleiten, mit dem Zweck, die Männer festzuhalten, die gehen wollten). Und wieder gab es keine Alternative, als die Situation selbst in Augenschein zu nehmen. Stanley gönnte sich drei Tage zum Ausruhen, dann marschierte er mit allen seinen Männern, 412 insgesamt, zum See und ließ Fort Bodo in Flammen zurück. Am 16. Januar 1889, nur noch einen Tagesmarsch vom Albertsee entfernt, erhielt der Forscher drei Briefe von Emin und zwei weitere von Jephson. Jephsons Brief ließ Stanley einen »tödlichen Schauer« über den Rücken laufen. Die Zwietracht, die entstanden war, trug ihre bitteren Früchte. Die ägyptischen Soldaten und ihre Offiziere hatten gemeutert, da sie irgendwie davon überzeugt waren, dass ihr Gouverneur sie alle aufgeben wollte, um Stanley zu folgen, und dass er Äquatoria den Engländern für ein Butterbrot verkaufen 291
würde. Emin, Jephson und Casati wurden alle gefangen gehalten. Und die Mahdisten hatten plötzlich – nach vierjährigem Waffenstillstand – angegriffen und das Fort Regiaf eingenommen; die Garnison des Forts war nach Süden geflüchtet und berichtete von regelrechten Massakern. Panik breitete sich aus. Es gab jedoch auch etwas Gutes: Die Panik veranlasste die ägyptischen Meuterer dazu, den Pascha und die anderen freizulassen. Die rebellischen Truppen wussten nicht mehr, was sie machen sollten; sie baten Stanley nun um Pardon. Stanley nutzte den Augenblick und legte die Lösung dar, die er schon immer vorgeschlagen hatte: Sie sollten Äquatoria evakuieren und nach Osten zur Küste marschieren. Die Offiziere beugten sich seinem Willen. Sie erbaten und erhielten drei Wochen Zeit, um zu ihren Garnisonen zurückzukehren und sie zusammenzutrommeln; sie sollten dann alle in Kavalli versammeln, an der nordöstlichen Spitze des Albertsees, die als Treffpunkt ausgemacht war. Aber ein Monat verging, und die Truppen kamen nicht – 1500 reguläre und 3000 zusätzliche Soldaten. Emin kannte derartige Verzögerungen schon lange und sah den vertrödelten Termin als Normalfall an. Aber dem misstrauischen Stanley kam es verdächtig vor. Er begann Verrat zu wittern. Stanley glaubte, jene hinterhältigen »Türken« planten ein Massaker. Es gelang ihm, Briefe in die Hände zu bekommen, in denen er Sätze fand, die alles andere als beruhigend waren; der amerikanische Forscher interpretierte sie auf die schlimmste Weise. Schließlich glaubte er, er könne 292
Emin, der inzwischen mutlos geworden war, ganz beiseite schieben. Während seiner langen Herrschaft über die Provinz war eine Todesstrafe nie notwendig gewesen. Der unerbittliche Stanley aber befahl die Gefangennahme des vermutlichen Anführers der Verschwörung, Rehan. Nach einem kurzen Schauprozess wurde Rehan gehängt und seine Leiche den Hyänen überlassen. Nun befahl Stanley, der Retter, der die Situation fest in der Hand hatte, den sofortigen Abmarsch, trotz Emins und Casatis anhaltenden Zweifeln, die zögerten, diejenigen ihrer Männer aufzugeben, die Ägypten gegenüber loyal geblieben waren. 10000 Leute (Soldaten, Beamte und Familienmitglieder) hatte man erwartet; nur ein Zwanzigstel davon – 570 Männer, Frauen und Kinder – kamen am 15. April 1889 nach Kavalli. Von dort waren es 2400 Kilometer bis Bagamoyo. Fast 300 der Marschteilnehmer verlor man auf dem Weg; insgesamt kamen 290 Leute sicher an. Der Rest starb unterwegs; die meisten wurden eher Opfer der Strapazen als feindlicher Eingeborener. Denn Stanleys regelmäßiger und fleißiger Gebrauch des Maxim-Maschinengewehrs machte kurzen Prozess mit allen Gegnern in der unruhigen Region von Unjoro und in dem von Banditen heimgesuchten Usukuma. Als sie Mpuapua erreichten, erst zwei Drittel des Weges bis zur Küste, trafen sie eine deutsche Expedition, die zu spät losgeschickt worden war, um den Pascha zu retten. Die Deutschen hatten nicht die geringste Absicht gehabt, ihn mit Gewalt zu befreien. Dr. Karl Peters war der Anführer der Expedi293
tion, und trotz seiner Enttäuschung verwöhnte er die äquatorialen Flüchtlinge mit feinem Schinken, Champagner und Zigarren. Ein Journalist, der mit Peters reiste, beschrieb ihr malerisches Treffen mit den Überlebenden: Sie zogen in endlosem Gänsemarsch den sich windenden Pfad entlang. Alle Trachtenstile, die für diesen Teil Afrikas typisch waren, wurden vom einen oder anderen der Gruppe getragen, und es gab nicht wenige, die nur ihre Haut trugen, passend zum bescheidenen Modebewusstsein der Afrikaner. 30 oder 40 Männer der Expedition hatten für ihre Dienste leuchtend rote Decken bekommen, die in Galauniformen umgewandelt worden waren, und diese Männer waren für den Transport von Stanleys Zelt und seinem persönlichen Besitz verantwortlich. Stanley selbst ritt auf einem hübschen Esel, der von einem jungen Mann mit rotem Turban, roten Hosen und einem roten Hemd geführt wurde. Der Junge schien stolz auf seine besondere Aufgabe zu sein, die ihm in Anerkennung persönlicher Verdienste anvertraut worden war. Hinter dem Maultier kam das Spezialcorps des großen Forschers, das Kisten, Zelte und andere Dinge auf dem Kopf trug. Diese Männer waren in rote Decken gehüllt, die ihnen bis zu den Fersen hingen. Die scharlachrote Brigade trottete zusammen mit Stanley und seinem 294
Esel daher und überholte die anderen so, wie ein Eilzug einen Omnibus überholt. Sie erreichte als Erste das Lager. Wenn die Sonne zu heiß schien, öffnete Stanley einen grünen Schirm. Von den Europäern ritten Emin Pascha, Hauptmann Casati, Jephson und Bonny auf Eseln, aber Hauptmann Nelson, Leutnant Stairs und Doktor Parke gingen zu Fuß. Der mutige Chirurg war die ganze Strecke keinen Meter auf einem Tierrücken geritten. Zwei kräftige Diener trugen Emins kleine Tochter in einer Sänfte, und einige der ägyptischen und Mischlingsfrauen ritten auf Eseln, während andere zu Fuß gingen und wieder andere auf Gurten getragen wurden. Männer und Frauen trugen ihre Kinder auf den Schultern, aber nicht immer. Einer der traurigsten Anblicke des ganzen Marsches waren die armen sechs und sieben Jahre alten Kinder, müde und fußkrank, die daherhumpelten und weinten, um hochgenommen und getragen zu werden. Ausgehungert, durstig, müde, humpelnd, weil sich Dornen in ihre Füße gebohrt hatten, schluchzten sie bei jedem Schritt, wenn sie ihre Mutter aus den Augen verloren. Weitergeschubst, brutal gestoßen von rauen Männern, die sie lieber im Wald verschollen oder tot sähen, erwartete diese kleinen Reisenden wahrlich ein Schicksal, das tiefes Mitleid hervorrief.
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Der Exodus endete am 4. Dezember 1889 in Bagamoyo, wo nun eine deutsche Garnison stationiert war. Bei der kürzlich erfolgten Aufteilung Afrikas unter den Kolonialmächten hatte Deutschland Tanganjika bekommen und nahm allmählich seine neue Kolonie in Besitz. Beim Bankett an jenem Abend wurden viele Champagnertoasts ausgebracht, und der Deutsche Emin Schnitzler erhielt ein persönliches Telegramm vom Kaiser, das ihn anscheinend sehr berührte. Dann änderten sich die Dinge auf einmal dramatisch – ein Vorgang, der nie ganz aufgeklärt wurde. Der Pascha, der sehr kurzsichtig war und vielleicht zu viele Toasts ausgebracht hatte, verließ den Raum, fiel von einer Veranda und erlitt einen Schädelbruch. Manche vermuteten, Emin habe versucht, Selbstmord zu begehen: wegen der Beleidigungen, die Stanley ihm zugefügt hatte, und aus Scham darüber, dass er es dem Amerikaner gestattet hatte, seinen Willen durchzusetzen. Denn Emin hatte in Mpuapua Peters gestanden, er bereue es sehr, die meisten seiner Männer im Stich gelassen zu haben. Nichts davon störte den Triumph des »großen Retters«. Stanley wurde nach seiner Rückkehr nach England mit Siegeslorbeer überhäuft; kurz darauf heiratete er die Malerin Dorothy Tennant. Im Park des Anwesens, das das Paar gekauft hatte, wurde der Teich Stanley Pool genannt, und ein kleiner Hügel hieß nun Mondgebirge. Dort starb Stanley, der nun auch Bula Matari, Felsenbrecher, hieß, am 9. Mai 1904. Als Emin sich von seinem Sturz erholt hatte, verließ 296
er die Dienste des Khediven und nahm einen Posten in der Verwaltung des gerade entstehenden DeutschOstafrika an. 1891 brach er mit einem Dr. Stuhlmann nach Äquatoria auf, seinem eigenen Land, aus dem er mit Gewalt weggezerrt worden war. Anscheinend hoffte er, die Überlebenden dafür gewinnen zu können, mit ihm in die Dienste Deutschlands zu treten. Aber sein Wiedersehen mit seinen früheren Untertanen in Kavalli verlief nicht glücklich, und er beschloss, seine Reise nicht nach Norden fortzusetzen; 126 sudanesische Männer, Frauen und Kinder begleiteten ihn. Die Karawane wurde von den Pocken heimgesucht und zerbrach in zwei Teile. Stuhlmann kehrte im Januar 1892 allein an die Küste zurück; Emin wandte sich nach Westen, zum großen Dschungel, und verschwand. Erst viel später kam die Nachricht von seinem Tod: Er war von Kannibalen in der Nähe von Lualaba getötet und gegessen worden, möglicherweise am 26. Januar 1893. Selim Bei, Emins stellvertretender Kommandeur, blieb in Äquatoria. Er und seine Männer kamen zu spät, um den ungeduldigen Stanley zu erreichen, der sofort abreisen wollte. Jetzt warf der Amerikaner Selim Bei ein viel schlimmeres Verbrechen als Säumigkeit, absichtlich oder nicht, vor. Stanley behauptete, der verräterische Selim hätte einen finsteren Plan geschmiedet, um ganz Äquatoria an die Mahdisten zu übergeben. Emin wies diese Anschuldigung heftig zurück. In der Tat wehrte Selim im Jahr 1891 einen Angriff eben jener Anhänger des Mahdi ab, mit denen er sich angeblich verschworen 297
hatte. Seine Truppen waren verstärkt worden durch den zufälligen Fund eines Vorrats an zahlreichen Munitionskisten und Waffen, den Stanley vergraben hatte, bevor er zur Küste aufbrach. Als ein Hauptmann Lugard im Auftrag der British East Africa Company Selim erreichte, war dieser einverstanden, ihm das Kommando über seine verbliebenen Truppen zu übertragen. Die Truppen waren in Uganda und Unjoro stationiert. Jene »Aufgesammelten des Sudan« erwiesen sich als äußerst mutig, und Lugard gelang es, sie über Mombasa nach Ägypten zu evakuieren. Es waren 9000, darunter Männer, Frauen und Kinder: zwanzigmal so viele, wie in Stanleys Karawane mitmarschiert waren. Im Juni 1892 kehrten fast alle gesund und munter nach Kairo zurück. Selim Bei jedoch war nicht dabei. Er war in Uganda geblieben, wo er im Sommer 1893 starb.
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Das Herz der Finsternis
Als Leopold II. von Sachsen-Coburg-Gotha am 17. Dezember 1865 vor dem Parlament von Brüssel erschien, um mit langsamer und zuversichtlicher Stimme den Verfassungseid zu lesen, der ihn durch den Willen der Nation zum König der Belgier machte, hatte er einige sehr klare Vorstellungen von der Zukunft des Landes, das zu klein für seine großen Vorhaben war. Er hatte schon etliche Jahre zuvor, als er noch Prinz und rechtmäßiger Thronfolger war, von einer Reise nach Griechenland ein seltsames Geschenk für Frère-Orban, den Mann, der sein vertrautester Minister werden sollte, mitgebracht, ein Geschenk, das prophetische Bedeutung haben und als eine Art Talisman wirken sollte: ein Bruchstück antiken Marmors, auf das er den Satz geritzt hatte: »Belgien braucht eine Kolonie.« Er musste recht lange warten; erst 1876 konnte er endlich den Grundstein zu einem Gebäude legen, das seine kühnsten Träume weit übertreffen sollte. Am 12. September jenes Jahres eröffnete König Leopold II. in Brüssel eine internationale Konferenz von Geographen und Forschern. Nach siebentägiger Debatte über die wissenschaftliche Bedeutung der Forschung und die humanitäre Bedeutung der Unterbindung des Sklavenhandels beschloss die 299
Konferenz, die African International Association ins Leben zu rufen. Der König wurde zum Präsidenten gewählt. Das erklärte Ziel der Gesellschaft war es, die »unerforschten und barbarischen« Regionen Zentralafrikas der Zivilisation zu öffnen und ein Netz von »Forschungsstationen und Krankenhäusern« einzurichten. Einige Monate später brach eine erste belgische Expedition nach Sansibar auf; von dort aus sollte sie zum Tanganjikasee marschieren, um die Region zu erforschen. Fast alle Mitglieder der Expedition wurden jedoch von tropischen Krankheiten dahingerafft, einige sogar schon, bevor sie den Schwarzen Kontinent überhaupt betraten. Im Herbst 1877 hatte das Schiff gerade Antwerpen verlassen, als Leopold II. in The Daily Telegraph las, dass Stanley, nachdem er den ganzen Flusslauf verfolgt und dabei Zentralafrika von einem Ozean zum anderen durchquert hatte, wohlbehalten an der Mündung des Kongo wieder aufgetaucht war. Das war der Mann, den er brauchte. Der König schickte zwei Gesandte, General Sanford (ehemaliger amerikanischer Botschafter in Belgien) und Baron Greindl, die den zurückkehrenden Forscher in Marseille erwarten sollten. Als Stanley im Januar 1878 in dem französischen Hafen landete, luden sie ihn ein, in die Dienste der International Association zu treten, tatsächlich in die Dienste von König Leopold II. Obwohl Stanley amerikanischer Staatsbürger geworden war, blieb er dennoch tief im Inneren ein getreuer Untertan Ihrer Majestät Queen Victoria und wollte ihr den riesigen Brocken des Kongo 300
anbieten; er glaubte, der Kongo wäre für so ein kleines Land wie Belgien zu groß. In London jedoch trafen trotz all seiner Bemühungen seine Bitten auf die tauben Ohren politischer und finanzieller Machthaber. Einige behandelten ihn »wie Don Quijotte, andere noch schlimmer, wie einen Abenteurer und Seeräuber«, wie seine Frau Jahre später immer noch erbost schrieb. Er sah keine andere Möglichkeit, als das Schicksal und die Einladung des belgischen Königs zu akzeptieren. Und so wurde am 28. November jenes Jahres im Königspalast zu Brüssel das Komitee zur Erforschung des Oberen Kongo gebildet. Der Name dieses Komitees täuschte, weil sein erster Zweck die Eroberung des Unteren Kongo war. Stanley wurde beauftragt, eine Expedition zu führen, die die hellblaue Flagge der Association mit einem einzigen goldenen Stern in allen Stationen hissen sollte, die am Fluss »aus kommerziellen Gründen« einzurichten wären. Er sollte Land von den Einheimischen erwerben und ein Kommunikationsnetz aus Straßen, Eisenbahn und Dampfschiff organisieren. Im Januar 1879 brach er nach Sansibar auf, wo er seine getreuen Veteranen für das neue Unternehmen gewann. Ende Mai verließ er die Insel mit dem Ziel Kongomündung. Einige Tage später, am 1. Juni, kamen in Sansibar – das damals ein Mekka für Afrikaforscher war – Gerüchte über die seltsamste Expedition auf, die je auf der Insel gesehen worden war; auch sie entsprang der fruchtbaren Vorstellungskraft König Leopolds II. Während einer Reise durch Ceylon in seiner Ju301
gendzeit war Leopold von den großartigen Diensten beeindruckt gewesen, die der indische Elefant verrichtete, und von der Leichtigkeit, mit der er gezähmt und trainiert werden konnte. Der Herrscher suchte in dieser lang zurückliegenden Erinnerung nach der Lösung für das riesige Transportproblem in der Äquatorialregion, wo Pferde, Esel, Maultiere und Ochsen unvermeidlich durch die Tsetsefliege umkamen, während Kamele nicht auf feuchtem Untergrund laufen konnten und Zebras – von einem optimistischen Zoologen als Lasttiere vorgeschlagen – sich als zu wild und unzähmbar erwiesen. An jenem Morgen des 1. Juni warf der Dampfer Chinsura, der aus Bombay kam, den Anker in der Bucht von Sadani, südlich von Daressalam. Er hatte etwas außerordentlich Wertvolles geladen: vier indische Elefanten, gekauft vom König der Belgier – zwei Bullen, Sundergand und Naderbux, und zwei Kühe, Sosankalli und Pulmalla –, begleitet von einem herrlichen Generalstab aus 13 Mahouts und Cornacs, die in ihren leuchtenden Seidenkleidern und Turbanen, mit ihren juwelenbesetzten Dolchen, ihren Halsketten und bestickten Schärpen wie lauter Rajas aussahen. Die Dickhäuter an Land zu bringen war keine einfache Aufgabe an einer Küste, an der es keinerlei Hafenbefestigungen gab. Glücklicherweise war das Wasser tief, und die Chinsura konnte nur 300 Meter von der Küste entfernt vor Anker gehen. Dort wurden die riesigen Tiere mit Hilfe von Flaschenzügen, die am Hauptmast befestigt waren, aus dem Frachtraum hochgezogen 302
und in das Meer hinabgelassen. Dann schwammen die Elefanten, wobei Cornacs auf ihren Hälsen ritten, an Land, kletterten auf den afrikanischen Strand und streckten triumphierend ihre Rüssel empor. Die Menschen der Küste eilten nach Daressalam, um den ungewöhnlichen Anblick zu bewundern: Elefanten, die knieten, ein Bein hoben, dann das andere, tanzten, liefen und auf ein Zeichen der Männer anhielten, die sie gerne auf ihren Hälsen reiten ließen. Sie tolerierten die Männer nicht nur, sie schienen sie auch zu mögen. Der Aufbruch ins Landesinnere begann als triumphale Prozession; die Afrikaner, die sie sahen, fielen auf die Knie und gaben bei dem Anblick dessen, was für sie Magie zu sein schien, erstaunte Ausrufe von sich. Als die Elefanten aber ein paar Meilen weit im Landesinneren waren, begannen die Schwierigkeiten. Auf dem sumpfigen Gelände versanken die riesigen Tiere bis zum Bauch im Schlamm. In den steilen Hochländern und den dichten und verschlungenen Wäldern musste man Äxte und Säbel benutzen, um einen Weg für sie freizuhauen. Von den glatten Wänden der tiefen Flusstäler mussten die Elefanten mit Kabeln heruntergelassen werden, und viele Dutzende von Männern zogen verzweifelt, um zu verhindern, dass die Elefanten hinabstürzten. Es war noch schlimmer, wenn die Elefanten am anderen Flussufer heraufgehievt werden mussten. Die armen Tiere waren es in Indien gewöhnt, mit Gebäck und Süßigkeiten verwöhnt und mit Wasser und Rum erfrischt zu werden, und in diesem Land des Hungers litten sie wirk303
lich Not. Schließlich waren alle Schwierigkeiten gemeistert, und in Mpuapua machte man eine lange Pause, damit sich Mensch und Tier erholen konnten. Dennoch erlitt Sundergand zehn Tage später einen Schlaganfall und fiel um. Das passiere zahmen Elefanten immer einmal, sagten die Mahouts. Es habe nichts mit Afrika zu tun. Und so ging es weiter, nach dem legendären Tabora, während sich alle kleinen Sultane von Ugogo versammelten, um die Götter aus dem Meer kommen zu sehen, die die magische Kraft hatten, auf einem Elefanten zu reiten, als wäre er ein gewöhnlicher Esel. Und mit ihrer Bewunderung stieg auch die Höhe der Abgabe, die für die Durchreise zu zahlen war, denn Bewunderung hat auch ihren Preis, und göttliche Wesen sollten ihre Würde nicht aufgeben und wegen ein paar Extraschnipseln Baumwolle streiten. Kurz vor dem Abmarsch aus Ugogo wurde Naderbux wacklig auf den Beinen und stürzte plötzlich zu Boden. Er starb am selben Tag. Er war schon krank gewesen, behaupteten die Mahouts. Und sie begruben ihn ganz heimlich, nachts, weil magische Elefanten einfach nicht sterben. Das riesige Grab wurde entdeckt, nachdem die Karawane weitergezogen war, und von da an mussten Reisende, die von der Küste kamen, eine exorbitante Abgabe zahlen; die Eingeborenen behaupteten nämlich, die Heimlichkeit des Begräbnisses habe die Ernte vernichtet. In Mgunda-Mknali, einer finsteren Gegend ohne Nahrung und Wasser, warteten noch schwerere Zeiten 304
