Lotte Rose · Benedikt Sturzenhecker (Hrsg.) ,Erst kommt das Fressen…!’
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Lotte Rose · Benedikt Sturzenhecker (Hrsg.) ,Erst kommt das Fressen…!’
Lotte Rose Benedikt Sturzenhecker (Hrsg.)
,Erst kommt das Fressen…!’ Über Essen und Kochen in der Sozialen Arbeit
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16090-0
Inhalt
Lotte Rose/Benedikt Sturzenhecker Einleitung: Warum die Beschäftigung mit Essen und Kochen Potentiale für die Soziale Arbeit enthält .............................................................................................. 9 I Kochen und Essen in der Geschichte der Sozialen Arbeit Lotte Rose/Kathrin Schäfer Literarisches Tuttifrutti: Erzählungen zum Essen in Klassikern der Sozialpädagogik........................................ 21 Bernd J. Wagner/Thomas Niekamp „Je besser die Ernährung, desto zufriedener und verträglicher auch der Geist der Kranken“. Ernährung, Heilung und Pflege in den Anstalten für Epileptiker zu Bielefeld im 19. und frühen 20. Jahrhundert .................................. 47 II Kochen und Essen als Ereignisse im Alltag der Sozialen Arbeit Benedikt Sturzenhecker Das Frühstück der Mütter – Elternbildung mit benachteiligten Müttern in Hamburger Eltern-Kind-Zentren ............................................................................... 59 Ulrike Schmauch Pudding für alle – außer für Yvonne ............................................................................... 77 Fresia Klug-Durán Essen als Alltagskulisse. Kasuistik der Sozialpädagogischen Familienhilfe ............... 85 Christian Meineke/Christina Gorol Das Suppenfest als multikulturelles Ereignis der Gemeinwesenarbeit ....................... 99 Monika Kringe/Dorothee Griehl-Elhozayel Öffentliche Gemüsegärten im Stadtteil. Erfahrungen eines Modellprojektes zur sozialräumlichen Gesundheitsförderung ........................ 109 Ulrich Deinet Essen im Ganztag als Kooperationsthema von Jugendarbeit und Schule ............... 121
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Inhalt
III Essthetische Geschmacksbildung Christoph Riemer Spirituelle Garküche – Idee und interaktive Praxis ..................................................... 141 Gerhard Marcel Martin Christoph Riemers „spirituelle Garküche“. Kleine Kommentare von innen und außen ..................................................................157 Marc Schulz Kochen und Essen als Aufführung – Speisen als Skulptur Die Irritation des Selbstverständlichen als Bildungsimpuls ....................................... 163 IV Empirie und Ethnografie zum Kochen und Essen in sozialen Einrichtungen Kirsten Kullmann Pizza oder Suppe? Verhandlungen zum Essen im Jugendhaus ................................. 177 Lotte Rose/Kathrin Schäfer Mittagessen in der Schule. Ethnografische Notizen zur Ordnung der Mahlzeit .... 191 Andrea Dilfer/Heide Kallert/Tanja Wieners Essen in Kinderbetreuungseinrichtungen. Ergebnisse einer Studie in Frankfurt am Main ............................................................ 205 Melanie Plößer Richtiges Kartoffelpüree, Urmohrrüben und Getränk nach Wahl. Überlegungen zum pädagogischen Gehalt des Essen-Gebens am Beispiel der Drogenberatung Bielefeld ................................................................... 221 V Ernährungspolitik, Sozialpolitik, Gesundheitspolitik und Lustpolitik Klaus Adamaschek Das Besser-Esser-Konzept. Schulessen, Ernährungsbildung und Regionalentwicklung........................................................................................................ 237 Kathrin Ottovay/Friedrich Schorb Von der Ernährungskrise zur Ernährungsrevolution – Wenn der Fernsehkoch Jamie Oliver Sozialpolitik macht ......................................... 249
Inhalt
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Irmgard Vogt Kochen und Essen mit Lust........................................................................................... 267 Lotte Rose Gesundes Essen. Anmerkungen zu den Schwierigkeiten, einen Trieb gesellschaftlich zu regulieren .......................................................................................... 281 Nelly Schmechtig/Cornelia Hähne Ernährungsverhalten und Gesundheit Jugendlicher – Befunde der deutschen Studie „Health Behaviour in School-aged Children” ........ 295 Angaben zu den Autorinnen und Autoren ....................................................307
Einleitung: Warum die Beschäftigung mit Essen und Kochen Potentiale für die Soziale Arbeit enthält Lotte Rose/Benedikt Sturzenhecker
Essen und Kochen sind in verschiedene Fachdisziplinen eingelassen: Ernährungswissenschaften und Ökotrophologie beschäftigen sich mit Fragen der Nahrungsproduktion und Nahrungsmärkte, Zusammensetzung und Optimierung der Nahrung, der Speisenzubereitung, des Küchenhandwerks und allgemeiner der Haushaltsführung. Die gastronomische Kochkunst versteht sich als Ort der Erfindung und Herstellung von kulinarischen Genüssen. Darüber hinaus hat das Thema der Ernährung einen festen Platz in den Gesundheitswissenschaften und der Medizin. Wo es darum geht, Krankheiten zu heilen und Gesundheitsprävention zu betreiben, stehen immer auch Fragen der „gesunden Ernährung“ auf dem Programm. In den letzten Jahren ist hierzu die „Public Health Nutrition“ als eigene integrierende Disziplin entstanden. Viel Raum finden Essen und Kochen schließlich auch als Untersuchungsgegenstand in der Kulturanthropologie, an dem sich Entwicklungen gesellschaftlicher Ordnungen gut nachvollziehen lassen. Demgegenüber scheinen Essen und Kochen weit entfernt von der Fachdisziplin der Sozialen Arbeit. In den einschlägigen Handbüchern finden sich keine Einträge dazu, auch sonstige Publikationen zum Thema sind selten. Über Randnotizen in pädagogischen Klassikern und den Sozialarbeitswissenschaften ist das Thema bis heute nicht hinaus gekommen. Als einzelne der wenigen Ausnahmen seien das Schwerpunktheft der Sozialarbeitszeitschrift „Sozial extra“ zu „Was Essen und Soziale Arbeit miteinander zu tun haben“ (1996) und die Dokumentation des Landesjugendamtes Westfalen-Lippe „Liebe geht durch den Magen“ (1999) erwähnt wie auch das Praxishandbuch zu Playing Arts in der Jugendarbeit, in dem sich zumindest ein Kapitel „Kochen, Küche und Geschmack“ widmet (Sturzenhecker, Riemer 2005). Gleichwohl gehören Essen und Kochen bei genauerem Blick seit jeher zum Alltag der Sozialen Arbeit. Zum einen ist hier auf den schlichten Umstand zu verweisen, dass Klientinnen und Klienten der Sozialen Arbeit tagtäglich essen und trinken, auch kochen, dass also diese Praxen der existentiellen Triebbefriedigung zu ihren zentralen Lebenspraxen gehören. Ebenso gilt: Auch in den sozialen Einrichtungen wird gegessen und getrunken, tagtäglich wieder neu, sowohl von Klientinnen und Klienten als auch von den Fachkräften; manches Mal wird auch gekocht. Zum anderen sind Ernährungsprobleme unterschiedlichster Art der Anlass für
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Interventionen von Sozialarbeit und Sozialpädagogik – nicht immer und überall, aber oft genug. Der vorliegende Sammelband legt keine Systematik, erst recht keine Theorie zum Kochen und Essen in der Sozialen Arbeit vor. Vielmehr will er eine fachliche Beschäftigung mit dem Thema und seinen vielen Fassetten überhaupt eröffnen. Die versammelten Texte nähern sich aus sehr unterschiedlichen Perspektiven ihrem gemeinsamen Gegenstand. Sie zeigen jedoch alle, dass eine aufmerksame Beschäftigung mit diesen existentiellen Praxen, die genaue Reflexion und konzeptionelle Berücksichtigung in Praxis und Theorie der Sozialen Arbeit nicht nur naheliegen, sondern auch viele Potentiale enthalten. So multifunktional und multistrukturell Soziale Arbeit ist, so vielfältig sind letztlich die Ebenen, auf denen Essen und Kochen in diesem Berufsfeld präsent sind und so vielschichtig sind die Perspektiven, aus denen Essen und Kochen eigentlich ein integrales disziplinäres Thema sind, wenn eben auch noch wenig ausformuliert.
Ernährungsnotlagen als Wurzel der Profession Ein Blick zurück in die Geschichte zeigt, dass die Ernährungsfrage im Grunde genommen mit zu den konstitutionellen Wurzeln Sozialer Arbeit gehört. Die sozialen Krisen des 19. Jahrhunderts führten zu Hungersnöten und Hungeraufständen in den armen Bevölkerungsschichten und ließen die anwachsenden Verelendungsprozesse nicht nur besonders deutlich sichtbar werden, sondern erzeugten auch einen besonderen Handlungsdruck für Öffentlichkeit und Staat (Kessl/Otto 2007). Die Etablierung der Armenfürsorge war somit immer auch, manches Mal auch zuallererst, mit der Aufgabe verbunden, bedürftige Menschen mit der notwendigen Nahrung zu versorgen.
Nahrungsmangel heute: Tafelprojekte und Hartz IV Und heute scheint die Profession wieder bei dieser Aufgabe angelangt zu sein. Auch gegenwärtig und trotz allgemeinen Nahrungsüberflusses in den industrialisierten Ländern bleibt der Nahrungsmangel als sozialpolitisches Thema erhalten. Die Ernährungssituation stellt sich in den verschiedenen sozialen Lagen sehr unterschiedlich dar (Barlösius, Feichtinger, Köhler 1995). Mit den jüngsten Reformen im Hilfeleistungssystem werden Fragen der ausreichenden Grundversorgung mit Lebensmitteln wieder akut. Die Meldungen von Kindern aus armen Familien, die zunehmend ohne Frühstück in der Schule erscheinen, verbreiten öffentliche Unruhe; „Tafel“-Projekte mit überschüssigen Lebensmitteln aus den Geschäften mehren sich in den Städten, ebenso Mittagstische und Schulspeisungen für Kinder. Heftige Debatten werden zudem auch dazu geführt, wie Hartz-IV-Empfänger mit den niedrigen Ernährungsbeträgen sich
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und ihre Kinder überhaupt ausreichend und gesund verpflegen können (Kersting/Clausen 2007).
Die übergewichtige „neue Unterschicht“ In der neueren populär-neoliberalen Diskussion um die „neue Unterschicht“ steigt das Übergewicht dieser Bevölkerungsgruppe zu einem Kennzeichen auf, in dem sich das diskursive Paradigma von der selbst verantworteten Armut symbolisch verdichtet (Schorb 2008). Sozialstaatliche Überversorgungen – so die Kritik – haben dafür gesorgt, dass eine soziale Schicht entstanden ist, die sich in einer „Kultur der Armut“ gut eingerichtet hat und keinerlei Anstrengungen mehr zu einer autonomen Lebensführung unternimmt. Diese Haltung verkörpert sich im maßlosen und ungesunden Essen. Die medial kolportierten Bilder von schwergewichtigen, Cola und Pommes essenden Kindern, von voluminösen Körpern, die kaum mehr auf einem normalen Stuhl Platz finden, werden in dieser sozialpolitischen Debatte zu entscheidendem Stimmungsmaterial bei der Veralltäglichung individualisierender Sichtweisen auf Armut – im übrigen stellenweise auch bei Profession und Disziplin Sozialer Arbeit.
Soziale Einrichtungen als Orte öffentlicher Verpflegung Die körperphysiologische Erfordernis, dass Menschen regelmäßig Nahrung existentiell brauchen, führt dazu, dass in vielen sozialen Einrichtungen Essen und Trinken geboten wird – wie z. B. in Kindergärten, Horten, Jugendhäusern, auf Freizeiten, in Anlaufstellen, Tagesgruppen oder Heimeinrichtungen. Überall findet es selbstverständlich statt, seine Gestaltung geschieht aber oftmals eher intuitiv aus dem „Bauch heraus“. Die Rahmungen der Mahlzeiten richten sich nach Erfahrungsbeständen und Wertvorstellungen des Personals; die Speisenwahl pendelt zwischen pädagogischen Gesundheitsansprüchen und den kollektiven Vorlieben der Klientel. Zudem dreht sich viel um das – vermeintliche – Diktat des Sparens von Geld und anderen Ressourcen, wie etwa Zeit. Im professionellen Selbstverständnis von Institutionen nimmt die Gestaltung der Verpflegung nur eine nachrangige Position ein, sie erscheint kaum als eigene fachliche Chance. Dies muss umso mehr zu bedenken geben, als die institutionelle Verpflegung für Kinder und Jugendliche zunehmend zur Normalität wird. Mit der Ausweitung der Schulzeiten und der institutionellen Betreuung für Kinder und Jugendliche verlagert sich das Essen für immer mehr junge Menschen von der Familie in soziale Einrichtungen. Eine ehemals privatisierte Reproduktionsaufgabe wird damit mehr und mehr zu einer gesellschaftlichen, die gewinnbringend genutzt werden kann zur Herstellung von sozialer Gerechtigkeit und Gesundheit und zur Initiierung von Bildungsprozessen – oder auch nicht, dann nämlich, wenn sie irgendwie und möglichst billig und schnell abgewickelt wird.
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Essstörungen als „Faszinosum“ Zu den Zielgruppen Sozialer Arbeit gehören auch Menschen mit Essstörungen, deren Ernährungsweise selbstzerstörerische Formen angenommen hat und zu einem dauerhaften Leiden geworden ist. Beratungsstellen und Therapiezentren bieten den Betroffenen und Angehörigen Hilfen und Behandlung an, in der Regel in multiprofessionellen Teams mit medizinischen, therapeutischen und psychologischen Fachkräften. Auffallend ist dabei, dass das Interesse in der Sozialen Arbeit an den Phänomenen der Essstörung vergleichsweise groß ist und der Fachdiskurs hierzu unter Bezugnahme auf angrenzende Fachdisziplinen gut entwickelt ist. Entsprechende Tagungen und Fortbildungen zum Thema finden sich regelmäßig in den Programmen für soziale Fachkräfte. Die Fachliteratur zu Entstehung, Beratung und Therapie ist umfangreich. Diplomarbeiten und Seminare zu diesem Thema sind beliebt. Die offene Frage ist, warum die Essstörungen offenbar faszinieren, während das profane alltägliche Essen und Kochen wenig Aufmerksamkeit in der Sozialen Arbeit findet.
Ernährungserziehung als Gegenstand der Gesundheitsförderung Als Mit-Akteurin im Feld der Gesundheitsförderung stößt Soziale Arbeit auch auf das Ernährungsthema. Angesichts des allgemeinen öffentlichen Konsens, dass die Art der Ernährung wesentlich über Gesundheit und Krankheit entscheidet, gehören Maßnahmen der Ernährungserziehung zu den Elementen der Gesundheitsförderung. Unter dem Dach der Sozialen Arbeit, in Kindereinrichtungen und Schulen, Bildungsstätten, in der Frauenarbeit, den Gemeinweseninitiativen und klinischen Einrichtungen werden Projekte zur gesunden Ernährung angeboten, in denen Wissen vermittelt und oftmals auch zusammen gesund gekocht wird. Ebenso wird versucht, im Rahmen der alltäglichen Ernährung in den Einrichtungen, Prinzipien gesunder Ernährung umzusetzen und damit zu selbstverständlichen – in der Hoffnung, dass diese Erfahrungen sich in Verhaltensänderungen bei den Essenden niederschlagen. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang nicht nur die allgemeine interdisziplinäre Einmütigkeit zu den Standards gesunder Ernährung, wie sie die Deutsche Gesellschaft für Ernährung als zentrale Fachinstitution für die Bevölkerung ausgibt und die auch von der Sozialen Arbeit getragen werden. Dies muss umso mehr erstaunen, als sich hierbei Momente normativ-autoritärer Pädagogik unter der Hand wieder durchsetzen (Rose 2009), die die Paradigmen der Partizipation und Lebensweltorientierung in der modernen Sozialen Arbeit konterkarieren, ohne dass dies problematisiert wird. Wie eine nachhaltige, sozial ausgleichende und gesundheitsförderliche Ernährungssteuerung aussehen kann, dies müsste in der Sozialen Arbeit und anderswo überhaupt einmal kritisch diskutiert werden. Bislang fehlt dies völlig.
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Ernährungsweisen als Lebensweltkoordinaten Wenn das Prinzip der Lebensweltorientierung besagt, dass Soziale Arbeit sich in Abkehr von klassischen normativ-autoritären Hilfeformen den Lebenswelten der Betroffenen verstehend und anerkennend nähern und Hilfen entwickeln soll, die an den Sinnzusammenhängen dieser Welten anknüpfen, dann rücken die Ernährungsweisen zwangsläufig in den Blick. Wie, womit, mit wem, wo, wann und was gegessen und gekocht wird, ist Spiegel der jeweiligen Lebensstile und Distinktionen. Lebensweltorientierung in der eigenen Praxis hieße dann, auch die individuellen Ernährungsweisen – so „ungesund“ sie auch erscheinen mögen – als existentiellen Ausdruck von sozialen Identitäten und lebensweltlicher Sinnhaftigkeit ernst zu nehmen – und nicht als Beleg psychosozialer Insuffizienz. Genau letzteres bestimmt aber noch überwiegend den Blick auf die Ernährungsweisen der Klientel. Die Wahrnehmungskriterien sind vor allem durch die mächtigen normativen Werte gesunder Ernährung kanalisiert, was in der Folge dann kaum anderes als defizitorientierte und abschätzige Urteile zu Klientinnen und Klienten möglich macht: Wenn Softdrinks als hochschädlich gelten, können Mütter, die ihre Kleinkinder mit diesen Getränken groß ziehen, nur als verantwortungslose „Monster“ erscheinen. Ernährungsweisen als lebensweltliche Koordinate zu begreifen, wirft darüber hinaus kritische Fragen zu den ernährungsbezogenen Präventionsprogrammen auf. In der Regel berücksichtigen sie nämlich nicht die symbolischen Bedeutungskontexte des Essens und formulieren stattdessen stark universalisierende Botschaften für die gesamte Bevölkerung, bei denen die handfeste distinktive Realität der Ernährungsstile ignoriert wird. Die so konzipierten Ernährungsprogramme tragen so gesehen die Ursache ihres Scheiterns schon in sich.
Ästhetische Bildung: selbst schöner kochen und schmecken Die Ästhetisierung des Kochens und Essens ist in unserer Kultur aktuell vielfach zu beobachten: nicht nur im Marketing für Lebensmittel, sondern auch in den vielen medialen Produkten, besonders in Form von Zeitschriften zum Kochen, Essen und Trinken, Koch- und Diätbüchern und nicht zuletzt den unterschiedlichen Kochshows im Fernsehen. Der medienpräsente Provo-Koch Alain Boudain nennt diese öffentlichen Demonstrationen von Kochen „Pornografie“: In diesen Shows beobachten Menschen das, was sie selbst nie tun würden: Eine Scheinwelt, die das eigene Fast- und Conveniencefood bzw. die Hausmannskost der Zuschauer wahrscheinlich selten erreichen kann. Entweder kochen die Leute nicht mehr oder kaum noch, oder sie tun dies unter den ästhetisch-kulturell dominanten Vorgaben der Nahrungsmittelindustrie und den stilistischen Ansagen modischer Hochküche. Eine ästhetische Bildung als differenzierte Wahrnehmung, als selbsttätige Aneignung des Kochens und Essens, als Geschmacksbildung, die sich nicht nur Moden anschließt, sondern
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den eigenen, wie uns die Physiologie des Geschmacks mitteilt, wohl sehr individuellen Geschmack entdeckt und ausbildet, ist seltener zu finden. In einer ästhetischen Bildung zum Thema Kochen und Essen sind aber viele Potentiale enthalten. Eine Soziale Arbeit, die nicht nur auf Lebensbewältigung setzt, sondern eine vielseitige Entfaltung des Subjekts unterstützen will und hilft gelingendes Leben als Lebenskunst zu entwickeln, kann und wird sich die Chancen des Selber-Kochens und Schmeckens nicht entgehen lassen. Statt der Vorgaben der Medien und der Nahrungsindustrie können ihr dabei besonders die bildenden Künste vielfältige Anregungen geben, die eigenen beschränkten Essgewohnheiten zu befragen und sich neuen Geschmäckern von Essen und Leben zu öffnen. Da sich die Religionen häufig mit Speise- und Diätgeboten beschäftigen und der Mensch nicht vom Brot allein lebt, gibt es hier auch einen Übergang zur spirituell-religiösen Bildung. Wenn sich etwa im Christentum das zentrale Ritual als Mahlzeit, als erinnerndes und gemeinschaftstiftendes „Abendmahl“ gestaltet, sollte die spirituelle Dimension des Themas in einer den ganzen Menschen berücksichtigenden Sozialen Arbeit nicht unterschätzt werden.
Erziehung und Bildung bei Tisch Die wichtige ethnografische Studie zur „Erziehung bei Tisch“ (Audehm 2007) zeigt, wie Familien über ihre Essenrituale Familiengemeinschaft immer wieder herstellen. Der Prozess der Ritualisierung enthält ein gerüttelt Maß Erziehung: Die gemeinsame Familienmahlzeit ist eine klassische Situation der Vermittlung von Normen (Nimm die Ellbogen vom Tisch!) und Werten (Essen wird aufgegessen!) sowie von kulturellen Essentials (deshalb stellt man sich bei den Ereignissen zum „interkulturellen Dialog“ häufig mit den „typischen“ Speisen der eigenen Kultur vor). Es werden ebenso gesellschaftliche Distinktionen, sozialer Habitus und Schichtenidentitäten erzeugt. In wenigen alltäglichen Situationen ist die Verschränkung von Erziehung, Kulturation, Habitualisierung und Distinktion so verdichtet wie bei Mahlzeiten. Gleichzeitig ist aber auch Selbstbildung am Werke: Das Eigene wird behauptet (Ich mag das nicht!) und die Entwicklung einer subjektiven Identität ist stark mit der Aus-Bildung eines persönlichen Geschmacks verbunden. Wo Soziale Arbeit, vor allem als Kinder- und Jugendhilfe, Erziehung und Bildung als Aufgabe hat und die Entwicklung von Personalität und Sozialität (vgl. SGBVIII – KJHG §1) fördern will, ist es besonders naheliegend, die Bedingungen und Settings des Kochens und gemeinsamen Essens fachlich zu reflektieren und konzeptionell, organisationell und interaktionell zu berücksichtigen.
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Kochen und Essen als politische Bildung Nicht nur Erziehung und Bildung lassen sich verdichtet im Thema Kochen und Essen finden, sondern auch die gesellschaftlichen Produktionsweisen von Nahrung, die Verteilung(sgerechtigkeit) von Lebensmitteln bis hin zur internationalisierten Verflechtung globaler Nahrungsmittelproduktion inklusive der Produktion von Mangel und Hunger. „Heutzutage ist das Essen wegen seiner Normativität, Globalität und Moralität je schon ein politischer Akt; unsere täglichen, bewusst oder unbedacht vollzogenen Ernährungsentscheidungen gestalten die Welt – so oder so, zum Schlechten wie zum Guten der Welt (Lemke 2008, S. 225)“. Eine politische Bildung, die nicht belehrt, sondern bei alltäglichen Erfahrungen ansetzt, hätte hier einen hervorragenden Ausgangspukt, der die Subjekte nicht nur hilflos vor den übermächtigen Prozessen der Globalisierung erstarren lässt, sondern etwa allein schon im alltäglichen Einkaufen von Essen aktiv Einflussmöglichkeiten eröffnet. Aber nicht nur die Nahrungsmittel enthalten politisches Material, sondern auch die Situationen der in Organisationen der Sozialen Arbeit veranstalteten gemeinsamen Mahlzeiten bergen ein politisches Potential. Diese Essenssettings haben öffentlichen Charakter: Im Gegensatz zu der Privatheit des Familienoder Single-Essens kommen hier Teilnehmende in einem nicht-familiär oder kulturell eindeutig gebundenen Setting in ihrer Individualität und Differenz zu einem gemeinschaftlichen Mahl zusammen, das nicht nur co-konsumiert, sondern durch gemeinsames Kochen auch co-produziert werden kann. In solchen Tischgesellschaften wird gesprochen und diskutiert. Die Lebensverhältnisse, die unterschiedlichen Themen und Positionen kommen auf den Tisch und das Individuelle gerät in Kontakt und Kommunikation mit den Anderen. Dabei kann Kritik an Zuständen und Verhältnissen geübt werden, können Interessen artikuliert werden. Eine Soziale Arbeit, die ihren Klientinnen und Klienten auch demokratische Teilnahme an öffentlichen Aushandlungs- und Entscheidungsprozessen (zunächst und gerade auch in der eigenen Organisation) eröffnen will, hätte hier einen idealen Ausgangspunkt. So könnten nach dem „Fressen“ tatsächlich Moral und Politik kommen.
Essen und Trinken in beruflichen Interaktionen Zu guter Letzt: Essen und Trinken tauchen immer wieder in beruflichen Interaktionen zwischen Fachkräften und AdressatInnen auf. Zum einen lassen sich viele Gesprächssituationen im Praxisalltag finden, in denen – sozusagen als Begleitkulisse – Speisen und Getränke von den Fachkräften angeboten werden: die Tasse Kaffee, das Glas Sprudel, die Schale Erdnüsse, der Teller mit Plätzchen oder belegten Brötchen. Dies geschieht gezielt oder auch intuitiv. Gegenstand fachlicher Reflexionen ist es jedoch selten. Zum anderen gibt es umgekehrt die Situationen, in denen Fachkräften von Klientinnen oder Klienten et-
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was zu essen oder trinken angeboten wird. Dies kann sich bei Hausbesuchen immer wieder ereignen; Thema ist es jedoch kaum. Doch wie ist mit solchen Näheangeboten fachlich gewinnbringend umzugehen? Was ist, wenn man sich gerade vorher gut satt gegessen hat, schon so viel Kaffee an diesem Tag getrunken hat, das dargebotene Essen gar ekelt und Distanz gewahrt werden will? Das Kaleidoskop zeigt: Es gibt viele gute Gründe, Essen und Kochen zum fachlichreflexiven Thema Sozialer Arbeit zu machen; praktisches Thema ist es längst – an vielen Stellen und aus unterschiedlichen situativen und diskursiven Konstellationen heraus. Warum das Thema bislang so wenig Aufmerksamkeit findet, dazu lassen sich Vermutungen anstellen, wenn man von der langen und belegbaren Geschichte der Ausgrenzung des Essens und Kochens aus dem philosophisch-politischen Curriculum des Abendlandes seit dem antiken Griechenland (vgl. Lemke 2007) einmal absieht. Liegt es daran, dass das „tägliche Brot“ zu profan scheint, zu sehr zu den basalen körperlichen Reproduktionsnotwendigkeiten gehört, die sich, wie z.B. Waschen, Zähneputzen, Klogang und Schlafen, Tag für Tag für alle Menschen als normale, bewusstlose Routinen wiederholen? Aber wäre dies nicht gerade die Begründung für eine Profilierung des Themas? Bieten nicht gerade die Normalität und die unentwegten Wiederholungen der Nahrungsaufnahme die Chance, in der offensiven Gestaltung dieser Lebenspraxis zentrale Aufgaben Sozialer Arbeit anzugehen: Bildung und Erziehung, soziale Teilhabe und Integration? Bezeichnenderweise waren und sind es bislang nur die Ernährungsprobleme, die in der Lage sind, Essen und Kochen in den fachlichen Fokus zu holen, dann nämlich, wenn Prävention und Behandlung von Essstörungen zur Aufgabenstellung gemacht werden oder die Alarmmeldungen zum schlechten Gesundheitszustand und zum Übergewicht der Bevölkerung die Erziehung zur „gesunden Ernährung“ angesagt sein lassen. Die Zukunft der Diskursentwicklung zum Thema wird sich schlussendlich auch daran entscheiden, ob und wie es gelingt, nicht völlig konturenlos in den normativen ernährungs- und gesundheitswissenschaftlichen Konstrukten der Gesundheitsförderung aufzugehen, sondern aus der Sozialen Arbeit heraus eigene fachliche Impulse zu setzen. Wenn beispielsweise im Handbuch „Food Literacy“ (2006, 13) kritisiert wird, dass die ernährungsbezogene Gesundheitsförderung in der Regel mit „erhobenem Zeigefinger“ arbeitet, Menschen mit Ratschlägen und Vorschriften überhäuft, und stattdessen Empowerment gefordert wird, wird eine zentrale Expertise der Sozialen Arbeit ganz direkt getroffen. Bei der offenen Zukunftsaufgabe, Gesundheitsförderung vor dem Hintergrund der lebensweltlichen „Eigensinnigkeiten“ der Subjekte konsequent als Co-Konstruktionsprozess zu begreifen und partizipativ zu gestalten, könnte Soziale Arbeit eine kompetente Partnerin sein. Ebenso könnte sie als – auch – sozialpolitische Akteurin dabei helfen, in dem Balanceakt zwischen individualisierenden Gesundheitsprogrammen und der Gestaltung gesun-
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der Verhältnisse, dem zweiten Pol wieder mehr Gewicht zu verleihen. Dazu wäre es aber erforderlich, sich der disziplinären und professionellen Eigenheiten der Sozialen Arbeit offensiv zu erinnern und die Differenz zur Gesundheitsförderung zu nutzen statt sie entschwinden zu lassen.
Literatur Audehm, Kathrin: Erziehung bei Tisch. Zur sozialen Magie eines Familienrituals. Bielefeld 2007 Barlösius, Eva; Feichtinger, Elfriede; Köhler, Barbara Maria (Hg.): Ernährung in der Armut. Berlin 1995 Food Literacy: Schmackhafte Angebote für die Erwachsenenbildung und Beratung. Handbuch und Toolboxes. Wien 2006 Kersting, Matilde; Clausen, Kerstin: Wie teuer ist eine gesunde Ernährung für Kinder und Jugendliche? Die Lebensmittelkosten der Optimierten Mischkost als Referenz für sozialpolitische Regelleistungen. In: Ernährungs-Umschau 9/2007, 508 ff Kessl, Fabian; Otto, Hans-Uwe: Soziale Arbeit. In: Albrecht Günther; Axel Gronemeyer (Hg.): Handbuch Soziale Probleme. Wiesbaden 2007 Landesjugendamt Westfalen-Lippe (Hg.): Liebe geht durch den Magen. Ernährung und Gesundheit als Herausforderung für Jugendhilfe und Schule. Nr. 14 der Reihe „Ideen und Konzepte der Fachberatung Jugendarbeit“. Münster 1999 Lemke, Harald: Ethik des Essens. Einführung in die Gastrosophie. Berlin 2007 Lemke, Harald: Welt-Essen und Globale Tischgesellschaft. Rezepte für eine gastrosophische Ethik und Politik. In Därmann, Iris/Lemke, Harald (Hrsg.): Die Tischgesellschaft. Philosophische und kulturwissenschaftliche Annäherungen. Bielefeld 2008, S: 213-236 Rose, Lotte: Punktsieger beim Frühstück. Zur Rückkehr und Faszination normativer Pädagogik in der Gesundheitsförderung für Kinder und Jugendliche. Vortrag auf der Tagung „Was ist Jugendarbeit“ in Vlotho (20.2.2009) Schorb, Friedrich: Keine Happy Meals für die Unterschicht – Zur symbolischen Bekämpfung der Armut. In: Henning Schmidt-Semisch, Fritz Schorb (Hg.): Kreuzzug gegen Fette. Sozialwissenschaftliche Aspekte des gesellschaftlichen Umgangs mit Übergewicht und Adipositas. Wiesbaden 2008, 107 – 124 Sozial extra, Schwerpunktheft zu „Was Essen und Soziale Arbeit miteinander zu tun haben, 12/1996 Sturzenhecker Benedikt; Riemer, Christoph (Hrsg.): Playing Arts – Impulse ästhetischer Bildung für die Jugendarbeit. Weinheim, München 2005
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Kochen und Essen in der Geschichte der Sozialen Arbeit
Literarisches Tuttifrutti: Erzählungen zum Essen in Klassikern der Sozialpädagogik Lotte Rose/Kathrin Schäfer
Die Geschichte der Sozialen Arbeit ist auch eine Geschichte der Verpflegung von Menschen. Historisch betrachtet gehörte die Ernährung von Menschen schon immer zu den basalen Aufgaben Sozialer Arbeit. Überall dort, wo Armut, Nahrungsmittelkrisen und soziale Destabilisierungsprozesse Hungersnöte brachten und die sättigenden Tischgemeinschaften gefährdet waren, half sie durch Nahrungsversorgung. Die Geburtsstunde der Sozialen Arbeit ist untrennbar an genau diese gastronomischen Dienste für Bedürftige geknüpft. Dazu kommt: In den sozialen Einrichtungen, in denen notleidende, hilfebedürftige oder auch unter Zwang eingewiesene Menschen leben konnten oder leben mussten, wurden sie immer auch regelmäßig mit mehr oder weniger viel und mehr oder weniger schmackhafter Nahrung verpflegt. Je älter die literarischen Werke der Sozialpädagogik, desto eher findet man darin Erzählungen zum Essen. Liegt dies daran, dass zu früheren Zeiten die Nahrungsversorgung allgemein prekärer war und damit das Essen als Alltagsthema grundsätzlich bedeutungsvoller? Hat dies damit zu tun, dass pädagogische und hauswirtschaftliche Fragen damals einfach noch selbstverständlicher enger miteinander verknüpft waren? Ein Blick in die Klassiker lässt jedenfalls aufschlussreiche, überraschende, auch bedrückende Episoden zum Essen entdecken, die sichtbar machen, wie die Verköstigung der Klientinnen und Klienten soziale Einrichtungen gedanklich und praktisch beschäftigte. Gerade zu Zeiten von allgemeiner Nahrungsknappheit gehörte die Sicherung ausreichender Nahrungsmittelmengen zu einem zentralen Dauerthema. So lässt sich z.B. bei der Lektüre des Buches „Heimatlose Kinder“, das den Erziehungsalltag des von Anna Freud und Dorothy Burlingham geleiteten englischen Kinderheimes in den 1940er Jahren dokumentiert, erahnen, wie viel Energie des Heimes in den Kampf um die ausreichende Ernährung der Kinder geflossen sein muss. In einem eigenen Kapitel wird die kritische Ernährungssituation akribisch dokumentiert. Erleichtert notieren Anna Freud und Dorothy Burlingham dennoch: „Die Ernährungslage im Kinderheim ist ungleich günstiger als in Privathaushalten. Auf Grund einer Aktion des Gesundheitsministeriums bekommen Kinder unter zwei Jahren kostenlos Lebertran, Fruchtsäfte und Fruchtpüree. Kinder unter fünf Jahren haben Priorität und Extrarationen bei bestimmten Lebensmitteln. Auf Grund einer Aktion des Ernährungsministeriums hat ein Kinderheim Priorität für bestimmte unratio-
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nierte Lebensmittel wie Keks, Kuchen und Bäckerei, Kakaopulver und Stärkemehle.“1 Ernährung gerät aber auch aus anderen Gründen in die Quellentexte der Profession. Individuelle Konfliktgeschichten ums Essen, kulinarische Abneigungen und sonstige Auffälligkeiten dienen als Material psychosozialen Fallverstehens. Vor dem Hintergrund der Annahme, dass die ersten Beziehungserfahrungen immer in nährenden Beziehungen gemacht werden, geht man davon aus, dass sich im Verhältnis zur Nahrung frühkindliche Objektbeziehungserfahrungen widerspiegeln. Zudem beschäftigt man sich immer wieder mit der schwierigen Frage der praktischen institutionellen Regulierung des Essens: der Nahrungsausgabe, Nahrungsverfügung, der Mahlzeitengestaltung, der gelungenen Regulierung von Gier und „Futterneid“ bei Tisch. Diese Überlegungen, so ist oftmals zu spüren, sind von dem grundsätzlichen Wertekonflikt zwischen (Nahrungs-)Sparsamkeit und pädagogischer Liberalität und Menschenwürde gekennzeichnet. Einerseits gelten Speisen als Kostbarkeit und es soll keine Nahrung vergeudet werden, andererseits soll die Verköstigung aber auch möglichst frei von Zwängen sein und den Versorgten das Recht zugestehen, selbst zu bestimmen, was und wie viel sie wann essen. Die Form der Verköstigung, die Gestaltung der Mahlzeit wird als wichtiges Element der Herstellung eines therapeutischen Milieus begriffen, in dem Menschen in nachhaltiger Weise sozialisiert werden und heilsame Beziehungs- und Welterfahrungen machen können. Es gibt also eine umfang- und facettenreiche Verpflegungsgeschichte der Sozialen Arbeit, doch sie ist noch nicht systematisch in den Blick geraten. Was bislang vorliegt, sind vereinzelte Passagen und Randbemerkungen in den Zeugnissen der Profession und Disziplin. Sie gehören jedoch zu den bislang eher übersehenen Texten und sind noch unverbunden. Im Folgenden sollen einzelne dieser Textpassagen zum Essen in sozialen Einrichtungen exemplarisch dokumentiert werden. Es sind keineswegs die einzigen, die sich finden lassen. Die Auswahl der Werke und der Textpassagen bedeutet zudem keine bewertende Gewichtung. Sie ist vielmehr als Versuch zu verstehen, Neugier für die Rolle der Ernährung im Kontext Sozialer Arbeit zu wecken und beim Blick auf die Bemühungen und Überlegungen früherer Zeiten aktuelle Fragen besser zu verstehen. Janusz Korzcak: Wie man ein Kind lieben soll. Vandenhoek, Ruprecht. Göttingen 2005 (polnische Erstausgabe Jak kocha dziecko 1919) Janusz Korczak (1878 – 1942), polnischer Arzt und Reformpädagoge, Publizist, Kinderbuchautor, mit Stefania Wilczynska Leitung des jüdischen Waisenhauses 1
Anna Freud und Dorothy Burlingham: Heimatlose Kinder. Frankfurt 1982, S. 10
Erzählungen zum Essen in Klassikern der Sozialpädagogik
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„Dom Sierot“ in Warschau, 1942 Deportation und Ermordung mit den Kindern des Heimes in Treblinka, 1972 wurde ihm posthum der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. S. 117 – 118 Das Kind, das der Welt der Armen nicht gänzlich entfremdet ist, hält sich gern in der Küche auf; nicht weil es dort Backpflaumen und Rosinen gibt, sondern weil dort etwas geschieht, während in den Zimmern der Erwachsenen sich nichts abspielt. Dort wird ein Märchen spannender, weil das Kind daneben auch noch ein Stück wirklichen Lebens erlebt, weil es dort auch selbst erzählen kann und weil man ihm dort mit Interesse zuhört, weil es in der Küche ein Mensch und kein Schoßhündchen auf einem Atlaskissen ist. S. 248 – 249 Es gibt keinen schmerzlicheren Anblick, als wenn sich hungrige Kinder auf eine zusätzliche Essensportion oder auf eine Extrakelle Suppe stürzen, nichts ist peinlicher als Streitereien um ein etwas größeres Stück Brot; es gibt keinen demoralisierenderen Faktor als den Handel mit Eßwaren. Hier kommt es zu den schärfsten Zusammenstößen zwischen einem gewissenhaften Erzieher und einer sparsamen Wirtschaftsleiterin. Ein Erzieher wird nämlich bald einsehen, daß man hungrige Kinder nicht erziehen kann, weil Hunger ein schlechter Ratgeber ist. Eltern können unbeschadet sagen: „Es ist kein Brot mehr da“ – sie werden weder die Liebe noch die Achtung ihrer Kinder verlieren; ein Erzieher darf das nur ausnahmsweise sagen, wirklich nur im Sonderfall und auch nur dann, wenn er selbst hungrig ist. Die Differenz zwischen einer durchschnittlichen normalen Kinderration und einem größeren Appetit sollte man mit Brot ausgleichen, von dem eines soviel essen kann, wie es will. Ich weiß, die Kinder werden Brot in ihren Hosentaschen mit sich tragen, sie werden es unter ihren Kopfkissen verstecken, auf den Fensterbrettern herumliegen lassen und im Klosett versenken. So wird das eine Woche gehen, bei unverständigen Erziehern auch einen Monat, aber nicht länger. Man darf das Kind, das so verfährt, wohl bestrafen, aber man darf ihm nicht drohen: „Es wird kein Brot mehr ausgeteilt.“ Denn dann werden die vorsichtigeren aus Furcht vor den angekündigten Strafmaßnahmen Vorräte anlegen. Ich weiß, die Kinder werden sich mit Brot vollstopfen, und die normalen Essensportionen werden in die Abfalleimer wandern. Gewiß, wo ein ohne Sorgfalt zubereitetes, wenig schmackhaftes Essen Kindern vorgesetzt wird, die nicht gänzlich ausgehungert sind, dort wird Brot bevorzugt werden, das den Gaumen zwar nicht reizt, das aber auch nicht ekelerregend ist. Ich weiß, der eine oder andere Trottel wird sich vollfressen. Aber glaubt mir, er wird das nur ein- oder zweimal tun; nur ängstlich kontrollierte Kinder haben keine Erfahrung.
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Stefa. Stefania Wilczynskas pädagogische Alltagsarbeit im Waisenhaus Janusz Korczaks (verf. von Shimon Sachs). Juventa-Verlag. Weinheim, München 1989 Stefania Wilczynska (1886–1942), polnische Pädagogin, jahrzehntelange enge Zusammenarbeit mit Janusz Korczak, Heimleiterin und Hauswirtschafterin im jüdischen Waisenhaus „Dom Sierot“ in Warschau, 1942 Deportation und Ermordung mit Korzcak und den Kindern des Heimes in Treblinka. Wilczynska war in ihrem beruflichen Wirken lange relativ unbeachtet. Auch in Korczaks Schriften erscheint sie nur hier und da als geschickte „Hausmutter“ oder „Stefa“. Erst Ende der 1980er Jahre wird sie durch die Biografie des israelischen Pädagogikprofessors Shimon Sachs „entdeckt“. S. 32 Der Verfasser (eines Buches eines ehemaligen Zöglings des Dom Sierot, L.R./K.S.) erzählt, wie Korczak einmal die Diskussion zwischen Stefa und einem der Zöglinge zu Ohren kam. Stefa sagte hartnäckig und fordernd: „Du ißt diesen Brei.“ Das kleine Mädchen weigerte sich: „Ich kann keinen verbrannten Brei essen.“ Korczak näherte sich langsam dem Tisch, nahm die Schüssel mit dem Brei in Blitzeseile in seine Hand und aß den Brei auf. So war es: Sie mit Strenge und er mit Humor. S. 71 Ein Zögling, den ich fragte, woran er sich ganz besonders aus seiner Zeit in Korczaks Waisenhaus erinnere, sagte: „An den Geruch und den Geschmack der warmen Tomatensuppe. Diese warme Tomatensuppe kostete Stefa vor jeder Mahlzeit. Es war ihr wichtig, daß die Kinder ein gutes, schmackhaftes und schön angerichtetes Essen bekamen.“ Das ist eine der wichtigsten Erinnerungen vieler ehemaliger Zöglinge. S. 71 – 74 Über das Thema ‚Mahlzeiten’ gibt es viele Erzählungen, die sich alle irgendwie in Zusammenhang mit Stefa bringen lassen. Vor jeder Mahlzeit ging der verantwortliche Zögling mit einem Gong durch das Haus, und bat die Kinder, ihre verschiedenen Aktivitäten zu unterbrechen und in den Speisesaal hinunterzugehen. Meistens hatte dieser Zögling Schwierigkeiten, die Kinder zu überzeugen, und außer dem Gongschlagen mußte er noch bitten und drohen und manchmal beinahe handgreiflich werden, um die Kinder dazu zu bringen, zum Essen zu kommen. Ein Teil wollte nicht das Spiel unterbrechen, andere taten, als ob sie nicht hören würden, wieder andere gingen besonders langsam, um den verantwortlichen Zögling zu ärgern. „Eines Tages“, erzählt Jochewet Zuk, „nahm Stefa den Gong. Sie nahm ihn mit den Fingerspitzen, ohne daß jemand wußte, daß sie es war. Aber plötzlich ent-
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deckte sie ein Kind, und sofort wurde es ruhig im ganzen Saal. Denn wenn Stefa die Leitung übernahm und die Kinder zu beruhigen versuchte, wurde es sofort völlig ruhig. Sie brauchte überhaupt nicht den Gong zu berühren, sofort machte sich ihre Autorität bemerkbar. 110 Kinder in der Hand zu haben, ist keine einfache Sache, und ohne daß du Autorität ausstrahlst, hast du keine Aussichten, deine Erziehungsziele zu realisieren.“ (...) Auch wenn ein Kind nicht essen wollte, mußte es in den Speisesaal gehen, um gemeinsam mit den anderen sich an den Tisch zu setzen. Das Zusammensitzen um die schön hergerichteten Tische war in den Augen von Stefa eine pädagogische Aktion, auf die man nicht verzichten durfte. Es sollte das Gefühl der Zusammengehörigkeit in der Gemeinschaft, das Gefühl des Kindes, daß es nicht allein sei, bestärken. Übrigens, im Zusammenhang mit den gemeinsamen Essen und mit Stefas Auffassung von der Bedeutung der Gemeinschaft, erinnere ich mich an eine Episode, die ich von vielen verschiedenen Mitarbeitern Korczaks im Heim hörte. Sie betrifft das Leben im Speisesaal. Es handelt sich um das Rätsel der Riwka. Ein kleines neunjähriges Mädchen wurde ins Heim eingeliefert und war ganz besonders zügellos. Riwka war nicht zu bändigen. Sie lief durch das Haus, nahm sich alles, was sie nur sah, stopfte es in die Taschen und gab allen Erziehern Rätsel auf. Besonders schwierig und unverständlich war ihr Benehmen im Speisesaal. Sie lief von Tisch zu Tisch und brach die noch nicht aufgeschnittenen Brote auf, riß das Weiche aus dem Brotlaib heraus und stopfte es in den Mund. Die Kruste warf sie weg. Diese Szene wiederholte sich immer wieder aufs neue, und trotz aller Bemühungen von Stefa und von Korczak, das kleine Mädchen davon abzuhalten, erschien sie immer aufs neue, und es verging fast keine Mahlzeit, ohne daß Riwka die verschiedenen Brotlaibe aufriß und die Kruste wegwarf. Niemand wußte, was man machen sollte. Es gab harte Diskussionen zwischen Stefa und Korczak. Stefa verlangte, Riwka härter zu behandeln und schärfer zu reagieren. Sie fürchtete, daß Riwkas Benehmen sich auf die Kindergesellschaft schlecht auswirken könnte. Korczak dagegen war wie immer geduldig und ruhig und versuchte mit allen Mitteln, das Mädchen zu beruhigen. Er setzte sich neben sie, er sprach mit ihr. Er versuchte, ihr durch Brotschneiden und durch gutes Essen zuvorzukommen. Aber alles nützte nichts. Sie tat immer das Gleiche. Das Rätsel konnte nicht gelöst werden, bis eines abends durch Zufall der entscheidende Augenblick kam: Plötzlich zog ein Gewitter auf, es war im Herbst. Es donnerte und es blitzte und das Licht ging im ganzen Haus aus. Irgendwo hatte der Blitz anscheinend eingeschlagen, und es war dunkel. Korczak saß neben Riwka, und plötzlich suchte Riwka Korczaks Hilfe. Sie war in panischer Angst und lehnte sich an Korczak an, was sie vorher nie getan hatte. Im Gegenteil, sie drückte fast immer ein gewisses „Rühr mich nicht an“ aus. Dieses Mal aber suchte sie ihn, klammerte sich an ihn, und Korczak sah intuitiv ihr ganzes Leben, ihre Geschichte und löste das Rätsel.
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Er erinnerte sich, daß er über Riwka viel von der Polizeistelle gehört hatte, in die man sie als herumstreunendes Kind gebracht hatte. Er erinnerte sich an ihre bruchstückhaft vorgebrachten Berichte, aus denen man schließen konnte, daß sie wahrscheinlich ohne Eltern in einem Waldgebiet aufgewachsen war. In der Holzhütte einer polnischen alten, einsamen Frau, die sie wahrscheinlich mit Märchen und furchterregenden Geschichten versorgt hatte. In dieser Welt der Kobolde und Gespenster, der Feen und Geister wuchs Riwka auf. Bis eines Tages diese alte Frau wahrscheinlich verstarb, und Riwka ohne irgendeine Bezugsperson zurückblieb. Ihr Leidensweg begann, auf dem Korczak sie dann auf der Polizeistation fand. Korczak sah das alles plötzlich und blitzartig vor sich und er verstand Riwkas panische Angst. Er tippte auf den traumatischen Punkt: „In der Brotrinde gibt es keinen Kobold. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin mir sicher.“ – „Kein Kobold, sind Sie sicher, Doktor?“ – „Ja“, sagte Korczak, während das Kind sich an ihn lehnte, und er Riwkas Köpfchen streichelte. Von diesem Augenblick an wurde Riwkas Situation zusehends besser. Sie nahm Korczaks Hand, ging mit ihm in den Speisesaal und im Laufe der Zeit gewöhnte sie sich an das Leben im Heim. Die Geschichte mit dem Brot, die panische Angst, die Brotkruste in ihrer Nähe zu spüren oder sie sich einzuverleiben, war vorbei. S. 75 – 76 Im Speisesaal saß immer eine bestimmte Kindergruppe an ihrem (Wilczynskas, L.R./K.S.) Tisch. Es waren die schwachen und mageren Kinder, die bleichen und die hilfsbedürftigen, die besonders gut essen mußten. Sie wollte sie in ihrer Nähe haben und sie dazu animieren, gut zu essen. „Neben Stefa zu sitzen und nicht zu essen“, erinnert sich lächelnd ein Zögling, „war keine leichte Angelegenheit, denn sie hatte fast alle Mittel zur Verfügung, um ein Kind dazu zu bringen, seinen Teller doch leerzuessen, und das ohne Zwang.“ Zum Frühstück und zum Abendbrot gab es Kakao. Kakao war in der damaligen Zeit in Warschau eine kostspielige Angelegenheit. Stefa bemühte sich darum, daß die Kinder zumindest so aßen, wie in einer polnischen Mittelstandsfamilie, und das Trinken von warmem Kakao erschien ihr außerordentlich wichtig. Sie bat darum, während sie an den Tischen vorbeiging, den Kakao auszutrinken, und verfolgte mit Argusaugen, wenn hier und da halbe Tassen oder Gläser mit Kakao nicht ausgetrunken wurden. Sie verbot mit aller Schärfe, den Kakao wegzugießen. Auf jedem Tisch stand ein Behälter für Essensreste. Es gab Kinder, die den Kakao dort hineingossen. Das war strengstens verboten. Aus Protest gegen das Übriglassen von Kakaoresten in den Tassen ging sie von Tisch zu Tisch und trank diese Reste selbst aus. Das erschien ihr eine wichtige Lektion, damit die Kinder das Essen nicht verderben ließen, denn, so sagte sie oft: „Erziehung ist ein Akt der Tat. Ein Akt der sich wiederholenden Tat und kein Akt des Sprechens.“ So haben es mir „Ehemalige“ erzählt.
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Das Essen wurde auf einem Tablett gereicht, die Essensverteiler gingen von Tisch zu Tisch und jedes Kind nahm sich seine Portion. Aber neben den Portionen gab es Teller mit Früchten und belegten Broten, und jedes Kind mußte entscheiden, was es nehmen wollte. Was man angerührt hatte, mußte auch genommen werden. Stefa beobachtete die Kinder beim Auswählen dieser Portionen. Essen wurde nicht weggeworfen. Was morgens übrig blieb, wurde mittags wieder neu zubereitet. Vom Mittagessen wurde es auf den Abend verschoben. „So lernten wir, daß alles seinen Wert hat und alles wieder verwendet werden kann, denn Essen hat einen besonderen Wert, besonders für uns arme Menschen.“ Stefa versuchte den Kindern auch beizubringen, wie man ißt. Wie man mit dem Besteck umgeht, daß man ordentlich und sauber ißt, und alles das freundlich und höflich, aber auch bestimmt. Wenn die Kinder irgendetwas brauchten, wenn sie noch hungrig waren, wenn sie etwas Besonderes bei den Mahlzeiten wünschten, so war Stefa immer bereit zu helfen. Sie kannte hier keine Grenzen. Aber das Wichtigste für sie war, daß nichts vergeudet wurde und daß jedes Kind den Wert des Essens auch tatsächlich erfahren konnte. S. 97 – 98 Trotz der Verschiedenheit der beiden, von der Korczak wohl wußte, versuchte er in schwierigen Situationen im Alltag, immer die Gemeinsamkeiten zu betonen. So schreibt er in den „Sommerkolonien“: „Es wird sogar dort Reibereien geben, wo sonst zwischen der Hausmutter und den Erziehern volle Übereinstimmung besteht. Wenn die Kinder satt sind, wird es manchmal vorkommen, daß ein guter Teil des zubereiteten Essens übrigbleibt. Der Tag ist heiß, des Ausfluges wegen geht es eilig zu, die Milch ist leicht angebrannt, die Hausmutter kommt mit dem Vorwurf: Die Grütze ist zur Hälfte übriggeblieben und da ist auch noch Brot unter der Veranda gefunden worden. Mag der Erzieher des guten Beispiels wegen einen Becher angebrannter Milch austrinken und ankündigen, daß der Spaziergang ausfällt, wenn die Suppe nicht aufgegessen wird, mag er das Brot in vielen, aber kleinen Portionen ausgeben und den Kummer der Hausmutter nicht leicht nehmen, aber das Brot muß bleiben, hier darf er nicht nachgeben, keinen einzigen Tag. Erzieher sind geneigt, die Sorgen einer Hausmutter nicht ernstzunehmen, und die Hausmutter glaubt auch dort Geringschätzung wahrnehmen zu können, wo sie gar nicht vorhanden ist. Wo auf beiden Seiten guter Wille herrscht, pflegt es gerade zu derartigen Zusammenstößen zu kommen, wie sie sich zwischen Menschen abspielen, die auf demselben Gebiet in verschiedenen Bereichen tätig sind. Man muß sich taktvoll verhalten, und ich darf einem Erzieher, der sich dazu hinreißen läßt in der Erregung zu äußern: „Bleiben Sie lieber bei ihren Kochtöpfen und mischen Sie sich nicht in die Erziehungsarbeit mit den Kindern ein“, ganz offen sagen, daß die Hausmutter ganz recht hat, wenn sie darauf erwidert: „Und wischen Sie lieber den Kindern den Hintern richtig ab, denn die Waschfrau wird ja gar nicht mit der Wäsche fertig.“
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Denn wenn es in der Sache selbst Aufgabe der Hausmutter ist, für die Sauberkeit der Küche zu sorgen, so ist es Pflicht des Erziehers, sich um das Sauberhalten der Wäsche zu kümmern. Guter Wille wird ihnen das Gesetz taktvoller Zusammenarbeit diktieren und ihr Verständnis dafür wecken, dass sie gemeinsam einer guten Sache dienen. Ich betone: „Wo guter Wille herrscht“.
Speisesaal und Versammlungsraum im Waisenhaus Dom Sierot. The Janusz Korczak Living Heritage Association, Stockholm Makarenko, Anton, S.: Der Weg ins Leben. Ein pädagogisches Poem. Aufbau-Verlag, Berlin 1963 (Erstauflage 1948) Anton Semjonowitsch Makarenko (1888–1939), sowjetischer Pädagoge und Schriftsteller, in den 1920er und 1930er Jahren Leitung der Reformeinrichtungen GorkiKolonie und Dserschinski-Kommune, in denen verwahrloste, verwaiste und straffällige Kinder und Jugendliche versorgt wurden und arbeiteten. Der Roman „Ein Pädagogisches Poem“, das den dortigen Erziehungsalltag erzählt, gilt als sein Hauptwerk.
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S. 31 – 33 Des Menschen erstes Bedürfnis ist die Nahrung. Deshalb bedrückten uns die Mängel unserer Kleidung nicht so sehr wie die Nahrungssorgen. Unsere Zöglinge hatten immer Hunger, und dieser Umstand erschwerte in hohem Maße ihre sittliche Umerziehung. Nur einen gewissen, sehr geringen Teil ihres Appetits vermochten unsere Zöglinge auf private Weise zu befriedigen. Eine der wichtigsten Arten dieser privaten Nahrungsbeschaffung war der Fischfang. Im Winter war das sehr schwer. Die leichteste Methode war, die vierkantigen pyramidenförmigen Reusen, die sogenannten „Jateri“, zu leeren, die die Bauern im nahen Fluß oder in unserem See auslegten. Der Selbsterhaltungstrieb und der dem Menschen eigene wirtschaftliche Sinn hielt unsere Jungen davon ab, diese Netze zu stehlen. Dennoch fand sich unter den Zöglingen einer, der diese goldene Regel verletzte. Es war Taranez. Er war sechzehn Jahre alt und stammte aus einer alten Diebesfamilie. Taranez war gut gewachsen, hatte ein pockennarbiges Gesicht, war lustig, witzig, ein ausgezeichneter Organisator und unternehmungslustiger Bursche. Aber er war nicht imstande, das Kollektivinteresse zu achten. Er stahl aus dem Fluß einige Reusen und brachte sie in die Kolonie. Ihm auf dem Fuß folgten die Eigentümer, und die Geschichte endete mit einem großen Skandal. Von diesem Tage an ließen die Bauern ihre Netze nicht mehr aus den Augen, und unseren Jägern gelang es sehr selten, etwas zu erwischen. Aber nach einiger Zeit tauchten bei Taranez und bei einigen anderen eigene „Jateri“ auf, die ihnen „ein Bekannter in der Stadt“ geschenkt hatte. Mit Hilfe dieser eigenen Reusen entwickelte sich der Fischfang schnell. Zunächst wurden die Fische von einem kleinen Personenkreis konsumiert, aber gegen Ende des Winters beschloß Taranez unvorsichtigerweise, auch mich in diesen Kreis aufzunehmen. Er brachte einen Teller mit gebratenem Fisch auf mein Zimmer. „Hier ist Fisch für Sie.“ „Das sehe ich – aber ich nehme ihn nicht.“ „Warum?“ „Weil das nicht richtig ist. Von den Fischen muß man allen abgeben.“ „Wie komme ich denn dazu?“ Taranez wurde rot und war beleidigt. „Wieso denn? Ich habe die Netze beschafft, fange die Fische, werde naß im Fluß – und soll allen davon abgeben?“ „Dann nimm deinen Fisch wieder mit; ich habe dazu nichts beigetragen und bin auch nicht naß geworden.“ „Aber es ist doch ein Geschenk …“ „Nein, ich bin nicht damit einverstanden, mir gefällt das alles nicht, und es ist nicht richtig.“ „Was soll denn nicht richtig sein?“ „Du hast die Reusen nicht gekauft, sie sind doch geschenkt?“ „Ja, geschenkt.“
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Lotte Rose/Kathrin Schäfer „Wem? Dir oder der ganzen Kolonie?“ „Wieso der ganzen Kolonie Ich habe sie…“ „Aber ich bin der Ansicht, was mir gehört, gehört allen. Und wem gehören die Bratpfannen? Dir? Sie gehören der Allgemeinheit. Und das Sonnenblumenöl bettelt ihr der Köchin ab. Wem gehört es? Der Allgemeinheit. Und das Holz, die Öfen, die Eimer? Was sagst du nun? Ich könnte dir ja die Reusen wegnehmen, und aus ist es. Aber das ist nicht die Hauptsache: es ist nicht kameradschaftlich. Was tut es, daß es deine Reusen sind. Für alle mußt du es tun. Fangen kann schließlich jeder …“ „Meinetwegen soll es so sein. Aber den Fisch nehmen Sie“, sagte Taranez.
Ich nahm den Fisch. Von diesem Tage an mußten sich alle in bestimmter Reihenfolge am Fischfang beteiligen. Der Fang wurde an die Küche abgeliefert. S. 322 – 324 Am 26. März feierten wir Gorkis Geburtstag. Wir hatten auch andere Feiertage, von denen werde ich ein andermal ausführlich berichten. An Feiertagen wünschten wir uns viele Gäste und volle Tische; auch die Kolonisten liebten es, sich auf Feste vorzubereiten. Gorkis Geburtstag hatte für uns einen besonderen Zauber. An diesem Tage feierten wir den Einzug des Frühlings. Das verstand sich von selbst. Wohl kam es vor, daß die Jungen die Festtische aufstellten, unbedingt im Freien, damit sie beim Festmahl alle zusammen sein konnten, und plötzlich wehte von Osten ein feindlicher Wind: spitze, böse Eisnadeln flogen ins Gesicht, auf den Pfützen im Hof bildete sich eine runzlige Eishaut, und im Nu waren die Trommeln naß, auf denen zur Feier des Tages vor den angetretenen Kolonisten der Salut für unsere Fahne geschlagen werden sollte. Und dennoch schaute der Kolonist mit zusammengekniffenen Augen nach Osten und sagte: „Ach, es riecht doch schon mächtig nach Frühling!“ Und dann gab es bei unserer Gorki-Geburtstagsfeier noch etwas, was wir uns selbst ausgedacht hatten, einen Brauch, der uns teuer war und uns sehr gefiel. Die Kolonisten waren sich schon lange darüber einig, daß es an diesem Tage hoch hergehen müsse und kein Fremder eingeladen werden dürfe. Sollte jemand von selbst auf den Gedanken kommen, uns an diesem Tage zu besuchen, dann war er uns ein willkommener Gast, weil es ihm eben selbst eingefallen war. Sonst jedoch war es unser Familienfest. Fremde hatten an diesem Tage nichts bei uns zu suchen. Und es war wirklich immer besonders ungezwungen und gemütlich; die Gorkier schlossen sich noch enger zusammen und fühlten sich wie Verwandte, obgleich die Feier durchaus nicht einem Familienfest glich. Wir begannen mit einer Parade, die Fahne wurde feierlich herausgetragen, Ansprachen wurden gehalten und an Gorkis Bild vorbeimarschiert. Dann setzten wir uns an die Tische und – keine falsche Bescheidenheit – tranken, nein, wir tranken nichts, aber aßen auf Gorkis Gesundheit … oh, wie wir aßen! Als Kalina Iwanowitsch sich vom Tisch erhob, sagte er:
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„Ich glaube, wir dürfen die Burshuis2 nicht verurteilen, diese Schmarotzer. Nach einem solchen Mittagessen, verstehst du, wird kein Vieh arbeiten, geschweige denn eine Mensch…“ Zu Mittag gab es: Borschtsch, aber keinen gewöhnlichen, nein, einen ganz besonderen Borschtsch; solch einen Borschtsch kocht die Bäuerin nur, wenn der Bauer Namenstag hat. Dann gab es Fleisch, mit Kohl, mit Reis, mit Quark, mit Kartoffeln oder mit Grütze gefüllte Pastetchen, und jedes so groß, daß es in keines Zöglings Tasche passte. Nach den Pastetchen gab es: Schweinebraten, nicht vom Markt, sondern aus der eigenen Zucht; schon seit dem Herbst wurde das Schwein von der zehnten Abteilung für unseren Gorkitag gemästet. Schweine mästen konnten die Zöglinge, aber schlachten wollte sie keiner; sogar der Kommandeur der Zehnten, Stupizyn, brachte es nicht fertig: „Ich kann es nicht schlachten. Es tut mir leid … es war ein gutes Schwein, die Kleopatra.“ Natürlich schlachtete es dann Silantij Otschenasch, und zwar mit folgender Begründung: „Ein schlechtes Schwein soll der Feind schlachten. Wir aber schlachten, sozusagen, ein gutes Schwein. So steht das mit der Geschichte.“ Nach der Kleopatra hätte man eigentlich eine Pause machen können, aber auf dem Tisch erschienen tiefe und flache Schüsseln mit saurer Sahne und daneben Berge von mit Quark gefüllten Wareniki. Kein einziger Kolonist hatte es eilig mit dem Ausruhen, im Gegenteil, alle wandten ihre ganze Aufmerksamkeit den Wareniki und der sauren Sahne zu. Und nach den Wareniki gab es Kissel3, aber nicht vornehm in Kompottschüsselchen serviert, sondern in tiefen Tellern, wobei ich keinen einzigen Kolonisten bemerkte, der dazu nicht auch noch Brot oder Pastetchen gegessen hätte. Erst jetzt fand das Essen seinen Abschluß, und jeder bekam, als er vom Tisch aufstand, eine Tüte mit Bonbons und Pfefferkuchen. Und auch bei dieser Gelegenheit bemerkte Kalina Iwanowitsch mit Recht: „Ach, wenn doch öfter Gorkis geboren würden – wäre das fein!“ Anna Freud, Dorothy Burlingham: Heimatlose Kinder. Zur Anwendung psychoanalytischen Wissens auf die Kindererziehung. Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt am Main 1982 (Ersterscheinung 1949/50) Anna Freud (1895 – 1982), österreichische Kinderpsychoanalytikerin, wissenschaftliche Publizistin, 1938 Emigration mit ihrer Familie von Wien nach London, seit 1952 Direktorin der Hampstead Child-Therapy Clinic sowie des Hampstead Child-
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Burschúi: volkstümliche, geringschätzige Bezeichnung für Bourgeois Geleeartige Süßspeise aus Fruchtsaft, angedickt mit Kartoffelmehl
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Therapy Course, der wichtigsten europäischen Ausbildungsstätte der Psychoanalyse des Kindes, Dorothy Tiffany Burlingham (1891 – 1979), US-amerikanische Psychoanalytikerin und wissenschaftliche Publizistin, lebte seit 1925 mit ihren vier Kindern in Wien, 1938 emigrierte sie mit der Freud-Familie nach London. Beide Frauen verband eine jahrzehntelange Arbeits- und Lebenspartnerschaft, 1937 eröffneten sie einen Kindergarten, in dem Anna Freud erste Studien über Aspekte kindlichen Essverhaltens begann. 1940 gründeten sie in England die „Hampstead Nurseries“, ein Heim, in dem sie Kriegskinder und Kriegswaisen betreuten. Das Buch „Heimatlose Kinder“ schildert den Erziehungsalltag in den „Hampstead Nurseries“ und Fallgeschichten von dort lebenden Kindern. S. 75 – 79 Auf einem vierten wichtigen Gebiet, der Einstellung des Kindes zur Nahrung, der Entwicklung seiner Eßgewohnheiten und Eßschwierigkeiten, sind die Vorteile wieder auf seiten der Anstalt (richtiger gesagt: der gut geführten Anstalt). Anstaltskinder benehmen sich dem Essen gegenüber positiver als viele Kinder in der Familie. Sie sind gute Esser, d. h. am Essen interessiert, freuen sich über viele Speisen, haben weniger Abneigungen und weniger Eßschwierigkeiten als Kinder in privaten Haushalten. Wo abnorme Eßreaktionen vorkommen, sind Gier und Überessen häufiger als Appetitlosigkeit und Nahrungsverweigerung. Man erklärt diese Erscheinung gewöhnlich damit, daß viele Mütter dazu neigen, ihre Kinder mit Essen zu „verwöhnen“, d.h. daß sie zu viel Wert auf das Essen des Kindes legen, überängstlich sind, wenn das Kind vorübergehend weniger Appetit zeigt, und zu große Ansprüche an seine Nahrungsaufnahme stellen. Als Reaktion auf diese Einstellung der Mütter entwickelten die Kinder dann Abneigungen gegen bestimmte Speisen, weigerten sich zu essen etc. Als Beweis für diese Annahme wird ferner angeführt, daß Eßschwierigkeiten seltener sind, wo die Mütter weniger gewissenhaft sind und sich mit der Ernährung des Kindes keine Mühe geben. Je weniger sich die Mutter um das Essen des Kindes kümmert, desto besser scheint das Kind zu essen. Diese Erklärung, so oberflächlich und unvollständig sie ist, enthält einen Kern von Wahrheit. Es ist richtig, daß die Einstellung des Kindes zum Essen aufs engste mit seiner Einstellung zur Mutter zusammenhängt. Die Entwicklung dieser Beziehung verhält sich, von der ersten Ernährung des Säuglings an der Brust oder mit der Flasche angefangen, etwa wie folgt: Die Beziehung des Kindes zur Nahrung beginnt früher als seine menschlichen Beziehungen. In den ersten Lebenswochen empfindet der Säugling fast alle Reize, die aus der Außenwelt bei ihm anlangen, im Gegensatz zu der reizlosen Existenz des intrauterinen Lebens als Störungen. Licht, Lärm, Temperaturwechsel sind unlustvoll und anstrengend. Der Säugling hat seine ersten Lusterlebnisse nur bei der Nahrungsaufnahme, die den Hungerreiz beschwichtigt und durch den warmen
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Milchstrom lustvolle Empfindungen im Mund hervorruft. Durch die ständige Wiederholung dieser Lusterlebnisse lernt das Kind nach und nach wenigstens ein Stück Außenwelt als lustbetont einschätzen. Es stellt eine positive Beziehung zur Nahrung (Milch) her und dehnt sie allmählich auf die Person aus, die ihm die Nahrung zuführt. Seine Vorliebe für die Nahrung wird die Grundlage für seine Liebe zur Mutter. Die Gefühlsbeziehung des Kindes zur Mutter, später zum Vater, zu den Geschwistern und zu anderen Personen seiner Umwelt wächst im Laufe der Entwicklung über das Stadium hinaus, in dem materielle Befriedigung und momentaner Lusterwerb die wichtigste Rolle spielen. Aus der Abhängigkeit des Kleinkindes wird langsam eine wirkliche Liebesbeziehung, in der das Wesen und die Eigenschaften der geliebten Person eine immer größere Rolle spielen und in der der uneingeschränkte Eigennutz der ersten Jahre altruistischen Reaktionen, ersten Neigungen zu geben, zu erwidern, für die geliebte Person Opfer zu bringen etc., Platz macht. Trotz dieser Weiterentwicklungen behält die Einstellung des ersten Lebensjahres, in dem Nahrung und Mutter gleichgesetzt waren, ihre Nachwirkung für die Eßlust oder -unlust des Kindes. Das Kind verhält sich zu dem von der Mutter gereichten Essen ebenso, wie es sich zur Person der Mutter verhält; das heißt, alle Störungen der Mutterbeziehung verwandeln sich leicht in Eßstörungen. Die Beobachtung schlecht essender Kinder läßt erkennen, wie unerfüllte Ansprüche an die Mutter sich in Gier nach Essen verwandeln können, Eigensinn gegen die Mutter in Nahrungsverweigerung, Ärger gegen die Mutter in Kritik des Essens, Verachtung des Essens etc. (Die aufgezählten Faktoren sind keineswegs die einzig bekannten Ursachen für Eßstörungen; aber sie sind die einfachsten und häufigsten Störungsgründe.) Viele Mütter halten in ihrem eigenen Benehmen ungebührlich lange an den Gewohnheiten der Säuglingspflege fest. Sie füttern das Kind, auch wenn es schon selbst essen könnte, drängen es, der Mutter „zuliebe“ zu essen, sind persönlich gekränkt, wenn das Kind nicht ißt. Unter solchen Umständen wird die infantile Einstellung des Kindes immer neu bestärkt, Mutter und Kind bleiben an die alte Situation fixiert, und das Kind fährt fort, das Essen wie die Mutter und die Mutter wie das Essen zu behandeln. Verständige Mütter andererseits passen ihr Verhalten den sich entwickelnden Fähigkeiten des Kindes an und schalten ihre eigene Person mehr und mehr aus, je besser das Kind imstande ist, sich selber Nahrung zuzuführen. Wo das Essen auf diese Weise zu einer unpersönlichen und objektiven Angelegenheit wird, gelingt es dem Kind besser, neue, seinem Alter entsprechende Einstellungen auszubilden: nämlich sein Essen oder Nichtessen nach dem Stand seines Hungers zu regulieren, nicht nach dem Stand seiner Gefühle für die Mutter. Für das Unbewußte des Kindes bleibt die alte Identität zwischen Nahrung und Mutterliebe dauernd erhalten
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und macht sich in Zeiten von Gefühlskonflikten, seelischen Störungen etc. in charakteristischen neurotischen Eßschwierigkeiten, Nahrungsverweigerungen, nervösen Magenstörungen etc. bemerkbar. Soweit das normale und bewußte Verhalten des Kindes reicht, macht aber die vernünftige und unemotionelle Haltung der Mutter es möglich, daß eine Beziehung zum Essen sich selbständig auf Grund der eigenen Bedürfnisse des Kindes entwickelt und von den weiteren Schicksalen der Mutterbeziehung verhältnismäßig unbeeinflußt bleibt. Kinder sind gute Esser, soweit ihre Einstellung zum Essen nicht durch Gefühlskonflikte kompliziert wird. Auf Grund dieser Ausführung ist es leichter verständlich, warum gerade gewissenhafte und in ihren Bemühungen um das Kind ängstliche Mütter Anlaß zu Eßschwierigkeiten geben. Das Fehlen der Mutter, durch das das Leben des Anstaltskindes in so vielen Beziehungen erschwert wird, wirkt aus den angeführten Gründen günstig auf die positive Einstellung des Kindes zum Essen. Auch in der Anstalt spielen der Nahrung gegenüber Gefühlsfaktoren ihre Rolle. Viele Kinder sind übermäßig auf Essen eingestellt: sie versuchen, den Mangel an Mutterliebe durch ein Übermaß an Nahrungszufuhr auszugleichen, also die Befriedigung des einen Triebbedürfnisses (Hunger) an die Stelle eines anderen Triebwunsches (Liebe) zu setzen. Im allgemeinen aber wird in der Anstalt das Essen als Befriedigung an und für sich gewertet; die positive (oder negative) Beziehung des Kindes gilt der Nahrung direkt, ohne den Umweg über die Mutterbeziehung zu machen. Essen ist in der Monotonie des Anstaltslebens eine willkommene und wichtige Triebbefriedigung. Die Eßlust des Kindes ist in Anstalt und Familie den verschiedensten sekundären Gefahren ausgesetzt. Die Freude am Essen verschwindet, wenn die Mahlzeiten zu strengen Vorschriften und Regeln unterliegen. Langes Warten auf die einzelnen Gänge und Stillsitzen sind für das Kleinkind schwer erträgliche Forderungen; Eßmanieren, wie z. B. der vorzeitige Gebrauch des Löffels, der Zwang, alles zu essen oder alles aufzuessen, machen ihm viele Mahlzeiten zur Qual. Andererseits wird die Eßlust gefördert, wo das Kind sich bei der Mahlzeit frei und aktiv benehmen kann, innerhalb gewisser Grenzen seine Speisen selbst wählt und die Nahrungsmenge selbst bestimmt. Eßmanieren wirken nicht störend auf die Eßlust, wo sie nicht vorzeitig erzwungen werden, sondern sich auf Grund der wachsenden Geschicklichkeit, Selbsttätigkeit und Selbständigkeit des Kindes allmählich entwickeln. Aus rein praktischen Gründen ist es leichter in der Nursery als im privaten Haushalt, dem Kleinkind diese Freiheiten einzuräumen. Die Mahlzeiten in der Nursery geben Gelegenheit zu vielen lustbetonten gemeinsamen Tätigkeiten und Hilfeleistungen untereinander und spielen darum eine wichtige Rolle für die soziale Anpassung des Kindes.