auf die Expedition. Labyrinthe aus rasiermesserscharfen Felsen wechselten sich mit Flecken von Akazien mit nadelgleichen Dornen ab, die ein endloses Gewölbe aus Stacheln bildeten. Die Elefanten hielten ständig an, weil sie mit ihren Lasten in den stachligen Zweigen gefangen waren. Es wurde nötig, 50 Mann vorauszuschicken, die eine hohe Galerie durch den Wald schlugen, Pflanzen umhieben und Zweige durchsägten. Die Träger litten jedoch gewaltig, da sie gezwungen waren, barfuß über einen Dornenteppich zu laufen. Aber Gott ist gnädig, und alle Widerwärtigkeiten gehen einmal zu Ende; sie wurden schließlich belohnt durch den Empfang in Tabora, wo Pulmalla und Sosankalli, bedeckt mit ihren grellsten roten und schwarzen Decken, einmarschierten, die Rüssel hochreckten, und ihren Triumph trompeteten. Auf dem Rücken eines jeden der beiden überlebenden Elefanten war eine Sänfte, in der die Europäer bequem saßen, und drum herum waren Mahouts und Cornacs, in Seide glitzernd: ein prächtiger Einzug, der den Erfolg der Expedition zu versprechen schien. Aber der Zeitpunkt war nicht so günstig, wie es zunächst schien: Um Tabora herum war der ganze Unyamwesi in Flammen. Der große Häuptling Mirambo, der einige Zeit zuvor Stanleys Blutsbruder geworden war, hatte sich entschlossen, einen großen, mächtigen Staat aufzubauen, um die Überfälle der Araber abwehren zu können. Mirambo hatte nichts gegen die Europäer, im Gegenteil, er betrachtete sie als seine Freunde. Aber seine Männer, die oft in Eigeninitiative handelten, witterten 305
in dieser verzauberten Karawane Gefahr; Gefahr und die Möglichkeit, beträchtliche Beute zu machen. Die Karawane wurde im Dorf Pimbuè das Opfer eines Hinterhalts, und Weiße, Schwarze und Inder wurden allesamt nach einer langen Belagerung abgeschlachtet. Über das Schicksal der beiden Elefantenkühe ist man sich nicht einig. Manche sagen, sie wurden beim Angriff getötet; andere behaupten, sie seien von den Siegern befreit worden und hätten sich ihren afrikanischen Verwandten im Wald angeschlossen, wo sie ihr Leben in der Wildnis weiterführten und sich gelegentlich nach der guten alten Zeit in Indien zurücksehnten, mit süßen Brötchen und Gläsern mit Rum. In der Zwischenzeit bemühte sich auf der anderen Seite des Kontinents Henry Morton Stanley, im Namen von König Leopold II. die Zivilisation in den Kongo einzuführen. Die erste Station am Fluss wurde am 1. Oktober 1879 gegründet: Vivi, etwa 160 Kilometer von der Mündung entfernt. Dann folgte der schwierigste und wichtigste Teil des Programms: der Bau einer Straße, die sich über 200 Kilometer erstreckte und am Kongo entlang über den Abschnitt des Flusses hinaus verlief, der durch Katarakte unwegsam ist; so sollte es möglich werden, über diese Strecke eine richtige Flotte an Dampfschiffen in schiffbare Gewässer flussaufwärts zu transportieren. Es war ein kolossales Unterfangen mit Dynamitsprengungen und Männern, die Hacken schwangen. Und hier war es, wo Stanley den Beinamen erhielt, unter dem er in die Geschichte eingehen sollte: 306
Als die Eingeborenen sahen, wie er kleine Felsen mit einem Vorschlaghammer zertrümmerte, nannten sie ihn Bula Matari, den Felsen- oder Steinbrecher. Und so schloss Bula Matari, der sich in gewisser Weise auf seinen Ruf als Überwinder von Hindernissen verließ, im Namen von Leopold II. von Belgien Dutzende von Verträgen mit Stammeshäuptlingen, und diese tauschten ihr Land gegen »einen üppigen Vorrat an feinen Kleidungsstücken, Livreemänteln und goldbesetzten Uniformen, mit einer reichen Auswahl an verschiedenen verkäuflichen Waren … , einige Flaschen Gin nicht zu vergessen«. Aber während der ganzen Zeit, als der amerikanische Forscher Wälder abholzte, sich durch Berge bohrte und ganze Lagerhäuser gebrauchter Kleidung ins äquatoriale Afrika transportierte, gab es auf der anderen Seite des Flusses jemanden, der seine Eroberungen sabotieren wollte. Eine kleine französische Expedition unter der Führung eines Marineoffiziers namens Pierre Savorgnan de Brazza (italienischer Abstammung, geboren in Rio de Janeiro, hatte er die Schmeicheleien des Königs der Belgier im Namen seiner Loyalität zu Frankreich zurückgewiesen) marschierte genau damals entlang dem Flusslauf des Ogooué von Gabun zum Kongo. Und dort gründete er im Juni 1880 die Handelsstation von Franceville. Brazza, der damals 28 Jahre alt war, hatte den gleichen Bezirk schon einige Jahre zuvor erforscht. In der gleichen Gegend stromerte ein weiterer Franzose herum (auch er sollte später amerikanischer Staats307
bürger werden). Paul du Chaillu, der Sohn eines Händlers, der sich an der Mündung des Gabunflusses niedergelassen hatte, war von 1850 bis 1858 durch diese Gegend gezogen und hatte einige Abenteuer erlebt – manche wirklich, manche nur in der Phantasie –, die ihn zuerst berühmt und später berüchtigt machten. Nach seiner Rückkehr nach Europa veröffentlichte er ein Buch, mit dem er zum letzten Schrei der Londoner Salons wurde. Man musste ihn selten zweimal darum bitten, die Felle von Gorillas zu zeigen, die er, immer in spannungsgeladenen Jagdszenen, getötet hatte, weil du Chaillu sozusagen der Erfinder des Gorillas war, eines Tieres, über das die Naturforscher jener Zeit wirklich wenig wussten. Er war es, der als Erster die Geschichten erzählte, die in der europäischen Mythologie des schwärzesten Afrika überleben sollten, wo Gorillas – und er hatte 22 dieser Biester getötet – zu einer Art halbmenschlichem Stamm wurden, nur ein bisschen behaarter und ein wenig primitiver als die anderen Bewohner des Kontinents. Die viktorianische Öffentlichkeit war ganz verrückt nach den unglaublich schlüpfrigen Geschichten von brünstigen Gorillas, die von Zeit zu Zeit über ein schlafendes Dorf herfallen, um einige schwarze Schönheiten zu entführen, auf einen Baumwipfel zu drängen und dort zu schänden. Am Fuße derselben Bäume lebten die sagenhaften Pygmäen – noch eine Spezialität von du Chaillu, dem einzigen Europäer bis dahin, der einen Pygmäen gesehen hatte –, freundliche Gnome des Regenwaldes. 308
Diese unterhaltsamen Märchen wurden von der europäischen Leserschaft – besonders den Damen – sofort wohlwollend aufgenommen; aber allmählich befassten sich damit genauestens auch die ernsthaften Zoologen und Anthropologen, die über die Hochstapelei dieses Dilettanten empört waren, der sich in Dinge einmischte, die besser ihrer gelehrten Kompetenz überlassen blieben. Sie warfen ihm vor, es sei alles völlig aus der Luft gegriffen; er wäre nie weiter als ein paar Meilen ins Landesinnere gereist; er habe Gorillafelle, die er den Eingeborenen abgekauft hatte, als Trophäen seiner Zielgenauigkeit ausgegeben. An diesem Punkt beschloss du Chaillu, verärgert und giftig vor Zorn, seine Geschichten durch eine zweite Expedition zu beweisen. Ja, dieses Mal würde er Afrika von West nach Ost durchqueren. Im Jahr 1863 brach er in sein geliebtes Gabun auf, wo er seinen Marsch beginnen wollte. Aber eine Pockenepidemie hatte das Land heimgesucht, und etliche Stammeshäuptlinge im Landesinneren schienen zu glauben, dass dieser weiße Eindringling die Krankheit mitgebracht habe (diese Diagnose war im Grunde genommen richtig, auch wenn die Epidemie vielleicht nicht auf genau diesen unglücklichen Forscher zurückgeführt werden konnte). Du Chaillu stolperte etwa 700 Kilometer weit im Landesinneren in ein ausgewachsenes Desaster, als einer seiner Männer beim Putzen seines Gewehrs unabsichtlich einen Schuss abgab, der einen zufällig daneben stehenden Eingeborenen tötete. Die Teilnehmer der Karawane konnten sich gerade noch 309
vor dem Zorn der Eingeborenen retten, indem sie, so schnell sie ihre Beine trugen, flohen und dabei alles, was sie mitgebracht hatten, auf dem Boden verstreut liegen ließen, darunter auch die wertvollen wissenschaftlichen Instrumente. Da es du Chaillu nicht gelungen war, den Kontinent zu überqueren, blieb ihm nichts anderes übrig, als zu den freundlich gesinnten Stämmen an der Küste zurückzukehren. Diese Länder wurden von vielen weniger bedeutenden Monarchen regiert. Einer war jedoch in der Tat ein großer Herrscher, ein großer König, so groß, dass er sich N’Combé nannte, Sonnenkönig. N’Combé beherrschte das linke Ufer des Ogooué, und er war ein lustiger alter Monarch, mit großer Leibesfülle und einem vergnügten Gesicht, bekleidet mit einem riesigen weißen Hemd, auf dem eine Brosche und drei Diamanten prangten, die in Hamburg für wenige Pfennige das Paar hergestellt worden waren. Er wickelte sich in ein umfangreiches Gewand aus schottischem Popelin mit schwarzen Karos. Um seinen Hals hing eine Krawatte, die aus einem alten Zelt geschnitten war, in seiner Hand hielt er den Stab eines Tambourmajors, und auf seinem Kopf trug er einen Zylinder, geschmückt mit einer herrlichen goldenen Sonne. Er liebte die Weißen, denn sie brachten ihm Fässer mit Rum, und er hielt immer eine Rumflasche in seiner freien Hand. Dieser fette und gut gelaunte Alkoholiker war auch ein schrecklicher Tyrann, der sowohl Untertanen wie Nachbarn schikanierte. Eines Tages jedoch brannte er ein Dorf zu viel 310
ab; einer der Überlebenden vollzog einen Akt der Unterwerfung und bot ihm einen Schlauch voller Palmwein an. Der Sonnenkönig trank erfreut, und binnen kurzem wand er sich unter Schmerzen und erschreckenden Halluzinationen auf dem Boden. Auch die Medikamente, die zwei vorbeikommende Franzosen anboten, halfen nicht, und er starb. Seine Leichenprozession, angeführt von einem Akkordeon und zwei Trommeln, zog durch die Straßen der Hauptstadt, wobei seine Witwen untröstlich weinten. Savorgnan de Brazza traf einen weiteren mächtigen Herrscher, Makoko, der über das rechte Kongoufer herrschte. Der französisch-italienische Forscher reiste mit einer kleinen Eskorte und vermied jeden Konflikt mit den Eingeborenen. Brazza war ein Eroberer, aber kein Konquistador: das genaue Gegenteil von Stanley. »Bemühen Sie sich, die Schwarzen zu verstehen«, schrieb er als Anweisung für seine Untergebenen. »Bemühen Sie sich, nicht nur die Worte, die sie sagen, zu verstehen, sondern ihre Denkweise. Leben Sie mit ihnen, leben Sie auf ihre Weise. Besuchen Sie ihre Dörfer, befragen Sie Frauen und Kinder. Keine Waffen mitbringen! Keiner sollte bewaffnet sein! Vergessen Sie nicht, dass Sie Eindringlinge sind, keiner hat Sie eingeladen.« Mit dieser Haltung gewann Brazza die Sympathie von Makoko; bis dahin war alles, was Makoko über weiße Männer wusste, dass sie Gewehre abfeuerten, Dörfer plünderten und Schwarze nötigten, ihnen als gezwungene Träger zu dienen. (Makoko hatte offenbar 311
von Stanleys Heldentaten während seiner Fahrt den Kongo hinab gehört.) Nach einem Monat als Gast an Makokos Hof unterschrieb Brazza einen Vertrag mit dem König, wodurch sein Land unter französische Verwaltung gestellt wurde; der Vertrag gewährte Brazza auch ein Stück Land in der Nähe des flussnahen Dorfes M’Fa, und dort sollte später Brazzaville stehen. Brazza ließ eine kleine Garnison aus einem senegalesischen Korporal namens Malamine – der bei dieser Gelegenheit zum Sergeanten befördert wurde – und zwei gabunischen Seeleuten zurück; darüber flatterte die unvermeidliche Trikolore. Brazza reiste zurück zur Küste, um Vorräte zu beschaffen. Auf dieser Reise trafen sich endlich die beiden Forscher am 7. November 1889 im Dorf N’Dambi-Mbongo am rechten Kongoufer. Sie taxierten einander, sie empfanden Respekt füreinander, sie tauschten höfliche Grüße aus, und sie mochten sich überhaupt nicht – sie waren zu verschieden. Brazza sagte über Stanley, dass er »sich den Weg mit Gewehrschüssen und Säcken mit Millionen ebnete«. Brazza dagegen war gezwungen, von seiner Mutter Geld zu leihen, um seine Mission fortzuführen, weil die französische Bürokratie ausnehmend zögerlich war, die versprochenen Zahlungen zu leisten. Die Anwesenheit des französischen Herrn in Marineuniform auf seinem Fluss ließ Stanley rot sehen; sobald er konnte, marschierte er ins Landesinnere. Als er im Juli 1881 den großen See erreichte, der nun Stanley Pool heißt, fand er Sergeant Malamine am rechten Ufer 312
mit seiner übergroßen französischen Flagge und meinte, er sei »ein Mann von überlegenen Fähigkeiten, auch wenn er Senegalese war«. Dann setzte er ans linke Ufer über, wo er seine Dampfschiffe zusammenbaute. Am 1. Dezember gründete er an einem Bergabhang die Stadt Léopoldville. Nur einen Monat später, am Neujahrstag 1882, entdeckte er jedoch, während er flussaufwärts am Ufer entlangfuhr, dass Sergeant Malamine mit »seiner riesigen Trikolore« den Fluss überquert und nun im Dorf Kinshasa sein Lager aufgeschlagen hatte. Der Felsenbrecher versuchte, dem Eisensergeanten Furcht einzuflößen, und erklärte ihm, er könnte ihn mit seinen beiden Gabunern zum Frühstück verschlingen. Malamine wies darauf hin, dass er von Frankreich offiziell unterstützt werde. Stanley ließ das Drohen. Aber Stanley schickte sofort einen Brief nach Belgien, und von Brüssel reichte der lange Arm Leopolds II. nach Paris. Im Mai 1882 kam ein Quartiermeister der französischen Marine in erschöpfter Demut in Kinshasa an und befahl dem unbeugsamen Sergeanten, sich an das andere Flussufer zurückzuziehen. Und so kam das ganze linke Kongoufer bis zum Zusammenfluss mit dem Ubangi in den Besitz des Königs von Belgien; im folgenden Jahr konnte Stanley eine Expedition zum Oberen Kongo bis zu den Stanley-Fällen führen. Während dieser Reise machte er großzügig Gebrauch von der mitgeführten Munition. Am 13. April 1885 begleitete ein 21-KanonensalvenSalut die Gründung des unabhängigen Kongostaates in 313
Vivi, das im ersten Jahr die Hauptstadt sein sollte. Leopold II. wurde von den Vertretern der führenden Mächte, die sich im November 1884 in Berlin versammelt hatten, um über die Aufteilung Afrikas zu verhandeln, als Herrscher des neuen Landes anerkannt. Leopold war mehr als König des Kongo (er hatte kurz in Erwägung gezogen, sich Kaiser des Kongo zu nennen); er war faktisch der Besitzer: absoluter Herrscher einer Region, die 76-mal größer war als Belgien. Alle »freien« Ländereien wurden zu Besitztümern der Krone erklärt; die beiden damaligen Hauptprodukte des Kongo, Elfenbein und Kautschuk oder Gummi, wurden zu Staatsmonopolen. Und um diese Staatsmonopole zu ernten, waren die Eingeborenen verpflichtet, Zwangsarbeit zu leisten: War es nicht schließlich ihre Verantwortung, zum Triumph der Zivilisation beizutragen? Das war der Anfang einer Schreckensherrschaft, die zwei Jahrzehnte dauern und die Hälfte der Bevölkerung des Kongo umbringen sollte. Man hat ausgerechnet, dass sich die direkten und indirekten Opfer des neuen Regimes auf 10 Millionen Menschen beliefen. Während Journalisten in ganz Europa in die allgemeine Lobeshymne auf die neue Kampagne gegen die Sklaverei einstimmten, die man gegen die immer noch in den östlichen Provinzen tätigen arabischen Sklavenhändler führte, wurde der Kongo selbst zum erbärmlichsten Sklavenstaat, der jemals auf der Erde existierte. Von weißen Offizieren befehligt, schwärmten die Eingeborenen, die (mit Gewalt) in die Armee eingestellt 314
worden waren – genannt Force Publique –, in das riesige Land aus und verbreiteten überall Terror. Die Männer wurden gezwungen, ihre Arbeit auf dem Feld zu verlassen, um die Quoten Rohgummi zu ernten, die von der neuen Regierung gefordert wurden; sie schufteten Monat für Monat im Regenwald. Ihre Nahrungsvorräte wurden von der Force Publique beschlagnahmt; ihre Frauen und Kinder wurden als Geiseln festgehalten und starben oft an Hunger oder Krankheiten, die durch Mangelernährung verursacht wurden. Jeder Widerstand wurde mit dem Tod bestraft, und wenn Rebellen getötet wurden, wurde ihnen die rechte Hand abgehackt, um zu zeigen, dass man keine Munition vergeudete: Die belgischen Beamten verlangten, dass die Soldaten für jede verbrauchte Kugel eine Hand abzugeben hätten. Körbe voller abgehackter Hände stapelten sich vor den Residenzen der belgischen Beamten. Es gab welche, die als Beweis ein abgetrenntes Haupt bevorzugten. Captain Léon Rom etwa benutzte diese Beweisstücke tatsächlich, um die Gärten seiner Station zu schmücken. Das sind die Köpfe, über die wir in Heart of Darkness lesen, die das Haus von Kurtz umrandeten. Joseph Conrad arbeitete damals kurz als Flusslotse am Kongo, und sein Buch ist einfach ein Erfahrungsbericht. An der Geschichte ist nichts Erfundenes. Wenn Joseph Conrad in Das Herz der Finsternis die Tragödie des Kongo zu Literatur verarbeitete, gab es andere, die die Verbrechen der Belgier in heftigen Veröffentlichungen anprangerten, die an die Weltöffent315
lichkeit gerichtet waren. Vergeblich versuchte der »Große Zivilisator« Leopold zu reagieren, indem er die Autoren verleumdete. Als der König den Druck einer Pressekampagne spürte, die zunehmend abscheuliche Episoden ans Licht brachte, war er gezwungen, im Jahr 1904 eine Untersuchungskommission einzusetzen. Auch wenn diese Kommission viel zu zurückhaltend gewesen sein mochte, konnte sie dennoch nicht umhin anzuerkennen, dass die Anschuldigungen auf tatsächlichen Ereignissen basierten. Die Schreckensherrschaft beschränkte sich jedoch nicht auf das persönliche Reich König Leopolds II. Presseberichte stellten fest, dass im Französischen Kongo mit den gleichen furchtbaren Techniken Gummi gewonnen wurde. Der Präsident der Französischen Republik reagierte, indem er die Untersuchung dem Mann anvertraute, der mit seiner sanften Art dieses Territorium für die Franzosen gewonnen hatte: Savorgnan de Brazza. Als die Kolonialbehörden von seiner unmittelbar bevorstehenden Ankunft erfuhren, beeilten sie sich natürlich, ihre Missetaten und Misshandlungen zu verbergen, die in Französisch-Kongo üblich waren, aber nicht so weit verbreitet wie beim belgischen Nachbarn, im unabhängigen Kongostaat. Zuerst fanden Brazza und seine Kollegen keine Unregelmäßigkeiten. Aber während sie sich eines Tages, als sie den Kongo hinaufreisten, in einer Gummisammelstation aufhielten, geschah etwas, das ihnen die Augen öffnete. »Während eines Banketts zu Ehren der Kommission 316
hatte der Chef des Postens, um die Aufmerksamkeit der Anwesenden abzulenken, eine Vorstellung von Negertänzen organisiert, unter denen sich eine besonders bemerkenswerte Darbietung eines großen Negers befand, mit auffallenden Posen und bizarrer Akrobatik. Als Brazza das Spektakel betrachtete, lächelte er nicht – ganz im Gegenteil, sein Gesicht wurde finster. Plötzlich sprang er leichenblass auf, legte eine schützende Hand auf die Schulter des Negers und bat ihn, ihn bei seiner Untersuchung zu führen. Dann befahl er seinen Begleitern mit einer herrischen Geste, ihm zu folgen. In den Verrenkungen des Negers hatte er eine pantomimisch dargestellte Botschaft erkannt: ›Nicht weit von hier sind Gefangene und Geiseln.‹« Es stimmte. Die Kommission fand echte Konzentrationslager, wo die schwarzen Arbeiter angekettet waren, um zu verhindern, dass sie mit den Mitgliedern der Kommission sprachen. Leopold II. mag ein Monster gewesen sein, aber er war kein einmaliges Monster: Zwangsarbeit und kaum verhüllte Sklaverei waren auch in der französischen Kolonie allgemeine Praxis, auch wenn keine Hände und Köpfe abgehackt wurden. Und all dies schien zur Gummiernte dazuzugehören. Der 53jährige Brazza war über seine Entdeckung entsetzt und von den Anstrengungen der Reise erschöpft; er wurde schwer krank und musste zur Küste zurückkehren. Der freundliche Eroberer starb am 14. September 1905 im Krankenhaus von Dakar. Die rhetorischen Floskeln und Schnörkel, die das große Staatsbegräbnis begleiteten, das 317
man in Paris für ihn hielt, trugen auch dazu bei, den Skandal abzuschwächen. Vier Jahre später, im Dezember 1909, starb auch Leopold II. im Alter von 74 Jahren. Er war nicht mehr der König und Eigentümer des Kongo: Im Jahr zuvor hatte er den unabhängigen Kongostaat für eine beträchtliche Summe dem belgischen Staat übergeben. Als der König von der internationalen Bühne verschwunden und sein persönliches Reich in eine normale afrikanische Kolonie umgewandelt war, ging das internationale Interesse an den Ereignissen im Kongo zurück. Scheinbar triumphierte am Ende die Gerechtigkeit. In Wahrheit gingen die Abscheulichkeiten weiter wie bisher, etwas weniger heftig, etwas sporadischer, etwas weniger offen. Viele Jahre danach noch weigerten sich die Kongolesen, die allgemein von den Europäern als Kannibalen gefürchtet waren, Dosenfleisch zu essen. Sie waren sicher, die Dosen würden die abgehackten Hände ihrer massakrierten Landsleute enthalten.
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VIERTER TEIL:
Asien und Ozeanien
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Diese Karte Südostasiens von Theodore De Bry zeigt Borneo, Java und Sumatra. – Aus Thomas Suarez, Early Mapping of Southeast Asia, Periplus Editions, 1999
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Vielleicht ist es die frische Luft des Pazifiks – die Geschichten über den Äquator wirken in Ozeanien und Asien irgendwie reiner und weniger bedrückend. Der erste europäische Abenteurer, der über den Äquator in den Pazifischen Ozean gelangte, war Ferdinand Magellan, ein portugiesischer Seefahrer im Dienste Spaniens. Zu Magellans Zeit hatte diese Unterscheidung großes Gewicht: Nur wenige Jahre nachdem Kolumbus die Neue Welt entdeckt hatte, hatte Papst Alexander VI. (der Vater der Lucrezia Borgia, den Machiavelli aufgrund seiner üblen Machenschaften unsterblich machte) von Norden nach Süden eine Linie gezogen, die den gesamten Planeten zweiteilte: Eine Hälfte ging an Spanien, die andere an Portugal. Als der päpstliche Erlass in Kraft trat, wussten die Europäer noch gar nicht genau, wie weit sich Südamerika gen Osten ausdehnt, und so wurde Brasilien portugiesisch. Auf der anderen Seite des Planeten fielen die Gewürzinseln, Ursprungsländer der wertvollsten Substanzen auf Erden – Gewürznelke, Muskatnuss und Zimt –, in die portugiesische Hälfte. Magellan wollte herausfinden, ob er an Gewürze kommen könne, ohne portugiesisches Territorium zu betreten (oder wenigstens, ohne dabei erwischt zu werden). Diese erste Weltumsegelung gehört zu den größten Seeabenteuern aller Zeiten. 321
Unsere zweite Geschichte fand mehr als 350 Jahre später statt. Sir James Brooke, ein englischer Abenteurer, wurde Raja der Insel Sarawak, die zugleich dem Sultan von Brunei und der Kaiserin-Königin Victoria I. unterstand. Selten wurde Abenteuerlust so reich belohnt. Wir schließen mit zwei Geschichten aus der Südsee: mit dem Ausbruch des Krakatau (westlich von Java) im Jahr 1883, dem größten geologischen Ereignis in der niedergeschriebenen Geschichte, und mit der weniger gewalttätigen und mehr Anregungen bietenden Zeit, die Robert Louis Stevenson zu seiner Genesung um 1890 auf den Gilbert-Inseln verbrachte. Somit enden unsere Äquator-Geschichten in einem poetischen, hoffnungsvollen Ton.
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Maluku
Am 28. November 1520, im Frühling auf der Südhalbkugel, segelten drei Schiffe aus einer labyrinthartigen Meerenge, die kurz zuvor auf den Namen »Allerheiligenstraße« getauft worden war, und fuhren weiter in einen Ozean, der sich als größer erweisen sollte, als es sich die Besatzungen der Schiffe hätten vorstellen können. Die Schiffe hießen Victoria, Trinidad und Concepción, und sie waren über ein Jahr vorher, am 20. September 1519, vom spanischen Hafen Sanlúcar de Barrameda an der Mündung des Flusses Guadalquivir ausgelaufen. Tatsächlich waren unter dem Kommando von Generalkapitän Ferdinand Magellan fünf Schiffe losgesegelt, neben den bereits genannten noch die San Antonio und die Santiago. »Es sind sehr alte Schiffe, heruntergekommen und ramponiert«, schrieb ein portugiesischer Diplomat, der die Abfahrt beobachtet hatte, später an seinen König – offensichtlich in der Hoffnung, sie würden nicht weit kommen. »Ich hätte Sorge, mit einem von ihnen zu den Kanarischen Inseln zu fahren.« Kapitän Magellan war portugiesischer Untertan, der in spanische Dienste getreten war, nachdem er die Hoffnung, für seinen eigenen König neue Ländereien zu entdecken, aufgegeben 323
Dieser Stich von Ferdinand Magellan wurde etwa ein Vierteljahrhundert nach dem Tod des großen Seefahrers angefertigt. Er zeigt ihn mit Karte und Zirkel als Zeichen seines Könnens. Magellans Blick ist auf ein Sternbild der Südhalbkugel gerichtet. – Royal Geographical Society, London, UK/Bridgeman Art Library 324
hatte. Zweck der Expedition war es, Portugal das Juwel seines Überseereiches zu entwenden, das in 20 Jahren mit Schwert und Kanonenfeuer im Ostindischen Ozean errichtet worden war: Maluku oder die Molukken, eine Inselgruppe am Äquator, die einen kleinen, aber ungeheuer wertvollen Archipel einschloss, wo Gewürze im Überfluss wuchsen – Gewürze, die damals viel mehr wert waren als ihr Gewicht in Gold. Im Jahr 1493, als portugiesische und spanische Seefahrer erstmals in weit entfernte Meere vorgestoßen waren, hatte ein spanischer Papst, Alexander VI. Borgia, auf einer Weltkarte eine Linie von Pol zu Pol gezogen und die Erde in zwei Hälften geteilt: Die östliche Hemisphäre sprach er Portugal zu, die westliche Spanien. Er hoffte, auf diese Weise künftige Streitigkeiten zwischen diesen beiden führenden Seefahrernationen jener Zeit zu verhindern. Im Kielwasser der großen Entdeckungen jedoch brachen erneut Kämpfe aus. Zunächst protestierten jene, die von dieser Aufteilung der Welt ausgeschlossen waren, lauthals (»Zeig mir Adams Vermächtnis!«, soll der französische König Franz I. ausgerufen haben). Und dann war es mit den Methoden jener Zeit auch nicht einfach zu bestimmen, wo genau diese Nord-Süd-Linie verlief. Maluku zum Beispiel, der vielleicht appetitlichste geographische Happen des ganzen Weltkuchens, lag genau auf der Linie: Wem sollte es gehören? Als Magellan seine Ambitionen in Portugal nicht verwirklichen konnte und am spanischen Hof vorsprach, behauptete 325
und »bewies« er vor dem 17-jährigen König Karl, dass die Molukken in der westlichen – spanischen – Hemisphäre lägen. Und Magellan verstieg sich zu einer noch mutigeren Aussage: Er sei in der Lage, die lang gesuchte und bisher nicht gefundene Passage nach Asien über den amerikanischen Kontinent zu finden. So würde die gesamte Expedition in Gewässern stattfinden, die vom Papst Spanien zugewiesen worden waren, und Portugal könne ihn weder an der Abfahrt hindern noch nach seiner erfolgreichen Rückkehr Einwände erheben. Magellans Zuversicht überzeugte den König und seinen Rat. Der Forscher erhielt die nötigen Geldmittel und setzte, unter den Verwünschungen des portugiesischen Botschafters, die Segel – in der festen Überzeugung, die Tat, die Kolumbus nicht gelungen war, auszuführen. Der große italienische Seefahrer war von der unerwarteten Existenz des riesigen amerikanischen Kontinents überrascht worden, doch Magellan würde erfolgreich gen Westen segeln und den Fernen Osten erreichen: denselben Fernen Osten, in dem er für seinen undankbaren Regenten, König Emanuel I. von Portugal, unterwegs gewesen war und gekämpft hatte. Mit Magellan segelten in führenden Positionen viele weitere portugiesische Abtrünnige. Die Anwesenheit so vieler portugiesischer Kommandanten erregte den Neid und die Rivalität der spanischen Offiziere und der Mannschaft und sollte zu ernsthaften Problemen führen. Die 380-köpfige Besatzung war, wie so viele Mannschaften jener Tage, polyglott: Die Spanier waren in der 326
Mehrheit, außerdem waren darunter Portugiesen, Italiener, Franzosen, Flamen, Deutsche, ein Engländer, Araber und Schwarze. Sechs Tage nach der Abfahrt erreichte die Flotte die Kanarischen Inseln, wo sie die letzten Nahrungs- und Süßwasservorräte an Bord nahm, bevor sie sich auf die große Reise über den Atlantik machte. Hier, im Schatten des Pico de Tenerife, kam eine schnelle Karavelle, die nach ihnen von Spanien losgefahren war, zum Flaggschiff, um Magellan eine Botschaft zu überbringen. Die Nachricht, geschrieben und versiegelt von seinem Schwager Diogo Barbosa, warnte ihn, er möge sich vor dem Kommandanten der San Antonio, Don Juan de Cartagena, in Acht nehmen, der als veedor (etwa »Auge des Königs«) an der Expedition teilnahm. Don Juan war vom spanischen Monarchen beauftragt, den Verlauf der Reise und Magellans Pflichteinhaltung zu überwachen. Offiziell unterstand er Magellan, doch er war ein rauer und arroganter Hidalgo und machte keinen Hehl aus seiner Abneigung, ja Verachtung, gegenüber Portugiesen. Die Schiffe segelten weiter, ungewöhnlicherweise an der afrikanischen Küste entlang. Vielleicht hoffte Magellan, Konfrontationen mit den Portugiesen aus dem Weg zu gehen, vielleicht suchte er aber einfach nach neuen Passatwinden, mit deren Hilfe der Atlantik weiter südlich überquert werden könnte. Jedenfalls lag die Flotte bald bewegungslos in der Flaute der äquatorialen Doldrums – ganze 15 Tage lang unter sengender Sonne. In 327
dieser zweiwöchigen Pause ergaben sich die ersten Reibereien. Cartagena gab seinen Befürchtungen Ausdruck, und Magellan wies ihn mit den Worten in die Schranken, er habe keine Erklärungen für seinen veedor. Alle Mitglieder seiner Crew und seiner Flotte hätten nichts anderes zu tun, als ihm zu gehorchen. Gerade zur rechten Zeit frischte der Wind auf, und die Schiffe bewegten sich wieder, aber die Harmonie kam nicht zurück. Der Hidalgo genoss seine Rache in Form subtiler Geringschätzung. Die Begrüßung des Flaggschiffs war ein tägliches Ritual, und vom veedor wurde erwartet, persönlich den Gruß an Generalkapitän Magellan auszusprechen; stattdessen ließ Cartagena einen Untergebenen den Gruß übermitteln – ein klares Zeichen der Missachtung. Vier Tage später kam die unvermeidliche Konfrontation. Während eines Kapitänstreffens an Bord der Trinidad bat Cartagena »im Namen des Königs« um eine Erklärung für die unorthodoxe Route. Magellan antwortete wiederum, er dürfe Befehle erwarten, und sonst nichts. Gebieterisch wiederholte Cartagena seine Frage, woraufhin Magellan ihn verhaften ließ, zur Verwunderung und Bestürzung der anderen Kommandanten. Mitte Dezember lief die Flotte, mit einem arrestierten Cartagena, der über die Beleidigung, die dieser portugiesische Seemann ihm zugefügt hatte, vor Wut schäumte, in der herrlichen Bucht ein, wo dereinst Rio de Janeiro liegen würde. Das war das Paradies: freundliche Indios, Bankette mit Ananas und 328
Spanferkel, eingeborene Mädchen, die für ein Klappmesser ihre Reize anboten. Zwei Wochen lang wurde gefeiert, bis Weihnachten. Am 26. Dezember ließ Magellan die Anker lichten, und er begann die lange Fahrt gen Süden, auf der Suche nach der Passage, von deren Existenz er so überzeugt war. Er wurde jedoch bitter enttäuscht, als er die Mündung des Río de la Plata für die Meerenge hielt, nach der er gesucht hatte; nachdem er eine Weile stromaufwärts gesegelt war, erwies sie sich als schlichter, wenn auch breiter Fluss. Die Flotte musste noch viel weiter nach Süden segeln, tief in die südliche Hemisphäre, mitten durch Stürme und Hagelschauer, die Rahnocken und Masten mit Eis bedeckten. Ende März 1520 hatten sie die Passage noch immer nicht gefunden, und der Winter rückte immer näher. Magellan entschied sich, seinen Männern eine Pause zu gönnen; sie litten unter der Kälte und wurden zunehmend widerspenstiger. Die Flotte sollte in einer Bucht überwintern, die Magellan passend erschien; er nannte sie Porto San Julián. Man könnte sich kaum einen weniger äquatorialen Ort denken. San Julián lag fast 50 Grad südlich des Äquators. Es gab nichts außer graue Klippen und felsige Strände, eine Wüste gefrorener Steine. Hier bauten sie ein paar Hütten und richteten sich ein, auf den Frühling zu warten. Die spanischen Kapitäne wurden jedoch zunehmend ungeduldig. Sie wollten zurück nach Hause segeln und im folgenden Jahr mit einer größeren, besser ausgerüsteten Flotte auslaufen, um mit der rauen Kälte fertig zu 329
werden. Tatsächlich hatte Magellan nie damit gerechnet, dass er so weit südlich würde segeln müssen. Cartagena goss noch Öl ins Feuer, indem er behauptete, der portugiesische Kommandant führe sie ins Verderben und arbeite insgeheim für König Emanuel von Portugal und nicht für König Karl von Spanien! Eine Meuterei war unausweichlich, und sie kam in einer nebligen Nacht. Drei spanische Kapitäne – Cartagena, Mendoza und Quesada – übernahmen mit ihren Gefolgsleuten das Kommando über die drei Schiffe und stellten Magellan ein Ultimatum: Er solle unverzüglich die Segel zurück nach Spanien setzen. Magellan war in keiner Weise eingeschüchtert; er ging zum Gegenangriff über und schickte zwei Barkassen voller loyaler Seeleute los, um Mendozas Schiff zu entern. Beim Kampf wurde der meuternde Kapitän getötet. Dann versperrte Magellan, nun Kapitän über drei der fünf Schiffe, die Einfahrt zur Bucht. Nach kurzem Kanonengefecht wurden die Meuterer überwältigt und gaben auf. Am Tag darauf verurteilte ein Kriegsgericht die Rebellen und verhängte 40 Todesstrafen. Am toten Kapitän Mendoza wurde ein Exempel statuiert: Sein Körper wurde zuerst gehenkt und dann durch die Winden mehrerer Schiffe gevierteilt. Die vier Teile seines toten Körpers wurden an hohen Pfählen angebracht – die krönende Demütigung für Verräter. Quesada wurde von seinem eigenen Diener, Luis de Molina, enthauptet, der diese Aufgabe zur Rettung sei330
nes eigenen Lebens übernahm; andernfalls wäre er selbst ebenfalls geköpft worden. Dieses Arrangement lag zum Teil in Magellans Sinn für ausgleichende Gerechtigkeit begründet, zum Teil war es eine schlichte Notwendigkeit. An der Expedition nahm kein offizieller Scharfrichter teil. Alle anderen, darunter auch Cartagena, wurden auf Magellans Befehl hin verschont. Ihre Todesurteile wurden in harte Arbeitsstrafen umgewandelt. Alle Meuterer außer Cartagena wurden in Ketten gelegt und mussten für den Rest des Winters Bäume fällen und Kielräume auspumpen. Eines Tages erschien ein Mann in dieser Eiswüste, ein Riese. In der bitteren Kälte tanzte und sang er nackt am Meeresufer und warf sich Sand und Erde über den Kopf. Die Seeleute näherten sich vorsichtig und überredeten ihn, sich ihrem Generalkapitän vorzustellen. Die Europäer reichten ihm gerade bis zur Brust. Der Riese deutete immerzu gen Himmel, da er glaubte, die weißen Männer seien von dort gekommen. Die Europäer stellten einen großen Spiegel vor ihm auf. Als er sich darin sah, sprang der Gigant zurück und warf dabei vier Männer zu Boden. Sie boten ihm zu essen und zu trinken an: Er aß säckeweise Trockenkost und trank eimerweise Wasser. Magellan nannte ihn Patagón, Großfuß. So wurde Patagonien der Name jenes Landes. Dem ersten freundlichen Riesen folgten in jenen Tagen weitere; sie wollten Guanakofleisch gegen die üblichen Handelswaren tauschen: Kämme, Spiegel und Perlen. 331
Auch Frauen kamen: Sie waren »beladen wie Esel«, und »ihre Brüste hatten halbe Armeslänge«, so Antonio Pigafetta, der Chronist dieser Expedition. Sie nahmen zwei der Eingeborenen mit einem Trick gefangen: Sie beluden sie mit Geschenken, bis sie sich kaum mehr rühren konnten, brachten dann schnell Eisenfesseln an ihren Knöcheln an und schleppten sie aufs Flaggschiff. Magellan wollte diese Exemplare übergroßer Menschen nach seiner Rückkehr in Spanien vorführen. Inzwischen hatte Magellan die Santiago zum Auskundschaften Richtung Süden geschickt. Sie erlitt jedoch Schiffbruch, als sie bei einem Sturm auf Felsen auflief. Die Besatzung überlebte und schaffte es zu Fuß zurück zum Porto San Julián, mit der Meldung, sie hätten einen besseren Ankerplatz gefunden. So fuhr die Flotte Ende August nach Süden und blieb bis Mitte Oktober am neuen Ankerplatz. Cartagena und einen Komplizen, einen Priester, ließen sie mit den Skeletten von Mendoza und Quesada zurück, mit wenig Wasser und Nahrung. Von ihnen hörte man nie wieder etwas. Bei den ersten Anzeichen des südlichen Frühlings setzten sie am 18. Oktober wieder die Segel, auf der Suche nach der Meerenge. Am 21. Oktober, nachdem sie etwa 100 Seemeilen zurückgelegt hatten, entdeckten sie etwas, das wie eine geschützte Bucht aussah. Magellan schickte die San Antonio und die Concepción voraus, um zu erforschen, ob es einen westlichen Abfluss gebe. Plötzlich zog ein Sturm auf und trieb die beiden Schiffe 332
fort, was die anderen davon abhielt, ihnen zu folgen. Zwei Tage wartete der Generalkapitän besorgt; schließlich kamen die beiden Schiffe zurück. Sie hatten das große Banner gehisst und feuerten Freudensalven ab. Der Wind hatte sie in einen engen, sehr tiefen Kanal getrieben. Das Wasser war die ganze Strecke über salzig gewesen. Dies war keine Flussmündung – könnte es also die Meerenge sein? Voller Hoffnung gab Magellan den Befehl, in dieses Labyrinth aus Felsen und hohen Bergen vorzustoßen, wo das Meer sich durch Kanäle, Gabelungen, kleine und große Buchten und Sackgassen wand. Sie sahen Wälder und Gletscher; sie sahen einen EingeborenenFriedhof mit mumifizierten Körpern auf hohen Gittern; sie sahen ein Wasserfahrzeug, das zwischen den Felsen verschwand; nachts beobachteten sie unzählige Feuer auf einer großen Insel, die sie passenderweise Tierra del Fuego – Feuerland – nannten. Die Schiffe teilten sich auf, um den richtigen Weg durch dieses Labyrinth zu finden. Die Lösung dieses Rätsels und der erste Blick auf den westlichen Ozean war einer Barkasse der Trinidad vergönnt. Der oberste Kanonier des Schiffs, ein flämischer Matrose namens Roldán de Argote (offenbar eine hispanisierte Version seines Namens) kletterte auf ein Vorgebirge und überblickte von dort einen riesigen, unbekannten Ozean mit ruhigem, friedlichem Wasser. Als Magellan die Nachricht vernahm, weinte er vor Freude. Dann wartete er darauf, dass die anderen Schiffe aus 333