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S. 195 – 198 Da die Freude des Kindes am Essen auf den ersten befriedigenden Erfahrungen der oralen Phase, die nicht durch gewaltsame Änderungen gestört worden sind, basiert, war es nicht überraschend, daß alle sechs Bulldogs-Bank-Kinder4 schlechte Esser waren. Darüber hinaus waren sie in Theresienstadt fast ausschließlich mit weichen, geschmacklosen Mehlbreien ernährt worden. Die einzige Ausnahme bildete gelegentlich ein Bonbon, den sie zum Trost nach einer ärztlichen Untersuchung oder nach einer Injektion erhielten. Demzufolge waren sie an ihrem Essen uninteressiert, weigerten sich zu kauen und neue Gerichte und neuen Geschmack zu probieren. Noch mehrere Monate nach ihrer Ankunft verweigerten sie alles außer Brei. Fleisch, Fisch, Gemüse und Käse suchten sie heraus und warfen sie auf den Boden. Mit Ausnahme von Paul, dessen Ambivalenz gegen das Essen ein tieferer Konflikt zugrunde lag, erwarben die Kinder allmählich eine mäßige Freude an neuen Gerichten. Zu einem entscheidenden Schritt in diese Richtung verhalf ihnen die Befriedigung ihres starken Verlangens nach Zucker, das sowohl körperliche wie seelische Ursachen gehabt haben mag. Zweifellos hatten die Rationen im Konzentrationslager eine für die Ernährung der Kinder unzureichende Menge an Zucker enthalten. Das heftige Verlangen nach übermäßig süß schmeckenden Dingen mag gleichzeitig der Ausdruck des nie erfüllten Bedürfnisses nach oraler Befriedigung gewesen sein. Auf jeden Fall waren die Kinder in der Lage, neue Gerichte, wie rohe Gemüse und Salate, anzunehmen, wenn Zucker darauf gestreut wurde. Einige Zeit lang taten sie Zucker sogar auf Fleisch, Fisch, Käse und Eier. (...) Die Mahlzeiten waren jedoch keineswegs fade. Obwohl das Interesse der Kinder am Essen gering und konfliktvoll war, so zeigten sie doch starke Anteilnahme an den Nebenumständen, wie an den Details des Servierens, der Sitzordnung, des Bestecks usw. Nach lärmenden Mahlzeiten in der ersten Woche, bei denen alle sich weigerten, sich hinzusetzen, und Bestecks (sic!) und Geschirr herumflogen, kam die Gruppenhaltung der Kinder ihren Tischmanieren zu Hilfe. Da sie darauf bedacht waren, daß jeder sein Teil bekam, gewannen sie Freude an der Routine, Schüsseln weiterzureichen. Jedes Kind unterbrach sein Essen, sogar sein Lieblingsgericht, um dem Nachbarn zu reichen, was er brauchte. Nach mehreren Wochen wirkte sich die zunehmende Geschicklichkeit der Kinder bei den Mahlzeiten aus. Sich selbst etwas aus den Schüsseln zu nehmen, bereitete ihnen Freude, um deretwillen sie manchmal auch neue Gerichte probierten. Besonders wichtig war es ihnen, sich selbst Zucker 4
Die „Bulldogs-Bank-Kinder“ wurden nach der Ermordung ihrer jüdischen Eltern drei Jahre lang im Konzentrationslager Theresienstadt gefangen gehalten. Nach dem Krieg wurden sie zeitweise im britischen Kinderheim Bulldogs Bank betreut und fielen dort durch eine ungewöhnlich starke Gruppenbindung bei gleichzeitigem völligem Desinteresse an Erwachsenen auf. Später wurden sie von jüdischen Paaren adoptiert. Ein Film von Beatrix Schwehm aus dem Jahr 1999 dokumentiert die Geschichte dieser Kindergruppe (L.R./K.S).
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auf den Teller zu streuen. Hier vereinte sich die Lust am Geschmack erfolgreich mit dem Wunsch nach Aktivität. Das stärkste Interesse knüpfte sich bei den Mahlzeiten an die Löffel. Einige Löffel waren mit dem königlichen Wappen gekennzeichnet, das die Kinder „Fahrrad“ nannten, andere mit einem großen N, das die Kinder, wenn sie es horizontal hielten, „an upstairs“ (eine Treppe) nannten. Die heftigsten Gefühle konzentrierten sich auf einige Löffel, die nur einige schwache Linien zeigten, von den Kindern „little things“ (kleine Dinger) genannt. Dies war die einzige Gelegenheit, bei welcher sich der Gruppenzusammenhalt völlig auflöste und die Kinder sich lärmend stritten, schwindelten und sich betrogen. Anstatt sich, wie sonst üblich, abzuwechseln, pflegte jedes Kind, das zuerst in den Raum kam, schnell „a little thing“ zu erwischen, jeder pflegte entgegen der Wahrheit zu behaupten, daß er an der Reihe sei. John ging sogar so weit, einen dieser Löffel unter seiner Jacke zu verbergen und ihn dann mit den anderen zusammen überall im Raum zu suchen. Daß das Essen selbst und sogar der Widerwille dagegen bis zu einem gewissen Grade emotional weniger bedeutend waren als diese Begleitumstände, wurde auch dadurch bewiesen, daß ein Kind mit „a little thing“ viele Gerichte aß, die es sonst ablehnte, Paul z. B. geschmortes Obst oder Milchpudding. Andererseits konnte ein heftiger Widerwille gegen bestimmte Gerichte auch durch die Benutzung von „little things“ nicht überwunden werden (Widerwille gegen Grünes bei Paul, gegen gekochte Eier bei Miriam). Die Bedeutung der Löffel blieb lange ein Rätsel, bis ein Augenzeuge aus Theresienstadt berichtete, daß dort Löffel der einzige persönliche Besitz von Kindern wie von Erwachsenen waren. Jeder Lagerinsasse hatte seinen Löffel mit in den Stiel geritzten Initialen, bei den Kindern war es ihr Zeichen. Viele größere Kinder pflegten ihren Löffel von morgens bis abends bei sich zu tragen. Die „little things“ waren also für die Kinder Symbole ihrer sonst vergessenen Vergangenheit. Da die Mahlzeiten der Anlaß für die meisten Wortgefechte waren und häufig Streit wegen der Löffel ausbrach, verlief das Essen keineswegs friedlich. Allmählich entwickelte sich die Gewohnheit, Kinder, die von den anderen angegriffen wurden, neben dem Erwachsenen sitzen zu lassen. Diese Maßnahme erwies sich als günstig angesichts der anfänglichen Unruhe der Kinder und ihrer Abneigung, längere Zeit am gleichen Platz zu sitzen. Es gab Mahlzeiten, bei denen die Plätze so oft gewechselt wurden, daß am Schluß kein Kind mehr den gleichen Platz hatte wie beim Beginn. Es ist auch aus anderen Beobachtungen von kindlichen Eßgewohnheiten und -schwierigkeiten gut bekannt, daß, wo die initiale orale Lust an der Nahrung und an der Befriedigung des Hungers gestört sind, Interesse und Konflikte verschoben werden auf die äußeren Nebenumstände der Mahlzeit (Sitzordnung, Farbe und Form des Geschirrs, Tischsitten usw.).
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Bruno Bettelheim: Der Weg aus dem Labyrinth: leben lernen als Therapie. Stuttgart 1975 (Ersterscheinung: A Home for the Heart 1974) Bruno Bettelheim (1903 – 1990), US-amerikanischer Psychoanalytiker und Kinderpsychologe österreichischer Abstammung, Autor zahlreicher kindertherapeutischer und pädagogischer Schriften, Leiter der Orthogenic School in Chicago, einer stationären Einrichtung für Kinder, die psychotherapeutisch betreut wurden. S. 69 – 70 Selbst wenn das Essen gut zubereitet wird, fordert eine Massenabfütterung ihren Preis. Meist schmecken die Gerichte fad, was besonders für Patienten schlimm ist, die aufgrund ihrer Depression an Appetitlosigkeit leiden. Und diejenigen, die aus Angst, zu kurz zu kommen, oder aus anderen psychologischen Gründen zuviel essen, essen nur noch mehr, wenn das Milieu nicht anziehend genug ist, um ihre Aufmerksamkeit vom Essen auf ihre Tischgenossen zu lenken. Massenspeisung läßt keine individuelle Wahl zu, ist also wieder reglementiert, auch wenn der Speisesaal aussieht wie eine Cafeteria. Reglementierung dessen, was man essen kann, verstärkt somit die Reglementierung bezüglich des Wo und Wann des Essens. Es scheint fast unmöglich, einem riesigen Speisesaal eine gemütliche Atmosphäre zu geben. Das erklärt auch, warum die, die wählen können – das Personal –, lieber in relativer Abgeschiedenheit essen, in einem getrennten Speiseraum oder in einem abgesonderten Bezirk des Saals für sich. Selbst in den sehr seltenen Fällen, in Anstalten, in denen das Personal zur gleichen Zeit und im gleichen Raum das gleiche Essen wie die Patienten ißt, sitzt typischerweise die Hierarchiespitze an einem Extratisch. Einige niedrigere Chargen, wie Schwestern und Pfleger, nehmen vielleicht ihre Mahlzeit zusammen mit den Patienten ein, aber damit wird der deprimierende Eindruck, daß die Patienten arme Wesen sind, denen man aus dem Wege geht, nicht verwischt. Allein das Vorhandensein getrennter Essensarrangements für das Personal ist somit ein weiteres Element des äußeren Rahmens, das den Stil des Lebens in der Anstalt bestimmt. Wie der Tisch gedeckt wird, wie bequem der Stuhl ist, auf dem man sitzt, wie das Geschirr aussieht, alles ist Symbol für den Geist, in dem man bei Tisch empfangen wird, zeigt, ob man willkommen ist, ob man als jemand Wichtiges gilt, und ob es ein Ereignis ist, das man genießt. Daß der Patient seine Mahlzeit nicht genießen kann, ist kaum erstaunlich, wenn der Rahmen so unpersönlich „anstaltsmäßig“ ist. Im übrigen ist es auch ein großer Unterschied, ob man von einem Tablett ißt, auf dem man sich alle Gänge auf einmal von der Theke geholt hat, oder ob man bei Tisch einen Gang nach dem anderen serviert bekommt. Die erste Methode lädt nicht gerade dazu ein, genießerisch über dem Essen zu verweilen, die zweite tut es. Angenehm bedient zu werden vermittelt ein Gefühl, daß man wichtig genommen und gut versorgt wird. Der Cafeteria-Stil hingegen gibt den Eindruck, auch wenn
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das Essen im einzelnen gut ist, daß niemandem sehr viel an den Mahlzeiten liegt. Selbst wenn die Verwaltung ganz allgemein dafür sorgt, daß die Patienten gut ernährt werden – wem könnte es Vergnügen bereiten, Empfänger einer allgemeinen Bemühung zu sein, wenn es sich um etwas so Persönliches wie das Essen handelt? Wir alle haben es erlebt, daß Speisen, an denen uns gar nicht besonders lag, plötzlich sehr akzeptabel wurden, weil jemandem, den wir persönlich kannten, sehr viel daran lag, daß sie uns schmeckten; und wir wissen, daß objektiv ganz ausgezeichnetes Essen seinen Reiz verliert, wenn es nicht durch persönliche Aufmerksamkeit gewürzt ist. Große Krankenhaus-Speisesäle gestatten kaum eine andere Art von Mahlzeiten als die im Cafeteria-Stil (und es ist ziemlich das gleiche, wenn das Tablett von einem gleichgültigen Helfer dem Patienten in die Abteilung oder auf sein Zimmer gebracht wird). An den Theken anzustehen, sich das Besteck selbst zu holen (statt es hübsch gedeckt an seinem Platz vorzufinden), all dies gibt dem Patienten das Gefühl, eine anonyme Nummer innerhalb einer Reihe anderer Leute zu sein. Dem Personal mag es nicht gleichgültig sein, ob er gut ißt und sein Essen mag, aber das sind nur Worte, die nicht von den Taten der Anstalt begleitet sind. Der Therapeut mag ernsthaft versuchen, aus dem Patienten einen Menschen mit Selbstachtung und Selbstkontrolle zu machen, aber dem arbeiten Praktiken wie diese Essenseinrichtungen fast den ganzen Tag lang entgegen. Und diese Situation ist da, obwohl wir genau wissen, daß sich unsere Grundhaltung der Welt gegenüber ursprünglich nach unseren frühesten Erfahrungen gebildet hat, und daß die Erfahrungen der Ernährung, des Gefüttertwerdens, zu den wichtigsten gehören. Ein altes Sprichwort heißt: „Liebe geht durch den Magen.“ Wenn wir einen Menschen ehren wollen, laden wir ihn zum Essen ein, „brechen das Brot“ mit ihm, um eine Freundschaft zu besiegeln. Wie und was wir ihm servieren, zeigt ihm, wieviel oder wie wenig uns an ihm liegt. Als Kleinkinder waren unsere ersten Beziehungen zu einem anderen menschlichen Wesen die zur Mutter, die uns stillte. Und Mahlzeiten, die wir angenehm in Gesellschaft einnehmen, bleiben das große sozialisierende Element in unserem Leben. Sollten wir, dies wissend, nicht erwarten, daß gemeinsames Essen mit anderen ein höchst wichtiges Ereignis ist, wenn es darum geht, die schädlichen Folgen einer Vergangenheit rückgängig zu machen und den gestörten Patienten zu resozialisieren? S. 164 – 168 Die erste Erfahrung im Leben des Kleinkindes ist, daß es stützend gehalten wird, die erste Erfahrung eines Patienten in unserer Anstalt ist, daß er sich mit seinem Bett und Wohnbereich anfreundet. Im Zusammenhang mit dieser ersten Lebenserfahrung – und Anstaltserfahrung – wird man ernährt. Die Art, in der es geschieht, prophezeit künftige Sicherheit oder Angst. Zu den bedeutsamsten Hinweisen für den Patienten über die Absichten der Anstalt gehört, ob er nicht nur gut, sondern
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liebevoll ernährt werden wird. Dieser Hinweis ist nicht nur symbolisch, sondern durchaus real. Essen ausschließlich zu festgesetzten Zeiten im Speisesaal zu verabreichen, ist keine empfehlenswerte Methode. Nur wenn schmackhaftes Essen jederzeit erhältlich ist, sind Hauptmahlzeiten zu festen Zeiten – was bei einer ziemlich großen Anzahl von Essensgästen unumgänglich ist – annehmbar, denn dann verpaßt man nichts, falls einem gerade überhaupt nicht nach Essen zumute ist oder nur nach einer Kleinigkeit. Wir hielten deshalb zu jeder Zeit und überall für jedermann erreichbar etwas zum Essen bereit, das man in relativer Abgeschiedenheit zu sich nehmen konnte, wann immer einem Patienten oder einem Mitarbeiter danach zumute war. In jedem Raum stand ein Kasten mit Keksen und Süßigkeiten, in den Räumen der Patienten wie in denen des Personals. Außerdem wurden Kleinigkeiten – belegte Brote, Früchte, Milch, Fruchtsäfte – den Patienten täglich dreimal zwischen den regulären Mahlzeiten gebracht: vormittags, nachmittags und vor dem Schlafengehen, und wenn es angebracht schien, auch öfter. Falls die Patienten das nicht mochten oder Appetit auf etwas anderes hatten, gab es außerdem neben jedem Schlafraum noch eine Kleinküche mit Vorräten für andere Gerichte. Bei den Hauptmahlzeiten waren die Patienten also nicht notwendigerweise hungrig, sie mußten nicht essen, was es gab; sie brauchten auch keine Angst zu haben, später hungrig zu werden, wenn sie während der Mahlzeit nicht soviel aßen. Zuerst waren die Tische im Speisesaal rechteckig, es gab für jeden Schlafraum einen und einen für das Personal, das um diese Zeit nicht mit den Patienten arbeitete. Aber wir fanden bald heraus, daß diese Tische für unsere Zwecke nicht geeignet waren. Unterhaltungen fanden eigentlich nur zwischen denen statt, die an den Kopfenden saßen, und zwar mit ihren nächsten Nachbarn. Der Grund war, daß diese drei Menschen nicht nur nebeneinander saßen, sondern sich auch ohne krampfhaftes Halsverdrehen (was Leute tun müssen, die nebeneinander sitzen) als Gegenüber sahen. Selbst wenn ein Mitarbeiter, der neben den Patienten saß, den Arm um die Schultern seines Nachbarn legte, so sprach dieser trotzdem lieber mit demjenigen, der ihm gegenüber saß, weil er diesen dabei ansehen konnte. (Eine Beobachtung, die durch eine Forschungsstudie erhärtet wurde, aus der hervorging, daß Menschen, die sich an einer Tischecke gegenübersitzen, doppelt soviel miteinander sprechen wie Menschen, die nebeneinander sitzen (...). Deshalb ersetzten wir die rechteckigen Tische durch runde, was zu einer viel größeren Vielfalt der Beziehungen unter den am Tisch Sitzenden führte. Unsere Tischplatten waren aus poliertem Rosenholz, wir benutzten also Tischdecken nur bei besonderen Gelegenheiten, am Geburtstag eines Patienten oder an Feiertagen, weil sich die Patienten offensichtlich wohler fühlten ohne diese Formalität (die sie aber ab und zu sehr schätzten). Bevor irgend jemand den Speisesaal betrat, war jeder Tisch sorgfältig für die genaue Zahl der Teilnehmer am Essen gedeckt. Obwohl zu jedem Gedeck ein Messer gehörte, ist niemals etwas Schlimmes damit passiert. Manchmal ließ ein verstörter Patient einen Teller fallen oder warf
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mit Bestecken um sich, aber niemals auf einen anderen Menschen und niemals ein Messer, meistens Löffel und seltener Gabeln. Anscheinend hielt unser Vertrauen in die Patienten, ausgedrückt durch die Tatsache, daß stets Messer zur Verfügung standen, selbst die unkontrolliertesten Patienten zurück. Zuweilen war es nötig, ein Messer vorübergehend zu entfernen, (...) aber nur, nachdem der Patient zu erkennen gegeben hatte, daß die Versuchung, das Messer in einem bestimmten Augenblick der Mahlzeit destruktiv zu benutzen, zu groß für ihn war. Und da die Patienten wußten, daß ihnen das Messer zurückgegeben wurde, sobald sie erklärten, wieder dafür bereit zu sein, gab es nie eine Weigerung, wenn das Messer entfernt wurde (...). Kalte Platten, wie Brot und Butter, Salat usw., standen schon zu Beginn der Mahlzeit auf den Tischen. Alle warmen Speisen wurden erst aufgetragen, nachdem die Gruppe Platz genommen hatte. Jedem wurde so oft und so viel serviert, wie er wollte. Für jeden Gang wurden Teller und Bestecke gewechselt. Den Patienten wurde am Tisch einzeln von dem Mitarbeiter vorgelegt, der mit ihnen aß. Wurden Speisen verschüttet oder fiel ein Teller oder ein Glas herunter, wurde selbstverständlich sofort alles aufgewischt oder aufgehoben, meistens eher von dem Mitarbeiter am Tisch als vom Küchenpersonal. Derartige feindselige Handlungen waren nicht gegen das Personal gerichtet, das auch mit der Frustration nichts zu tun hatte, die so ein Verhalten auslöste: wahrscheinlicher ist, daß der Mitarbeiter selbst der Anlaß war, weil er in dem Augenblick den Patienten an jemanden aus seiner Vergangenheit erinnerte. Deswegen konnte die Situation zwischen Patient und Mitarbeiter nur durch das gutwillige Übernehmen des Aufräumens wieder in Ordnung gebracht werden, denn es ist ziemlich schwierig, seinen Zorn auf einen Menschen durchzuhalten, der in positiver Einstellung die Unordnung forträumt, die man selbst verursacht hat. Außerdem ist das Fallenlassen eines Tellers mit Essen ein ebenso starker Ausdruck für Gefühle, wie es Worte wären: es zeigte an, wie verstört jemand in diesem Augenblick ist und wie unfähig, sich in der Gewalt zu haben. Ein Patient würde wahrscheinlich kaum einem Therapeuten Glauben schenken, der ihn aufforderte, die Gründe für diesen Ausbruch zu erzählen, und es jemand anderem überließe, die Folgen zu tragen. Man ist wesentlich glaubwürdiger, wenn man, bevor man dem Patienten versichert, dass man ihm nicht böse ist, weil er sich hat gehenlassen, durch eine Tat beweist, daß die Gefühle des Mitarbeiters dem Ausbruch gegenüber positiv sind. Teller und Gläser aus unzerbrechlichem Material, wie Plastik, bedeuten dem Patienten stillschweigend, man erwartet, er könnte sie kaputtmachen. Diese stillschweigende Voraussetzung ärgert ihn unbewußt derart, daß er versucht ist, mit diesen Dingen umherzuwerfen. Die Anstalt erwartet das ja offenbar. Aber mehr als die Zerbrechlichkeit vermittelt die Qualität – schönes Porzellan, schöne Gläser – den Gedanken, daß derjenige, der das Geschirr ausgesucht hat, nicht nur die Mahlzeiten zu einer angenehmen Angelegenheit machen wollte, sondern auch nicht
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damit rechnet, daß so schöne Dinge absichtlich kaputtgemacht werden könnten. Wenn man den Patienten Dinge zum Gebrauch in die Hand gibt, die sie schön finden, schützen sie sie auch (allerdings nur innerhalb der Grenzen, die sie sich selbst zu setzen imstande sind). Diese Grenzen sind stets wirksamer, häufig zwingender, als Grenzen, die ihnen irgend jemand anderes auferlegen könnte. Hilfreich ist auch, wenn die Patienten an der Zusammenstellung der Menüs beteiligt werden; sie wurden regelmäßig um Anregung gebeten, die auch übernommen wurden. Ebenso wählten die Patienten selbst das Geschirr aus, wenn neues angeschafft werden mußte oder sollte; sie suchten unter mehreren Mustern das Porzellan oder die Gläser aus, die ihnen am besten gefielen, und probierten die Stühle aus, auf denen sie am bequemsten beim Essen sitzen konnten. Dadurch fühlten sie sich mitverantwortlich für diese Dinge, wenn auch gelegentlich Gefühlsausbrüche solche Verantwortung in den Hintergrund drängten. Natürlich war für eine Reihe von Patienten das Geschirr, von dem sie aßen, ausgewählt, bevor sie in die Anstalt kamen. Aber innerhalb von ein paar Jahren, die für die Heilung der meisten Patienten ja notwendig sind, hatte sich gewöhnlich die Mehrheit an der Auswahl von irgendwelchen Dingen beteiligt, und ihre Sorgfalt und ihre Kritik gegenüber absichtlicher Zerstörung erwiesen sich als wesentlich wirksamere Bremse bei impulsiven Ausbrüchen als jede mögliche Erziehung durch die Mitarbeiter. Wie bei Vorhängen und Bettdecken wurden in einer Versammlung aller Patienten und Mitarbeiter drei verschiedene Muster von Porzellan, Gläser oder Bestecken zur Wahl und zum Ausprobieren vorgelegt. Es wurde abgestimmt, und das bevorzugte Muster wurde gekauft. Wenn ihnen keins der drei Muster gefiel, dann wurden ihnen drei neue vorgeführt, und wenn allen nur eins gefiel und niemandem die beiden anderen, kamen noch zwei neue hinzu, damit es auch eine wirkliche Wahl wurde. Da wir selbst die erste Wahl der Muster getroffen hatten und daher nichts darunter war, das wir für unpraktisch, ungeeignet oder unschön hielten, gab es für das Mitarbeiterteam dann keinen Grund, nicht das zu akzeptieren, wofür sich die Patienten entschieden. Es war erstaunlich, wie die Patienten nach einigem Schwanken eigentlich immer eine sehr gute Wahl trafen. Als ich ihnen beispielsweise einmal ein Geschirr zeigte, von dem einige Mitarbeiter und ich sehr angetan waren, wiesen sie darauf hin, daß die Teller zu flach waren und es sehr schwer wäre, von ihnen zu essen, ohne das Essen auf den Tisch zu verschütten, und das wollte doch keiner. Sie hatten völlig recht, und ich dankte ihnen, daß sie uns davor bewahrt hatten, eine dumme Entscheidung zu treffen. Niemals fiel die Wahl auf das, was Geschirrfabrikanten als Muster oder Qualitäten für Pflegeanstalten bezeichnet hätten. Entweder sah man der Robustheit dieses Geschirrs an, daß es für Verbraucher gedacht war, die nicht sorgsam damit umgehen würden, oder es war so langweilig, daß es niemandem gefallen konnte. Funktionieren kann diese Methode nur, wenn die Dinge nicht bewacht oder ängstlich behütet werden. Die einzig richtige Einstellung ist: „Ihr sollt das Beste
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haben und das, was euch am meisten gefällt. Da es ausschließlich für euch da ist, wissen wir, daß alles, was ihr damit tut, einem wichtigen Bedürfnis von euch entspricht, das von uns akzeptiert werden muß. Außerdem sagt uns das, was ihr damit tut, Wichtiges über euch und eure Gefühle, die unendlich viel wichtiger sind als jeder wertvolle Gegenstand. Wir sind dazu da, diese Gefühle zu respektieren.“ Das ist selbstverständlich Theorie, die mit Vernunft in die Praxis umgesetzt werden muß. Schließlich benutzen wir keine antiken Teller oder sonstigen Kostbarkeiten zum Essen. Aber wenn ein hübscher Teller 4 Dollar kostet im Vergleich zu einem dauerhafteren zu 1 Dollar, stellen die Unkosten für Bruch kaum eine zusätzliche Belastung für das Budget dar, da Patienten und Mitarbeiter sehr viel sorgsamer mit dem hübschen umgehen. (...) Man könnte mit Recht einwenden, daß es vielen Erwachsenen und den meisten Kindern gar nicht darauf ankommt, wie sie essen, viele essen im Grunde gern recht formlos, ja sogar unappetitlich. Es soll jedoch niemand aus dem Gesagten schließen, daß wir den Patienten eine hübsche Umgebung und schönes Geschirr in der Erwartung boten sie würden deshalb „ordentlich“ essen. Für das, was wir ihnen boten, etwas „zu fordern“, hätte den Wert des Gebotenen zerstört. Wir essen zwar alle gern zuweilen formlos, vielleicht lieber als in offiziellerem Rahmen, aber trotzdem möchten wir spüren, daß andere sich Mühe geben, um uns die Mahlzeiten zu einem Vergnügen zu machen. Eine häufige Quelle von Unstimmigkeiten zwischen Müttern und Kindern ist das Gefühl der Mutter: „Ich habe mir so viel Mühe mit diesem Essen für euch gemacht, und ihr schlingt es einfach herunter.“ Aber der Wert des Essens liegt für das Kind darin, daß es sieht, wieviel Sorgfalt die Mutter darauf verwendet hat, es ihm zuzubereiten, während es selbst frei damit machen kann, was es will. Wird das nicht so gehandhabt, ist es ein „Wie-du-mir-so-ich-dir“, und niemand empfindet Spaß daran. Da wir von den Patienten dafür, daß wir ihre Mahlzeiten hübsch gestalteten, weder eine Gegenleistung verlangten noch erwarteten, war das für sie eine zusätzliche konstruktive Erfahrung. Neill, Alexander S.: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill. Rowohlt. Reinbek 1969 Alexander Sutherland Neill (1883 – 1973), Reformpädagoge und langjähriger Leiter der von ihm gegründeten „Demokratischen Schule Summerhill“ in Leiston/Suffolk. Neill gilt in Deutschland wegen seines millionenfach verkauften Bestsellers „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung“ als Begründer der antiautoritären Erziehung.
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S. 176 – 180 Der Totalitarismus nahm seinen Anfang im Kinderzimmer, und er beginnt noch immer dort. Der erste Eingriff in die Natur des Kindes ist Despotismus. Dieser erste Eingriff ist immer eine Frage der Ernährung. Es fängt damit an, daß man das Neugeborene zwingt, zu bestimmten Zeiten zu essen und zu fasten. Die oberflächliche Erklärung dafür ist, daß die Ernährung nach einem festen Zeitplan die tägliche Routine und Bequemlichkeit der Erwachsenen weniger stört. Doch tiefer sitzt das wirkliche Motiv: Haß gegen das neugeborene Leben und seine natürlichen Bedürfnisse. Das kann man an der Gleichgültigkeit sehen, mit der in manchen Familien das Schreien des hungrigen Säuglings hingenommen wird. Die Selbstbestimmung sollte bei der Geburt beginnen; mit dem allerersten Säugen. Jeder Säugling hat das Geburtsrecht, gestillt zu werden, wenn er mag. Es ist leicht für die Mutter, den Wünschen des Kindes nachzukommen, wenn die Geburt zu Hause erfolgte. In den meisten Krankenhäusern jedoch wird der Säugling der Mutter nach der Entbindung fortgenommen und in ein Säuglingszimmer gebracht. Man erlaubt der Mutter in den ersten vierundzwanzig Stunden nicht, das Kind zu stillen oder ihm die Flasche zu geben. Wer kann sagen, welchen bleibenden Schaden man dem Säugling damit zufügt? In manchen Krankenhäusern kann der Säugling heute bei der Mutter bleiben und befindet sich während ihres gesamten Krankenhausaufenthaltes in ihrer Pflege. Wenn man sich in einem Entbindungsheim anmeldet, ohne sich dieser Möglichkeit vorher zu versichern, muß man das dort bestehende System akzeptieren. Jede Mutter, die für ihr Kind Selbstbestimmung wünscht, sollte sich davor hüten, in ein Krankenhaus zu gehen, in dem der Säugling nicht bei der Mutter bleibt. Es ist viel besser, zu Hause zu entbinden, als den Säugling einem so grausamen System auszusetzen. Die Ernährung des Säuglings nach einem festgelegten Zeitplan ist inzwischen so heftig angegriffen worden, daß viele Ärzte dieses System aufgegeben haben. Es ist offensichtlich falsch und gefährlich. Wenn ein Kind um vier Uhr vor Hunger weint, aber nicht genährt wird, bevor der Zeitplan es anzeigt, dann wird es einer dummen, grausamen und lebensfeindlichen Disziplin unterworfen, die seinem körperlichen und geistigen Wachstum unendlichen Schaden zufügt. Das Baby muß gestillt werden, wenn es gestillt werden will (Hervorhebung im Original, L.R./K.S.). Am Anfang will es oft essen, weil es keine großen Mengen auf einmal aufnehmen kann. Dem Säugling für die Nacht eine Flasche mit Wasser zu geben, ist schlecht. Wenn das Kind nachts hungrig ist, sollte es wie gewöhnlich Nahrung erhalten. Nach zwei, drei Monaten wird es sich von selbst auf größere Nahrungsmengen einstellen, so daß die Pausen zwischen den Mahlzeiten länger werden. Mit drei, vier Monaten wird das Baby vielleicht um zehn oder elf Uhr abends und um fünf oder sechs Uhr am nächsten Morgen nach Nahrung verlangen. Doch gibt es hier natürlich keine feste Regel.
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Auf einen entscheidenden Grundsatz soll bei jeder Kindererziehung hingewiesen werden: Der Säugling darf sich nicht müde schreien (Hervorhebung im Original, L.R./K.S.). Seine Bedürfnisse müssen jedes Mal befriedigt werden. Erfolgt die Erziehung nach einem Zeitplan, dann ist die Mutter dem Kind ein paar Schritte voraus. Wie ein tüchtiger Experte wird sie genau wissen, was sie als nächstes zu tun hat. Doch wird sie ein mechanisches Baby großziehen, ein gedrilltes Baby. Ein solches Kind wird natürlich den Erwachsenen nur sehr wenig Schwierigkeiten bereiten – auf Kosten seiner eigenen natürlichen Entwicklung. Gewährt man jedoch dem Kind Selbstbestimmung, dann wird die Mutter jeden Tag, jede Minute etwas Neues entdecken. Denn nun ist sie immer einen Schritt hinter ihm zurück. Und lernt, indem sie ihn die ganze Zeit genau beobachtet. Wenn ihr Säugling eine halbe Stunde nach einer guten Mahlzeit weint, muß die junge Mutter selbst mit dem Problem fertig werden, ganz gleich, was die Zeitplanmechaniker darüber sagen. Ist ihm unbehaglich? Hat er Blähungen? Will er, daß man sich um ihn kümmert, weil er sich einsam fühlt? Die Mutter sollte mit spontaner Liebe reagieren und nicht nach irgendeiner armseligen Vorschrift aus einem Buch. Jedes Kind wird seinen eigenen Zeitplan entwickeln, wenn man es sich selbst überläßt. Das bedeutet, daß es die Fähigkeit zur Selbstbestimmung besitzt – nicht nur, solange es Milch erhält, sondern auch später bei der festen Nahrung. Daumenlutschen in der späteren Kindheit – oft bis in die Jugendzeit hinein – ist die deutlichste Folge einer Ernährung nach einem Zeitplan. Das Kind lutscht aus zwei Gründen: aus Hunger nach Nahrung und wegen der sinnlichen Freude am Saugen. Wenn ein Kind Nahrung erhält, steigt die orale Lust an und wird befriedigt, bevor der Hunger gestillt wird. Wenn nun das Baby weinen und warten muß, weil die Uhr sagt, daß es noch nicht hungrig ist, dann werden Hunger und sinnliche Lust aufgestaut. Ich habe erlebt, wie eine Mutter im Entbindungsheim ihr Kind auf Anweisung des Arztes von der Brust wegzog, weil die Zeit zum Stillen um war. Ich kann mir kein wirksameres Mittel vorstellen, um ein Problemkind heranzuziehen. Es ist fast unglaublich, daß unwissende Ärzte und Eltern in die natürlichen Triebe des Säuglings und sein Verhalten einzugreifen wagen. Mit ihren absurden Vorstellungen von Führung und Formung zerstören sie Freude und Selbstentwicklung beim Kind. Sie sind die Urheber der universalen Krankheit der Menschheit, sowohl der psychischen wie der somatischen. Später setzen Schule und Kirche den Abrichtungsprozeß fort, der gegen Freude und Freiheit gerichtet ist. Eine Mutter schrieb über ihren frei erzogenen, kleinen Jungen: Als er anfing, feste Nahrung zu sich zu nehmen, ließ man ihn zum Beispiel wählen, was und wie viel er essen wollte. Wenn er ein bestimmtes Gemüse ablehnte, wurde ihm entweder ein anderes gegeben oder manchmal sogar der Nachtisch. Sehr oft aß er dann das Gemüse, das er vorher abgelehnt hatte, nach (Hervorhebung im Original, L.R./K.S.)
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dem Nachtisch. Manchmal weigerte er sich, überhaupt zu essen – ein sicheres Zeichen, daß er nicht hungrig war. Bei der nächsten Mahlzeit aß er dann besonders gut. Allzuoft glaubt eine Mutter, sie wisse besser, was das Kind braucht, als das Kind selbst. Das ist aber nicht der Fall. Man kann leicht einen Versuch anstellen. Jede Mutter kann Eiscreme, Süßigkeiten, Vollkornbrot, Tomaten, Salat und andere Nahrungsmittel auf dem Tisch ausbreiten und das Kind frei wählen lassen. Das durchschnittliche Kind wird, wenn man es nicht beeinflußt, in etwa einer Woche eine ausgeglichene Diät wählen. Soviel ich weiß, war dies das Ergebnis von kontrollierten Versuchen, die in den USA durchgeführt wurden. In Summerhill darf selbst das kleinste Kind völlig frei zwischen den Speisen wählen, die es an dem betreffenden Tag gibt. Es stehen immer drei Hauptgerichte zur Wahl. Natürlich gibt es dadurch in Summerhill weniger Abfall als in den meisten anderen Schulen. Allerdings ist das nicht unser Motiv, denn wir wollen dem Kind helfen und nicht Lebensmittel sparen. Wenn die Kinder eine ausgeglichene Kost essen, schaden ihnen die Süßigkeiten nicht, die sie sich von ihrem Taschengeld kaufen. Kinder haben Süßigkeiten gern, denn ihr Körper verlangt nach Zucker. Und deshalb sollten sie Zucker bekommen. Wenn man Kinder zwingt, Speck und Ei zu essen, obwohl sie es nicht mögen, dann ist das absurd und grausam. Zöe konnte immer wählen, was sie essen wollte. Wenn sie eine Erkältung hatte, aß sie nur Obst und trank nur Fruchtsaft, ohne daß wir es vorgeschlagen hatten. Ich habe nie vorher ein Kind gesehen, das so wenig Interesse am Essen zeigte wie Zöe. Schokolade konnte tagelang auf ihrem Tisch liegen, ohne daß sie sie anrührte, und ein ganz ausgezeichnetes Gericht, das es zum Mittag- oder Abendessen gab, konnte sie ganz gleichgültig lassen. Wenn sie beim Frühstück von einem anderen Kind zum Spielen gerufen wurde, dann ließ sie ihr Frühstück im Stich und kam nicht mehr zurück. Aber sie war stets in ausgezeichneter körperlicher Verfassung, und wir sorgten uns deswegen nicht. Natürlich stellen die meisten Eltern das Essen nach ihren eigenen Lieblingsvorstellungen zusammen. Wenn sie Vegetarier sind, werden sie ihren Kindern Gemüse und Obst geben. Ich habe daher oft erlebt, daß Kinder von Vegetariern mit großem Behagen Fleisch verschlangen. Als ein in Diätkunde unbewanderter Laie bin ich der Ansicht, daß es gleichgültig ist, ob ein Kind Fleisch ißt oder nicht. Solange seine Kost ausgeglichen ist, dürfte es gesund sein. Ich höre nie davon, daß die Kinder in Summerhill Durchfall haben, und nur selten haben sie Verstopfung. Es gibt bei uns immer viel rohes Gemüse und Salate, doch manchmal wollen das neue Kinder nicht essen. Im allgemeinen gewöhnen sie sich mit der Zeit an dieses Essen und haben es gern. Auf alle Fälle haben die Summerhillkinder vom Küchengehen keine Ahnung und so sollte es auch sein.
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Weil Essen in der Kindheit so viel Freude macht, darf man es nicht durch Tischmanieren beeinträchtigen. Es ist traurig, aber wahr, daß jene Kinder in Summerhill die schlechtesten Tischmanieren haben, die besonders „fein“ erzogen wurden. Je mehr von einem Kind gefordert wird, je steifer das Leben in seiner Familie ist, desto schlechter sind Tischmanieren und andere Verhaltensweisen des Kindes – sobald es einmal es selbst sein darf. Man kann nichts anderes tun, als das Kind seine Verdrängungen abreagieren zu lassen, bis es als Jugendlicher sein eigenes natürliches gutes Betragen entwickelt. Nahrung ist im Leben des Kindes am wichtigsten, viel wichtiger als Sexualität. Der Magen ist egoistisch. Egoismus gehört zur Kindheit. Für einen zehnjährigen Jungen bedeutet ein Teller voll Fleisch mehr als einem alten Stammeshäuptling seine Frauen. Wenn dem Kind die Freiheit gegeben wird, seinen Egoismus auszuleben, so wie in Summerhill, dann entwickelt sich der Egoismus nach und nach zu Altruismus und natürlicher Sorge um andere.
„Je besser die Ernährung, desto zufriedener und verträglicher auch der Geist der Kranken“. Ernährung, Heilung und Pflege in den Anstalten für Epileptiker zu Bielefeld im 19. und frühen 20. Jahrhundert Bernd J. Wagner/Thomas Niekamp
Noch im späten 18. Jahrhundert waren sich gelehrte Zeitgenossen einig, dass die ambulante Krankenpflege zahlreiche Vorteile gegenüber der stationären Pflege bot. Sie war vor allem kostengünstiger, weil besondere finanzielle Aufwendungen für Gebäude und damit verbundene Sach- und Personalkosten entfielen. Auch medizinisch-therapeutisch gab es keinen Grund, einen Menschen in einem Krankenhaus zu pflegen, wenn es in seiner Wohnung möglich war. Für den bedeutenden Nationalökonomen Justus Möser (1720-1794) stellte sich die Frage, ein Krankenhaus einzurichten, daher nur im äußersten Notfall: „Ich würde außer den Fällen, wo der Abschaum einer großen Hauptstadt und die sich insgeheim darin findende äußerste Armut, die Bedürfnisse einer Armee oder starken Garnison und die Umstände gewisser Krankheiten, Spitäler notwendig machen, nie zu deren Anlegung raten.“1 Möser hatte vor allem die großen Krankenhäuser in den europäischen Zentren vor Augen, wie zum Beispiel das Hôtel Dieu in Paris oder die Charité in Berlin, in die fast ausnahmslos die ärmsten der Armen eingewiesen wurden. Diese Krankenhäuser waren vor allem in der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht zuletzt aufgrund fehlender hygienischer Grundvoraussetzungen eine Brutstätte vieler Krankheiten und damit ein Hort hoher Sterblichkeit. Angesichts vieler Menschen, die in den Jahren um 1800 aus den ständischen Sicherungssystemen fielen und in den stetig wachsenden Städten Zuflucht suchten, stand bald nicht mehr der von Möser so drastisch beschriebene „Abschaum“, sondern der Großteil der städtischen Bevölkerung, der bei Krankheiten auf fremde Hilfe angewiesen war, im Mittelpunkt des Interesses. Vor allem die Wohn- und Lebensbedingungen der Kranken sollten darüber entscheiden, ob eine ambulante Pflege möglich oder eine stationäre notwendig war. Auch für Karl Strack, einen Dozenten für Arzneiwissenschaft aus Mainz, war die stationäre Pflege ausschließlich sozial indiziert:
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Zit. bei H. Schadewaldt, Düsseldorf und seine Krankenanstalten, Düsseldorf 1969, S. 50.
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Bernd J. Wagner/Thomas Niekamp „Wenn der Kranke ein vermögender Mann ist; wenn seine Wohnung hinlänglichen Raum und solche Lage hat, daß man sie nach Erforderniß mit reiner Luft durchlüften kann; wenn er das zur Krankenpflege nöthige Hausgeräth, besonders aber genugsames Weißzeuch besitzet; wenn er Frau und erwachsene Kinder hat, die ihn mit mehr Liebe und Zuneigung als jeder gedungene Wärter pflegen, so wird er in seinem Hause ungleich besser als in einem Hospital verpflegt werden. Auch ist ein Kranker im Besitze seines Eigenthumes ruhiger als an einem fremden Orte, wo er wegen den Seinigen, die er verlassen mußte, trauriger und unruhiger ist, welches bey vielen keine gleichgültige Wirkung auf ihre Gesundheit hervorbringt. Ist aber der Kranke ein Mann, der eine enge, niedrige, feuchte und in Absicht auf die Lage eine ungesunde Wohnung hat, dem es noch dazu an Holz, Licht, Bettung, Leinwand, gehöriger Speis und Trank, an Arzneyen und Aufwartung gebricht, so ist es unstreitig besser für ihn, wenn man ihn zum Hospitale bringt.“2
Vor dem Einsetzen der Industrialisierung wurden in vielen kleineren und mittleren Städten Krankenhäuser eingerichtet, wobei die Einwohner sich oft selbst für die Gründungen verantwortlich zeigten. Nicht selten waren es wohlhabende Bürger die Krankenhäuser stifteten, vielerorts wurden zu diesem Zweck auch mitunter jahrelang Spenden gesammelt, die unter der Aufsicht einer Kirchen- oder Stadtgemeinde standen. Mit den Krankenhäusern sollte zum einen verhindert werden, dass Krankheiten, über deren Entstehung und Ansteckungsgefahr zwar viele Theorien kursierten, letztlich aber eine große Unsicherheit herrschte, sich unkontrolliert epidemisch ausbreiten konnten, wie zum Beispiel verschiedene Choleraepidemien, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein für Angst und Schrecken sorgten. Es machte einen Unterschied in der öffentlichen Wahrnehmung, ob in einer dünn besiedelten, ländlichen Region Menschen an einer Krankheit erkrankten oder die gleiche Anzahl in einem Viertel, in einem Straßenzug oder gar in einem Wohnhaus einer Stadt.3 Zum anderen herrschte die Sorge vor, dass Krankheiten der Beginn einer langjährigen Abhängigkeit des Einzelnen von öffentlichen Unterstützungen sein könnten, also der aufgrund einer Krankheit invalide gewordene Mensch der Gesellschaft Geld kostete, ohne eine Gegenleistung zu erbringen.4 Die Wiederherstellung der Arbeits2
Zit. bei C. L. Hoffmann, Bestättigung der Nothwendigkeit, einem jeden Kranken in einem Hospitale sein eigenes Zimmer zu geben. Gegen Herrn Karl Strack, Mainz 1788, S. 31 f. 3 J. Bleker, Die Stadt als Krankheitsfaktor. Eine Analyse ärztlicher Auffassungen im 19. Jahrhundert, in: Medizinhistorisches Journal 18 (1983), S. 118-136. 4 Mit dem Wiener Krankenhausarzt Johann Peter Xaver Fauken hatte der Staat die Pflicht, die „armen Kranken gut zu verpflegen (und) dem Armen die Gelegenheit zu benehmen, sich zum Siechen machen zu lassen.“ Es werde zwar immer Sieche und Unheilbare geben, aber ihre Anzahl dürfe nicht erhöht werden, „denn ein jeder Unheilbarer (schade) dem Staat zweyfach, weil der Staat ihn ernähren muß, und dieser jenem keinen Nutzen verschaffen kann". J. P. X. Fauken, Entwurf zu einem allgemeinen Krankenhause, Wien 1784, S. 10 f. Die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit als Grundlage, ohne fremde Hilfe leben zu können, zieht sich wie ein roter Faden durch die Literatur über den Sinn und Zweck von Krankenhäusern. Für Johann Georg Reyher gehörten zum Beispiel auch die bedürftigen Kranken „zur
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fähigkeit als oberstes Prinzip der Krankenhäuser bedeutete in der Regel gleichsam den Ausschluss von chronischen oder nicht heilbaren Krankheiten. 1830 begründete der ärztliche Leiter des Paderborner Krankenhauses dieses Aufnahme- bzw. Ausschlusskriterium: „Da aber das Krankenhaus […] nicht als ein Siechenhaus betrachtet werden kann, und es unrecht wäre, wenn ein Kranker während eines ganzen Jahres ein Bette besetzt hielte, in welchem sonst 12 andere geheilt werden können, so bleiben Kranke, welche nach der pflichtmäßigen Ueberzeugung des Direktors an gar zu langwierigen Krankheiten leiden […] sowie unheilbare Kranke von der Anstalt ganz ausgeschlossen.“5 Diese vor allem seit Mitte des 19. Jahrhunderts von den Krankenhäusern rigide angewandte Praxis führte auch zur Einrichtung von speziellen Heilanstalten wie die der „rheinisch-westfälischen Anstalt für Epileptische zu Bielefeld“, die 1865 von Pastor Friedrich von Bodelschwingh gegründet wurde. Dr. Adolf Bertelsmann, der in den 1870er Jahren dort als Anstaltsarzt tätig war, berichtete rückblickend, dass manche „das neue Institut für eine müßige und überflüssige Erfindung ansahen.“ Das lag nicht zuletzt daran, dass Epilepsie in der vorherrschenden Meinung eine Geisteskrankheit war bzw., wie Bertelsmann es formulierte, „die Epileptischen mit den Blödsinnigen zusammengeworfen“ wurden.6 Menschen, die unter Epilepsie litten, wurden nach diesem Verständnis in so genannte „Irrenanstalten“ eingewiesen, die nicht mehr als Verschlussanstalten waren, in denen die Kranken keinerlei oder im schlimmsten Fall unsinnigen Therapien ausgesetzt waren. Die Anstalt für Epileptische zu Bielefeld, die bald unter dem Namen „Bethel“ firmierte, war von Beginn an nicht nur Heilanstalt, sondern auch Pflegeanstalt, in der manche Patienten bis zu ihrem Lebensende blieben. Für Bertelsmann waren dafür vor allem Familien verantwortlich, die sich weder an einen Arzt noch an die Anstalt wandten, sondern stattdessen das erkrankte Familienmitglied aus Scham versteckten oder „von Geheimmitteln und Quacksalbereien Hülfe erwarteten“. Daher musste Bethel verhältnismäßig oft Patienten aufnehmen, „bei welchen mit oder in Folge der Epilepsie noch andere schwere Leiden, wie Geistesstörungen, Lähmungen, Blindheit usw. einhergehen […] als relativ Gesunde“, worunter er Kranke verstand, die nur an Epilepsie litten.7 In der Anstalt wurden die Patienten nach den Geschlechtern getrennt in Gruppen aufgeteilt, die den prognostizierten Heilerfolg oder den notwendigen Pflegeaufwand spiegelten. Langfristig blieben die so genannten „blödsinnigen epileptischen Personen“, die „durch ihr zeitweiliges Lärmen und Toben den anderen Kranken nicht nur sehr lästig, sondern auch schädKette des Ganzen“, die „ihrem Vaterlande nützliche Geschöpfe seyn“ könnten, „wenn sie nicht der kranke Körper an der Erfüllung ihrer Pflichten hinderte“; J. G. Reyher, Ueber die Einrichtung kleiner Hospitäler in mittlern und kleinern Städten, Hamburg u. Kiel 1784, S. 86. 5 Erster Jahresbericht für das neue Krankenhaus in Paderborn, Paderborn 1832, S. 31 f. 6 Adolf Bertelsman, Aerztlicher Bericht über die rheinisch-westfälische Anstalt für Epileptische zu Bielefeld nebst Beobachtungen und Leistungen vom Jahre 1875-1878, Bielefeld 1878, S. 3 f. 7 Ebd., S. 9.
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lich, ja oft gefährlich werden“ konnten. Davon getrennt waren Patienten untergebracht, die nur noch wenige Anfälle bekamen und sogar schon anfallsfrei waren. Im benachbarten Diakonissenhaus waren nicht zuletzt „weibliche Epileptische mittlerer oder höherer Stände in einigen Separatzimmern“ untergebracht. Alle diese Gruppen bildeten altersübergreifend vom Kind bis zum älteren Menschen „Familien“, die ihre Mahlzeiten gemeinsam einnahmen.8 Bertelsmann betonte, dass in Bethel „von vornherein“ das Prinzip galt, „den Kranken eine gute, nahrhafte und schmackhafte Kost zu verabreichen.“ Man habe auch in anderen Anstalten beobachten können, dass es einen Zusammenhang zwischen der Qualität des Essens und dem sozialen Verhalten der Patienten gäbe: „je besser die Ernährung, desto zufriedener und verträglicher (sei) auch der Geist der Kranken“. In Bethel bekamen die Patienten „eine einfache, kräftige und nicht schwer verdauliche Kost“, die abwechslungsreich und „den Jahreszeiten angemessen“ war. Und Bertelsmann berichtete: „Die Patienten sind größtentheils sehr zufrieden mit der Beköstigung und nur selten werden Klagen darüber laut. Der beste Beweis, dass die Küche eine gute und auch hinreichende ist, wird aber dadurch geliefert, dass ein großer Theil der Kranken sich nach einigen Monaten in der Anstalt sichtlich erholt. Jedenfalls steht fest, dass viele in der Anstalt eine bessere Kost erhalten, als sie es zu Hause gewohnt gewesen sind.“ Diese Beobachtung machten im 19. Jahrhundert fast alle Krankenhausärzte, deren aus den Unterschichten kommende Patienten nicht selten Ernährungsmängel aufzeigten. Bereits im Gründungsjahr der Anstalt wurde auf die Ernährung der Patienten großer Wert gelegt. „Die geeignete Kost und das richtige Maß für jeden einzelnen Zögling zu finden, haben wir uns stets angelegen sein lassen, da das Befinden der Kranken so vielfach von richtiger Ernährung abhängt, und sich Verstöße in dieser Beziehung so schwer rächen. Wir geben unseren Kranken hauptsächlich Brod, Fleisch, Milch, Suppen und leicht verdauliche Gemüse.“9 Ohne genauer darauf einzugehen, wies Bertelsmann abschließend darauf hin, dass Alkohol „im Allgemeinen strenge untersagt“ war, während „der Genuss des Tabaks im mäßigen Grade gestattet“ wurde.10 Im 19. Jahrhundert gehörten vor allem Wein- und Kornbrand sowie Obstschnäpse zu den von den Ärzten kritisierten hochprozentigen Alkoholika, während Wein, Sekt und auch Bier in geringen Maßen sogar als Heilmittel verordnet werden konnten. So erhielt beispielsweise um 1880 ein Patient im Osnabrücker Städtischen Krankenhaus morgens zwei Eier extra und eine Flasche Bier, nachdem er dem Oberarzt erzählt hatte, dass er sich schwach fühlte.11 Und im Detmolder Krankenhaus verkündete zur gleichen Zeit der leitende 8
Ebd., S. 7 Verwaltungsbericht der Anstalt für Epileptische 1867/68, S. 14, in: Hauptarchiv Bethel (im Folgenden zit.: HAB), Bibliothek. 10 Adolf Bertelsmann, Bericht 1875-1878, S. 9 f. 11 C. Fischer, Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters, Bd. 1, Leipzig 1908, S. 318-323. 9
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Arzt, dass er bei Typhuskranken mit Champagner „so schöne Erfolge“ erzielt habe.12 In Bethel war damit aber bald Schluss. 1879 hieß es, dass es die Aufgabe der Anstalt sei, „alle Momente, welche Reizungen des an und für sich krankhaften Gehirns der Epileptischen hervorrufen können, hintan zu halten“ seien. „Wir müssen also vor allen Dingen consequent alle das Gefäß- und Nervensystem erregenden Getränke aufs Strengste untersagen, den Alkohol in jeder Form verbieten, ebenso den Genuß von Thee und Kaffee in concentrirterer Lösung. Wir müssen ferner starken Tabaksgenuß, dem so gern von vielen Epileptischen gefröhnt wird, für direct schädlich erklären und denselben auf geringen Consum beschränken.“13 Im gleichen Bericht wird erstmals erwähnt, dass Bromkalium bzw. Kaliumbromid als Beruhigungsmittel eingesetzt worden ist. „Die Wirkung dieses Medicaments“ beruhe darin, dass „es die krankhafte Erregung der motorischen Gehirnzellen herabsetzt und durch diese beruhigende Wirkung die Summation der Reize im Gehirn, welche zur Auslösung eines epileptischen Anfalls erforderlich sind, herabstimmt oder beseitigt. Es entfaltet seine Wirkung gegen die Epilepsie nur in großen Dosen und bei anhaltendem Gebrauch und vermögen wir, durch allmähliche Steigerung der Dosis, der Stärke der Reizungs- und Spannungszustände im Gehirn das Gleichgewicht zu halten und auf diese Weise oft auf Wochen und Monate einem Ausbruch der Anfälle vorzubeugen. Bedenkt man nun, dass mit Abstumpfung eines Reizes die Empfindung desselben allmählich erlöschen kann, so dass selbst bei Wiedererwachen dieselben seine Fortpflanzung und Ausdehnung nicht mehr die frühere Energie besitzt, so resultiert hieraus nicht allein die temporär, sondern auch die andauernd heilende Wirkung des Medicaments.“ Und euphorisch urteilte der Bericht: „Das Bromkalium ist in der That das einzige Medicament, dem in Bezug auf die Epilepsie große heilsame Kraft beizumessen ist“. Dagegen wurden mit Bromnatrium, Bromammonium, Atropin, Curare, Valeriana und Zinkoxyd „keine nennenswerte Erfolge erzielt“, obwohl Kuren mit diesen Substanzen „viel gerühmt“ wurden.14 Das Grundverständnis, dass bei Epileptikern die Reize und Spannungen in einem Gleichgewicht zu halten sind, hatte Auswirkungen auf den gesamten Heilungsund Pflegeplan der Anstalt, der eine Nähe zum diätetischen Diskurs in den Jahren um 1800 aufzeigt. Das Gleichgewicht, die Ausgewogenheit, die Reduzierung jeglicher Spannungen und Reize sollte den Alltag der Patienten bestimmen, der letztlich nur noch in der Anstalt möglich war: „Die Gewöhnung an eine regelmäßige Lebensweise, geregelte Thätigkeit, bestimmte Diät und den Umständen nach variierende Medication kann nicht in der Privatcur, sondern nur in einer Anstalt consequent durchgeführt werden und deshalb sind hier die besten Resultate ermöglicht, 12
Petri, Geschichte des Landkrankenhauses zu Detmold. Zum 25jährgen Jubelfest 1887, Detmold 1888, S. 36. 13 Verwaltungsbericht der Anstalt für Epileptische 1878/79, S. 14, in: HAB, Bibliothek. 14 Ebd., S. 12; Verwaltungsbericht der Anstalt für Epileptische 1883/84, S. 13, in: HAB, Bibliothek.