dem Labyrinth kamen. Danach wollte er Vorbereitungen für die letzte Etappe ihrer Reise zu den Molukken treffen. Die Concepción und die Victoria kamen rasch, doch die San Antonio blieb aus, obwohl sie eine ganze Woche lang warteten. Magellans Lotse, Andrés de San Martin, der die Sterne wie nautische Karten zu lesen wusste, sagte, er sehe in den Sternen, dass das Schiff nach Spanien zurücksegle und sein Kapitän in Ketten läge. Magellan, der eine zweite Meuterei erwartet hatte, glaubte ihm. Mit den drei Schiffen, die ihm geblieben waren, fuhr er in den riesigen Ozean, den er den Pazifischen, den friedlichen, nannte. »Wir segelten drei Monate und 20 Tage ohne frischen Proviant, wir aßen Kekse, und als es keine mehr gab, aßen wir trockene Brotkrumen, die voller Maden waren und streng nach Mäuseurin rochen. Wir tranken gelbes Wasser, das seit Tagen verdorben war. Wir aßen auch einige der Felle, die um das Rahnock gewickelt waren, damit die Wanten nicht beschädigt wurden. Die Felle waren von Sonne, Regen und Wind arg gehärtet. Wir ließen sie vier oder fünf Tage im Meer einweichen, hielten sie dann kurz übers Feuer und aßen sie; manchmal aßen wir Sägespäne. Mäuse wurden für einen halben Dukaten das Stück verkauft, und viele, die das bezahlt hätten, bekamen keine«, schrieb Pigafetta. 4000 Meilen lang Hunger, ohne die geringste Aussicht auf Land – mit Ausnahme zweier unbewohnter Inseln, auf denen sie nichts sahen außer »Vögel und Bäume, weshalb wir sie die Unglücklichen Inseln nannten«. 334
Diese Karte des Pazifischen Ozeans wurde von Abrahamus Ortelius gegen Ende des 16. Jahrhunderts gezeichnet. Bemerkenswerte Einzelheiten: Magellans Flaggschiff, die Victoria, mit feuernden Kanonen und windgeblähten Segeln. Die Magellan-Straße ist sehr weit nördlich eingetragen. – Privatsammlung/Bridgeman Art Library
Sie fuhren an den Archipelen von Tuamotu, den Marquesasund den Marshall-Inseln vorbei, ohne sie zu sehen; in gewisser Weise war das ihr Glück, da sie ansonsten wohl auf Korallenriffe rund um diese Atolle gestoßen wären, die ihre Schiffsrümpfe zerstört hätten. Sie überquerten den Äquator Richtung Norden. Hunger war nur Teil des Problems; sie litten unter Skorbut: »Unter all unseren Missgeschicken war dies das schlimmste: Das Zahnfleisch einiger Männer schwoll 335
über die Zähne des Ober- und Unterkiefers an, sodass sie nicht mehr essen konnten und starben.« 19 Männer kamen um, und ebenso die armen Riesen von Patagonien. Am 6. März 1521 kletterte einer der wenigen Männer an Bord der Trinidad, die noch genügend Kraft besaßen, auf den Mastkorb und erspähte Land. Es war die Insel Guam, die südlichste aus der Gruppe, die man heute Marianen nennt. Doch Magellan taufte sie Ladrones oder Diebesinseln, weil sie, als sie an Land kamen, sofort von Eingeborenen umgeben waren, die alles an sich rissen, was nicht festgenagelt war. Dieses Zusammentreffen – das erste zwischen Europäern und Ozeaniern – kulminierte in Kanonenfeuer, das die erschreckten Eingeborenen vertrieb, die es jedoch schafften, eine Barkasse mitzunehmen. Am Tag darauf gingen 40 mit Armbrüsten bewaffnete Seeleute an Land, und nachdem sie sieben Eingeborene getötet, das Dorf niedergebrannt und die gestohlene Barkasse zurückgeholt hatten, nahmen sie alle Nahrungsmittel, die sie tragen konnten, mit: Früchte, Schweine, Hühner, Reis, Jamswurzeln und Süßwasser. Dank dieses gestohlenen Proviants verbesserte sich die Gesundheit der Mannschaften beträchtlich. Als sie ihre Kraft und Moral zurückgewonnen hatten, segelten die überlebenden Expeditionsmitglieder weiter, um die Molukken zu finden, die nicht mehr weit weg sein konnten. Nach zehn Tagen trafen sie auf eine große Inselgruppe, die ein halbes Jahrhundert später nach König Philipp II. von Spanien benannt werden sollte; 336
und in diesen bewohnten Gewässern fand Magellan schließlich den Beweis, dass er seinem Ziel nahe war. Sein Sklave Enrique, ein Malaysier, der seit den Jahren, als er im Fernen Osten für den portugiesischen König gekämpft hatte, bei ihm war, sprach eine Gruppe von Eingeborenen an, die in einem Kanu paddelten, und sie antworteten auf Malaysisch, das Enrique übersetzen konnte. Statt direkt zu den Molukken zu fahren, entschied sich Magellan, die Philippinen genauer zu erkunden. Er beanspruchte sie für die spanische Krone und für das Christentum im Allgemeinen und nannte sie Inseln des heiligen Lazarus, weil er am Tag dieses Heiligen hierher gekommen war. Die hiesigen Sultane von Orten wie Limasawa und Cebu ließen sich – nach anfänglichem Widerstand – durch die üblichen Kinkerlitzchen und vor allem durch klare Machtdemonstrationen der Europäer gewinnen. Besonders effektiv war es, wenn Magellan seinen Brustharnisch anzog und einen seiner Männer wiederholt mit einem Dolch auf sich einstechen ließ. Er wollte, dass die Stammeshäupter sahen, dass er eine Rüstung trug, die ihn unverwundbar machte. Magellan begann, den Eingeborenen das Christentum zu verkünden. Er hielt Stegreifpredigten, die Enrique übersetzte, errichtete Kreuze und verteilte heilige Bilder, bis die lokalen Herrscher zusammen mit ihren Frauen, Würdenträgern und Untergebenen schließlich zu der neuen Religion übertraten. Sie verbrannten die Götzenbilder und schworen dem spanischen König die 337
Treue. Vielleicht waren sie durch den Ruf der Europäer für willkürliche Machtausübung überzeugt worden, der seit der Ankunft der ersten portugiesischen Händler Jahre zuvor bestand. An diesem Punkt jedoch übertrieb es Magellan. Um zu demonstrieren, dass seine Ankunft göttlicher Vorsehung zu verdanken wäre und der Übertritt zum Christentum und die Treue gegenüber Spanien beachtliche Vorteile mit sich brächten, griff er den Sultan von Mactan an, einen unbedeutenden Feind des Sultans von Cebu. Anscheinend war dem Sultan von Cebu dieser Angriff nicht weiter wichtig, doch er stimmte zu. Kurz nach Mitternacht des 27. April 1521 erreichten etwa 20 Einbäume mit Cebu-Kriegern und zwei Barkassen mit 60 Europäern Mactan. Bei Tagesanbruch gingen sie an Land. Nachdem er dem Sultan Silipulapu nahe gelegt hatte, dass es klug wäre, aufzugeben und zum Christentum zu konvertieren – was der Sultan verächtlich ablehnte –, sprang Magellan ins Wasser, gefolgt von 49 Männern in voller Rüstung und mit Hakenbüchsen und Armbrüsten bewaffnet. Sie wateten unbeholfen zum Strand und tasteten sich vorsichtig über die scharfen Korallen voran. Die Krieger von Mactan, die nicht im Geringsten verängstigt schienen, begrüßten die Eindringlinge mit »Pfeilen, Speeren, Lanzen, deren scharfe Spitzen über Feuer gehärtet waren, Steinen und Geschossen aller Art, in solchen Mengen, dass wir uns nicht verteidigen konnten«. Die Büchsen feuerten zwar, aber zwei Män338
ner mussten eine bedienen, und der Boden war so uneben, dass kein Schuss traf. Die europäischen Angreifer schafften es bis zum Dorf, wo die Verteidiger ihren Geschosshagel noch verdoppelten, der nun von allen Seiten kam. Plötzlich schwappte eine Welle der Panik über die europäischen Angreifer, als sie erkannten, dass sie umzingelt waren. Ein oder zwei Europäer fielen. Es begann ein ungestümer Rückzug. Sie rannten zum Strand und warfen ihre Brustpanzer zu Boden, um schneller zu sein. Von den Booten aus feuerten Männer aus Mörserflinten, doch wegen der scharfen Korallen konnten sie nicht nahe genug herankommen, um sicher zu zielen, und sie befürchteten, Kameraden zu treffen. Magellan versuchte, mit ein paar Soldaten den ungeordneten Rückzug zu decken. Schließlich wurde er am Bein verwundet, und ein Eingeborener stach ihm mit einem Speer ins Gesicht. »Er tötete den Eingeborenen sofort mit seinem eigenen Speer und ließ die Waffe in dessen Körper stecken. Dann versuchte er sein Schwert zu ziehen, brachte es aber wegen einer Armverletzung nicht völlig aus der Scheide. Als die Eingeborenen dies sahen, warfen sich alle auf ihn: Einer bohrte einen riesigen Wurfspieß in sein Bein, und er fiel mit dem Gesicht nach unten zu Boden. Dann traktierten ihn die Einheimischen mit Eisen- und Bambusspeeren und Wurfspießen. Sie töteten unseren Spiegel, unser Licht, unsere Stütze und unseren wahren Führer. Während sie auf ihn einstachen, schaute er sich um, ob wir anderen sicher die Boote erreicht hatten.« 339
Der Portugiese Duarte Barbosa, ein Verwandter Magellans, wurde von den vom Tod ihres Führers erschütterten Männern zum Generalkapitän ernannt. Die Situation erforderte große Umsicht: Nach der katastrophalen und beschämend fehlgeschlagenen Invasion von Mactan war das Prestige der Europäer merklich gesunken. Sie hatten gezeigt, dass sie alles andere als unverletzlich und darüber hinaus dass sie nicht sehr klug waren. Die Landung war eine sehr schlecht geplante Angelegenheit gewesen. Der Demütigung folgte der Verrat. Magellan hatte seinem treuen malaysischen Sklaven Enrique versprochen, dass er nach seinem Tod frei wäre. Enrique weigerte sich nun, weiter so wie zu Lebzeiten seines Herrn zu dienen. Barbosa lachte darüber, schlug den Malaysier und drohte ihm. Enrique war tief verletzt und sann auf Rache; er schlug dem Sultan von Cebu vor, sich zusammen der Schiffe samt ihrer Ladungen zu bemächtigen. Die Idee gefiel dem Sultan; ein paar Tage später lud er die Europäer zu einem großen Bankett ein. 27 Männer nahmen die Einladung an – Matrosen und Offiziere, darunter auch Barbosa. Zwei Männer wunderten sich über die seltsamen Blicke, mit denen sie von den Eingeborenen betrachtet wurden; sie ahnten, dass etwas in der Luft lag, und gingen zu den Schiffen zurück. Dies war eine weise Eingebung, denn alle anderen wurden in dieser Nacht entweder getötet oder gefangen genommen und später als Sklaven an chinesische Kaufleute verkauft. Über den Rächer En340
rique ist nichts weiter bekannt. Falls er in seine Heimat Malakka zurückkehrte, war er der erste Mann, der die Welt umsegelt hat. Die drei Schiffe verließen Cebu, die Stätte so vieler Unglücke, um an der nahe gelegenen Insel Bohol einen ruhigen Platz zu suchen, wo man in Ruhe entscheiden konnte, was zu tun war. Der neue Generalkapitän, der Lotse João Carvalho, ebenfalls Portugiese, wusste, dass die verbliebenen 110 Männer nicht ausreichten, um drei Schiffe zu segeln. Er beschloss, das Schiff, das im schlechtesten Zustand war, die Concepción, zu opfern. Er gab Order, das Schiff zu leeren und alles mitzunehmen, was irgendwie nützlich sein könnte; dann wurde es bis zur Wasserlinie abgebrannt. Sechs Monate lang fuhren die Victoria und die Trinidad um die Philippinen und Borneo, die Männer trieben ein bisschen Handel, ein bisschen Diebstahl und ein bisschen Piraterie; bei jeder Gelegenheit fragten sie nach den Molukken. Schließlich wiesen ihnen die Lotsen einer gekaperten großen Dschunke genau den Weg. Sie waren sehr gut informiert: Sie wussten sogar, dass auf der Insel Ternate ein Portugiese namens Francisco Serrão lebte. Serrão war ein Freund Magellans gewesen und hatte als junger Mann an seiner Seite gekämpft. Er war es gewesen, der Magellan vorschlug, die Molukken für Spanien zu erobern, und dann hatte er jahrelang auf ihn gewartet. Serrão betrat die Molukken zum ersten Mal, als er hier Schiffbruch erlitt, doch im Lauf der Zeit gewann er ansehnlichen Einfluss am dortigen Hof; 1514 hatte er 341
von hier an Magellan geschrieben und ihm vorgeschlagen nachzukommen. Jetzt, da sie endlich wussten, welche Route sie einschlagen mussten, steuerten die beiden Schiffe geradewegs auf die Molukken zu. Carvalho, der sich als inkompetent erwiesen hatte, wurde als Generalkapitän abgesetzt. Die Funktion übernahm der Spanier Gonzalo Gómes de Espinosa. Bei Tagesanbruch des 8. November segelten die Trinidad und die Victoria mit wehenden Fahnen in den Hafen von Tidore ein und »feuerten vor Freude die gesamte Artillerie ab«. Einer der gekaperten Lotsen, die gezwungen worden waren mitzukommen, verkündete, dass »diese fünf Inseln, Ternate, Tidore, Matir, Machian und Bachian, die Maluku seien«. Und, so schrieb Pigafetta, »es war kein Wunder, dass alle überglücklich waren, da wir 27 Monate lang, abzüglich zwei Tage, nach Maluku gesucht hatten«. Am nächsten Tag kam der Sultan des Ortes an Bord eines Praho heran, um sie zu begrüßen. Er segelte von einem Schiff zum anderen, »auf einem Sitz unter einem Seidenschirm. Vor ihm stand einer seiner Söhne mit dem königlichen Zepter, zwei weitere Söhne hielten zwei goldene Urnen mit Wasser für seine Hände, und wiederum zwei Söhne trugen zwei Goldkästen voller Betelnüsse.« Er hieß sie offiziell willkommen und sagte, er habe sie in seinen Träumen gesehen, »aus der Ferne kommend«. Dann kam er an Bord des Flaggschiffes, wo ihm viele 342
Geschenke überreicht wurden, darunter eine Robe aus gelbem »türkischem« Samt. Der Sultan war so angetan, dass er verkündete, von jetzt an würde die Insel nicht mehr Tidore, sondern Castile genannt werden. Eine Woche später kam ein portugiesischer Söldner namens Afonso da Larosa von Ternate an; er und Magellans Freund Serrão waren Kameraden gewesen. Er teilte ihnen mit, Serrão wäre sieben Monate zuvor gestorben, vermutlich durch Gift des Sultans von Tidore, der von Serrão besiegt und gezwungen worden war, eine seiner Töchter dem Sultan von Ternate als Braut zu geben. In den folgenden zwei Monaten kauften die Männer Gewürze, vor allem Nelken und Muskat, und brachten sie an Bord. Leider kauften die Europäer zu viel davon – fast sieben Tonnen Gewürze mussten sie am Strand lassen, da die Schiffe überladen waren. Die arme Trinidad platzte schier aus den Nähten und schlug leck, sodass sie an den Strand gezogen werden musste, um ihre Hülle zu reparieren, ehe sie die Rückreise nach Spanien antreten konnte. So setzte die Victoria am 21. Dezember 1521 allein Segel, mit 48 Mann der Originalbesatzung und 13 Molukkern, die als einfache Matrosen an Bord genommen wurden. Neun Monate später erreichte sie Spanien mit nur 18 der 48-köpfigen Crew und dreien der 13 Molukker. Es war der 8. September 1522. Am Tag darauf gingen die Überlebenden barfuß in die Kirche Santa Maria de la Victoria in Sevilla, und jeder zündete eine Kerze am Altar an, an dem Magellan immer auf Knien gebetet hatte. 343
Die Rückfahrt war so mühevoll gewesen wie die Hinfahrt; der neue Kommandant Elcano war unter den Männern nicht beliebt, auch weil er in die Meuterei in Porto San Julián verwickelt gewesen war; doch er erwies sich als fast so guter Navigator wie Magellan. Er manövrierte die Victoria durch die Inseln des indonesischen Archipels, wo es vor portugiesischen Schiffen wimmelte, die nur allzu gern die Victoria angegriffen und versenkt hätten. Er überquerte den südlichen Indischen Ozean, umsegelte das Kap der Guten Hoffnung, fuhr weiter an der Westküste Afrikas entlang und verlor Männer an Skorbut und den Hungertod. Der Mangel an Proviant zwang ihn zu einem verzweifelten Schritt: Er landete auf den Kapverdischen Inseln, die portugiesisch waren. Er erklärte, er käme aus Amerika, doch die 13 Männer, die er an Land geschickt hatte, um Proviant zu kaufen, boten, da sie kein Geld hatten, Gewürznelken zum Tausch an; darauf sperrten portugiesische Beamte sie umgehend ein. Gewürze waren ein Monopol der portugiesischen Krone; und das Schiff musste von den Ostindischen Inseln gekommen sein. Elcano gab den Befehl, Anker zu lichten, als bewaffnete Boote das spanische Schiff umzingelten und entern wollten. Die letzte Etappe war unglaublich hart: Die 21 überlebenden Seeleute mussten die Arbeit von 50 Mann erledigen. Doch die Odyssee nahm einen glücklichen Ausgang, als sie schließlich den Hafen von Sanlucar de Barrameda sahen, wo sie genau drei Jahre zuvor in See gestochen waren. 344
Die Trinidad hatte eine noch schlechtere Zeit. Sie verließ Tidore am 6. April 1522 und segelte in Richtung Amerika auf einer nördlichen Route, die sich auf Grund von widrigen Winden und heftigen Stürmen als nicht praktikabel erwies. Im November kam das arg mitgenommene Schiff zu den Molukken zurück. Inzwischen waren die Inseln von den Portugiesen eingenommen worden. Die Trinidad wurde konfisziert, ihre Ladung von portugiesischen Beamten beschlagnahmt und die Besatzung inhaftiert. Nur vier Männer schafften es – viele Jahre später – nach Spanien zurück. Die Deserteure an Bord der San Antonio erreichten, nach einem Zwischenstopp in Porto San Julián, wo sie Don Juan de Cartagena und seinen Komplizen, den Priester, an Bord nehmen wollten (sie fanden keine Spur der beiden), ohne Zwischenfall Sevilla am 6. Mai 1521. Sie beschuldigten Magellan jeder Art der Niedertracht und zeichneten ihre eigene Unschuld so überzeugend, dass als Einziger Kapitän Mezquita (Portugiese und Verwandter Magellans) hinter Gitter kam, gegen den sie eigentlich gemeutert hatten. Erst als die Victoria zurückkam, kam die Wahrheit ans Licht, und Mezquita wurde rehabilitiert. In der Zwischenzeit wurde Magellans Witwe, die in Sevilla auf ihn wartete, überwacht und ihr Hab und Gut beschlagnahmt, bis ein Urteil gefällt werden konnte. Sie starb an gebrochenem Herzen und vor Hunger, noch ehe sie vom Schicksal ihres Mannes gehört hatte; kurz danach starben auch ihre beiden Kinder. 345
Elcano und ein paar Crewmitglieder der Victoria wurden in Valladolid am Hofe König Karls, der nun auch Kaiser des Heiligen Römischen Reiches war, empfangen. Elcano wurde mit einer jährlichen Pension von 500 Golddukaten und einem Wappen – die Weltkugel mit dem Motto Primus circumcedisti me (»Du warst der Erste, der mich umrundete«) – belohnt. Jene, die das Unternehmen finanziert hatten, wurden noch reicher, als sie ohnehin waren, weil diese einzige Gewürzladung genug einbrachte, um alle Ausgaben zu decken, und noch Profit abwarf. Viele Überlebende der Crew jedoch wurden nicht einmal bezahlt, und wenn doch, dann erst Jahre später, da die Geldtruhen des spanischen Königs chronisch leer waren. Und keiner von Magellans Erben sah auch nur einen Dukaten.
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Der Weiße Raja
Nach Magellans Tod verließen die zwei übrig gebliebenen Schiffe der Expedition die Philippinen – Begräbnisstätte ihres geliebten Kommandanten – und fuhren, ein bisschen aufs Geratewohl, nach Südwesten, an der Küste der riesigen Insel Borneo entlang. Es war die weltweit größte bekannte Insel (Neuguinea war noch nicht entdeckt). Sie sichteten den Hafen von Brunei und gingen dort vor Anker. Der Sultan schickte sofort ein mit vergoldeten Schnitzereien geschmücktes Praho, um die unerwarteten Gäste zu begrüßen. An Bord des Praho war ein ganzes Orchester mit Hörnern und Trommeln. Ein paar Tage später lud er die Reisenden an seinen Hof ein. Die Europäer durchquerten die riesige Stadt aus Holz – die erste Stadt, die sie sahen, seit sie Spanien verlassen hatten – auf Elefanten, die ihnen vom Inselregenten geschickt worden waren. Auf ihrem Weg durch die belebten Straßen wurden sie von zwei Reihen Soldaten, die mit Schwertern, Speeren und Schilden bewaffnet waren, eskortiert. Die Eskorte war Achtungsbezeigung, aber auch eine subtile Form der Einschüchterung. Der Sultan dachte wohl, dass diese Neuankömmlinge aus demselben Holz geschnitzt wären wie jene portugiesi347
schen Seefahrer, die sich als Herren über diese Inseln und Gewässer aufgespielt hatten; es wäre gut, so dachte er wohl, ihnen sofort zu zeigen, wer der Stärkere war. Der Sultan von Brunei war in der Tat mächtig. Er herrschte über die ganze Nordwestküste der riesigen Insel; sein Palast war von starken Mauern umgeben und wurde von schweren Geschützen verteidigt. Die Räume waren mit Teppichen, Seide und Brokat geschmückt, die Höflinge trugen wertvolle Kleidung mit Goldverzierungen, und ihre Dolche hatten Juwelenintarsien. Im Thronsaal saß der Sultan mit überkreuzten Beinen und kaute Betelnüsse. Hinter ihm standen die Frauen seines Harems. Die Europäer waren gewarnt worden, unter keinen Umständen den Sultan direkt anzusprechen. Wenn sie etwas zu ihm sagen wollten, mussten sie zu einem Höfling sprechen, der die Botschaft an einen Höfling von höherem Rang weitergab. Dieser gab die Worte an den Bruder des Stadtgouverneurs weiter, der sie durch ein Blasrohr ins Ohr des Großwesirs flüsterte, der sie schließlich dem großen Monarchen zumurmelte. Die Antwort durchlief dieselben Stationen in umgekehrter Reihenfolge. Die Europäer erhielten auf diese Weise die Erlaubnis, mit den Untergebenen des mächtigen Sultans Handel zu treiben. Allerdings lehnte der Sultan es ab, den neugierigen Eindringlingen seinen kostbarsten Schatz zu zeigen, von dem sie in der Stadt gehört hatten: zwei vollkommen runde Perlen in der Größe eines Hühnereis. 348
Diese sagenhaft reiche Person und die lange Reihe ihrer Nachfolger trieben mit allen weißen Kaufleuten Handel, die ihr Glück auf den Ostindischen Inseln suchten: Portugiesen und Spanier zuerst, dann Niederländer und Briten. Die Europäer handelten und verhandelten, betrogen und wurden betrogen; am Ende wurde ihnen oft alles geraubt, was sie hatten. Diese Gewässer mit ihren kleinen Inselchen und Riffen waren ein Mekka für Piraten, ein perfektes Labyrinth, um aus dem Hinterhalt anzugreifen. Die Küste war von dichter tropischer Vegetation bewachsen, hinter der Flüsse verliefen. Piraten warteten im Landesinneren und segelten dann genau im richtigen Augenblick ins offene Meer hinaus. Die meistgefürchteten Piraten von Borneo waren die Illanun, die sich vor allem in Nordborneo, auf den Sulu-Inseln und auf Mindanao aufhielten. Die Illanun verdichteten die äquatoriale Vegetation noch, indem sie die Küstenlagunen mit Mangroven bepflanzten, deren Wurzeln ein Labyrinth aus Kanälen und Becken bildeten, in dem die Piraten unter den Blättern ihre Prahos verstecken konnten, während sie hoch im Geäst das Meer nach Opfern absuchten. Die Prahos dieser listigen und grausamen Räuber waren die größten Piratenschiffe Ostindiens. Sie waren etwa 30 Meter lang, verdrängten etwa 60 Tonnen und wurden von einem breiten Segel und der Kraft von 100 Galeeren-Sklaven, die an die Ruder gekettet waren, angetrieben. Der Piratenanführer hatte achteraus eine große Kajüte; über die ganze Länge 349
verlief ein Verdeck, von dessen Dach aus die Piraten kämpften und enterten. Die Illanun hatten eine ausgeprägte Vorliebe für auffällige Eleganz; sie trugen scharlachrote Jacken, Kettenpanzer-Brustharnische und majestätische Kopfbedeckungen mit farbigem Federschmuck. Wie altmodische Paladine des Meeres verachteten sie Feuerwaffen und liebten den Kampf von Mann zu Mann. Sie fochten mit Lanzen und dem berüchtigten Kris (einem Dolch mit doppelschneidiger, schlangenförmig gekrümmter Klinge). Ihre bevorzugte Waffe war der Kampilan, ein riesiges Schwert mit zwei Griffen; Illanun-Piraten waren stolz, wenn sie mit nur einem Schlag ihres Kampilan den Schädel eines Opfers spalten konnten. Die Illanun gingen in Flotten aus 40 oder 50 Prahos auf Fahrt, manchmal auch mit 150 oder sogar 200 Schiffen. Sie segelten bis zu den Küsten Javas und Sumatras und sogar bis zur Bucht von Bengalen (über 3000 Kilometer entfernt). Sie lauerten zwischen den Inseln, und malaysische Sampans, chinesische Dschunken sowie europäische Mastschiffe fielen ihren plötzlichen Angriffen zum Opfer. Sie raubten alles von Wert und verkauften Passagiere wie Besatzungen als Sklaven. Die Illanun waren die Aristokraten unter den Borneo-Piraten, doch alle Küstenstämme dieser Insel übten diesen einträglichen »Beruf« aus. Im Sultanat Brunei waren die See-Dayaks für ihre Grausamkeit bekannt; man nannte sie See-Dayaks, um sie von ihren armen 350
Vettern, den Land-Dayaks, zu unterscheiden. Letztere lebten in den Bergen im Landesinneren von Jagd und Ackerbau. Die See-Dayaks lebten an den Flüssen und konnten sehr gut mit Kanus umgehen, in denen sie aufs offene Meer ruderten. Die malaysischen Piraten hatten unzählige See-Dayaks angeheuert, und Piraterie war nun ihre Hauptbeschäftigung. See- wie Land-Dayaks gingen einem Brauch nach, der Borneo einen schrecklichen Ruf einbrachte: Sie waren Kopfjäger. Der Brauch nahm seinen Anfang, als die Dayaks die im Kampf getöteten Feinde enthaupteten; die Köpfe wurden dann in den großen Mehrfamilienheimen, die europäische Anthropologen später Longhouses nannten, aufgehängt. Je mehr Köpfe erbeutet wurden, umso angesehener – und wohlhabender – war das Dorf. Die makabren Trophäen galten als Glücksbringer. Im Laufe der Zeit entwickelte sich diese Gewohnheit von einem Kriegsbrauch zu einer Art Sport. Junge Männer, die nach Ruhm und Ehre strebten, und besonders jene, die junge Frauen beeindrucken wollten, verließen ihr Dorf, gingen allein in den dichten Dschungel und kamen mit ihrer Beute, die ihren Mut und ihr Talent unter Beweis stellte, zurück. Das Opfer konnte jedermann sein: ein Bewohner eines verfeindeten Dorfs, ein unvorsichtiger Händler, der sich zu weit ins Landesinnere gewagt hatte, ein Wanderer, ein Bauer auf seinem Feld, eine Frau oder gar ein Kind. Die Köpfe von Frauen und Kindern waren unerwarteterweise die wert351
vollsten Trophäen, denn sie zeigten, dass der Kopfjäger sich gefährlich nahe an ein Langhaus herangewagt hatte, um seine Beute zu kriegen. Die ganze Insel Borneo befand sich permanent im Nachbarschaftskrieg. Oft riefen die Dörfer jedoch auch einen Waffenstillstand aus, um die Köpfe auszutauschen: Sie brauchten sie, denn ohne Kopf war ein angemessenes Begräbnis des enthaupteten Körpers unmöglich. Von Zeit zu Zeit war ein solcher Austausch von Köpfen nötig, um die Unterweltsgeister zu besänftigen. War die Anzahl der Köpfe auf beiden Seiten nicht ausgewogen, wurden ein oder zwei Sklaven enthauptet, um die Diskrepanz auszugleichen. Sultan Omar Ali Saifuddin herrschte seit 1828 über diese Gentlemen von Land und Meer. Er war geistig zurückgeblieben und allein dank der Energie seiner Mutter und nicht aufgrund eigener Verdienste oder Bestrebungen auf den Thron gekommen. Seine Mutter hatte für die Ermordung ihres eigenen Bruders, Mohammed Alam, bekannt als Api (Feuer), gesorgt, der mit blutrünstiger Tyrannei über Brunei geherrscht hatte. Ehe er stranguliert wurde – die übliche Todesart für einen abgesetzten Sultan –, war Api so geistesgegenwärtig gewesen, seine Scharfrichter zu bitten, darauf zu achten, in welche Richtung sein toter Körper fallen würde. Wenn er nach links fiele, würde dies großes Unglück für seinen Neffen, den Sohn seiner Schwester, bedeuten, der ihm als Sultan von Brunei nachfolgen sollte. Und in der Tat fiel sein Körper dann zur linken Seite. 352
Omar Ali wurde Sultan, erhielt aber nicht den Titel Iang Partua, »der Herr, der regiert«, da er geistig zurückgeblieben war. Was noch schlimmer war, war ein körperlicher Defekt, der nicht zum Herrscher einer asiatischen Monarchie passte: Er hatte an seiner rechten Hand einen kleinen zweiten Daumen. Die Macht lag in Wirklichkeit bei einem weiteren Bruder seiner Mutter, Hasim. Er wurde Raja Muda oder Thronerbe und Regent genannt. 1837 war Hasim gezwungen, seinen Palast in Brunei zu verlassen, um in der Provinz Sarawak nach dem Rechten zu sehen, wo eine Rebellion ausgebrochen war, die sehr bedrohlich zu werden schien. Die malaysische Aristokratie, die über die Insel Borneo herrschte, plünderte systematisch ihre einheimischen Untergebenen aus. Sie verlangte Tribut, erzwang aber auch Serah, was man etwa mit »unfreiwilliger Handel« übersetzen kann. Jedes Dorf musste den malayischen Adligen alle seine Waren – Reis, Wachs, Honig und Vogelnester – anbieten, die diese dann an chinesische Kaufleute weiterverkauften. Die Malaysier hatten das Recht, den Preis zu bestimmen; sie setzten immer lächerlich niedrige Preise fest. Und wenn das Dorf die geforderte Menge an Waren nicht liefern konnte, mussten die Bewohner ihre eigenen Kinder als Sklaven hergeben. Als wäre dieser »unfreiwillige Handel« nicht schon schlimm genug, mussten die Einheimischen auch noch »unfreiwillig einkaufen«: Das malaysische Oberhaupt 353
konnte alles, was es wollte, ins Dorf schicken, und die Bewohner mussten es kaufen. In diesem Fall war der Preis freilich immer kolossal hoch. Die Stämme, die am meisten unter diesem System zu leiden hatten, waren natürlich die sanftesten und friedlichsten wie die Land-Dayaks und die Murut. Wenn sie schließlich zur Verzweiflung getrieben wurden, war die einzige ihnen bekannte Möglichkeit, ihrer Not zu entkommen, die Flucht aus Brunei in Richtung des Landesinneren in die gebirgigen Gebiete der Insel. Bei weniger friedliebenden Stämmen wie den SeeDayaks und den Kayan verfolgten die Malaysier eine andere Methode: Sie reizten die Stämme zum Kauf von Waffen an und zwangen sie dann zur Piraterie und zu Überfällen auf benachbarte Stämme. Dann nahmen sie die Hälfte der Beute als Tribut. Im Jahr 1837 hatte sich dieses Regime aus Erpressung und Räuberei durch seine eigene Gier und Zügellosigkeit in eine schwere Krise gebracht. Der neue Gouverneur der Provinz, Makota, hatte es in seiner Gier nach Reichtümern so übertrieben, dass es für die malaysischen Adligen nichts mehr zu stehlen gab. Außerdem waren diese, meist Verwandte der herrschenden Dynastie von Brunei, wegen der verächtlichen Behandlung seitens des neuen Gouverneurs zutiefst beleidigt. Sie führten gar eine Revolte der erbitterten Einheimischen an, die wiederum danach trachteten, möglichst jeden Malaysier zu töten, egal welcher Seite er angehörte. Und so weitete sich die Meuterei aus: ein Fest für 354
die eingeborenen Kopfjäger. Die Meuterei, die selbst schon schlimm genug war, bereitete dem Monarchen von Brunei aufgrund dessen, was wir internationale Komplikationen nennen könnten, immer mehr Kopfzerbrechen. Die Meuterer erbaten die Hilfe der Niederländer, die sich im Süden Borneos niedergelassen hatten. Hasim befürchtete, Sarawak und vielleicht den Thron zu verlieren; er eilte deshalb in die Provinz, um die Sache persönlich in die Hand zu nehmen. Wie alle Fürsten im großen asiatischen Archipel wusste Hasim, dass man die Schachzüge einer europäischen Macht am besten konterte, indem man um die Hilfe einer anderen, rivalisierenden europäischen Macht, in diesem Fall der Briten, ersuchte. Sie hatten 20 Jahre zuvor in Singapur einen Stützpunkt eingerichtet und waren froh um jede Möglichkeit, ihren politischen und kommerziellen Einfluss auszudehnen. Die Umstände kamen ihnen entgegen: 1838 erlitt ein britisches Schiff an der Mündung des Flusses Sarawak Schiffbruch. Hasim kam den Seeleuten zu Hilfe, beherbergte sie und gab ihnen zu essen, bis er sie auf eigene Kosten nach Singapur zurückschickte. Diese Geste königlicher Großzügigkeit machte großen Eindruck auf die Kolonialmacht. Der Gouverneur Bonham schickte eine Mission zum Raja Muda Hasim, um seinen Dank auszudrücken; eine solche Mission könnte, das war sein Nebengedanke, auch den Hof von Brunei für britischen Einfluss öffnen. Gouverneur Bonham hatte für diese Aufgabe genau 355
die richtige Person zur Hand – etwas exzentrisch, besessen von Borneo und dem dringenden Anliegen, die Niederländer aus Ostindien zu vertreiben und britische Kolonien zu errichten. Es war James Brooke, der kurz zuvor an Bord seines Schoners Royalist nach Singapur gekommen war: ein gut aussehender Gentleman mit hervorragenden Manieren. Bonham entschied, ihn als persönlichen Botschafter zu schicken, um Hasim den Gruß Ihrer Majestät Queen Victoria zu überbringen. Der glückliche Chargé d’Affaires dieses diplomatischen Manövers hätte sich nichts Besseres erhoffen können. James Brooke war 35 Jahre alt. Er war 1803 in einem Vorort von Benares zur Welt gekommen, wo sein Vater, Thomas Brooke, als Richter am Obersten Gerichtshof der Ostindischen Kompanie beschäftigt war. James war das fünfte von sechs Kindern, zwei Jungen und vier Mädchen, und mit zwölf Jahren wurde er nach England zur Schule geschickt; nach seinem Studium kam er nach Indien zurück und trat in die bengalische Armee ein. 1825 zeichnete er sich im Ersten Burmesischen Krieg als Kavallerieoffizier durch große Tapferkeit aus. Er erlitt einen Lungenschuss und wurde vermeintlich tot auf dem Schlachtfeld zurückgelassen; erst am nächsten Tag erkannten seine Kameraden, die die Gefallenen bestatten sollten, dass er noch lebte. Er erholte sich in England und machte sich 1830 auf die Rückreise nach Bengalen; auf der Schifffahrt herrschte stürmisches Wetter, und als er schließlich ankam, war die Fünfjahresfrist, die die Kompanie für die Rückkehr in den Dienst festge356
setzt hatte, gerade überschritten. Er bat um eine Verlängerung, die aber kühl abgelehnt wurde. In einem Wutanfall reichte er seine Kündigung ein und hegte fortan Groll gegen die arrogante und rigide Kompanie. Er fuhr weiter nach China und kehrte schließlich nach England zurück, doch er hatte sich hoffnungslos in den Fernen Osten verliebt, besonders in den Ostindischen Archipel. Er las alles, was er über die Inseln finden konnte, und träumte davon, ein Schiff zu kaufen und in Ostindien Handel zu treiben. Im Jahr 1834 sah er seine Chance gekommen. In Liverpool wurde eine schöne Brigg, die Findlay, zu einem sehr guten Preis angeboten. Zunächst weigerte sich sein Vater, ihm das Geld zu leihen, doch schließlich gab er James’ Bitten nach. Von Ruhm träumend segelte James mit seinem neuen Schiff voller Handelswaren in Richtung Ostindische Inseln. Die Reise war eine bittere Enttäuschung. Die ganze Fahrt war ein ununterbrochener Streit mit dem Kapitän der Findlay, einem gewissen Kennedy – es war schwer zu sagen, welcher der beiden Männer das hitzigere Temperament hatte. Als sie schließlich ankamen, musste James feststellen, dass er die falschen Güter geladen hatte. Niemand wollte seine Ladung kaufen. Er musste sein Schiff entladen und in Macao verkaufen und kehrte gedemütigt nach Hause zurück. Doch diese Erfahrung sollte sich noch als wertvoll erweisen.