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die wir bei schweren Krankheiten gegenüber überhaupt zu erzielen im Stande sind […] Für viele oder vielmehr für die meisten wird sie freilich keine Heilanstalt, sondern eine Pflegeanstalt werden und bleiben, aber fast alle werden in derselben wieder Lust und Liebe zum Leben und zum Schaffen gewinnen, wenn sie geborgen im Schutze der Anstalt auch nicht wieder heraustreten können in das für sie zu stürmische Treiben der Außenwelt, so werden sie sich dafür um so längere Zeit ihr geistiges Vermögen, ihr höchstes irdisches Gut, erhalten.“15 Vor diesem Hintergrund sollten die Mahlzeiten nicht mehr nur noch „nahrhaft und schmackhaft“ sein, sondern auch „leicht verdaulich, reizlos und wenig gewürzt“, kurz, eine Kost, die „den Magen nicht beschwert.“ Und wenn es dann doch zu „Verdauungsstörungen“ kommen sollte, mussten auch diese „schnell beseitigt“ werden. Der Diätetik folgend, sollte bei der Beschäftigung der Patienten „nur dafür Sorge“ getragen werden, „dass die Epileptischen nicht anhaltend Arbeiten sich hingeben, bei denen sie lange mit gesenktem Haupte stehen müssen, dass sie an heißen Tagen weniger anstrengend beschäftigt werden und öfter längere Ruhepausen eintreten lassen“. Wenn sich dennoch schädliche Reize nicht vermeiden ließen und Medikamente, also Bromkalium, keine Linderung verschafften, dann, so empfahlen die Anstaltsärzte, leistete „oft eine kräftige Ableitung vom Gehirn durch Haarseil, Fontanellen, kalte Douchen auf Hinterkopf und Nacken noch Wesentliches.“16 Während in öffentlichen Krankenhäusern sich die Beschäftigung der Kranken häufig auf weibliche Rekonvaleszenten beschränkte, die in der Küche zum Kartoffelschälen und Gemüseputzen eingesetzt wurden, mussten in den 1860er Jahren in der Anstalt für Epileptische Litzenschuhe, Stroh- und Binsenmatten geflochten oder im Garten und auf den Feldern gearbeitet werden. Dass die Produkte der Anstaltsküche zugute kamen, bedarf keiner besonderen Erwähnung.17 Zwanzig Jahre später wurden Männer nicht nur „in allen nur denkbaren Handwerksarbeiten“ beschäftigt, sondern auch in einem „kaufmännischen Laden mit Lager“ und mit „Bureau-Arbeiten der verschiedensten Art“. Mit Stolz verkündete die Anstalt, dass „24 verschiedene Beschäftigungszweige in der Anstalt für Männer vorhanden“ waren. Dagegen reduzierten sich die Betätigungsfelder für Frauen auf „Handarbeiten“, die, einem Bericht zufolge, „für unsere Kranken vollkommen ausreichend“ waren, „da es immer genug Beschäftigung für sie“ gab.18 Kinder, die „bildungsfähig“ waren, wurden von Beginn an „in den gewöhnlichen Fächern der Volksschule“ unterrichtet. Für viele war es der erste Kontakt mit einem Bildungsangebot, da öffentliche Schulen in der Regel Epileptiker vom Unterricht ausschlossen. Die 15
Verwaltungsbericht 1878/79, S. 15. Ebd. S. 14 f. 17 Verwaltungsbericht der Anstalt für Epileptische 1872, in: Bielefelder Sonntagsblatt vom 16.2.1873 (HAB, Bibliothek) 18 Verwaltungsbericht der Anstalt für Epileptische 1883/84, S. 7 f. 16
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Anstaltsleitung betonte, dass für sie „die Schule als Unterrichts- und Erziehungsanstalt“ das wichtigste Feld der Arbeit mit Kindern in Bethel war.19 In den 1880er Jahren beteiligten sich die Kinder auch an dem Bau der Zionskirche. Es „war oft amüsant anzusehen“, berichtete die Anstalt 1884, „wenn die kleinen Mädchen und Knaben entweder in zierlichen Schiebekarren den Sand oder die Steine den hohen Berg hinaufschoben oder, auf den Armen zwei oder drei Backsteine tragend, den Berg erklommen, um auf ihre Weise und nach ihren Kräften ihr Interesse an der Arbeit und dem Baue ihrer neuen Kirche zu bethätigen.“20 Die Ärzte ließen keine Zweifel darüber aufkommen, dass der „regelmäßigen Lebensweise“ der Kranken „so günstige Resultate“ des allgemeinen Gesundheitszustands zu verdanken waren. „Bei der täglich vorgeschriebenen Arbeit, vor allem der körperlichen Arbeit im Freien, welche die Epileptischen nicht zum Grübeln oder Trübsinn kommen lässt, bei dem vielen Spielen und Spazierengehen der Kinder im Freien wird meist auch der schwächlich ankommende Kranke kräftig und fröhlich. Von kräftiger Nahrung unterstützt, härtet sich der Körper der Arbeiter in hohem Maße ab und bietet auf diese Weise den Krankheitseinflüssen keinen günstigen Boden.“21 Seit den 1880er Jahren setzte eine Verwissenschaftlichung der Krankenernährung ein, die ihren Ursprung in den Universitätskliniken hatte. Ernährungswissenschaftler empfahlen zum Beispiel fleischarme Kost für epileptische Kranke und verwiesen auf Feldstudien, nach denen Patienten bei einer „vegetabilischen“ Ernährung „viel seltener von Krämpfen heimgesucht“ wurden „als bei der Fleischkost“. In Bethel vertraute man auf die mittlerweile zwanzigjährige Erfahrung. „Das Richtige liegt meiner Ansicht nach in der Mitte, wie es bei uns in Bethel gehalten wird“, wehrte ein Anstaltsarzt diese Neuerungen ab, „wobei sich die Kranken relativ wohl fühlen, zufriedenen Gemüts sind und sich eines guten Aussehens erfreuen. Denn darüber herrscht nur eine Stimme, dass unsere Kranken im Ganzen gut und wohl genährt sind, und daß die meisten der Aufgenommenen bald ein besseres und gesunderes Aussehen bekommen. Der beste Beweis dafür, daß die Ernährung eine gute sein muß.“22 Die Betheler Anstaltsärzte standen mit ihrer Skepsis gegenüber der wissenschaftlichen Krankenkost keineswegs allein. Obwohl eine besondere Ernährung fordernd, stellte 1899 ein bedeutendes Handbuch der Krankenversorgung und Krankenpflege fest, dass der „gewöhnliche Mensch […] durch nichts mehr verstimmt“ werde „als durch zu klein ausgefallene Portionen der ihm verordneten Speisen“, und empfahl, dass für „die Beurteilung der Beschaffenheit der Speisen
19
Verwaltungsbericht der Anstalt für Epileptische 1872. Verwaltungsbericht der Anstalt für Epileptische 1883/84, S. 8. 21 Ebd. S. 9. 22 Verwaltungsbericht der Anstalt für Epileptische 1886/87, S. 5, in: HAB, Bibliothek. 20
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[…] Nase, Zunge und Auge“ helfen würden.23 Drastischer kanzelte ein Hamburger Arzt, der um 1900 ein kleines Krankenhaus unterhielt, die wissenschaftliche Krankenkost in den großen Kliniken ab: „Was die Ernährung der Kranken angeht, so mögen die Aktionäre von chemischen Fabriken sowie die großen Experimentatoren, welche die Hunderte künstlicher Ernährungsmittel durch den Menschen gejagt haben, verzeihen, wenn wir noch nicht einen Pfennig dafür ausgegeben haben. Dagegen haben wir es vorgezogen, die ganz gemeinen Nahrungsmittel wie Milch, Eier, Brot und Fleisch möglichst gut zu erhalten.“ Und voller Selbstbewusstsein fügte er hinzu: „Dass das Essen, von einer guten Köchin schmackhaft zubereitet, direkt von der Küche jedem Einzelnen vorgesetzt, ganz anders mundet wie bei dem Futterbetriebe der großen Anstalten, liegt auf der Hand.“24 Da die Medikation der Anstalt für Epileptische im 19. und frühen 20. Jahrhundert sich weitestgehend auf Beruhigungsmittel beschränkte, mit denen „die Anfälle in ausreichender Weise unterdrückt“ werden sollten, und sich eigentlich nur die Frage stellte, das richtige Maß und die wirkungsvollste Mischung von Bromsalzen zu erzielen, um „die schädlichen Folgen“ einer Überdosierung zu vermeiden,25 hörten die Ärzte doch auf die Empfehlung, salzarm zu kochen. Aber als die „Kurversuche nach der Methode Toulouse und Richet mit salzarmer Kost“ um die Jahrhundertwende „nicht zu befriedigenden Ergebnissen“ führten, wurden diese wieder aufgegeben.26 Allerdings nur vorübergehend. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte Bethel zur salzarmen Ernährung wieder zurück. 1956 setzte sich der Arzt Dr. Winkler für spezifische „Ernährungsforderungen für die Anstalt Bethel“ ein. Er führte aus, dass es zu den Aufgaben eines Arztes gehöre, „aus den Verpflegungsgrundsätzen für gesunde Menschen im Laufe der Jahre eine Kostform für unsere Kranken herauszuarbeiten, die dem Krankheitsbild gerecht wird.“ Bei den Epileptikern gehörten nach Winckler dazu u.a. salzfreies Brot, salzfreie Wurst und salzfreier Brotbelag. Um eine „weitgehende Einschränkung des Kochsalzverbrauches“ zu erreichen, wollte er „Hauseltern“ und Küchenkräfte mit dem „Endziel der Schaffung eines geistigen Begriffs von der salzarmen Trockenkost“ fortbilden lassen.27 Kurze Zeit später beklagte sich ein Patient bei einem Diakon über das salzarme Essen: „Hausvater, wir haben so wenig vom Leben und nun will man uns das bisschen Salz 23
F. Curschmann, Eggebrecht, Allgemeine Krankenhäuser. Verwaltung, in: Handbuch der Krankenversorgung und Krankenpflege, Berlin 1899, Bd. 1, II. Abteilung, S. 844-886, Hier S. 880. 24 Wilmanns, Krankenkassen und Krankenhäuser größerer Betriebe, Berlin 1901, S. 27. 25 Verwaltungsbericht der Kolonie für Epileptische für das Jahr 1889, erstattet von Pastor von Bodelschwingh, Bielefeld 1889, S. 10 f. 26 Separatabdruck aus dem Verwaltungsbericht der Anstalz Bethel bei Bielefeld für das Jahr 1905/06, S. 3. Die französischen Nervenärzte hatten 1899 die metatrophische Behandlungsmethode bei Epilepsie vorgestellt, die auf der Behandlung mit Bromsalzen bei gleichzeitiger Entziehung des Kochsalzes aus der Nahrung basiert 27 Dr. med. Winckler, Ernährungsforderungen für die Anstalt Bethel, vom 6. Juni 1956, in: HAB, Bethelkanzlei 26; Schreiben von Dr. Winckler an den Vorstand der Anstalt Bethel vom 3. Dezember 1954, in: ebd.
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im Essen auch noch nehmen. Es ist doch egal, ob wir 14 Tage länger bleiben oder nicht. Das Salz sollte man im Essen lassen.“28 Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Patient nach seiner Klage von der Diät ausgenommen wurde, war sicher gering. Zu groß war die Überzeugung, mit kochsalzarmer Nahrung den Epilepsieverlauf beeinflussen zu können. Weil die beabsichtigte Wirkung aber letztlich doch nicht nachweisbar war, nahm man Jahre später von dieser Ernährungsweise Abstand. Gleichwohl gibt es in der Epilepsieforschung seit Beginn der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts neben chirurgischen Eingriffen auch erfolgreiche Therapien, die mit einer speziellen Diät einhergehen. 1993 erzielte Dr. John M. Freeman am Johns Hopkins Hospital in Baltimore (USA) gute Erfolge bei Kinder und Jugendlichen mit einer kohlehydratarmen und fettreichen Diät. Diese „Ketogene Diät“ verlangt von den Patienten eine totale Umstellung ihrer bisherigen Ernährungsgewohnheiten. „Cured by Butter, Mayo and Cream“, „High Fat and Seizure Free“, so oder ähnlich lauteten die Schlagzeilen in den Medien, die die Erfolge der Methode beschrieben. Kurz gesagt: Liegen nach einer zweijährigen Diätphase keine Anfälle mehr vor, kann von einer Heilung der Patienten ausgegangen werden.29 Diese Diät wird auch in Bethel bei Kindern eingesetzt. Seit der Gründung der von Bodelschwinghschen Anstalten wurde der Ernährung der Patienten große Bedeutung beigemessen. Im Einklang mit einer gesunden Umwelt, gutem Wasser, Ruhe, einer reizarmen Umgebung, körperlicher Arbeit und entsprechender Medikation sollten Heilerfolge bei der Behandlung von Menschen mit Epilepsie erreicht werden. „Exzesse“ wie z. B. salzloses Brot, salzfreie Margarine, salzfreier Brotbelag und Wurst waren Ergebnis der zeitgenössischen wissenschaftlichen Erkenntnisse und muten aus heutiger Sicht befremdlich an. Heute greift Bethel die neuesten Erkenntnisse der Ernährungsforschung auf, um für die Patienten die bestmögliche Versorgung zu gewährleisten. Außer speziellen Diäten, wie der Ketogenen Diät, bietet die Zentralküche Bethels, die so genannte „Bergküche“, alle gängigen Diäten für ihre Patienten an, ob arm oder frei an Gluten, Lactose, Fructose, Cholesterin und Salz, ob für Diabetiker oder Bluthochdruckpatienten. Vier Diätassistentinnen und sechs Köche versorgen jeden Mittag 2300 Personen, von denen 250 eine spezielle Diätkost erhalten. Zur Ernährung gehört heute auch selbstverständlich eine Diätberatung, die z. B. auf die Folgen der Medikation, wie Gewichtszunahme, reagiert. Die Ernährung in den von Bodelschwinghschen Anstalten entspricht somit nicht nur der Praxis der großen Krankenhäuser und Kliniken, sie spiegelt auch die Forderungen der Ernährungswissenschaftler wider, die sich an alle Menschen richten. Vor dem Hintergrund des historischen Rückblicks auf Paradigmen des Essens in der Anstalt Bethel wird man allerdings skeptisch gegenüber den medizinischen 28 29
Bericht von Diakon Heinrich Heiner vom 20. Juni 1956, in: ebd. John Mark Freeman, The Ketogenc Diet. A Treatment for Epilepsy, New York 2000, S. 5 f.
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Positionen zum gesunden Essen, die auch heute als „immerwährende“ neueste wissenschaftliche Erkenntnisse präsentiert werden, deren Gültigkeit allerdings nur von kurzer Dauer ist und gewissen Zyklen unterliegt:
Salzarme Kost gilt mittlerweile als Verstärker für das „ungesunde“ LDL Cholesterin, gesättigte Fettsäuren – die klaren Verursacher allen Ungemachs im Umfeld kardiologischer Probleme – mutieren zu lebensnotwendigen Elementen Rohkost und Vollkornmehl – unverzichtbarere Bestandteile einer gesunden Ernährung – verursachen Alarm im Darm und anderes Ungemach – Galt die unumstößliche Regel, dass Übergewicht durch Fettreduktion in den Griff zu bekommen sei, tritt nunmehr wieder eine modifizierte Form der fettreichen und kohlehydratarmen Atkinsdiät in den Vordergrund – übrigens in der verschärften Form auch in der Epilepsieforschung als gemilderte Variante der Ketogenen Diät. Vielleicht erweist sich letztlich die Erkenntnis des Lebensmittelchemikers Udo Pollmer als richtig, der sich entschieden gegen Diäten, salzarme Kost, Mittelmeerdiäten usw. ausspricht. Seine Empfehlung: Essen, was man mag und was bekommt! Und der Genuss (!) von Alkohol hat auch noch niemandem geschadet!
II
Kochen und Essen als Ereignisse im Alltag der Sozialen Arbeit
Das Frühstück der Mütter – Elternbildung mit benachteiligten Müttern in Hamburger Eltern-KindZentren Benedikt Sturzenhecker
Seit 2007 wurden in Hamburg, finanziert durch die Hansestadt, Eltern-KindZentren aufgebaut (zur Zeit sind es 22), die angeschlossen an Kindertageseinrichtungen besonders in belasteten Stadteilen benachteiligte Eltern erreichen sollen, um deren Erziehungskompetenz zu stärken und angesichts von problematischen Lebensverhältnissen zu beraten und zu unterstützen. 18 dieser Einrichtungen wurden im zweiten Halbjahr 2008 durch eine Projektgruppe unter Leitung des Autors evaluiert. Dabei wurde deutlich, dass die Eltern-Kind-Zentren besonders benachteiligte Mütter erreichen und erfolgreich Elternbildung im Sinne der Ziele eröffnen können. In Rahmen der Evaluation zeigt sich das von einem Großteil der Einrichtungen angebotenen niederschwellige Elternfrühstück als ein wichtiges konzeptionelles Element, das besonders in der Lage ist auf die Bedarfe und kulturellen Stile der benachteiligten NutzerInnen einzugehen. Im Folgenden wird dieses Beispiel einer sozialpädagogischen Elternbildung, die zentral auf das methodische Setting gemeinsamen Essens setzt analysiert. Dazu werden nach einer kurzen Einführung in den Auftrag der Eltern-Kind-Zentren und einer Schilderung der verwendeten Evaluationsmethoden zunächst die erhobenen Lebenslagen und erzieherischen Haltungen und Handlungen der NutzerInnen geschildert. In Bezug darauf wird dann gezeigt, wie über das Frühstück pädagogisch eine Situation geschaffen wird, die die Mütter erreicht und in der ihre Selbstbildung (besonders zum Thema familiärer Erziehung) assistiert werden kann. Das Konzept Eltern-Kind-Zentren in Hamburg Die Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft vom 6. März 2007 (Drucksache 18/5929) „Kitas zu Eltern-Kind-Zentren entwickeln“ beinhaltet das Konzept der Eltern-Kind-Zentren (im Folgenden abgekürzt als EKiZ). Folgende wichtigen Ziele der Einrichtungen werden genannt: Die Eltern-Kind-Zentren sollen Familien mit Kindern unter drei Jahren, die bisher keinen Anspruch auf eine öffentlich geförderte Kindertagesbetreuung (Kita oder Kindertagespflege) haben oder diese nicht geltend machen, durch gezielte Förder-, Bildungs- und Beratungsangebote stärken und aktivieren. Sie sollen vor allem solche Familien erreichen, deren Lebenssituation und -umfeld einer gedeihlichen kindlichen Entwicklung nicht hinreichend för-
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Benedikt Sturzenhecker
derlich ist. […] Die EKiZ sollen den Familien möglichst früh Unterstützung und Beratung anbieten, damit Prozesse der Destabilisierung und Desintegration aufgehalten werden.“ (Drucksache 18/5929, S. 1-2). Dazu wurden in sozial besonders benachteiligten Stadteilen (bis Februar 2009) durch verschieden Träger insgesamt 22 EKiZ eröffnet, die an Kindertageseinrichtungen angegliedert sind. Die Finanzierung der EKiZ in Hamburg mit einem monatlichen Zuschuss von 4030 € (und einmaliger Anschubfinanzierung von 20.000 €) hat besonders angesichts ihrer Breite bundesweit einmaligen Status. Damit werden pro Einrichtung eine halbe Stelle, sowie monatlich 8 Leitungsstunden, Honorar- und Sachmittel finanziert. Das Program der EKiZ beinhaltet das niederschwellige Elterncafé mit Frühstück (und oft auch Mittagessen), Beratungs- und Bildungsangebote für Eltern und Spiel- und Fördergelegenheiten für die Kinder. Grundsätzlich sind die EKiZ an drei Vormittagen in der Woche geöffnet. Die Zahl der teilnehmenden Eltern und Kinder liegt im Durchschnitt aller Einrichtungen etwa bei 14 Erwachsenen und nochmal gleichvielen Kindern; wo es die Räume zulassen werden auch über 20 Eltern und 20 Kinder erreicht. Die Einrichtungen kooperieren mit vielen Organisationen der Familienund Kinderförderung in ihrem Stadtteil und besorgen oder vermitteln je nach erkanntem Bedarf der NutzerInnen spezifische Beratungen und Hilfeleistungen. Zur Evaluation der Eltern-Kind-Zentren Zwischen Juli und August 2009 wurden im Auftrag der zuständigen Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz 18 Einrichtungen durch ein vom Autor und Dr. Elisabeth Richter geleitetes Projektteam der Uni Hamburg evaluiert. Dabei wurden Leitfadeninterviews und Gruppendiskussionen mit MitarbeiterInnen, Leitungspersonen, Honorarkräften und Kooperationspartnern durchgeführt. Der folgende Text verwendet Passagen aus dem Abschlussbericht des Projekts (vgl. Sturzenhecker 2009). Teil der Untersuchung waren auch mehrere teilnehmende Beobachtungen in den Einrichtungen währen der Öffnungszeiten und Gespräche mit NutzerInnen – an denen sich auch der Autor beteiligt hat. Auf Grund dieser Feldbesuche wurde von allen EvaluatorInnen immer wieder das gemeinsame, den Tag eröffnende Frühstück als zentrale Arbeitsweise der EKiZ bezeichnet. Im Rahmen der allgemein durch die Evaluation den EKiZ attestierten erfolgreichen Arbeit, wird im Folgenden besonders auf die Bedeutung des Frühstücks für gelingende Elternbildung mit Benachteiligten fokussiert.
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Zur sozioökonomischen Lebenslage von NutzerInnen der Hamburger Eltern-Kind Zentren Über 95% der BesucherInnen der EKiZ sind Mütter (deshalb wird im Folgenden nur die weibliche Form verwendet) und für durchschnittlich etwa zwei Drittel der Nutzerinnen ist eine prekäre Lebenslage typisch. Die hauptsächliche Besucherinnengruppe ist häufig durch die Lebenslage Armut gekennzeichnet. Wissenschaftlich wird von relativer Armut gesprochen, wenn ein Haushalt 50 % des Durchschnittsäquivalenzeinkommens zur Verfügung hat bzw. Sozialhilfe oder Leistungen nach dem Asylbewerbergesetz bezogen werden. Die Armutslage der EKiZ-Besucherinnen ist häufig bedingt durch die Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen wie Hartz IV bzw. ALG II oder von Leistungen nach dem Asylbewerbergesetz. Hinzu kommt, dass viele von ihnen alleinerziehend sind und von den Vätern kaum oder nicht verlässlich finanziell unterstützt werden. Daraus folgt bekanntermaßen ein Armutsrisiko (vgl. z. B.: Palentien 2005, S. 154). Zu diesen Armutslagen kommen auch oft Wohnungsnot oder Wohnungsprobleme hinzu. Die Nutzerinnengruppe ist ebenfalls durch Bildungsarmut gekennzeichnet, verfügt selten über eine gute Schul- oder Berufsausbildung, und immer wieder sind Fälle von Lese- und Schreibproblemen bis hin zum Analphabetismus bei diesen Besucherinnen zu finden. Die Armutslage wird in vielen EKiZ auch deutlich an dem offensichtlichen Hunger der Nutzerinnen und ihrer Kinder. Mehrfach wird von den MitarbeiterInnen berichtet, wie wichtig das kostenlose oder sehr günstig angebotene Essen im EKiZ für diese Besucherinnen und ihre Kinder ist. Auch die kostenlose Verteilung von Essen oder die Vergabe von Kleidung wird stark in Anspruch genommen. Hinzu kommt immer wieder Ver- und Überschuldung der Familien. In den EKiZ fällt auf, dass wenn diese Situation eintritt, mit einer Eskalation der Probleme der Familie oder Mütter und auch mit einer Verschlechterung der erzieherischen Zuwendung zu rechnen ist. Auch bei den Besucherinnen der EKiZ geht die Lebenslage Armut häufig mit der der Migration einher (wie auch andere Studien belegen: vgl. Boos-Nünning 2005, Palentin 2005). Zu den Wirkungen solcher Lebenslagen kann gesagt werden, dass ökonomische Armut alleine noch keine Ursache für mangelnde Förderung oder gar Vernachlässigung von Kindern sein muss. Armut und ihre Folgen bei Kindern sind als eine komplexe Situation zu verstehen, in der verschiedenste Faktoren und Prozesse einander potenzierend, aber auch deeskalierend wirken können. Problematische Folgen von Armut haben „Möglichkeitscharakter“ (Butterwege/Klundt/Zeng 2005, S. 149) und sind nicht deterministisch zu verstehen. Auf der Basis dieser Einschränkungen kann man aber doch eine ganze Reihe von potenziellen Folgen von Armut erkennen. In der Auswertung mehrerer Untersuchungen zum Thema (besonders
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auch in Bezug auf Kinder von Migrantenfamilien) stellte Boos-Nünning Folgen von Armut für Kinder zusammen. Demnach ist ihre Situation gekennzeichnet durch: „ - die unmittelbar auf die einkommens- und vermögensschwache Lebenssituationen zurückführenden Einschränkungen im Wohnen, in der Kleidung und beim Taschengeld; - die schwierigen Ausgangsbedingungen für Bildung und kognitive Entwicklung, einschließlich des Erwerbs von sprachlichen und kulturellen Kompetenzen; - die Unterversorgung im sozialen Bereich, insbesondere in der Pflege sozialer Kontakte, aber auch in der Versorgung mit notwendigen Hilfen; - die schlechteren Bedingungen in der gesundheitlichen Vorsorge und Versorgung sowie Mängel in der körperlichen und psychischen Entwicklung.“ (Boos-Nünning, 2005, S. 166) Walper listet mögliche psychosoziale Folgen von Armut auf: psychische und gesundheitliche Belastungen externalisierendes Problemverhalten, vermindertes Selbstwertgefühl, Ängstlichkeit und Depressivität, Traurigkeit und Niedergeschlagenheit usw. (Walper 2005). Armut führt bei Kindern zu ungleichen Bildungschancen. „Ungleiche Bildungschancen führen zu einer Verstetigung ungleicher Lebensbedingungen und ungleicher Chancenverteilungen in der Gesellschaft“ (Palentien 2005, S. 163). Folgen von Armut für Ernährung und Gesundheit sind ebenfalls zu erkennen: „Armut und soziale Benachteiligung erhöhen in dieser Entwicklungsphase [Kindheit und Jugend, B.St.] die Wahrscheinlichkeit physischer, psychischer und psychosomatischer Erkrankungen. Schon im Kindes- und Jugendalter gehören dazu Fehlsteuerungen der Sinneskoordination, der Sprachentwicklung, des Bewältigungsund Ernährungsverhaltens, Übergewicht und natürliche Zahnerkrankungen“ (Richter 2005, S. 201). Zur psychosozialen Situation von Nutzerinnen der Eltern-Kind-Zentren Die Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen bedingt bei vielen Nutzerinnen der EKiZ immer wieder Kontakte zu Behörden und Ämtern, besonders zur ARGE. Aus der Wahrnehmung der EKiZ sind diese Kontakte für die Mütter häufig hoch problematisch, und der „Stress mit Behörden“ wird von den Nutzerinnen als Ausgeliefert-Sein, Kontrolle und Disziplinierung bis hin zur Entwürdigung erlebt. Ein weiteres wichtiges Kennzeichen dieser Besucherinnengruppe ist die Angst vor Stigmatisierung und Kontrolle. Deshalb versuchen die Frauen Kontakte mit Behörden, staatlichen Organisationen und Diensten möglichst zu vermeiden. Das gilt auch für sozialpäda-
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gogische Einrichtungen, deren Nutzung in irgendeiner Weise eine Selbst- oder Fremdzuschreibung als „Problemfall“ voraussetzt. Im Zusammenhang mit der Situation der Alleinerziehung (bei Frauen, die die EKiZ besuchen) stehen auch häufig Probleme mit (ehemaligen) Ehemännern und Partnern. Immer wieder gibt es Besucherinnen, die in Trennung oder Scheidung leben oder dieses beabsichtigen. Hinzukommen können Probleme mit ausbleibenden Unterhaltszahlungen oder komplett ausfallender finanzieller Unterstützung durch die Männer/Väter. Der emotionale Stress in diesen belasteten Beziehungen ist häufig sehr hoch. Einige Nutzerinnen benötigen Trennungs- und Scheidungsberatung und Unterstützung im Kampf um Unterhaltszahlungen. Viele der Mütter, die die EKiZ besuchen, berichten bei zunehmendem Vertrauen zu den Fachkräften von Gewalterfahrungen, sowohl in ihrer eigenen Kindheit als auch durch ihre Partner in der aktuellen Lebenssituation. Viele der Nutzerinnen haben selbst Gewalt als „normales“ erzieherisches Mittel, inkonsistentes Erziehungsverhalten und Vernachlässigung in ihrer Kindheit erlebt. Nicht durchgängig, aber doch immer wieder, sind Traumatisierungen und psychische Störungen/Erkrankungen die Folge davon. Auch gewalttätige Väter und Partner sind hier nicht untypisch und stellen in ihren Familien eine Bedrohung der Mütter und Kinder dar, mit entsprechenden psychosozialen Folgerisiken. Viele der Besucherinnen in den EKiZ berichten von sozialer Isolation: Das Gefühl, mit den kleinen Kindern isoliert zu sein und den Druck der insgesamt belastenden ökonomischen und sozialen Situation allein tragen zu müssen, kann zu Depressionen und Passivität führen. Die Situation vieler Besucherinnen lässt sich in dem Begriff „prekärer Alltag“ zusammenfassen. In ihm häufen und bedingen sich vielschichtige Faktoren gegenseitig: Armut, Stress mit der ARGE und anderen Behörden, Schulden und Auflagen, Wohnungsprobleme und -not, familiäre Gewalt, (psychische und physische) Krankheiten, Trennung/Scheidung, Isolation, unklarer Aufenthaltsstatus. Bei vielen Müttern geht es darum, diesen „Alltag am Rande des Aushaltbaren“ irgendwie überhaupt aufrecht zu erhalten. Alltagsbewältigung bedeutet für sie, von einem Tag zum anderen und von einer Situation zu anderen irgendwie zu „überleben“, damit beschäftigt zu sein, die jeweils nächste drohende Krise abzuwenden. Das erzwingt eine Orientierung am „Hier und Jetzt“, genauer gesagt: von der Verhinderung bzw. Bewältigung einer akuten Krise zur nächsten. Eine eher „bürgerliche“ Vorstellung von biografischer Planung, geordneter Organisation des Familienlebens, Reflexion und Verbesserung von Erziehungshandeln und gezielter Förderung der Kinder ist unter diesen Lebensbedingungen kaum oder nicht machbar. Zudem verfügen die Frauen kaum über die dafür nötigen Kenntnisse, Haltungen, Selbstbilder und Kompetenzen. Ihre Kraft und ihre Fähigkeiten müssen sich darauf richten, angesichts der prekären Lage ihren Alltag und rudimentären Familienzusammenhang überhaupt zu erhalten.
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Elternbildung mit Benachteiligten Elternbildung mit den gennannten Zielgruppen hat – so einschlägige Forschungsergebnisse – zwei Hürden zu überwinden: 1. Ist es nicht selbstverständlich, dass die Zielgruppe überhaupt kommt; 2. können die üblichen eher kursförmigen Methoden (etwa der vielen Elterntrainings) nicht verwendet werde, denn solche Settings meidet die Zielgruppe. Zu 1.) Lösel (2000, S. 82 u. 159) stellt in seiner Studie zur Bestandsaufnahme und Evaluation von Angeboten im Elternbildungsbereich fest, dass hier nur von einer durchschnittlichen Teilnehmerinnenrate von 15,1 % aus unteren sozialen Schichten ausgegangen wird, die im Fall der Familienbildungsstätten sogar unter 10 % sinkt. Das Verhältnis der Besucherinnen ist im überwiegenden Teil der EKiZ genau umgekehrt: Die Frauen aus unteren sozialen Schichten und mit (teils außerordentlich) belasteten Lebenssituationen und Migrationshintergrund stellen die Hauptbesucherinnengruppe dar, während eher der Mittelschicht angehörende Besucherinnengruppen in der Minderheit bleiben. Gerade vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die EKiZ in Hamburg generell eine starke Leistung bei der Erreichung der Zielgruppen erbringen. Zu 2.) Mengel (2007, S. 89 ff.) hat ein breites Spektrum von Forschungsergebnissen zu Lebenssituation und Bewältigungsstrategien benachteiligter Familien zusammengefasst, um die Gründe für deren Nichtteilnahme an Elternbildungsseminaren besser verstehbar zu machen. Viele Untersuchungen zeigen, dass benachteiligte Familien bisher typischen Bildungsangeboten nur geringe Chancen beimessen, über sie familiäre Probleme besser lösen zu können. Mengel folgert aus den negativen Erfahrungen der Zielgruppen Ansprüche an eine für diese Adressaten geeignetere Elternbildung:
Die Arbeitsweisen dürfen nicht an negative schulische Vorerfahrung erinnern. Geringes Vertrauen der Adressaten in eigene Lernfähigkeit und Abänderbarkeit von Situationen müssen berücksichtigt und konstruktiv beantwortet werden. Das Lernen muss alltagsrelevant sein. Die Themen müssen den Bildungs- und Lerninteressen von benachteiligten Gruppen entsprechen. Die Angebote müssen positive Effekte zeigen und im Alltag Nutzbarkeit beweisen.
Da die Untersuchungen zeigen, dass benachteiligte Gruppierungen in Bezug auf alle institutionellen Lernformen deutliche Angst vor Abwertung und Distinktion aufweisen, „[…] ist ein Anlass zum Lernen sowie Vertrauen in die Wertschätzung als Eltern“ nötig (a.a.O., S. 91 f). Eine solche Orientierung hat folgende Aspekte:
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Es müssen Anlässe geschaffen werden, die nicht-intentionales Lernen in intentionales überleiten. Den Teilnehmenden sind Achtung und Anerkennung sowie Anregungen zur Reflexion zu vermitteln. Fachkräfte (die eher einen Mittelschichtshintergrund haben) benötigen eine hohe soziale Kompetenz in Bezug auf die „Andersartigkeit“ der benachteiligten Zielgruppen. Empfohlen werden homogene Teilnehmergruppen, um die Wiederholung von Unterprivilegierungserfahrungen auszuschließen.
Mengel fordert eine „Subjektorientierte Bildung“ (a.a.O., S.99), die bei den Handlungsproblematiken und Lerninteressen der Adressaten anzusetzen habe, durch Anerkennung der Eigenwilligkeit der Subjekte gekennzeichnet sei (a.a.O., S. 101) und die gesellschaftliche Teilhabe benachteiligter Adressaten erweitern solle (a.a.O., S. 102). Solche Bildung sei freiwillig zu gestalten und in gemeinsame Alltagsaktivitäten einzubetten (a.a.O., S.110). Dieses sei besonders wichtig für die Thematisierung von Erziehungsfragen, die in einer offenen Atmosphäre ohne den Charakter von Belehrung stattfinden solle (a.a.O., S. 112). Mengel verweist auf die Ergebnisse von Haug-Schnabel/Bensel (2003, S.13) zur niedrigschwelligen Elternbildung, die zeigen, dass die „Ansprechbarkeit der Mütter steigt, sobald die Rahmenbedingungen eine entspannte Beobachtung der Kinder zulassen und sich zwanglose Gespräche über deren Verhalten und Entwicklung ergeben“. Vergleicht man diese Liste der Ansprüche an qualifizierte Familienbildung mit benachteiligten Adressaten mit den in der Evaluation festgestellten Prozessqualitäten der Hamburger Eltern-Kind-Zentren zeigt sich, dass die theoretischkonzeptionellen Forderungen hier realisiert werden. Die EKiZ sind niedrigschwellig zugänglich; vermeiden Stigmatisierung der Teilnehmenden; belegen ihre Nützlichkeit für den Familien- und Erziehungsalltag; gewähren Achtung, Anerkennung und Integration; schaffen konkrete Lernanlässe durch einen familienanalogen Alltag im EKiZ; unterstützen subjektorientiert Selbstbildung und ermöglichen die Entwicklung von Reflexivität und weiteren Erziehungskompetenzen. Die Rolle des Frühstücks bei der Ermöglichung von Elternbildung Bei der Erzeugung dieser Qualitäten in der Praxis spielt das gemeinsame Frühstück, mit dem in vielen Eltern-Kind-Zentren die Öffnungszeiten begonnen werden, eine zentrale Rolle. Das wird im Folgenden gezeigt. Um sich die Frühstücksituation vorstellen zu können, wird hier aus einem Protokoll einer teilnehmenden Beobachtung des Autors in einem EKiZ zitiert. Es sind die Passagen ausgewählt worden, die sich besonders auf die Situation des Essens am gemeinsamen Frühstückstisch beziehen.
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Ein Montagmorgen im EKiZ Maria Magdalena Die Situation spielt sich ab in einem Multifunktionsraum der evangelischen Kita Maria Magdalena in Hamburg-Osdorf. Das EKiZ macht sein Angebot in einem etwa 50 qm großen Multifunktionsraum, der sonst für andere Aktivitäten der Gemeinde und Kita verwendet wird. Der Raum ist (schmucklos) eingerichtet mit einem langen Esstisch und einem Spielteppich mit Spielzeug für die Kinder. Die Außenfront des Raumes mit der Eingangstür ist verglast und weist zum Außengelände der Kita. Als ich um fünf vor neun in das Eltern-Kind-Zentrum komme, ist der Frühstückstisch bereits aufgebaut, und es sitzen vier Frauen an den Tischen, die für ungefähr vierzehn Personen mit Tellern, Tassen, Besteck (ohne Tischdecken) gedeckt sind. Außer den Sitzplätzen und Essgedecken für die Erwachsenen gibt es noch mehrere Hochstühlchen für kleine Kinder. Die vier Frauen sprechen, wie sich herausstellt, untereinander Arabisch, und ich gehe zu ihnen und stelle mich vor. Sie kommen aus Syrien, dem Libanon, aus Kurdistan und Palästina. Ebenfalls hinzu kommt Frau A. (die als Hebamme an zwei Tagen im EKiZ Dienst versieht), und die Frauen laden mich ein, mit dem Frühstück zu beginnen. Der Tisch ist reich gedeckt mit Brot, Brötchen, vielen Marmeladen, Nutella, unterschiedlicher Rinderwurst und Tellern mit frisch geschnittenem Gemüse und Obststücken. Alle schmieren sich ihre Brote gießen sich Getränke ein und beginnen zu essen. Die Frauen unterhalten sich dabei. Nach einer Weile frage ich die Frauen, woher sie kommen und welche Sprache sie sprechen. Zwei von ihnen übernehmen im Wesentlichen das Sprechen und übersetzen den anderen meine Fragen. Langsam kommen immer mehr Mütter mit ihren Kindern (zwischen 6 Monaten und 3 Jahren alt), ziehen ihre Mäntel aus, setzen sich an den langen Tisch und beginnen das Frühstück. Ebenfalls kommt Frau B., die Leiterin des EKiZ hinzu. Sie begrüßt einzelne Mütter teilweise herzlich mit Umarmungen und fragt sie, wie es ihnen geht. Die Kinder werden in den Hochstühlchen mit an den Tisch gesetzt, es wird ihnen Essen angeboten und es herrscht eine ausgeglichene und freundliche Frühstücksatmosphäre. Ältere Kinder werden unterstützt, sich selber ein Brot zu schmieren, sie werden gefragt, was sie möchten und man reicht sich das Gewünschte an. Die Frauen befragen einander, wie es ihnen geht, und berichten über Krankheiten der Kinder. Auch erzählen sie, was am Wochenende alles geschehen ist. Immer wieder, wenn Frauen hereinkommen werden sie von Frau G. (der EKiZ-Leiterin) herzlich begrüßt und an den Tisch geführt. Viele der Frauen kennen sich untereinander und die meisten werden von mehreren aus der Gruppe mit Willkommensgrüßen an den Tisch gebeten. Man macht Platz und versorgt die Neuankömmlinge mit Geschirr und Essen. Im Laufe der Beobachtungen sehe ich, dass es einzelne kleine Untercliquen gibt. So die Gruppe der miteinander arabisch sprechenden Frauen, die ich zu Beginn kennen gelernt habe und eine später eintreffende Gruppe von deutsch sprechenden Frauen. Die kleinen Gruppen der Frauen schließen sich jedoch nicht gegeneinander ab, sie sitzen teilweise zusammen oder spielen zusammen mit den Kindern, dann mischen sie sich durch Sitzplatzwechsel wieder, so dass (fast) alle miteinander Kontakt haben. Ich beobachte keine Frau, die völlig isoliert und alleine wäre. Die Mütter haben unterschiedliche Stile der Aufnahme und Gestaltung von sozialen Kontakten. So ist da eine kurdische Frau, die viel lacht und freundlich mit mir und zu anderen Frau-
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en Kontakt aufnimmt, indem sie witzige, nette Bemerkungen macht, Fragen stellt und freundlich kommentiert. Eine deutsche Frau, die ganz am anderen Ende des Tisches hinten mir gegenüber sitzt (Frau B. erzählt mir später, dass sie insgesamt vier Kinder hat, zwei davon sind unter drei Jahre alt, und diese hat sie mitgebracht) ist von sich aus sehr still, sie wirkt wie ein ruhender Pol und nimmt von sich aus eher weniger selbstständig Kontakt auf. Sie wird aber von anderen Frauen angesprochen und einbezogen. Insgesamt werden alle in das gemeinsame Setting integriert. Eine „kulturelle“ Abgrenzung oder gar eine Abneigung untereinander kann ich nicht beobachten. Ebenfalls kann ich bei meinem dreistündigen Besuch keine besonderen Hierarchien unter den Frauen erkennen. Auch die beiden Leiterinnen Frau A. und Frau B. handeln sehr informell und präsentieren sich wenig als Leiterinnen. Nach der ersten Essensphase leitet Frau A. ein Singspiel mit allen Müttern und Kinder ein, zu dem sich alle vom Tisch auf den Spielteppich setzen. … (die nun folgende Beschreibung des Spielrituals wurde gekürzt)… Dadurch wird der Spielteppich als ebenso bedeutender Ort wie der Tisch der Erwachsenen installiert, und die Konzentration wendet sich von den Erwachsenen mehr den Kindern zu. Die Mütter kehren nur teilweise an den Esstisch zurück, mehrere spielen mit den Kindern auf dem Teppich. Andere setzen sich wieder an den Tisch, Kinder kommen zu ihnen auf den Schoß und es werden en passant kleine Bissen, besonders geschnittenes Obst, gegessen. Dabei sprechen die Mütter oft über die Kinder. Sie erzählen sich, wie sich das Kind entwickelt und welche Schwierigkeiten es in der letzten Zeit gegeben hat. Eine Mutter erzählt, dass ihr etwa zweijähriger Sohn gefallen ist und eine dicke Beule am Kopf hatte; Mütter erzählen darüber, ob die Kinder durchgeschlafen haben oder welche aktuellen Schwierigkeiten es gab. Es wird berichtet, ob sie den Kindern schon zu Hause etwas zum Frühstück gegeben haben. Aktuelle und/oder überstandene Krankheiten der Kinder werden besprochen und angemessene Heilungsmöglichkeiten diskutiert. Ärzte werden kommentiert und empfohlen. Nach meinen Beobachtungen gibt es insgesamt sehr viel Kommunikation unter den Müttern über die Kinder. Frau A. und Frau B. gehen herum und setzen sich immer wieder zu einzelnen Müttern, um mit ihnen zu sprechen. Die Gespräche beginnen meist sehr alltäglich mit Fragen, wie: „Wie geht es dir?“ oder „Wie war das Wochenende?“, und geht dann über zu Erziehungsthemen oder aktuellen Problemen, die die Mütter haben. Ich kann nicht alle Gespräche verfolgen, sondern sehe die Fachkräfte mit allen Müttern sprechen. Sie geben den Müttern liebevolle Zuwendung und zeigen persönliches, herzliches Interesse. Die Mütter strahlen die Fachkräfte an, sprechen aber auch ernsthaft und intensiv mit ihnen. Eine übergewichtige deutsche Mutter mit einem neun Monate alten Jungen wird von Frau A. und Frau B. zu Ernährungsfragen in Bezug auf ihr Kind beraten. Frau B. berichtet mir später, dass die Mütter oft unsicher sind, wann sie bei den Kleinstkindern von Breinahrung zur festen Nahrung übergehen sollen und welche Ernährung überhaupt für die Kinder richtig ist. Die Frauen nutzen in ihrem Ernährungsgespräch ein kleines bebildertes Fachbuch, das Koch- und Ernährungsanleitungen gibt und mit der betroffenen Mutter durchgeblättert wird. Es wird mit der betroffenen Mutter beraten, welche die richtige Ernährung für ihr Kind ist. Die Haltung der Fachkräfte wirkt wenig (be)lehrend, sondern eher wie ein gemeinsames Recherchieren und Suchen nach angemessenen Mög-
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lichkeiten. Fachfrauen und Mütter wirken gleichberechtigt, gemeinsam interessiert und eher wie Bekannte, die sich gemeinsam über ein Alltagsproblem austauschen. Nach der gemeinsamen Singrunde wird ein Teil des Frühstücks abgeräumt, und am Tisch werden Utensilien für den Bau von St.-Martins-Laternen aufgestellt. … Mit drei Frauen und Frau B. gehe ich zur Essenausgabestelle der evangelischen Kirchengemeinde, bei der es noch Brote gibt. Für die Frauen werden große Plastiktaschen vollgepackt mit Vollkorntoastbrot und Biovollkornbrot. Eine der Frauen sagt: „Ich schäme mich.“, und Frau B. erklärt ihr noch einmal, dass alle von dort Lebensmittel erhalten können und dass sie selbst auch manchmal Brot mitnehme. In einer sehr freundlichen und lockeren Weise versucht sie, der Frau ihre Scham zu nehmen, und diese packt sich später zwei Taschen voll. Eine Mutter von vier Kindern und eine Frau (Flüchtlingsstatus) mit den insgesamt neun Kindern erhalten große Taschen voll mit unterschiedlichen Broten. Im Folgenden werden verschiedene Aspekte des Frühstücks im Blick auf seine Ermöglichung von Elternbildung mit benachteiligten Müttern interpretiert. Dabei geht es zunächst um die Ermöglichung eines niederschwelligen Zugangs und der Gewähr von Gastfreundlichkeit, dann um den Aspekt der physischen und psychischen Nährung durch Fachfrauen bzw. Fach-“Mütter“ und schließlich um die Eröffnung von Selbstbildungspotentialen im Frühstücksetting. Niederschwelligkeit und Gastfreundlichkeit Die im Konzept der Eltern-Kind-Zentren vorgesehene Niedrigschwelligkeit ist weder ohne weiteres herzustellen, noch von sich aus eine besondere pädagogische Qualität. Niederschwelligkeit kann als isoliertes Strukturcharakteristikum in die Gefahr geraten, allzu unverbindlich und unpersönlich zu geraten (so ist etwa auch eine Bahnhofshalle „niedrigschwellig“). Die MitarbeiterInnen der EKiZ erzeugen stattdessen eine „Gastfreundlichkeit“, die die Besucherinnen willkommen heißt und anerkennt, ihre Bedürfnisse erfüllen möchte und ihnen Interesse und Fürsorglichkeit entgegenbringt. Einen hoch einzuschätzenden Beitrag dazu leistet das Grundangebot des gemeinsamen Frühstücks, mit dem in den meisten EKiZ die Öffnungszeit begonnen wird. Die Mütter und Kinder werden mit einem vielfältigen, auch kulturelle Speiseregeln berücksichtigenden, gesunden, schön angerichteten und leckeren Frühstück empfangen. Das Angebot des gemeinsamen Essens bietet den Eintretenden sofort eine einfache und bekannte Aktivität an. Sie müssen nicht unsicher herumstehen, sondern können unmittelbar Vertrautes und Angenehmes tun. Zudem wird durch das Platznehmen am Tisch schnell und einfach eine Integration in die Gruppe der gemeinsam Frühstückenden hergestellt, ohne dass durch die Besucherinnen dafür eine besondere „Leistung“ zu erbringen wäre. Die Situation am gemeinsamen Esstisch ist nicht nur integrierend, sondern auch egalisierend. Unter den Frauen und Kindern, die am Tisch sitzen, ist zunächst keine Hierarchie erkennbar: Beim gemeinsamen Essen sind alle gleich-berechtigt,
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alle werden versorgt und teilen das Essen. „Gastlichkeit wird durch Gesten der gleichberechtigten Interaktion, durch materielle Symbole und Öffnungen in Zeit und Raum gegenüber dem Anderen ausgedrückt. Sie signalisiert mit diesen Formen des Ausdrucks, dass der Andere nicht nur zu Recht hier ist, sondern auch, dass man ihn erwartet hat, ihm entgegen gesehen hat, sich über sein Ankommen freut und nicht gedenkt, ihn schnellstmöglich loswerden zu wollen. In ihren Ausdrucksformen verdeutlicht sie damit, dass Gegenwart als Erwarten und Zukunft als Zusicherung in der Gegenwart zusammenfließen und jetzt ihre Gültigkeit erhalten. Gastlichkeit ist eine wesentliche Mitteilung in jeder zwischenmenschlichen Begegnung, da man durch sie erst die Chance erhält, sich nicht als Fremder zu fühlen, sondern einen Übergang zu einer, wenn auch zeitlich befristeten Beheimatung erhält.“ (Langhanky u.a. 2003, S. 54) Dem prekären Alltag der meisten Nutzerinnen der EKiZ wird mit diesem Setting des gemeinsamen Essens eine gastfreundliche Situation entgegengestellt, die sie ganz anders empfängt, als sie es sonst gewohnt sind. Hier sind sie nicht Ausgegrenzte und Bittsteller, sondern werden als gleichberechtigte Andere willkommen geheißen. Sie erfahren eine Fürsorge, die keine Gegenleistung erwartet. Zirfas (2001, S. 58) weist in Anlehnung an Derrida daraufhin, dass Pädagogik nicht als Form des Tausches oder der Ökonomie verstanden werden könne, „sondern zunächst als Gabe zu betrachten ist“. Dass den Nutzerinnen in den EKiZ Nahrung und Beheimatung ohne Rückerstattungserwartung gegeben wird, kann auch als eine grundsätzliche Form von Anerkennung verstanden werden. Honneth nennt das banalste Anerkennungsmuster „Liebe“: Der Begriff bezeichnet hier die bedingungslose Zuwendung, die vertraute Personen einem anderen Menschen geben. Ihre Qualität liegt gerade darin, dass sie auf der Basis von Bindung und Vertrauen den anderen für (s)eine Selbstentwicklung frei gibt. Es geht „nicht (um) eine kognitive Respektierung, sondern eine durch Zuwendung begleitete, ja unterstützte Bejahung von Selbstständigkeit ist also gemeint, ...“ (Honneth 1992, S. 173). Honneth geht davon aus, dass die Erfahrung solcher Anerkennung die Entwicklung von Selbstvertrauen ermöglicht. Die Gastlichkeit des Essens im Eltern-Kind-Zentrum antwortet also auf den Mangel an Vertrauen und Selbstvertrauen, der so kennzeichnend ist für die Lebensverhältnisse der Adressatinnen. Immer wieder beobachten die MitarbeiterInnen in den EKiZ Mütter, die bei diesen Gelegenheiten sehr viel essen. Dieses scheint zum einen tatsächlich an physischem Hunger zu liegen, zum anderen wird hier möglicherweise auch ein psychosozialer „Hunger“ deutlich. Die belasteten Mütter, die sich sonst um die Ernährung ihrer Kinder kümmern müssen, werden hier selbst genährt. Im EKiZ können sie mindestens kurz die Rolle wechseln und dürfen sich versorgen lassen, statt versorgen zu müssen. Sie erhalten hier eine „Liebe“, die sprichwörtlich „durch den Magen geht“. Sie selbst können ein wenig regredieren und die Rolle eines Kindes annehmen, das von einer aufmerksamen Mutter ver- und umsorgt wird. So erleben sie
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selbst noch einmal die erzieherische Basishaltung liebevoller Fürsorge, auf die Verlass ist und die die Entwicklung von Selbstständigkeit bejaht. Die biografischen Geschichten, die einige der Nutzerinnen erzählen, lassen erkennen, dass sie solche Erfahrungen in ihrer eigenen Kindheit kaum machen konnten. Physische und psychische „Nährung“ für Mütter durch Fachfrauen/-mütter Viele der EKiZ-Leiterinnen übernehmen den Besucherinnen gegenüber eine Rolle, die als mütterlich gekennzeichnet werden kann. Sie versorgen die Nutzerinnen physisch und sorgen sich psychisch um ihr Wohlergehen, sie bestimmen das soziale Miteinander im „Innenraum“ des EKiZ, sie helfen und orientieren, setzen und vermitteln Normen und Werte. Diese „öffentliche (Fach-)Mutterschaft“ wird zunächst analog der alltäglichen Mutterschaft gestaltet: Sie wird eher als eine weiblichalltägliche Handlungsweise präsentiert und weniger als eine professionell-besondere. Die Mitarbeiterinnen definieren sich gegenüber den Nutzerinnen nicht als distanzierte Fachexpertinnen (oder gar desinteressierte Lohnerzieherinnen), sondern bringen ihre Person als Werkzeug in eine Beziehungsgestaltung ein, die Mitgefühl, Interesse, Fürsorge und Anerkennung vermittelt. Das geschieht immer wieder besonders im und durch das Setting des gemeinsamen Frühstücks. Die Sozialpädagogin eines EKiZ beschreibt diesen Umstand mit den Worten: „Wir bieten hier Elternersatz.“ Das bedeutet, die Fachfrauen handeln gegenüber den Nutzerinnen unterstützend und schützend und übernehmen, wo nötig, auch Verantwortung, geben Hilfe und Orientierung oder ziehen Grenzen und kontrollieren. Die Besucherinnen des EKiZ, von denen viele problematische Erfahrungen mit eigenen Eltern gemacht haben, erhalten so ein gewisses „reparenting“, eine nachholende Erfahrung elterlicher Sorge. Was ihnen gefehlt hat, wird ihnen hier – wenigstens in Ansätzen – gegeben. Und das geschieht in Frühstücken zunächst einmal auf rudimentäre Weise durch die Versorgung mit Essen, durch Nährung. Das hat wichtige Wirkungspotenziale: Die „fach-mütterliche“ Umsorgung der Nutzerinnen stärkt deren Persönlichkeit(sentwicklung), indem sie Gefühle des Angenommenseins und der Aufgehobenheit entwickeln können. Das hat wiederum zu erwartende Folgen für deren eigene Elternschaft: Zum einen erleben sie Vorbilder einer konstruktiv sorgenden Beziehung und Erziehung, und anderseits kann angenommen werden, dass die Unterstützung ihrer Bedürfnisse und die Akzeptanz ihrer Person auch positive Folgen für den Umgang mit ihren Kindern hat. Dieser Handlungsstil „öffentlicher Fach-Mutterschaft für Mütter“ gibt aber die Professionalität nicht auf. Obwohl er auch auf der (realen oder unterstellten) „Gleichheit“, also einer gemeinsamen Betroffenheit von Müttern und Fach-Frauen beruht, ist dennoch die Differenz zwischen den Beteiligten durch die Fachlichkeit und die professionelle Rolle der Mitarbeiterinnen ständig präsent. (Übrigens wird
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bisher die Geschlechterdifferenz noch nicht professionell bearbeitet, denn die EKiZ Arbeit zeigt sich als geschlechtshomogen: die Dominanz der Frauen in diesem „weiblichen Territorium“ ist wahrscheinlich als ein Grund dafür anzusehen, dass kaum Männer und Väter teilnehmen.) Sie wird durch die Fachkräfte nicht verleugnet oder von den Nutzerinnen verkannt. Die Fachfrauen handeln und werden wahrgenommen als „Andere unter Gleichen“ (Cloos u. a. 2007): Zwar praktizieren sie Vertrautheit und Kontakt zu den Nutzerinnen als Frauen und Mütter, sie wahren aber auch Differenz und berufliche Rolle, indem sie ihre (erzieherischen) Werte und Normen einbringen, den Nutzerinnen ihre Problemsicht und ihre Lösungsperspektiven anbieten und diese zur Not auch konfrontieren mit Kritik und der Aufforderung, Probleme anders anzugehen. Das ist immer wieder deutlich im Frühstückssetting zu erkennen, aus lockerem gemeinsamem Plausch beim Essen wird eine fachliche Beratungssituation. Dürfen diese Mütter im EKiZ solche Fürsorglichkeit erfahren, ohne sofort mit Erwartungen von „Gegenleistungen“ konfrontiert zu werden, können sie sich auf ihre eigene Weise und in ihrem eigenen Timing aus der Regression heraus entwickeln. Das tun sie, indem sie sich zunehmend für die Bereitstellung und Gestaltung der Essenssituationen engagieren: Es beginnt beim Tischdecken und Aufräumen, geht weiter zum Planen und Einkaufen und gemeinsamen Kochen. Hinzu kommen die Versorgung und das Einbeziehen der Kinder, die auf Hochstühlchen mit am Tisch sitzen. So beginnt eine aktive Aneignung des Alltags im EKiZ und mit ihr auch ein Lernen über das Gestalten familiärer Essens- und Gemeinschaftssituationen. Ein Ort zum Essen, Trinken, Durchatmen Eine EKiZ-Leiterin verwendete in einem Gespräch mit dem Evaluator folgende Formulierung für den Bedarf der Mütter und das entsprechende Angebot der EKiZ: „Die Mütter können hier Luft holen“. Dieses Bild scheint in der Lage, die pädagogischen Arbeitsprinzipien von fürsorglicher Gastlichkeit und fachlich-öffentlicher Mütterlichkeit zusammenzufassen. Die Arbeit der Eltern-Kind-Zentren besteht damit besonders darin, den Frauen/Müttern in ihrem belasteten Alltag eine oasenartige Situation von Ruhe, Erholung, Aufgehobenheit, Solidarität und Unterstützung zu bieten. Es ist faszinierend, dass diese Formulierung sich auch in hochkomplexen Theorien der Gastfreundschaft wiederfindet: Derrida erläutert Lévinas’ Konzept der Gastlichkeit, in dem es um eine offene Tür, den Empfang und ein Aufnehmen des Anderen geht, um eine „Art des Machens mit ausgestreckter Hand, wenn man sich an den anderen wendet, um ihm erst einmal zu essen, zu trinken und zu atmen zu geben, …“ (Derrida 1999, S.45, kursiv i. Orig., Unterstreichung B.St.).
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Die EKiZ und ihre Frühstücke als Orte der Nährung, des Durchatmens, der Erholung, des wohlwollenden Aufgenommen-seins, der Anerkennung ohne Leistungsansprüche, schaffen zunächst einmal ein Setting, das grundsätzlich die hoch belastete Situation der Besucherinnen unterbricht und einen alternativen sozialen Raum zur Verfügung stellt. Allein die Alltagsbewältigung ist für viele der Mütter schon so schwierig, dass man hier zunächst einmal eine „befreite Zwischenzone“ schaffen muss, bevor man sich der Bewältigung des Alltags und der Thematisierung von Erziehung widmen kann. Elternbildung beim Frühstück Die Essenssituation eröffnet auch Potenziale einer selbsttätigen Elternbildung der Nutzerinnen. Sie erleben hier eine familienähnliche alltägliche Situation, obwohl es sich um ein öffentliches und professionell gestaltetes Setting handelt. Melanie Plößer arbeitet in ihrer Untersuchung über das den EKiZ verwandte Setting eines niedrigschwelligen Sucht-Beratungscafés folgendes heraus: „Die Essens-Situation im niedrigschwelligen Café präsentiert sich dabei als geeignete Situation, in der das professionelle Verhältnis eine familiäre Komponente erhält – und das sicherlich nicht zuletzt auch deshalb, weil mit dem Setting der Essensversorgung auch an familiäre Muster schlechthin angeknüpft wird, so etwa an das Familien-Ritual des gemeinsamen Essens (vgl. Audehm 2007)“ (Plößer 2009, in diesem Buch). Dieses Setting vermittelt nicht erzieherisch normierend und didaktisch artifiziell, was Fürsorge und Gemeinschaft sein sollten, sondern praktiziert diese bereits konkret. Dabei können sich die Beteiligten neue Handlungspotenziale durch aktives Handeln aneignen. Elternbildung ist hier nicht „Erziehung von Erwachsenen“, sondern eröffnet diesen Selbstbildung. Erziehungswissenschaftlich kann der aktiven Beteiligung an einer sinnvollen und (sozial) produktiven Tätigkeit höhere Wirksamkeit zugeschrieben werden als Teilnahme an einer künstlichen und abstrakten Belehrungssituation. Die gemeinsamen Mahlzeiten und die zunehmend aktive Beteiligung der Mütter daran ermöglicht ihnen aber auch, eigene Unsicherheit und Unwissen in Bezug auf angemessene Ernährung von Kleinstkindern zu thematisieren, ohne mit einer solchen „Problemanzeige“ Scham über eigene Inkompetenz entwickeln zu müssen. Für die MitarbeiterInnen wird es dadurch möglich, direkt an die spezifischen Fragen der einzelnen Mütter anzuknüpfen und ihr Wissen so anbringen zu können, dass es konstruktiv aufgenommen werden kann. Vermittlung von (erzieherischem und gesundheitlichem) Wissen geschieht so nicht belehrend, sondern angepasst an die Selbstbildungsweisen und -themen der Mütter. Dieses subjektorientierte Bildungsangebot entfaltet besondere Chancen in den Situationen des geteilten Alltags im Eltern-Kind-Zentrum. Man könnte sagen, der Alltag, besonders des gemeinsamen Essens im EKiZ ist eine exemplarische Erzie-
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hungssituation: Was hier geschieht und bearbeitet werden kann, das spiegelt, was sich auch sonst im erzieherischen Alltag mit Kleinkindern abspielt. Der EKiZAlltag ist familiären Situationen mit Kindern weitestgehend analog: Auch hier wird gekocht, gegessen, gespielt, gepflegt, gesprochen, getröstet, geordnet, geschimpft, gefördert, geputzt, gestritten, gesungen, geregelt, geruht, gestützt und geschützt u.ä.m. Das alles geschieht integriert als nichtlinearer Prozess, in dem sich die Beteiligten immer wieder neu auf die unterschiedlichsten und wechselnden Bedürfnisse und Themenstellungen der beteiligten Kinder und Erwachsenen einstellen. Die komplexe Situation des gemeinsamen Essens verdichtet dies: Bedürfnisbefriedigung, Beziehungsgestaltung, Erziehung und Selbstentwicklung sind hier eng verbunden. Familienalltag und Haushalt inklusive der Mahlzeiten könnten als eine „organisierte Anarchie“ bezeichnet werden, in der zwar manche Strukturierung und Planungen sinnvoll sind, deren Ablauf aber doch immer wieder unterbrochen werden muss, um spontan zu situativ angemessenen, neuen Handlungsformen zu kommen. Versorgung, Pflege, Erziehung etc. finden im Alltag mit Kindern immer integriert statt und können nicht in separierten und geplanten Handlungsblöcken abgeleistet werden. Die familiäre Reproduktionsarbeit verlangt eine komplexe und flexible Beziehungs- und Handlungskompetenz, die „Management“ zu nennen die Vielschichtigkeit ihrer Anforderungen untertreiben würde. Da sich im EKiZ familienanaloge Alltagssituationen – besonders beim Frühstück – abspielen, können alle Themen, Problemstellungen und Kompetenzfragen, die sich ergeben, direkt aus der konkreten gemeinsamen Situation erschlossen werden. Selbstbildung wird ermöglicht, weil sich die Nutzerinnen in einer Echtsituation befinden und die Themen von Eltern- und Erziehungsbildung nicht künstlich und abstrakt an sie herangetragen werden müssen. Erziehungsarbeit findet hier immer schon statt, und ihre Reflexion und Veränderung ist auf diese konkreten Situationen und Erfahrungen bezogen. Das Transferproblem, wie Lerninhalte aus artifiziellen Lehrsettings auf Alltagssituationen übertragen werden sollen, ergibt sich hier viel weniger. Die Lernbedarfe einer Nutzerin (zumindest in für Erziehung wichtigen Aspekten) werden für sie selbst und die Fachkräfte in ihrem alltäglichen Handeln mit ihrem und anderen Kindern in den familienanalogen Situationen des EKiZ erkennbar. Ihrer Selbstbildung hier zu assistieren, bedeutet für diese Situationen, gemeinsam mit der Nutzerin für sie machbare Handlungsalternativen zu entwickeln, deren Umsetzbarkeit sofort erkennbar und reflektierbar wird. Mag die Gabe des gemeinsamen Essens in den Eltern-Kind-Zentren von außen wie eine Nebensächlichkeit erscheinen, so ist sie doch im fachlichen Handeln der MitarbeiterInnen ein zentrales Handlungsmuster, das konstruktiv auf die prekäre Lebenslage der Nutzerinnen antwortet und dieser Lage Erfahrungen gegenüberstellt, die Destabilisierung und Desintegration entgegenwirken, weil sie über Anerkennung Selbstvertrauen stabilisieren und Integration zumindest in die Gemeinschaft des Eltern-Kind-Zentrums eröffnen. Gerade das Setting des gemeinsamen
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Frühstücks eröffnet einen niederschwelligen Zugang in eine Institution der Elternbildung, die von Benachteiligten sonst gemieden wird. Die von dieser Zielgruppe abgelehnten Methoden eines schulischen Lehrens und Lernens werden vermieden. Das gemeinsame Essen ermöglicht nicht nur die Erfahrung von Fürsorge „am eigenen Leibe“, sondern auch die selbstbildende Aneignung solcher förderlicher familiärer Handlungsmuster durch aktive Beteiligung.
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Pudding für alle – außer für Yvonne Ulrike Schmauch
1. Vorbemerkung In meinem Beitrag werde ich nach einleitenden Überlegungen zur Bedeutung des Essens in der Nähe-Distanz-Regulierung in professionellen Beziehungen zwischen sozialen Fachkräften und KlientInnen eine Fallgeschichte vorstellen, in der Essen – hier ein Pudding – eine wichtige Rolle spielt. Der Reflexion des Beispiels schließen sich kritische Fragen an, die auf den Umgang mit Verpflegung in sozialen Institutionen zielen und Denkanstöße geben wollen. Zum Kern Sozialer Arbeit gehört die professionelle Balance von Nähe und Distanz und mit ihr die Erfahrung, dass diese Balance immer wieder schwierig zu erreichen ist. Nähe und Distanz werden durch Sprache, aber ebenso auf nonverbaler Ebene ausgedrückt, durch Körpersignale und Berührungen, durch den Umgang mit Zeit und durch Dinge wie Gebrauchs- und Wohnungsgegenstände und Kleidung – und eben auch durch Essen und Trinken. Für soziale Fachkräfte ist es wichtig, sich darüber bewusst zu sein, dass sie mit ihren Klientinnen und Klienten auf all diesen Ebenen kommunizieren, dass alle Elemente symbolisch und atmosphärisch etwas zum Nähe-Distanz-Verhältnis aussagen und es in positiver wie negativer Weise beeinflussen. Ein Pudding ist ein Nahrungsmittel und zugleich durch die Art und Weise, wie er gegeben oder verweigert wird, der Vermittler einer Haltung und einer Beziehung. Bruno Bettelheim schrieb zur Bedeutung des Essens in sozialen Institutionen: „Wie der Tisch gedeckt wird, wie bequem der Stuhl ist, auf dem man sitzt, wie das Geschirr aussieht, alles ist Symbol für den Geist, in dem man bei Tisch empfangen wird, zeigt, ob man willkommen ist, ob man als jemand Wichtiges gilt, und ob es ein Ereignis ist, das man genießt“ (Bettelheim 1975; S. 69). In Praxisfeldern, in denen soziale Fachkräfte Menschen intensiv betreuen und ihren Alltag teilen, ist die Anforderung an eine professionelle Nähe-DistanzRegulierung besonders hoch. Durch spezifische Hilfsbedürftigkeit der KlientInnen und pflegerische Arbeitsanteile ist viel Körpernähe unvermeidlich. Dies und der hohe Anteil an hausarbeitsnahen, „familial“ erscheinenden Aufgaben führt dazu, dass Fachkräfte zwischen notwendiger, förderlicher und übergriffig zugemuteter Nähe, zwischen respektvoller und gleichgültiger Distanz immer wieder neu um das richtige Maß ringen müssen, für ihre KlientInnen und für sich selbst. Nicht selten ergeben sich in stationären Einrichtungen durch die geteilte Alltagsnähe und durch institutionell bedingte Mangellagen (häufige personelle Unterbesetzung, hohe Fluk-
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tuation des Personals) Überforderungssituationen, die in Gewalt entgleisen, sei es von oder zwischen BewohnerInnen, sei es von Fachkräften. Manchmal ist es möglich, vom scheinbar urplötzlich vom Himmel gefallenen Gewaltausbruch einer Klientin bzw. eines Klienten einen längeren Faden zurückzuverfolgen – über Gruppenszenen, übergriffigen Körperkontakt, hektisches Erledigen unter Zeitdruck, Worte, Routinehandlungen und Essenssituationen – und dabei eine Kette von Verletzungen zu finden, die durch eine misslungene NäheDistanz-Regulierung entstanden sind. Darin kann auch ein verweigerter Pudding eine Rolle spielen – wie in dem folgenden Fallbeispiel, das aus einer von mir geleiteten Praxisreflexion für DiplomsozialarbeiterInnen im Anerkennungsjahr stammt. Diese Reflexionsveranstaltungen finden an der Frankfurter Fachhochschule begleitend zum einjährigen Berufspraktikum statt – wöchentlich, vierstündig und in Gruppen mit zehn bis fünfzehn TeilnehmerInnen. Die Namen der Beteiligten in der Fallgeschichte sind anonymisiert. 2. Fallbeispiel In einem Heim für Jugendliche mit seelischen und geistigen Behinderungen betreute Frau Adam, eine Sozialarbeiterin im Anerkennungsjahr, seit einem halben Jahr eine Gruppe von sieben Mädchen im Alter zwischen dreizehn und neunzehn Jahren. Zu den Gründen für die Betreuung der Jugendlichen im Heim gehörten unterschiedliche Diagnosen wie Autismus, Down-Syndrom, Spastik, Fehlentwicklung des Gehirns. Manche waren zuvor in der Psychiatrie gewesen, manche waren hochgradig pflegebedürftig. Die Gruppe war zum beschriebenen Zeitpunkt wie zuvor bereits seit Längerem personell unterbesetzt, und das Personal bestand nur zum Teil aus ausgebildeten Fachkräften. In der Praxisreflexion hatte Frau Adam ihre Schwierigkeiten in der Einrichtung dadurch charakterisiert, dass sie sich sowohl unter- als auch überfordert fühlte: unterfordert, weil ihr überwiegend hausarbeitsnahe, pflegerisch-betreuende und versorgende Tätigkeiten zugewiesen wurden, in denen sie die sozialpädagogischen Aspekte bisher kaum wahrnehmen konnte; überfordert aufgrund der unzureichenden personellen Besetzung, der erschöpfenden Schichtdienste und der schweren, zum Teil für sie unverständlichen und beängstigenden Störungsbilder der Mädchen. Frau Adam berichtete über Yvonne, ein vierzehnjähriges Mädchen: „Sie hat mich geschlagen, und das war ziemlich schlimm für mich.“ Sie beschrieb Yvonne als groß und gefürchtet bei den anderen Mädchen, weil sie wiederholt gewalttätig gegen sie geworden war. Sie war vor dem Heim in der Psychiatrie gewesen und bekam Medikamente, aber trotzdem, so Frau Adam, „passiert es, dass sie ausrastet“. Die Sozialarbeiterin schilderte folgende Situation: Sie war an diesem frühen Nachmittag mit einer jungen Aushilfskraft und der Mädchengruppe allein im Grup-
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penraum. Es gab Pudding für alle außer für Yvonne, die einen Apfel bekam, weil sie, so Frau Adam, Diät halten müsse. Yvonne verlangte auch Pudding für sich und nahm sich einen Löffel voll aus dem Schälchen einer Mitbewohnerin. Frau Adam habe sie zur Ordnung gerufen, ihr den Löffel weggenommen und sie auf ihren Apfel und die notwendige Diät verwiesen. Da habe Yvonne provokativ gefurzt. Daraufhin habe sie der Jugendlichen gesagt: „Geh ins Bad, wenn du mal musst“, aber das tat sie nicht. „Da habe ich sie ins Bad geschoben“. Nach dem Essen habe sie sich beeilen müssen, weil sie einige der Mädchen, darunter auch Yvonne, in ein anderes Gebäude zum Unterricht bringen musste. Sie erinnert sich: „Ich hielt Yvonnes Hand fest, weil sie weglaufgefährdet ist“. Plötzlich habe das Mädchen sie massiv an den Kopf geboxt, und sie habe sich gegen die weiteren Schläge zu schützen versucht. Dennoch brachte Frau Adam Yvonne bis zum Schulgebäude und „gab“ sie dort ab. Sie war wie unter Schock, hatte starke Kopfschmerzen und ruhte sich aus, bis der Unterricht zu Ende war und sie pflichtgemäß Yvonne und die anderen Mädchen zu einem anderen Haus brachte, wo die Aufführung eines Puppentheaters stattfand. Erst nach Abschluss dieser Veranstaltung und nach dem Zurückbegleiten der Mädchen zu ihren Räumen ging sie zu einer hauptamtlichen Kollegin und erzählte, was passiert war. Die Kopfschmerzen hielten mehrere Tage an. In der Praxisreflexionsgruppe wurde der Fall ausführlich besprochen und im Hinblick auf die ausgelösten Gefühle, auf Hypothesen zu den vielschichtigen Ursachen und auf konkrete Lösungs- und Unterstützungsmöglichkeiten für Frau Adam bearbeitet. Zu letzteren gehörte der Vorschlag, Diätpudding statt eines Apfels anzubieten, weiterhin die Anregung, über die Bedeutung von „Anfassen, Griffen und Übergriffen“ im Team zu sprechen und nach einvernehmlichen und reflektierten Grundregeln für Berührungen von Klientinnen zu suchen. Schließlich wurde Frau Adam in ihrer Rolle als Berufspraktikantin mit ihrem Anspruch auf Ausbildung, Anleitung und Schutz in der Praxisstelle bestärkt. Die Gruppe und ich unterstützten sie darin, die Vorgesetzten auf ihre Fürsorgepflicht und auf ihre Aufgabe anzusprechen, für die Vermeidung personeller Unterbesetzung zu sorgen – ein Missstand, der die gewalttätige Eskalation wie die beschriebene mitbedingt. 3. Diskussion Wenn ich das Geschehen dieses Nachmittags betrachte, so steht für mich außer Frage, dass die institutionellen Rahmenbedingungen mit ihrer unzureichenden personellen Besetzung von großem Einfluss waren. Weiterhin versteht es sich von selbst, dass die seelische Grundstörung des Mädchens, über die ich nichts Näheres weiß, ebenso zu berücksichtigen ist wie die vorausgegangene Erfahrung mit Yvonnes gewalttätigen Attacken gegen die anderen Mädchen. Zusätzlich zu diesen Faktoren sollen nun aber anhand von Frau Adams Beschreibung die einzelnen Elemente
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des Geschehens im Blick auf das Nähe-Distanz-Verhältnis und die dabei ins Spiel kommenden kommunikativen Mittel untersucht werden. Die Schilderung der Essenssituation lässt vermuten, dass Yvonne den „DiätApfel“ als schlechten Ersatz und den Entzug des Puddings als das feindselige Verweigern süßer Nahrung = Zuwendung erlebte. Das Verweigern wurde ihr ebenso mit Worten wie körpersprachlich und dinglich durch das Wegnehmen des Löffels und des Puddings vermittelt. Über Tonfall und Stimmlage, begleitende Mimik und Gesten kann ich natürlich nichts sagen. Allerdings nehme ich an, dass Frau Adam hier und die folgende Zeit über angespannt war – sie musste den nachmittäglichen Zeitplan einhalten, es war außer ihr lediglich eine junge Aushilfskraft im Dienst, und Yvonne war für sie unberechenbar, weil sie „ausrasten“ konnte. Der Puddingszene folgte eine Kommunikation auf körperlicher und verbaler Ebene: zunächst Yvonnes akustisch-geruchliche Protestnote, das Furzen, das als ungehörig oder pubertär, aber sicher nicht als bedrohlich gelten konnte; dann Frau Adams Reaktion, die nicht auf Yvonnes zugrunde liegende Gefühle von Zorn und Kränkung einging, sondern das Furzen normativ-hygienisch aufgriff, zuerst mit Worten, dann, indem sie das Mädchen ins Bad „schob“. Durch das Anfassen und Schieben rückte Frau Adam dem Mädchen buchstäblich auf den Leib, während sie sie zugleich von der Gruppe, dem Pudding und den Betreuerinnen „fortschaffte“. Yvonne konnte das „Rausschieben“ durch die Gleichzeitigkeit von einseitiger Berührung und Distanzherstellung vermutlich nur als pure Willkür und sich selbst als ohnmächtiges, geschobenes Objekt erleben. Beim Gang zum Unterricht wurde Yvonne wieder von Frau Adam „angefasst“. Die Formulierung „Ich hielt Yvonnes Hand fest, weil sie weglaufgefährdet ist“ klingt für mich nach einer Wohnheim-Sprachregelung und einer möglichen Anweisung an Frau Adam, welche Klientinnen festzuhalten seien. Während für die Sozialarbeiterin im Festhalten also Verantwortungsgefühl, Anspannung und Zeitdruck zusammenkamen, war es für Yvonne ein weiterer Übergriff, das ein erneutes Ohnmachtsgefühl auslöste. Sie nutzte die Gelegenheit, dass außer Frau Adam keine andere Betreuerin anwesend war, und schlug zu. Am weiteren Ablauf fällt mir besonders auf, dass äußerlich alles programmgemäß weiterlief – beide, Frau Adam wie Yvonne funktionierten weiter in ihren Rollen, als sei gar nichts geschehen, als habe es keinen aggressiven Ausbruch, keine Verletzung gegeben. Erst nach Abschluss ihrer dienstlichen Aufgaben gestattete sich Frau Adam, zu einer Kollegin zu gehen und ihr über das Geschehen, das sie geschmerzt und schockiert hatte, zu reden. Für mich zeigt sich in dem beschrieben Verlauf zwischen Frau Adam und Yvonne eine „negative Berührungskette“. Ich glaube, dass das Mädchen die Berührungen der Betreuerin als feindliches Näherrücken und als Verletzung ihrer, von Hall so bezeichneten „intimen Zone“ erlebt hat (Hall 1966, zit. n. Argyle 2002; S. 95). Sind Jugendliche schon „normalerweise“ empfindlich gegen ein körperliches
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Zu-nahe-Treten seitens Erwachsener, so gilt dies in erhöhtem Maße für psychisch kranke Jugendliche mit verminderter Aggressionskontrolle. Den Umgang mit dem Pudding verstehe ich als dingliche Botschaft, mit der symbolisch Zuwendung verweigert und ein Moment der Ausgrenzung aus dem Gemeinschaftsritual der Gruppe vermittelt wurde, die Yvonne vermutlich als feindselige Distanzierung empfunden hat. Der zeitliche Druck, das Nachmittagsprogramm einzuhalten, wenig Personal und wenig Zeit trugen dazu bei, dass Frau Adam wenig aufmerksam für Yvonnes emotionale Verfassung war. Yvonne ihrerseits fühlte sich durch den Puddingentzug, die anschließende Sanktionierung ihres Protestes gegen diese Verweigerung und das nachfolgende eilige Erledigen des Zum-Unterricht-Bringens erneut, wie ich glaube, als Objekt, das gekränkt, an einen anderen Ort verfrachtet und emotional weit auf Distanz gehalten wurde. So waren es nur zum geringsten Teil Worte, vielmehr überwiegend stumme – nahrungsbezogene, körperliche und zeitliche – Botschaften der Betreuerin, die zu Yvonnes Ohnmacht und Wut beitrugen und die diese Gefühle in eine körperliche Attacke gegen die Betreuerin umschlagen ließen. 4. Fragen zur Verpflegungsgestaltung in sozialen Einrichtungen Wenn wir uns auf das Ausgangsereignis in dem dargestellten Geschehen – auf den verweigerten Pudding und den zugeteilten Apfel – beziehen, können wir dies zum Anlass nehmen, den Umgang mit Verpflegung hier und allgemein in sozialen Institutionen kritisch zu befragen und zu weitergehenden Anregungen zu gelangen.
Wer hat eigentlich beschlossen, dass das Mädchen abnehmen muss? War es das Mädchen selbst? Vermutlich war es wohl so, dass hier Fachkräfte die Diät „aus guten Gründen und gut gemeint“ verfügt haben. Muss an dieser Stelle nicht kritisch über die professionelle Normierungsmacht nachgedacht werden? Wir reden viel über „Diversity“ und die Notwendigkeit der Anerkennung von Menschen in ihren Verschiedenheiten. Aber was ist mit der Diversitylinie „Körpergewicht“? Es ist erstaunlich, wie selbstredend hier Einheitsnormen für das Körpergewicht verteidigt und praktisch durchgesetzt werden, wie selbstverständlich von übergewichtigen Menschen (die Bezeichnung Übergewicht ist schon entlarvend) eine Gewichtsreduktion verlangt wird. Welcher normative Anspruch und wie viel Entmündigung stecken dahinter, wenn dem Mädchen der Pudding und die damit verbundene Lust verweigert werden? Wie legitimiert sich dieser Frustrationsakt eigentlich? Vermutlich spielen hier medizinische Gesundheitsargumente eine zentrale Rolle, die die erforderlichen Lustverzichte rationalisieren. Aber wie fragwürdig ist diese Legitimation letztlich, denn von einem Pudding mehr oder weniger wird das Mädchen
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doch kaum dick? Und wo bleiben bei alledem Lebensweltorientierung, Subjektorientierung und Partizipation als Leitfiguren der Sozialen Arbeit? In den Ernährungswissenschaften wird zudem durchaus kontrovers diskutiert, warum die einen Menschen mehr Gewicht haben als die anderen, welche gesundheitlichen Folgen das Mehrgewicht hat, und ob und wie man Menschen überhaupt verschlanken kann. Wenn also in einer sozialpädagogischen Institution Diätregeln verfügt werden, die fachwissenschaftlich durchaus fragwürdig sind, welchen Sinn haben sie dann? Wofür stehen Pudding und Apfel jeweils? Warum wird der Pudding begehrt, der Apfel nicht? Weil der Pudding milchige Süße bietet, der Apfel dagegen Säure hat, der Pudding den Mund weich füllt, während der Apfel hart ist. Bietet der Pudding die Lust einer sehr frühen Geschmackserfahrung, während der Apfel kräftiges und anstrengendes Zubeißen verlangt? Zu vermuten ist auch, dass der Pudding mit Kunstaromen „hochgetuned“ ist, während der Apfel, der aller Wahrscheinlichkeit nach aus industriellem Anbau stammt, ziemlich fade schmeckt. Die Forderung, den Apfel statt des Puddings zu essen, kommt somit einer ziemlichen Kasteiung gleich. Muss das eigentlich so sein? In dem polarisierten Kontext der gemeinsamen Mahlzeit – Pudding für alle, Apfel nur für eine Einzelne – symbolisiert der Apfel offensichtlich Strafe. Aber wofür wird das Mädchen eigentlich bestraft? Für ihr Mehrgewicht? Ist ihr anschließender Wutausbruch dann nicht eine nachvollziehbare Verteidigung gegen eine Strafe, die sie als ungerecht und diskriminierend empfinden muss? Wenn die Institution meint, dass Äpfel für Mehrgewichtige besser wären als Pudding, kann sie dann nicht Formen entwickeln, in denen die Äpfel nicht als Strafe, sondern annehmbar, sogar als Vergnügen erlebt werden? Sehr viele, wenn nicht sogar die meisten BewohnerInnen stationärer Einrichtungen sind ja von Mehrgewicht betroffen. Warum also einzelne aussondern und ihnen exklusiven Lustentzug auferlegen? Wie wäre es mit der Bereitstellung guter, geschmackvoller Äpfel oder mit geschmacksverfeinernden Apfelzubereitungen für die ganze Gruppe? Oder warum nicht die Äpfel zuvor zusammen auf einer Streuobstwiese sammeln, um sie dann als „eigene“ stolz zu verspeisen? Und wenn es dann doch Diätpudding sein soll, warum dann nicht für alle statt nur für einzelne wie Yvonne?
5. Schluss Abschließend möchte ich noch einmal auf Bruno Bettelheim verweisen, der in der 70er Jahren seine Kritik an psychiatrischen Anstalten und seine Gedanken zur Schaffung eines therapeutischen Milieus in dem Buch „Der Weg aus dem Laby-
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rinth“ ausgeführt hat. Unter seinen vielen Beobachtungen und Überlegungen rund um das Thema des Essens heißt es darin: „Als Kleinkinder waren unsere ersten Beziehungen zu einem anderen menschlichen Wesen die zur Mutter, die uns stillte. Und Mahlzeiten, die wir angenehm in Gesellschaft einnehmen, bleiben das große sozialisierende Element in unserem Leben. Sollten wir, dies wissend, nicht erwarten, dass gemeinsames Essen mit anderen ein höchst wichtiges Ereignis ist, wenn es darum geht, die schädlichen Folgen einer Vergangenheit rückgängig zu machen und den gestörten Patienten zu resozialisieren? (…) Essen – besonders bei den Hauptmahlzeiten – und in Gesellschaft von anderen essen oder von anderen gefüttert werden, sind deshalb Erfahrungen, denen eine therapeutische Einrichtung und der Therapeut die größte Aufmerksamkeit widmen sollte. Denn das Essen von Mahlzeiten ist eine Situation, in der alten Traumata durch korrigierende Gefühlserlebnisse in der gleichen Situation, in der die Traumata ursprünglich entstanden, entgegengewirkt werden kann“ (Bettelheim 1975; S. 70).
Literatur Argyle, Michael (2002): Körpersprache & Kommunikation – Das Handbuch zur Kommunikation. 8. Auflage. Paderborn Bettelheim, Bruno (1975): Der Weg aus dem Labyrinth – Leben lernen als Therapie. Stuttgart
Essen als Alltagskulisse. Kasuistik der Sozialpädagogischen Familienhilfe Fresia Klug-Durán
Einleitung Die nachfolgenden Ausführungen basieren auf den Erfahrungen aus dem Berufsalltag der sozialpädagogischen Familienhilfe, in der ich seit vielen Jahren in der Funktion als Familienhelferin und als Fachanleitung tätig bin.1 Alle Namen wurden anonymisiert. Einzelne Fakten wurden geringfügig abgewandelt, um die Wiedererkennung zu erschweren oder um die Falldarstellung zu vereinfachen. Sozialpädagogische Familienhilfe beschäftigt sich mit allen Problemlagen, die Familien betreffen können. Sie kann sich an ein Kind der Familie, an mehrere oder auch an die ganze Familie richten. Es werden ein oder zwei FamilienhelferInnen in einer Familie eingesetzt. Auch der Ort kann verschieden sein. Familienhilfe kann am Arbeitsort der Fachkraft in den Räumlichkeiten des Trägervereins stattfinden, in der Wohnung der Familie, oder man trifft sich mit einem Familienmitglied an einem öffentlichen Ort wie beispielsweise in einem Café. Auch werden Klientinnen und Klienten zu Ämtern begleitet. So ergibt sich ein räumliches und personelles Setting, das immer wieder anders ist. Es ist im Unterschied zum klassischen Beratungssetting oder therapeutischen Setting dem privaten Leben sehr nahe. Für die Familie ist das berufliche Handeln der Fachkraft damit oft nicht recht unterscheidbar von der Hilfe durch Bekannte oder Nachbarn. Es ist von daher Aufgabe der Fachkräfte während des gesamten Hilfeverlaufs möglichst viel Transparenz in diese strukturell unklare Situation zu bringen. Dem Umgang mit „Essen und Trinken“ fällt hierbei eine besonders große Bedeutung zu. Dabei kommt es gelegentlich zu Missverständnissen, auch heiterer Art, wie das folgende Beispiel zeigt. Eine Familie bestand über Wochen darauf, dass die Familienhelferin mit ihr zu Abend aß und zögerte die Verabschiedung der Familienhelferin regelmäßig stark hinaus, weil sie dachte, die Familienhelferin habe keine eigene Familie und sei folglich abends alleine zuhause. Alleine zu essen und abends alleine zuhause zu sein, widersprach der Kultur dieser Familie. Sie kümmerte sich also auf ihre Art um die Helferin, schützte sie vor Einsamkeit, obwohl die Familie – wie sich später herausstellte – eigentlich abends lieber unter sich ohne Familienhelferin gewesen wäre. Das Interesse der Familienhelferin lag wiederum darin, pünktlich die Arbeit zu 1
Träger der Familienhilfe ist der Verein für Psychotherapie, Beratung und Heilpädagogik e.V. in Frankfurt am Main.
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beenden, um zuhause den Feierabend zu beginnen. Sie sah sich jedoch vor der Schwierigkeit, in der Zeit des Sich-Kennenlernens und des Beziehungsaufbaus nicht unhöflich reagieren zu wollen. Beide Seiten waren sehr erleichtert, als dieses Missverständnis um die „vereinsamte Familienhelferin“ aufgelöst werden konnte. Gleichzeitig erfuhr die Familienhelferin hierdurch viel über das Wertesystem der Familie und konnte Facetten eines anderen Lebensalltages für die Familie erfahrbar machen. Im Arbeitsfeld der sozialpädagogischen Familienhilfe ist das Essen mit Klienten und Klientinnen regelmäßig Thema. Es kann, insbesondere beim Aufsuchen der Familie in deren Wohnung, von außen an die Fachkräfte herangetragen werden, weil ihnen Speisen und Getränke von den KlientInnen angeboten werden. Fachkräfte müssen sich in diesen Situationen nicht nur positionieren, es bietet sich ihnen auch die Chance, die vorgefundene Situation für diagnostische Überlegungen und sozialpädagogische Interventionen zu nutzen. Dies erfordert ein hohes Maß an Professionalität und Erfahrung. Zudem kann Essen und Trinken auch von den Fachkräften aktiv als sozialpädagogisches Instrument gestaltet werden. Dies ist dann der Fall, wenn die Ratsuchenden an den institutionellen Arbeitsort der Familienhelfer und Familienhelferinnen kommen. In diesem Fall kann das Setting vorbereitet werden. Die Frage, ob und wie Bewirtung stattfinden soll, kann für jede einzelne Sitzung im Vorhinein rechtzeitig überlegt und abgewogen werden. Im Folgenden beschreibe ich sechs Situationen, in denen Essen und Trinken eine wichtige Bedeutung für den Hilfeverlauf und seinen Erfolg hatten. Beziehung und Bewirtung Hasan, 11 Jahre alt, arbeitet mit zwei Familienhelferinnen zusammen. Die eine, Frau Hoffmann, macht seit kurzem einmal in der Woche mit ihm ein spezielles Training für die Hausaufgaben im dienstlichen Betreuungsraum; die andere, Frau Otto, kennt ihn schon mehrere Jahre und unterstützt ihn zweimal wöchentlich in allen Alltagsangelegenheiten – einmal in der Woche bei ihm zuhause und einmal am Arbeitsort der Familienhelferin. Hasan möchte mit Frau Hoffmann seit einiger Zeit nicht mehr zusammen arbeiten. Er schweigt mehrere Wochen über seine Hintergründe. Schließlich gelingt es Frau Otto, mit ihm darüber ins Gespräch zu kommen. Hasan beschwert sich vorsichtig. Frau Hoffmann esse regelmäßig, während sie ihm bei den Hausaufgaben helfe. Das ärgere ihn. Frau Otto: „Wir zwei, wir essen doch auch sehr oft zusammen. Gerade heute. Wir trinken Tee und essen Kekse. Stört dich das auch?“ Hasan: „Nein.“ (Hasan schaut überrascht) Frau Otto: „Was ist der Unterschied für dich?“
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Hasan: „Wir essen zusammen. Du machst Tee für mich, wenn ich bei dir bin, und ich mache Tee für dich, wenn du bei mir bist und wir essen zusammen. (Pause) Ich hatte einmal großen Durst bei Frau Hoffmann. Ich hab gefragt, ob ich was zu trinken bekomme. Sie hat nein gesagt, es sei ihr Trinken. Ich soll mir selbst was mitbringen.“ Frau Otto: „Oh, und das hat dich sicher gekränkt?“ Hasan: „Ja.“ Frau Otto: „Das kann ich gut verstehen. Ich finde es auch nicht freundlich, dass du durstig weiter arbeiten musstest. Soll ich einmal mit ihr sprechen?“ Hasan: „Weiß nicht.“ Frau Otto: „Weißt du, Hasan, ich glaube, dass ich vielleicht auch einen Fehler gemacht habe ...“ (Hasan schaut erstaunt) Frau Otto: „ ... weil ich wohl zu wenig mit Frau Hoffmann gesprochen habe über das, was wir zwei zusammen machen. Wir hätten uns besser absprechen sollen.“ (Hasan wirkt erleichtert, er freut sich) Frau Otto: „Und ich hätte Frau Hoffmann wohl mehr von dir erzählen sollen, ... dass du sehr gastfreundlich bist und zuhause immer Tee für uns kochst – und dass du dich sehr beeilst, dienstags nach der Schule und dem Fußballtraining pünktlich zu ihr zu kommen. Wahrscheinlich weiß sie nicht, dass du schon einen langen Tag hattest und nach dem Training besonders viel Durst hast.“ Hasan: „Trotzdem.“ Frau Otto: „Ja, trotzdem – ich weiß, ...“ Pause
In dieser Pause bleibt für den Jungen offen, was Frau Otto denkt: Zum Beispiel, dass die Kollegin dem Jungen auf jeden Fall etwas zu trinken hätte geben müssen, oder dass sie vermutet, dass Hasan weiterhin verletzt ist, oder, oder ... Der schlichte Kommentar „ich weiß“ reicht dem Jungen offenbar aus, sich verstanden zu fühlen. Er zeigt sich loyal der Familienhelferin Hoffmann gegenüber. Vermutlich würde es ihn zusätzlich belasten, wenn ihr Verhalten noch näher betrachtet und auch kritisiert würde. Wichtig für Hasan ist die Botschaft: „Ich kann dich verstehen. Du hast nichts falsch gemacht. Ich kümmere mich darum.“ Die Familienhelferinnen haben die Situation zunächst zu zweit besprochen und geklärt. Hasan nahm Frau Hoffmanns Entschuldigung an und ihr Angebot, ihm demnächst auch etwas zu trinken anzubieten und selbst auf das Essen während der Hausaufgabenstunde zu verzichten. Hasan erfuhr also, dass zwei Familienhelferinnen die Zeit mit ihm unterschiedlich gestalten können (mit und ohne Kekse) und dass beide Arbeitsweisen gleichwertig nebeneinander stehen können. Außerdem nahmen die Familienhelferinnen diese Situation zum Anlass, mit allen Kollegen und Kolleginnen das Thema „Bewirtung von Klientinnen und Klienten“ zu besprechen. Die Arbeitsweisen diesbezüglich sind von Einrichtung zu Einrichtung verschieden und sogar innerhalb der Teams. Wir erfuhren in diesem Zusammenhang auch, dass manche Arbeitgeber das Essen mit Klienten und Klientin-
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nen im Rahmen der Sozialpädagogischen Familienhilfe untersagen oder zumindest nicht gerne sehen. Die Gründe dafür sind mit Sicherheit nachvollziehbar, jedoch bevorzuge ich eine Praxis, die es den Fachkräften ermöglicht, individuell zu entscheiden wie sie mit Verpflegungsakten in Arbeitssituationen mit KlientInnen umgehen. Dabei ist es jedoch wichtig, im Gespräch zu bleiben über die jeweiligen Entscheidungen und Begründungen. Küchengespräche und scharfe Paprika Familie Yildiz wird von einer Familienhelferin und einem Familienhelfer unterstützt. Es handelt sich um eine so genannte Multiproblemfamilie. Die Mutter leidet unter Depressionen. Die Töchter, sieben und zwölf Jahre alt, leiden unter psychosomatischen Symptomen (Bauch- und Kopfschmerzen), die Söhne, 16 und 17 Jahre alt, verhalten sich aggressiv außerhalb der Familie und bleiben abwechselnd über Nacht weg. Die Eltern suchen also mehrmals wöchentlich nachts einen ihrer Söhne. Auftrag der Familienhilfe ist zunächst, sich einen Einblick in das Familienleben zu verschaffen und Hypothesen für das nächtliche Fernbleiben der Söhne zu entwickeln. Im Verlauf der Hilfe werden Beobachtungen gemacht, die eine psychische Erkrankung des Vaters vermuten lassen. Die Familienhelferin kommt einmal in der Woche vormittags zu der Familie nachhause, um mit der Mutter zu sprechen. Die Kinder sind in dieser Zeit in der Schule. Der Vater arbeitet im Schichtdienst und ist während des Besuchs der Familienhelferin entweder bei der Arbeit oder er schläft. Gegen Ende des Termins kommen einzelne der Kinder von der Schule zurück, Herr Yildiz bereitet sich manchmal für die Arbeit vor. Die Gespräche mit der Mutter finden in der Küche statt, wo sie vormittags überwiegend arbeitet. Die Familienhelferin akzeptiert, dass Alltagsabläufe während ihres Besuchs fortgeführt werden. Das heißt, dass Frau Yildiz kocht, die Spülmaschine ausräumt und ähnliche Arbeiten verrichtet. Außerdem frühstücken beide zusammen. Während dessen sprechen Frau Yildiz und die Familienhelferin über die Familie, die Erziehung der Kinder und Frau Yildiz’ Sorgen und Probleme. Herr Yildiz toleriert die Familienhelferin, weil seine Frau während der Besuche weiterhin in der Küche arbeitet. Diese Situation, redende und arbeitende Frauen in der Küche, ist Herrn Yildiz vertraut. Würde die Familienhelferin darauf bestehen, dass Frau Yildiz zu ihr in die Einrichtungsräume käme, erhielte sie vermutlich keine Erlaubnis vom Ehemann. Würden sich beide Tee trinkend ins Wohnzimmer setzen, wäre Herr Yildiz wahrscheinlich irritiert und könnte den Ablauf im Familienalltag als gestört erleben. Dies alles würde die ohnehin schwierige Situation zusätzlich belasten. Wenn Herr Yildiz leise vor sich hin redend seine Arbeitstasche packt, ist dies ein sicherer Hinweis darauf, dass es Streit in der Familie gegeben hat. Die Familien-
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helferin kann in der Küchenatmosphäre schnell erfragen, was los gewesen ist. Wenn seine Frau oder eine Tochter Herrn Yildiz Tee in die Thermoskanne füllt und Essen einpackt, dann ist alles in Ordnung. Die Familienhelferin braucht also nicht zu fragen, wie es der Familie geht. Der männliche Familienhelfer betreut einen der jugendlichen Söhne. Er holt ihn zuhause ab und hält sich dabei bewusst eine kurze Zeit in der Familie auf, um Gelegenheiten für Gespräche zu schaffen. Herrn Yildiz ist der Familienhelfer suspekt. Eigentlich stört er ihn. Weil sich Herr Yildiz jedoch nicht mehr zu helfen weiß im Umgang mit seinem Sohn, akzeptiert er ihn. Die kurzen Zusammentreffen nutzt er jedes Mal, um den Familienhelfer aufzufordern, mit ihm scharfe Paprika zu essen. Herr Yildiz bereitet die Paprika dann auf dem Elektrogrill zu und betont dabei, wie gut seine Paprika sei und wie hervorragend er sie zubereite. Herr Yildiz macht aus diesem Ritual gleichsam eine Show, die von Mal zu Mal grotesker wirkt. Herr Yildiz: „Bist du stark genug für meine Paprika? Bist du ein Mann? Wie viele Paprika isst du? ... ha, ha! Ich esse mehr scharfe Paprika, ...“ Auch die Kinder werden vom Vater befragt, was sie denken, wer mehr scharfe Paprika essen könne. Der Familienhelfer isst zum Ausdruck der Wertschätzung für die Zubereitungsleistung eine scharfe Paprika, lobt sie und betont ausdrücklich, dass sie wirklich sehr scharf sei und dass er keine weitere essen könne. Herr Yildiz freut sich darüber und wirkt beruhigt. Dieses Ritual scheint Herrn Yildiz dabei zu helfen, den Familienhelfer in seiner Familie zu tolerieren. Es ist seine Art, sich darüber zu versichern, dass er dem Familienhelfer Paroli bieten kann und nach wie vor die Kontrolle über die Familiengeschehnisse hat. Dieses Beispiel zeigt, dass durch Hausbesuche und die Akzeptanz der Fortführung des regulären Alltages (Küchentätigkeiten, gemeinsames Essen) während des Besuches der FamilienhelferInnen Einblicke gewonnen werden können, die entscheidend sind für die Einschätzung der Familienproblematik. Durch die Teilnahme an familiären Essensritualen (Frühstück der Mutter mit der Familienhelferin, Paprikaessen des Vaters mit dem Familienhelfer) konnte Einblick in den Familienalltag genommen und Akzeptanz für die sozialpädagogischen Interventionen in der Familie geschaffen werden. Es wäre auch möglich gewesen, die Erwachsenen zu bitten, zu Gesprächen in die Räume des Jugendhilfeträgers zu kommen, um in Ruhe ohne Ablenkung durch Kinder, Nachbarn, Verwandte miteinander sprechen zu können. Manches an familiären Konfliktdynamiken und Belastungen wäre dann jedoch für die Fachkräfte nicht so schnell sichtbar geworden. Vielleicht wäre eine Zusammenarbeit in einer Komm-Struktur gar nicht zustande gekommen. Bewirtung als Intervention Familie Müller ist eine Patchwork- oder Fortsetzungsfamilie. Herr und Frau Müller sind nach kurzer Kennenlernphase ein Paar geworden und haben bald geheiratet.
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Beide haben Kinder aus früheren Ehen. Insgesamt gehören sieben Kinder zur neuen Familie, vier Kinder leben mit den neuen Eltern unter einem Dach zusammen. Zu Beginn der Familienhilfe ist es Familie Müller gelungen, den Familienalltag formal zu regeln. Das jüngste Kind (Melani, 11 Jahre) schwänzt jedoch die Schule und hält sich nicht an die Regeln zuhause, sodass ihr Verhalten zu erheblichen Streitereien unter den Erwachsenen geführt hat; Herr Müller denkt an Trennung. Ein Familienhelfer und eine Familienhelferin arbeiten mit der Familie. Neben Einzelgesprächen und Hausbesuchen findet einmal im Monat ein Gespräch mit den Eltern und den zwei jüngsten Kindern (den leiblichen Kindern von Frau Müller) in einem Beratungsraum des Trägervereins statt. Es wird deutlich, dass die Kinder sich emotional nicht angenommen fühlen. Der Familienalltag lässt Wärme und Geborgenheit vermissen. Der Kühlschrank ist immer gefüllt, es finden auch gemeinsame Mahlzeiten statt. Die Kinder vermissen es jedoch, dass miteinander gesprochen und freundlich miteinander umgegangen wird. Der Familienhelfer und die Familienhelferin entscheiden sich dazu, die Treffen betont aufwändig zu gestalten. Es gibt einen kleinen Snack, der die individuellen Vorlieben der Kinder berücksichtigt und der Tisch und das ganze Zimmer werden jedes Mal dekoriert. Dieser Aufwand wird von Seiten der HelferInnen nicht kommentiert, zeigt jedoch die gewünschte Wirkung. Die Familie kommt darüber ins Gespräch, dass die Kinder eine angenehme Atmosphäre während der Mahlzeiten vermissen. Melani sagt, dass der Stiefvater immer nur seine Söhne und den Stiefsohn (Melanis Bruder Tom, 13 Jahre) frage, wie ihr Tag gewesen sei. Er unterhalte sich mit ihnen während des Essens, mit ihr jedoch nicht. Auch Tom vermisst die Gemütlichkeit. Er sagt, dass die Mutter früher, als er und Melanie mit ihr alleine gelebt hätten, sich mehr um beide gekümmert hätte. Gemeinsames Essen sei liebevoller gestaltet gewesen. Heute nutzten die Eltern die Essenzeit, um die Kinder zu kritisieren und zu ermahnen. Lob und Anerkennung seien selten. Die Eltern konnten die Kritik annehmen. Alle bekamen Gelegenheit, ihre Sicht und ihre Gedanken und Gefühle zu äußern. Die Familie stellte fest, dass sie sich mehr Zeit nehmen wolle, als Familie zusammen zu wachsen. Die Mahlzeiten wurden nun auch zuhause freundlicher gestaltet. Das Familienklima entspannte sich gleichzeitig. Melani hielt Regeln nun zunehmend häufiger ein. Realer und symbolischer Hunger Paula, 11 Jahre alt, kann nicht gut lesen und schreiben, lernt langsam und muss Lernschritte deshalb häufiger als die meisten Gleichaltrigen wiederholen. Ihre Lernmotivation ist gering, Vermeidungsverhalten dafür umso geübter. Paula ist Einzelgängerin und hat Schwierigkeiten, ihren Standpunkt anderen Kindern und Erwachsenen gegenüber zu erklären und zu behaupten. Paula ist normalgewichtig.
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Nach dem Kennenlernen und der Vereinbarung von Hilfezielen und -inhalten versucht die Familienhelferin Frau Obst, regelmäßige Termine mit Paula zu verabreden. Dies geht stockend voran. Paula geht nach der Schule in einen Hort. Dort isst sie, macht Hausaufgaben, spielt und bleibt dort bis fünf Uhr nachmittags. Für die Termine mit der Familienhelferin kann sie den Hort früher verlassen. Frau Obst: „An welchen Wochentagen kannst du denn zu mir kommen?“ Paula: „Montags hab ich Logopädie, da geht’s nicht.“ Frau Obst: „Und an den anderen Tagen?“ Paula: „Ja, da geht es.“ Frau Obst: „Wie wäre es also zum Beispiel dienstags und donnerstags um vier Uhr, dann kannst du bis halb vier im Hort bleiben.“ Paula: „Das geht nicht.“ Paulas Mutter schaut verwundert. Sie fragt in strengem Ton: „Warum kannst du da nicht?“
Die Familienhelferin reagiert auf die Strenge der Mutter und versucht, wieder direkt mit Paula ins Gespräch zu kommen. Frau Obst: „Mach mal einen Vorschlag. Wann kannst du kommen?“ Paula: „Zwischen zwei und drei Uhr oder dann nach halb fünf.“
Die Familienhelferin ist überrascht und sieht, dass auch Paulas Mutter irritiert ist. Den Erwachsenen geht durch den Kopf, was Paula wohl davon abhält, zwischen drei und halb fünf zur Familienhelferin zu kommen. Gleichzeitig wächst der Grad der Besorgnis, welches Geheimnis wohl nun ans Licht kommen könnte? Trifft Paula sich heimlich mit jemandem? Wenn ja, mit wem? Unabhängig von der Unmöglichkeit, in diesem engen Zeitfenster zweistündige Termine zu vereinbaren, muss nun auch aus Gründen der Sorge um die elfjährige Paula geklärt werden, was das Mädchen in dieser Zeit tut. Sie wird befragt. Paula antwortet: „Da ist „Vier-Uhr-Naschen“ im Hort. Das will ich nicht verpassen“, erklärt sie. Im Laufe des Gesprächs klärt sich, dass der Hort ein Ritual hat, das „Vier-UhrNaschen“. Um vier Uhr kommen die Kinder zusammen und essen gemeinsam etwas Süßes. Alle Erwachsenen sind erleichtert, dass die Situation sich so unspektakulär erklären lässt. Paula wird nun freundlich gefragt, was und wie das „Vier-UhrNaschen“ sei. Die Erwachsenen erfahren, dass es im Hort eingeführt wurde, damit die Kinder nicht vereinzelt naschen, sondern in Gemeinschaft. Sie sollen auch lernen zu teilen.
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Die Familienhelferin erfährt in dieser Szene des Kennenlernens, dass Paula großen Wert auf Essen legt. Diese Information greift sie auf, um erste Schritte hin zu einer guten Arbeitsbeziehung zu machen. Frau Obst: „Paula, wie wäre es, wenn wir zwei dienstags und donnerstags unser eigenes „Vier-Uhr-Naschen“ machen? Kannst du dann um vier Uhr bei mir sein?“ Es folgt ein neugieriges Verhandeln darüber, was es dann zum „Vier-UhrNaschen“ geben könnte. Paula erkennt den Vorteil, nur mit einer Erwachsenen und nicht mit mehreren Kindern teilen zu müssen, sodass nun regelmäßige Termine vereinbart werden können. Dieser komplizierte Weg, Termine zu vereinbaren, hat sich aus Sicht der Familienhelferin gelohnt, weil das Kind erlebt hat, dass es mit seinen Wünschen ernst genommen wird und weil auf ihr Bedürfnis („Vier-Uhr-Naschen“) eingegangen wurde. Die Familienhelferin erhält wichtige Informationen über Paula: Paula bekommt im Hort und zuhause genug zu essen. Sie bekommt zuhause auch uneingeschränkt Süßigkeiten. Dennoch hat sie offenbar das Gefühl, noch mehr Essen zu brauchen. Die Familienhelferin interpretiert Paulas „Hunger“ als Ausdruck eines Hungers nach Beziehung und individueller Zuwendung. Im Verlauf der Hilfe bestätigt sich diese erste Annahme. Paula teilt nicht gerne und wird eigentlich nie wirklich satt. Auf die Frage: „Bist du satt?“ antwortet sie noch mehrere Monate lang: „Nein, aber ich kann nicht mehr.“ Von Paulas Mutter erfährt die Familienhelferin, dass Paula als Kind „schlecht“, also wenig gegessen habe. Hierüber habe sie Zuwendung erfahren, da die Familie großen Wert darauf legt, dass Kinder viel essen. Dahinter steht die Annahme, dass Kinder kräftig und gesund würden, wenn sie viel essen. Seit etwa einem Jahr esse sie normal, so die Mutter. Aus Sicht der Familienhelferin ist dies ein Hinweis darauf, dass Paula sich in ihrer Familie seit einem Jahr besser beachtet fühlt. Dennoch hält sie am „viel Essen“ fest, weil sie noch keine Alternativen gefunden hat, dafür zu sorgen, sich im übertragenen Sinne satt zu fühlen. An diesem Ritual mit der Familienhelferin wird Paula im Verlauf der Hilfe noch drei Jahre fest halten. Die Familienhelferin spricht nach eineinhalb Jahren wiederholt an, ob Paula das „Vier-Uhr-Naschen“ noch brauche oder ob sie sich stattdessen etwas Anderes überlegen könnten, zum Beispiel regelmäßige Kinoausflüge. Paula lehnt diese Vorschläge ab. Als sie vierzehn wird, kommt es zur Einigung zwischen der Familienhelferin und Paula, dass das „Vier-Uhr Naschen“ nun nicht mehr ihrem Jugendalter entspricht. Es wird als Ritual beendet. Gleichwohl ist Essen nach wie vor wichtig für Paula. Manchmal beginnt sie ihre Stunde bei der Familienhelferin mit dem Satz: „Ich habe Hunger.“ Die sich anschließenden Szenen verlaufen immer nach dem gleichen Muster:
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Frau Obst: „Hast du im Hort nicht gegessen?“ Paula: „Doch.“ Frau Obst: „Aber...?“
Paula berichtet dann fast immer von einer Auseinandersetzung im Hort. Das Essen kann dabei eine Rolle gespielt haben, muss es jedoch nicht. In jedem Fall benutzt Paula den Satz „Ich habe Hunger“, um die Familienhelferin darauf hinzuweisen, dass es ihr nicht gut geht und dass sie ein Problem besprechen möchte. Die Reaktion der Familienhelferin ist mit Absicht immer gleich. Zuerst wird gegessen, anschließend über die Konfliktsituation gesprochen und Lösungen verhandelt. Hierdurch hat Paula Verlässlichkeit in der Befriedigung ihres „Hungers“ erfahren. Diese Erfahrung legt den Grundstein dafür, dass Paula zunehmend bereit ist, ihre Sichtweise und ihr Verhalten zu verändern. Von einer zuvor eher ichbezogenen Starrheit als Ausdruck großer eigener Bedürftigkeit ausgehend, gelingt es ihr mehr und mehr, über Konflikte zu sprechen und sich dabei in die Situation Anderer hinein zu versetzen. In diesem Fallbeispiel wird deutlich, dass das Essen an sich nicht die Intervention ist, sondern es ist ein Instrument des Verstehens, der Diagnose und der Herstellung eines Arbeitskontaktes. Von außen betrachtet mag dies ganz anders wirken und manch kritische Frage aufwerfen: „Hat die Familienhelferin es wieder nicht geschafft, zu Mittag zu essen?“ – „Fällt ihr nichts anderes ein, was sie mit dem Mädchen machen kann?“ – „Kann das Kind nicht zuhause essen? Die Zeit der Familienhilfe ist zu kostbar dafür.“ – „.Ist dies Sinn und Gegenstand von sozialpädagogischer Familienhilfe, dass die Familienhelferin mit dem Kind kocht und isst?“ Dies zeigt an, wie wichtig Fallreflexion und Supervision sind, um Gelegenheiten dafür zu schaffen zu verstehen, welche elementaren Bedeutungsgehalte und sozialpädagogischen Chancen in diesen scheinbar einfachen Versorgungsleistungen verborgen sind. „Im Vorübergehen“ ist dies kaum erkennbar. Kochen und Geschlechterrollen Mohamed, 12 Jahre alt, wird in einer der ersten Stunden von seinem Familienhelfer gefragt, was er denn kochen könne. Mohamed: „Bist du irre, Mann! Kochen ist Frauensache.“ Herr Schmidt: „Hast du noch nie gekocht?“ Mohamed: „Nee! Das macht meine Mutter.“ Herr Schmidt: „Nicht einmal Spaghetti?“ Mohamed: „Nee.“ (schaut völlig überrascht) Herr Schmidt: „Na, dann werden wir wohl mal kochen. Was isst du denn gerne?“
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Mohamed lehnt es zunächst ab, mit dem Familienhelfer zu kochen. Da er jedoch Hunger hat, lässt er sich schließlich auf das Experiment ein. Es dauert eine Weile, bis sie sich auf ein Gericht einigen. Sie beschließen, Pizza zu backen und gehen einkaufen. Im Supermarkt fragt Herr Schmidt, welchen Pizzabelag Mohamed sich wünscht. Mohamed: „Coole Pilze!“ Herr Schmidt: „Okay. Dann holst du jetzt die Pilze und ich den Käse.“
Mohamed reagiert ähnlich überrascht wie auf die Frage, was er denn kochen könne. Auch das Einkaufen scheint er nicht gewohnt zu sein. Vermutlich macht auch dies in seiner Familie die Mutter. Zunächst findet er die Pilze nicht. Herr Schmidt hilft ihm schließlich dabei. Mohamed hat ein Erfolgserlebnis, weil er die Preise der verschiedenen Produktangebote kritisch und richtig vergleicht. Er wird von Herrn Schmidt dafür gelobt. Nach dem Einkauf weigert sich Mohamed die Einkaufstüte zu tragen, weil er befürchtet, sich auf der Straße zu blamieren, sollte ihn ein Freund sehen. Herr Schmidt kommt ihm entgegen, indem er die Tüte trägt. In der Küche der Einrichtung ist Mohamed sehr engagiert bei der Essenszubereitung. Es macht ihm Spaß. Das gemeinsame Essen fördert den Beziehungsaufbau. Außerdem bekommt Mohamed Kontakt zu anderen FamilienhelferInnen, die im Vorübergehen in die Küche kommen und gewinnt dadurch an Sicherheit im Trägerverein. Mohamed lernt, dass auch Männer einkaufen und kochen können, ohne dadurch an Männlichkeit zu verlieren. Er erfährt dafür Anerkennung von seinem Familienhelfer und von dessen Kollegen und Kolleginnen. Später wird er auch in der Schule dafür gelobt werden, dass er kocht. Das Beispiel zeigt, dass im Rahmen der sozialpädagogischen Familienhilfe durch die Gestaltung von Situationen des Kochens und Essens Rollenbilder und traditionelle Aufgabenteilungen infrage gestellt werden können. Kommunikation und Wertschätzung durch Bewirtung Familie Abadi kommt aus Afghanistan. Der Vater spricht wenig, die Mutter gar kein deutsch. Die Familie hat fünf Kinder, die alle gut deutsch sprechen, sofern sie dem Kleinkindalter entwachsen sind. Die Hilfe wurde mit einem Familienhelfer und einer Familienhelferin eingerichtet, um vorrangig die älteste Tochter Arzu zu entlasten und zu unterstützen. Arzu ist elf Jahre alt und gut in der Schule. Sie hat jedoch Schwierigkeiten im Sozial- und Arbeitsverhalten. Arzu ist für die Alltagsabläufe der Familie sehr wichtig. Sie begleitet die Mutter zu allen Arztbesuchen und übersetzt hierbei. Den Vater begleitet sie zu Ämtern. Auch hier übersetzt sie, obwohl sie aufgrund ihres Alters eigentlich nicht in der Lage sein dürfte, die Bedeutung dessen, was sie übersetzt, zu verstehen. Diese hohe, altersunangemessene Verantwortung
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für die Familie sowie die Anforderung, zwei Kulturen (die zuhause gelebte und die der Schule) zu integrieren, werden als ursächlich für Arzus Verhaltensschwierigkeiten angenommen. Die Familienhelferin besucht Arzu zweimal wöchentlich zuhause, um mit ihr eine zuverlässige Arbeitsstruktur einzuüben. Während der Termine ist der Vater zur Arbeit außer Haus, die Mutter arbeitet im Haushalt. Arzu öffnet stets die Tür. Die Mutter tritt zunächst nicht in Erscheinung. Etwa nach einer Stunde (die Besuche dauern zwei Stunden) schickt die Mutter eines ihrer Kinder, um zu fragen, ob sie etwas zu Essen bringen dürfe. Arzu antwortet dann jedes Mal, ob es nun passe oder ob es noch unpassend sei. Entsprechend bringt die Mutter kurz danach oder etwas später Essen. Sie ist sehr schüchtern, jedoch auch neugierig, was ihre Tochter mit der Familienhelferin macht. Diese Welt der Schule und des Lernens ist ihr völlig fremd, denn sie selbst ist in ihrem Heimatland nie zur Schule gegangen. Über dieses Ritual der Bewirtung lernen sich Frau Abadi und die Familienhelferin etwas kennen. Die Familienhelferin lobt das Essen und fragt, wie die Speisen heißen. So entsteht Vertrauen. Bei Frau Abadi wächst der Wunsch, Deutsch zu lernen. Zu Beginn der Familienhilfemaßnahme versucht Arzu noch, die Mutter weg zu schicken, weil sie sich schämte, dass die Mutter nicht deutsch sprechen konnte. Mehrfach wurde dabei sichtbar, wie respektlos und abschätzig die Elfjährige ihre Mutter behandelte. Das Lob der Familienhelferin und die Aufwertung ihrer Küchen- und Haushaltsarbeit trugen dazu bei, dass Arzu wieder Achtung gegenüber ihrer Mutter gegenüber entwickelte. In der Arbeit mit Familien, in denen die Mütter nicht oder kaum – deutsch – sprechen, hat das Essen einen sehr hohen Stellenwert. Oft ist es die einzige Möglichkeit für diese Mütter auszudrücken, dass die Familienhelferin willkommen ist, dass sie interessiert sind und sich für ihre Unterstützung bedanken. In dieser Situation halte ich es für unbedingt notwendig, Essen anzunehmen, um den Müttern die Möglichkeit zu geben, sich vor den Augen der Kinder kompetent und nicht nur hilfebedürftig zu zeigen. Die zumeist von Müttern erledigte alltägliche Hausarbeit erfährt nach wie vor gesellschaftlich wenig Anerkennung. Auch Kinder lernen es oft nicht, diese Arbeiten wert zu schätzen. Hingegen erleben die Kinder die Familienhelferin als kompetent und angesehen, weil sie beispielsweise in der Schule mit den LehrerInnen spricht und sich als Konsequenz daraus oft etwas Positives für die Kinder ergibt. Um einer Konkurrenzsituation zwischen Mutter und Familienhelferin vorzubeugen und um die Autorität der Mutter in der Familie zu unterstützen, müssen Gelegenheiten genutzt werden, in denen die Leistungen der Mutter für die ganze Familie sichtbar werden. In unserer Praxis erleben wir es manchmal, dass männliche Familienhelfer aus kulturellen Gründen oder wegen der Gewalterfahrungen, die weibliche Familienmitglieder durch Männer erfahren haben, keinen Zutritt zur privaten Wohnung
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einer Familie erhalten. Der männliche Helfer übernimmt dann, wie im Fall der Familie Abadi, die Begleitung des Vaters zu Ämtern oder in die Schule, oder er betreut einen Sohn außerhalb der Familie. In solchen Fällen kommt es vor, dass die Mutter der Familienhelferin etwas zu essen für den Kollegen mitgibt. Hierin drückt sich Anerkennung und Dank für die Arbeit des Familienhelfers aus. In jedem Fall sollte der Familienhelfer eine positive Rückmeldung darüber geben, die von möglichst allen Familienmitgliedern gehört werden kann. Schlussbemerkung: Warum Familienhilfe Essen ernst nehmen sollte Essen hat eine physiologische Bedeutung. Es spricht aber auch andere Bedürfnisse an. In Paulas Fall wird sichtbar wie der „Hunger“ emotionale Bedürftigkeiten versinnbildlicht. Die Akzeptanz von Paulas „Hunger“ und die kontinuierliche Versorgung mit Essen, später auch durch Zuwendung und das Angebot, Lösungen für Kummer und Konflikte zu finden, führt nach mehren Jahren schließlich zum Erfolg. Erfolg heißt hier, dass der „Hunger“ als Symbol für emotionale Bedürftigkeit überflüssig geworden ist. Paula hat gelernt, Bedürfnisse direkt anzusprechen. Auch für Hasan ist das Erlebnis des Bewirtens und Bewirtetwerdens mehr als nur die Möglichkeit, den Durst anderer oder den eigenen Durst zu löschen. Er ist es gewohnt, darüber Wertschätzung zu geben und zu bekommen. Wenn ihm nichts zu essen und zu trinken angeboten wird, erlebt er dies als persönliche Kränkung und Ablehnung, was wiederum die sozialpädagogische Arbeitsbeziehung belastet. Indem von Fachkräften wie auch von Klientinnen und Klienten Speisen und Getränke angeboten werden, wird ein „Willkommen sein“ ausgedrückt. Am Beispiel der Familie Yildiz wird jedoch deutlich, wie in den Bewirtungsakten auch Macht ausgehandelt und Demütigungen kompensiert werden. Es liegt mir fern, mich über Herrn Yildiz lustig zu machen, obgleich die Schilderung der „Paprika-Situation“ manchem Leser, mancher Leserin komisch oder sogar tragikomisch erscheinen mag. Vielmehr ist es wichtig, diesen Familienalltag als FamilienhelferIn zunächst zu akzeptieren, sich darauf einzulassen und auf sich wirken zu lassen. So kann eine tragfähige Arbeitsbeziehung aufgebaut werden, in der sich die Familienmitglieder anvertrauen können. Wir können, wie im Falle der Familie Müller, auch auf den Familienalltag praktisch Einfluss nehmen, indem Fachkräfte die Arbeitssituationen mit der Klientel mit großer Sorgfalt räumlich und materiell rahmen und sich um eine gemütliche Atmosphäre bemühen, die emotionale Wärme vermittelt. Verköstigungselemente spielen darin eine wichtige Rolle. Auf diese Weise können Familien Impulse gegeben werden, wie familiäre Gemeinschaft positiv gestaltet werden kann. Das Fallbeispiel der Familie Abadi zeigt schließlich die große Bedeutung von Essen als Mittel des In-Kontakt-Tretens und der Kommunikation mit Menschen, denen Wortsprache als Verständigungsmittel versagt ist. Gerade dann, wenn Klien-
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tinnen und Klienten nicht die Landessprache und auch die Fachkräfte nicht die Sprache der Klienten beherrschen, werden symbolische Mitteilungen umso bedeutsamer. Der Akt der Bewirtung stellt in diesem Fall oftmals die einzige Möglichkeit dar den Fachkräften Sätze wie folgende mitzuteilen: „Sie sind willkommen.“, „Danke.“, „Kommen Sie wieder!“ In jedem Fall kann „Essen und Trinken“ im Alltag der sozialpädagogischen Familienhilfe nicht ignoriert werden. Es handelt sich um methodische Instrumente der Kontaktaufnahme und Beziehungsgestaltung. Die Art und Weise der Bewirtung von KlientInnen durch die FamilienhelferInnen schafft Grundlagen der Annäherung und Ansatzpunkte für nachfolgende Interventionen. Im Zusammenhang mit Ritualen rund um das Essen – beim gemeinsamen Essen, Trinken, Einkaufen und Kochen – entstehen Nähe und Bindung, wird Vertrauen aufgebaut. Kinder und Erwachsene erleben sich als kompetent und schöpfen Kraft und Zuversicht, auch andere Aufgaben zu bewältigen. Für FamilienhelferInnen ist es hilfreich, die individuelle Bedeutung des Essens für die jeweilige Familie und ihre Mitglieder zu erfahren, um Hypothesen für die Interpretation des Verhaltens der einzelnen bilden zu können. Jede Familie isst mehr oder weniger gemeinsam und hat ihre eigene Art, Mahlzeiten zu gestalten und Gäste zu bewirten. Wer einkauft, wer kocht, wer deckt den Tisch, wer spült und räumt auf? Dies alles ist entscheidend für die sozialpädagogische Diagnose und Intervention im Rahmen der Familienhilfe und letztlich für das Gelingen von Familienleben.
Das Suppenfest als multikulturelles Ereignis in der Gemeinwesenarbeit Christian Meineke/Christina Gorol
Einstieg I: Als Gast auf dem Suppenfest – ein Erlebnisbericht Weil ich gehört hatte, dass es beim Suppenfest garantiert wieder voll wird, kam ich extra früh. Dennoch stieß ich im Foyer des Gemeinschaftszentrums Richtsberg bereits auf eine lange Schlange wartender Menschen. Es war schon relativ viel Aufregung um mich herum. Dauernd liefen Leute in den Veranstaltungssaal hinein und kamen wieder hinaus, weil seit einer Stunde eine Fach- und eine Kinderjury die Suppen verkosteten. Die 25 Köchinnen und Köche hatten Begleitpersonen und ihre Familien mitgebracht, so dass im Veranstaltungsraum schon viel los war. Nach zehn Minuten war ich dann an der Reihe. Für 2,50 € bekam ich eine kleine Suppenschüssel, einen Suppenlöffel und eine Broschüre zu den Suppen des diesjährigen Suppenfestes. Außerdem erhielt ich einen Aufkleber als Ausweis für die Köchinnen und Köche, dass ich bezahlt habe und berechtigt bin, die Suppen zu probieren. Zudem wurde mir der gute Rat mitgegeben, nicht zu viel von den Suppen zu nehmen, damit ich möglichst viele Suppen kosten kann. Ich ging in den Veranstaltungsraum, der eng gefüllt war mit vielen Menschen. In der Zeitung las ich später, dass es mehr als 400 gewesen waren. An den Wänden waren die Suppenstände aufgebaut. Im Raum verteilt waren Stehtische. In einer Ecke gab es zudem Sitzmöglichkeiten für die Essensgäste. Die meisten Gäste hatten schon gefüllte Schüsseln und standen in kleinen Gruppen löffelnd und redend zusammen. Es herrschte ein lautstarkes Stimmengewirr. Am ersten Suppenstand, an den ich trat, musste ich auch wieder anstehen, weil vor mir noch zwei Mitglieder der Kinderjury die Suppe verköstigten. Ich bekam dann an dem schön gestalteten Stand eine ordentliche Portion Suppe in mein Schüsselchen, ehe ich sagen konnte: „Bitte nicht so viel!“ Auffallend waren die regen Gespräche an den Suppenständen zwischen den Gästen und den Köchinnen und Köchen. Man fragte nach den Zutaten, Rezepten und den Motiven, gerade diese Suppe hier anzubieten und gab Rückmeldungen zum Geschmack. So wanderte ich von Stand zu Stand, wartete, lauschte den Gesprächen, unterhielt mich selbst mit den Köchen und umstehenden Gästen und probierte die verschiedenen Suppen. Zwischendurch blätterte ich in dem Suppenheft, das ich beim Eintritt erhalten hatte.
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Nach fünfzehn Suppen war ich leider völlig satt. Ich hatte viele verschiedene Geschmackserlebnisse gehabt, viele verschiedene Regionen dabei gekostet, fremde Gewürze und Zutaten geschmeckt. Es war traditionsreiches wie die ungarische Gulaschsuppe, polnische Gurkensuppe oder hessische Erbsensuppe dabei. Auch eine rheinländische Sauerkrautsuppe und Gemüsesuppen aus Indien, Persien und Palästina waren vertreten, die mir allesamt fremd waren, aber dennoch spannend schmeckten. Beliebte Zutaten waren Kartoffeln, Gemüse und Linsen. Ich hatte zudem viele verschiedene Speisegeschichten gehört und mit vielen Leuten gesprochen. Je weiter die Zeit fortschritt, desto häufiger war von einem der Stände der Ruf zu hören, dass die Suppe alle sei. Das Suppenfest endete mit der Ehrung der Siegersuppen der Fachjury und der Kinderjury. Auf jeden Fall bin ich beim nächsten Mal wieder dabei, vielleicht koche ich auch mal selbst eine Suppe für das Fest. Zu Hause werde ich einzelne Suppen aus dem Rezeptheft nachkochen und ich werde in meiner Verwandtschaft nach Rezepten von den Suppen aus meinen Kindertagen nachfragen. Einstieg II: Das Rezeptbuch zum Suppenheft – ein Auszug Alle Köchinnen und Köche, die am Suppenfest teilnehmen, werden von den Veranstaltern gebeten, einige Angaben zu ihren Suppen zu machen, die in einer Broschüre dokumentiert und an die Gäste verteilt werden. Für die Angaben gibt es ein vorgefertigtes Kategorienraster. Nachfolgend wird exemplarisch ein Auszug aus der Broschüre vorgestellt. Es handelt sich um den Text zur Suppe „Aades bil husrum“, einer sauren Linsensuppe mit Mangold aus Syrien, die von Waffa Al-Sarraj 2008 gekocht wurde. Was ist das Besondere an diesem Land/dieser Region? Syrien ist eines der ältesten Länder der Welt. Burgruinen, Schlösser und Amphitheater sind in den verschiedenen Städten zu bewundern. Verschiedene Weltreligionen leben in Syrien zusammen. Moderne Gegenden fließen in Altstädte über. Ebenso gibt es viele Basare, auf denen man allerlei kaufen kann. Syrien gehört zu den arabischen Ländern. Die Landessprache ist dementsprechend Arabisch. Welche Erinnerungen verbinden Sie mit dieser Suppe? Diese Suppe habe ich in den Wintertagen meiner Kindheit sehr oft gegessen. Auch im Fastenmonat Ramadan wird sie oft als Vorspeise gereicht. Aufgrund des hohen Vitamin C-Gehaltes durch Zitronensaft, Mangold und Petersilie wird diese Suppe in Syrien auch als „Erkältungssuppe“ gegessen. Ich erinnere mich immer an meine Eltern und Verwandten, wenn ich diese Suppe esse.
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Wo sind die Zutaten für diese Suppe erhältlich? Im orientalisch-arabischen Lebensmittelgeschäft am Richtsberg. 1 kg rote Linsen, 8 große Knoblauchzehen, 2 Zwiebeln, 1 kleine Tasse Olivenöl, Salz, 250 g Mangold, 2 Bund Petersilie, 200 ml Zitronensaft, Mehl zum Soßenbinden, 5 l Wasser, 1 Löffel Margarine, Brotcroûtons aus Fladenbrot, geröstete Zwiebeln und Knoblauch, Beilage: Radieschen mit Frühlingszwiebeln Das Rezept für diese Suppe lautet: Es werden 2 Zwiebeln mit 5 Knoblauchzehen glasig geschwitzt. Die roten Linsen werden gewaschen und gesiebt dazugegeben. Alles wird nun 5 Minuten miteinander gemischt. Nun wird der Mangold dazugegeben und erneut alles verrührt, bis der fein geschnittene Mangold glasig ist. Dann wird alles mit Wasser abgelöscht. Nachdem das Wasser kocht, wird die fein gehackte Petersilie dazugegeben und sofort auch der Zitronensaft, damit die Petersilie nicht die Farbe verliert. Nach 1 Stunde Kochen wird die Suppe gesalzen. In einer Pfanne mit Olivenöl und etwas Margarine nochmals 3 Knoblauchzehen bräunlich rösten und mit Mehl bestäuben. Die Mehlschwitze wird nun zur Suppe gegeben. Nach einer halben Stunde Kochen ist die Suppe fertig. Fladenbrot-Croûtons, geröstete Zwiebeln und Knoblauch werden zur Suppe gereicht und mit Petersilie dekoriert. Als Beilage können Radieschen und Frühlingszwiebeln serviert werden. Der Ort des Suppenfestes Marburg ist eine hessische Universitätsstadt mit fast 80.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Menschen aus 136 Nationen leben, studieren und arbeiten hier. Marburg hat eine lange Zuwanderungs- und Integrationsgeschichte, schon die Heilige Elisabeth kam einst aus Ungarn hierher. Heute wohnen in Marburg über 6.000 ausländische Menschen, ca. 4.000 Aussiedler und ca. 500 Kontingentflüchtlinge (jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion). Der Stadtteil Richtsberg, in dem etwa die Hälfte aller nach Marburg zugewanderten Menschen leben, hat für die Entwicklung der städtischen Integrationspolitik im Rahmen des Programms Soziale Stadt eine hervorragende Bedeutung. Der Stadtteil ist das größte soziale Problemgebiet der Stadt. Wenn soziale Problemlagen in Marburg beschrieben werden, dann leben am Richtsberg immer ungefähr die Hälfte der Menschen in diesen Problemlagen: Sozialhilfe, Armut, etc. Über 40 % der Sozialhilfebezieher Marburgs leben am Richtsberg, der Anteil arbeitsloser Jugendlicher und Erwachsener ist sehr hoch. Seit Mitte der neunziger Jahre gibt es eine starke Zuwanderung von Aussiedlern aus den ehemaligen SU-Staaten an den Richtsberg. Heute leben mehr als 8.000 Menschen aus über 80 Nationen im Stadtteil. Ukraine, Türkei, russische Föderation sind die am häufigsten vertretenen Nationen. Im Jahr
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2000 hatten fast die Hälfte der Richtsbergbewohnerinnen und -bewohner einen Geburtsort im Ausland. Der Stadtteil verfügt auf Grund einer erfolgreichen kommunalen Sozialpolitik über eine gute soziale Infrastruktur. Eine Marburger Besonderheit ist die Gemeinwesenarbeit in allen Problemstadtteilen. Am Richtsberg wird seit 1973 Gemeinwesenarbeit geleistet, seit 1986 wird die Soziale Arbeit durch das Projekt Einfache Stadterneuerung ergänzt. 1999 wurde der Richtsberg in das Programm Soziale Stadt aufgenommen. Der Stadtteil hat eine Integrationsfunktion für die gesamte Stadt, bei zugewanderten Menschen ist der Stadtteil oftmals der erste Wohnsitz. Dies wird voraussichtlich auch in der nächsten Zeit so bleiben. Die Entwicklung einer systematischen Integrationspolitik begann im Jahr 2001. Der entscheidende Fortschritt gelang in dem Moment, in dem die zugewanderten Menschen nicht mehr ausschließlich als Notleidende und Bedürftige angesehen wurden, sondern als Besitzer von wertvollem sozialen und kulturellen Kapital mit integrativen Entwicklungspotentialen, an denen gemeinsam angesetzt werden kann. Dieser partizipationsorientierte Perspektivenwechsel führte zu einem Konzept, in dessen Zentrum die gezielte Organisation von Verstehensprozessen steht. Untersuchungen, Berichte und die Förderung von Kommunikation wurden zum Dreh- und Angelpunkt der Integrationspraxis, die darauf basierte, den Bewohnern dabei zu helfen, ihr mitgebrachtes kulturelles und soziales Kapital zur gesellschaftlichen Teilhabe zu nutzen. Vor diesem Hintergrund ordnet sich auch das Suppenfest ein als Ort nicht nur der Darstellung und Kultivierung der vorhandenen Kompetenzen, sondern auch der Vergemeinschaftung über Grenzen hinaus. Kochen und Essen als Element in der Gemeinwesenarbeit Nicht nur die allgemeine Marburger Sozial- und Integrationspolitik stellt einen Nährboden für das Suppenfest dar, auch die langjährige kulinarische Orientierung der lokalen Gemeinwesenarbeit. Kochen und Essen hat hier seit jeher eine hohe Bedeutung. Begründet wurde dies vielfältig: Es ging um das Erlernen und Beherzigen von Kulturtechniken und Regeln, die Entwicklung von Konzentrationsfähigkeiten, die Wertschätzung „weiblicher Tätigkeiten“, die Vermittlung der Notwendigkeit der Selbsttätigkeit bei der Erfüllung der täglichen Pflichten. Nicht zuletzt ging es aber auch immer um „Genuss“. Dies alles war und ist, wenn man genau hinsieht, vermittelt über die konkreten, in der Richtsberger Gemeinwesenarbeit tätigen Menschen, die gerne kochen und die diese Alltagskultur des Genießens auch gerne weitergeben wollten. Schon in den frühesten Konzeptionen des Treffpunkts Richtsberg spiegelte sich dieses Anliegen wieder. Bei den Schülerlehrgängen sowie Kinder- und Jugendfreizeiten gehörte die Selbstversorgung zu einem zentralen Praxiselement. Es gab Weihnachtsessen mit
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„schön Anziehen“ in der offenen Jugendarbeit, gemeinsames Grillen, bei dem von der Speiseplanung über das Einkaufen bis zum Vorbereiten alle Aufgaben gemeinsam im Rahmen der offenen Jugendarbeit erledigt wurden. Noch gut in Erinnerung ist in diesem Zusammenhang eine Anekdote während einer deutsch-französischen Jugendfreizeit mit Selbstverpflegung vor vielen Jahren. Bei der Speiseplanung meldete sich ein nordafrikanischer Jugendlicher, der nach eigenem Bekunden noch nie in der Küche gestanden hatte. Weil ihm das Essen immer so gut geschmeckt hätte, wolle er nun unbedingt sein Lieblingsgericht für alle kochen. In einer Zeit, in der es noch keine Handys gab, schaffte er es, seine Mutter anzurufen, die selbst in Nordafrika im Urlaub weilte und besorgte von ihr das Rezept. Er beschaffte die notwendigen Zutaten in arabischen Läden, leitete eine Kochgruppe von sieben Jugendlichen an und war sich selbst für nichts zu schade bis hin zum Abwasch. Die gemeinsame Zubereitung und der Verzehr von Speisen sind in unterschiedlichen Varianten vom Arbeitslosenfrühstück bis zu Sponsorenessen Tradition in der Gemeinwesenarbeit am Richtsberg. In der Antirassistischen Woche 2006 wurde beim gemeinsamen Kochen und Verzehren die wechselvolle Geschichte einer „Migrantin“ nachvollzogen, nämlich der Kartoffel: Sie wanderte ein, wurde zunächst völlig verkannt, falsch verwendet. Nur langsam etablierte sie sich. Mittlerweile ist sie jedoch so integriert, dass man sie für „urdeutsch“ hält. Das Suppenfest ist in diesem Gesamtkonzept nur eine kulinarische soziokulturelle Veranstaltung unter vielen, es ist aber die öffentlichkeitswirksamste und größte. Ursprünge des Marburger Suppenfestes: Die internationale Bewegung „la louche d’or“ Eigentlich war es ein Zufall. Im Rahmen des Projekts Soziale Stadt MarburgRichtsberg nahmen zwei Marburger Fachkräfte an einem Erfahrungsaustausch zur Sozialen Stadt im Frankfurter Gallusviertel teil. In der Pause sahen sich die beiden Fotos zu Veranstaltungen im Gallusviertel an und entdeckten dabei auch Bilder vom dortigen Suppenfest. Da beide selbst gerne kochten, beschlossen sie, ein solches Suppenfest auch für den Stadtteil Richtsberg anzuregen. Die anschließenden Recherchen ergaben, dass das Gallus-Suppenfest wiederum auf das Suppenfest „la louche d’or“ (die goldene Suppenkelle) im nordfranzösischen Lille als Ursprungsereignis zurückging. Wer „fête de la soupe“ oder „la louche d’or“ in eine Internet-Suchmaschine eingibt, erhält mittlerweile Tausende von Treffern. Das erste internationale Suppenfest fand im Jahr 2001 im Stadtteil Wazemmes der nordfranzösischen Stadt Lille statt. Ursprünglich von Kulturschaffenden als „Kunstwerk“ geschaffen, wurde das Suppenfest zugleich zu einer integrationspolitischen Manifestation und zum Ausdruck des Miteinanders in multikulturellen städtischen Verdichtungsgebieten. Die Idee fand schnell Anklang in anderen Großstädten. Barcelona, Bologna, Krakau,
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Erfurt, Berlin und Frankfurt führen seit einigen Jahren regelmäßig Suppenfeste durch. Aber auch kleinere Städte kamen bald hinzu wie Marburg, wo das Suppenfest seit 2005 jährlich stattfindet, oder auch Bad Hersfeld. Wer ein solches Fest besucht, egal wie es auch immer unterschiedlich ausgestaltet ist, kann sich der Faszination nicht entziehen: „Dieses Festival ist ein ungewöhnliches menschliches Abenteuer. Es beweist, dass alle Bürger dieser Welt kulturelle Vielfalt feiern können. Am Anfang reichte eine Idee, auch wenn diese ganz einfach erscheint.“ Diese Worte des Vereins Attacafa aus Lille zum Suppenfest im Berliner Wrangelkiez 2004 zeigen im Kleinen, wie Ideen zu einer wirkungsmächtigen gestaltenden Kraft werden können. Leitgedanken des Marburger Suppenfestes Vor dem Hintergrund der internationalen kulturellen Bewegung „la louche d’or“ wurde das Marburger Suppenfest entwickelt. Ziel war es, kulturelle Diversität anhand der Speisen darzustellen und sinnlich-lustvoll in einem kollektiven Rahmen erfahren zu lassen. Kulinarische Diversität sichtbar zu machen, führte fast zwangsläufig zu einer Reihe von qualitativen Auflagen an die Suppenprodukte. Die Suppen sollten handwerklich nach herkömmlichen Rezepten gekocht werden. Fertigsuppen, Geschmacksverstärker oder andere künstliche Zusatzstoffe sind nicht erlaubt, wenn auch sich diese Forderungen nicht immer in aller Konsequenz durchsetzen ließen. Was tun, wenn z.B. der in die Suppe eingelassene – und eigentlich verbotene – Schmelzkäse für die junge und arme Studentin in Russland die einzige preiswerte Möglichkeit war, ihre wässrige Suppe kalorisch aufzurüsten, und sie nun als Suppenfestteilnehmerin ihre Suppe genau mit diesen Zutaten für die Marburger Bevölkerung wieder kocht? Da das „Schmecken“ allein in der Regel nicht ausreicht, um kulturelle Vielfalt zu verstehen und anzuerkennen, wurde den Geschichten der Suppen und Suppenköchinnen und -köchen besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Das Suppenfest sollte nicht nur ein gastronomisches Ereignis sein, sondern dazu dienen, Interesse füreinander, Gespräche und interkulturelles Verstehen zu fördern. Aus diesem Grund wurde ein Rezeptbuch als Begleitmaterial produziert, in dem die Teilnehmenden das Besondere der Herkunftsregion der Suppe, die persönlichen Erinnerungen, die mit der Suppe verbunden werden und das Rezept der Suppe beschrieben. Als Köchinnen und Köche des Suppenfestes waren zuallererst die Familien des Stadtteils Richtsberg anvisiert. In vielen der Familien mit Migrationshintergrund wird bis heute selbst gekocht und es spielen dabei die Traditionen der Herkunftsländer noch eine große Rolle. Aus diesem Grund existieren auch in der Stadt Läden
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mit einem traditionellen, internationalen Nahrungsmittelangebot, die es der Bevölkerung ermöglichen, „wie zu Hause“ zu kochen. Darüber hinaus sollen sich auch Vereine und Gruppen ebenso wie die kommerzielle lokale Gastronomie am Suppenfest mit eigenen Beiträgen beteiligen können. Es fügte sich dann immer gut, dass sich nicht mehr Profiköche anmeldeten, als mit dem Ziel des nachbarschaftlichen Festes vereinbar gewesen wäre. Bei allen Suppenfesten gelang es, dass der überwiegende Teil der Suppen von Bewohnerinnen und Bewohnern des Stadtteils Richtsberg gekocht wurde. Es beteiligten sich aber auch einzelne Bewohner, Initiativen und Gaststätten aus anderen Stadtteilen. Wie bereits in Lille war auch das Marburger Suppenfest mit einem Wettbewerb für die Köchinnen und Köche mit attraktiven Preisen als Anreiz verbunden. Hierfür wurden zwei Jurys eingerichtet. Die eine bestand aus erwachsenen Mitgliedern des öffentlichen Lebens und der gastronomischen Fachsparte. Die andere bestand aus Kindern des Stadtteils Richtsberg. Dies hat damit zu tun, dass die Partizipation von Kindern am Richtsberg schon eine lange Tradition hat. Die Preise werden in verschiedenen Kategorien vergeben: Alltagsköche und Profiköche. Auch das Publikum kürt eine Siegersuppe. Einen Sonderpreis für die beste Hessische Suppe verleiht zudem der Verein Slow Food. Die meisten Gewinnerinnen und Gewinner gehörten bislang zur Bevölkerung des Stadtteils Richtsberg. Interessanterweise sind die Gewinnersuppen überwiegend solche, die von den Köchinnen und Köchen als „Alltagssuppen“ bezeichnet worden sind, die mit relativ einfachen Mitteln gekocht werden und die die Protagonisten als Kinder eigentlich gar nicht gerne gegessen haben. Die für das erste Marburger Suppenfest entwickelte Konzeption blieb bis heute bestehen. 2008 wurde als weiteres Ziel formuliert, die Idee des internationalen Suppenfestes außerhalb von Marburg zu verbreiten. Deshalb wurde offensiv überregional für das Marburger Suppenfest Werbung gemacht. Allerdings war die überregionale Publikumsresonanz dann so groß, dass der Stadtteilcharakter des Suppenfestes in Gefahr geriet. Ein Jahr später wurde deshalb das Fest wieder nur noch lokal beworben. Der überregionale Zustrom 2008 hatte dennoch mit Erfolg dafür gesorgt, dass nachfolgend mehrere Suppenfeste in Ost- und Mittelhessen gestartet worden sind. Die Veranstaltung am Marburger Richtsberg ist in den vergangenen Jahren zu einem beliebten Ziel für viele Besucher und zu einer festen Institution geworden, die im städtischen Veranstaltungskalender nicht mehr wegzudenken ist. Das Suppenfest verdeutlicht auf eindrückliche Weise, dass Essen nicht nur Leib und Seele zusammenhält, sondern auch einen sozial-integrativen Aspekt besitzt, der Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft einander näher bringen kann. So haben alle Menschen ein Lieblingsgericht beziehungsweise eine Lieblingssuppe, an die sie sich gern erinnern und mit der sie etwas ganz Besonderes verbinden. Diese Erfahrung lässt sich mit anderen teilen. Ein Fest, bei dem alle, die möchten, ihre Suppe
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kochen und andere Menschen einladen, diese zu probieren, schafft eine gelungene Gelegenheit, miteinander nicht nur die Suppe, sondern auch die dazugehörigen Gedanken, Erinnerungen und Geschichten zu teilen. Die Beobachtungen beim Marburger Suppenfest zeigen: Gäste wie Teilnehmende unterschiedlicher kultureller Herkunft kommen schnell miteinander ins Gespräch. Bei einem Teller Suppe lernen sie sich näher kennen, feiern gemeinsam und bringen sich gegenseitig einen Teil ihrer Heimatkultur näher. Vielfältige Anregungen dafür bieten die an jeder Suppenstation ausliegenden „Suppenporträts“, die auch im Suppenheft veröffentlicht sind. Eine Wandersuppengeschichte zum Schluss Beim ersten internationalen Marburger Suppenfest gewann eine Kartoffelsuppe den Slow Food-Sonderpreis für die beste hessische Suppe. Diese wurde von einer Frau gekocht, die mit russischem Akzent sprach und erst seit vier Jahren wieder in Deutschland lebte. Sie erzählte die Geschichte dieser Suppe als Teil der eigenen familiären Immigrationsgeschichte. Im späten 18. Jahrhundert aus dem Waldeckschen aus der Nähe von Marburg an die Wolga ausgewandert, wurde das Rezept dieser Suppe von ihrer Ur-Ur-?-Großmutter mitgenommen. Die Kartoffelsuppe wurde immer weiter in der Familie gekocht, hat sich aber wahrscheinlich im Laufe der Jahre an der Wolga verändert. Von dort wanderte die Familie mit dem Suppenrezept im Zuge einer Vertreibungswelle während des 2. Weltkrieges nach Kasachstan. Dort kochte die Großmutter der Marburger Suppenköchin die Suppe, die sich in den Notzeiten des 2. Weltkrieges und der 1950er Jahre in Kasachstan noch einmal verändert hat. Die Suppe überlebte alle Umbrüche, wenn sich auch ihre Gestalt den wechselhaften Lebensbedingungen anpassen musste. Um die Jahrtausendwende kehrte sie schließlich an ihren Ausgangsort zurück, als die Familie nach Deutschland übersiedelte. So versinnbildlicht sich in einer Speise gleichzeitig familiale Wandlung und Kontinuität. Sie ist damit nicht nur Nahrungsmittel, sondern Spiegel von Lebenswelten und ihren Verwerfungen.