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Diese Karte von Hondius zeigt den Ostindischen Archipel in großer Detailgenauigkeit, aber vielleicht mit nicht genug Meer darum herum und dazwischen. – Mit freundlicher Genehmigung von Thomas Suarez
Sein Vater starb 1835. Mit seinem Erbteil wollte James sein Glück erneut versuchen, diesmal mit einem kleineren Schiff, dem Schoner Royalist. Er setzte im Oktober 1838 Segel und erreichte im Mai 1839 Singapur, gerade rechtzeitig, um Gouverneur Bonham seine Dienste anzubieten. Am 12. August warf die Royalist an der SarawakMündung Anker, und drei Tage später segelte das Schiff flussaufwärts Richtung Kuching, einer Neugründung des Gouverneurs Makota. Die Dayak-Rebellen hatten kurz zuvor die frühere Provinzhauptstadt Katubong 358
niedergebrannt. Kuching bestand aus hölzernen Stelzenhäusern (wie jede Siedlung am Ufer), in denen etwa 1000 Menschen wohnten, außer ein paar chinesischen Kaufleuten alles Malaysier. Der Raja Muda und der Gouverneur empfingen ihn in einer formellen Audienz unter einem Baldachin; sie hatten jedoch an diesem Abend eine private Begegnung, und Hasim drückte seine Sorge bezüglich der niederländischen Ambitionen aus. Hasim fragte Brooke, ob Großbritannien bereit wäre zu helfen. Der Engländer, der nur eine Privatperson war und keine Verpflichtungen im Namen seines Landes eingehen konnte, wich der Frage mit allgemeinen Versicherungen und Kritik an den Niederländern aus. In den folgenden Tagen kundschaftete er die Umgebung gründlich aus, um Sarawak kennen zu lernen. Und er mochte, was er sah. Er mochte den Ort und die Menschen – auch wenn er etwas bestürzt war, etwa 30 getrocknete Menschenköpfe in einem Dayak-Langhaus aufgehängt zu sehen. Er mochte sie, und sie mochten ihn – die Einheimischen, die Malaysier und die Chinesen. Insbesondere Hasim mochte James Brooke, und er mochte ihn noch mehr, als er eineinhalb Monate später, als er schon seine Abreise aus Sarawak vorbereitete, eine Gruppe Piraten, die unvorsichtigerweise die Royalist attackiert hatte, zurückschlug. Raja Muda lud ihn ein, wieder nach Kuching zu kommen, und ehrte ihn mit einem üppigen Bankett und einem Orang-Utan als Geschenk. 359
Die Begrüßung Brookes in Singapur fiel etwas kühler und weniger festlich aus. Die britischen Kaufleute gratulierten ihm zwar, da sie hofften, er könnte die Tore Bruneis für sie öffnen. Gouverneur Bonham jedoch war verärgert, als er hörte, dass Brooke politische Belange berührt hatte, wenn auch nur am Rande. Er befürchtete Komplikationen mit den Niederländern, die jedem britischen Schachzug auf einem Gebiet, das sie als ihres betrachteten, mit Argwohn begegneten. Verdrossen stach Brooke in See, um Celebes (heute Sulawesi) zu umsegeln, und auf seinem Rückweg machte er wieder in Kuching Halt. Diesmal begrüßte ihn Hasim als Retter. Die Rebellen waren nicht weit vor der Stadt; vielleicht könnte der englische Gentleman so freundlich sein, den Regierungstruppen, die die Meuterer in Schach hielten, einen Besuch abzustatten, und sei es nur, um die Truppen zu ermutigen und vielleicht den Feind durch die mysteriöse Anwesenheit eines weißen Mannes einzuschüchtern? James Brooke – höflich und entgegenkommend wie immer – stimmte zu und segelte flussaufwärts zum Armeelager des Sultans, das von einem Bambuszaun umgeben war. In Rufweite befand sich eine weitere Einpfählung, und dahinter lagen die Feinde. Die Kämpfe bestanden lediglich aus mörderischen Beleidigungen von einer Seite zur anderen. Makota, der die Armee des Sultans kommandierte, sah keine Veranlassung, eine Schlacht zu riskieren; er blieb passiv, auch nachdem Brooke schwere Kanonen von der Royalist den Sarawak 360
herauf gebracht hatte. Makota war aber auch nicht gewillt, mit den meuternden Stämmen zu verhandeln, die ihrer Rebellion langsam müde wurden. Er wartete – mit klassischer östlicher Gelassenheit – einfach ab. An diesem Punkt beschloss der Engländer, ein für alle Mal abzureisen. Hasim jedoch bat ihn, noch etwas zu bleiben, und machte dem zweifelnden Brooke ein außergewöhnliches Angebot. Er wolle ihm nicht nur das exklusive Handelsrecht in der Provinz Sarawak einräumen, er würde ihn überdies zum Provinzgouverneur machen. Er spielte gar auf den Titel Raja an. Von diesen Aussichten angespornt segelte Brooke flussaufwärts und nahm die Situation in die Hand. Er brach eine Offensive los, die die Rebellen überwältigte und um Frieden ersuchen ließ. Sie wollten die Verhandlungen nur mit dem Engländer führen, der ihr Vertrauen gewonnen hatte. Hasim versprach, er würde von seinem schwachsinnigen Neffen, dem Sultan von Brunei, das nötige Dokument erhalten, das Brooke zum Gouverneur machte. Der Engländer segelte los, um in Singapur eine Warenladung zu holen und mit dem Handel zu beginnen. Bei seiner Rückkehr, so wurde ihm gesagt, würde er ein Haus und eine Schiffsladung Antimon sowie seine Ernennung zum Gouverneur vorfinden. Als er zurückkam, fand er jedoch nichts davon vor. Da er einen weiteren, sehr teuren Schoner, die Swift, gekauft hatte, wurde er sehr wütend. Sein Zorn wurde noch größer, als er erfuhr, dass der berüchtigte Makota 361
mit einer Bande von See-Dayaks plante, die LandDayaks und die chinesischen Kaufleute zu überfallen. Aus Furcht vor Brookes Wut sperrte sich Hasim mehrere Tage in seinem Haus ein und gab vor, todkrank zu sein. Am Ende bekam der verärgerte Engländer jedoch, was er wollte: Schnell baute man ein Haus für ihn, man brachte Antimon heran, und Makotas Überfall wurde verworfen, was Brooke zum geliebten Beschützer der Land-Dayaks und der chinesischen Kaufleute machte. Sein Ansehen wuchs zusätzlich, als er unerschrocken allein in Kuching blieb und seine Männer wegschickte, mit der Swift, um das Antimon nach Singapur zu bringen, mit der Royalist nach Brunei, um die Freilassung der Mannschaft eines britischen Schiffes zu erbitten, das in der Nähe Schiffbruch erlitten hatte. Die Royalist war in ihrer Mission erfolglos, doch kurz nach Abbruch der Verhandlungen segelte ein britisches Kriegsschiff der Royal Navy in den Hafen, und die erschreckten Behörden des Sultanats ließen flugs die inhaftierte Mannschaft frei. Sie waren nun überzeugt, dass Brooke ganz Großbritannien, bewaffnet bis an die Zähne, hinter sich hatte. Inzwischen schmiedete Makota, der große Schurke dieses äquatorialen Fleckens, Intrigen. Er ging soweit zu versuchen, Brookes malaysischen Dolmetscher mit einer Dosis Arsen im Reis zu vergiften. Der Engländer, der schon aus viel geringeren Gründen seine Beherrschung verlor, segelte mit der Royalist flussaufwärts und setzte in 362
Kuching Anker. Er richtete seine Kanonen auf Hasims Palast, ging mit einer bewaffneten Truppe an Land und hielt vor dem Raja Muda eine Schmährede auf Makota, den Verräter aller: Verräter seiner selbst, James Brookes, Verräter Hasims, Verräter des fernen und kranken Sultans von Brunei, Verräter der unterdrückten LandDayaks, der friedlichen chinesischen Kaufleute, der malaysischen Aristokratie – kurz: Verräter der ganzen geschaffenen Welt. Wünschte sich Raja Muda Hasim vielleicht eine weitere nette Rebellion? Diesmal würde er, James Brooke, persönlich die Revolte anführen; und er hätte Mitstreiter, da er jetzt der Einzige sei, dem alle in Sarawak trauten. Er würde die Rebellion direkt vor die Tore Bruneis führen, und er würde jeden vernichten, der ihm im Weg stünde – ein neuer Attila auf Borneo. Als Ergebnis dieser Stegreifrede und Schrecken verbreitenden Audienz hatte Brooke dann ein Dokument in Händen, das ihn zum Gouverneur von Sarawak und der angrenzenden Regionen machte, gegen einen kleinen jährlichen Tribut an den Sultan und das Versprechen, die örtlichen Gesetze und Religionen zu respektieren. Am 24. November 1841 wurde James Brooke öffentlich zum neuen Raja von Sarawak erklärt – ein Weißer, ein Engländer, ein »verschwörerischer Abenteurer«, wie ihn die Niederländer bald nannten. Die Niederländer hatten allen Grund zu hoffen, dass dieses Abenteurers Abenteuer bald zu Ende sei – dann nämlich, wenn ihre und Makotas Intrigen Erfolg hatten. In der Tat war Brookes Situation prekär. Er war auf 363
einer abgelegenen asiatischen Insel, isoliert, mit nur einer Hand voll Europäer – den Mannschaften seiner Schiffe – an seiner Seite. Und seine Schiffe waren zudem oft unterwegs, von und nach Singapur. Brooke sollte jedoch bald zeigen, was in ihm steckte. Er begriff sofort, dass er die Unterstützung und die Zuneigung seiner neuen Untergebenen gewinnen musste, und dafür war zweierlei nötig. Er musste eine ehrbare Administration bilden, die den Missbrauch früherer Regierungen abschaffte, und er musste den Handel aufbauen, um Wohlstand in die Provinz zu bringen. Dies bedeutete, die Land-Dayaks zu schützen, die Malaysier in Schranken zu halten, ohne ihren Groll zu erregen, und die chinesischen Händler zu ermutigen. Und noch eines: Er musste die Piraten ausschalten. Er begann, ihnen kleine Lektionen zu erteilen, und wartete auf seine Chance, sie in Sarawak ein für alle Mal auszulöschen. Eine weitere wichtige Frage blieb offen: Die Titel des Rajas und des Gouverneurs, die ihm der eingeschüchterte Hasim verliehen hatte, mussten vom Sultan von Brunei anerkannt und bestätigt werden. Hasim war, obwohl er Erbe des Throns und des Regenten war, seit Jahren nicht in der Hauptstadt gewesen. Er hatte nämlich Angst hinzugehen. Er befürchtete Palastintrigen, die seine Verwandten während seiner Abwesenheit betreiben könnten; er erwartete Dolche hinter Vorhängen und Giftpillen in Getränken. Hasims Anwesenheit in Kuching war für Brooke ein Dorn im Auge, da der Raja Muda formell mehr Macht hatte als er. Wenn der 364
Gouverneur einen Befehl gab, schienen die Untergebenen auf Bestätigung oder zumindest stillschweigende Zustimmung von Hasim zu warten. Schließlich brach der verärgerte Engländer, nachdem er vergeblich versucht hatte, den Regenten zur Rückkehr nach Brunei zu bewegen, im Juli 1842 selbst zur Hauptstadt des Sultanats auf, begleitet von zweien der zahlreichen Brüder Hasims. Hasim umarmte seine Brüder unter Tränen, in der Sicherheit, dass nur einer lebend das Schlangennest Brunei wieder verlassen würde. Stattdessen wurde Brooke von dem zwar zurückgebliebenen, aber sehr liebenswerten Omar Ali herzlich begrüßt. Der Sultan freute sich über Brookes Geschenke, er bezeichnete ihn als amigo sua, in dem Dialekt, den die Portugiesen als einzige Erinnerung an ihre Regentschaft hinterlassen hatten, und er war besonders angetan von Brookes Vorschlag, den Tribut von Sarawak in britischen Waren zu leisten. Omar Ali schrieb einen Brief an seinen Onkel und lud ihn ein zu kommen, und er überreichte dem Engländer ein Pergament mit zahlreichen offiziellen Siegeln und erklärte ihn zum legitimen Raja. Bedrohliche Schatten des Missfallens lagen über der Halle des Palasts, doch niemand wagte, sich den Beschlüssen des Sultans offen zu widersetzen. Das Gleiche geschah in Kuching, als Brooke zurück war und Hasim das Dokument vor dem versammelten Hof vorlas. Beim Lesen schaute Hasim bedeutungsvoll zum finster blickenden Makota; danach erklärte er, dass jedem, der es wagte, nicht zu gehorchen, der Schädel 365
durch einen einzigen Hieb eines Kampilan gespalten würde. Als Makota resigniert zu Boden blickte, tanzten Hasims zehn Brüder um ihn herum und ließen ihre Schwerter kreisen. Raja Brooke, der nun offiziell die Befehlsgewalt hatte, organisierte einen Feldzug gegen die Piraten, wozu er das britische Kriegsschiff Dido unter dem Kapitän Keppel, der im Mai 1843 vor Borneo eingetroffen war, benutzte. Eine Flotte aus Barkassen und Kanus mit britischen Marineinfanteristen und malaysischen wie Dayaki-Kriegern an Bord fuhr den Saribas hoch. Sie überwanden die Hindernisse, die die Piraten mitten im Fluss errichtet hatten, griffen deren Holzfestungen an und brannten ihre Dörfer nieder, bis sie schließlich von den besiegten Briganten Zeichen der Kapitulation und Unterwerfung bekamen. Dies war die erste einer Reihe von Feldzügen, die immer die gleiche Taktik aufwiesen. Bei einem wurde der unverbesserliche Makota auf frischer Tat ertappt, als er zu Feindschaft und Verrat an seinem verhassten Rivalen aufrief. Weder Brooke noch Hasim hatten den Mut, Makota exekutieren zu lassen, da er noch immer zu viele Verbündete und Sympathisanten hatte. Aber sie verbannten ihn, und Makota ging nach Brunei zurück. Hasim ging schließlich ebenfalls, und mit ihm seine große Familie: Brüder, Ehefrauen, Kinder, Höflinge, Diener – und alle wurden von seinem Neffen, dem Sultan, in Brunei willkommen geheißen. Nun, da sowohl sein verschworener Feind als auch 366
sein Freund gegangen waren, fühlte sich James Brooke endlich als wirklicher Raja von Sarawak. In den folgenden Monaten besuchte er seine zahlreichen Besitztümer, schrieb eine Abhandlung über Piraterie und versuchte, von der britischen Regierung irgendeine Form der Anerkennung seines Rangs zu bekommen. Er erntete nicht mehr als die Ernennung zum »Vertrauensmann«; inzwischen kehrte Kapitän Keppel nach England zurück und veröffentlichte Teile der Tagebücher, die Brooke ihm anvertraut hatte. Das Buch wurde sehr erfolgreich, und der Weiße Raja, wie er nun in Borneo genannt wurde, wurde in Britannien ein Nationalheld: ein romantischer Abenteurer, der sich darum bemühte, die britische Zivilisation in ein wildes Land zu bringen, und gegen Piraten und Kopfjäger kämpfte. Doch die Zeit, seinen Ruhm in Frieden zu genießen, war noch nicht gekommen. Der misstrauische Hasim hatte mit seinen Befürchtungen hinsichtlich Bruneis die Lage nicht ganz falsch eingeschätzt. Sultan Omar Ali war unter den Einfluss eines neuen großen Schurken namens Haji Seman geraten und ließ diesen einen Palastputsch organisieren, bei dem nahezu alle königlichen Fürsten ermordet wurden. Dem armen Hasim gelang es, der ersten Abschlachtung zu entkommen, er tötete sich jedoch selbst durch einen Kopfschuss aus einer Pistole, als er umzingelt war. Bis die Nachricht von dem Massaker Singapur erreichte, war sie mit falschen Meldungen über einen Angriff auf Kuching, bei dem Brooke und alle Weißen in Borneo getötet werden sollten, angerei367
chert, woraufhin die Royal Navy zur Rettung anrückte. Im Juli 1846 nahm ein Geschwader Brooke in Kuching, das glücklicherweise nicht angegriffen wurde, auf und segelte den Fluss hoch, der nach Brunei führte. Das Geschwader geriet unter Kanonenbeschuss, wurde aber nicht schwer getroffen. Britische Marineinfanteristen nahmen die Stadt Brunei ein. Der Sultan, sein Hof und der größte Teil der Bevölkerung waren hastig geflohen. Ein Suchtrupp, der im Dschungel nach Omar Ali suchte, kehrte mit leeren Händen zurück. Ein weiterer Trupp, der Haji Seman in seiner Residenz in Kimanis festnehmen sollte, war ebenfalls erfolglos: Der Verräter war geflohen, und alles, was die Briten fanden, war Haji Semans beachtliche Sammlung von Menschenköpfen. Ein paar Tage später überredete man Sultan Omar Ali, in die Hauptstadt zurückzukehren. Er erklärte, dass er getäuscht worden sei und seine Taten bereue. Er huldigte seinen ermordeten Onkeln an deren Gräbern; er bestätigte Brooke als Gouverneur von Sarawak und verzichtete auf Tributzahlungen. Als Strafe musste er die Insel Labuan an Königin Victoria abtreten. Der Weiße Raja brachte die Ehefrauen und Kinder Hasims, die die Abschlachtung überlebt hatten, zurück nach Kuching. Später wurde Haji Seman doch noch gefangen genommen. Als sich die Lage beruhigt hatte und mehrere kleinere Feldzüge gegen die Piraten durchgeführt worden waren, fuhr Brooke – nach insgesamt sieben Jahren – nach England. Seine Begrüßung war triumphal, auch 368
Königin Victoria und Prinzgemahl Albert empfingen ihn. Er wurde zum Ehrenbürger Londons und zum Gouverneur der neuen britischen Insel Labuan sowie zum Generalkonsul von Borneo ernannt. Er begann über die Frage seiner Nachfolge nachzudenken, besah sich seine Neffen, die beiden Söhne seiner Schwester Emma Johnson, und bat ihre Eltern, für eine »angemessene Ausbildung« zu sorgen. Als er nach Borneo zurückkam, musste er feststellen, dass seine alten Feinde sich in seiner Abwesenheit erhoben hatten. Die Piraten hatten ihre Untaten wieder aufgenommen, und in Brunei war der alte Makota wie ein nicht zur Ruhe kommendes Phantom wieder aufgetaucht. Die See-Dayaks von Saribas hatten einen neuen Anführer, Laksamana. Im März 1849 verwüsteten die See-Dayaks mit 80 Prahos das Ufer des Flusses Sadong, während die Männer bei der Ernte waren. Sie enthaupteten etwa 100 Frauen und Kinder und nahmen triumphierend ihre Köpfe mit. Im Juli organisierte Brooke einen vernichtenden Racheakt. Er fuhr mit einer Flotte aus britischen Kriegsschiffen und malaysischen Prahos mit insgesamt 2500 Mann in Kuching los. Als sie die Piratenstützpunkte erreichten, war die gesamte Piratenflotte – über 150 Boote – in See gestochen. Brooke und seine Männer legten sich an den Flussmündungen auf die Lauer. Als die Piraten kamen, wurden sie von Brookes Männern niedergemetzelt. Die Überlebenden flohen in ihre Dörfer, die die Briten und Malaysier dann niederbrannten. 369
Diese Lektion war so gewaltig, dass viele Stämme die Piraterie daraufhin für immer aufgaben. Die große Schlacht war monatelang das Thema auf der Insel, und sie markierte den Anfang vom Ende der Piraterie in Nordwestborneo. Sie hatte jedoch für Brooke unliebsame Konsequenzen. Als er wieder in England war, beschuldigten ihn ein paar feinfühlige Seelen der Ermordung von unschuldigen Wilden. Seine Behauptung, es wären Piraten gewesen, sei nur ein Vorwand, um sich ihres Landes zu bemächtigen – und das mit der unbeabsichtigten Unterstützung der Royal Navy. Das Parlament berief eine Untersuchungskommission ein; die Untersuchung zog sich hin, aber am Ende sprach sie sich zu Gunsten des Weißen Rajas aus. Inzwischen vergrößerte Brooke mit Unterstützung seiner beiden Neffen – Charles, nun Tuan Muda (Junger Herr) genannt, und Brooke oder Tan Besar (Großer Herr) – sein Herrschaftsgebiet, indem er mit Billigung des neuen Sultans Munim, der nach dem Tod Omar Alis 1852 auf den Thron kam, die Gebiete Skrang und Saribas der Provinz Sarawak angliederte. Munim, der eine Schwester des früheren Sultans geheiratet hatte, gehörte einem Nebenzweig der regierenden Familie an und spürte, dass seine Regentschaft etwas unsicher war. Mit diesem großzügigen Eingeständnis wollte Munim sich die Unterstützung des mächtigen Weißen Rajas sichern. Sarawak, mächtig und berühmt geworden, hatte in jenen Jahren mit seinem Raja und den Piraten die Auf370