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Öffentliche Gemüsegärten im Stadtteil. Erfahrungen eines Modellprojektes zur sozialräumlichen Gesundheitsförderung Monika Kringe/Dorothee Griehl-Elhozayel
Der Artikel beschreibt die Planung und Umsetzung eines Stadtteilgartens für Kinder im Rahmen einer sozialräumlichen Gesundheitsförderung in einem Stadtteil mit besonderer Entwicklungspriorität.1 Leitend für die Praxis dieser Gesundheitsförderung ist das Prinzip, weniger normativ mit dem erhobenen Zeigefinger zu agieren, sondern vor allem an den Ressourcen der Menschen und des Sozialraums anzusetzen und auf der Basis von Partizipation und Empowerment nach gemeinsamen gesundheitsförderlichen Handlungsmöglichkeiten im Sozialraum zu suchen. Der Interkulturelle Garten am Stadtwald Der Garten für Kinder entwickelte sich aus einem bereits bewirtschafteten Interkulturellen Garten im Stadtteil heraus. Interkulturelle Gärten sind mittlerweile in vielen Städten Deutschlands zu finden. Es sind Gartenprojekte, die gemeinsam von einheimischen und zugewanderten Menschen betrieben werden. Sie stellen Formen der Herstellung gesellschaftlicher Teilhabe und Aneignung von Öffentlichkeit dar, wie sie auch den Bewohnern des Stadtteils die Möglichkeit bieten, der Enge der Wohnblöcke zu entfliehen und wieder an heimatlichen gärtnerischen Traditionen anzuknüpfen. Im Marburger Stadtteil Stadtwald wurde die Idee eines Anwohnergartens durch drei Aussiedlerfamilien angeregt, die nach einer gemeinsamen Gartenfläche in der Nähe ihres Wohngebietes suchten. Die im Stadtteil ansässige Gemeinwesenarbeit unterstützte die Familien bei ihrer Suche. Zeitgleich machte die neu gegründete Stiftung Interkultur auf ihre Arbeit aufmerksam, indem sie das Göttinger Modell der Internationalen Gärten, die dort schon seit vielen Jahren als Orte für Flüchtlings-, Migranten- und deutsche Familien betrieben werden, in Marburg vorstellten.2 1
Das Projekt wird getragen von der Gemeinweseninitiative IKJG (Initiative für Kinder-, Jugend- und Gemeinwesenarbeit e.V.) und dem Marburger Gesundheitsnetzwerk für Kinder „mittendrin“. Träger dieses Netzwerkes ist der Verein zur Förderung bewegungs- und sportorientierter Jugendsozialarbeit e.V. (bsj Marburg). Es wird als Modellprojekt der bundesweiten Kinderleicht-Regionen vom Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz gefördert. Mehr Infos und Bildmaterialien zum Abenteuergarten finden sich unter www.ikjg.de und www.marburg-mittendrin.de. 2 Mehr Informationen zu diesem Modell unter: www.internationale-gaerten.de
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Die Idee eines Internationalen Gartens wurde über die Gemeinweseninitiative aufgegriffen, in die Bewohnergruppen des Stadtteils transportiert und in quartierübergreifenden Gremien thematisiert. Vor allem die zugewanderten Familien zeigten ein großes Interesse und schlossen sich den Planungen an. Gemeinsames Ziel war, den Familien im Stadtteil ein Stück Grabeland zur Verfügung zu stellen, aber gleichzeitig auch einen Raum, in dem Menschen unterschiedlicher Nationalitäten miteinander über die Arbeit dort in Kontakt kommen und sich verstehen lernen. Ein entsprechendes Grundstück konnte im Jahre 2003 urbar gemacht werden. Das Projekt fand gute Unterstützung in Politik, Verwaltung und Universität, so dass die Akteure auf eine längere Perspektive hoffen konnten, und das Gartenprojekt mit vielen Ideen innovativ weiterentwickelt wurde. Heute gärtnern 20 Familien aus 11 Nationen auf dem 3.000 qm großen Gelände, das die Stadt Marburg der Gemeinweseninitiative für 10 Jahre pachtfrei zur Verfügung stellte. Das Gartengelände ist in Parzellen unterteilt, die von einzelnen Familien individuell bearbeitet werden. Zudem gibt es eine Gemeinschaftsfläche mit Gerätehäuschen und Sitzmöbeln, Wasseranschluss sowie Kompost-, Kräuter- und Gratisbeet. Der städtische Bebauungsplan legt den Charakter der Fläche fest und macht Vorgaben für die Nutzung: Es dürfen keine Bäume gepflanzt und keine Zäune gezogen, Kunstdünger darf nicht eingesetzt werden, Baumaßnahmen und offenes Feuer sind verboten. Die Gärtnerfamilien übernehmen rotierend die Pflege der Gemeinschaftsflächen und teilen sich die anfallenden Wasserkosten. Eine Anschubfinanzierung und die bundesweite Vernetzung mit anderen Gartenprojekten leistete die Stiftung Interkultur in München. Weitergehende Gestaltungsmaßnahmen konnten über EUgeförderte Projektgelder realisiert werden. Das Projekt liegt in einem ehemaligen Konversionsgebiet, das Mitte der 90er Jahre zu einem Mischquartier mit sozialem Wohnungsbau, Privat- und Gewerbegrundstücken umgebaut wurde. Die Infrastruktur ist mangelhaft. Die Kaufkraft der 1600 EinwohnerInnen, von denen viele in Armut leben, scheint Investoren nicht ausreichend, um Einkaufsmöglichkeiten sowie alltägliche Dienstleistungen in dem Stadtteil vorzuhalten. Das Quartier ist nicht nur hinsichtlich seiner Entwicklung sehr jung, sondern auch hinsichtlich seiner Bevölkerungsstruktur. Es ist der kinderreichste Stadtteil Marburgs mit einem hohen Anteil von jungen Familien. Charakteristisch ist zudem der hohe Grad an kultureller Mischung. Im Stadtwald leben Menschen aus 33 Nationen. Auf dem Weg zum Abenteuergarten für Kinder Der Anlass, einen Garten für Kinder zur Verfügung zu stellen, waren die Kinder selbst. Sie äußerten in wachsendem Maße das Bedürfnis, ein eigenes Stück Land besitzen zu können, das sie nach ihren eigenen Vorstellungen bearbeiten können. Ihnen wurde mit der Zeit das Helfen im Garten nach den Vorgaben der Eltern zu
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langweilig. Sie wollten mit Holz, Erde, Steinen, Werkzeug und Flora und Fauna selbst arbeiten. Auf zwei kleinen Parzellen, die die Gartenfamilien ihnen zunächst zur Verfügung stellten, begannen sie mit gesammeltem Saatgut zu experimentieren. Sie wählten Gemüse und Blumen nach Farben aus. Pflanzen, die in anderen Gärten nicht benötigt wurden, nahmen die Kinder in ihr Sortiment auf. Oder sie beschäftigten sich mit immer währendem Umgraben des Gartenlandes. Die anwesenden Erwachsenen griffen schnell in das Tun ein, wenn die gärtnerischen Aktionen ihnen unsinnig und unsachgerecht schienen. In der Folge gaben die Kinder bald ihre eigenwilligen Tätigkeiten im Garten wieder auf. Auf dem Gelände tauchten zudem zunehmend Kinder auf, deren Eltern keine Parzellen besaßen. Sie wollten auch an den Gartentätigkeiten und den stattfindenden Gemeinschaftsaktivitäten teilhaben. Der Ort erschien ihnen als attraktiver Spielraum und sozialer Treffpunkt, obwohl – oder gerade weil – sich immer eine erwachsene GärtnerIn fand, die als AnsprechpartnerIn zur Verfügung stand. Um das Gartenprojekt der Erwachsenen durch diese neuen Interessengruppen nicht zu überfrachten, griff die örtliche Gemeinweseninitiative regulierend ein. Sie bemühte sich, eine weitere Pachtfläche zu finden, die den Jungen und Mädchen gärtnerische Aktivitäten wie Pflanzen, Ernten, Graben, Matschen, sonstige handwerkliche Tätigkeiten und die Erschließung eines wohnortnahen Naturraums ermöglichte. Damit sollten den Kindern des Stadtteils nicht nur Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit der Natur und seiner Veränderung im jahreszeitlichen Wechsel eröffnet werden, sondern es sollte auch Raum für solche Erfahrungen geschaffen werden, für die im Interkulturellen Garten eher nicht Platz war: Offenes Feuer, mehr Gestaltungsfreiheit, zauberhafte und verwunschene Plätze, Baumöglichkeiten, Bewegungsfreiheiten, Hangeln, Klettern, Balancieren und natürlich Gartenarbeit – aber im Sinne der Kinder. 2006 wurde der sogenannte „Abenteuergarten“ erschlossen, der mit seiner 1.500 qm großen Fläche seit diesem Zeitpunkt den Kindern jederzeit offen steht. In einem partizipativen Prozess wurde das Gelände zu Beginn gemeinsam mit Kindern und Eltern als naturnaher Garten-, Bewegungs- und Erlebnisraum gestaltet. Der Name fand schnell Eingang in die Kindersprache und wurde für die Stadtteilkinder zum Synonym für einen attraktiven Ort mit vielfältigen Betätigungsmöglichkeiten. Die örtliche Gemeinweseninitiative begleitet den Abenteuergarten, indem sie das ganze Jahr über wöchentliche Angebote auf dem Gelände anbietet. Die Aneignung und Belebung des Abenteuergartens Zunächst war es eine Gruppe von 9-10jährigen Mädchen, die sich von der Idee eine eigene Gartenfläche zu gestalten, besonders anstecken ließ. Die Mädchen begannen, einen Teil der Wiese mit Folie abzudecken, um die Fläche später leichter als Garten-
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land bearbeiten zu können. Sie steckten damit bereits die räumlichen Grenzen ab, in denen der Garten entstehen sollte. Ebenso entwickelten sie gemeinsam Ideen dazu, wie der spätere Garten gestaltet sein und was er bieten sollte. Etwas zum Naschen, ein gemütlicher Ort in der Sonne, der ein wenig verwunschen mit Hecken und Rosen bewachsen sein sollte – dies waren die Wunschvorstellungen. Was die anzubauenden Gartenfrüchte betraf, so sollten es vor allem Tomaten, Zucchini und Erdbeeren sein. Diese Planungsaktivitäten der Mädchengruppe weckten schließlich auch das Interesse mehrerer Jungen im Stadtteil: nun wollten auch sie sich um eine Gartenparzelle bewerben und ihr gewünschtes Gemüse anbauen. Die Koordinatorin3 der Interkulturellen Gärten entwarf gemeinsam mit einer Gärtnerin aufgrund der vorliegenden Ideen der Kinder ein Konzept für den Aufbau der Kinderbeete. Die Fläche bot ca. 25 Quadratmeter für kleinräumige Parzellen. Diese wurden bewusst klein gehalten, um die Jungen und Mädchen nicht mit der Gartenlandpflege zu überfordern. So entschied man sich für 1-qm große Beete pro Kind, die auch mit einem Freund oder einer Freundin zusammengelegt werden konnten, um sie gemeinsam zu bewirtschaften. In der Mitte entstand Raum für ein gemeinschaftlich angelegtes Kräuterbeet. All diese Schritte zur allmählichen konkreten Realisierung des „Gartens für Kinder“ wurden unabhängig von den direkt beteiligten Kindergruppen auch für andere Kinder des Stadtteils durchgängig transparent gehalten, um ihnen auch spätere Einstiege in das Projekt offen zu halten. Für die Bewirtschaftung der Parzellen initiierte man ein offenes Bewerbungsverfahren: Die Kinder, die gärtnern wollten, sollten sich an einem vereinbarten Tag auf der Fläche treffen. Nach und nach fanden sich 4 Jungen und 11 Mädchen im Alter von 8-11 Jahren ein. Viele kamen aus dem oberen Siedlungsgebiet, das in unmittelbarer Nähe des Abenteuergartens liegt. Die Zuordnung wurde mit Hilfe der Koordinatorin der Marburger Gärten verhandelt und die Parzellen mit mitgebrachten Muscheln, Steinen und Tannenzapfen abgegrenzt. Auch im weiteren Verlauf wurde der Garten der Kinder kontinuierlich durch Erwachsene beratend und anregend begleitet. Wie jedes andere Handwerk, so setzt auch die Gärtnerei differenziertes Wissen zu komplizierten Naturgesetzen und Regulierungsmöglichkeiten voraus. Die Kinder waren zunächst einmal völlige Laien, und damit war die Gefahr groß, dass ihre, im ersten Projektelan engagierten Pflanzund Pflegetätigkeiten am Ende wenig erfolgreich sein würden. Um gärtnerische Erfolgserlebnisse zu ermöglichen und Frustrationen in einem erträglichen Ausmaß zu halten, wurde den Kindern Hilfe und Expertise von Erwachsenen zur Seite gestellt. So etablierte sich wöchentlich ein fester Termin mit der Koordinatorin, an dem die Gartenaktivitäten der Kinder angeleitet wurden, Neues ausprobiert und auftauchende Gärtnereiprobleme besprochen werden konnten. 3
Helga Pukall trägt eine zentrale Rolle in der Konzeptions-, Aufbau- und Netzwerkarbeit von interkulturellen Gärten in Marburg.
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Ganz pragmatisch standen zu Beginn des Gartenprojektes viele elementare Fragen für die Kinder an: „Was will ich ernten und was muss ich dann pflanzen? Wie machen wir das? Wie können aus den Samen Möhren werden und was kann ich dafür tun?“ Die Beschäftigung mit der Natur führte auch zu weiterführenden Fragen zu Naturvorgängen, z.B.: „Warum sind so viele Insekten und Kleintiere in und auf der Erde, auf den Pflanzen? Können sie mir wehtun?“ In der Vorbereitung der ersten Pflanzperiode beschäftigten sich die Kinder zunächst vor allem mit der Auswahl ihres Saatgutes. Die Koordinatorin sprach mit ihnen über die Gemüse- und Obstsorten und Blumenarten, die ihnen bekannt sind. Sie zeigte ihnen aber auch unbekannte Pflanzensorten. Auf dieser Grundlage legten die Mädchen und Jungen die Pflanzenauswahl für ihre Beete fest. Beliebt waren Möhren, Erdbeeren, Kartoffeln, Kürbisse und Blumen wie z.B. Sonnenblume und Ringelblume. In der Mitte wurden Bohnen und Kräuter, v.a. verschiedene Minzund Melissesorten angepflanzt. Die gespendeten Beerensträucher, Erdbeerpflanzen und Zuckererbsen bekamen außerhalb der Kinderparzellen und am Weidezaun ihren Platz und waren Allgemeingut. Jedes Kind bepflanzte seine individuelle Parzelle und war damit auch verantwortlich für das weitere Gelingen seiner Pflanzenpflege und seine Ernte. Gleichzeitig ging damit aber auch die Verfügungsgewalt über die, auf der eigenen Parzelle gezogenen Ernteprodukte einher. Diese Verantwortlichkeits- wie auch Verfügungsregelung wurde von den Kindern respektiert. Sie führte jedoch nicht zu einem ausgeprägten Protektionismus bei den ParzellenbesitzerInnen. „Naschkatzen“, die keine eigene Parzelle bewirtschafteten, fanden Früchte, die außerhalb der persönlichen Kinder-Beete wuchsen. Sie wurden auch bei Gemeinschaftsaktionen im Abenteuergarten toleriert. Für viele war das Gartenland unbekanntes Terrain. Was man essen kann, darf, was gut schmeckt und was weniger gut schmeckt, erschloss sich erst nach und nach. Die Kinder, die den Abenteuergarten nur zum Spielen nutzten, nahmen die Gartenaktivitäten aus der Ferne wahr, störten sie aber nicht weiter. Man tauchte mal auf und sah den Kindern bei der Gartenarbeit zu, kam auch mal in den Genuss, frisch geerntetes Gemüse oder Obst zu probieren. Ansonsten ließ man sich aber unbehelligt. Es gab ein gleichwertiges Nebeneinander der verschiedenen Kindergruppen auf dem Gelände. Bei den wöchentlichen Angeboten der Gemeinwesenarbeit auf dem Gartengelände, tobten sich die Garten-Kinder zunächst aus, spielten sie kleinere Sequenzen oder sie machten mit den anderen Jungen und Mädchen Feuer. Erst danach schauten sie nach ihren Gärten, gossen und versorgten ihr Beet oder beobachteten Kleintiere auf ihrem Gartenland. Häufig kamen die Kinder mit Freund oder Freundin, um ihren Garten zu zeigen, zu schauen, was es Neues gab und „Kochen und gemeinsames Essen“ zu spielen: Dabei wurde von allen Pflanzen etwas abgepflückt, zu einer Suppe verrührt und verspeist – aber nur imaginär. Krisen durch kleinere
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Verwüstungsakte oder das Ausgraben von Pflanzen kamen vor, konnten aber mit Hilfe der Koordinatorin konstruktiv bearbeitet werden. In der Regel standen dahinter Konflikte zwischen den kleinen GärtnerInnen selbst. Nicht-gärtnernde Kinder waren nicht daran beteiligt.
Foto © IKJG e.V. Marburg Der Garten als Experimentier- und Lernfeld Der Garten ist in jeder Hinsicht für die Kinder Neuland und konfrontiert sie mit Befremdlichem und Irritierendem. So ist hier die Zeit eine völlig andere: Im Garten herrscht nicht die kurz getaktete, lineare Zeit der modernen Arbeitsgesellschaft, sondern die entschleunigte Zeit der Natur und ihrer zyklischen Rhythmen. Ausdauer und Geduld sind somit gefragt. Dies galt nicht nur für die Ergebnisse der gärtnerischen Arbeiten, die nur langsam sichtbar werden, sondern auch im Hinblick auf das unvorhersehbare und nicht planbare Wetter. Der Arbeitseifer der Kinder war zum Teil sehr groß, gegossen wurde auch bei Regen. Die Erfahrung, dass scheinbar verendete Pflanzen in der kommenden Saison wieder mit Kraft sprießen, war überraschend und erleichternd für die Kinder. Ebenso verblüffend war die Beobachtung, dass aus den Gemüsepflanzen relativ ungenießbare und unbekannte Gewächse werden, wenn sie nicht geerntet werden, und die schließlich in der Produktion von Samenständen enden und damit die Grundlagen für Lebenserneuerung schaffen. So wurden die Kinder Zeugen eines solchen elementaren Naturkreislaufes, als bei den nicht geernteten Radieschen-
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pflanzen schließlich der Samen zum Vorschein kam. Welches Kind hatte sich vorher jemals Gedanken dazu gemacht, woraus Radieschen erwachsen? Eine zufällige Erfahrung, die Lernen nachhaltig macht. Bei der Bewirtschaftung ihrer Flächen stießen die Kinder zudem auf eine Vielzahl unterschiedlicher Krabbel- und Kriechtiere, die ihnen zunächst sehr suspekt, z.T. auch unheimlich waren. Aber die intensive Beschäftigung mit diesen Lebewesen (was machen die eigentlich in der Erde, wie sehen sie genau aus, wie viele Beine haben sie, wie heißen sie ...), die von Erwachsenen angeregt und begleitet wurde, brachte hier schnell Entspannung und ließ das „unheimliche Getier“ mit der Zeit in einem neuen, positiven Licht erscheinen – nämlich als Teil der Natur, als Helfer im Garten, als fremdes Wesen, dem man sich neugierig nähern kann. Hilfreich waren hierbei Bestimmungsbücher und Lupen, die von den Fachkräften bereitgestellt wurden. In der darauf folgenden Saison lösten die ersten Regenwürmer zu Beginn zwar auch noch Äußerungen des Ekels aus. Doch dies änderte sich bald, und es entwickelte sich ein reger Tauschhandel zwischen den GärtnerInnen mit den nützlichen Regenwürmern. Die Arbeit im Garten ermöglichte somit Bildungsprozesse in einem neuen, unmittelbaren Kontext. Parallel zu den Gartenarbeiten der Kinder finden kontinuierlich gemeinschaftliche Familienaktivitäten auf der Abenteuerfläche statt: In einer Osterferienaktion wurden zuvor geschnittene Weiden zu einem Zaun verarbeitet, der den Garten nach außen abgrenzen sollte. Kinder und Eltern nutzten die Gelegenheit zudem, um aus den Weiden Osternester und Körbe zu flechten. Mitgebrachte Eier, Osterkuchen und Karotten bildeten einen attraktiven Rahmen für gemütliche Pausen. Ähnliche Familien-Events, bei denen gestalterische Arbeitseinsätze und gemeinsame Mahlzeiten auf dem Gelände stattfinden, gibt es immer wieder. Diese Verzahnung von handwerklicher Arbeit und dem gemeinsamen Verzehr von Speisen und den saisonalen Gartenprodukten bildet einen gelungenen Rahmen für kulturellen Austausch zu den traditionellen Speisenkulturen, handwerklichen, gärtnerischen und familiären Ritualen, aber auch zum Erlebnis jahreszeitlicher Naturrhythmen. Der Garten als Naturkostladen Die bewirtschaftete Gartenlandfläche übernimmt eine Ernährungsfunktion auf drei Ebenen: Zunächst hält sie Lebensmittel bereit, die die Kinder zur privaten Verwertung mit nach Hause nehmen können. So wurde beobachtet, dass Kinder für den heimischen Salat Kräuter aus dem Garten holten oder wie sie ihre zuvor geernteten Zucchini stolz auf den familiären Küchentisch legten. Weiterhin dient der Garten als Lieferant für die Kochmaßnahmen, die regelmäßig im Abenteuergarten durchgeführt werden. Das geerntete Obst und Gemüse wird direkt im Garten verarbeitet und über offenem Feuer gekocht. Die so hergestellten Speisen, die kaum den sonstigen Speiseerfahrungen der Kinder entsprechen,
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erwecken durchweg ein starke Faszination und werden mit Begeisterung verzehrt. „Sie haben die Bohnensuppe mit so viel Appetit leergefuttert, das glaubt uns kein Mensch!“, lautete der erstaunte Kommentar einer Mitarbeiterin nach einer solchen Kochaktion. Kräutertee und Stockbrot sind bei den nachmittäglichen Treffen zum festen Ritual geworden. Im Sommer kalt und im Winter warm wird der Tee aus Zitronenmelisse und Pfefferminze über der Feuerstelle zubereitet. Besonders in der kalten Jahreszeit ist er nach getaner Gartenarbeit heiß begehrt – ein Genuss, der alle Sinne anspricht. Schließlich stellt der Garten einen offenen „Naturkostladen“ mit ständigen und immer wieder neuen Probierangeboten dar. So war beispielsweise die Zuckererbse zunächst für die Kinder relativ unattraktiv. Doch ihr süßer Geschmack überzeugte, und die Schoten wurden zu einem der begehrtesten Gartenprodukte in einer Sommersaison. Für die Kinder eröffnet sich mit dem Garten nicht nur eine kulinarische Versorgungsmöglichkeit, die in direkter räumlicher Nähe liegt und kostenfrei zur Verfügung steht, sondern auch ein Ort experimenteller Geschmackserfahrungen.
Foto © IKJG e.V. Marburg Ein Ort zum Wachsen Die Gartenbeete werden jährlich neu vergeben. Die kleinen GärtnerInnen der vorherigen Saison haben zunächst das Vorrecht ihr Beet weiterhin zu behalten oder an FreundInnen abzugeben, die sich in der vorherigen Gartensaison mit engagiert
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haben. Weiterhin können sich auch neue Kinder bewerben, die selbst Lust auf einen Garten bekommen haben. Ihre Namen werden das Jahr über auf einer Liste gesammelt, und die entsprechenden Mädchen und Jungen werden im nächsten Frühjahr noch einmal auf ihre mehr oder weniger weit zurück liegende Bewerbung angesprochen. In der Regel führt die Neuverteilung des Gartenlandes zu Konflikten. Von daher moderieren Fachkräfte diesen Prozess. Der Abenteuergarten hält jedoch bislang genug Möglichkeiten bereit, allen interessierten Kindern etwas zu bieten und Kompromisse zu finden, die alle zufrieden stellen. Manchmal geht es Kindern gar nicht unbedingt um die Gartenprodukte am Ende der Erntesaison, sondern vielmehr um das Dabei-sein beim Gärtnern. Sie suchen verantwortungsvolles Tun, ohne ein Gartenbeet selber bewirtschaften zu wollen. Die Anbauerfahrungen des ersten Jahres machten den Kindern nachdrücklich deutlich, dass das Gärtnern kein einfaches und schnelles Geschäft ist, bei dem nur Samen in die Erde verteilt und gewässert wird. Sie mussten Geduld und Ausdauer mitbringen, Frustrationen aushalten sowie ungefälliges Wetter. Die ersten Wochen der neuen Gartensaison und der Wiederbepflanzung der Parzelle sind eine Phase, in der die kleinen GärtnerInnen einer regelmäßigen Begleitung bedürfen. Die Kinder werden schnell ungeduldig, wenn ihre Erwartungen nicht erfüllt werden oder sich kein zeitnaher Erfolg messen lässt. Daher achtet die Koordinatorin darauf, das auch schnell wachsende Pflanzen in die neu angelegten Beete aufgenommen werden. Die Tätigkeiten auf den gemeinsamen Feldstücken werden für alle Kinder transparent gehalten, und es wird stets zum Mitmachen eingeladen. Da die Mitarbeiterin sich ebenso um das nahe gelegene Interkulturelle Gartenprojekt kümmert, ist sie regelmäßig in der Gartensaison für die Kinder ansprechbar. Nicht nur ihre Kenntnisse und Hilfen, sondern auch das Wissen der Gärtnerfamilien des Interkulturellen Gartens und die Pflanzenspenden, die von dort kommen, tragen zum wachsenden Gelingen der Kinderbeete bei. Darüber hinaus sind die Gärten aber auch in anderer Hinsicht ein „Ort des Wachsens“: Er ist ein Ort tagtäglicher Kommunikation. Hier entwickeln die Akteure des Gartens – Kinder wie Erwachsene – ihre Ideen und geben neue Impulse. So wurden die Gärtnerfamilien von der Tradition des regionalen Obstanbaus inspiriert und erlangten in Verhandlung mit der Stadt eine Fläche für eine Streuobstwiese. Mit Hilfe des ortsansässigen Pomologen wurden Obstsorten gesucht, die die Eltern aus ihrer Heimat oder ihrer Kindheit kannten und die ihnen als sehr schmackhaft in Erinnerung geblieben sind. Kirsche, Quitte, Birne, Apfel, Pfirsich und Pflaume sind Sorten, die jetzt auf dieser Streuobstwiese heranreifen. Es fanden sich 13 Familien, die die Patenschaft für die Bäume übernahmen. Gemeinsam mit den Kindern pflanzten die Eltern ihren Baum und wurden über Schnittkurse bei der Pflege angeleitet.
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Bei der Frage, wohin mit den Pflanzen, die im Überfluss wachsen, entstanden weitere praktische Ideen. Jährlich wird nun eine „grüne Tauschbörse“ auf dem Schulhof der örtlichen Schule veranstaltet, auf der neben der Yuccapalme auch Gartenprodukte und Saatgut interessierte Abnehmer finden. Des Weiteren entstand ein „Gratisbeet“ neben dem Interkulturellen Garten, bestückt mit Kräutern und Gemüse der GärtnerInnen, die im eigenen Beet keinen Raum mehr fanden. Damit ermöglichen die Familien auch weiteren BewohnerInnen den Zugang zu frischen Lebensmitteln. Das Gratisbeet ist einem ständigen Wandel unterworfen und entwickelte sich zu einer ganz eigensinnigen Kommunikationsplattform: Spaziergänger aus umliegenden Gebieten wurden auf das Beet aufmerksam und nutzen es als Tauschbörse. Mitgebrachtes Pflanzgut wird eingegraben und vorhandenes Gemüse oder Kräuter nach Bedarf abgepflückt. Die Bedeutung der Gärten Anwohnergärten bereichern den Stadtteil und erhöhen die Lebensqualität. Sie eröffnen sinnstiftende Tätigkeitsfelder, unterstützen die Aneignung des nahen Wohnumfeldes, stärken die Erfahrung der Selbstwirksamkeit. Sie bieten Naturerfahrungen und Experimentiermöglichkeiten. Sie sind ein Lernort für Gestaltungskompetenz, eine Plattform für Kommunikation und Orte für IdentitätsRekonstruktionen in einem multikulturellen Kontext. Hier werden nicht nur Früchte geerntet, es wachsen auch Verständnis für Natur, Verantwortungsübernahme und Freundschaften. Der Austausch und die Kommunikation über die Tätigkeiten in den Gärten schafft Verbundenheit zwischen den Stadtteilfamilien wie es auch das eigene Wohnquartier in einem neuen Licht erscheinen lässt. Die Mischung aus individueller und kollektiver Nutzung des Gartenlandes, aus „Privatbesitz“ und „Gemeinbesitz“ lässt eine vitale, solidarische Gemeinwesenkultur entstehen. Die Gärten ermöglichen zudem den Zugang zu frischen und kostengünstigen Lebensmitteln und bieten eine organische Verbindung zwischen Nahrungsproduktion, Essen und körperlichem Tun. Gesundheitsförderung zeigt sich hier in einem ganzheitlichen, alltagsintegrierten, partizipativen und nachhaltigen Modell. Kinder haben ein elementares Bedürfnis, die Welt als durchschaubar, handhabbar und sinnvoll geordnet zu erfahren. Die Arbeit in einem Garten gibt ihnen die Möglichkeit, eigene Tätigkeit und unmittelbare Beobachtung als sinnvoll aufeinander folgende, verstehbare und miteinander verknüpfte Verrichtungen zu erfahren. Durch das Wiederholen ihres Tuns erleben die Kinder Kohärenz auf der Ebene leiblich-sinnlicher Erfahrungen. Der Aufbau und Betrieb eines Gartens vereint wesentliche Bedingungen, die für die Gesundheitsförderung von Kindern wichtig sind. Er bietet transparente Lernfelder und eine Welt, in die Kinder unmittelbar eingreifen können. Die Aneignung eines solchen geschützten Raumes fordert zu
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bewegungsorientierten Primärerfahrungen und multidimensionalem Erfahrungslernen auf. Der Garten verspricht als „grüne Oase“ einen Abenteuerraum, der nachhaltig angelegt, körperliche Aktivitäten und Ernährung auf hervorragende Weise praxisnah und alltagsorientiert verbindet. „Der Wert des Gartens liegt darin, dass er immer da ist,“ lautet das Plädoyer der Koordinatorin der Gartenprojekte in Marburg, „und er bietet Autonomie, indem man selber etwas anpflanzt, erntet, kocht und dann gemeinsam isst.“ Dies sind Erfahrungen der Selbstwirksamkeit, die die Entwicklung der Kinder prägen und auf die sie im weiteren Leben zurückgreifen können. Das Arbeiten in der Erde, das Pflanzen, Ernten und Verarbeiten von Früchten lässt sinnliche Erfahrungen zu und weckt die Neugierde und Lust etwas auszuprobieren. Dabei erleben die Kinder sich und die Erwachsenen engagiert und kenntnisreich. In einem partizipativen Prozess entstehen Beziehungen, die eine neue Form der Anerkennung und Wertschätzung zulassen. Die veränderte Raum- und Zeitstruktur verbunden mit dem gemeinsam eroberten und bewirtschafteten Tätigkeitsfeld fördern Prozesse von Vertrauen zu sich selbst, der Natur und dem Anderen. „Ganz nebenbei“ wird das Bewusstsein für Natur geschärft und eine Kultur des Lernens außerhalb der Bildungsinstitutionen gefördert. Ein Anwohnergarten entsteht nicht von selbst und dabei geht es nicht immer konfliktfrei zu. Das Tätigsein fordert stete Verhandlungsbereitschaft zwischen den Akteuren und ermöglicht gleichermaßen eine Erweiterung der personellen und sozialräumlichen Zugehörigkeit und das Entstehen von neuen Strukturen und Prozessen in einem individuellen und gruppenbezogenen Kontext. Damit ist der Garten mehr als ein Lieferant von preiswerten und ökologisch angebauten Lebensmitteln: Er erlaubt den BewohnerInnen eine räumliche Verortung in ihrem Quartier und fordert zu einer Inbesitznahme und Gestaltung des Wohnumfeldes auf. Der Garten wird zu einem Kommunikationsort für unterschiedliche Gruppen des Stadtteils. Die daraus entstehende Dynamik unter den Akteuren bringt weitere Ideen der Gestaltung, der nachbarschaftlichen und institutionellen Vernetzung sowie innovative Entwicklungen hervor.
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Foto © IKJG e.V. Marburg
Monika Kringe/Dorothee Griehl-Elhozayel
Essen im Ganztag als Kooperationsthema von Jugendarbeit und Schule Ulrich Deinet
Einführung Im Rahmen der Kooperation zwischen Jugendarbeit und Schule spielt die „ÜberMittag-Betreuung“ eine wesentliche Rolle: In vielen Kinder- und Jugendeinrichtungen werden im Rahmen von Ganztagsangeboten inner- und außerhalb der Kooperation mit Schule Mittagsverpflegungen angeboten, es wird gekocht und gegessen. Dies geschieht mal mehr in familiärer Atmosphäre in übersichtlichen Gruppen oder in einer mensaähnlichen offenen Situation. Die Erfahrungen und Einschätzungen dazu im Feld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit sind unterschiedlich: In manchen Einrichtungen scheint die Mittagsverpflegung im Rahmen der Ganztagskooperation eher ein nebensächlicher Aspekt, während andere Angebote (besonders vor dem Hintergrund des Themas Ernährung und Gesundheit) sehr ernst genommen werden und zum Teil als fester Bestandteil in der Konzeption mit pädagogischen Zielen verankert sind. Neue Entwicklungen zeigen, dass zahlreiche Schulen an Einrichtungen der Jugendarbeit herantreten, um im Bereich der Mittagsverpflegung zu kooperieren und vom entsprechenden „know-how“ der Kinder- und Jugendarbeit zu profitieren. Insbesondere ist dies bei Gymnasien der Fall, die auf Grund der Verkürzung der Schulzeit von neun auf acht Jahre und der damit verbundenen Verlängerung der Schultage bis in den Nachmittag quasi zu Ganztagsschulen geworden sind. Ziel dieses Beitrags ist es auszuloten, welche Formen der Gestaltung der mittäglichen Ernährungssituation es im Rahmen von Ganztagsangeboten und der Kooperation von Jugendeinrichtungen und Schule gibt, welche Chancen und Probleme damit verbunden sind und wie mögliche Perspektiven fachlicher Weiterentwicklung dieses Angebotes aussehen könnten. Das Thema differenziert sich in zwei Situationen, die kombiniert, aber auch getrennt voneinander, gesehen werden können: Zum einen geht es um die Zubereitung von Mahlzeiten (eine in der Jugendarbeit verbreitete Aktivität, z. B. in Form von Kochgruppen) und zum anderen um die Situation der gemeinsamen Nahrungsaufnahme. Diese Aspekte gehören bei der Gestaltung des Gesamtsettings oft zusammen, etwa im Rahmen der Gruppenarbeit in der Jugendarbeit – zunächst kocht man zusammen und dann isst man gemeinsam. Trotzdem müssen diese beiden
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Aspekte aber im Rahmen des Ganztags auch unterschieden werden, da sie aus organisatorischen Gründen getrennt werden. Aus Sicht der Kinder- und Jugendarbeit zählen ernährungsphysiologische Aspekte als meist weniger wichtig, gewinnen aber vor dem Hintergrund des öffentlich diskutierten Themas Gesundheit und Ernährung an Bedeutung. Vorrangiges Interesse in der Jugendarbeit gilt der Gestaltung einer sozialen Situation sowohl bei der Zubereitung als auch bei der Nahrungsaufnahme selbst. Ausgehend von der Tradition der Jugendarbeit, als Gesellungsform von Jugendlichen in Gruppen, spielt die gemeinsame Zubereitung und Gestaltung der Essenssituation vielfach eine wichtige Rolle sowohl in den Jugendverbänden als auch in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Kochen und Essen bieten oftmals Anlässe für Gespräche oder Themen: So werden immer wieder Situationen beschrieben (z. B. aus Mädchen- und Jungengruppen), in denen gemeinsame Zubereitung und Nahrungsaufnahme ein wichtiges Medium für die Kommunikation zu spezifischen Themen ist. Insofern beschreibt der folgende Beitrag beide Situationen, die je nach Konzept und insbesondere organisatorischem Rahmen der Kooperation zwischen Jugendarbeit und Schule unterschiedlich akzentuiert werden. Aufbau des Beitrags Der erste Teil beschreibt, auf der Grundlage einer aktuellen Befragung von 200 Jugendeinrichtungen in Nordrhein-Westfalen zur Kooperation zwischen Jugendarbeit und Schule, die Bedeutung des Mittagessens im Rahmen von Ganztagsangeboten sowie unterschiedliche Typen der Organisation und Konzeptionierung dieses Bausteins. Im zweiten Teil werden die Anfänge der Einrichtungen von Ganztagsangeboten im Rahmen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit aus den 1980er Jahren beschrieben. Als Beispiel dient eine Düsseldorfer Einrichtung, die aus Hortelementen eine sogenannte Schulkindergruppe konzipierte, in der ein gemeinsames Mittagessen eine wichtige Rolle spielt. Heute sind solche Gruppen in der Offenen Kinderund Jugendarbeit weit verbreitet. Der dritte Abschnitt „Zwischen Familien- und Mensamodell“ thematisiert, aufbauend auf einigen grundlegenden Einsichten der Soziologie des Essens, Chancen und Probleme der konzeptionellen Gestaltung des Mittagessens. Dies wird im Rahmen eines Ganztagsangebotes zwischen Tischgemeinschaft und einem an einer Mensa orientierten Modell einer offen gestalteten Situation des Essens betrachtet.
Essen im Ganztag als Kooperationsthema von Jugendarbeit und Schule
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Zur aktuellen Situation des Themas Mittagessen in der Kooperation Schule und Jugendarbeit: Ergebnisse einer Studie aus Nordrhein-Westfalen Die Fachhochschule Düsseldorf führt im Auftrag des Ministeriums für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes NRW eine Studie zur Kooperation der Offenen Kinder- und Jugendarbeit (OKJA) mit der Schule durch. Die Untersuchung geht davon aus, dass die Kooperation zwischen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit und Schule in vielfältigen Bereichen heute weit verbreitet ist. Zum Kern der Untersuchung gehört eine schriftliche Befragung der Einrichtungen. Gegenstand der Befragung sind Inhalte und Formen der Angebote von Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, die in Kooperation mit Schulen im Schuljahr 2007/2008 durchgeführt wurden (die Ergebnisse der Studie wurden bisher – Frühjahr 2009 – nicht veröffentlicht).
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Stellenwert des Mittagessens in Ganztagsangeboten Tabelle 1:
Inhaltliche Angebote im Ganztag nach Schulstufen (n = 134, Mehrfachnennungen) Primarstufe
Sekundarstufe
Angebote
Zahl Nennungen
in % der Zahl Einrich- Nentungen nungen
in % der Einrichtungen
Mittagessen
24
27,3%
52
66,7%
Hausaufgabenbetreuung
29
33,0%
59
75,6%
offener Bereich/freies Spiel
56
63,6%
65
83,3%
Sport und Bewegung
53
60,2%
55
70,5%
musisch-künstlerische Angebote
41
46,6%
29
37,2%
neue Medien
27
30,7%
28
35,9%
technisch-naturwissenschaftliche Angebote
18
20,5%
14
17,9%
soziales Lernen
46
52,3%
52
66,7%
interkulturelles Lernen
27
30,7%
24
30,8%
geschlechtsspezifische Angebote für Mädchen bzw. Jungen
28
31,8%
32
41,0%
Angebote in den Ferien
57
64,8%
31
39,7%
Lern- und Sprachförderung
18
20,5%
18
23,1%
Sonstige Angebote
11
12,5%
6
7,7%
Summe Nennungen
435
465
Summe Einrichtungen
88
78
Betrachtet man diese Tabelle, lassen sich die unterschiedlichen Schwerpunkte der Angebote je nach Schulstufe erkennen. Da die Kinder- und Jugendeinrichtungen im Rahmen der offenen Ganztagsgrundschule in NRW überwiegend nicht als Träger, sondern als Kooperationspartner tätig sind, ist es nachvollziehbar, dass Mittagessen und Hausaufgabenhilfe nur begrenzt Teil ihres Angebots sind. Dieses wird in der
Essen im Ganztag als Kooperationsthema von Jugendarbeit und Schule
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Regel vom Träger der „OGS“ angeboten. Anders verhält es sich in der Sekundarstufe: Hier bieten zwei Drittel der Einrichtungen im Rahmen des Ganztagsangebots ein Mittagessen und mehr als 75 % eine Unterstützung bei den Hausaufgaben an. Die im Rahmen der o. g. Studie durchgeführten qualitativen Interviews geben Aufschluss über unterschiedliche konzeptionelle Varianten der Gestaltung der Verpflegungssituation in Ganztagsangeboten. Es geht dabei nicht nur um die Gestaltung des Mittagessens, sondern um das gesamte Setting der Bearbeitung des „Ernährungsthemas“ in der Kooperation zwischen Jugendarbeit und Schule. Exemplarische Angebotstypen Variante: „Jugendeinrichtung übernimmt Schulmensa“ Das folgende Beispiel aus der o. g. Studie zeigt, wie Jugendarbeit ihre Kompetenz auch in die Gestaltung einer Mensa einbringen kann und damit in einer sehr weitgehenden Weise die Ernährungssituation an einer Schule mitgestaltet. Aus Sicht der Schule wird aber auch eine Problematik deutlich: Für sie ist die gemeinsame Gestaltung der Verpflegungssituation noch ungewohnt. „Ab dem Schuljahr 2009/2010 wird die Jugendeinrichtung in einer Kleinstadt eigene Räume in der Hauptschule erhalten (sogenannte „Sozialräume“ sowie ein Büro) und damit auch die Trägerschaft des Ganztags übernehmen. Aktuell wird an einem Konzept gearbeitet, welches in Kürze im Schulausschuss vorgetragen wird. Zudem ist die Einrichtung damit beauftragt worden, ein Konzept für die neu entstehende Schulmensa auszuarbeiten – architektonisch sowie inhaltlichmethodisch. Der Auftrag wurde offiziell von der Schulkonferenz an die Gemeindeverwaltung (die Gemeinde ist Träger der Jugendeinrichtung) erteilt. Man hofft darauf, dass mit dem Umzug in die Schule und der Errichtung der neuen Mensa die Lehrerschaft größeres Interesse an der Übermittagbetreuung bekundet und z. B. gemeinsam mit Schülern dort zu Mittag isst.“ Variante: „Ergänztes Cateringessen“ „Über die Hausaufgabenbetreuung hinaus wird über ein Cateringunternehmen ein warmes Mittagessen angeboten, zusätzlich auch Snacks, Obst und Süßigkeiten. Regelmäßig findet ein „Essensfest“ statt. Lässt es der Personalschlüssel zu, wird zudem ein bis zwei Mal wöchentlich selbst gekocht, damit besser auf die Bedarfe der Kinder eingegangen werden kann (dies findet eher im Winter statt).“ Typisch für diese Variante ist die Kooperation mit einem Cateringunternehmen, das die Schule oder die Jugendeinrichtung (abhängig davon, wo das Essen stattfindet) beliefert. Oft werden die Mahlzeiten der Cateringunternehmen dann durch eigene Möglichkeiten ergänzt bzw. es wird auch mal selbst gekocht. Die Gesundheitsbestimmungen lassen es oftmals nicht zu, dass in der Einrichtung gekocht wird. Das Cateringangebot wird auf Grund der Kosten von den Kindern und Jugendlichen nur zum Teil genutzt, was eine schwierige Situation entstehen lässt:
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Kinder, die Geld für ein Mittagessen des Caterings haben oder ein eigenes Essen mitbringen, treffen auf Kinder, die hungrig dabei sitzen. Variante: „Pädagogische Betreuung des Mittagessens, dessen Organisation von schulischer Seite übernommen wird“. Bei dieser Variante bleibt die Jugendarbeit entlastet von der organisatorischen Gestaltung des Mittagessens, übernimmt aber weiterhin die pädagogische Betreuung, so dass Ernährung und das gemeinsame Essen ein zentrales Kooperationsthema bleiben. „Die Übermittagbetreuung in der Jugendeinrichtung beinhaltet eine warme Mahlzeit. Die Organisation dieses Mittagessens wurde aber an den Förderverein der Einrichtung abgetreten. Die Einrichtung übernimmt lediglich die pädagogische Betreuung. Der Förderverein ist hierbei verantwortlich für die gesamte Logistik, wie Einkauf, Speiseplanerstellung etc. Er zieht die Essensbeiträge der Eltern ein und arbeitet dabei kostendeckend. Der Beitrag für das Mittagessen beträgt 40 Euro monatlich. Es wird berichtet, dass eine kostendeckende Organisation von der Jugendeinrichtung selbst gar nicht zu leisten wäre. Zumal die Einnahmen aus dem ÜMB-Budget abgeführt werden müssten. Für die Zubereitung der Mahlzeiten wurde eine Köchin auf Honorarbasis eingestellt. Diese ist zusammen mit der ersten Vorsitzenden des Fördervereins auch für die Gestaltung des Essensplans verantwortlich; dabei wird das Essen täglich frisch zubereitet. An besonderen Ereignissen, wie z. B. Geburtstagen, wird zudem Kuchen gebacken und zusammen gefeiert.“ Verbunden ist dieses Vorgehen mit einer konkreten Zielsetzung der Einrichtung im Bereich Gesundheit und Ernährung, die sich auch in der Konzeption niederschlägt: „Bei einem betreuten Angebot über den Mittag sollten die Kinder während des langen Tages eine warme Mahlzeit bekommen. Die Einrichtung bietet daher ein Mittagessen zum Selbstkostenpreis an. Durch alltägliche Hektik und Individualisierung verliert das gemeinsame Essen derzeit zunehmend an Qualität und damit auch seine kulturelle Bedeutung selbst. Wir wollen diesem Trend entgegensteuern, indem wir den Kindern mit dem Mittagessen eine Form des gegenseitigen Erlebens bieten. Damit bieten wir den Kindern einen festen, ritualisierten Bezugspunkt im Tagesablauf, in dem sie Gemeinschaft kommunikativ (er)leben können und Essen nicht nur als Nahrungsaufnahme verstehen“ (Konzeption der Einrichtung). Zahlreiche Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit lassen sich durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung im Rahmen des Projektes „Gut Drauf“ zertifizieren und verfolgen deshalb konzeptionell sehr deutliche Ziele im Bereich von Gesundheit und Ernährung. Vor diesem Hintergrund wird das Mittagessen nicht ausschließlich als organisatorische Aufgabe, sondern eher als pädagogischer Auftrag gesehen und entsprechend gestaltet.
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Variante: „Jugendeinrichtung gibt die Organisation und pädagogische Betreuung des Mittagessens an Schule ab.“ „Das Mittagessen wird seit dem Sommer 2008 in der schuleigenen Mensa angeboten; zuvor wurde das Mittagessen in der Jugendeinrichtung eingenommen. Durch diese Umstellung konnte ein mit großem Aufwand verbundener Arbeitsbereich abgegeben werden. Es wird berichtet, dass die Organisation des Mittagessens ohnehin schon schwierig war. Hinzu kam die schlechte Zahlungsmoral der Eltern, trotz einer moderaten Preishöhe von unter zwei Euro pro Essen. Dies führte dazu, dass von 180 teilnehmenden Kindern lediglich etwa 50 das Essen bezahlten, aber deutlich mehr Kinder Hunger hatten. Bei (muslimischen) Migrantenkindern kommt zusätzlich das Problem hinzu, dass die Eltern bezüglich der Zubereitung des Essens Zweifel haben und etwa befürchten, dass in den Töpfen z. B. Schweinefleisch gekocht wurde. Es wird angestrebt, das Angebot für die Schule noch homogener und ganzheitlicher zu gestalten. Aktuell arbeitet man an einem Konzept, um bestimmte Schüler bereits vor Schulbeginn zu betreuen. Angedacht ist ein Frühstückstreff an drei Tagen der Woche von 6.30 bis 8.00 Uhr in der Einrichtung. Der Hintergrund ist, dass etliche Schüler, bedingt durch Busverbindungen o. ä., sich lange vor dem Unterrichtbeginn in der Schule aufhalten und keinen festen Aufenthaltsort haben. Man hofft, mit diesem Angebot auch Lehrer anzusprechen, morgens dort z. B. einen Kaffee zu trinken.“ Bei dieser Variante ist die Organisation und Betreuung des Mittagessens meist nicht mit konkreten pädagogischen Zielen verbunden. Stattdessen geht es eher um die Bewältigung von Kooperationsproblemen mit der Schule, aber auch der Kommunikation mit Eltern, insbesondere zum Thema Bezahlung. „Man ist dazu übergegangen, die Beiträge ausschließlich per Überweisung zu regeln. Zuvor konnten die Eltern bar zahlen, so dass Kinder die Beiträge oft mitbrachten. Dies sei aber zu stark in die pädagogische Arbeit eingeflossen. Frau M. plädiert dafür, dass die Beiträge an ganz anderer Stelle geregelt werden sollten, die von der pädagogischen Arbeit abgekoppelt ist.“ So ist man angesichts dieser Schwierigkeiten fast dankbar, wenn die formale Organisation des Mittagsangebots nun von Schule übernommen wird. Variante: „Ernährungsangebote als Reaktion auf die Armut von Kindern und Jugendlichen“ In vielen Beispielen der Über-Mittag-Betreuung im Rahmen der Kooperation von Schule und Jugendarbeit taucht immer wieder das Problem auf, dass Kinder und Jugendliche an der Betreuung teilnehmen, aber kein Mittagessen einnehmen können, weil dies von den Eltern nicht finanziert werden kann. Die gesellschaftliche Diskussion um die Notwendigkeit staatlicher Hilfen in diesem Bereich und die Frage, ob den Familien finanzielle Ressourcen zur Verfügung gestellt werden sollten oder besser in eine kostenlose Schulverpflegung investiert werden sollte, hat in zahlreichen Kommunen zu kostenlosen Verpflegungsangeboten geführt. Dafür stehen zum Teil kommunale oder auch Landesprogramme zur Verfügung. Oftmals sind es dabei kommunale Organisationen, die, etwa durch die Kooperation zwi-
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Ulrich Deinet
schen einer Jugendeinrichtung und der kommunalen „Tafel“, eine solche kostenlose Verpflegung erst möglich machen. Variante: „Ausdehnung des Verpflegungsangebotes auf ein Frühstück“ Die Beobachtung vieler Lehrerinnen und Lehrer, dass eine wachsende Zahl von Kindern ohne Frühstück in die Schule kommt und entsprechend wenig lernfähig ist, führt auch in der Kooperation zwischen Jugendarbeit und Schule im Rahmen von Ganztagsangeboten dazu, dass Frühstücksangebote eingerichtet werden (ebenfalls in Kooperation mit den örtlichen „Tafeln“). Variante: „Schülercafé“ Eine sehr offene Form der Über-Mittag-Betreuung stellen die Schülercafés dar, die es fast ausschließlich im Bereich der Sekundarstufe I gibt. Hier wird ganz bewusst auf eine gemeinsame Ernährungssituation verzichtet. Die Jugendlichen können zum Teil individuell ihr Mittagessen einnehmen oder andere Angebote wahrnehmen. „Seit ca. 1994 organisiert das „JUZ“ (Jugendzentrum) ein Schülercafé an einer Hauptschule. Gemeinsam mit Schülern und einigen Lehrern wurde ein ehemaliger Fahrradkeller zu einer Teestube umgebaut. Seitdem besteht das Angebot an fünf Tagen in der Woche in der Zeit von 12.30 bis 15.30 Uhr. Der Betrieb wird von zwei (pädagogischen) Honorarkräften geleitet, die die Jugendlichen u. a. in schulischen und außerschulischen Belangen beraten. Der Besuch des Schülercafés ist nicht verbindlich, so dass die Schüler täglich entscheiden können, ob sie das Angebot in Anspruch nehmen. Viele Schüler nutzen das Café, um die Zeit zwischen dem Vormittags- und dem Nachmittagsunterricht zu überbrücken. Der Besucherdurchschnitt liegt aktuell bei ca. 30 Schülern.“ Durch ein an Jugendliche (Sekundarstufe I) gerichtetes offenes Angebot, das mit den Prinzipien Freiwilligkeit und Offenheit und pädagogischen Ansätzen der Jugendarbeit ein Angebot an Schulen schafft, das einen nicht-formellen Bildungsraum zur Verfügung stellt, entsteht ein Angebot, dass insbesondere durch die Selbstorganisation und Partizipation der Jugendlichen gekennzeichnet ist. Diese Schülercafés bilden auch eine Brücke zu weiteren Angeboten der Jugendarbeit. Zusammenfassend: Die genannten Varianten und Beispiele zeigen ein breites Spektrum unterschiedlicher Gestaltungen der Verpflegungssituation über Mittag. So wird auch die Gestaltung und die Organisation des Mittagessens zu einem Kooperationsthema zwischen Jugendarbeit und Schule, das, genau wie andere Themen auch, entweder kooperativ oder durch Schule bzw. Jugendarbeit separat gestaltet wird. Interessant zeigen sich auch die sehr unterschiedlichen Einschätzungen aus Sicht der Jugendarbeit, die Über-Mittag-Betreuung entweder als reine Organisationsaufgabe betrachtet oder damit sogar inhaltliche Bildungsziele verbindet. Das Mittagessen (gemeinsam gestaltet oder eher im Mensamodell) bildet auch den Übergang zu Nachmittagsangeboten bzw. zur fast immer vorhandenen Schulaufgabenbetreuung.
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Die beiden Elemente Hausaufgabenbetreuung und Mittagessen sind für die Kinder- und Jugendarbeit im Rahmen der Kooperation mit Schule inzwischen gängige Konzeptbausteine. Allerdings gehören sie nicht zum klassischen Konzeptspektrum der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, sondern wurden erst seit Ende der 80er Jahre aufgrund veränderter Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen sowie sich wandelnder Rahmenbedingungen der Jugendarbeit entwickelt. Zur Entwicklung der „Über-Mittag-Betreuung“ in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit Der folgende Teil zeigt am Beispiel einer Düsseldorfer offenen Jugendeinrichtung – dem Anne-Frank-Haus – exemplarisch, wie diese damals neue Konzeptelemente aufnahm und welche Chancen und Probleme mit der Gestaltung einer Über-MittagBetreuung im Rahmen von Ganztagsangeboten verbunden waren und sind. Im Folgenden werden einige Passagen aus den damaligen konzeptionellen Überlegungen sowie Berichten aus der Praxis wiedergegeben (vgl. Deinet 1987): Bei der Konzipierung der Schulkindergruppe im Anne-Frank-Haus in Düsseldorf, einer der damals ersten Betreuungsgruppen, ging es auch darum, Hortelemente in die Jugendarbeit zu integrieren; dies bezog die Hausaufgabenbetreuung, aber auch das warme Mittagessen mit ein. Beide Aufgaben stellten Herausforderungen für die Offene Kinder- und Jugendarbeit dar, die allein mit ihrem klassischen Handlungsrepertoire nicht zu beantworten waren. Man wollte sich einerseits nicht zum verlängerten Arm der Schule machen und andererseits dennoch auf die aktuelle Herausforderung eingehen, dass nämlich Schlüsselkinder kein Mittagessen und auch keine Hilfe bei den Hausaufgaben bekamen und somit auf sich alleine gestellt waren. Beide Bereiche gehörten bis dahin nicht zum klassischen Funktionsbereich der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, die sich eher als Freizeitarbeit verstand. Die Übernahme der Hausaufgabenbetreuung wie auch die Übernahme einer Mittagsverpflegung stellten deshalb zunächst eine konzeptionelle Antwort auf die Lebenswirklichkeit der Kinder dar und keine beabsichtigte Funktionsübernahme für Schule oder Elternhaus. Dies zeigte sich aber als schmaler Grad und die damit verbundenen Probleme werden seit langem diskutiert: Stellt die Übernahme der Hausaufgabenbetreuung eine Übernahme von Aufgaben der Schule und auch der Eltern dar, wird die Offene Kinder- und Jugendarbeit „in die Pflicht genommen“ für Aufgaben, die sie strukturell nicht hat oder erfüllt sie ihren Auftrag, nämlich ihre Angebote an den Lebenswirklichkeiten von Kindern und Jugendlichen zu orientieren?