merksamkeit der ganzen Welt auf sich gezogen. Wissenschaftler wie der Engländer Alfred Wallace und der Italiener Odoardo Beccari kamen in die Provinz, um die Flora und Fauna Borneos zu studieren, vor allem den Orang-Utan. Brooke oder – während seiner Abwesenheit – seine Neffen, die die Regierungskünste erlernen sollten, behandelten die Besucher höflich. Auch die berühmteste Reisende jener Zeit, die Österreicherin Ida Pfeiffer, die zweimal um die ganze Welt reiste, kam zu Besuch. Auf der Suche nach Abenteuer wagte sie sich tief in den Dschungel, und sie fand, was sie suchte: Die gastfreundlichen Dayaks bereiteten ihr ein Bett am Ehrenplatz ihres Langhauses, unter einer Reihe frisch abgeschlagener Köpfe. Diese relativ friedliche Zeit endete im Jahr 1857 mit einer Reihe schrecklicher Ereignisse, die Sarawak nahezu ins totale Chaos stürzten. Die chinesischen Arbeiter in einem großen Goldgräberlager in Bau am Oberlauf des Sarawak wurden von einer fremdenfeindlichen Geheimorganisation, die Hass auf die Engländer schürte, angestachelt. Das britische Reich habe, so die Prediger dieser Gesellschaft, in den letzten Jahren dem (chinesischen) »Reich des Himmels« eine Demütigung nach der anderen zugefügt. Die chinesischen Goldgräber ärgerten sich besonders über die schweren Geldstrafen, mit denen der Schmuggel von Opium geahndet wurde (nicht weil das Opiumrauchen illegal war, sondern weil dadurch ein Regierungsmonopol verletzt wurde), und so verschworen sie sich, die weißen Europäer und ihre 371
malaysischen Verbündeten auszurotten und die Kontrolle über Kuching zu übernehmen. In der Nacht des 18. Februar und am Morgen des nächsten Tages kamen Hunderte bewaffneter Chinesen in Booten mit umwickelten Rudern leise den Sarawak herunter und drangen in die Stadt ein. Eine Gruppe stürmte Brookes Haus. Von dem Lärm, den sie machten, wachte der Weiße Raja, der einen schlimmen Malariaanfall hatte, auf und sah, wie einer seiner Beamten ermordet wurde. Er schaffte es irgendwie aus dem Haus heraus, ohne gesehen zu werden, während die Angreifer Feuer legten. Er tauchte in den Fluss und schwamm weg, vorbei an den chinesischen Booten. Inzwischen schwärmten die Angreifer in ganz Kuching aus, brachen in die Häuser der Europäer ein und brannten sie nieder. Brooke versuchte, die loyalen Malaysier zusammenzutrommeln und einen Gegenangriff zu starten, aber sie waren zu wenige. Er verließ die Stadt und schickte Tuan Muda Charles, der sich in Skrang aufhielt, die Botschaft, schnell mit seinen Dayaks herzukommen. Die überlebenden Europäer wachten durch den Lärm und den Feuerschein auf, suchten Zuflucht im Zentrum der protestantischen Mission und bereiteten sich darauf vor, sich bis zum Tod zu verteidigen. Doch die Chinesen schickten, statt diesen letzten Posten des Widerstands einfach anzugreifen, Repräsentanten zum Bischof, um auszurichten, sie hätten keine Probleme mit der Mission, sondern nur mit dem Weißen Raja und seinen Beamten, und sie baten ihn, zu kommen und 372
sich um ihre Verwundeten zu kümmern. Bischof McDougall willigte ein, er wurde zum chinesischen Anführer gebracht, der auf dem Rajathron saß, seinen Männern einen Kopf auf einem Stab präsentierte und behauptete, es sei Brookes Kopf. Tatsächlich gehörte er dem Beamten, der vor Brookes Augen getötet worden war. McDougall, ein couragierter Mann, sagte zu den Chinesen, in Kürze würde Tuan Muda, dürstend vor Rache, eintreffen, und seine Dayaks würden die Chinesen in Stücke hacken. Diese plausible Bemerkung genügte, um den Enthusiasmus der Rebellen zu dämpfen. Sie beschlossen, in die Goldminen von Bau zurückzukehren. Am 21. Februar brachen die Chinesen in mit Beute beladenen Booten flussaufwärts auf. Einige Malaysier griffen die Nachhut an, woraufhin die Chinesen zurückkehrten und das malaysische Viertel niederbrannten. Der kühne Bischof McDougall ging, nachdem er Frauen und Kinder in einem Boot flussabwärts in Sicherheit gebracht hatte, zum Weißen Raja. Er drängte ihn, den Augenblick zu nutzen und den Feind zu überwältigen. Sie waren jedoch zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen; Brooke griff widerstrebend an, und er und seine Männer wurden schwer geschlagen. Er litt noch immer unter dem Malariaanfall, und er schien auch entmutigt. Laut einem Zeugen sprach er davon, das Land einfach den Niederländern zu übergeben. Tuan Muda lag in Skrang ebenfalls mit Malaria zu 373
Bett, als ein Diener mit der Nachricht in den Raum stürzte, in Kuching sei eben sein Onkel von chinesischen Meuterern umgebracht worden. Tuan Muda versuchte auf die Beine zu kommen, und noch ehe er wirklich verstanden hatte, was geschehen war, sah er Dutzende von Dayaki-Prahos nahen, die mit Männern besetzt waren, die den Tod ihres Rajas rächen wollten. Die Flotte fuhr sofort los, und unterwegs trafen sie auf das Boot mit Frauen und Kindern; die Dayaks und Tuan Muda erfuhren, dass Brooke noch am Leben war. Brooke selbst sah auf seinem Weg flussabwärts, den Rettern entgegen, den Dampfer Sir James Brooke auf dem Rückweg von Singapur. Er wurde an Bord genommen und fuhr, gefolgt von den Dayaki-Prahos, ins brennende Kuching und begann, die Chinesen mit der Schiffskanone zu bombardieren. Die Dayaks stürmten wie rachedurstige Furien aus ihren Prahos und zerstörten die chinesischen Boote; die Rebellen flohen in den Dschungel, wo sie kilometerweit gejagt und zu Hunderten getötet wurden. Die überlebenden chinesischen Rebellen flüchteten ins Landesinnere von Borneo und kehrten Sarawak für immer den Rücken. In den folgenden Tagen verließen auch die Chinesen, die mit dem Aufstand nichts zu tun hatten, aus Angst vor Vergeltung massenweise die Provinz. Ihr Weggang schwächte das Land für viele Jahre. Das Jahr 1858 brachte den Abgang eines alten Feindes und das unerwartete Auftauchen einer neuen Figur in der Besetzungsliste des Stückes. In Brunei starb Ma374
kota. In England, wo Raja Brooke die britische Regierung überzeugen wollte, aus Sarawak ein Protektorat zu machen, erschien ein unehelicher Sohn auf der Bildfläche: der 24-jährige Reuben George Brooke. Sir James Brooke, der Weiße Raja, erkannte ihn offiziell als Sohn an und informierte seine Neffen. Die Reaktionen von Charles und Brooke, die befürchteten, aus dem Testament ihres Onkels gestrichen zu werden, grenzten an Hysterie. Reuben George setzte jedoch nie einen Fuß auf Sarawak, und nach einem Jahr verschwand er von der Bühne. Er starb 1874 in einem Schiffswrack. Man weiß nur wenig über ihn und die Rolle, die er spielte. Manche glauben, er wäre ein Schwindler gewesen, der James Brookes Gutgläubigkeit ausnützen wollte. Andere meinten, Brooke selbst sei auf den jungen Mann gekommen, wäre der Meinung gewesen, er wäre besser geeignet als seine Neffen, Sarawak zu regieren, und habe ihn deshalb als seinen Sohn ausgegeben. Vielleicht ist diese Hypothese richtig, denn es gibt keine Hinweise, dass Brooke irgendwelche Beziehungen zu Frauen gehabt hätte. Es gibt einen Biographen, der – gestützt auf zuverlässige Berichte enger Freunde Brookes – behauptet, die Kugel, die auf jenem Schlachtfeld in Burma 1825 angeblich seine Lunge durchdrungen hat, habe in Wirklichkeit ein anderes, tiefer liegendes Organ beschädigt. Eine Frau gab es allerdings, die im Leben des Weißen Rajas eine wichtige Rolle spielte: Miss Angela Bur375
dett-Coutts, die er in jungen Jahren in Bath kennen gelernt hatte, als er sich von besagter Schusswunde erholte. Sie schrieben sich jahrelang Briefe, und sie wurde eine loyale Freundin und verlässliche Ratgeberin, und als sie ein beachtliches Vermögen erbte, investierte sie viel Geld in Sarawak und unterstützte James finanziell. Die von ihm geschätzte Dame mochte James Brookes Verwandte ganz und gar nicht, was die Frage der Thronfolge von Sarawak enorm komplizierte. Die Frage beschäftigte James Brooke immer mehr, je schlechter sein Gesundheitszustand wurde. 1861 hatte er seinen Neffen Brooke zum Raja Muda oder Thronerben ernannt. Er hatte dem jungen Brooke mehr als einmal versprochen, dass er bald abdanken würde. Als sein Onkel mit der britischen Regierung über die Errichtung eines Protektorats verhandelte, verstand der junge Brooke die Situation falsch und dachte, der Weiße Raja bereite die Übergabe des Landes an die Briten vor. Er schrieb im Versuch, ihn davon abzuhalten, drohende und unbesonnene Briefe an seinen Onkel. Wenn es etwas gab, was der Weiße Raja nicht tolerierte, dann war es Auflehnung, am wenigsten bei einem Neffen, an den er seine Großzügigkeit verschwendet hatte. Er reiste sofort (auf Anraten von Miss Burdett-Coutts und mit von ihr geliehenem Geld) eilends nach Kuching zurück, strich den armen Brooke aus seinem Testament und schickte ihn ins Exil. Charles – der immer an der Seite seines Onkels gestanden hatte – wurde somit Thronerbe, doch auch er war ein beliebtes Ziel für die Stichelei376
en der Freundin seines Onkels. Trotz alledem wurde Charles schließlich der zweite Weiße Raja von Sarawak, als Sir James Brooke am Morgen des 11. Juni 1868 im englischen Burrator starb, wo er die letzten fünf Jahre seines Lebens verbracht hatte. Noch lange Jahre danach zeigten die Bewohner von Kuching auf den Berg Santubong und sagten, nach Gottes Wille trage der Berg das Profil ihres Staatsgründers, der seine Augen auf Sarawak richte, um es für immer zu beschützen.
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Rund um die Welt in 35 Stunden
Am 27. Mai 1883 ging eine fröhliche kleine Exkursionsgruppe im Pazifikhafen von Batavia, der hübschen Hauptstadt von Niederländisch-Ostindien, an Bord eines Dampfschiffs. Sie brach zu einem ganz besonderen Tagesausflug auf. Die Damen trugen Reifröcke und schützten sich mit bunten Schirmchen mit Spitzenbesatz vor der starken Äquatorsonne; die Herren trugen Jacketts und Krawatten. Sie wollten über die Sundastraße zur verlassenen Insel Krakatau fahren, wo ein Vulkan, der seit 1680 untätig gewesen war, plötzlich Asche und Lava spuckte. Die Insel war bis vor kurzem von dichtem, grünem Wald bedeckt gewesen, doch nun war alles ein einheitliches Grau. Eine dicke Ascheschicht hatte alle Vegetation erstickt, Farbe und Leben getötet. Der stetige graue Regen fiel bereits seit Wochen. Die mutigsten Mitglieder der Gruppe wagten den anstrengenden Aufstieg zum Gipfel des Mount Perboewatan. Dort schauten sie über den Kraterrand und sahen eine riesige Rauchsäule, die mit gewaltigem Getöse aus einer fast 300 Meter breiten Spalte aufstieg. Die Damen und Herren stiegen wieder ab und gingen zum Boot zurück. Die Damen waren unter ihren 378
nun grauen Schirmen vor Aufregung mit passender Blässe überzogen; die Herren richteten, stolz auf ihren Mut angesichts dieser Naturkräfte, ihre Krawatten. In den folgenden Tagen ließen die Explosionen, die die Neugierigen aus Batavia angelockt hatten, nach; um den 19. Juni war der Vulkan wieder aktiver, dann wieder ruhig. Am 11. August entdeckte eine weitere Bootsladung von Besuchern, dass es nun drei Vulkanöffnungen gab, aus denen Lava schoss, während der Hauptgipfel der Insel, der 280 Meter hohe Vulkan Rakata, kein Lebenszeichen von sich gab. All dies war eine lustige Sache für die niederländischen Diplomatenfamilien in Batavia – eine Möglichkeit, die Damen zu erregen und unverheiratete Töchter ängstlich nach den Ärmeln ihrer Herrenbegleitung greifen zu lassen. Doch es war in diesem Archipel voller großer und kleiner Vulkane, von denen hie und da einer aktiv war, keine ungewöhnliche Sache. Aber innerhalb weniger Wochen sollte die Insel Krakatau explodieren – in dem »größten geologischen Phänomen in der Geschichte«, wie ein Beobachter schrieb. Am 26. August, nach den ersten gewaltigen Ausbrüchen, wuchs eine Säule schwarzen Rauchs aus der kleinen Insel bis auf eine Höhe von über 20 Kilometern empor. Die schrecklichen Explosionen dauerten die ganze Nacht an, und an den Küsten der benachbarten Inseln Java und Sumatra schlief in dieser Nacht niemand. Im 160 Kilometer entfernten Batavia wackelten die Fenster, als würde die Stadt bombardiert. 379
Diese Lithographie wurde nach einer fotografischen Aufnahme des Krakatau im Jahr 1883 während des Anfangsstadiums des Ausbruchs angefertigt, als die Vulkaninsel noch ein beliebter Anziehungspunkt für Reisende war. – Natural History Museum, London, UK/Bridgeman Art Library 380
Um 10 Uhr des 27. August erreichte die Eruption mit einer Aschewolke, die den Himmel bedeckte und einen dunklen Schatten über die ganze Region warf, ihren Höhepunkt. Die enorme Explosion hörte man bis in 4000 Kilometer Entfernung: in Ceylon, Burma, Neuguinea und Australien. In Französisch-Indochina telegrafierten Küstenstützpunkte an ihre Zentralen in Saigon, es finde anscheinend auf hoher See eine Schlacht statt. Der am weitesten entfernte Punkt, an dem man den Lärm vernahm, war die Insel Rodriguez im Indischen Ozean, 4800 Kilometer westlich von Krakatau, wo ein Mitglied der Küstenwache ihn genau vier Stunden nach der Eruption hörte und in seinem Berichtsbuch verzeichnete. In Batavia, wo viele Fenster vom Druck der Explosion geborsten waren, war erst wieder um 15 Uhr, als der Ascheregen endlich aufhörte, Tageslicht zu sehen. In der Zwischenzeit jedoch war, eine halbe Stunde nach der großen Explosion, eine 35 Meter hohe Wassermauer über die Ufer getreten, hatte 295 Städte und Dörfer vernichtet und über 40000 Menschen getötet. 100 Kilometer um das Epizentrum herum blieb nichts stehen. Zwei Drittel von Krakatau, eine Fläche von 20 Quadratkilometern, waren einfach ins Meer gestürzt, was einen gewaltigen Wasserstrudel verursachte. Riesige Flutwellen donnerten an die Küsten, entwurzelten Bäume und zerstörten Häuser bis mehrere Kilometer im Landesinneren. Alles, was von der Insel Sebesi, 32 Kilometer von Krakatau entfernt, blieb, war eine 381
ebene Grundfläche. Alle 3000 Bewohner waren tot. Zwei Stunden später überschwemmte die Flutwelle die tiefer gelegenen Gebiete Batavias und wogte weiter in Richtung China und Japan sowie gen Madagaskar, streifte das Kap der Guten Hoffnung, drang in den Atlantik und weiter gen Norden. Am nächsten Tag stieg in La Rochelle an der französischen Atlantikküste der Wasserspiegel jäh an. Und der atmosphärische Nachhall des explosiven Dampfstrahls umrundete in 35 Stunden die Erde. Augenzeugen erzählten apokalyptische Geschichten. Der Ingenieur Van Sandick vom Niederländischen Hoch- und Tiefbaukorps war an Bord des Dampfschiffs General Loudon, das in der Bucht von Lampong, Sumatra, ankerte. Er sagte, die Asche sei tonnenweise aufs Deck gefallen und habe sich in eine einen halben Meter hohe Schlammpackung verwandelt, die das Schiff bedeckte. Der übel riechende Dreck kroch in alle Nischen des Schiffs, auch unter Deck. Er drang in die Augen und die Nase und machte das Atmen schwierig, und er stank nach Schwefel. Die Ohren surrten, jeden ergriff eine seltsame Schläfrigkeit, und der Kompass spielte verrückt. Bimssteine aller Größen fielen vom Himmel, und siebenmal schlug der Blitz im Hauptmast ein, knatterte über das ganze Schiff und fuhr schließlich mit einem »höllischen Lärm« in den Ozean. Plötzlich hob sich der Meeresspiegel, und eine riesige Welle kam mit unglaublicher Geschwindigkeit auf das 382
Schiff zu. Sie hatten gerade noch Zeit, den Bug gegen den anstürmenden Tsunami zu richten. Einen Augenblick später wurde die General Loudon wie ein Streichholz hochgehoben und ins nachfolgende Wellental geworfen, als das Gebirge aus Wasser donnernd an die Küste rollte, um die Sumatra-Stadt Telok-Betong auszulöschen. Der Leuchtturm fiel um wie ein Kegel, Häuser zerkrümelten, Bäume wurden entwurzelt, und das Dampfschiff Barouw wurde über die Pier geworfen und landete drei Kilometer landeinwärts. Als das Wasser zurücktrat, hatte es das Antlitz Sumatras verändert; Tausende von Leichen lagen nun verstreut in den Straßen. In den Tagen danach stießen Schiffe auf ganze Dämme aus menschlichen Körpern, die die Strömung zusammengetrieben hatte. Anfang September wurde ein deutscher Ozeandampfer fast von einer Insel aus schwimmenden Leichen blockiert. Monatelang aß niemand Fisch, nachdem eine Geschichte hiesiger Fischer die Runde machte, die im Bauch eines Fisches Menschenfinger gefunden hatten. Sechs Monate lang blockierte ein 1000 Meter breiter, 30 Kilometer langer und 5 Meter hoher Damm aus Bimsstein die Bucht von Lampong; langsam brachen Wind und Strömungen ihn auf und trieben die schwimmenden Felsen auseinander. Krakatau selbst war nicht wiederzuerkennen: Zwei Drittel der Insel waren im Meer verschwunden. Wo sich das Land einst auf 120 bis 420 Meter über den Meeresspiegel erhob, befand sich jetzt ein tiefer Krater – 270 Meter unter dem Meeresspiegel. In einem Radius 383
von fast 100 Kilometern um die Insel überlebte nichts und niemand außer jenen, die auf Schiffen waren, und auch von denen schafften es nicht alle. Hunderte kleiner Boote wurden von den Wellen verschluckt, gegen Felsen geschleudert oder zerschellten am Strand. Ein Jahr nach der Eruption, im Mai 1884, besuchten französische Wissenschaftler den verwüsteten Archipel. Sie konnten auf das, was einst Krakatau war, keinen Fuß setzen. Der in weißlichen Rauch gehüllte Krater des Rakata bombardierte ihr Boot mit einem ununterbrochenen Regen aus apfelsinengroßen Steinen wie einen Schießstand. Ein Geschoss »von der Größe einer Granate« schrammte das Boot und ließ die Stimmung der Wissenschaftler von Wagemut zu Vorsicht wechseln. »Es schien, als weigere sich der Gott des Vulkans, der noch immer zürnte, sich von diesen kleinen Menschen, die von der anderen Seite der Erde gekommen waren, um seine Machtdarstellung zu bewundern, untersuchen zu lassen.« Die Wissenschaftler zogen sich nach Sebuku zurück, wo von einem einst schönen Wald nichts geblieben war außer ein unter einer Aschedecke begrabenes Gewirr aus Baumstämmen. Sie segelten weiter nach Sebesi, wo sie ein InselPompeji vorfanden. Unter einer fast zehn Meter hohen Asche- und Bimssteinschicht hatte die Insel ihre ursprüngliche Form behalten, schien aber höher geworden zu sein. Die Küste war ein »trügerisches Terrain«, da die obere Ascheschicht unter der äquatorialen Sonne getrocknet war und fest schien. Doch sie war nur eine 384
dünne Kruste, durch die der unvorsichtige Wanderer plötzlich in einen Schlackeschlamm einbrach, wo er wie in Treibsand ersticken konnte. Am Fuße des Vulkankegels, der die Insel bildete, bot sich den Wissenschaftlern ein schreckliches Schauspiel. Der strömende Regen, der in der Regenzeit gefallen war, hatte tiefe Schluchten in die Geröllschichten gegraben und so den ursprünglichen Boden freigelegt; und hier, am Grund dieser Schluchten, lagen Hunderte mumifizierter Leichen der früheren Bewohner inmitten der erbärmlichen Überreste ihrer Häuser. Sie waren gestorben, ehe die große Flutwelle sie ertränken konnte; sie waren im Schwefel- und Ascheregen erstickt.
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Tusitala in der Äquator-Stadt
Auf der Insel Apemama in einem Archipel, den weiße Seefahrer nach einem englischen Seekapitän, der hier 1788 vorbeigekommen war, Gilbert-Inseln nannten (und die heute zum Inselstaat Kiribati gehören), regierte der schreckliche König Tembinok’, als am 1. September 1889, einem glühend heißen äquatorialen Sonntag, ein Schoner durch die Nordpassage in die Lagune des Atolls fuhr. König Tembinok’ war auf den Gilbert-Inseln gefürchtet und angesehen, Held von Liedern und beliebtes Gesprächsthema. Er war der letzte absolutistische Monarch auf den Inseln, der Letzte aus den Dynastien, die von den weißen Eindringlingen vernichtet worden waren. Auf allen anderen Inseln des Archipels am Äquator hatten die Weißen die Macht übernommen, sie bauten Bungalows, tranken Gin und behandelten die Einheimischen – auch die adligen – wie Haustiere mit beschränkter Intelligenz und fragwürdigem Nutzen. Doch nicht auf Apemama. Auf der Insel Apemama gab es nur einen Weißen, der zwar toleriert, aber nicht gemocht wurde, der am Hofe nicht willkommen war und argwöhnisch beäugt wurde – wie eine Maus in einem Haus voller Katzen. Apemama war die letzte Insel, 386
die sich der europäischen Hegemonie verschloss. Auf allen anderen Inseln dieser Kette kamen und gingen die Weißen, wann es ihnen passte, und sie blieben, so lange sie wollten. Doch auf Apemama geschah nichts ohne Genehmigung des Königs, der seine Besucher mit der Abneigung eines schlecht gelaunten Zollbeamten prüfte. Allerdings hatte der mächtige Tembinok’ sein Ziel, Herrscher des ganzen Archipels zu werden, nicht erreicht, wenn auch nicht durch eigenes Verschulden: Als er Vorbereitungen traf, die benachbarten Inseln einzunehmen, war ein britisches Kriegsschiff mit ausgerichteten Kanonen in der Lagune erschienen, und Tembinok’ wurde gezwungen, alle seine Waffen ins klare blaue Wasser zu werfen. Aber Tembinok’s langer, starker Arm ließ immer noch die Fürsten der anderen Gilbert-Inseln nicht ruhig schlafen. Nirgendwo außer auf Apemama konnte man die alten Bräuche der Gilberts finden. Nur hier gingen unverheiratete Mädchen noch immer nackt; nur hier hatten Witwen die Totenschädel ihrer verstorbenen Ehemänner neben sich im Bett liegen und trugen sie tagsüber immer bei sich, sodass sie von der Sonne ganz ausgebleicht wurden. Der 70-Tonnen-Schoner Equator wurde von Kapitän Dennis Reid navigiert. Er segelte in die Lagune und ankerte direkt vor einem weißen Korallenriff, das über zwei Meter aus dem Wasser ragte. Etwas landeinwärts stand die chaotische Anhäufung von Gebäuden, die den Königspalast bildeten; daneben war ein 387
Dorf aus Maniap’, Häusern mit steilem Dach und offenen Wänden. Am Strand ließen ernst dreinschauende Männer ein Auslegerboot zu Wasser, mit dem sie schnell zum Schiff paddelten und die Leiter des Königs anlegten. Tembinok’ hatte einst eine unliebsame Erfahrung mit einer der fragilen Laufplanken gemacht, die auf vielen Südseefrachtern benützt wurden, und seit jenem Tag bestand er darauf, Schiffe nur über seine eigene Leiter zu betreten. Als die robuste Konstruktion, mehr Treppe als Leiter, an der Equator angebracht war, zogen sich die Eingeborenen zurück. Dem Inselprotokoll entsprechend, folgte eine lange Wartezeit, ehe der mächtige Herrscher erschien, gefolgt von einer Entourage von Höflingen und mehreren seiner Frauen; sie kletterten ins Rettungsboot eines britischen Kriegsschiffs, ein Geschenk der Royal Navy. Schweren Fußes stieg Tembinok’ die Leiter hoch aufs Deck. Er war groß, mächtig und schwer, hatte langes schwarzes Haar und böse, herausfordernde Augen. An diesem Tag trug er seine Lieblingskleidung: grüne Kordhosen und eine feuerrote Seidenjacke, an die die Schlussstücke eines weißen Hemdes genäht waren. Bei anderen Gelegenheiten trug er gerne eine Marineuniform oder bunte Damenkleider. An Bord der Schiffe zu kommen, die seinen Inselhafen besuchten, war nicht nur die Lieblingsbeschäftigung des Königs, es war auch seine Hauptbeschäftigung. König Tembinok’ war der absolute Herrscher des dreigeteilten Königreichs von Apemama, Aranuka und Kuria 388
und zugleich der einzige Kaufmann im Reich. Er hielt das Monopol über die Schildkröten der Insel sowie über die gesamte Kopraernte, die sonnengetrockneten Kokosnüsse, die die einzige wichtige Handelsware im Pazifik waren. Während König Tembinok’ mit dem Kapitän an einem mit Delikatessen gedeckten Tisch verhandelte (sein Ruf als Gourmet war weit über die GilbertInseln hinaus bekannt), waren auch seine kräftigen, schwatzhaften Gattinnen an Bord gekommen und machten, mit königlicher Genehmigung, einen kleinen Einkaufsbummel. Jede hatte dafür als Taschengeld eine Ration Kopra bekommen. Die Inselköniginnen rümpften die Nase über die Kinkerlitzchen, die der Kapitän ihnen vorlegen ließ: Hauben, Schleifen, Korsetts, Reifröcke, Parfüms und Dosen mit Lachs. Stattdessen kauften sie Tabakpäckchen, die wertvollste Ware auf Apemama, die Grundeinheit legalen Handels. Im Gegensatz zu seinen wählerischen Gemahlinnen war der König beim Einkaufen unersättlich. Seine Maniap’ waren voll beladen mit allen möglichen Schätzen: Kisten voller Uhren, Mundharmonikas, Sonnenbrillen, Schirme, Uniformjacken, Jagdbüchsen, Nähmaschinen, Medizinfläschchen, Dosennahrung, Wollknäuel, parfümierte Seife und verblüffend viele gusseiserne Öfen. An diesem Tag des Jahres 1889 erwarb König Tembinok’ die ganze Warenladung des Schoners, bis hin zur letzten Kiste eines Likörs, dessen Geschmack entfernt an Kirsch erinnerte und den er innig liebte. Die Equator hatte jedoch nicht nur Waren nach 389
Apemama mitgebracht. An Bord befanden sich Passagiere von Ruf: Robert Louis Stevenson, seine Frau Fanny, deren Bruder Lloyd Osbourne und ihr chinesischer Koch Ah Fu. Seit über einem Jahr streifte der schottische Schriftsteller – seit dem Erfolg von Die Schatzinsel und Dr. Jekyll und Mr. Hyde eine Berühmtheit – durch die Südsee. Zu Stevensons Tantiemen war eine beachtliche Erbschaft hinzugekommen, und er verwendete das Geld, um die Yacht Casco unter dem Kommando eines Kapitän Otis zu chartern. Er und sein kleiner Clan waren im Juni 1888 in San Francisco losgesegelt. Stevenson war erst 38 Jahre alt, aber bereits ein »wandelndes Gespenst«, das Opfer von Lungentuberkulose, die ihn seit der Kindheit plagte. »Ich glaubte, mein Leben sei zu Ende und nichts erwarte mich außer Krankenschwestern oder Bestattern.« Bevor er starb, wollte er die Inseln der Südsee sehen, die seine jugendliche Phantasie so sehr erregt hatten. Die Casco war ein herrliches Schiff: eine Luxusyacht mit Teppichboden, Bibliothek, Fässern voller Jahrgangsweine und Champagnerkisten. Wo immer die Yacht ankerte, wurde sie bewundert, und ihr exzentrischer und geisterhafter Passagier erregte Überraschung und Erstaunen. Das erste Ziel waren die Marquesas-Inseln gewesen, die erste Begegnung mit einer fremden Welt, mit Menschen, »die nie Vergil gelesen hatten, die nie von Julius Cäsar erobert und nie von der Weisheit Papinians re390
Robert Louis Stevenson: Tusitala, der Geschichtenerzähler der Südsee – so kannten und nannten seine Insel-Nachbarn Stevenson während seiner letzten Jahre auf Samoa. – Stapleton Collection, UK/Bridgeman Art Library 391
giert worden waren«. Stevenson und seine Begleitung blieben von Juli bis September dort und segelten dann nach Tahiti. In Papeete, einem Ort, den er nicht mochte, wurde Stevenson krank. Doch als er beschloss, nach Tautira auf der Halbinsel Tairapu zu fahren, entdeckte er »den schönsten Platz auf Erden«. In den zwei Monaten, die er hier verbrachte, besserten sich seine Gesundheit und seine Stimmung. Anfang 1889 erreichte die Casco die Hawaii-Inseln und ankerte in Honolulu; Stevensons Chartervertrag lief aus, und er musste mit seiner Familie von Bord gehen. Doch er wollte nicht zu »meinem Leben als Einsiedler in meinem Krankenzimmer« zurückkehren und lieber weiter »vor dem Wind segeln«. Er kaufte Passagierkarten für die Equator, und ein paar Monate später ankerte das Schiff in der Lagune von Apemama. Da Apemama ein Refugium eingeborener Bräuche zu sein schien, die auf den anderen Inseln ausgerottet waren, wünschte sich Stevenson sehnlichst, hier eine Zeit lang zu bleiben. Er brachte seinen Wunsch König Tembinok’ vor. Dieser versprach, darüber nachzudenken. Dann stieg er seine persönliche Gangway hinunter ins königliche Rettungsboot. Drei Ruderschläge brachten ihn an den Strand, über den er auf den Schultern seiner loyalen Untergebenen getragen wurde – in seinen Palast voller Uhren und Gusseisenöfen. Zwei Tage später brachte ein Bote den königlichen Beschluss. Tembinok’, der ein gebrochenes, aber gut verständliches Englisch sprach, hatte bei ihrer kurzen 392
Unterhaltung Stevensons Augen und Mund beobachtet. Er hatte entschieden, dass der Schriftsteller vertrauenswürdig war – besonders sein Mund, das heißt, der Schriftsteller muss gut, aber nicht übertrieben gesprochen haben. Was Seine Majestät von Apemama nicht ertragen konnte, waren eitle Schwätzer. König Tembinok’ sagte gern, seine Untergebenen hätten nicht zu sprechen, sondern zu gehorchen. Einst hatte er es riskiert – aus purer Neugier –, ein paar Missionaren zu erlauben, in seinem Reich an Land zu gehen, doch nachdem er sie das erste Mal predigen gesehen hatte, mussten sie ihre Sachen wieder packen. Das Gleiche passierte allen Weißen, die nach Apemama kamen: Sie wurden kostenlos zur nächstgelegenen Insel gebracht. Nur ein Europäer war dem Schicksal dieser königlichen Deportation entgangen, weil er schweigsam, ernsthaft und einsiedlerisch erschien. Von ihm sagte der König: »Ich denken, er gut; er nicht ’prechen.« Und so wurde es dem lakonischen Stevenson und seiner Gefolgschaft erlaubt, auf Apemama zu bleiben, bis die Equator von ihrer Handelsreise zurückkehrte, sofern sie einen Platz wählten, wo der König eine »Stadt« bauen wollte, worin sie wohnen würden. Der zweite Artikel des königlichen Vertrags besagte, dass jeden Tag einer von Tembinok’s Köchen kommen würde, um bei Ah Fu zu lernen. Laut dem dritten Artikel war es dem König gestattet, jederzeit zum Mittagessen zu kommen, und wenn er daheim aß, sollte Stevenson ihm das Essen schicken lassen. Schließlich wurde Stevenson aufgefor393
dert zu schwören, keinem von Tembinok’s Untergebenen Alkohol, Geld oder Tabak zu geben. Alkohol und Geld waren verboten; Tabak durfte nur der König verteilen. Als die Stelle der Äquator-Stadt – der Ort wurde nach dem Schoner Equator benannt, aber auch nach der Äquatorlinie, die wenige Dutzend Meilen entfernt verlief – auf einer kleinen Erhebung mit einem Wäldchen aus Pandanusbäumen gewählt war, versprach König Tembinok’, dass die Stadt am nächsten Tag fertig sei. Am Morgen darauf ging Lloyd Osbourne an Land; er fand nichts vor und bat den König um eine Erklärung. Der König ließ sich seine Winchester bringen, trat auf den Hof hinaus und feuerte zwei Schüsse in die Luft. Auf dieser Insel, auf der Sprechen als überflüssig galt, war das eine königliche Proklamation. In weniger als einer halben Stunde waren die Untergebenen versammelt, und die Arbeit begann; als die künftigen Bewohner der Äquator-Stadt am frühen Nachmittag mit ihrem Gepäck kamen, standen auf dem Platz, auf dem vorher das Pandanuswäldchen stand, ein einziges Maniap’ und ein kleines umzäuntes Haus, während ein zweites Maniap’ langsam und still den kleinen Hang hinaufkletterte, wobei etwa 30 nackte Füße darunter es Schritt für Schritt bewegten. Der König saß in seiner feuerroten Jacke, einen Kürassierhelm auf dem Kopf, eine Meerschaumpfeife im Mund, auf einer Matte und schaute zu, eine seiner Frauen stand hinter ihm. Als sich der König bei Son394
nenuntergang zurückzog, war die Äquator-Stadt gegründet. Die Bauarbeiten wurden am folgenden Morgen mit einer Palisade aus Palmenblattgirlanden um die Gebäude herum fertig gestellt. Diese markierte das Gebiet, das für alle Apemamier tabu war. Jeden Tag bereitete Ah Fu Köstlichkeiten für König Tembinok’ zu, der dies erwiderte, indem er jeden Abend zu endlosen Pokerspielen mit Stevenson, dessen Familie und den Frauen des Königs kam. Jeden Abend verloren die Frauen des Königs ihren Tabak, den sie für diesen Tag bekommen hatten, weil die Regeln für das Pokerspiel jeweils leicht verändert wurden. Die Regeln des apemamischen Poker verlangten totalen Respekt vor dem Spieltalent des Königs. Die Tage vergingen langsam und ruhig, ohne erwähnenswerte Ereignisse. Als sich Stevenson einmal beim König über die Faulheit eines Haushälters beschwerte, den Tembinok’ geschickt hatte, brachte der König diesen dazu, seine Anstrengungen zu verdoppeln, indem er aus seiner Winchester zwei Schüsse über dem Kopf des Mannes und zwei vor seine Füße feuerte. Für diese Gelegenheit trug Tembinok’ ein grelles Damenkleid und seinen Kürassierhelm, sein übliches Gewand für Bestrafungen. Ein andermal, als der kränkliche Schriftsteller es tatsächlich geschafft hatte, sich am Äquator eine Erkältung zuzuziehen, wollte er diese Möglichkeit nutzen, um die Wirksamkeit hiesiger Medizin zu testen. Stevenson wurde zwei Schamanen, Tamaiti und Terutak’, anver395
traut. Tamaiti machte ein Feuer aus Palmblättern und fächelte den Rauch in Stevensons Gesicht. Terutak’ versuchte, ihn zu hypnotisieren, brachte den Schotten aber nur zum Einschlafen. Als Stevenson erwachte, war die Erkältung jedoch weg. Schließlich kam der Schoner viel später als vereinbart zurück – aber diese Verspätung war ein Grund zur Freude, nicht für Ärger. Die kurze, aber ruhmreiche Existenz der ÄquatorStadt – der höchstgelegenen Stadt auf Apemama – war zu Ende. Ihre Gebäude gingen den Hügel wieder hinab und kehrten an ihre früheren Standplätze zurück. Das königliche Rettungsboot mit Tembinok’ samt all seinen Königsinsignien am Ruder begleitete Stevenson und seine Entourage zur Equator. Der König hielt eine kurze Abschiedsrede, schüttelte ihnen die Hände und fuhr zum Strand zurück. Die Equator setzte Segel, und die Spitzen der Palmen von Apemama verschwanden hinterm Horizont. Die Südseereisen der Familie Stevenson gingen 1890 in Samoa zu Ende, nach einer letzten Fahrt an Bord des Dampfschiffs Janet Nicoll. Die Stevensons kauften für 20000 Dollar 20 Hektar Land in Vailima nahe Apia und ließen sich dort, in ihrem Buon Retiro, nieder. Hier gaben die Samoaner, die von Stevensons Talent, sich fabelhafte Geschichten auszudenken und zu erzählen, fasziniert waren, ihm den Namen Tusitala, »Geschichtenerzähler«. Der Diplomat und Schriftsteller Henry Adams, 396
Nachfahre zweier amerikanischer Präsidenten, kam im Dezember 1890 nach Apia; er berichtete, Stevenson habe sich völlig an samoanische Sitten angepasst, einschließlich der Kleidung. Er trug als Hausschuhe am linken Fuß eine braune Wollsocke und rechts eine graue. Beide Socken waren an den Fersen löchrig. Um dem Zartgefühl seiner amerikanischen Gäste entgegenzukommen, hatte Stevenson ein Hemd übergezogen. Tusitala, der magische Erzähler, starb wenige Jahre später, 1894, in Vailima. Auf seinen Wunsch hin begrub man ihn auf dem Gipfel des Mount Vaea über Apia. Seine Geschichten reisen noch immer um die Welt.
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QUELLENANGABEN
Wir haben dieses Buch fast durchweg auf der Grundlage der Originalberichte über die verschiedenen Abenteuer, Entdeckungsreisen und Geschehnisse erstellt.
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Altertum
Das Material ist entnommen Les Contes populaires de l’Egypte ancienne des großen Ägyptologen Gaston Maspéro, erschienen 1889, der vorzüglichen englischen Übersetzung The Intinerary of Benjamin of Tudela von M. N. Adler, den phantasiereichen arabischen Erzählungen, die in Le Isole mirabili von Angelo Arioli (1989) zusammengetragen sind, und den chinesischen Berichten, die in Viaggiatori del Regno di Mezzo von Gabriele Foccardi (1992) zitiert werden.
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Südamerika
Orellanas Expedition wurde von Gaspar de Carvajal in seiner Descubrimiento del Río de las Amazonas beschrieben, dem Text, der von Gonzalo Fernándo de Oviedo in seiner Historia general y natural de las Indias (1535) benutzt und zur Gänze unter der Herausgeberschaft von José Toribio Medina 1894 veröffentlicht wurde. Was die tragischen Abenteuer des Lope de Aguirre betrifft, ist grundlegend der – äußerst feindselige – Bericht des Francisco Vásquez, Relación verdadera de todo lo que sucedió en la jornada de Omagua y Dorado, der in der Sammlung der Historiadores de Indias (1909) veröffentlicht wurde. Die Geschichte von Bernard O’Brien wird in Red Gold von John Hemming (1978) erzählt. Charles Marie de la Condamine veröffentlichte 1751 sein Journal du Voyage faict par ordre du Roi à l’équateur; nachfolgende Ausgaben enthalten einen Brief von Godin des Odonais an den Autor bezüglich der von seiner Frau durchgestandenen Gefahren. Bei der Geschichte der Baroness Elisa von Wagner greifen wir für unsere Darstellung auf Gli Efferati von Emilio de’ Rossignoli (1978) zurück.
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Afrika
Der italienische Missionar Padre Antonio Zucchelli schrieb in seinen Relazioni del Viaggio e Missione di Congo (1712) relativ ausführlich über die kongolesische Prophetin Dona Beatriz; dieses Buch enthält auch Augenzeugenberichte von weiteren Ordensbrüdern. Was die Entdeckung der Nilquelle und damit in Zusammenhang stehende Abenteuer und Erkundungen in dieser Gegend betrifft, haben wir die Werke der Hauptakteure verwertet: Sir Richard Burton, The Lake Region of Central Africa (1860); John Hanning Speke, Journal of the Discovery of the Source of the Nile (1863); Samuel Baker, The Albert Nyanza, Great Basin of the Nile (1866); Carlo Piaggia, Dall’Arrivo fra I Niam-Niam alle sponde del lago Tana (1877); Georg Schweinfurth, The Heart of Africa (Im Herzen von Afrika), 1874; Samuel Baker, Ismailia, a Narrative of the Expedition to Central Africa for the Suppression of the Slave Trade (1874); Henry Morton Stanley, How I Found Livingstone (Wie ich Livingstone fand), 1872, und Through the Dark Continent (Durch den dunklen Weltteil), 1878. Natürlich kamen wir auch nicht um das grundlegende Werk von Alan Moorehead, The White Nile (1960), herum; außerdem benutzten wir das neue Buch von Adam Hochschild, King Leopold’s Ghost (1998). 401
Was die Belgier und Franzosen in Zentralafrika betrifft, stützen wir uns hauptsächlich auf Jean Becker, La troisième expédition belge au Pays Noir (1886); Elio Zorzi, Al Congo con Brazzà (1940), und Paul du Chaillu, Adventures in the Great Forest of Equatorial Africa and the Country of the Dwarfs (1890). Bezüglich Äquatorias und der umstrittenen Rettung von Emin Pascha benutzten wir Romolo Gessi, Sette anni nel Sudan egiziano (1891); Gaetano Casati, Dieci anni in Equatoria e ritorno con Emin Fascià (1892); Henry Morton Stanley, In Darkest Africa or the Quest, Rescue and Retreat of Emin, Governor of Equitoria (1m dunkelsten Afrika), 1890; A. J. Monteney-Jephson, Emin Pasha and the Rebellion at the Equator (1890); Karl Peter, Die deutsche Emin-Pascha-Expedition (1891), und Georg Schweitzer, Emin Pascha: Eine Darstellung seines Lebens und Wirkens (1898).
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Asien
Für die Darstellung von Magellans Weltumsegelung verwendeten wir den Augenzeugenbericht von Antonio Pigafetta, Il primo viaggio intorno al mondo, in der von Camillo Manfroni besorgten Ausgabe (1929). Die deutsche Ausgabe Die erste Reise um die Erde erschien 1968. Für die Geschichte über Sir James Brooke benutzten wir The White Rajahs (1960). Die Explosion des Vulkans Krakatau stellten wir unter Verwendung von Les Volcans von Arnold Boscowitz (1886) und Krakatau et le détroit de la Sonde von Edmond Cotteau (1884) dar.
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Ozeanien
Die Quelle für die Schilderung der Reise von Robert Louis Stevenson und seiner Familie nach Apemama ist sein Buch In the South Seas (Südseegeschichten), 1896.
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