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Ulrich Deinet
Aus dem Praxisbericht: „Bei der Konzeption der Schulkindergruppe war die Versorgung mit einem warmen Mittagessen ein zentraler Aspekt. Nicht nur aus eigener Erfahrung wussten wir, dass die Ernährung in vielen Familien sehr einseitig und unzureichend ist. Es ging uns also nicht nur um die Zubereitung eines warmen Essens, sondern auch um die Qualität einer ausgewogenen nährstoff- und vitaminreichen Kost. Bei einem Gespräch mit den Mitarbeitern einer Horteinrichtung wurde uns angeboten, über diese Folienessen aus einer Großküche zu beziehen, so wie es heute in den meisten Horten und Kindertagesstätten üblich ist. Nach einigen Überlegungen verzichteten wir jedoch auf dieses Angebot und entschieden uns zum „Selberkochen“, weil wir mit der Qualität des Folienessens nicht zufrieden waren und im Anne-Frank-Haus eine gut eingerichtete Küche haben. Außerdem ließ sich der Dienstplan so organisieren, dass jeder hauptamtliche Mitarbeiter nur einmal in der Woche mit dem Kochen beschäftigt war. Bei der Frage, was wir kochen, spielt der Preis von DM 2,50 pro Person und Mittagessen eine wichtige Rolle. Bei den Rezepten wollten wir von Anfang an einen Mittelweg gehen zwischen dem, was die Kinder kennen und unseren Vorstellungen von einer ausgewogenen Kost. Die Kinder von Beginn an mit einer Art „Öko-Küche“ zu konfrontieren, erschien uns falsch. Das, was die Kinder nicht nur in G. (Stadtteil) kennen, sind „Nudeln mit roter Soße“, Pommes usw. Wir haben mit gutbürgerlichen Gerichten angefangen und nach und nach unseren Speiseplan erweitert. Gute Erfahrungen haben wir mit verschiedenen Arten von Aufläufen gemacht, die den Kindern von Anfang an gut geschmeckt haben. Nach und nach wurde auch mehr Gemüse verwandt und es gibt zwischendurch immer wieder Gerichte, die die Kinder nicht kennen. Sie probieren dann meist vorsichtig und merken schnell, dass es ihnen schmeckt. Eine besonders schöne Erfahrung für Kinder und Mitarbeiter ist bis heute das gemeinsame Mittagessen in großer Runde. Wir sitzen mit 8 - 12 Personen an einem Tisch in der Teestube; eine Situation, die die meisten Kinder noch nicht erlebt haben. Die Atmosphäre in einer solchen Runde ist anders und dieses schafft nicht nur positive Erlebnisse, sondern auch Probleme. Wenn es bei einem Essen zu zweit oder dritt nicht stört, wenn sich die Anwesenden unterhalten, so kann ein Essen mit 12 Personen, bei dem alle durcheinander reden, von der Atmosphäre her sehr ungemütlich werden. Von unseren Freizeiten haben wir einschlägige Vorerfahrungen in Bezug auf die Essgewohnheiten unserer Besucher. „So schnell wie möglich, so viel wie möglich“ heißt die Parole vieler Kinder und Jugendlicher. Aus der Angst heraus zu wenig zu bekommen, füllen sie sich den Teller so voll, dass hinterher eine Menge übrig bleibt und weggeworfen wird. Unsere Zielsetzung ist, dass das Essen in einer ruhigen und entspannten Atmosphäre geschieht, so dass die Kinder nicht zu schlingen brauchen. Wichtig dafür sind ein gemeinsamer Beginn und die Verteilung des Essens in angemessen große Portionen, die die Kinder auch aufessen können. Auch der richtige Gebrauch von Messer und Gabel ist für viele Kinder ungewohnt und muss erst geübt werden. Dies erscheint uns deshalb wichtig, weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass sich viele Jugendliche später unsicher in ihrem Verhalten beim Essen fühlen, wenn sie mal in fremder Umgebung sind. Unser Ziel ist es nicht, den Kindern bürgerliche Verhaltensnormen vom richtigen Benehmen beizubringen, sondern sie sollen erfahren können, dass ein gemeinsames Essen nicht nur Nahrungsaufnahme innerhalb kürzester Zeit bedeutet, sondern auch eine schöne soziale Erfahrung sein kann. Wichtig
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dafür ist auch, dass der Tisch schön gedeckt ist; dazu gehören Tisch-Sets für jedes Kind, kein Plastik, sondern Porzellan und auch mal eine Kerze oder ein paar Blumen“ (Deinet 1987, S. 92 - 94). Das „Familienmodell“ in der Über-Mittag-Betreuung Das hier beschriebene Beispiel der Entwicklung eines Ganztagsangebotes für Grundschulkinder favorisiert in der Gestaltung des Mittagessens eine familienähnliche Atmosphäre in einer Kleingruppe mit starken sozialen Bezügen und wird hier deshalb als „Familienmodell“ bezeichnet. Das Setting ermöglicht den Kindern viele soziale Erfahrungen und das gemeinsame Mittagessen wird von den Fachkräften als pädagogische Gestaltungsaufgabe aufgefasst. Überschaubare Gruppengröße, kontinuierliche Bezugspersonen, feste Zeit- und Raumstrukturen (bis hin zu Tischkarten und festen Plätzen) sind genau die Gestaltungselemente, die sich im „Mensamodell“ (s. u.) nicht oder kaum umsetzen lassen. Die Gestaltung einer familienähnlichen Tischgemeinschaft zielt meist auf Kinder zwischen 6 und 12 Jahren und knüpft an Elemente der Jugendarbeit, insbesondere der Gruppenarbeit, aber auch an Erfahrungen aus der Hortarbeit an. Der Charakter und die Stärke dieses Modells liegen in der Betonung der sozialen Situation der Nahrungsaufnahme als Tischgemeinschaft gegenüber dem Mensamodell, in dem es vorrangig um Bewältigung von Organisationsproblemen und der „reinen“ Nahrungsaufnahme geht. Geeignet ist das Familienmodell nicht für größere Zahlen von Kindern und Jugendlichen (die aber gerade im Rahmen der Ganztagsschulentwicklung entstehen) und auch nicht für Jugendliche im SekundarI-Bereich, denen offenere Formen eher entgegenkommen. Wie die eingangs zitierte Studie zeigt, kooperieren viele Kinder- und Jugendeinrichtungen heute aber im Rahmen von Ganztagsangeboten mit weiterführenden Schulen im Bereich der Sekundarstufe I. Hier liegt in Nordrhein-Westfalen auch der Schwerpunkt der Gestaltung der Über-Mittag-Betreuung bzw. eines Mittagessens. Es stellt sich für viele Einrichtungen die Frage, wie die Über-Mittag-Betreuung hier pädagogisch gestaltet werden kann und welches Setting den Kindern bzw. Jugendlichen dieser Altersstufe gerecht wird. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung versucht der dritte Teil verschiedene Varianten der pädagogischen Gestaltung einer Über-Mittags-Situation zu diskutieren: Dabei werden Grundlagen einiger soziologischer Erkenntnisse zur Bedeutung des Essens mit einbezogen.
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Die Gestaltung der Verpflegungssituation: zwischen Mensa- und Familienmodell Viele Schulen stehen heute vor der großen organisatorischen Aufgabe, eine ÜberMittag-Betreuung zu gestalten, bezüglich derer sie wenig Erfahrungen besitzen. Da gerade Jugendarbeit konzeptionelle und langjährige praktische Erfahrungen in der (pädagogischen) Gestaltung von offenen sozialen Settings hat, liegt es nahe, dass sich Schulen an diese Kooperationspartner wenden, mit der Hoffnung, hier Unterstützung für die Aufgabe der Konzipierung und Organisation einer Über-MittagBetreuung mit Mittagessen zu bekommen. So berichten viele Einrichtungen über Anfragen von Schulen, die sich auf die Gestaltung dieser Situation beziehen. Schulische Erwartungen und Ansprüche gerade im Bereich der Sekundarstufe I beziehen sich aber weniger auf die Gestaltung einer familienanalogen Situation mit einer übersichtlichen Zahl von Kindern, sondern eher auf die Organisation eines rationellen Mensabetriebs für Viele. Dabei stehen Zeitfragen oft an vorderster Stelle, denn für das Essen steht nur ein bestimmtes Zeitbudget zur Verfügung; dieses muss im Ganztag präzise planbar sein. Mangelnde Räumlichkeiten sowie nicht vorhandener Platz schaffen zum Teil schwierige Ausgangsbedingungen. Die oft äußerst engen räumlichen und zeitlichen Vorgaben erinnern an die historische Entwicklung der Gemeinschaftsverpflegung in großen Institutionen: „Derart obligatorische Mahlzeitenordnungen entstehen überall dort, wo der Tagesablauf streng reglementiert ist, um Zeit für Arbeit, Studium oder andere Zwecke zu gewinnen. Eine der ersten Einrichtungen, in der die Nahrungsaufnahme zeitlich und räumlich verbindlich festgelegt wurde, war das Kloster. In anderen, mehr oder weniger ‘totalen Institutionen’, wie Gefängnissen, Arbeitshäusern, Krankenhäusern, Militär, herrschen ähnlich strenge Regelungen. Den größten Bereich bilden jedoch Fabrikordnungen und Tarifverträge, in denen die Dauer und der Rhythmus der Pausen und Essenszeiten verbindlich festgelegt sind“ (Barlösius, 1999, S. 179). Die Essenssituation muss sich hier völlig der dominanten Funktion der Organisation unterordnen. Ja, ein Verweilen beim und nach dem Essen, ausufernde Gespräche, sich im Laufe des Essens chaotisierende Tischordnungen und offene Zeiten/Endpunkte können die Funktionalität der zentralen Organisationsabläufe behindern. Auch wenn es hier um die Kooperation von Jugendarbeit und Schule, inklusive deren pädagogischen Sinns, und nicht (nur) um die Organisation des Mittagessens in einer großen Institution geht, stehen doch organisatorische Aspekte immer wieder im Vordergrund der Gestaltung einer Über-Mittag-Situation. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass viele Jugendeinrichtungen in diesem Bereich kein geeignetes Thema für eine Kooperation sehen, sind sie doch selbst organisatorisch überfordert oder sehen auch keinen pädagogischen Sinn darin, sich an der nur funktionalen Gestaltung solcher Situationen zu beteiligen. Dennoch muss einschränkend gesagt werden, dass es in der Kooperation zwischen Jugendarbeit und Schule kaum
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um die zu organisierenden Mensen an großen Ganztagsschulen geht, sondern um die kleineren aber weit verbreiteten Formen von Ganztagsangeboten, in deren Gestaltung die Jugendarbeit viele Erfahrungen einbringen kann und die sie auch viel stärker aktiv für ihre pädagogischen Arbeitsprinzipien und Inhalte nutzen könnte. Für die konzeptionelle Gestaltung der Verpflegungssituation bringt die Jugendarbeit zwei Muster ein, die sich auf Erfahrungen der Bereiche der Jugendverbandsarbeit und der Offenen Kinder- und Jugendarbeit beziehen:
Mit dem „offenen Mensamodell“, in dem einzelne Jugendliche oder Gruppen ihre Mahlzeit individuell einnehmen, lehnt sich die Kinder- und Jugendarbeit an den offenen Bereich der Einrichtungen an, in dem die individuelle Gestaltung der Ernährungssituation zum Konzept gehört (vgl. Schülercafé, s. o.). Die in den meisten Jugendeinrichtungen vorhandenen Theken mit unterschiedlichem Ernährungsangebot zwischen Snacks und zum Teil selbst hergestellten Speisen entsprechen zwar nicht der Mensa einer großen Schulkantine oder eines Betriebes (mit der entsprechenden Massenabfertigung), betonen jedoch im Gegensatz zu dem Familienmodell der gemeinsamen Tischgemeinschaft in der Primarstufe eine offene Situation, in dem z. B. die Mittagsverpflegung in einem bestimmten Zeitfenster individuell eingenommen werden kann und die Tischgemeinschaften selbstbestimmt zusammengestellt werden können. Die sozialräumliche Gestaltung solcher Situationen sind eine Spezialität der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, auf die Schulen, die sich im Übergang zur Ganztagsschule befinden und die Über-Mittag-Situationen gestalten müssen, gerne zurückgreifen. Dazu können auch Elemente gehören, die vorrangig wenig mit der Ernährungssituation zu tun haben, etwa ein gleichzeitiger Spieleverleih, angrenzende Spiel- und Bewegungsangebote etc. Hier wird das gemeinsame Essen integriert in den gesamten sozialen und pädagogischen Prozess und seine sozialräumliche Gestaltung. Wesentlich bestimmt wird die pädagogische Qualität solcher offenen Angebote deshalb auch durch die Interaktion mit den Fachkräften, also den Jugendarbeiterinnen, aber auch Lehrerinnen und Lehrern, die sich an der offenen Situation beteiligen. Dem Mensamodell gegenüber steht das aus der Gruppenorientierung der Kinder- und Jugendarbeit kommende „Familien-Modell“, das die Über-MittagBetreuung und das Mittagessen zu einem Gruppenerlebnis machen will, in Anlehnung an die familiäre Situation des gemeinsamen Mittagessens. Hierzu wurden schon detaillierte Ausführungen am Beispiel der „Schulkindergruppe“ gemacht (s. o.).
Der Idealisierung der Familiensituation steht entgegen, dass es die mittägliche Gestaltung der Ernährungssituation als solche kaum noch gibt: „Die Familie ist heutzutage weder räumlich noch zeitlich Mittelpunkt der täglichen Nahrungsaufnahme.
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Lediglich bei jedem 15. Haushalt wurden alle Mahlzeiten gemeinsam eingenommen. Für ein Drittel der Familien ist das Abendbrot noch Treffpunkt“ (Ernährungsbericht 1976, S. 453, in: Barlösius, 1999, S. 184). Barlösius beschreibt die Veränderung der familiären Nahrungsaufnahme: „In den 80er Jahren wurde eine ähnliche repräsentative Erhebung zum Thema ‘Ernährungsverhalten in Familienhaushalten’ unter der Leitung von Christian von Ferber durchgeführt. Diese Studie bestätigt im Wesentlichen die Resultate der vorangegangenen“ (Barlösius 1999, S. 184). Die Autorin führt weiter aus: „Neben der Tendenz, dass gemeinsame Mahlzeiten nicht selbstverständlich zum Alltag der Familie gehören, zeigt sich allerdings eine Entwicklung, die als neu wahrgenommen wurde: Das Abendbrot, in der traditionellen Mahlzeitenordnung nachgeordnet, wurde am häufigsten – in ungefähr 50 % aller Haushalte – zusammen eingenommen und nun als Hauptmahlzeit bewertet und zwar unabhängig davon, ob es sich um warme oder kalte Speisen handelte“ (Barlösius, ebd.). Abschließend stellt die Autorin fest: „Gemeinsame Mahlzeiten finden seltener statt, als der Stellenwert dieser Institution als typisch familiale dies vermuten lässt“ (Barlösius, ebd.). Ein Blick in die Soziologie des Essens erschließt weitere Aspekte für das Verständnis und die Gestaltung der Verpflegungssituation:
Für Simmel besteht die Funktion der Tischgemeinschaft in der Überwindung des Naturalismus: „Sie baut also eine Brücke von der Natur zur Kultur, indem sie den physischen Essvorgang in eine kulturelle Angelegenheit umwandelt. Dies gilt für alle Institutionen, die physische Bedürfnisse in eine soziale Form gießen, die von allen Gesellschaftsmitgliedern praktiziert wird“ (Simmel 1957, S. 245, zitiert in Barlösius, 1999, S. 173). Simmel betont besonders die Bedeutung der Tischgemeinschaft und des gemeinsamen Essens als einen sozialen Akt (Simmel 1957). Dieser Aspekt passt sehr gut zum Vorhaben der Einrichtung einer Mensa oder den gemeinschaftlichen Essritualen in Schulen, Betrieben etc. Hiermit kann gefragt werden, wie, gerade durch die Gestaltung der gemeinsamen Essenssituationen, aus der bisherigen reinen Lernsituation von Schule auch eine sozial-kulturelle Lebenssituation werden kann. Norbert Elias beschreibt in seinem Werk den Prozess der Zivilisation und nimmt dabei auch die Esskultur in den Blick. „Am Beispiel der Tischgemeinschaft veranschaulicht er das Vorrücken der ‚Peinlichkeitsschwellen‘ und ‚Schamgrenzen’, wodurch der Zwang zur Selbstkontrolle wächst. Tischsitten, wie die Einführung der Gabel, begreift er ‚als die Inkarnation eines bestimmten Affekt- und Peinlichkeitsstandards’, dem die Wandlung des Trieb- und Affekthaushalts vorausgeht“ (Barlösius, 1999; 173 - 174). Diese Aspekte passen interessanterweise zu den Einschätzungen der Praxis, in der immer wieder davon berichtet wird, das Kinder und Jugendliche heute mit den Esswerkzeugen
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nicht wirklich umgehen können. Die Gestaltung der Mahlzeit gilt Elias als Zeugnis „für einen bestimmten Aufbau der menschlichen Beziehungen, der Gesellschaft und für eine bestimmte Art des menschlichen Verhaltens“ (Elias 1981, S. 75, zitiert in Barlösius 1999, S. 174). Für Schule und Jugendarbeit gemeinsam stellen sich hiermit die Fragen, welche pädagogischen Ziele und Inhalte, welche kulturellen Lebensmodelle sie gerade in der ersten Situation realisieren wollen. Die großen Soziologen betonten also die Bedeutung der Tischgemeinschaft und des gemeinsamen Essens als sozialen Akt oder als Ausdruck einer gemeinsamen Kultur. Befunde zur gesundheitlichen Situation von Kindern und Jugendlichen und ihrer Ernährungsweise aktualisieren diese Aspekte in einer Form, die die Gestaltung von Ernährungssituationen im Rahmen von Ganztagsangeboten auch als eine Herausforderung für die Jugendarbeit begreifen lässt. Bei der Gestaltung der Ernährungssituation in Jugendeinrichtungen, aber auch am Ort der Schule, kann die Kinder- und Jugendarbeit ihre jahrzehntelangen Erfahrungen mit dem Thema einbringen, so wie diese auch im vorliegenden Buch versammelt sind. Wie für die Jugendarbeit typisch, ist das Spektrum der konzeptionellen Varianten sehr breit gefächert und reicht vom Familien- bis zum Mensamodell. Je nach Altersstufe, der Zahl der Kinder und Jugendlichen, die an einer Über-MittagBetreuung teilnehmen, den Räumlichkeiten und dem Setting insgesamt können unterschiedliche konzeptionelle Varianten entwickelt werden, um die o. g. Aspekte zu verwirklichen. Die vor Jahren geführte Diskussion, ob die Übernahme einer Mittagsverpflegung (ähnlich wie die Hausaufgabenbetreuung) familiäre Strukturen schwächt, kann zu Gunsten einer lebensweltorientierten Konzeptionierung überwunden werden, die von tatsächlichen Bedarfen ausgeht. Nicht nur im Bereich von Kommunen mit einem hohen Anteil von Kindern und Jugendlichen, die von Armut betroffen sind, stellt sich die Frage einer kompensatorischen Leistung der Kinder- und Jugendarbeit fachlich nicht mehr. Sicher ist die Ernährung von Kindern und Jugendlichen keine eigentliche Aufgabe der Kinder- und Jugendarbeit. Organisiert sie jedoch in einer intensiven Kooperation mit Schule Ganztagsangebote, ist sie ohnehin bereits mit dem Thema konfrontiert und kann durch eine entsprechende Gestaltung Kindern und Jugendlichen die sozialen Erfahrungen einer Tischgemeinschaft ermöglichen. Ebenso kann sie die Möglichkeit schaffen, ihre Kompetenzen im Umgang mit dem Thema Ernährung und Gesundheit weiter zu entwickeln. Zusammenfassend sollen Chancen und Probleme der Gestaltung der Ernährungssituation im Rahmen von Ganztagsangeboten und der Kooperation von Jugendeinrichtungen und Schule zusammengefasst werden:
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Sozialräumliche Gestaltung der Situation: Entscheidend für die Wirkung ist die Ausgestaltung des Settings, sowohl im Familien- als auch im Mensamodell. Inwieweit, auch unter Beachtung der schwierigen gesundheitspolizeilichen Vorschriften, die Herstellung eines positiven Settings möglich ist, hängt wesentlich von den sozial-räumlichen Voraussetzungen ab. Die in vielen Jugendeinrichtungen vorhandenen Küchen, aber auch die durch das Investitionsprogramm der Bundesregierung geschaffenen Mensen an Schulen, schaffen hier zumindest eine räumliche Grundvoraussetzung. Deren Gestaltung stellt sich als Herausforderung ebenso dar, wie die zeitliche Konzeptionierung von Ganztagsangeboten, etwa auch unter dem Aspekt einer sinnvollen Abfolge von Ruhe und Bewegung. Es stellt sich z. B. die Frage, ob die in vielen Projekten übliche Abfolge, dass nach dem Mittagessen sofort die Schulaufgabenbetreuung beginnt, physiologisch sinnvoll ist. Beteiligung am Kochen und die Essensgestaltung durch Kinder und Jugendliche wird zunehmend erschwert: Auch wenn die gemeinsame Zubereitung der Mahlzeiten aus gesundheitspolizeilichen, aber auch organisatorischen Gründen kaum möglich ist, werden Kinder und Jugendliche vielfach, z. B. auch an der Ausgabe der Mahlzeiten beteiligt. Leider widerspricht die gesundheitspolizeiliche Maßgabe der Trennung der Räume für die Essenszubereitung dem gruppenpädagogischen Ziel, die Zubereitung und Einnahme des Essens als gemeinsame Situation zu erleben und auch bewusst herzustellen. Das nur während der Essensausgabe geöffnete „Rollo“ zwischen dem Raum der Essenszubereitung und dem Speiseraum versperrt sonst den Blick auf die Zubereitung der Speisen; ein Effekt, der heute in vielen Restaurants in sein Gegenteil verkehrt wurde: Der Blick auf die kunstvolle und hoch kooperative Essenszubereitung gehört hier immer mehr zum Gesamtgenuss. Verbindung von Ganztagsangeboten mit weiteren Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit: Auch wenn die gemeinsame Zubereitung von Mahlzeiten innerhalb von Ganztagsangeboten eher (noch) unrealistisch erscheint, kann die Kinder- und Jugendarbeit mit ihrem breiten Repertoire von Kochgruppen an die Ganztagsangebote konzeptionell anschließen. Solche Gruppen und Projekte bilden eine Brücke zu den Angeboten der Jugendarbeit und bieten für Kinder und Jugendliche die Chance der Erweiterung ihrer Kompetenzen sowohl in Bezug auf die Zubereitung von Mahlzeiten und die Gestaltung einer gemeinsamen Ernährungssituation als auch zur Aneignung motorischer Fähigkeiten, wie beispielsweise dem Umgang mit Messer und Gabel. Diese nonformalen Bildungschancen stellen sich aber nur dann ein, wenn es der Kinderund Jugendarbeit gelingt, ein entsprechendes Setting herzustellen, das Kinder und Jugendliche motiviert, sich die Grundbedürfnisse des Menschen nach Nahrungsaufnahme, aber auch nach kooperativer Nahrungserstellung (also et-
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wa Einkaufen und Kochen) und auch nach sozialem Kontakt und Gemeinschaft beim Essen anzueignen. Befreit vom schulischen Curriculum kann die Kinder- und Jugendarbeit hier ihre Konzepte entwickeln und ausgehend von den Interessen und Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen weitergehende Projekte entwickeln. So kam es in der oben beschriebenen Düsseldorfer Einrichtung zur Entstehung einer Gartenbaugruppe: Anknüpfungspunkt war die Wahrnehmung der Kinder, Tomaten kämen aus dem Supermarkt, während ihnen das Wachstum von Tomaten an Stauden unbekannt war. Dabei konnten die Kinder zumindest exemplarisch den ganzen Zyklus der kooperativen Erzeugung von Nahrung, ihrer Verarbeitung zu genießbarem Essen, der kulturellen Formung der gemeinsamen Essensituation und der Erzeugung der Tischgemeinschaft erfahren. Wenn die Voraussetzungen stimmen, kann die Gestaltung einer Ernährungssituation im Rahmen von Ganztagsangeboten genutzt werden, um das Essen als soziale Situation zu gestalten und für Kinder und Jugendliche nachhaltige Bildungserfahrungen zu ermöglichen.
Literatur Barlösius, Eva (1999): Soziologie des Essens. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung. Weinheim und München Deinet, Ulrich (1987): Im Schatten der Älteren. Offene Arbeit mit Kindern und jüngeren Jugendlichen. Weinheim und München Elias, Norbert (1981/1982): Über den Prozeß der Zivilisation. Bd.1/2, 8. Aufl. Frankfurt a. M. Simmel, Georg (1957): Soziologie der Mahlzeit. In: Simmel, G. (1957) (Hrsg.): Brücke und Tür. Stuttgart, S. 243 - 250
III
Essthetische Geschmacksbildung
Spirituelle Garküche – Idee und interaktive Praxis Christoph Riemer
In asiatischen Ländern findet das Kochen und Essen auf den Straßen statt. Eng aneinander gereiht, stehen vielerorts mobile Garküchen, die jeweils ein spezielles Speiseangebot auf Bestellung frisch zubereiten. Eine mobile Garküche ist eine auf Rädern montierte Mini-Küche mit Gasbrenner und meistens sehr wenig Platz zum Vorbereiten und Anrichten der Speisen. Um diese kleinen Kochwagen herum sind Klapptische aufgestellt. Auf Hockern sitzen die Gäste und warten beispielsweise auf eine Nudelsuppe (wie Bami Nam). Diese wird zügig zubereitet, individuell gewürzt und genüsslich verspeist. Diese Form der Esskultur begeisterte mich auf meinen Reisen nach Hongkong, Thailand, Laos, gab es hier die landesüblichen Gerichte in ausgezeichneter Qualität. Natürlich gehört etwas Mut dazu diese ungewohnte Form und Zubereitung von Speisen zu probieren; ich habe es nicht bereut und mehr interessante Speisen geschmeckt, als in den meisten Touristenrestaurants. Diese Sraßenküchenkultur inspirierte mich zur Idee der spirituellen Garküche. Im Folgenden werde ich den Prozess der Entstehung der konzeptionellen Idee von der „spirituellen Garküche“ nacherzählen. Das Grundmuster dieser Entstehungsgeschichte ist selber schon ein Beispiel kreativer „Ideenküche“, in der aus den verschiedensten Zutaten neue Gerichte beziehungsweise Projekte entstehen. Zunächst berichte ich über den Anfang des Konzeptes im Jahr 2003, schildere dann ein „fortgeschrittenes“ Garküchenprojekt von 2008 im Sommeratelier (Burkhardthaus Gelnhausen). Danach erläutere ich die Elemente und Anregungen, die dem Projekt zu Grunde lagen und versuche dann unter den Überschriften „Impulsfeld und Resonanzen“ und „Zutaten“ die Essentials der interaktiven Praxis der Garküche zu formulieren. Als Künstler ist es nicht meine Aufgabe, meine eigenen Arbeiten zu interpretieren, ich kann sie beschreiben und sie sprechen für sich selbst. Um aber diesen Blickwinkel zu erweitern, hat mein Freund und Verbündeter vieler Aktionen – Marcel Gerhard Martin – aus seiner theologisch-wissenschaftlichen Perspektive meine Ausführungen bereichert. Sein ganz spezieller Nachtisch schließt sich also an mein Menü an. Alles begann mit einer Einladung im Jahr 2003 in die Evangelische Akademie Bad Segeberg zur Europäischen Bibliodramakonferenz unter dem Titel „Gastfreundschaft“. Ich überlegte, was mein Beitrag zu diesem Thema sein könnte und mir war schnell klar: Ohne Essen und Kochen ist Gastfreundschaft für mich unvollständig. Für mich sind die Fragen wichtig: Was alles nährt mich? Was nährt andere? Vor allem gehört zur Antwort die gemeinsame Zubereitung einer interessanten Speise, aber auch das Zusammenspiel mit anderen beim Kochen und Essen.
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Und ist nicht auch die Zelebrierung des gemeinsamen Kochens und Essens eine „heilige Handlung“? Weht bei einem gelingenden Essen nicht auch ein „guter Geist“ über den Töpfen und Tellern? Wieso sind in Kirchen die Küchen in Nebenräume oder Gemeindehäuser ausgelagert? Warum riecht es nicht nach frischem Brot, geht es doch immer wieder um das Erinnern des Letzen Abendmahles? Bei einem Essen mit Freunden wird das, was uns bewegt untereinander ausgetauscht. Ließe sich das uns Bewegende, statt nur darüber zu reden, nicht auch sinnlich konkret zeigen – in Form von „Geschmacksproben“ anderer, z.B. medialer Art, also nicht nur durch Speisen? Mit Geschmacksproben meine ich also verdichtete Zusammenfassungen, Elemente oder Dokumente eines größeren Zusammenhangs, die diesen konkret sinnlich erfahrbar – eben als Probe schmeckbar, sichtbar, hörbar, riechbar oder fühlbar – machen. Auf welchen Ebenen ließen sich diese Ideen gemeinsam und interaktiv zusammenfügen? So stellte ich für diese spirituelle Garküche Dias von asiatischen Garküchen, von aktuellen Kunstwerken, Bilder und Bücher von Dorothee Sölle (die gerade gestorben war), Zitate aus Jacques Derridas „Von der Gastfreundschaft“ sowie verschiedene zeitgenössische Musiken zusammen. Mein Künstlerkollege Helmut Oesting hatte sich eine Garküche auf Rädern gebaut, die genau in einen Kleintransporter passte. Mit dieser und vielen „Zutaten“ für die unterschiedlichen Geschmacksproben rollte ich zur evangelischen Akademie Bad Segeberg und inszenierte im gepflegten Foyer die erste spirituelle Garküche. Im Zentrum stand der Küchenwagen mit Gaskocher und Wok, darum herum gab es Projektionsflächen für die Garküchendias aus Thailand, Texttafeln, Bücher und Kataloge. Dazu war eine Musikmischung zu hören. Hinzu kamen original thailändische Garküchenschürzen, die sich die Gäste anziehen konnten, wenn sie ins Küchengeschehen eingriffen. Da die Küchen in Tagungsstätten nicht zentral, sondern versteckt hinter den Essräumen liegen und nur von Fachpersonal betreten werden dürfen, war diese improvisierte Garküche – zentral im Eingangsfoyer platziert – eine kleine Sensation. Dass hier tatsächlich gekocht und verschiedene Geschmacksproben angeboten wurden, löste erhebliches Interesse aus. Schon hatten einzelne Teilnehmer und Teilnehmerinnen Schürzen an und schnitten Zutaten klein. Wie selbstverständlich entstanden Gespräche über eigene Erfahrungen mit Kochen, Küchen und Schmecken. Auch die medialen Geschmacksproben weckten Neugierde, lösten Nachfragen aus und ermutigten zu eigenen Geschichten und Meinungen. Bei Ausstellungseröffnungen wird in der Regel durch das Publikum so gut wie nie etwas gefragt, geschweige denn etwas dazu erzählt oder diskutiert. Hier war das ganz anders: Durch das Reizklima von Nahrung und Nähe, das die meisten aus häuslichen Küchen kennen, entstand wie selbstverständlich Kontakt und Kommunikation zum Thema Gastfreundschaft.
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Dieser Einstieg öffnete für mein Projekt der spirituellen Garküche viele Horizonte: Was für transmediale Geschmacksproben ließen sich zusammenbringen, welche Formen der Beteiligung der Gäste, welche themenspezifischen Kompositionen? Inzwischen habe ich an die hundert spirituelle Garküchen inszeniert, doch ein Ende dieser vieldimensionalen Möglichkeiten ist nicht in Sicht, mit jeder Erfahrung entstehen Ideen zur Weiterentwicklung. Dazu nun weitere Beispiele. Beispiel Sommeratelier Es riecht nach Hühnerbrühe, nach Ingwer und geröstetem Knoblauch. In der Mitte des Atelierraumes steht eine Garküche mit einem großen Topf voll Brühe und eine Schüssel mit asiatischen Fadennudeln. Daneben schneiden an einem Tisch mehrere Gäste Lauchzwiebeln, Staudensellerie, Chinakohl klein. Weitere Schüsseln sind mit Mungosprossen, Tofustücken, Hühnerfleisch, Fleischbällchen, aber auch Limonensaft, Chiligelee, frittiertem Knoblauch und salziger Fischsauce gefüllt. Die Teilnehmenden des Sommerateliers 2008 im Burckhardthaus Gelnhausen kommen zu einer spirituellen Garküche zusammen ins Atelierhaus. Aus weißen Sockeln und kleinen Podesten ist an den Wänden eine „Landschaft“ aufgebaut, um sich darauf zu setzen oder in den ausliegenden Büchern und Katalogen zu blättern. Über dem Garküchenwagen sind Dias von Wolken auf einer Projektionsfolie zu sehen. Auf einer anderen Fläche erscheinen Fotos von den Teilnehmenden des Sommerateliers. Mit weißen Esstellern als „verwandeltes Objekt“ nehmen die Teilnehmenden gegenseitig Fotos voneinander auf und diese werden nun projiziert. In einem kleinen Fernseher läuft Lili Fischers Performance „Gewürzpredigt für Pfeffersäcke“, der Ton ist über Kopfhörer zu hören. Unter dem Titel „I.N.R.I.“ hat Bettina Rheims mit französischen Models nachempfundene biblische Szenen fotografiert: Diese Bilder laufen auf einem anderen Bildschirm, daneben liegt der Bildband. Der Raum ist von feinen Klängen erfüllt, die elektronische Komposition „Lucky“ von Volker Zander. Sie wurde eigens für diesen Raum, anlässlich einer Performance mit 40 asiatischen Winke-Katzen, komponiert. Diese unaufgeregte Klangfolie schafft eine traumartige Atmosphäre. Die Gäste gehen umher, unterhalten sich oder stellen ihre eigene Suppenmischung mit einer Auswahl der Zutaten an der Garküche zusammen. Auf einem weißen Podest sitzt Annegret Zander, mit der ich immer wieder spirituelle Garküchen inszeniere. Sie hat eine Garküchenschürze an und pult Bohnen als performative Handlung. Aus dem Alltäglichen herausgehoben, gekennzeichnet durch eine Haltung aus Konzentration und Intensität. Sie tut dies eine ganze Weile ohne mit anderen zu sprechen. Sie verkörpert diese Handlung – nicht weniger und auch nicht mehr. Die anderen sitzen, schauen ihr zu, essen ihre Nudel-
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suppe, blättern in Büchern wie „Die Geschichte der Wolken“ von Hans Magnus Enzensberger, „stations – ausgewählte Meisterwerke aktueller Kunst“ (3 Sat) oder dem letzten Gedichtband des gerade verstorbenen Peter Rühmkorf („Paradiesvogelschiß“). In einer anderen Ecke sind auf Kopfhörern seine Gedichte zu hören. In einem früheren Band „Über das Volksvermögen“ hatte Rühmkorf Kinderreime und dergleichen gesammelt, um deren literarische Qualitäten ins Blickfeld zu rücken. Ähnliche Potenziale haben umgangssprachliche Formulierungen rund um das Essen, die im übertragenen Sinne verwendet werden. Deshalb wurden die Garküchengäste ermuntert, auf Papierkopien von Tellerfotos eigene Essensformulierungen zu schreiben: Jeder und jedem fiel etwas ein und so wurde eine Wandfläche mit den beschriebenen Tellerkopien fortlaufend ergänzt. Dazu einige Beispiele aus dieser Sammlung:
Auf den Geschmack kommen Was auf der Pfanne haben Die Suppe auslöffeln Bruzzeln Was angerichtet haben Seit Tagen im Topf Das köchelt so vor sich hin Es geht um die Wurst Das macht den Kohl nicht fett Schwein gehabt Geht weg wie warme Semmeln Schmalhans ist Küchenmeister Salz in der Suppe Geht auf wie’n Hefekuchen Was in der Röhre haben Saugut Sahneschnitte/Nussecke Was probieren Den Senf dazugeben Wer Sorgen hat, hat auch Likör Sauertöpfisch Den mach ich zu Hackfleisch Butter bei die Fische Rumeiern Sieht aus wie’n Kartoffelsack Klar wie Kloßbrühe Auf der Zunge zergehen lassen Zum Fressen gerne
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Echtes Schrot und Korn Das ist 'ne Wurst Kein Honigschlecken Süßholz raspeln Das Wasser im Munde zusammenlaufen Im Halse stecken bleiben Den Braten riechen Trübe Tasse Fett schwimmt oben Alles Käse Korinthenkacker Nicht die Bohne Hackfresse Das ist aber ’n Klops Erbsenzähler Wo Bartel den Most holt Rumsülzen Nicht gut Kirschen essen Zum Kotzen Krümelkacker In die Suppe spucken Etwas anbrennen lassen Da wird aber die Milch sauer Nicht die Butter vom Brot nehmen lassen Jemanden etwas dick aufs Brot streichen Treulose Tomate Kraut und Rüben Genudelt Ran an den Speck Gurkentruppe Das hat einen „haut goût“ Aus dem Quark kommen Da haben wir den Salat Tomaten auf den Augen haben Rumgurken Den Mund voll nehmen Veräppeln Rinn in die Kartoffeln, rut aus de Kartoffeln Den Löffel abgeben Da wird der Fisch/Hund in der Pfanne verrückt Eine Frikadelle an die Backe nageln
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Jemand ist ausgekocht Bohnen in den Ohren Aus dem Mus-Topf kommen Das ist wirklich Banane Komm aus den Pötten Die Zeit auskosten Die Früchte des Lebens schmecken Du bist wohl auf der Brennsuppe dahergeschwommen Muss man das, was man sich selber eingebrockt hat auch noch auslöffeln? Dumm wie Brot Durststrecke Geh doch dahin wo der Pfeffer wächst Den Mund zu voll nehmen Muss man den Kakao, durch den man jemanden zieht, auch noch trinken? Das Land, wo Milch und Honig fließt Blöde Blunz’en Friss oder stirb Du schaust, als hätte dir ’ne Schwalberl das Brot weggenommen Das ist doch Geschmackssache Nicht Fisch, nicht Fleisch Da war ich noch Quark im Schaufenster Saure Gurkenzeit Auf die Nudel schieben In der Kürze liegt die Würze
Das gemeinsame Wissen der TeilnehmerInnen um solche Formulierungen überraschte und begeistert uns, dazu gab es in der Folge sogar ein engagiertes Internetforum. Nach einer knappen Stunde wechseln nacheinander die Projektionen und Filme: Vorgeführt werden Küchenbilder mit Koch- und Essenszitaten – teilweise aus der Bibel, filmische Kurzportraits aus der Reihe „stations – ausgewählte Meisterwerke aktueller Kunst“ (3 Sat), ein Video über einen thailändischen Nudelsuppenkoch, der mit Anmut und Raffinesse fortlaufend seine Nudelsuppen zubereitet und serviert, aber auch Ausschnitte aus dem Film „Unser tägliches Brot“, in dem unkommentiert Szenen der industriellen Massenproduktion von Lebensmitteln (wie Gurken-, Tomaten-, Paprikaanbau in Spanien, Schlachtfabriken für Schweine und Rinder, Geflügelmassenhaltungen) gezeigt werden. Inzwischen hat auch die Musik gewechselt. Es läuft eine Mischung aus eigens für dieses Atelier gesammelten Musikstücken und etwas Bewegtes wird so in den Raum gebracht. Um sich ganz auf die Klänge und Geräusche konzentrieren zu können, gibt es Schlafbrillen aus Stoff, mit denen sich einige die Augen abdecken, um nur zu lauschen. Auch die Garküchen-
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schürzen werden von einigen Gästen angelegt und nach kurzer Zeit wie selbstverständlich getragen. Man sitzt, lauscht, redet, betrachtet Projektionen, blättert in Büchern und Katalogen. Oder probiert weiter an der Nudelsuppe und den verschiedenen Zutaten. Das Ganze hat etwas Leichtes, Selbstverständliches. Die fast 20 Gäste reden miteinander über Ihre Eindrücke, Geschmacksvorlieben, Assoziationen. So geht das Ganze mehrere Stunden. Aus den Bohnenschoten sind inzwischen kleine Objekte geworden, die auf einigen der weißen Sockeln stehen. Auf den schwarzen Tafeln, die an verschiedenen Wänden lehnen, stehen mit Kreide Sätze wie „Schmecket und Sehet“, „Geschmack kommt von schmecken“, „Sinn und Geschmack für das Unendliche“ (so Friedrich Schleiermacher über Religion). Und in einem Glas sind Bibelzitate zum Thema Essen und Kochen auf schmalen Papierstreifen zu finden, wer will kann sich zum Ende noch eine „geistliche Wegzehrung“ mitnehmen. Nun gibt es eine Nachspeise, die – wenn gewollt – selbst zubereitet werden kann: In einem Crêpe-Teig gebackene Bananenscheiben mit einer Eifüllung. Dazu gibt es einen Limonensirup. Die Gäste navigieren sich selbst durch dieses transmediale Impulsfeld, verweilen dort, wo ihnen etwas „schmeckt“; stellen sich die Geschmacksproben zusammen, die ihnen entsprechen. Wie bei einem Buffet suchen sich die Gäste das für sich heraus, was sie neugierig macht, reizt, interessiert. Man kann das auch „In Resonanz treten“ nennen. Nichts muss wahrgenommen, bzw. probiert werden, alles ist Angebot und Ermunterung zum Kennenlernen, denn das meiste ist den Gästen unbekannt. Die abschließenden Resonanzen der Gäste waren:
neu ankommen – Ich werde – und das ist wunderbar! Hilfe gegen Fremdheitsgefühle Weite Verwunderung Herzens –Bildung Guter Geist und dicke Luft Loslassen Leichtigkeit Erstaunen Religion = Sinn und Geschmack des Unendlichen – Das klingt mir nach. Wundervoll gemütlich Knusprig, knackig zwischen den Zähnen bevor es scharf runtergeht. Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen. „Göttlich“ Essen im Angesicht Das Lächeln der Liebe Lecker! Total genial
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Außergewöhnlich Erlebnis Teilen und genießen Nicht IKEA Pink heißt dich willkommen Das Selbe, aber immer verschieden Variationen sind etwas wunderbares Geschmackshorizonterweiterungen
Zwischen der ersten spirituellen Garküche (2003) und der beschriebenen des Sommerateliers sind sechs Jahre vergangen. Ich hatte eine Spur gefunden und die Ahnung, dass sich hiermit etwas von dem entdecken lässt, was mir immer schon vorschwebte: Es inszeniert sich ein gemeinsames Impulsfeld wie von selbst, indem sich die Gäste eigenständig, heiter und leicht miteinander bewegen und begegnen. Die spirituelle Garküche wurde für mich zur Metapher für eine selbstbestimmte Bildungsbewegung in einem komplexen Feld, in einem vielfältigen Zusammenhang in dem ohne eindeutige Ordnung Möglichkeiten für subjektive Erfahrung entstehen. Ich begann auf jeder meiner Fortbildungsveranstaltungen an einem Abend eine spirituelle Garküche anzubieten, in der sich das Thema der Veranstaltung mit all seinen Assoziationen und Materialien zusammenfügte und erweiterte. Die Erweiterung wurde besonders verwirklicht, indem die Gäste sich beteiligten: durch „Geschmacksproben“ aus ihren Aneignungsprozessen, durch eigene kleine Aktionen oder durch eine kulinarische Kostprobe nach dem Motto: „Auf diesen Geschmack bin ich hier gekommen!“ Die Reaktionen der Teilnehmenden waren oft begeistert, aber auch leicht irritiert, fand doch hier alles simultan statt und einzelne Beiträge wurden nicht frontal „one by one“ abgefragt/abgespielt. Die abschließend zusammengetragenen Resonanzworte der Teilnehmenden spiegelten allen Beteiligten das subjektive Echo auf das Setting und Geschehen wieder. Ich fand Verbündete und PartnerInnen, die offensichtlich etwas von meiner Ahnung und Sehnsucht verstanden und sich auf ihre Weise beteiligten. Das erweiterte die Möglichkeiten dieser Situationsinszenierung sehr. In einer Krankheitsphase hatte ich Fiebervisionen zu dem gemeinsamen Ort der spirituellen Garküche: er entstand aus den Licht-Projektionen rundum, die alle zusammentrugen. Beim Nachdenken über das Konzept spürte ich in meiner Biografie viele Anschlüsse auf und fand in der Rezeption der bildenden Kunst und Performance Vorläufer, Verbündete, Anregungen zu verschiedenen Aspekten. Ich erinnerte die Arbeiten von Daniel Spörri, dessen Materialbilder fixierte Spaßmahlzeiten und Essen zeigten. Unvergessen ist mir Joseph Beuys, der in einem Fernsehinterview über den erweiterten Kunstbegriff sprach und dabei für das familiäre Mittagessen Kohlrabi schälte, um einen Eintopf zu kochen. Das Gespräch ist mir kaum noch in Erinnerung, die Küchenszene in seinem Atelier aber völlig prä-
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sent. Peter Kubelkas Kochvorlesungen kannte ich aus Filmen, bestaunte seine kulturgeschichtlichen Deutungen anhand von frühen Rezepten und Gerichten. Natürlich hatte ich in Marinettis „Futuristische Küche“ gelesen und das Buch wieder zur Seite gelegt. In Performances von Lili Fischer spielte die Zubereitung von Speisen und das Verteilen von Geschmacksproben eine wichtige Rolle. Sie tragen Titel wie: Problemklößchen, eingeschnappte Zwiebeln, Gefühlsquark, eingebildete Gurken, überbackene Herbarien, aalglatte Gedankensuppe mit trockenem Brot der Wissenschaft usw. Zusammen mit dem Künstlerkollegen Helmut Oesting plante und gestaltete ich inszenierte Essen. Als Hommage an zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler (Wolfgang Laib, Eun Nim Roh, Thomas Virnich, Robert Ryman, Mario Merz, Lili Fischer) gab es auf sie bezogene Speisen mit optischen, haptischen und akustischen Gängen. Diese synästhetischen Essen waren wesentlicher Bestandteil der Sommerateliers, die wir viele Jahre lang in Südfrankreich veranstalteten. Bei inszenierten Atelierfesten versuchten wir ebenfalls das jeweilige Thema mit der Situation/Ort und dem Essen zu verbinden. So war „Lust auf Bücher“ ein großes Fest, zu dem die Gäste ihre wichtigen Bücher mitbrachten, dazu erzählten und vorlasen (etwa: das immer wieder gelesene Buch, das immer noch nicht gelesene Buch, das ärgerliche Buch, das selbstgeschriebene Buch …). Neben Ausschnitten aus dem Film von Peter Greenaway „Prospero’s books“ gab es Buchstabensuppe, Blätterteigbücher, Buchweizengrütze und dergleichen. Kulinarische Impulse verbanden sich mit den thematischen und machten aus der Gesamtkomposition, wenn es glückte, mehr als die Addition der Einzelelemente. Beispiele für solche Kunstaktionen finden sich in dem Buch „Der Geist über den Tellern. Inszenierte Mahlzeiten“ von Helmut Oesting (1992). Diese Spur entwickelten wir in dem Zusammenspielen mit dem Künstlerkollegen und Küchenmeister Thorsten Gillert weiter. Bei einem Atelierfest wurde das Herstellen von Würsten zur performativen Aktion, das Strudelteigziehen zu La Traviata mit Maria Callas war ein weiterer Höhepunkt. Daraus bereitete er grandiose Birnen-Gorgonzola-Strudel. Zu verschiedenen Sommerateliers in Gelnhausen entstanden mit Thorsten Gillert themenspezifische Essensinszenierungen. Das Sommeratelier mit dem Titel „Neben der Spur“, führte zum Nebeneinander von drei Geschmacksspuren: pur – klassisch – exotisch. Zu diesen drei Gattungen gab es jeweils Varianten von Grundspeisen. Z.B. Kartoffeln (Pellkartoffeln: pur, Farmerkartoffeln: klassisch, französisches Püree: exotisch). Solche Variationen gab es auch zu Hühnersuppe, Salat, Matjes, Lamm, Schwein, Rind. Die Teilnehmenden hatten zehn Tage lang zum Thema „Neben der Spur“ gearbeitet und zeigten vor dem Essen die entstandenen Atelierarbeiten in Bild, Objekt, Aktion, Video. Zu einem Hamburger Atelierfest baten wir die Gäste, ein unverarbeitetes Lebensmittel mitzubringen, das ihnen zum Stichwort „wild“ in den Sinn kam, denn
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das Motto war „Wildes Kochen“. Aus den fast 30 mitgebrachten Produkten komponierte Thorsten Gillert spontan ein mehrgängiges Menü, das gemeinsam zubereitet wurde. Alle waren beteiligt und verarbeiteten gemeinsam speziell auch das selbst mitgebrachte Lebensmittel. Ungewöhnliche Begegnungen von Geschmäckern und Personen verbanden sich bei diesem Vorhaben auf wunderbare Weise, es war auch eine Hommage an das Neue und Unvertraute. Mit dem Koch und Künstlerfreund Thorsten Behnk entwickelten wir weitere themenspezifische Essen wie „lost&found“, „Erwartungen und Veränderungen“, „Transition“, „east meets west“, „Glückliche Zufälle“. Diese Essensinszenierungen bewegten sich immer an der „Grenze zwischen Vertrautem und Fremdem“. Bei der Entwicklung der spirituellen Garküche war Thorsten Behnk’s spielerische Experimentierfreude eine große Hilfe, einfache und ungewohnte Geschmacksproben zu finden. Vor allem interaktive Zubereitungen erprobten wir vielfältig, wie die oben beschriebene Nudelsuppe. Impulsfeld und Resonanzen Die inszenierte Situation einer spirituellen Garküche zeichnet sich durch die transmediale Gleichzeitigkeit aus. Wie bei einem Buffet gibt es ein möglichst vielfältiges Angebot der verschiedensten Ebenen: Klänge und Musiken, Bildprojektionen und Filmausschnitte, Zitate und Texte, Kataloge und Bücher, Materialien und Aktionen und natürlich unterschiedliche essbare Geschmacksproben. Es gibt kein frontales, einheitliches Angebot, sondern bewusst die Möglichkeit sich zwischen Verschiedenem zu entscheiden. Die Gäste navigieren sich selbst durch das Impulsfeld und stellen sich selbst zusammen, was sie anspricht und worauf sie Lust haben, sich zu befassen. Wie bei einem Buffet wählt man aus, was ansprechend und verlockend wirkt. Alles zu probieren ist zu viel und würde den Magen verstimmen. Bei einem medialen Buffet ist das genauso. Was ist für Einzelne die richtige Dosierung an Eindrücken? Um das herauszufinden ist es sinnvoll, sich zunächst zu orientieren, umher zu gehen und den Gesamteindruck der Vielfalt wahrzunehmen. Wo lohnt es sich zunächst zu verweilen? Wo spürt man Anreize, von was fühlt man sich angemacht, berührt? Aber auch an welchem Gespräch nimmt man teil, hört Reaktionen auf Wahrgenommenes oder erzählt, was einen bewegt? Resonanz nennt man die Fähigkeit, in einem breiten Angebot aufzuspüren, was einem selbst auffällt, was von besonderem Interesse ist, neugierig macht, fasziniert oder auch irritiert, vielleicht begeistert und die Leidenschaft weckt. Wie in der Musik wird durch eine Schwingung ein Mitschwingen ausgelöst, wenn man auf dieser Frequenz ansprechbar ist. Dieses aufzunehmen und zuzulassen hängt mit der Wahrnehmungsfähigkeit zusammen. Ist man festgelegt, hat man ein eindeutiges Bild von sich und der Welt, ist es schwer Neues und Fremdes zu entdecken. Es geht jedoch besonders darum, jenseits von Selbstzensur wahrzunehmen, zu staunen und
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dem Entgegenkommenden achtsam zu begegnen. Es ist wie auf Märkten in fremden Kulturen, aber auch in Ausstellungen, in Buchhandlungen oder in einer Gruppe von Menschen. Wovon fühlt man sich angezogen, wovon abgestoßen? Was lässt einen erst einmal gleichgültig? Unsere Wahrnehmung ist zunächst auf Wiedererkennung ausgerichtet. Was wir kennen, nehmen wir in der Regel wahr. Unser Auge sei der größte Radiergummi (Gerald Hüther), denn vieles, was wir nicht kennen, sehen wir zunächst nicht, nehmen es nicht bewusst wahr. Deshalb ist der Satz einleuchtend: „So viele Zuschauende ein Stück hatte, so viele Stücke wurden gespielt“. Dies gilt für die meisten Ereignisse. Aber auf Reisen in fremde Kulturen kann sich die eigene Wahrnehmung auch öffnen für das Fremde, das Neue. Dies geschieht vor allem dann, wenn Irritationen dafür sorgen, dass die ständige Deutung und Bewertung zurückgenommen wird. In unserer Kultur führt die bewertende Wahrnehmung in der Regel zur Entwertung. Damit lässt sich nichts Neues und Fremdes entdecken. Friedrich Cramer hat in seinem Buch „Symphonie des Lebendigen“ (1998) den Versuch einer allgemeinen Resonanztheorie beschrieben. Dabei versucht er das physikalische Phänomen der Resonanz auf die zwischenmenschliche Ebene zu übertragen. Umgangssprachliche Formulierungen verweisen darauf, wie zum Beispiel: „Die sind auf einer Wellenlänge; in Dissonanz; ein Funke ist übergesprungen“. Und er sagt: „Resonanz ist die einzige Möglichkeit ohne Energieverlust aus zwei Systemen eins zu machen.“ Die spirituelle Garküche ist ein Versuch, durch die Fülle von thematisch bezogenen Impulsen, ein Resonanzfeld zu schaffen, in dem die Gäste ihren Schwingungen nachgehen können, die von Mensch zu Mensch verschieden sind. In den abschließend gesammelten Resonanzworten und dem Austausch darüber kann dies reflektiert und thematisiert werden. Durch die subjektive Wahrnehmung konstruieren wir nicht nur unsere Welt, wir konstruieren uns selbst und können im bewussten Umgang damit, uns immer wieder neu entdecken. Dazu lädt die spirituelle Garküche ein. Zutaten für eine spirituelle Garküche Um eine Verbindung von Sehen, Schmecken, Riechen, Hören, Fühlen, Bewegen, Lesen – also von möglichst vielen Sinnebenen – zu schaffen, ist die Gesamtkomposition der Zutaten verantwortlich. Diese Zutaten sind im Einzelnen: Der Raum Ähnlich wie in einer Küche sollte der Platz zum Kochen im Zentrum sein, von verschiedenen Seiten zugänglich, damit sich mehrere Gäste gleichzeitig an den essbaren Geschmacksproben bedienen können. Das Kochen auf Gas ist elementarer, aber Kochen mit Strom ist genauso möglich. Wichtig ist: Es wird tatsächlich ge-
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kocht und Speisen zubereitet. Der Gesamtraum sollte der Zahl der Gäste entsprechend groß sein – weder zu weiträumig noch zu eng, sonst fühlen sich die Gäste verloren oder sind zu sehr gedrängt. Die Projektionen Um die Zentralperspektive zu vermeiden, d.h. eine frontale Präsentation auf die alle Gäste schauen, sind mehrere, mindestens drei Projektionen in verschiedene Richtungen erforderlich. Dadurch werden die Gäste angeregt umherzugehen und sich zu entscheiden, was zu sehen sie interessiert. Dias gibt es leider immer weniger. Sie werden radikal von der digitalen Fotografie verdrängt. Dabei ist die Qualität dieser analogen Bilder dauerhafter, besser und vor allem technisch leichter zu handhaben. Die digitalen Projektionen erfordern einen größeren technischen Aufwand und sind damit viel anfälliger für Störungen. Zugleich sind die Möglichkeiten sehr vielfältig, bis hin zur Verbindung von Bild und Texten, wie bei Powerpoint. Texte und Zitate Als Schriftbilder lassen sich diese auf Tafeln mit Kreide schreiben, auch fortlaufend oder auf große Papierbögen, die an den Wänden befestigt werden. Zur Zeit taucht in meinen Garküchenaktionen immer das Zitat: „Sehet und Schmecket“ (Psalm 34) auf oder aus Friedrich Schleiermachers Reden das Wort von Religion als „Sinn und Geschmack für das Unendliche“, aber auch Sätze wie „Geschmack entsteht durch schmecken“. Je nach Oberthema lassen sich die entsprechenden Zitate finden, bis hin zur „geistlichen Wegzehrung“ Bibelzitate, je auf einem Papierstreifen ausgedruckt. Kunstimpulse, Filmsequenzen Aus meinen eigenen Videoaufnahmen stelle ich häufig themenbezogene Sequenzen zusammen, wie Garküchenszenen aus Asien, Expressboote auf Kanälen oder Marktszenen. Ich schneide sie zu einer Folge zusammen, loope spezielle Motive und reihe Wiederholungen aneinander. Außerdem suche ich aktuelle Filmzitate zusammen, aus Kinofilmen, Kunstsendungen oder Künstlervideos. In der Regel wird nicht der ganze Film gezeigt, sondern Auszüge, die sich für mich auf das Gesamtthema beziehen. Das Thema Ernährung, Nahrung, Kochen beziehe ich häufig in dieses Impulsfeld ein, wie die Filme „Unser tägliches Brot“ oder „We feed the world“ (Dokumentation über die Massenproduktion von Lebensmitteln), Filme wie „How to cook your life“ (von Doris Dörrie über buddhistisches Kochen), „Bella Martha“, „Tampopo“, „Eat Drink, Man, Woman“. Klänge, Musik Einerseits nehme ich eine Klangfolie, eine atmosphärische Komposition (wie ein Glockenkonzert von Llorenc Barber, oder eine Komposition von Möslang und
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Guhl), aber auch Naturgeräusche wie Wellenrauschen. Oder ich stelle eine Musikmischung aus aktuell passenden Musiken zusammen. Meist mische ich meine Musiken selbst zusammen und verwende keine vorgegebenen Zusammenstellungen. Auch bei den Klängen und Musiken gilt eine relative Gleichzeitigkeit, denn alles auf einmal geht natürlich nicht. So ist der Ton von Filmen, Auszügen aus Texten und Vorträgen, Rundfunksendungen nur direkt an den Klangquellen zuhören. Auch dafür ist das Umhergehen der Gäste notwendig. Bücher und Kataloge Welche aktuellen Publikationen sind gerade „oben auf“ und lassen sich auf das Gesamtthema beziehen – direkt oder auch indirekt? Dazu liegen verschiedene Bücher aus, um so zum individuellen Blättern und Lesen anzuregen: Von Fischli/Weiss „Findet mich das Glück“ über aktuelle Kunstkataloge, Bücher zu Thema Essen und Kochen bis zu Fotobänden oder auch selbst zusammengestellte Fotobücher. Bücherstapel sind für mich Aggregate von Wissen und Weite, ermöglichen Blicke in andere Welten. Materialien, Objekte Was mich gerade beschäftigt und anregt, versuche ich ebenfalls mit einzubeziehen. Auf Reisen fand ich selbst geklebte Tüten aus mit Schrift bedrucktem Papier, die eignen sich gut als Material für verwandelte Objekte. Aber auch ganz leichte Plastikeinkaufstüten, die wunderbar fliegen können. Bananenblätterschälchen sind ebenfalls sehr anregend, Verpackungsfolien oder die asiatischen Garküchenschürzen. Solche Dinge regen an zu spielerischem Umgang und bereichern das Impulsfeld der Garküche. Performative Handlungen Neben den Abbildungen sind tatsächliche Handlungen für die Garküche wichtig. Wie das Kochen, das tatsächlich stattfindet, ist performatives Handeln ein starker Impuls für das Gesamtgeschehen. Alltagsgesten aus dem gewohnten Zusammenhang herausgelöst, wiederholbar vollzogen, verändern sich durch die fehlende Funktionsbindung. So fand in einer Garkücheninszenierung immer wieder Schnittlauchschneiden statt oder das Auslösen von Erbsen aus den Schoten, Fegen und Wischen als Aktion. Das Ankleben von Bananenblätterschälchen an die Wände oder das Balancieren auf einem Topfdeckel. Performative Aktionen sind durch innere Haltung der handelnden Person gekennzeichnet. Authentizität und Intensität sind wesentliche Merkmale. Beteiligung der Gäste Einfache und offene Angebote sollten es sein, wie die Möglichkeit auf Karten Formulierungen zum Thema zu notieren. Diese Karten werden gleich ausgehängt und
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machen ein gemeinsames Feld der Begriffe, Formulierungen und Assoziationen sichtbar. Auch Sammeln und Präsentieren von Resonanzworten während der Garküche, eignen sich gut als Beteiligungsform. Eine andere Möglichkeit ist das Fotografieren der Gäste z.B. mit einem Objekt aus dem vorhandenen Material. Mit den Garküchenschürzen oder mit Tellern entstanden solche Serien. Diese Bilder am Ende der Garküche zu projizieren, macht die Anwesenden auf mediale Weise sichtbar und zeigt ihre Beteiligung an dem Prozess. Und eine Kamera weiter zu geben, um Fotos während der Garküche aus verschiedenen Perspektiven zu machen, ist ein guter Weg, die Vielfalt des Geschehens als Abbildungen zu zeigen. Speisen Zunächst waren meine Speiseangebote von asiatischen Garküchen inspiriert: Bratnudeln oder Bratreis, Salate, Nudelsuppen. Jeweils werden zu Beginn der Garküche die Zutaten gemeinsam klein geschnitten und bereitgestellt. Jeder Gast kann sich selbst zusammenstellen und zubereiten, auf welche Variante des jeweiligen Gerichtes er Lust hat. Zunächst zeige ich, wie diese Speise hergestellt wird, dann versuchen die Gäste es selbst, helfen sich gegenseitig und teilen Geschmacksproben untereinander. Auch hier geht es um aktive Beteiligung, um auswählen und sich zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu entscheiden. Inzwischen gibt es genauso Gerichte aus anderen Kulturen, wie Ofenkartoffeln mit verschiedenen Saucen und Zutaten, verschiedenste Suppen usw. Die Komposition einer spirituellen Garküche aus den unterschiedlichen Zutaten ist vor allem bestimmt von dem aktuellen Vergnügen der Gastgebenden. Was mich gerade bewegt und begeistert, bestimmt die Auswahl und Zusammenstellung. Die jeweiligen Themen der spirituellen Garküche geben den Fokus und lenken die Ideen in eine Richtung. Jeder Gastgeber schafft eine andere Gesamtkomposition. Die Dimensionen der jeweiligen Ebenen lassen sich nach Interesse und Vorlieben vielfältig weiterentwickeln. So bleibt die Transmedialität der spirituellen Garküche lebendig. Zusammenfassung Was ich „spirituelle Garküche“ nenne, ist eine spezielle Situationsinszenierung für aktive beteiligte Gäste mit verschiedenen medialen „Geschmacksproben“: visuell, akustisch, literarisch, kulinarisch. Die Garküche beruht auf dem altbekannten, attraktiven sozialen Raum der Küche (mit Kommunikation, Nähe und Nahrung) und erweitert ihn durch komplexe ästhetische Dimensionen. Die Garküche ist Metapher und Praxisfeld einer konsequenten Selbstbildung: Man eignet sich die Welt aktiv an und bildet in Kommunikation und Kooperation mit anderen einen eigenen Geschmack. Man entwickelt und erprobt Alternativen des Wahrnehmens, Denkens
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und Handelns. Glückt das Zusammenspiel der verschiedenen Elemente, entsteht etwas vom „Sinn und Geschmack für das Unendliche“.
Literatur Cramer, Friedrich (1998): Symphonie des Lebendigen. Versuch einer allgemeinen Resonanztheorie. Insel Verlag: Frankfurt Oesting, Helmut (1992): Der Geist über den Tellern. Inszenierte Mahlzeiten. Kiel: Moby Dick Verlag
Christoph Riemers „spirituelle Garküche“. Kleine Kommentare von innen und außen Gerhard Marcel Martin
Christoph Riemers Idee und Praxis stammen selber aus so etwas wie einer „spirituellen Garküche“. Umso wichtiger, dieser Metapher und anderen Begrifflichkeiten des Konzepts – mitspielend und nachfragend – zwei Schritte weiter zu folgen. Dies geschieht hier nicht streng begriffsgeschichtlich und kulturhistorisch entfaltet; Studien solcher Art liegen den folgenden Anmerkungen aber zugrunde. Ansonsten: Von früh an war ich an Projekten, um die es hier geht, in Planung und Durchführung aktiv beteiligt. Soll heißen: Meine Bemerkungen kommen nicht von der Empore praxisferner Kritik oder bloßer Kommentierung. 1. Schwingungsbreite des Konzepts: Mit allen (möglichst vielen) Sinnen, in möglichst verschiedenen Medien und Materialien Zum weiteren Verständnis des Konzepts „spirituelle Garküche“ lässt sich an verschiedenste Traditionen und Verfahren anknüpfen. Ginge es nicht (auch) um die eigene aktiv kreative Beteiligung der „Gäste“, könnten klassische Modelle von „Gesamtkunstwerk“ in den Blick kommen, in denen das „Publikum“ eher in der Position des „Genusses“ und im Gegenüber bleibt. Aber deutlich ist, dass die „spirituelle Garküche“ die Beteiligung aller Sinne meint; und in sofern gibt es heftige Parallelen (aber natürlich auch Differenzen) zu den frühneuzeitlichen jesuitischen Exerzitien des Ignatius (1491-1556), in denen es – wenn auch ausschließlich auf der inneren, nicht auf der äußeren Bühne – um „die Anwendung der fünf Sinne“ geht. In ihnen sollten die Imaginationen biblischer Geschichten (und andere Vorstellungen) geschaut, gehört, gerochen, geschmeckt und getastet werden (SPEX 121-125). Schon Ignatius hat den Reichtum, die Komplexität und wohl auch die Eindrücklichkeit der verschiedenen Wahrnehmungskanäle entdeckt und einüben wollen. Viele Trainingsformen der „sensory awareness“-Schulen und auch Techniken des Neurolinguistischen Programmierens (NLP) knüpfen hier – bewusst oder unbewusst – an (vgl. O’Connor/Seymour 1996; bes. S. 55-87)! Im Fachjargon: das Visuelle ist nicht ohne das Akustische ist nicht ohne das Olfaktorische ist nicht ohne das Gustatorische ist nicht ohne das Kinästhetisch/Haptische. Im „Kulinarischen“ (laut Duden: „auf die feine Küche bezogen“) kämen dann mit Schwerpunkt schmecken/riechen/berühren alle Sinne zusammen. – „Schmecket und sehet“, heißt es in der christlichen Abendmahlsliturgie, wenn Brot und Wein ausgeteilt werden; und
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das ist zugleich und sogar unvermeidlich auch eine Einladung zum Hören, zum Riechen und zum Berühren mit Händen, Lippen und Zunge. Wenn und wo diese Wahrnehmungskanäle abstrakt nicht mehr auseinander zu bringen sind, sondern zusammenstimmen, entstehen „Synästhesien“. Dem Zusammenspiel der Sinne korrespondiert ein Zusammenspiel der Medien und Materialien: Beamer und Monitore, Bücher und Realobjekte verschiedenster Art, Texte und Textilien, soundscapes, Esswaren und Gerüche … Beim Zusammentragen verschiedenster Materialien aus der Religions-, Kunst- und Kulturgeschichte und aus gegenwärtigem kreativem Schaffen aller Art würde die tiefenpsychologische Schule C. G. Jungs wohl von „Amplifikation“ sprechen. Die Gäste und Mitspieler bewegen sich immer schon in sie umgreifenden transmedialen und transreligiösen Impuls- und Ereignisfeldern. Eigene schöpferische Ideen und Realisationen werden stimuliert und ergänzt durch Materialien aus der Weltgeschichte der Symbolisierungen und Ritualisierungen aller Art. 2. Wieso „Garküche?“ Christoph Riemer bringt nun aus seiner fernöstlich asiatischen Anschauungswelt den Begriff der „Garküche“ ins Spiel. Das ist leicht befremdlich, vielleicht auch provozierend. Jedenfalls war und ist das Wort „Garküche“ im deutschen Sprachbereich bisweilen leicht abwertend und despektierlich, in keinem Fall in besonderer Verbindung zu festlich ästhetischen Qualitäten im Gebrauch. Selbst wenn Garküchen in den letzten Jahrhunderten auch in Europa eine wichtige Rolle gespielt haben mögen; in Frankfurt am Main gab es jedenfalls noch im 19. Jahrhundert einen „Garküchenplatz“, worauf das Grimmsche „Deutsche Wörterbuch“ hinweist. Aus diesem Werk stelle ich additiv ein paar Zeilen zusammen: „GARKÜCHE, f. öffentliche küche, speisewirtschaft, eig. mit dem begriffe dasz man da immer warme speise gar findet, d.h. fertig“/„GARKÖCHEREI, f. das kochen des garkochs, geringschätzig als sudelköcherei“ Die Gebrüder Grimm zitieren aus einem Text von 1644: „gartküchner, welche katzen für hasen, pferdsfleisch für wildpret und mücken für rosinen verkauft hatten“. Umso überraschender; dass im Wortfeld immerhin ein Übergang von „derb“ und „profan“ zu „heilig“ zu finden ist: „GÄRKAMMER, f., gährkammer ’dasjenige zimmer in den brauhäusern, in welchen das bier gähret’“ „GÄRKAMMER, GERBEKAMMER …auch die abteilung der sacristei wo die messgewänder aufbewahrt werden …“ (Grimm u. Grimm 1878)
Aber kulturgeschichtlich bleibt auffällig, dass nicht nur die Garküche, sondern die Küche überhaupt in vielen Strömungen des Zivilisationsprozesses abgewertet wird und ausgeblendet bleibt. Von der „Küche“ gerät man leicht in „Teufels Küche“.
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Küchen gelten als tendenziell chaotisch, unsauber, unhygienisch und erotisch, eher als unterschichtig und grob (Küchenlieder; sexuelle Übergriffe in der Küche, noch und auch in Umberto Ecos „Name der Rose“). Ein kurzer weiterer Beleg für diesen Ausfall: Hermann Schmitz behandelt im § 218 seines grandiosen zehnbändigen „System der Philosophie“ mit dem Titel „Wohnen als Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum“ die „häusliche Wohnung“, das „Teehaus“, die „Schwitzhütte“, die „Kirche“ und den „Garten“ (Schmitz 1977; S. 258-308). Die „Küche“ findet sich nicht einmal im Register! 3. Gar „spirituelle“ Garküche? Geht Christoph Riemer seinerseits vom Brauhaus in die Sakristei, wenn er das Befremdliche und Provozierende bei seiner Benutzung des Begriffs „Garküche“ durch Hinzufügung des Eigenschaftswortes „spirituell“ geradezu noch steigert? Warum und wie treffend ist gerade dieser Teil seines (immer noch nicht) „eingetragenen künstlerischen Warenzeichens“? „Spirituell“ ist kulturphilosophisch/-journalistisch, aber auch theologisch ein Modewort, abzuleiten vom lateinischen spiritus (griechisch: pneuma; hebräisch: ruach) und heißt: „Geist“/„Hauch“/„Atem“, materieller, genauso wenig zu fassen: „Wind“. Beim „spiritus“ geht es um eine elementare, spontane und impulsive Natur- und Lebenskraft. Erst später gilt „Geist“ als universal und eindeutig göttlich. Zwei Zitate: Als die Erde noch wüst, leer und finster war, schwebte – so der erste Schöpfungsbericht der Hebräischen Bibel – „der Geist Gottes über den Wassern“ (1. Mose 1, 2). Im nächtlichen Gespräch mit dem Sympathisanten Nikodemus sagt Jesus: „Der Wind (pneuma) weht, wo er will, und du hörst seine Stimme, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt, so ist jeder, der aus dem Geist (pneuma) geboren ist.“ (Johannesevangelium 3, 8, vgl. Hebräerbrief 2, 4)
Schon vor Jahren habe ich programmatisch und zusammenfassend formuliert: Wo vom Heiligen Geist die Rede ist (besser: wo er von sich reden macht), kommt alles in Bewegung und gerät aus Rollengehäusen und fertigen Sinngefügen. In den frühen ekstatischen Prophetengruppen, bei den alttestamentlichen Protagonisten der politischen und persönlichen Heilsgeschichte, bei den markanten Gestalten neutestamentlicher Erzählungen, schließlich und erst recht im Pfingstgeschehen: Überall kommt – für die Betroffenen selbst und/oder für andere zumeist unerwartet, überraschend und irritierend – der „Geist“ über Menschen und prägt ihre Gefühle, ihr Denken und ihr Tun. Er prägt sie und er prägt sie neu. Menschen, von diesem Geist überrascht, überfallen und bewegt, sind nicht mehr – wenn sie es denn je waren – „Herren“ (bzw. „Damen“) im eigenen Haus. Sie sind „aus dem Häuschen“. Das programmatische Leitbild des neuzeitlich autonomen Subjekts greift hier nicht.
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Menschen werden bewegt. Sie geraten in eine fremde Bewegung und können derartige Bewegungsimpulse allenfalls bewusst, aktiv und selbstgestaltend aufnehmen. Aber die Kraft ist extern, sie bleibt unverfügbar. Gerade darum ist sie hoch potent. (Martin 2002; S. 190) Um zusammenzufassen: Nach so viel (und so wenig) Recherchen und Assoziationen erweist sich „spirituelle Garküche“ als eine durchaus originelle gelungene Metapher für Christoph Riemers Projekt. Solide und heiter-leichte Anschlüsse gibt es in Fülle – bis hin zum „Sprit“ im Tank, zum „Spiritus“ im Kocher, zum „Geist“ in der Flasche (magisch, religiös und alkoholisch) und bis hin zum „esprit“ der Kunstschaffenden. Jedenfalls: „Spirituelle Garküche“ steht auch und unter anderem
für das auf allen Ebenen Improvisierte für das Anarchistische und nicht unter Kontrolle zu Bringende für die Dimensionen Öffentlichkeit und Sozialität für das Handwerkliche und das Materielle für das Kreative bis Ekstatische für die Sinnenhaftigkeit und Sinnlichkeit für das Prozesshafte für die wilde Mischung aus „Derbem“ und „Heiligem“ (Peter Brook).
4. Und schließlich: Schleiermachers „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ Ist vom letzten Spiegelstrich her gar noch ein solider Anschluss an den klassischen Theologen und Philosophen Schleiermacher (1768-1834) möglich? Von ihm wird ja die Definition von „Religion“ aus seiner frühen zunächst anonym veröffentlichten Programmschrift „Über die Religion“ (1799) zitiert: „Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche.“ (ebd.; S.53) „Geschmack“ ist in diesem Zusammenhang freilich kein terminologisch weiter entfalteter und öfter benutzter Begriff und meint jedenfalls nicht das Gustatorische im Reich der fünf Sinne. „Geschmack“ bezieht sich nicht auf konkrete Wahrnehmungen, sondern meint einen gefühlten vorreflexiven Gesamteindruck. „Geschmack“ steht kontextuell gleichgestellt und gleichsinnig mit „Anschauung und Gefühl“ (ebd.; S. 50), „Instinkt für das Universum“ (ebd; S. 114) und „Ahndung“ (ebd; S. 105). „All diese Worte bezeichnen Zustände des ‚Gemüths’, die dieses in einer eigentümlichen Schwebe halten, sie deuten hin auf etwas Unfixiertes, Unfixierbares, was nicht in die Diskursivität unseres Wissens und in die Praktizität unseres Tuns aufgelöst werden kann.“ (Cramer 2000; S. 124f). Der Kontext von Schleiermachers Religionsdefinition im Original: „Praxis ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft, Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche.“ (1799; S, 49f)
Christoph Riemers „spirituelle Garküche“
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Religion ist eben auch keine künstlerische Praxis, in dem Sinn keine „Garküche“, sondern hat ihre „eigne Provinz im Gemüthe“. „Gefühl, Sinn, Geschmack, Instinkt, Trieb, Ahndung sind Zustände des Gemüts, in denen sich ihm Bedeutsamkeit rein hinnehmend erschließt.“ (Cramer 2000; S. 125) Kein Anschluss also unter dieser Nummer? Ich antworte: Mit der Formulierung „Geschmack fürs Unendliche“ gibt uns Schleiermacher, im assoziativsten Bereich zu „spiritueller Garküche“, ein Stichwort zum freien Gebrauch. Eine wirklich gemeinsame Pointe ist nur da, wo sich Schleiermacher und die spirituellen Garküchner darin einig sind, dass das „Universum“/Alles/die Totalität erlebbar, greifbar, dann praktisch/ästhetisch auch gestaltbar nur im Konkreten, im Materiellen, im Einzelnen und Endlichen wird. Also: Zurück in die spirituelle Garküche! Literatur Cramer, Konrad (2000): Anschauung des Universums. Schleiermacher und Spinoza. In: Barth, Ulrich/Osthövener, Claus-Dieter (Hrsg.): 200 Jahre „Reden über die Religion“. Berlin und New York, S. 118-141 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm (1878): Art.: „Gärkammer“/„Garköcherei“/„Garküche“/ „Garküchner“. In: Deutsches Wörterbuch Vierter Band Erste Abtheilung Erste Hälfte, Sp. 1358-1360 Lehnerer, Thomas (1987): Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers. Stuttgart Klein, H./Schümmer, F./Stierle, K. (1974): Art.: „Geschmack“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 3, Sp. 444-456 Martin, Gerhard Marcel (2002): Playing Arts und Spiritualität. Ästhetische und religiöse Lebens- und Denkbewegungen im Dialog. In: Riemer, Christoph/Sturzenhecker, Benedikt: Playing Arts, Gelnhausen, S. 179-196 O’Connor, Joseph/Seymour, John (sechste Auflage 1996): Neurolinguistisches Programmieren: Gelungene Kommunikation und persönliche Entfaltung. Freiburg Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst (1799): Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Verschiedenste Ausgaben. Zitiert nach der Originalpaginierung Schmitz, Hermann (1977): System der Philosophie. Dritter Band: Der Raum. Vierter Teil: Das Göttliche und der Raum. Bonn
Kochen und Essen als Aufführung – Speisen als Skulptur. Die Irritation des Selbstverständlichen als Bildungsimpuls Marc Schulz
Kochen und Essen als Alltagspraktik Kochen und Essen gehören (zumeist) zu den täglichen Handlungen, die jede/r fortwährend vollzieht. Auch in der Sozialen Arbeit lassen sich allerorts die Zubereitung und der Verzehr von Essen als Teil des Alltags wiederfinden, jedoch bewegen sich ihre funktionalen Zuweisungen zumeist in der Bandbreite von Kompetenzerweiterung und Hilfeleistungen für die pädagogische Klientel. An diesen pädagogischen Leistungen ist generell nichts auszusetzen, wenn sie im Mittelpunkt ihrer jeweiligen Arbeitsaufträge stehen. Wie können jedoch, wenn Bildung einer der Aufträge ist, konkrete Bildungsimpulse gestaltet werden? Eine „andere“ bildsame Seite der Essenszubereitungen und Speisearrangements will ich im Folgenden diskutieren und dabei auf Verfahren der bildenden Kunst zurückgreifen. Die kunstvolle Zubereitung und Gestaltung von Nahrung gehört zu den kulturellen Errungenschaften der Erwachsenenwelt – weder die Transformation von einer Menge von Zutaten in ein Gericht, noch deren kunstvolles Arrangement entstehen von selbst. Vielfach wird auf die Nähe zwischen den kreativen Prozessen von Kunstschaffenden und Kochenden hingewiesen (vgl. etwa Peters/ Schwarzbauer 1987; Wagner 2004). Roland Barthes (1990) etwa verstand unter Kochen „jede Tätigkeit, die darauf abzielt, die Beschaffenheiten einer Materie durch mannigfaltige Eingriffe zu verwandeln, etwa durch das Weichmachen, Eindicken, Verflüssigen, Zermahlen oder Einölen“ (ebd.; S. 224) und lokalisierte darin eine der zwei Quellen der Malerei. Dieses Spiel um die materielle Transformation und ästhetische Gestalt geht jedoch grundsätzlich mit einer rituell eingeübten und daher selbstverständlich erscheinenden Eindeutigkeit einher. Es gibt Orte und Rituale der Essenzubereitung und des Essenverzehrs. Die zubereiteten Speisen haben, gleichgültig, wie kunstvoll sie inszeniert wurden, eine eindeutige Funktion. Sie werden als Träger von lebensnotwendiger Energie verspeist. Ein Abweichen von diesen Selbstverständlichkeiten provoziert Konflikte – man denke an verbrannte oder verkochte Speisen und den Frust der hungrig Wartenden oder an die Debatten, wenn zur Disposition steht, wo gegessen wird. Jedoch stellt sich die Frage, ob und welche Bildungspotentiale es eröffnen würde, wenn die als selbstverständlich geltende Abfolge der Zubereitung und Auf-
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nahme von Nahrung, gestört wird. Die gewollte Infragestellung des (scheinbar) Selbstverständlichen lassen sich in den bildenden und darstellenden Künsten seit den 1960er Jahren entdecken.1 Jedoch möchte ich keinen Überblick zum Verhältnis von Kunst und Essen geben, sondern zwei unterschiedliche Verfahrensweisen an jeweils einer künstlerischen Arbeit entfalten und bildungstheoretisch diskutieren. Beide heben die Kausalität zwischen Zubereitung und Einverleibung (zumindest temporär) auf – einerseits in „Kekse backen im Kunstraum“ eine kulinarische Performance und andererseits in „Turmhohe Schokoladenköpfe“ eine Art Skulptur. Diese künstlerischen Verfahren können, wenn sie auch nicht analog übertragen werden sollten, doch die Praxis der Sozialen Arbeit anregen. Solche Praxis kann auch die Grenzen einer ausschließlichen Orientierung an Versorgung und Kompetenzerweiterung überschreiten und bildungsrelevante sinnliche Erfahrungsräume eröffnen. Kekse backen im Kunstraum Die Zubereitung von Nahrung findet meist in eigens dafür konzipierten Settings statt. Die Bedeutung dieser Tätigkeiten wird folglich nicht nur durch den Prozess des Zubereitens selbst konstituiert, sondern auch durch die kontextuelle Einbettung. Wie die räumliche Situation Bedeutungsverschiebungen produziert, lässt sich an der folgenden Beschreibung einer öffentlich aufgeführten Kunstperformance nachvollziehen. Sie konnte in einem Atelier beobachtet werden: „Mir gegenüber sitzen einige Leute und schauen mich an. Vor mir stehen auf einem Tisch eine Rührschüssel, Eier, Mehl, eine Herdplatte, Töpfe, Zucker, eine Küchenwaage, ein Handrührgerät, Gewürze [...] Schräg gegenüber von mir sitzt Andreas, der eine kleine Trommel in der Hand hält, und schaut mich konzentriert an. Über ihm steht ein kleiner Backofen. Dieser heizt gerade auf und in der Luft hängt der typische Geruch von Backofenwärme. Links neben dem Backofen steht Wilfried und spielt ein Trompetensolo, während Mathias einige Akkordfolgen auf dem Klavier, welches weiter hinten im Raum steht, spielt [...] Einige Leute gehen herum, die meisten sitzen auf den im ganzen Raum verteilten Stühlen und schauen hin und her, während Ben, der hinter mir sitzt, zu lesen anfängt: ‚500 Gramm Mehl in eine Schüssel geben…’ Ich stelle die Rührschüssel auf die Waage, nehme die Mehltüte und lasse es in die Schüssel rieseln und stoppe bei 500 Gramm […]“
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Als exemplarische Prototypen können einerseits die Aufführungen des Komponisten John Cage gelten und andererseits die Tischbilder („Fallenbilder“) des Tänzers und Künstlers Daniel Spoerri. Letzterer begründete die so genannte „Eat Art“ (vgl. Spoerri 2006).
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Der Ausschnitt2 beschreibt den Beginn der „Cookie Opera“-Performance des Fluxus-Künstlers Ben Patterson, eines klassisch ausgebildeten Musikers, der seit Ende der 1950er Jahre sowohl musikalisch als auch bildnerisch tätig ist. Das Konzept der Oper sieht einen Sprecher, einen Bäcker und eine nicht genau definierte Anzahl von Musizierenden vor. Die zirka dreiviertelstündige Oper ist in sieben Sequenzen unterteilt und wechselt zwischen Musikparts und gesprochenen Backrezepten. Für jede/n Musiker/in steht eine eigene Partitur zur Verfügung, die jedoch nicht dem herkömmlichen Notationssystem folgt, sondern nur Zeitrahmen (time brackets) und über figürlichen Zeichnungen oder Collagen eher den zu spielenden Charakter als die exakten Töne vorgibt. So ist das tatsächliche Spiel unbestimmt. Während dieser Zeit bereitet eine Person einen Keksteig zu und backt Kekse. Die Tätigkeitsanweisungen erhält er direkt über den Sprecher. Küchengeräusche wie das Klappern, Kratzen oder Rühren überlagern sich mit den Sprechtexten und der Musik. Im weiteren Verlauf der Aufführung backen die Kekse im Ofen. Mit Beginn der 1960er Jahre entwickelten viele Kunstschaffende sogenannte Performances, in denen ein Ineinanderfließen von Alltagshandlungen, Musik, Theater und bildender Kunst praktiziert wurde. Eine in dieser Zeit gegründete Kunstrichtung ist Fluxus, zu deren Gründungsvätern Ben Patterson zählt. Im Vergleich zu anderen Kunstrichtungen wie Pop Art oder Op Art, die sich zeitgleich entwickelten, lässt sich Fluxus kaum in Stilmerkmalen, sondern eher als künstlerische Herangehensweise und Haltung definieren. Im Zentrum des Fluxus-Interesses stand die Nivellierung bzw. Gleichstellung von Kunst und Leben. Nicht mehr das abgeschlossene Werk, sondern die Handlung, das Ereignis und dessen Prozess stehen im Zentrum der künstlerischen Aufmerksamkeit. Waren die Fluxus-Aufführungen von Patterson und Anderen zunächst noch „staged happenings“ bzw. „events“, so löst sich später die frontale Zuschauer/Performer-Ebene dezentrierend auf. Dem Publikum wird ermöglicht, sich im Raum zu bewegen, was zu einer Offenheit der Aufführung führt (vgl. dazu Schulz 2008). Der Verzicht auf einen zentralen bzw. aufmerksamkeitszentrierenden Fokus lässt sich an der „Cookie Opera“ aufzeigen. Die Situation ist vom Künstler so arrangiert, dass weniger ein zu vollendendes Werk im Vordergrund steht, welches von Rezipientinnen und Rezipienten betrachtet werden kann. Alleine der Titel der Oper lässt eine ernsthafte Konzentration auf den Sinngehalt des Stückes nicht zu: Weder sind Backrezepte als Libretto besonders ansprechend als grotesk, noch verspricht das gesamte Stück Höhepunkte, überraschende Wendungen oder versteckte Bedeutungen. Vielmehr stehen das Geschehen und der Prozess im Zentrum der künstlerischen Strategie. Es ist die Wirkung der Situation statt der Bedeutung, die fokussiert 2
Das Protokoll wurde von mir im Anschluss an die Uraufführung des Stücks, welche am 01.05.2005 im Atelier Alte Grammophonfabrik/ Hannover stattfand, angefertigt. Beteiligt waren neun Musiker/innen des Improvisationsensembles „Stattwerker“, Ben Patterson und ich. Die öffentliche Veranstaltung fand im Rahmen eines dreitägigen, von Ben Patterson geleiteten Performance-Workshops statt.
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wird. Obwohl der Titel ein Thema benennt, so gibt er nur vor, was innerhalb einer Kekseoper vernünftigerweise passieren muss – es muss gebacken, gesprochen und musiziert werden, dazu bewegen sich Menschen. Nicht die Gruppe von Künstlern und deren Handlungen stehen zwangsweise im Vordergrund des Geschehens. Vielmehr können alle Beteiligten ihre Aufmerksamkeit auf unterschiedlich ablaufende Tätigkeiten richten, indem sie sich selbst, einzelne Personen oder deren Interaktionen beobachten können. Mit der Tätigkeit des Backens wird den Beteiligten, verbunden mit den vorgelesenen Rezepten und dem Geruch, etwas Alltägliches gezeigt, was so kaum im Kunstraum vorzufinden ist. Dadurch dass diese Handlungen jedoch Teil einer Kunstperformance sind, ist unklar, ob das Versprechen der anschließenden Nahrungsaufnahme faktisch auch eingelöst wird. Im Zentrum steht folglich die Pluralisierung der Wahrnehmung und der Deutungsmöglichkeiten (vgl. Charles 1989; S. 24). Künstlerische Koch-Aufführungen: Irritation der Wahrnehmung Künstlerische Aufführungen wie diese, die als Performances bezeichnet werden, sind für den bildungstheoretischen Diskussionskontext deshalb interessant, da sie, gegenüber etwa dem Theater, von einem anderen Verständnis des Aufführenden/Zuschauer-Verhältnisses ausgehen. Sie interessieren sich weniger für die Polarisierung dieser beiden Positionen, sondern mehr für die Verzahnung von Zuschauenden- und Aufführendenhandeln: Nicht nur die Anwesenheit von passiven und konsumierenden Zuschauenden einer künstlerischen Handlung, sondern die Beteiligung dieser Personengruppe, die sich dadurch in Ko-Akteure verwandeln, ist konstitutiver Bestandteil für das Gelingen von Performances (vgl. Dreher 1991; S. 60). Das klassische, oppositionelle Verhältnis zwischen Zuschauenden und Betrachtenden werde, so der Theaterwissenschaftler Richard Schechner (1989), zugunsten der Wahrnehmung eines komplexen Ereignisses aufgegeben, bei dem die Betrachterperspektive vielfältig sein kann. Es kann sowohl „die Aufführung, die Darsteller und Zuschauer, die Zuschauer der Zuschauer und das sich selbst sehende Ich, welches Darsteller, Zuschauer und Zuschauer der Zuschauer sein kann“ (ebd.; S. 256) betrachtet werden. Jegliches beobachtbares Handeln löst Rückkopplungen aus, die wiederum die Aufführung verändern. Dies liegt auch am Arrangement im Raum, welches die Zentrierung zumindest teilweise aufhebt. Dadurch dass die frontale Bühnenebene, und damit die fixierte Beobachterposition, aufgelöst sind und Ereignisse mitten im Raum stattfinden, sind die Beteiligten im Zentrum des Geschehens. Damit weitet sich der Blick der Beteiligten: Sie fokussieren nicht nur die (vermeintliche) Hauptaktion, sondern nehmen auch die anderen Beteiligten wahr. Die Akteure reagieren auf das Verhalten der anderen, sind im permanenten Rollen- und Rahmenwechsel und führen diesen zugleich herbei. Daher sei eine Aufführung immer eines: „Sie ist eine aktive Situation, ein beständig turbulenter Prozess von Trans-
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formationen“ (ebd.; S. 97), während die Beteiligten die Aufführung mitbestimmen und sich zugleich von ihr mitbestimmen lassen, „ohne dass ein einzelner volle Verfügungsgewalt über sie hätte“ (Fischer-Lichte 2004; S. 268). Neben der Gewichtung der „Cookie Opera“-Performance als ein ästhetisches Ereignis zeichnet sich noch eine zweite Dimension ab. Es ist kaum von der Hand zu weisen, dass die Auflösung der Blickzentrierung hin zur Unbestimmtheit der Gesamtsituation die Performance auch zum sozialen Ereignis werden lässt. Dieses Dazwischen-Sein ist für Performances charakteristisch, indem sich das Soziale untrennbar mit dem Ästhetischen verzahnt. Dieser Schwellencharakter, der selbst vieldeutigen Sinn hervorbringt, ist aus bildungstheoretischer Perspektive interessant: Performances schaffen besondere Zustände der Liminalität und „reizen (…) zum Umspringen“ (Fischer-Lichte 2004; S. 257) der Wahrnehmung, indem die künstlerisch arrangierte Situation in ihrer Repräsentation als auch ihrer Präsenz empfunden werden kann. Weshalb dies so erfahren wird, erklärt Schechner (1989) damit, dass sich jegliche Aufführung an der Schwelle zwischen Kunst und Leben bewegt. Die äußersten Pole seien dabei das Genre Theater, dem Unterhaltung und Vergnügen zuzuordnen seien, und das Genre Ritual, dem Wirksamkeit und Ergebnisse zuzurechnen seien (vgl. ebd.; S. 69). Eine Aufführung ist in diesem Verständnis immer eine „Verflechtung von Unterhaltung und Wirksamkeit“ (ebd.; S. 68). Sie „entsteht aus dem Willen, gleichzeitig etwas geschehen zu lassen und zu unterhalten; Ergebnisse zu erzielen und herumzualbern; Meinungen zu sammeln und Zeit zu vertun; verwandelt zu werden in jemanden anderen und das eigene Ego zu zelebrieren; zu verschwinden und sich zu präsentieren“ (ebd.; S. 96, H.i.O.). Diese Wahrnehmungswechsel provozieren Lachen, aber auch Irritationen, da hier etwas als fremd erfahren wird. Dieses fremd Gewordene bestehe, so Philosoph Bernhard Waldenfels (1997), jedoch immer aus Vertrautem und Unvertrautem, aus fremden und eigenen Elementen. Diese Ambivalenz von Verflechtungen des Eigenen mit dem Fremden irritiere: „Das Fremdwerden der Erfahrung setzt ein mit der Abweichung von den Bahnen vertrauter Gewohnheiten. Es kündigt sich an als Beunruhigung, die unsere vertrauten Ordnungen stört und die selbst unsere Sinne durcheinander bringt.“ (ebd.; S. 74). Irritationen können, jenseits der häufig assoziierten negativen Konnotation, Momente sein, die nicht nur das eigene Wahrnehmen und Handeln blockieren. Sie sind „eine Art ‚Lebenselixier’ […], eigentlich Reizmittel, die anregen, weiter zu machen, umzudenken, hinzuzulernen, auszuprobieren und zu erkunden“ (Bardmann 1991; S. 7). Folglich beinhalten sie auch Chancen der Relativierung und Neuorganisation der eigenen Erfahrungen. Irritationen lösen nicht nur auf einer kognitiv-reflexiven Ebene, sondern auch auf der leiblich-sinnlichen Ebene Reaktionen aus. Das Wahrgenommene ist nicht von sich aus widerständig, sondern wird durch den Betrachtenden in seinem körperlichen Handeln und leiblichen Spüren als widerständig wahrgenommen. Die Irritationen können, so die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte (2004), so
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weit führen, dass die „bisherige Ordnung der Wahrnehmung […] gestört und aufgegeben, eine neue etabliert“ (ebd.; S. 248) wird. Diese bewusste Wahrnehmung erzeugt als aktiver Akt immer auch eine Bedeutungskonstruktion. Diese liege aber, so Fischer-Lichte weiter, jenseits „von einem intentional vollzogenen Deutungsund Interpretationsprozess“ (ebd.). Vor allem die Art dieser Prozesse ist zentral, denn das „Subjekt erfährt sich in den von ihm selbst vollzogenen Prozessen der Bedeutungserzeugung als sowohl aktiv als auch passiv, weder als ein autonomes Subjekt noch auch als unbegriffenen Mächten ausgeliefert“ (ebd.; S. 269). Wenn die „Cookie Opera“ Performance als liminaler Erfahrungs- und Bildungsraum rekonstruiert wird, so lassen sich dabei bildungstheoretisch zumindest drei Ebenen herausarbeiten: Erstens sind die Erfahrungen, die in der Entkontextualisierung von Essenszubereitung, Musikaufführung und Lesung gemacht werden können, nicht kausal als „Vorboten“ ästhetischer Bildung zu deuten. Vielmehr sind die potentiellen Bildungsthemen vielschichtig zwischen den Polen des Ästhetischen und Sozialen, zwischen spaßhafter und ernsthafter Tätigkeit zu finden. Zweitens speist die Performance an einem konkreten Ort einen Themenkomplex ein, dessen Realisation jedoch nur ein Ereignis im Raum ist. Das dezentrierende Arrangement führt zu Selbst- und Fremdtransformationsprozessen und zum Umspringen von Themenebenen. Diese Transformationen besitzen nicht nur einen individuelltranszendentalen Charakter, sondern ermöglichen, dass krisenhafte oder zumindest potentiell „gefährliche Begegnungen in der Wirklichkeit in weniger gefährliche Zustände sozialer und ästhetischer Wirklichkeit“ (Schechner 1989; S. 67) verwandelt werden. Das verweist bereits auf die dritte Ebene: Die Erfahrungen werden nicht individuell und von anderen abgekoppelt gemacht, sondern finden nicht nur im kollektiven Prozess, sondern als kollektiver Prozess statt. Dies bedeutet, dass nicht nur Erfahrungsräume, sondern auch Bildungsprozesse intersubjektiv und situationistisch hergestellt werden (vgl. Schulz 2008; Wiesemann 2006). Diese Ebenen sollen nach den nun folgenden „turmhohen Schokoladenköpfen“ aufgegriffen und abschließend diskutiert werden. Turmhohe Schokoladenköpfe Die Verarbeitung von Lebensmitteln mit Hilfe der Techniken und Materialen des Kochens oder Backens hin zu dekorativen Kunstwerken blickt auf eine alte Tradition zurück. Bereits der römische Dichter Petron beschreibt in seinem Schelmenroman „Satyricon“ (1968) die kunstvollen Essenszenarien im Haus von Trimalchio, dessen Köche aus dem vergänglichen Material Skulpturen zum Verzehr schufen. In anderen Epochen wie dem Barock erlangten opulente Speisearrangements wie die so genannten Schaugerichte, die auch nur zum Teil verzehrbar waren, große Beliebtheit. Das Interesse der Kunst-Köche, so die Kunsthistorikerin Monika Wagner (2004), war die perfekte Stabilität der Speisen, die bis zu ihrer vorgesehenen Ver-
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wendung, dem Mahl, anhalten musste – gleichgültig, ob sie zum tatsächlichen Verzehr bestimmt waren oder nur als oral ungenießbarer Augenschmaus dienten (vgl. ebd.; S. 131). So ist die Verwendung von Lebensmitteln als skulpturales Material kein aktuelles Phänomen. Jedoch hat sich der Umgang damit geändert. Wie, das skizziert die folgende Arbeit: Schräg gegenüber des Museums für Gegenwartskunst in Basel befindet sich ein kleines Ladenlokal, welches aufgrund zugezogener Jalousien von außen nicht eingesehen werden kann. Betritt man den kleinen Raum, so steht man unmittelbar vor zwei etwa drei Meter hohen Türmen, deren Substanz im diffusen Licht zunächst kaum erfasst werden kann. Dominant ist jedoch nicht der visuelle, sondern der intensive olfaktorische Eindruck. Es riecht ranzig-süßlich nach Altem und Vergorenem, der Geruch von Kakao- und Butterfett setzt sich sofort in der Nase fest. Links neben den Türmen stehen u.a. in einem chaotisch wirkenden Sammelsurium mehrere Kochplatten mit Kochtöpfen, braun verklebt, darüber hängt eine große Ausstattung an Küchenwerkzeugen wie etwa Kochlöffel, Quirle, Schaber und Kochzutaten, daneben stehen Gussformen aus Gummi. An den Wänden sind Fotos, Verpackungsmaterial, Kleidungsstücke und Zeichnungen befestigt. Rechts der Türme steht in einem überquellenden Regal ein Staubsauger, daneben ein Tisch mit verstreuten Zetteln und Polaroids. Der Raum vermittelt den paradoxen Eindruck, dass er überstürzt verlassen und schließlich vergessen wurde, wobei aber alles so daliegt, als ob der Künstler in jedem Moment den Raum betreten könnte, um an den bereitstehenden Töpfen umgehend wieder Schokolade einzuschmelzen.3 Bei dem Raum handelt es sich um eine Arbeit des Künstlers Dieter Roth, der druckender-, musizierender-, malender-, schreibender- und zeichnenderweise ein quantitativ kaum überblickbares Werk hinterließ (vgl. Vischer/Walter 2003). Ein Zentrum seines Schaffens war die Arbeit mit Lebensmitteln: So ließ er fettige Salamischeiben auf Tonkarton gepresst zu Sonnenaufgängen ausflocken, behandelte Druckgrafiken mit Mayonaise, Bananen, Butter oder Kakao und verarbeitete die Bücher der von ihm ungeliebten Autoren zu Würsten. Die Türme „Selbstturm“ und „Schokoladenturm“, so die Titel der beiden Arbeiten, sind Aufschichtungen von kleinen, aus Schokolade oder eingefärbtem Zucker gegossenen Büsten (vgl. ebd.; S. 256f.), wobei jede neue Schicht mit einer Glasplatte abschließt, auf der die nächsten Büstenreihen steht. Die Büsten stellen entweder einen Löwenkopf („Löwenselbst“), ein Künstlerportrait („Selbstportrait als alter Mann“) oder eine Mischung aus beidem dar. Bei der genauen Betrachtung erkennt man, dass ein Teil der unteren Büsten bereits durch das Gewicht zerdrückt ist und dabei eine Glasplatte zerbrach, andere sind verzogen oder verformt. Ihre Oberflächen sind porös geworden, von einigen sind Teile abgefallen, andere sind von Würmern zerfressen. 3
Die Beschreibung lehnt sich an meine letzte Begehung des Raumes im Sommer 2002 an. Seit einiger Zeit ist der Raum aus konservatorisch-restauratorischen Gründen für die Öffentlichkeit nicht mehr zugängig.
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Der Gegensatz zu den zuvor angesprochenen Transformationsstrategien der Künstlerköche liegt auf der Hand. Roths Interesse bezieht sich auf die instabilen Eigenschaften dieser Materialien und die dadurch prinzipielle Unabgeschlossenheit des Transformationsprozesses. „Das hatte zur Folge, dass prozessuale Veränderungen nicht nur zum Thema, sondern auch zur Existenzform eines Werkes avancierten“ (Wagner 2004; S. 131). Das gesamte räumliche Arrangement vermittelt den Zustand des Liminalen. Weder wird den Betrachtenden ein Raum gezeigt, der vollendet wirkt, indem sie etwa einen speziellen Raum vorfinden, der für die Präsentation eines fertigen Kunstwerks inszeniert wurde, noch schlägt das räumliche Arrangement einen Betrachterfokus oder ein eindeutiges Thema vor. Zwar stehen im Raum an prominenter Stelle die beiden Türme, aber das künstlerische Werk endet weder mit dem Guss und der Aufstellung der Selbstportraits, noch stehen die Türme so, dass der Blick ausschließlich auf ihnen ruhen kann. Stattdessen kann man herumgehen und die Blicke schweifen lassen, sich die Wände, die Papiere und Schachteln auf den Tischen und in den Regalen ansehen. Andere Gegenstände schieben sich immer wieder in die Blickachsen. Manche Gegenstände wie die Herdplatten und Kochtöpfe besitzen Aufforderungscharakter, gleichzeitig rufen sie aber auch Erinnerungen an andere Kochsituationen wach. Das Inventar rahmt nicht nur die künstlerische Arbeit, sondern dokumentiert getane Arbeitsprozesse und macht diese für die Betrachtenden rekonstruierbar. Der Raum spielt mit der Verwirrung und Irritation der Sinne, indem das Visuelle an Geschmackliches, Gehörtes oder Gespürtes erinnert und umgekehrt.4 Die widerstrebenden Sinneseindrücke – etwa die Erinnerung an den Geschmack von Schokolade einerseits und der aktuelle Geruch von ranzig-süßlichen Fetten andererseits – erzeugen paradoxe Bilder. Entgegen der vorher beschriebenen KeksPerformance lockt der Geruch nicht mehr. Wo vorher unklar war, ob im Anschluss die Kekse zum Verzehr freigegeben werden, erfährt der Betrachter mit seinen Sinnen, dass hier alles körperlich nahbar, aber leiblich unverfügbar ist. Was einst süßes Vergnügen versprach und zur Einverleibung zur Verfügung stand, wäre beim Konsum im jetzigen Zustand Auslöser einer Magenverstimmung. Stattdessen bleibt der potentiell nahrhafte Gegenstand außen vor und wird nicht mit dem Mund, sondern mit den Augen nach innen geholt. Das Arrangement bietet aber die Chance, konkret an der Materialität der Nahrungsmittel Zeitlichkeit zu erkunden: Während die verstreuten Papiere zu gilben beginnen und blasser werden, altern gleichfalls die vormals identischen Schokoladen- und Zuckerbüsten. Die Skulpturen verändern ihre Oberfläche und Gestalt und entwickeln im Laufe ihres Verfallsprozesses ihre spezifische Individualität. Dies ist 4
Das Prinzip der Umkehrbarkeit ist typisch für Roths Arbeiten, exemplarisch dafür ist folgendes Gedicht aus seinem „Mundunculum“ Band (1967/75), welches mit der Zeile „mein Auge ist ein Mund“ (ebd.; S. 308) einsetzt und zwanzig Zeilen weiter mit „mein Mund ist ein Auge“ (ebd.; S. 309) endet. Vgl. dazu Schulz 2009b.
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paradox, da sie nicht dem Zweck eines dreidimensionalen Bildnisses in Form einer Büste entsprechen. Während die Büste eigentlich für die Nachwelt ein individuelleindeutiges und plastisches Ab- und somit Erinnerungsbild dokumentieren soll, pluralisiert sich das Roth’sche Bildnis nicht nur durch die variantenreiche Interpretation seiner Identitäten, sondern auch durch die individuellen Zerfallsprozesse, die letztlich zum Verschwinden führen. Kochen als Forschungsprozess: Die Erzeugung von Vieldeutigkeit Die vorgestellten künstlerischen Strategien nutzen Nahrungsmittel als banale Materialien, die dem Alltag und der Warenwelt entnommen sind, aber symbolisch hochgradig aufgeladen sind. Offensichtlich ist, dass beide künstlerischen Arbeiten die Gegenwärtigkeit und Prozesshaftigkeit im Umgang mit Nahrungsmitteln, respektive ihre Vieldeutigkeit fokussieren. Dabei unterscheidet sich gwissermaßen die Wahl der Perspektive auf diese Prozesse: Während bei Ben Patterson die Separierung zwischen Koch- und Kunstsphäre entgrenzt und die Herstellung von Nahrung zum Teil eines größeren Ereignisses wird, indem er diesen Prozess theatralisch erhöht und das alltägliche Ereignis des Keksbackens als Oper aufführt, tritt bei Roth das dingliche Arrangement selbst in den Dialog mit dem Betrachter. Dieser wird mit der Tatsache konfrontiert, dass er mit einem Werk gelockt wird, aber nur einen kleinen Ausschnitt eines Schaffensprozesses zu Gesicht bekommt. Dieser Ausschnitt verdinglicht und erinnert an zuvor getätigte Koch-Handlungen. Die Büste als eines dieser Kochergebnisse wird, wider einer als selbstverständlich zu betrachtenden Verwendung, zur Begutachtung offeriert. Der Künstler portraitiert sich selbst in zwei verschiedenen Facetten – zum einen als maskulin konnotierten Löwen und zum anderen als alten Mann – und führt an ihnen, da er Lebensmittel als vergängliches Material nutzt, den sukzessiven Verfall vor. Die zumindest potentiell essbaren und damit auch nahrhaften Skulpturen von Dieter Roth machen die Nähe zwischen Humor, Behagen und Unbehagen leiblich spürbar. Durch die Zurschaustellung des Verfallsprozesses lassen sie die Betrachtenden das Paradoxon erfahren, dass Objekte einerseits angeeignet und erfahren und zugleich unverfügbar sind bzw. nicht vollständig einverleibt werden können. Der Umgang mit den Lebensmitteln entspricht so kaum den normativen gesellschaftlichen Setzungen, die einerseits auf die Trennung der verschiedenen Lebensbereiche abzielt und andererseits Nahrung letztlich dem Verzehr zugeführt werden soll. Auch in der pädagogischen Praxis sind diese Selbstverständlichkeiten zu finden. Worin können jedoch, wenn Bildung einer der Aufträge ist, Momente der Entgrenzung und des Liminalen als Chancen für Bildungsprozesse entstehen? Die bildsame Seite dieser Praktiken, wenn sie als Aufführungen betrachtet werden, wurde bereits in der Analyse zu Ben Pattersons Performance skizziert. Ihre Entgrenzung bestünde unter anderem darin, dass der pädagogische Raum nicht einfach
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andere örtliche Muster wie familiäre Essenssituationen reproduziert, sondern die Verwendungsweisen offen hält. Dies will ich abschließend näher diskutieren und dabei auf die Verschränkung zwischen Kontext und materialisierten Vorschlägen, verdichtet im Begriff des Präskripts, eingehen (vgl. dazu auch Schulz 2008 u. 2009a): Die Backzutaten, der Zucker oder die Schokolade halten Verwendungs- und Nutzungsvorschläge bereit, die relativ mühelos entschlüsselt werden können, gleichgültig, wo sie ihre Anwendung finden. Bei beiden künstlerischen Arbeiten konnte jedoch eine widersinnige Verwendung von Nahrungsmitteln als auch von räumlichen Kontexten registriert werden. In einen Raum wird gebacken, obwohl es sich um einen Kunstraum handelt und der andere hält nicht die erwartete, museal perfekt arrangierte Inszenierung bereit. Das scheinbar Selbstverständliche offenbart sich indes darin, dass diese Präskripte von den Beteiligten – sowohl von den Künstlern, aber auch von den CoAkteuren – modifiziert und reinterpretiert werden. Mit ihren jeweiligen Handlungen thematisieren sie die Bedeutungsherstellung im jeweiligen Kontext – durch die gemeinschaftlich hervorgebrachten Performances findet eine andere als die vorgesehene Verwendung des Ortes statt, die zugleich die Option einer potentiellen Variabilität des Raumes aufzeigt. Durch diese Verschiebung bzw. Herauslösung der Handlungen aus ihrem zunächst zugewiesenen räumlich-sozialen Kontext können die Zuschauenden eine Veränderung in ihrer Rezeption erfahren, was wiederum die bereits thematisierte Eindeutigkeit der Bedeutungszuschreibung fluid und letztlich fremd werden lässt. Wie bedeutsam dieses Erleben des Fremden für die subjektiven Bildungsprozesse ist, haben Münkler/Ladwig (1997) beschrieben, indem sie darauf verwiesen, dass die bildsame „Welterschließung immer auch ein Prozeß der Verwandlung von Fremdem in Vertrautes“ (ebd; S. 26) ist. Wenn Bildungsförderung die Prozesshaftigkeit und den Transformationscharakter der Situationen fokussiert, dann verändert sich dabei auch die pädagogisch zugeschriebene Funktion „ihrer“ Räume und Materialien: Zwar sind darin einerseits Bildungsimpulse lokalisierbar und materialisiert zu finden, deren Umgang damit jedoch offen ist. Die Materialität der Gegenstände und Räume sind, wie es eine Jugendhausmitarbeiterin einmal beschrieb, als „Vorhalteleistungen“ zu verstehen, welches vom Klientel als kulturelles Bricolagematerial genutzt werden kann. Die Wechselseitigkeit zwischen Präskripten und den darin aufgeführten Praktiken ist deshalb nicht statisch als eindimensional zwingende Kausalität zu verstehen. Vielmehr ist es ein dynamisches Feld von permanenten Auseinandersetzungen, Verschiebungen und Neuanordnungen, indem die Praktiken in ihrem konkreten Handeln zeigen, welche Verwendungsoptionen jenseits der vordergründig eindeutigen Zuschreibungen gemeinsam hervorgebracht werden können (vgl. Schulz 2008; Rose/Schulz 2007). Diese Dynamik der Transformationsprozesse lässt noch einen weiteren Hinweis zu: Sie provozieren das landläufig vorherrschende, bildungsbürgerlich geprägte
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Bild von Bildung, welches mit Innerlichkeit, geistig-kognitiver Reflexivität, Konzentration und Kontemplation umrissen werden kann. Stattdessen provozieren die beiden vorgestellten künstlerischen Arbeiten permanente Umbrüche im Blick und den Bedeutungsebenen. Jedoch verweisen aktuelle empirische Studien aus der Jugendarbeitsforschung auf den bildsamen Charakter der Diskontinuitäten (vgl. u.a. Müller/Schmidt/Schulz 2008; Cloos u.a. 2007; Rose/Schulz 2007), die irritieren und so vielfältige Differenzen erzeugen, an denen sich Jugendliche bilden können. Angelehnt an die Ausführungen von Ute Pinkert (2005 u. 2008) zur Theaterpädagogik, die ihre praktische Arbeit zwischen den Polen eines künstlerischen Experimentierfelds und der Förderung von sozialen und kulturellen Kompetenzen verortet, plädiere ich für eine Position, die sowohl dem performativen Vollzug von Handlungen als auch deren Reflexion Aufmerksamkeit schenkt. Schechners (1989) Ausführungen folgend, vergrößern sich die Chancen von bildsamen Bearbeitungsmöglichkeiten, wenn beide Seiten – das Ritual und das Theater – immer gleichzeitig wahrgenommen werden. Nicht nur das schön arrangierte Essen, die sorgfältig zubereitete Speise entfaltet ästhetischen Charakter, sondern vielleicht auch das Beobachten ihrer verschiedenen Zustände und ihres Zerfallsprozesses. Nicht nur das als gut empfundene Essen der Nahrung, sondern das lust- und humorvolle Spiel damit und nicht nur die soziale, sondern auch die ästhetische Seite der Zubereitung und Aufnahme von Nahrung eröffnet Raum für Selbst- und Fremdirritationen. Mit diesen Arrangements stünde die sinnliche Erfahrung der ästhetischen Materialität im Kontext der Sozialität im Vordergrund. Die Aufgabe pädagogischer Räume, die sich als Bildungsorte definieren, bestünde darin, sich selbst als liminalen Raum zu begreifen, der nicht Kausalitäten dupliziert. Der Ort bietet zwar gleichfalls Präskripte an, die Kausalitäten vorgeben und bestimmte Praktiken vorformen, ist aber offen genug für Irritationen dieser Muster. Die hier vorgestellten künstlerischen Strategien sollen nicht als „Lehrstücke“ guter Praxis gelten oder kopiert werden, da die jeweiligen Herausforderungen andere sind. Jedoch kann sich eine sich bildende Pädagogik davon irritieren lassen, um in ihrem eigenen Alltag neue Entdeckungen zu machen.
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IV
Empirie und Ethnografie zum Kochen und Essen in sozialen Einrichtungen
Pizza oder Suppe? Verhandlungen zum Essen im Jugendhaus Kirsten Kullmann
„Ich esse keine Suppe! Nein! Ich esse meine Suppe nicht! Nein, meine Suppe eß’ ich nicht“ – diese Geschichte vom Suppenkaspar in Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter ist im deutschen Kulturkreis wohlbekannt. Der Suppenkaspar stirbt am fünften Tag, nachdem er sich starrsinnig geweigert hat, seine Suppe zu essen, so heißt es in der Erzählung. Für Kinder eine abschreckende, gefürchtete Geschichte, von Eltern und Erwachsenen (früher) gern eingesetzt bei den immer wiederkehrenden Kämpfen zwischen den Generationen ums Essen. Solche Konflikte ums Essen sind auch den sozialen Fachkräften aus dem Arbeitsalltag der offenen Kinder- und Jugendarbeit bekannt. Auch hier sind Speiseangebote regelmäßig Anlass zu sozialen Kämpfen. Auch hier gibt es „Suppengeschichten“, wenn auch mit anderen Verläufen und Ergebnissen: Eine diese Geschichten soll im nachfolgenden eingehender untersucht werden. Der Beitrag entstand im Rahmen eines Forschungsprojektes zu jugendlichen Genderinszenierungen in der offenen Jugendarbeit. Mit Hilfe ethnografischer Verfahren wurden Alltagsereignisse und Interaktionen in Jugendhäusern eingefangen und in Quellentexten dokumentiert.1 Eine der Diplomarbeiten, die im Rahmen des Forschungsprojektes verfasst wurde, untersuchte alle beobachteten Küchen- und Theken-Ereignisse, in denen das Essen Thema war.2 Anhand einer ausgewählten Szene3 aus dieser Studie zu einem Essenskonflikt zwischen einer Fachkraft und Jugendlichen wird ein exemplarischer Blick in den Alltag der Jugendarbeit mit seinen unentwegten Verhandlungsprozessen geworfen und versucht, Thesen zur Bedeutung des Kochens und Essens in der pädagogischen Beziehung zu entwickeln. Was wird gekocht? Vorgeschichte: Heike, die pädagogische Fachkraft will am kommenden Montag kochen, gemeinsam mit den Jugendlichen. Sie erklärt mir (Feldbeobachter), dass es ihr um das gemeinsame Essen, aber auch das gemeinsame Kochen geht. Seit heute hängt ein DIN A 4 Zettel, handgeschrieben, an der Pinwand, wo sich die Jugendlichen eintragen und notieren können, was sie kochen wollen. 1
Das Forschungsprojekt an der FH Frankfurt am Main wurde von Prof. Dr. Lotte Rose und Marc Schulz geleitet. Projektmitarbeiterinnen waren Susanne Schmidt, Mareike Fischer, Wiebke Stärk und die Autorin dieses Beitrags. Die Gesamtergebnisse der Studie sind veröffentlicht in Rose/Schulz (2007). 2 Die Diplomarbeit wurde von der Autorin verfasst (Kullmann 2006) 3 Der Text des ethnografischen Quellentextes ist kursiv gesetzt.
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Ein Kochprojekt in einem Jugendhaus ist geplant. Es wird aus der Vorgeschichte nicht klar, ob es sich bei dem Kochprojekt um ein wöchentliches Angebot oder ein einmaliges Projekt handelt. Klar ist aber: Der Impuls geht von der pädagogischen Fachkraft aus. Sie initiiert das Projekt und verfolgt damit gleich zwei Ziele auf einmal: gemeinsames Kochen und Essen. Um die Koordination zu erleichtern wird von der pädagogischen Fachkraft ein Meldezettel eingesetzt. Unausgesprochen teilt er den JugendhausbesucherInnen verschiedene Informationen zu den Rahmungen des Kochprojektes mit: Das Projekt ist freiwillig; sie dürfen bestimmen, was gekocht wird; die Teilnehmerzahl ist begrenzt durch die Anzahl der möglichen Eintragungen auf diesem Stück Papier, die dafür sorgt, dass niemand mehr dazu stoßen kann, sobald das Blatt vollständig beschrieben ist. Für die Kinder und Jugendlichen des Jugendhauses aktualisiert dieser Zettel zwei wichtige Fragen: Erstens: Wer macht (noch) mit? Und zweitens: Was wird gekocht werden, bzw. was möchte ich, dass gekocht werden soll? Dieser Auftakt des Kochangebotes ist voller Schwierigkeiten: Er entspricht zunächst den partizipativen Grundsätzen einer modernen Jugendarbeit, indem den JugendhausbesucherInnen Mit- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten zugestanden werden. Gleichzeitig ist der Rahmen dieser Partizipationsstruktur relativ ungeregelt und unverbindlich gehalten. Der handschriftliche Bogen signalisiert provisorische Spontanität. Welche Folgen der Eintrag in die Liste hat, bleibt offen. Das Prinzip der Freiwilligkeit des Kochangebotes und die Form der Partizipation setzen die Pädagogin gleichzeitig unter Druck. Sie befindet sich in der Defensive, was die Realisierung ihres Projektes betrifft, muss auf die Einträge der Jugendlichen warten und hoffen, dass diese kommen. Sie muss auch befürchten, dass sich möglicherweise kein Besucher des Hauses einträgt. Dies könnte auch der Grund dafür sein, kurz danach offensiv bei einem Jugendlichen für das Kochprojekt zu werben. Ich bekomme beiläufig mit, wie Heike Görkhan fragt, was er sich denn für den kommenden Montag wünscht. Nach kurzem Überlegen sagt er, dass er gar nicht kochen kann, aber zugesehen hat. Heike sagt, dass das gar kein Problem ist, da sie das Kochen gemeinsam machen. Görkhan schlägt Pizza vor. Heike sagt, dass es Pizza nicht gibt, da es schon vor kurzem Pizza gegeben hatte. Görkhan verzieht das Gesicht. Heike schlägt einige andere Gerichte vor, Görkhan verzieht weiter das Gesicht und sagt: „Mag ich nicht.“ – „Und was dann?“ – „Pizza!“ Die Nachfrage bei dem jugendlichen Besucher enthält eine gezielte Aufforderung und stellt damit einen Bruch zur offen-unverbindlichen Praxis des Meldezettels dar. Der Zettel appelliert an die Motivation und Selbständigkeit der Jugendlichen und soll einladen. Dass nun ein Jugendlicher direkt angesprochen und ein Statement von ihm gefordert wird, lässt vermuten, dass das Vertrauen in die offene Einladungsmethode nicht groß ist. Die Zögerlichkeit des Jungen und sein Verweis auf die gastronomische Unerfahrenheit und Unfähigkeit scheinen zunächst wie eine übliche Zierde, wie man sie auch bei den Aufforderungen von Jugendlichen zum Singen oder Theaterspielen
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erleben kann. Auf jeden Fall zeigt die Reaktion, dass dem Jungen die Anfrage unangenehm ist und dass er offenbar nicht recht will. Er weist jedoch die Pädagogin nicht brüsk ab, sondern versucht sich höflich aus der Affäre zu ziehen. Gleichzeitig wird jedoch in dieser Reaktion auch ein kritischer Punkt von Kochprojekten mit Kindern und Jugendlichen deutlich. Alexandra Heyer beschreibt, wie die Rationalisierungen im Küchenhandwerk dafür gesorgt haben, dass es als Lernfeld für Kinder fast vollständig verschwunden ist. Kinder lernen Kochund Hausarbeiten heute eher aus der „Schmutzperspektive“ kennen (z.B. Spülen oder Müll wegbringen) als dass sie gastronomische Herstellungsfähigkeiten erleben und selbst erlernen (vgl. Heyer 2000, S. 24f). Für Kochprojekte in der Jugendarbeit bedeutet dies, dass sich pädagogische Fachkräfte kaum auf küchenhandwerkliche Kompetenzen der Jugendlichen verlassen können. Mehr noch: Sie müssen davon ausgehen, dass diese in der Regel nicht vorhanden sind. Mit jungen Menschen zu kochen, muss deshalb immer auch heißen, dieses Qualifikationsdefizit als Hürde zu berücksichtigen und ausreichende Anleitungs- und Anlernzeiten mit zu berechnen. Barbara Methfessel vermutet zudem, dass mit zunehmendem Alter junge Menschen immer weniger zum Mitmachen zu begeistern sind (Methfessel 1999, S. 102). Die Aufforderung zu kochen würde Jugendliche demnach in Konflikt mit den Inszenierungen des nicht-mehr-Kind-seins und der Jugendlichkeit bringen – ergänzen ließe sich noch: im Fall von männlichen Jugendlichen auch mit den jugendlichen Inszenierungen von Männlichkeit. Sowohl die Praxen des „Doing Youth“ wie auch die des „Doing Male“ lassen sich nicht unbedingt reibungslos mit Küchenarbeiten vereinbaren. Vor diesem symbolischen Hintergrund müssen sich Fachkräfte einiges einfallen lassen, um (männliche) Jugendliche für ein Kochprojekt zu animieren. Ein zweiter Bruch im Setting der pädagogischen Fachkraft wird in der Ablehnung des Pizza-Wunsches des Jungen sichtbar. Er wird zunächst durch den Zettel und die Frage der pädagogischen Fachkraft dazu aufgefordert seinen eigenen Wunsch zu äußern. Als er dies tut, wird der Wunsch jedoch abgewiesen und für nicht erfüllbar erklärt. Die Ablehnung wird von der Pädagogin rational begründet: es hat Pizza erst vor kurzem gegeben. Sie beruft sich dabei auf die weit verbreitete erwachsene Norm der Speisenabwechslung, die besagt, dass es nicht gut ist zu oft hintereinander dasselbe zu essen. Gleichzeitig bemüht sich die pädagogische Fachkraft um Versöhnlichkeit: sie schlägt Alternativen vor, versucht einen Kompromiss zu bewerkstelligen. Doch der Junge lässt sich hierauf nicht ein. Er nimmt die Kompromissangebote nicht an, beharrt auf seinem Ursprungswunsch. Die Debatte wird an diesem Ort und in dieser Zusammensetzung nicht weitergeführt. Die Bühne und ihre personelle Besetzung müssen wechseln um die Verhandlung neu aufzunehmen. Ich stehe im Raum und sehe Heike mit Zafer und Görkhan Billard spielen. Dann gehe ich zu den Dreien und setze mich dazu. Ich bekomme mit, dass es wieder um das Essenkochen am kommenden Montag geht. Görkhan sagt, dass er Pizza machen will. Heike verzieht das Gesicht,
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Görkhan geht, ohne etwas zu sagen, in Richtung des Büros von Michi. Er kommt mit einem Stift zurück und trägt sich in die Liste ein, die schräg über mir hängt. Ich sehe, dass er seinen Namen und „Pizza“ in die Rubrik „Wunsch“ einträgt. Rico und Zafer stehen bei Heike am Billardtisch und sehen ihm zu. Dann dreht Görkhan sich um und ruft: „Soll ich euch auch eintragen?“ Beide nicken, und er schreibt die Namen hin. Dann dreht er sich wieder um und sagt: „Was wollt ihr?“ Beide sagen zeitgleich: „Pizza!“ und grinsen ihn an. Görkhan schreibt „Pizza“ in die Liste, legt den Stift neben mir auf den Tisch und geht an den Billardtisch. Heike sagt: „Du weißt, dass es keine Pizza gibt.“ Görkhan fragt sie mit empörtem Gesichtsausdruck, warum sie denn ihre Wünsche hinschreiben dürfen, wenn sie das dann doch nicht machen dürfen. Die Bühne des Spiels am Billardtisch wird als Ort genutzt, um die Verhandlung zum gemeinsamen Kochprojekt neu aufzugreifen – und zwar für die Jungen unter klar konfrontativen Vorzeichen. Görkhan bekräftigt seinen Wunsch nach der Pizza. Um dies zu unterstreichen nutzt er die von der Fachkraft gegebenen Möglichkeiten und trägt sich mit einem Stift auf dem ausgehängten Meldezettel ein. Mit seiner Suche nach weiteren Köchen entspricht er dem Zweck des Zettels, organisiert sich aber auch eine stärkende Bündnisgruppe. Die Konfrontation zwischen pädagogischer Fachkraft und Jugendlichen wird damit noch einmal verschärft. Aus dem anfänglichen „Ich will Pizza“ wird nun ein „Wir wollen Pizza, auch wenn du das nicht willst“. Die Pädagogin steht jetzt nicht mehr nur Görkhans Aufbegehren gegenüber, sondern dem einer ganzen Gruppe. Sie bleibt jedoch standhaft und erinnert an ihre vorherige Erklärung zum Pizza-Tabu. Die an die Vernunft der Konfliktpartner appellierende Mitteilung, die das Bemühen transportiert, den Kampf um die Pizza endlich zu beenden und die pädagogische Autorität anzuerkennen, bleibt ohne Wirkung. Der Gegenstand des Konfliktes verschiebt sich. Es geht jetzt nicht mehr um die Pizza, sondern „ums Prinzip“. Die Jungen provozieren die Pädagogin mit dem Verweis auf den offensichtlichen Widerspruch in ihrem pädagogischen System: Wieso wird ein Speisewunsch erst abgefragt, wenn genau dieser dann hinterher abgelehnt wird? Pizza ist ungesund Heike sagt zu Görkhan: „Du weißt doch, wie ungesund Pizza ist!“ Zafer grinst und Görkhan sagt im provozierenden Tonfall „Nö!“ und Heike sagt: „Weißt du überhaupt, was in Pizza alles drin ist?“ – „Mir egal.“ – „Warum willst denn du Pizza essen?“ – „Weil Pizza lecker ist.“ – „Wir können doch was anderes machen als Pizza.“ – Zafer: „Ja, Suppe mit was-weiß-ich drin!“ Heike: „Was ist mit Lasagne?“ Zafer schüttelt sich und sagt: „Lasagne ist voll ekelhaft, so mit Fleisch.“ Heike entgegnet, dass sie Lasagne ohne Fleisch machen könnten. Rico sagt: „Iiih, mit Gemüse und so.“ Zafer: „Und mit Salami.“ Heike macht ein verwundertes Gesicht und sagt: „Wieso mit Salami?“ Zafer erzählt, dass seine Mutter Lasagne mit Salami gemacht hätte. Görk-
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han gibt Heike den Queue und sie sagt: „Wir hatten doch schon mal Pizza.“ Görkhan zeigt auf die anderen und sich und sagt, dass sie Pizza wollen und warum sie keine Pizza machen dürfen. Die pädagogische Fachkraft ignoriert den Streit um das pädagogische Prinzip, führt die Konfliktebene wieder auf die Speise zurück und versucht weiterhin die Jungen von der „Unsinnigkeit“ ihrer Pizzaleidenschaft zu überzeugen. Während sie zunächst die Tatsache, dass es dieses Gericht doch gerade erst kürzlich gegeben hat, als Ablehnungsgrund anführte, legt sie nun ein Gesundheitsargument nach: Die Pizza ist ungesund und deshalb indiskutabel. Dies enthält einen Appell an das Wissen und Gewissen der Jungen: Ihnen muss doch auch etwas an ihrer Gesundheit liegen! Dem scheint aber nicht so zu sein. Zumindest wird dieses Diskursangebot von den Jungen nicht angenommen. Wissen die Jungen nicht, dass Pizza ungesund ist (nebenbei sei hier kritisch angemerkt, wieso eigentlich die Pizza ungesünder als die dann später vorgeschlagene Lasagne sein soll)? Interessiert sie ihre Gesundheit nicht? Oder gibt es andere Gründe, warum die Jungen sich nicht auf das Gesundheitsargument einlassen können? Können sie es nicht, weil es ein Profilierungselement von Erwachsenheit – und Weiblichkeit – ist? Die gesellschaftliche Fraktion der Gesundheitssorgenden besteht schließlich nur aus Erwachsenen und vor allem auch aus Frauen. Haben Jugendliche möglicherweise einen anderen Gesundheitsbegriff, wie Silke Bartsch vermutet (2002)? Auf Basis des Salutogenese-Konzeptes betrachtet Bartsch jugendliches Essverhalten als Coping-Strategie (2002, S. 44ff). Dabei hebt sie die Eigenheit des jugendlichen Gesundheitsbegriffes hervor: Jugendliche „assoziieren mit ‚gesund sein‘ körperliche Fitness und psychosoziales Wohlbefinden. Dafür sind erstens Schönheit und Attraktivität und zweitens Dazugehören und Akzeptiertwerden in der Peergroup wichtig“ (ebd., S. 45). Mit ihrem Essverhalten, das als eher „situativ bestimmtes, spontanes, convenience-orientiertes Snacken“ zu charakterisieren ist, grenzen sie sich vom erwachsenen Ernährungsstil ab (ebd., S. 45) und stärken ihre jugendliche Peerbindung. Vor diesem Hintergrund offenbart sich die vermeintlich ungesunde jugendliche Ernährungsweise in gewisser Form als durchaus gesundheitsförderlich. Es handelt sich „aus salutogenetischer Sicht […] um eine subjektiv erfolgreiche Coping-Strategie, die das Kohärenzgefühl stärkt und sich somit positiv auf die Gesundheit auswirkt“ (ebd., S. 46). So erklärt sich dann auch, wenn Kinder von Eltern, die Vollwertkost bevorzugen, mit ihren Freunden zusammen dann doch das verpönte Fast Food verzehren: Sie bewerkstelligen auf diese Weise energisch und erfolgreich den Ablösungsprozess vom Elternhaus (vgl. ebd., S. 46). Indem sie sich – aus Erwachsenenperspektive – regelwidrig und gesundheitsschädlich ernähren, verfolgen sie konsequent eine adoleszente Entwicklungsaufgabe, nämlich die Überwindung der kindlichen Abhängigkeit und die Herstellung von Distanz zur Erwachsenen- und Elternwelt. Dadurch sorgen sie letztlich zielstrebig für ihr Wohlbefinden.
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Die Ignoranz der Jungen gegenüber dem pädagogischen Gesundheitsargument beim Essen ließe sich noch aus einem weiteren Grund als positive Lebensbewältigungsressource lesen. „Ängste und dauernde Selbstkontrolle (…) stellen eine Belastung dar. Die (vorrangige) Fixierung auf Risikofaktoren oder auf Schadensverhütung lenkt den Blick einseitig auf Bedrohung – und stärkt Ohnmachtsgefühle, welche, wie wir aus der Psychosomatik wissen, die Abwehrkraft des Körpers schwächen können“, kritisiert Methfessel (1999, S. 94) die gesundheitsdominierten Ernährungsanweisungen. Dass die Jungen in unserer Szene sich so völlig unbeeindruckt davon zeigen, wäre demnach durchaus als „gesundheitsförderlicher“ Widerstand gegen die potentiellen Erkrankungsrisiken lusteinschränkender Ernährungsnormierungen zu verstehen. Dennoch beharrt die pädagogische Fachkraft auf ihrem eingeführten Gesundheitsdiskurs und versucht die Jungen in ihrer Unwissenheit zu überführen. Mit der nachhakenden Frage nach den Bestandteilen einer Pizza zwingt sie die Jungen zur erneuten rationalen Beschäftigung mit der Schädlichkeit der Pizza. Hier lässt sich generell diskutieren, ob die Zerlegung der Speise in ihre – schädlichen – Einzelteile letztlich überhaupt zielführend sein kann. Auf jeden Fall profiliert sich damit die Pädagogin jedoch als überlegene Lehrmeisterin, die mehr weiß als die Jungen: sie weiß, was in der Pizza alles drin ist. Doch die Jungen lassen sie damit nicht weiter zum Zuge kommen. Mit der Frage „Warum willst denn du Pizza essen?“ wird den Jungen eine Plattform geboten, ihren Speisewunsch rational zu verteidigen, doch das, was sie entgegnen, konterkariert dieses sofort. Der Verweis auf den Geschmack ist so lapidar wie durchschlagend: Der Fachkraft wird so mitgeteilt, dass man sich nicht auf ihre vermeintlich vernünftige Diskursebene zwingen lässt. Warum taucht das Gesundheitsargument überhaupt in dem Schlagabtausch zwischen den Jungen und der Pädagogin auf? Möglich ist dies nur, weil die aktuelle Ernährungsdebatte stark medikalisiert ist (Rose 2005). Religiös-mythische Speiseregeln sind durch naturwissenschaftlich-medizinische Normen abgelöst. Ernährung wird als Input-Output-Verfahren zur Herstellung eines gesunden Körpers verhandelt. Das Genusserlebnis bleibt auf der Strecke. Für den Esser entsteht ein Dilemma zwischen „ist gut“ und „schmeckt gut“, welches zu Dauerfrustration führen kann (ebd., S. 23). „Appetit lässt sich schließlich nur bedingt durch Vernunft gängeln. Fast-Food-Exzesse und sonstige ernährungsbezogene ‚Unvernünftigkeiten‘ ließen sich demnach begreifen als Versuche, der Lust gegen normative Kontrollversuche Raum zu sichern.“ (ebd., S. 25). Dies kann erklären, warum das so häufige erwachsene Verteufeln des vermeintlich ungesunden jugendlichen Ernährungsstils in der Regel ohne große Wirkung auf das jugendliche Essverhalten bleibt. Zu bedenken ist dabei auch, dass Jungen und Mädchen in der Adoleszenz Gesundheit in der Regel als gegeben voraussetzen. Gesundheit ist für sie noch kein sonderlich gefährdetes Gut, weil die entsprechenden, erschütternden Erfahrungen
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von Erkrankungen noch fehlen, wie sie mit dem Älterwerden häufiger werden. Sie leben, was ihre Gesundheit betrifft, in „Selbstverständlichkeit und einem ‚unrealistischen Optimismus‘“ (Methfessel 2000, S. 42). Gesundheit ist für Jugendliche nicht das drängendste Problem, das sie haben (Methfessel 1999, S. 98). Von daher beeindrucken Gesundheitsempfehlungen die Jugendgeneration weitaus weniger als die Erwachsenengeneration. Speisealternative: Suppe In der Szene verschiebt sich die Verhandlungssituation kurz darauf zu der Frage: Welche Alternativen zur Pizza gibt es, auf die die Jungen sich einlassen können. Die Jungen sollen nun an einem Kompromiss mitarbeiten. Aber auch dieses pädagogische Anliegen wird schnell sabotiert. Indem die Jungen die Suppe als polarisierende Kontrastfolie einführen, lassen sie sich vordergründig ein, hintergründig führen sie das Ganze aber sofort ad absurdum: Die Suppe ist für sie völlig indiskutabel, so der deutlich mitschwingende Subtext: Sie hat schließlich „was weiß-ich-drin“. Warum wird gerade die Suppe als Horrorszenario aufgebaut? Warum entbrennt der Generationenstreit – nicht nur in dieser Jugendhausgeschichte – an „Pizza oder Suppe“? Warum wollen Jugendliche immer Pizza essen – und Suppe eher nicht? Welche Speisesymboliken werden hierbei virulent, die zur konfrontativen Distinktion genutzt werden? Zunächst einmal haben Suppe und Pizza durchaus viel gemeinsames: Als historisches Arme-Leute-Essen sind beide unkompliziert und schlicht in der Zubereitung und in der Verspeisung. Für die Suppe sind nur eine tiefe Schüssel und eine Löffel erforderlich, die Pizza kann gar direkt von der Hand gegessen werden – das Kontrastmodell zur gehobenen Küche der feinen Gesellschaft, die durch aufwendige Zubereitungsweisen und Tischsitten und -accesssoires gekennzeichnet ist. Struktur von Suppe und Pizza ist zudem egalisierend und indifferent-vereinheitlichend. Wie in der Suppe vermischen sich auch bei der Pizza die Zutaten, wenn auch bei der Pizza nur auf der horizontalen Ebene. Ganz anders sieht dies in der Haute Cuisine aus, in der die einzelnen Bestandteile getrennt voneinander angeordnet und zudem hierarchisiert sind – in der Regel nimmt das Fleischstück die Spitzenposition ein, dem die anderen Speiseelemente untergeordnet sind. Trotz dieser Gemeinsamkeiten trennen doch Suppe und Pizza symbolisch Wesentliches. In der Suppe ist alles verkocht, breiig, weich und seiig. Sie hat ein konservatives, langweiliges Image, erinnert an praktisches Resteessen, Kranken- und Kinderkost, vielleicht auch die Eintopf-Sonntage der deutschen NS-Zeit. Häufig gilt sie auch eher als Vorspeise denn als vollwertige Mahlzeit. Demgegenüber verkörpert die Pizza die Speise einer modernen jungen Generation in einer globalisierten, multikulturell-offenen Welt. Sie ist trendy und stylisch. Zudem erfordert sie im Gegensatz zur Suppe zumindest ein Zubeißen in das gebackene verfeinerte „Brot“.
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So besehen ließe sich das Ringen um die Pizza als Symbolisierung eines Generationenkampfes lesen: Die Jugendlichen grenzen sich gegen den Kinderstatus ab wie sie auch ihre Modernität gegen das Bild langweilig-erwachsenen Konservatismus behaupten. Speisealternative: Lasagne Die Pädagogin wirft im weiteren Verlauf Lasagne als neue Speisealternative in das Geschehen am Billardtisch ein, um die absurde Diskussion um die Suppe zu beenden. Aber auch diese ist nicht konsensfähig. Vielmehr mobilisiert sie bei den Jungen Bilder einer jetzt völlig indiskutablen Lasagne – zum einen, weil sie Fleisch enthält, zum anderen, weil sie Gemüse enthält. Diese Ablehnungsgründe verschieben die Konfrontationslinien. Mit dem Verweis auf das Fleisch in der Lasagne wird auf muslimische Speisetabus angespielt, mit dem Verweis auf das Gemüse wiederum auf – weibliche – Gesundheitsnormen, vielleicht auch den – weiblichen – Vegetarismus. Warum wird auch die Lasagne so hartnäckig abgelehnt, obwohl sie doch, so könnte man meinen, den Bonus des Nudelgerichts bietet, das sich doch bei Kindern und Jugendlichen im Prinzip großer Beliebtheit erfreut? Spielt hier auch wieder das unklare „was-weiß-ich-drin“ wie bei der Suppe eine Rolle – also ein rationaler Ablehnungsgrund? Oder werden möglicherweise Geschlechterdistinktionen aktualisiert? Bei der Lasagne handelt es sich wie bei der Suppe um eine weiche, leicht kaubare Speise. Beim Verzehr muss kein sonderlicher Widerstand des Nahrungsmittels überwunden werden, vielmehr lässt sie sich widerstandslos, d.h. ohne Aggression einverleiben. Helene Karmasin weist nach, dass dieses Merkmal nicht der traditionellen Männlichkeitssymbolik entspricht (vgl. Karmasin 1999, S. 74f): „je weniger Beißen und Kauen, desto genussorientierter, narzistischer und weiblicher, je mehr Beißen und Kauen, desto mehr Kraft, Sättigung, Männlichkeit“ (ebd., S. 77). Die Nahrungswelt ist durchzogen von Zeichen der Männlichkeit und der Weiblichkeit. „Fleisch/Blut ist männlich, pflanzliche Nahrung (Milch) ist weiblich, Braten/Rösten ist männlich, Kochen/Backen ist weiblich, alltägliches Kochen ist weiblich, zeremonielles Kochen ist männlich, Frauen kochen im Haus, Männer außer Haus.“ (ebd., S. 35). Vor diesem Hintergrund wäre der Protest der Jungen gegen Suppe und Lasagne als Einsatz eines männlichen Habituselements im Konflikt mit der Pädagogin lesbar. „Nahrungsmittel und Speisen sind wie andere Konsumgüter ein Mittel zur […] Selbstinszenierung und sozialen Positionierung in der Peergroup. Beides gehört zur Identitätsfindung von Jugendlichen. Die den Nahrungsmitteln zugeschriebenen Bedeutungen helfen Jugendlichen, sich sowohl von anderen Altersgruppen, als auch anderen Jugendstilgruppen zu distanzieren bzw. in eine Gruppe
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zu integrieren.“ (Bartsch 2006, S. 82). Sie helfen ihnen auch, so wäre zu ergänzen, sich von der anderen Geschlechtergruppe abzugrenzen. Einiges spricht dafür, dass es für die Jungen in diesem Moment vor allem darum geht, Kontra zu bieten – mit welchen Mitteln auch immer. Ob Suppe oder Lasagne oder eine andere Speise, dies ist letztlich zweitrangig. Im Mittelpunkt steht das Bestreben, die Pädagogin nicht zum Zug kommen zu lassen, alles abzuschmettern, was von ihr zur Ablenkung vom Pizzawunsch eingebracht wird, und auf diese Weise weiter standhaft an der Pizza als einzig möglicher Speise festzuhalten. Es geht offenkundig weniger darum, was sich durchsetzt, sondern wer sich durchsetzt. So muss sich die Pädagogin zu guter Letzt auch wieder auf ihr erstes Argument zurückziehen: den Umstand, dass es Pizza schon vor kurzem gegeben hat. Die Jungen zeigen sich jedoch wie schon beim ersten Mal unbeeindruckt und verschieben das Konfliktthema erneut – nämlich zu der prinzipiellen Frage, wie ernst es das Jugendhaus denn nun eigentlich mit Demokratie und Partizipation nimmt und wer denn tatsächlich die Speise des Kochprojektes bestimmen darf: die vielen Jugendlichen, wie es anfänglich schien, oder doch die einzelne Pädagogin. „Ich stelle mir unter Essenmachen etwas anderes vor!“ Die verbale Auseinandersetzung zwischen Fachkraft und Jugendlichen findet vor der Kulisse des gemeinsamen Spiels am Billard-Tisch statt. Diese Rahmung ist für das Interaktionsgeschehen insofern von großer Bedeutung als auf diese Weise zwischen den Konfliktparteien eine unentwegte Verbindung gehalten wird, die die Schärfe des verbalen Kampfes dämpft. Heike sagt: „Ich hab’ schon einen Fehler gemacht, ich hätte einfach was mitbringen sollen und dann hättet ihr das auch gegessen.“ Görkhan lacht auf und sagt: „Pizza! Pizza!“ Heike macht einen genervten Gesichtsausdruck. Zafer und Rico rufen: „Pizza, Pizza, Pizza!“ im Takt, Görkhan stimmt, nach einem weiteren Lachen, mit ein und sie hüpfen am Billardtisch auf und ab, während Heike weiter am Tisch steht. Heike steht an der Stirnseite des Tischs, geht in die Hocke und lehnt ihr Arme und ihren Oberkörper auf den Tisch und sieht sich die hüpfenden Jungen an. Zafer bleibt auf ihrer Ecke stehen, nimmt die gleiche Position ein und sieht Heike an und sagt leise: „Heike, warum können wir denn keine Pizza machen?“ Heike: „Ich stelle mir unter Essen machen etwas anderes vor!“ Die Pädagogin gibt einen Fehler zu. Dies scheint von außen betrachtet pädagogisch widersinnig, selbst-demontierend. Warum tut sie dies? Bei genauerem Blick offenbart sich die Fehlermitteilung als eine Überlegenheitsmitteilung: Sie weiß, dass es den Jungen gar nicht wirklich um die Pizza geht, und sie weiß, dass sie – metaphorisch gesprochen – den falschen Aufschlag für das Spiel mit den Jungen gewählt hat. Bei einem anderen Aufschlag wären die Jungen nicht zum Zug gekommen. Die Revolte der Jungen ist nicht weiter ernst zu nehmen, denn unter anderen Bedingungen hätten sie widerspruchslos etwas anderes als Pizza gegessen. Mit dieser Fehler-
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analyse distanziert sich die Pädagogin von dem Konfliktgeschehen und erhebt sich wissend über die Jungen. Vielleicht ist es gerade die soeben stattgefundene Inferiorisierung der Jungen, die diese nachfolgend demonstrativ in kindlicher Manier auftreten lässt. Wie bei einem ausgelassenen Siegestanz nach einem Tor auf dem Fußballfeld oder dem gelungenem Knock-out-Schlag im Boxring hüpfen die Jungen lachend am Billardtisch mit chorischen Pizza-Rufen auf und nieder. Sie formieren sich als mächtige Gruppe, die nicht nur die Situation völlig bestimmt und das endlose vernünftige Reden endgültig beendet, sondern auch gewisse Punktsiege in diesem Battle für sich verbuchen kann. Die Machtverhältnisse zwischen beiden Fraktionen spiegeln sich körperlich wieder: Die Sieger springen auf, nehmen sich Raum und machen sich damit größer. Die Verliererin macht sich klein in der Hocke und fixiert sich mit ihrer Körperhaltung am Tisch. Allerdings ist auch damit das Kampfspiel immer noch nicht beendet. Einer der Jungen wendet sich wieder der „Verliererin“ zu und bietet eine Fortführung an. Er nimmt ihre Hockstellung ein, begibt sich also auf ihre Höhe, und bindet sie mit der Frage nach dem „Warum“ ihrer Pizza-Verweigerung wieder ein. Offenbar geht es für die Jungen in der Interaktion nicht allein um das Bezwingen der pädagogischen Fachkraft, sondern auch um das Erleben eines reizvollen Beziehungsspiels, das nun nach dem „Etappensieg“ gerne fortgeführt wird. Die Antwort der Pädagogin wird Erwachsene wenig verwundern. Es ist eine Antwort, mit der sie eine klare erwachsene, normative Position einnimmt, die sie deutlich von den Jungen trennt. Die Konfliktebene wird verschoben: Es geht jetzt nicht mehr um die Aushandlung der Speise, die gekocht werden soll, sondern um den prinzipiellen Sinn eines Kochprojektes. Diese neue Diskursebene ist eine pädagogisch-konzeptionelle. Sie einzubringen, aktualisiert demonstrativ den pädagogischen Rahmen des Jugendhauses vor den Jungen, setzt die Pädagogin wieder als solche ein. Sie hat eine Idee von einem richtigen Kochprojekt, die sie verfolgt, qua Beruf verfolgen muss. Gleichzeitig diagnostiziert sie kritisch, dass beim Pizzabacken diese Idee verloren geht bzw. verloren gehen könnte. Sie agiert als Hüterin von spezifischen Werten, die sie in diesem Moment in Gefahr sieht. Welche es sind, bleibt unbestimmt. Was Heike beim Kochprojekt „anders“ haben möchte, erfahren die Jungen nicht Wir können jedoch Phantasien dazu entwickeln. Meint gutes Kochen für sie, dass es hinsichtlich der produzierten Mahlzeiten abwechslungsreich sein muss? Zumindest verteidigte die Pädagogin ihre anhaltende Verweigerung der Pizzaproduktion damit, dass es noch nicht lange her gewesen ist, dass es Pizza zu essen gab. Muss ein Kochprojekt in ihren Augen den Speisehorizont der TeilnehmerInnen weiten, indem nicht immer dasselbe und schon bekannte hergestellt wird, sondern etwas Neues?
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Ist das Pizzabacken möglicherweise auch zu simpel, weil hier – wenn überhaupt – eine einzige Person den Teig anrührt und dann nur Päckchen und Dosen mit dem Belag geöffnet und auf dem Teigfladen verteilt werden? Oder reduziert sich in diesem Fall das Kochen eventuell gar auf das schlichte Erhitzen der Fertigpizza im Backofen. Sind es diese Bilder der Fast-Food-Pizza, die nicht den Idealvorstellungen der Pädagogin entsprechen? Bedeutet für sie richtiges Kochen, dass gemeinsam geschält, geschnitten, gehackt, gekocht, gedünstet und gebraten, gerührt und geknetet, gewürzt, gerochen und geschmeckt werden soll? Aber auch eine Pizza wäre genau so handwerklich aufwendig herstellbar. Abschluss Mit Jugendlichen im Jugendhaus zu kochen und zu essen, dafür spricht vieles. Es formt Gruppen, schafft Bindungen, ist mit Körperlichkeit, Sinnlichkeit und Leidenschaft verbunden. Es bietet eine Möglichkeit, dem fortschreitenden Schwinden von kulinarischem Wissen und küchenhandwerklichen Fähigkeiten entgegenzuwirken und einen Übungsraum für elementare Alltagskompetenzen zu schaffen. Kochen ist zudem eine klassische und bedeutsame Care-Tätigkeit des täglichen Lebens. Sie nährt Menschen in physiologisch existentieller und emotionaler Weise. Nicht immer, aber immer dann, wenn für andere (mit)gekocht wird, schafft das Kochen Beziehungen: Die Speise wird zu einer Beziehungsgeste zwischen Koch und Konsumenten. Es besitzt somit einen „reflexiven Charakter“ (Vogt 2005, S. 127). Der Produktion der Speise „bezieht sich gerade nicht einseitig auf andere unter Aussparung der eigenen Person, sondern sie umfasst die anderen in der Interaktion mit der eigenen Person“ (ebd.). Im Jugendhaus zu kochen, bietet von daher Raum zur Kultivierung von sorgenden Beziehungen – der Fachkräfte zu den Jugendlichen, der Jugendlichen zu den Fachkräften und der Jugendlichen untereinander. Gerade dann, wenn das Kochen gemeinschaftlich von Jugendlichen und Fachkräften erfolgt, werden situativ egalisierende Beziehungsstrukturen geschaffen. Man tut das Gleiche, muss sich in gleicher Weise seinem küchenhandwerklichen Unvermögen stellen und sich kulinarisch wechselseitig abstimmen, auch vertrauen. Vielleicht ist dies in keinem anderen Raum im Jugendhaus auf solche Weise möglich. Die pädagogischen Fachkräfte werden durch das Kochen und gemeinsame Essen deutlicher zu Gleichen unter Gleichen als in irgendeinem anderen Prozess im Jugendhaus. Der Blick auf die untersuchte Szene offenbart aber auch, dass jenseits solcher einsichtiger, pädagogischer Begründungen die praktische Realisierung eines Kochprojektes ganz eigene sperrige Geschichten schreibt, die voller ungeahnter, überraschender pädagogischer Herausforderungen stecken. In unserem Fall wird die Einladung zum Kochprojekt unvermittelt zu einem Bühnenraum für einen „verbalsportlichen Ringkampf“ zwischen Jugendlichen und Pädagogin. Um bei dem wech-
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selseitigen Bemühen, die Oberhand zu gewinnen, werden von beiden Fraktionen unterschiedliche Werte gegeneinander in Aufstellung gebracht: Geschmackslust versus rationale Gesundheits- und Abwechslungsnormen, jugendliche Mitbestimmung und Jugendhausdemokratie versus erwachsene und pädagogische Autorität. Vielfältige soziale Distinktionslinien werden hierbei aktiviert und in ihrer Durchsetzungskraft erprobt: altersspezifische, statusspezifische, genderspezifische und kulturspezifische. Dies alles ist möglich, weil das Setting des Kochprojektes zunächst partizipativ-offen gehalten ist und damit einen großzügigen Raum für Interessensbekundungen der Jungen bietet. Erst dies schafft den Rahmen für die Inszenierung eines turbulenten Konfliktgeschehens, das jedoch nicht „explodiert“. Allen Beteiligten gelingt es, die verbindende Spielebene zu halten. An keiner Stelle kommt es zu überschießenden Ausbrüchen, die die Interaktion beendet hätten. Im Übrigen: Das Ringen um die Speise des Kochprojektes zog sich noch lange hin. Am Ende bekamen die Jungen ihre Pizza. Ob die pädagogische Fachkraft angesichts dessen nun gewonnen oder verloren hat, ob der pädagogische Auftrag erfüllt oder aufgegeben wurde, muss letztlich offen bleiben. Auf jeden Fall wurde aber verhandelnd und ringend eine Beziehung zu einander zugelassen, hergestellt und gefestigt.
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rungsbildung. Bericht zum 4. Heidelberger Ernährungsforum; 2. korrigierte Auflage. Baltmannsweiler; S. 31-76. Rose, Lotte (2005): Überfressene Kinder – Nachdenklichkeiten zur Ernährungs- und Gesundheitserziehung. In: neue praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik. Neuwied, Heft 1; S. 19-34. Rose, Lotte/Schulz, Marc (2007): Gender-Inszenierungen. Jugendliche im pädagogischen Alltag. Königstein/Taunus. Vogt, Irmgard (2005): Küche, Kochen, Essen und alles genießen. In: Vogt, Irmgard (Hrsg.): Frauen-Körper: Lust und Last. Band 2. Tübingen (Forum 45); S. 122-145.
Mittagessen in der Schule. Ethnografische Notizen zur Ordnung der Mahlzeit Lotte Rose/Kathrin Schäfer
Die Tischgemeinschaft als Untersuchungsgegenstand Gemeinsam zu essen gehört zu den selbstverständlichen, vertrauten und historisch relativ konstanten Ereignissen menschlichen Alltags. Die Sicherung der Ernährung war lange Zeit elementar an die Gruppe geknüpft. Nahrungsmittelsammlung und -erzeugung, die Bearbeitung und Bevorratung und schließlich die Speisenzubereitung erforderten ein arbeitsteiliges Kollektiv, das gleichzeitig auch Ort des gemeinsamen Verzehrs war. Die Tischgemeinschaft bildete „den materiellen Kern der sozialen Kohäsion auf der mikrosozialen Ebene“ (Bauer 1996, 2). Sie hatte eine existentielle Bedeutung. Der Ausschluss von ihr und damit von der durch sie gesicherten Versorgung bedrohte das Überleben. In der Tischgemeinschaft verkörperte sich das Modell einfacher Warenzirkulation (Bärlösius 1999, 171). Diese Situation hat sich tiefgreifend gewandelt. Nahrungsproduktion und -konsum sind fast völlig entkoppelt. Die marktförmige Organisation der Ernährung individualisiert die Essenden. Für Käufer sind Nahrung und Speisen relativ voraussetzungslos individuell und flexibel zugänglich geworden. Gegessen wird immer häufiger dort, wo man sich gerade aufhält, dann, wenn es im individuellen Tagesablauf gerade passt, und das, was gerade kommerziell im Angebot ist. Dennoch hat dies nicht zum völligen Verschwinden der Tischgemeinschaft geführt, vielmehr haben wir es gegenwärtig mit einem Nebeneinander der Vereinzelung und Vergemeinschaftung der Essenden zu tun. Die Befunde des jüngsten Ernährungsberichtes unterstreichen den hohen sozial-kommunikativen Bedeutungsgehalt, den das Essen weiterhin in Familien hat. Mehr als die Hälfte der Angehörigen von Familienhaushalten mit Kindern und zwei erwerbstätigen Ehepartnern essen trotz aller organisatorischen Widrigkeiten gemeinsam zu Abend (Ernährungsbericht 2004, 92). Bei vielen feierlichen Ereignissen erhält sich das kollektive Mahl. Ebenso vollziehen sich viele öffentliche Verpflegungssituationen als Gruppenakte, denken wir an das Kantinenessen der Betriebe oder den Kirmesfrühschoppen. Auch in den Einrichtungen der Sozialen Arbeit, des Erziehungs- und Bildungswesens findet Essen in der Regel als gemeinsames Ereignis statt. So selbstverständlich also die Praxis gemeinsamer Mahlzeiten ist, so wenig ist ihre Diffizilität dem Alltagsbewusstsein präsent. Gemeinsam zu speisen, bedarf
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jedoch aufwendiger sozialer Regulierungen. Wie überall im Leben, wenn Menschen aufeinander treffen, so können schließlich auch bei der gemeinsamen Mahlzeit aus vielen Gründen Konflikte auftreten. Die Enge des Tisches setzt die Einzelnen für einen längeren Zeitraum miteinander fest und birgt Stressmomente, die minimiert werden müssen. Ausdifferenzierte Tischsitten sind deshalb entwickelt worden, um dafür zu sorgen, dass die Tischgruppe nicht zersprengt wird (Elias 1976, Audehm 2007). Für die Familienmahlzeit stellt der französische Soziologe Jean-Claude Kaufmann fest, dass häufig schon der Auftakt missglückt, weil sich plötzlich jeder in die Gruppe fügen muss (Kaufmann 2006, 129). Die Mahlzeit ist also ein fragiles Geschehen mit hohem Ordnungsbedarf, in dem feingliedrige Regulationen zur sozialen Befriedung wirksam werden, ohne dass dies in der Regel als besondere soziale Leistung registriert wird. So ist die Mahlzeit bislang auch nur selten in den Fokus sozialwissenschaftlicher Forschung geraten. Wenn, dann hat sich vor allem die historische Kulturanthropologie diesem Gegenstand gewidmet. Im nachfolgenden wird der Versuch unternommen, anhand der ethnografischen Beobachtung des Mittagessens an einer Schule die Ordnungsprozesse des Mittagessens exemplarisch zu rekonstruieren. Dabei wird der Fokus auf die kritische Phase des Übergangs vom Schulalltag zur Mahlzeit gerichtet.1 An der gerade neu gegründeten Montessori-Schule einer Kleinstadt, die zum Untersuchungszeitpunkt 30 SchülerInnen hat, können die Kinder im Rahmen der Nachmittagsbetreuung in der Schule ein warmes Mittagessen einnehmen. Sie werden dafür bei Bedarf von ihren Eltern angemeldet. Nur ein Teil der Schüler nimmt am Verpflegungsangebot teil. Bei dem hier untersuchten Mittagessen waren 12 Kinder anwesend. Das Mittagessen findet in einem Mehrzweckraum statt, der als Frühstücksraum, zum Kochen im Rahmen des Unterrichts oder am Nachmittag sowie als Aufenthalts- und Spielraum für die Nachmittagsbetreuung genutzt wird. In einem Kreis stehen dicht aneinander die Kindertische mit Stühlen. In der Mitte dieses Tischkreises steht ein sechseckiger Tisch. An einer Stelle des Außenkreises ist eine größere Lücke zwischen den Tischen als Durchlass zu diesem Tisch. Auf jedem Kindertisch steht ein kleines Blumentöpfchen und es sind Namensschilder aufgeklebt. Die Kinder haben selbst bestimmt, wer wo neben wem sitzt. Diese Sitzordnung gilt bis zu den nächsten Ferien. Beim Mittagessen werden die Kinder von zwei sozialen Fachkräften betreut, zum Beobachtungszeitpunkt sind es Anika und Marianne.
1
Der Beitrag basiert auf Beobachtungsmaterial, das von Kathrin Schäfer im Rahmen ihrer Diplomarbeit „Essen als soziale Handlung“ im SoSe 2008 an der Fachhochschule Frankfurt am Main erhoben wurde. Es wurde eine schulische Mittagsmahlzeit mit einer Videokamera aufgenommen und parallel beobachtet. Auf der Grundlage der Beobachtungsnotizen und der Filmdokumentation wurde ein ethnografischer Quellentext verfasst.
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Der Übergang vom Unterricht zum Mittagessen Die Plastikkiste des Caterers steht auf dem Tisch in der Mitte des Tischkreises. Die Kinder kommen aus den Räumen ihrer Lerngruppen in den Mehrzweckraum. Eine persönliche Begrüßung durch Anika und Marianne erfolgt nicht. Nachdem die Schulranzen abgestellt sind, gehen die Kinder individuell ihren Beschäftigungen nach. Sie sind alle im Haus oder auf dem Schulgelände unterwegs und entscheiden, wie und mit wem sie die Zeit bis zum Mittagessen verbringen. Marianne stellt Gläser auf die Tische, Teller und das Besteck neben die Essensbehälter. Es ist recht ruhig im Raum, da wenige Kinder anwesend sind. Lutz sitzt entspannt auf das Essen wartend am Tisch. Anika fragt nach, ob die Beobachterin fertig sei mit ihren Vorbereitungen. Als diese bejaht, geht sie weg, um die Kinder zum Essen zu holen. Marianne prüft den Inhalt des Nachtischbehälters: „So, was ist denn hier überhaupt drin?“ Daraufhin holt sie die entsprechenden Schälchen für den Nachtisch herbei. Marianne und Anika bereiten den Rahmen für die bevorstehende Mahlzeit vor. Die Speisen, extern bei einem Caterer hergestellt und angeliefert, stehen bereits im Raum bereit, wenn auch noch in dicht geschlossenen, wärmeschützenden Funktionsbehältern. Die nahende Mahlzeit kündigt sich zwar dadurch an, allerdings nur schwach. Weder erfüllen Speisengerüche den Raum, wie sie beim Selbstkochen entstanden wären, noch ist visuell überhaupt erkennbar, was es zu essen gibt. So öffnet die Fachkraft den Nachtischbehälter, um zu erfahren, was es zum Mahlzeitabschluss gibt. Für den Übergang zur Mahlzeit heißt dies, dass die Speise selbst nur wenig Kraft besitzt, „aus sich heraus“ durch eindrückliche Sinnesreize den offenen Raum auf die Mahlzeit hin zu zentrieren. Umso mehr sind anderweitige überführende Strukturmaßnahmen erforderlich. Ein Kind hat sich zwar schon wartend zum Essen positioniert, die anderen müssen jedoch von einer Betreuerin erst noch zum Essen abgeholt werden. Die Anrichtung der Mahlzeitenrequisiten – Gläser, Teller, Besteck – steckt die soziale Gestalt der Mahlzeit sichtbar und materiell fest. Es wird klar gemacht, wo und wie das Essen verteilt wird und wie die Essensaufnahme zu erfolgen hat – nämlich nach Sitte der zivilisierten Gesellschaft, die verlangt, dass die Esser klar voneinander getrennt mit eigenem Besteck und vom eigenen Teller speisen. Als rituelle Wächter der Mahlzeit fungieren ausschließlich die erwachsenen Betreuerinnen. Die Kinder selbst sind daran nicht beteiligt. In dieser Arbeitsteilung vermittelt sich nicht nur ein klar polarisiertes Generationenverhältnis, sondern auch eine besondere Fürsorglichkeit der Erwachsenen gegenüber den Kindern. Nach der Unterrichtsphase wird den Kindern offenbar entspannender Freiraum zugestanden, während Erwachsene die Verpflegung sicherstellen und ordnen. Michel kommt mit seinem Flummiball in den Mehrzweckraum und wirft ihn durch den Raum. Der an seinem Platz wartende Lutz will den Flummi fangen und wird von Michel energisch aufgefordert, die Hände weg zu lassen. Es entwickelt sich daraufhin ein Gespräch zwischen beiden Jungen. Michel betrachtet Lutz’ Glas und bemerkt: „Da ist ja noch Spüli dran. Spüli ist
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giftig.“ Lutz tauscht sein Glas mit dem seines noch nicht anwesenden Nachbarn, macht dies aber wieder rückgängig. Michel muss husten und wendet sich vom Tisch ab. Nachdem sein Husten fertig ist, wendet er sich wieder Lutz zu. Er spielt auf dem Tisch von Lutz mit seinem Flummi und es entwickelt sich ein Spiel zwischen den beiden. Der Übergang zur Mahlzeit beginnt, wenn auch gebrochen. Die gerufenen SchülerInnen betreten zwar den Ort der Mahlzeit und nehmen teilweise die Essensplätze ein, beschäftigen sich aber dort zunächst mit Spielen, also nicht-konformen Aktivitäten. Themen der vorherigen Phase werden sozusagen in den Mahlzeitenrahmen hinein verlängert und verhindern dort eine eindeutige Ausrichtung zum zukünftigen Ereignis des Essens hin. Dennoch wird die nahende Mahlzeit auch präsent gemacht: Man beschäftigt sich mit den Trinkgläsern, also einem Utensil der Mahlzeit. Ebenso ist der Spielort der Tisch, an dem demnächst gegessen wird. Anika fordert Michel und Lutz auf, den Flummi jetzt wegzuräumen. Die beiden Kinder beenden ihr Spiel und nehmen ihre Plätze ein. Marianne widmet sich weiterhin dem Herrichten der Essensausgabe und prüft immer wieder sorgfältig, was noch fehlt. Lutz schaut dem Geschehen zu. Simone und Anna nehmen ihre Plätze, die nebeneinander liegen, ein. Beide schauen in die Runde. Anika beobachtet die Kinder. Es kommen Melanie und Claudia dazu, die ihre nebeneinander liegenden Plätze einnehmen. Melanie hat eine Plastikbox in der Hand, Claudia ein zugeschraubtes leeres Marmeladenglas. Lars nimmt seinen Platz gegenüber von Anton ein, nachdem er eine Weile dort gestanden hat. Auch Marco kommt an seinen Platz neben Anton und sitzt damit ebenfalls gegenüber von Lars. Sandra nimmt am Nachbartisch links von Simone Platz. Anton und Marco unterhalten sich laut und Anton hechelt wie ein Hund mit zu Pfötchen gekrümmten Händen. Anika wendet sich ihm in gebückter Haltung auf Augenhöhe zu und fordert die beiden erfolgreich zu mehr Ruhe auf. Die Tischgemeinschaft des Mittagsmahls formiert sich klarer. Nach und nach füllen die TeilnehmerInnen nicht nur den Raum des Ereignisses, sondern sie nehmen auch die vorgesehenen Plätze ein. Ihre Platzierung bildet die feingliedrigen Binnenbeziehungen der Kindergruppe ab. Es zeigen sich nicht nur Separierungen zwischen Mädchen- und Jungengruppierungen, sondern auch besondere Paarverbundenheiten bei denen, die nebeneinander sitzen. Die Fachkraft Anika wirkt als klare, aber moderate Disziplinarinstanz. Sie kontrolliert nicht nur unentwegt wachsam das Geschehen, sondern greift auch regulierend ein. Dass sie einzelne Jungen auffordert, ihre Spieltätigkeiten und lauten Späße zu beenden, trägt nicht nur dazu bei, die Gruppe auf das nahende Essen zu fokussieren, sondern kündigt auch das zeitliche Näherrücken des Essensereignisses für alle an. Ihre Kollegin fungiert währenddessen als sorgsame Requisiteurin, die sicherstellt, dass die erforderlichen Utensilien für das Essen fehlerfrei bereit stehen. Mariannes Blick schweift wieder prüfend in die Runde. Simone fordert die am Nachbartisch sitzende Sandra auf, sich an ihren Tisch zu setzen, so dass sie dann zu dritt wären (Sandra, Simone, Anna). Als Sandra zögert, nimmt Simone deren Glas, stellt es zu sich auf den Tisch und schaut erwartungsvoll Marianne an. Sandra folgt ihrem Glas und schaut Marianne dabei mit
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zum Boden gesenktem Kopf an. Marianne unterbindet sofort mit einer klaren Ansage Sandras Wechsel und zeigt mit dem Finger auf den ursprünglichen Platz von Sandra. Sandra sitzt trotzig mit verschränkten Armen an ihrem neuen Platz. Sie wird von Anna und Simone lautstark unterstützt, indem sie betonen, dass sie zu dritt sitzen wollen. Marianne bleibt bei ihrer Forderung und hält ihre Körperhaltung mit dem hinweisenden Arm aufrecht. Sandra nimmt ihr Glas und setzt sich auf ihren richtigen Platz. Gleichzeitig entfernt sich Anna von ihrem richtigen Platz rechts von Simone und setzt sich nun links neben Sandra. Als Annas Verhalten nicht sanktioniert wird, sagt Simone – mit Blick auf Marianne – laut zu Anna, dass sie ihren Platz neben ihr habe. Marianne reagiert nicht. Stattdessen wendet sie sich der gegenüberliegenden Kreisseite zu und fordert Michel auf, sein Glas stehen zu lassen. Dann stellt sie sich neben Anika. Neue Ereignisse stören die endgültige Vollendung des Übergangs zur Mahlzeit. Indem die festgelegte Sitzordnung von einzelnen Mädchen nicht eingehalten wird, wird ein Konfliktfeld mit den Betreuerinnen eröffnet. Diese Regel der festgelegten Plätze hilft zu verhindern, dass mit jeder Mahlzeit die Sitzordnung erst wieder langwierig ausgehandelt werden muss. Sie hat also im Prinzip einen übergangserleichternden Effekt. Dieser wird jedoch von den Mädchen zunichte gemacht, indem sie die Regel demonstrativ sabotieren. So wird ein Kampfspiel mit den Betreuerinnen um die Einhaltung des Rituals eingeläutet, bei dem letztere zunächst noch standhaft parieren und die Mädchen in ihre Schranken weisen, dann aber doch nachgeben. Marianne ignoriert schließlich die Provokation der Mädchen und wendet sich kommentarlos ab. Sie tritt von der Bühne des Konfliktgeschehens mit den Provokateurinnen ab, um mit der Kollegin Anika eine neue Bühne zu eröffnen. Wenn dies möglicherweise auch als pädagogische Schwäche kritisiert werden mag, sorgt sie damit doch auch für eine Fortführung der eigentlichen Aufgabe, nämlich der Organisation des Mahlzeitenbeginns.
Es kann nun bald losgehen! In der Zwischenzeit kommen auch Jacob und Tim herein. Jacob setzt sich neben Lutz, der die ganze Zeit schon auf seinem Platz sitzt. Jacob bemängelt die Qualität seines Glases. Anika tauscht es um. Tim setzt sich an den Nachbartisch von Jacob und sitzt nun zwischen Jacob und Lars. Anika steht neben Marianne, wendet sich allen Kindern zu und signalisiert mit dem Finger an den Lippen und einem „Pschschscht“, dass sie leise werden sollen. Tim wird unter Benennung seines Namens persönlich zur Ruhe aufgefordert. Alle Kinder haben nun einen Platz. Die Zeichen des nahenden Mahlzeitenbeginns werden stärker. Der Aufforderung zur Lärmreduktion kommt hierbei eine besondere Wirkung zu. Sie kündigt nicht nur theatralisch eine bedeutungsvolle szenische Zäsur an, sondern schafft erst den Rahmen für eine gemeinsame innere Ausrichtung der Kinder auf das kommende Ereignis. Mit der Forderung nach Ruhe
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werden die Kinder gezwungen, ihre eigenen ablenkenden Tätigkeiten endgültig aufzugeben, und es werden störende Reize minimiert. Es soll eine Situation der gemeinschaftlichen Konzentration auf das Essen entstehen. Doch der Wechsel von der Individualität zur Kollektivität bleibt weiterhin prekär. Tim meldet sich, dann auch Anton sehr deutlich. Marco versucht dessen Arm wieder herunter zu drücken. Anika wendet sich gerade Anton zu, als Anna dazwischen spricht und so die volle Aufmerksamkeit von Anika erlangt, die ihr nun zuhört. Jacob redet auch dazwischen, indem er einwirft, dass die Mädchen aus dem Fenster geklettert sind. Anika biegt es ab mit der Bemerkung: „Das haben wir schon besprochen.“ Die geschlossene Hinwendung zur Mahlzeit wird weiterhin verhindert. Einzelne Kinder artikulieren, dass sie noch anderweitige dringliche Anliegen haben, wobei sie wiederum von anderen Kindern davon abgehalten werden. Marcos Bemühen, Antons erhobenen Arm herunter zu drücken, lässt sich als Versuch lesen, die nahende Störung abzuwenden. Ob die Meldungen der Kinder wieder als Erwachsenenprovokation gedacht oder schlichter Ausdruck einer noch relativ ungezügelten kindlichen Affektivität sind, muss noch offen bleiben. Im Ergebnis sorgen sie jedoch dafür, dass der Auftakt zum kollektiven Einläuten der Mahlzeit wieder zu zerfallen droht. Anika lässt sich im ersten Moment von der Kinderdynamik völlig mitreißen, findet dann aber zu ihrer Aufgabe als Zeremonienmeisterin wieder zurück und blockt die Impulse der Kinder ab. Anton fragt mit einem breiten strahlenden Grinsen: „Darf man auch beim Essen Krieg spielen?“ Einige Kinder lachen mit ihm darüber. Anika gibt kopfschüttelnd eine verneinende Rückmeldung. Tim stellt auch eine Frage, die viele Kinder zum Lachen bringt. Die Kinder werden sehr unruhig und lauter. Anika verschränkt unterdessen ihre Hände auf Brusthöhe ineinander, Marianne verschränkt ihre Hände vor ihrem Bauch. Anika meint: „Also das waren keine guten Fragen.“, ohne weiter auf deren Inhalte einzugehen. Sie legt dabei ihre Hände gekreuzt auf ihr Dekolleté. Anton zeigt sich als demonstrativer Provokateur. Mit der Frage nach dem Kriegsspiel aktiviert er – vermutlich wohl wissend – ein Thema, das für Erwachsene und Pädagogen brisant ist. Er schafft es damit nicht nur, andere Kinder für sich einzunehmen – sie lachen mit ihm über seinen Einwurf –, sondern auch, Anika vom „Eigentlichen“ abzubringen. Sie reagiert auf ihn, wenn auch knapp. Andere Kinder verstärken Antons Störmanöver mit weiteren Beiträgen. Lachen und Lärm erfüllt den Raum. Von der kurz zuvor noch mühsam hergestellten kontemplativen Konzentration auf den Mahlzeitenbeginn ist nichts mehr übrig. Chaotisierender Kindertrubel hat die Oberhand gewonnen. Anika mobilisiert jedoch hartnäckige Gegenmaßnahmen, indem sie sich nun sehr deutlich als mächtig-autoritäre Zeremonienmeisterin positioniert. Sie weist die Kinder mit einem Tadel in ihre Schranken, der keinen Widerspruch duldet. Der begleitende gestische Vollzug des Händekreuzens auf der Brust signalisiert zudem nachdrücklich den Beginn einer feierlichen Handlung.
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Der Tischspruch Marianne sagt laut: „Wir wollen aber jetzt anfangen.“ Sie kreuzt ihre Hände auf ihrem Dekolleté, zählt mit klarer, starker Stimme bis drei und die Kinder beginnen den Tischspruch: „Erde, die uns dies gebracht, Sonne die es reif gemacht. Liebe Sonne, liebe Erde, euer nie vergessen werde. Gesegnete Mahlzeit.“ Beide Frauen stehen im Kreis vor einem unbesetzten Tisch, schauen die Kinder offen an, sprechen den Tischspruch in dezentem Tonfall mit. Alle 12 Kinder sitzen um sie herum. Anton, die Mädchen und Tim legen ebenfalls ihre Hände auf die Brust. Lars, Jacob, Lutz und Michel nehmen unterschiedliche andere Körperhaltungen ein, stören den Tischspruch aber nicht. Lediglich Jacob hat den Tischspruch nicht mitgesprochen, sondern, den Kopf auf die Hände gestützt, seinen Tisch betrachtet. Anton schaut immer wieder in die Gesichter der Fachkräfte. Er spricht gut mit, wird gegen Ende zappelig, um mit Marco bereits kurz vor bzw. direkt mit dem Abschluss aufzuspringen und als Erster an der Essensausgabe anzukommen. Beide Mitarbeiterinnen sorgen nun gemeinsam für den Abschluss des Kindertrubels und setzen unmissverständlich das Ritual des Mahlzeitenbeginns mit Worten und mit Gesten durch. Warum gelingt dies jetzt endlich? Warum fügen sich die Kinder nun den Gesetzen des Übergangsrituals, wo sie zuvor noch alles getan haben, um sie zu sabotieren? Treten die Fachkräfte nun klarer als Überführerinnen auf? Sind die Kinder nach ihren Störspielen nun an einen Punkt gelangt, an dem sie auch selbst das bevorstehende Essen begehren und von daher dem Vollzug des Rituals zustimmen können? Vermutlich spielt beides eine Rolle. Das Ritual selbst wird von den beiden Fachkräften vollständig kontrolliert, verlangt aber auch von den Kindern rituelle Handlungen. Auf Mariannes Signal hin repetitieren alle einen offenbar bekannten Tischspruch. Wie beim Start einer Rakete wird der Beginn des Tischspruchs mit dem Hinunterzählen zu einem nun nicht mehr abwendbaren Ereignis für die Kinder gemacht. Profane Techniken der Spannungserzeugung mischen sich mit festlich-religiösen Symbolen. Was den Betrachter von außen irritieren mag, erscheint den Kindern jedoch offenbar stimmig und normal. Alle Aufmerksamkeit wendet sich nun dem nahenden Essen zu. Während die Erwachsenen bis zum Beginn des Tischspruchs noch laut auftreten, halten sie sich dann beim Tischspruch selbst akustisch zurück. Damit rücken die Kinder als rituelle Akteure in den Vordergrund und sie werden in eine verantwortliche Position für den Vollzug des Rituals gehoben. Der Tischspruch richtet sich nicht an eine Göttlichkeit, sondern an die Naturkräfte von Sonne und Erde.2 Dennoch ist der Duktus sakral wie ein Dankgebet. Welche Wirkung der manifeste Textinhalt auf die Kinder letztlich hat, muss offenbleiben, doch der Tischspruch verfügt zumindest über die rituelle Kraft der momentanen einvernehmlichen Vergemeinschaftung der Gruppe. 2
Er stammt von Christian Morgenstern, der ihn im Rahmen eines Zyklus mit dem Titel „Kinderlieder“ veröffentlicht hat.
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Die so im Sprechen hergestellte relative Geschlossenheit der Gruppe – nur ein Junge spricht nicht mit – bleibt jedoch unterschwellig fragil. Ansätze von körperlichen Ausbruchimpulsen der Kinder begleiten die Zeremonie. Nicht alle halten sich an die priesterähnlich anmutende Händehaltung der Mitarbeiterinnen. Ein Junge zeigt sich gar völlig unbeteiligt, fügt sich aber doch soweit ein, dass er den feierlichen Akt nicht offensichtlich stört. Zum Ende hin nehmen die Zerfallserscheinungen jedoch deutlich zu. Zwei Jungen bringen sich voller Unruhe schon an den Start zum Wettrennen um die Essensausgabe. Indem sie das nun folgende Thema der Speisenverteilung auf diese Weise gestisch einführen, fungieren sie nicht nur als quasi informelle Beender der Tischspruchzeremonie, sondern sie verschieben auch sukzessiv die Situationskontrolle wieder hin zu den Kindern. Bezeichnenderweise bleibt das Verhalten der Jungen auch ohne erwachsene Sanktion. Die Zeremonienmeisterinnen teilen somit unter der Hand ihre Zustimmung zu dem Machtwechsel mit. Anstellen zur Essensausgabe Das Essen wird von den Fachkräften direkt aus den Behältern des Catering-Service an die Kinder ausgegeben. Marco kommt als Erster an der Essensausgabe an. Lars, der es auch sehr eilig hat, als Zweiter, danach Anton. Melanie ist auch vorne dabei, stellt sich jedoch zunächst freudig grinsend ans falsche Ende der Warteschlange, bemerkt es und muss sich nun mit enttäuschtem Gesicht weiter hinten in der Reihe einreihen. Sie fügt sich dieser unangenehmen Tatsache ohne Protest. Jacob lässt sich am meisten Zeit. Als er ankommt, bittet er Tim, der mitten in der Schlange steht, ob er ihn vorlässt. Nach einiger Überzeugungsarbeit und mit etwas Charme lässt dieser sich erweichen. Die Mädchen kommen in aller Ruhe an die Reihe der wartenden Kinder heran. Damit stehen die Kinder in folgender Reihenfolge: Marco, Lars, Anton, Michel, Jacob, Tim, Lutz, Melanie, Sandra, Anna, Simone, Claudia. Wie auf einen Schlag ändert sich die soziale Konstellation des Raums radikal. War die Kindergruppe gerade noch relativ friedlich geeint im feierlichen Akt der Einstimmung auf das Essen, zerfällt sie nun in Individuen, die in mehr oder weniger starker (Nahrungs-)Konkurrenz zueinander stehen. Voraussetzung dieser Dynamik ist die institutionelle Rahmung der Essensverteilung durch die Erwachsenen, dies darf dabei nicht übersehen werden. Hierfür wären im Prinzip auch andere Verfahrensweisen denkbar. Die Entscheidung der Schulinstitution, die Speisen an den Essensbehältern zu verteilen, schafft aus sich heraus eine prinzipiell konflikthafte Situation, weil viele Kinder den wenigen Essensausteilerinnen gegenüberstehen und sich von ihnen versorgen lassen müssen. Nicht alle Kinder fühlen sich jedoch von diesen Rahmenbedingungen mit gleicher Intensität zum Wettkampf herausgefordert. Es sind vor allem einzelne Jungen,
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die voller Leidenschaft das Wettrennen um den Siegerplatz an der Essensausgabe inszenieren. Ein Mädchen beteiligt sich auch an dem Spiel, ihr unterläuft aber ein gravierender Fehler, der sie dann doch weiter hinten in der Reihe landen lässt. Ein Junge zeigt sich an dem Kampfgeschehen völlig desinteressiert. Als er sich schließlich auch anstellt, ist er jedoch mit dem Problem konfrontiert, dass er auf Grund seines Zu-Spät-Kommens sich nun bei den Mädchen am Ende der Schlange einreihen müsste. Er mobilisiert einiges an Anstrengung, um doch noch erfolgreich einen Platz in der Jungenreihe zu erhalten. Dass dies alles ohne besondere Konflikte abgeht, zeigt an, dass der zunächst dominant inszenierte Wettbewerbsmodus letztlich nur ein halbherziger ist. Die Jungengruppe kann ohne weitere Irritationen den nachgekommenen Jungen bei sich aufnehmen, auch wenn er nach den Kriterien des Wettrennens hintanstehen müsste. Das Jungenkollektiv erweist sich in diesem Moment stärker als die Jungenkonkurrenz. Am Ende hat sich eine Warteschlange formiert, in der die Geschlechtergruppen völlig getrennt und nacheinander aufgereiht sind. Diese Anordnung lässt sich als Ausdruck einer enorm hohen Bedeutung des Geschlechtergruppenbezugs in der Kinderformation lesen. Dass sie die Geschlechtergruppen in eine hierarchische Reihe bringt, muss nicht unbedingt auf eine reale soziale Hierarchie verweisen. Dies würde voraussetzen, dass alle sich in gleicher Weise am Wettbewerbsmodus beteiligen. Bei den Mädchen deutet jedoch vieles darauf hin, dass sie sich von vornherein hiervon distanzieren. Sie zeigen – außer Melanie – keinerlei Anstalten, dass sie das Wettrennen der anderen in irgendeiner Weise interessiert und betrifft. Sie setzen dem aufgeregten Kampf um die Positionen bei der Essensausgabe vielmehr unaufgeregte Gelassenheit entgegen – ein habitueller Modus, mit dem sie gerade eine gewisse Überlegenheit inszenieren: die „gereifte“ Distanz gegenüber der Infantilität. Das Essen beginnt Die Fachkräfte stehen an den Essensbehältern bereit, um das Essen auf die Teller der Kinder zu verteilen. Erst Marianne, dann Anika. Neben dem Essensbehälter stehen die Teller, von denen sich jedes Kind, bevor es an die Reihe kommt, einen Teller herunter nimmt, dann das Besteck in getrennten Plastikschalen, wo sich ebenfalls die Kinder selbst bedienen. Mit ihren vollen Tellern gehen die Kinder an ihre Plätze und beginnen individuell mit dem Essen. Der Raum ist auf die Essensvergabe zentriert und gleichzeitig generationell klar differenziert. Während die erwachsenen Frauen die privilegierten Hoheitsrechte über die Speisen und deren Verteilung haben, befinden sich die Kinder in einer abhängigen Position. Der Zugang der Kinder zum Erhalt des Essens ist also nur über die Erwachsenen möglich. Diese Ordnungsstruktur sichert die Befriedung der Situation ab, die im Kern konflikthaft angelegt ist, denn das, was jemand gegessen hat, dessen kann niemand anderer mehr habhaft werden. Dass die Kinder nicht ausbrechen, verhindert die regulierende Präsenz der erwachsenen Verteilungsmacht.
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So fällt auf, dass nun die Atmosphäre deutlich beruhigt ist, obwohl kurz zuvor noch hektische Wettkämpfe um die besten Positionen stattfanden. Alle Kinder warten offenbar relativ entspannt und geduldig trotz längerer Wartezeit, bis sie an der Reihe sind und ihr Essen erhalten. Niemand drängelt, stört, heizt Unruhe und Konflikte an. Anzunehmen ist, dass dies nur möglich ist, weil die Kinder bei den zahlreichen Mahlzeiten zuvor vermutlich die Erfahrung gemacht haben, dass die Verteilung gerecht verläuft und jedem ausreichend Nahrung bietet. Der eigentliche Beginn der Nahrungsaufnahme erfolgt dann unspektakulär und individuell. Jedes Kind beginnt zu essen, wenn es seinen Sitzplatz mit dem gefüllten Teller wieder erreicht hat. Dies steht in einem starken Kontrast zu dem kollektiven Übergangsritual, das den Beginn der Mahlzeit als feierliches und kollektives Ereignis symbolisch stark aufgeladen und exponiert hat. So besteht neben dem gemeinsamen Übergang auch ein individueller, der von jedem Kind vereinzelt vollzogen wird: der „erste Biss“ in die Speise. Zwar hat auch dieser Akt eine kollektivierende Rahmung, da alle Kinder dies im selben Raum und im Beisein der anderen, die früher oder später auch mit dem Essen beginnen, tun, doch hat diese bei weitem nicht dieselbe vereinheitlichende Kraft wie der Tischspruch. Mit dem Warten und dem Beginn des Essens vereinzeln die Kinder wieder deutlicher. Zur Spannung zwischen Kinderkultur und institutioneller Ordnung Jede kollektive Mahlzeit hat eine zentrale Übergangsepisode zu bewältigen, nämlich die des Wechsels der Mitglieder der Tischrunde von ihren dezentrierten, individuellen Tätigkeiten hin zur zentrierten Versammlung zum gemeinsamen Verzehrakt. Dies gilt auch für die untersuchte Schulmahlzeit. Die ethnografische Rekonstruktion dieses Prozesses kann zeigen, wie komplex und anfällig die Organisation dieser Schwellenpassage ist. Sie offenbart sich als ein Kampffeld zwischen den Generationen, zwischen Kindergruppe und Institution, denn hier geht es um sehr viel mehr als um eine schlichte Sättigung von Hunger. Es geht um die Herstellung einer Ordnung des Gemeinschaftlichen, um die erfolgreiche Unterwerfung der einzelnen unter diese und um die Bändigung der Triebaffekte und egoistischen Interessen. So bilden sich in dieser Übergangsphase quasi exemplarisch grundsätzliche Konfliktlinien menschlicher Sozialisierung ab. Institutionelle Übergänge stellen insofern immer liminale Phasen dar, als sie den Individuen einen Verzicht abverlangen: sie müssen sich fokussieren auf ein spezifisches Ereignis und damit alles Übrige, das im eigenen Leben virulent ist, loslassen. Göhlich/Wagner-Willi (2001) haben für den Schulalltag eindrucksvoll nachgezeichnet, wie langwierig und anfällig sich der Übergang der Kinder von der Peergroup zum Unterrichtsgeschehen vollzieht. Institutionsaffirmative und -oppositionelle Handlungen arbeiten dabei neben- und gegeneinander, Rituale werden eingesetzt und wieder demontiert und schaffen eine turbulente soziale Gemen-
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gelage. Viele Parallelitäten lassen sich in unserer Mahlzeitenstudie wiederfinden. Auch der Übergang zur Tischgemeinschaft erweist sich als „konstitutives Spannungsfeld zwischen Kinderkultur und institutioneller Ordnung“ (123). Bei genauem Blick zeigt sich, dass der Übergang zur Mahlzeit in unserem Fall aufgrund der Besonderheiten schulischer Ordnung besonders kritisch ist. Die Lernzeit der Kinder ist, auch wenn es sich um eine Montessori-Schule mit einem relativ liberalen Unterrichtssetting handelt, durch starke Disziplinierungsanforderungen bestimmt. Aus diesem Grund wird den Kindern zum Ausgleich bewusst ein offener Freiraum für die eigenen Bedürfnisse zugestanden, ehe sie sich wieder zum gemeinsamen Mittagessen zusammenfinden. Die Beschreibung zeigt, dass die Kinder dies intensiv zum Spiel und Umherstreifen nutzen. Es entsteht so nach der Unterrichtsphase eine hochgradig strukturschwache Situation, in der nun eine im Prinzip institutionsoppositionelle Kinderkultur ungehindert Raum greifen kann und Oberhand gewinnt. In dieser Episode der Umkehrung der sozialen Verhältnisse im Schulraum muss sich das Vorhaben, die „gerade losgelassenen“ Kinder, die mit überschießender Energie die erlangte Freiheit genießen, wieder institutionell „einzufangen“, als besonders schwierig erweisen. Die Tätigkeiten der Fachkräfte lassen sich als Versuch lesen, dem Dilemma zwischen kindlicher Freiheit und normierenden Zugriffen möglichst moderat zu begegnen und den Kindern großzügig Zeit für die allmähliche und weitestgehend selbstbestimmte Rückkehr zur kollektiven Ordnung zuzulassen. Vor den Augen der Kinder bereiten sie sorgfältig den Tisch für das Mittagessen vor und halten so demonstrativ das kommende gemeinsame Mahl für die Kinder als nahende Anforderung präsent. Die Versammlung der Kinder am Tisch bis zum Höhepunkt des Tischspruchs darf sich über einen langen Zeitraum hinziehen, in dem den Kindern immer wieder kurze Ausbrüche und Störungen zugestanden werden. Sanktionen werden nur sparsam eingesetzt. Nur allmählich positionieren sich die Fachkräfte als fordernde und ereigniszentrierende zeremonielle Wächterinnen und Überführerinnen. Während der Beginn der Mahlzeit rituell eindeutig markiert und kollektiv vollzogen wird, zerfällt diese Kollektivität dann sukzessive. Eine erhebliche Rolle spielt hierbei die zentrale räumliche Platzierung und Verteilung der Speisen. Dies bringt es mit sich, dass die Kinder sich zwischen ihrem Essplatz und den Speisen mehrere Male hin- und herbewegen müssen. Damit entsteht zwangsläufig eine starke Bewegungsdynamik im Raum, die den kontemplativen Moment des Tischspruchs vollständig konterkariert. Mit dem Fortschreiten der Mahlzeit setzen sich immer stärker individualisierende Momente durch. Nicht nur erfolgt der „erste Biss“ individuell, auch sind für die weiteren Übergangsetappen kollektive Formen deutlich abgeschwächt. So müssen die Kinder nach ihrer Hauptmahlzeit erst Teller und Besteck wegbringen, vorspülen und in die Spülmaschine stellen, bevor der Nachtisch an die Reihe
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kommt. Jedes Kind entscheidet für sich, wann es dies tut und zum Nachtisch übergeht. Ebenso verhält es sich mit dem Abschluss des Mittagessens. Die Kinder müssen warten, bis die Mahlzeit offiziell durch die Erwachsenen beendet wird. Dies geschieht, wenn das letzte Tischmitglied mit seinem Essen fertig ist. Für die Fachkräfte entsteht damit eine weitere strukturell kritische Situation. Je weiter das Mittagessen fortgeschritten ist, je deutlicher der individuelle Hunger gestillt ist, desto dramatischer nehmen die Differenzen der Kinder und die Sprengkraft für die Gruppe zu. Das Essen als Basis der Gemeinschaft entfällt zusehend, die Kinder streben immer stärker – zumindest innerlich – vom gemeinsamen Tisch weg. Während einzelne noch essen, sind andere gesättigt und längst mit anderen Themen beschäftigt. Die Unruhe im Raum steigt. Die Erwachsenen selbst verstärken ungewollt die Zerfallsprozesse, indem sie bereits hauswirtschaftliche Aufräumarbeiten beginnen. Sie waschen Geschirr ab, ordnen die Küchenzeile, räumen die Spülmaschine ein. Damit entsteht eine paradoxe Situation für die Kinder. Sie warten noch auf das Zeichen des Abschlusses, während die Zeremonienmeisterinnen sich schon von dem rituellen Ereignis und der Gruppe abgewandt haben. Nur mühsam halten sich die Kinder zurück. Letztendlich wird die Mahlzeit dann mit einer einzigen, kaum hörbaren Äußerung von Marianne beendet. Sie sagt: „Fertig!“ – scheinbar erleichtert, fast wie zu sich selbst. Das Ende kommt abrupt und trotzdem nicht überraschend. Alle haben es erwartet. Die Kinder springen explosionsartig auf und verlassen eilig den Raum – so eilig, dass viele von ihnen die Regel ignorieren, dass sie ihre Gläser wegräumen müssen. Dieses im Vergleich zum Mahlzeitenbeginn eher banale, auch konflikthafte Ende erinnert einmal mehr an die grundsätzliche Spannung zwischen Kinderkultur und Institution. Und es wirft die Frage auf, warum es der Institution nicht gelingt, den Übergang vom Mittagessen in die nachfolgende Freizeit des Nachmittags ebenso klar zu gestalten wie den Eingang zum Mittagessen.
Literatur Audehm, Kathrin (2007): Erziehung bei Tisch. Zur sozialen Magie eines Familienrituals. Bielefeld Barlösius, Eva (1999): Soziologie des Essens. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung. Weinheim, München Bauer, Rudolph (1996): Gaumenfreude und Sozialarbeit. In: Sozial extra 12/1996, 2 – 3 Elias, Norbert (1976): Über den Prozeß der Zivilisation. 2 Bände. Frankfurt am Main Kaufmann, Jean-Claude (2006): „Die Götter sind wir“ In: Spiegel 32/2006, 128 – 129 Ernährungsbericht 2004 (hrsg. von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung). Eigenverlag, Bonn
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Göhlich, Michael; Wagner-Willi, Monika (2001): Rituelle Übergänge im Schulalltag – Zwischen Peergroup und Unterrichtsgemeinschaft, in: Christoph Wulf u.a.: Das Soziale als Ritual. Zur performativen Bildung von Gemeinschaften. Opladen, 119–204
Essen in Kinderbetreuungseinrichtungen. Ergebnisse einer Studie in Frankfurt am Main Andrea Dilfer/Heide Kallert/Tanja Wieners
„Bildungsort Esstisch!?“ – so lautete der Titel eines Fachtags, der im November 2007 in der Universität Frankfurt am Main stattfand. Sei es wegen der ungewohnten Verknüpfung, die nahelegt, den Esstisch als einen Bildungsort zu sehen, sei es wegen des erläuternden Untertitels „Zur Bedeutung und Gestaltung des Essens in Familien, in Kindertagespflege und in Kindertagesstätten“, jedenfalls weckte die Tagung Interesse bei rund 160 Teilnehmenden aus einer Vielzahl unterschiedlicher Arbeitsfelder. Thema und Programm der Tagung sprachen neben Fachkräften aus verschiedenen Bereichen der Kinderbetreuung einschließlich Kindertagespflege und Schule, aus der Familienbildung und -beratung, neben Köchinnen und Köchen, die Kinder mit Mittagessen versorgen, auch Ernährungswissenschaftler(innen), Expert(inn)en für Gesundheit und Bewegung sowie Lehrende und Studierende an. Für die Veranstaltenden war diese breite Mischung sehr erwünscht, ermöglichte sie doch den anregenden und förderlichen Austausch zwischen Professionellen mit ganz unterschiedlichen Perspektiven auf dasselbe Thema. Darüber hinaus konnte sie als Anzeichen dafür gewertet werden, dass die Disziplinen, die zuvor getrennt an dem Thema „Essen“ arbeiteten – vor allem Erziehungswissenschaft und Ernährungswissenschaft – sich mit ihren Fragestellungen auf einander zu bewegen. Ausgangspunkt für die Tagung bildete die immer häufiger thematisierte Beobachtung, in Familien werde der Esstisch nur noch selten als Ort genutzt, an dem die Mitglieder der Familie Kontakt und Austausch pflegen; das habe erhebliche Auswirkungen auf die Beziehung zwischen den Familienmitgliedern und auf das Wissen voneinander. Aber auch in Kindertagesstätten sei Essen ein Thema, dem viel Aufmerksamkeit gewidmet wird und das nicht selten zu Schwierigkeiten und Spannungen führt. Dieselben Beobachtungen hatten zu einer bereits mehrjährigen wissenschaftlichen Beschäftigung – in einer Kooperation zwischen dem Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt und dem Internationalen Familienzentrum Frankfurt e.V. (IFZ) – mit dem Thema Essen im interkulturellen Kontext geführt.
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Im Hintergrund standen Fragen wie die folgenden:
Welche prägenden und bildenden Elemente sind in Essenssituationen, Essensritualen und Essensregeln enthalten? Welche Bedeutung haben Essensrituale für die Beziehungen unter Erwachsenen und Kindern? Wie sind die Zuständigkeiten rund um das Essen (wie Einkaufen, Kochen, Tischdecken) geregelt? Bei welchen Tätigkeiten werden Kinder einbezogen? Welche Esswaren und Lebensmittel gelten als mehr oder weniger gesund und welche werden für Kinder empfohlen? Wie können Essenssituationen so gestaltet werden, dass Stress für alle Beteiligten möglichst vermieden wird? Inwieweit ist der Umgang mit Kindern beim Essen exemplarisch für den erzieherischen Umgang insgesamt?
Systematisch erhobene empirische Daten, um diese Fragen zu beantworten, fehlten fast völlig. Das lag auch daran, dass die empirische Forschung erst in der jüngsten Zeit ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf pädagogische Alltagssituationen richtet. Es galt also zunächst, das Wissen und die Kenntnisse über Essensituationen in Familien und in Kinderbetreuungseinrichtungen mit Hilfe empirischer Studien zu erweitern, wofür – auch wegen des Mangels an Vorbildern – geeignete Forschungsinstrumente erst zu entwickeln waren. Im Folgenden soll über diese Studien zum „Essen in Kinderbetreuungseinrichtungen“ und über eine Auswahl ihrer Ergebnisse berichtet werden. Das Projekt, das in allen Phasen bis hin zur Textproduktion eng verknüpft wurde mit Lehrveranstaltungen an der Universität, begann mit einer Befragung von Eltern (überwiegend Mütter und einige Väter) und deren Kindern zum Thema Bedeutung und Gestaltung des Essens in ihren Familien. Diese Befragung fand in der Caféteria des IFZ statt, wo sich einmal wöchentlich nachmittags Mütter (manchmal auch Väter) und ihre noch nicht schulpflichtigen Kinder zwanglos treffen. Die Befragten stammten aus vielen verschiedenen Herkunftsländern, so dass die Ergebnisse ein breites Spektrum der familialen Essenssituationen in der multikulturellen Stadt widerspiegeln. Von Studierenden, die als Bezugspersonen oder Praktikant(inn)en in Kindertagesstätten arbeiteten, kam die Einschätzung, das Essen sei auch in den Einrichtungen selbst – sowohl im Team als auch zwischen Erwachsenen und Kindern – ein „Riesenthema“. Deshalb schloss sich eine Befragung von Bezugspersonen aus unterschiedlichen Einrichtungen an, um das Spektrum an Gestaltungsmöglichkeiten für das Essen und alles, was damit zusammenhängt, zu erfassen. Befragt wurden insgesamt 39 Bezugspersonen sowohl aus kommunalen und kirchlichen als auch aus
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frei-gemeinnützigen Einrichtungen. Die Bezeichnung „Bezugsperson“ wird im gesamten Text als Oberbegriff für die in Einrichtungen unterschiedlicher Trägerschaft und mit unterschiedlichen Ausbildungsabschlüssen tätigen pädagogischen Fachkräfte verwendet. Darauf folgte im Sommer 2001 die Befragung von Kindern und ihren Bezugspersonen in zwei ausgewählten Kindertagesstätten, um – wie zuvor in den Familien – die unterschiedlichen Perspektiven von Erwachsenen und Kindern auf dasselbe Thema und dieselben Situationen zu verdeutlichen. Einen weiteren empirischen Zugang boten im Sommersemester 2002 Beobachtungen in öffentlichen Kinderbetreuungseinrichtungen und in Familien. In den verschiedenen Phasen nahmen ca. 80 Kinderbetreuungseinrichtungen und etwa 40 Familien am Projekt teil. Neben der schriftlichen Veröffentlichung wurden die Ergebnisse aus einzelnen Phasen des Projekts in drei Ausstellungen und auf insgesamt vier Fachtagen präsentiert. Insbesondere die Fachtage boten sich als gute Möglichkeit an, mit Fachkräften aus dem Bereich Kinderbetreuung als Expert(inn)en für das Thema in einen fruchtbaren Austausch zu treten. 1. Die Befragungen Interviews und Interviewleitfaden Die Interviews mit den 39 Bezugspersonen wurden von zuvor geschulten Studierenden im persönlichen Gespräch durchgeführt. Die Kontaktherstellung zu den einzelnen Einrichtungen erfolgte hierbei durch bereits existierende Verbindungen seitens der Studierenden zu den Einrichtungen (durch vorangegangene Praktika o.ä.). Die Interviews selbst wurden in den überwiegenden Fällen von Studierenden durchgeführt, welche die Einrichtung zuvor nicht kannten, um unterschiedliches Kontextwissen zu vermeiden. Der verwendete Fragebogen enthält 18 offene Fragen ohne Antwortvorgaben. Diese befassen sich zum einen mit der konkreten Essenssituation in der Betreuungseinrichtung: Welche Mahlzeiten gibt es in der Einrichtung? Wer isst bei welcher Mahlzeit zusammen? Wann und wo wird gegessen? Wieviel Geld steht für das Essen zur Verfügung und wo kommt es her? Welche Regeln und Zuständigkeiten gibt es? Zudem wird erfragt, wie die Interviewten die Essenssituation der Kinder zu Hause einschätzen und wie der Informationsaustausch darüber stattfindet. Schließlich werden auch die persönlichen Auffassungen der Bezugspersonen zum Thema aufgegriffen: Was ist Ihnen bei der Ernährung in der Einrichtung wichtig? Was würden Sie gerne ändern? Was finden Sie nachahmenswert?
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Ergebnisse: Rituale und Regeln beim Essen Auf die Frage „Welche Regeln gibt es beim Essen?“ wurden folgende Regeln und Rituale genannt (geordnet nach dem chronologischen Ablauf der Mahlzeit): 7
Hände waschen Tischdienst
4
gemeinsam Tischdecken
4
Beten
4 6
sonst. Beginnritual
11
gemeinsamer Beginn 6
Kinder nehmen sich selbst
12
müssen probieren 7
Achten auf Tischmanieren
13
mit Besteck essen
21
ruhig sein + sitzen bleiben 8
nicht (mit Essen) spielen
10
aufessen 7
gemeinsames Ende
9
(gemeinsames) Abräumen 3
Getränke erst nach dem Essen
6
Zähne putzen 0
Diagramm 1:
5
10
15
20
25
Genannte Regeln, n = 39 (Mehrfachnennungen möglich)
In 21 Fällen, also mit Abstand am häufigsten, erwähnten die Befragten, die Kinder sollen während des Essens leise sein und sitzen bleiben. Durch das Befolgen dieser Regel soll verhindert werden, dass beim gemeinsamen Essen immer wieder Stresssituationen für alle Beteiligten entstehen. Es werden dadurch außerdem Aufmerksamkeit und Konzentration allein auf das Essen gefördert. Es ist zu vermuten, dass sich die Kinder bei Tisch durchaus auch unterhalten können, soweit der Lärmpegel auf Zimmerlautstärke bleibt. In 13 Fällen erwähnten die Interviewten, dass beim Mittagessen mit Besteck gegessen werden solle. Es kann davon ausgegangen werden, dass auch in den übrigen Einrichtungen, in denen die Befragten diese Regel nicht explizit genannt haben, mehrheitlich mit Besteck gegessen wird. Möglicherweise ist die Regel so selbstverständlich, dass sie nicht als solche benannt wurde. Es handelt sich hierbei vermutlich um eine gesellschaftliche und kulturelle Regel, die als bindend angesehen wird.
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Bei der Regel, dass die Kinder zwar alles probieren sollen, aber nicht alles aufessen müssen, gibt es zum Teil große Unterschiede in deren Ausführung. Die Einrichtungen unterscheiden sich nach Aussage der Bezugspersonen darin, dass die Kinder in einigen Fällen „alles probieren [sollen], was auf dem Tisch steht“, in anderen Fällen soll explizit „Neues“ probiert werden, wieder andere Bezugspersonen gaben schließlich an, die Kinder in ihren Einrichtungen sollten das Essen probieren bzw. (wenigstens) Salat oder Rohkost essen. Mit den ersten beiden Regelungen, bei denen die Kinder von Allem bzw. von „Neuem“ probieren sollen, versuchen die Bezugspersonen möglicherweise zu verhindern, dass die Kinder ihre Vorlieben bezüglich des Speiseplans zu eng eingrenzen. Außerdem lernen die Kinder so, ihr Urteil über das Essen nicht vorschnell zu bilden. Die Aussage, die Kinder sollen „probieren bzw. Salat oder Rohkost essen“ lässt darauf schließen, dass die Bezugspersonen für ein Minimum an gesunder Ernährung sorgen möchten. Nichtbefolgen hat meist das Ausfallen des Nachtisches zur Konsequenz. Entscheidend ist bei all diesen Regelungen die Tatsache, dass nicht alles aufgegessen werden muss. Hintergrund hierfür ist sicherlich, dass das Essen nicht als Zwang empfunden werden soll. Ein gemeinsamer Beginn des Essens wird als organisatorisch sinnvoll angesehen, da dieser Struktur und Ruhe in die Essenssituation bringt. So wird außerdem das Essen als Gemeinschaftserlebnis und Gemeinschaftserfahrung hervorgehoben und das Zusammengehörigkeitsgefühl als Gruppe gestärkt. Das Essen bekommt eine besondere Bedeutung. Die Regel, dass die Kinder alles aufessen sollen, steht im Widerspruch zur dritthäufigsten Regel, nach der die Kinder zwar alles probieren, jedoch nicht aufessen müssen. Erstere wird meist in Zusammenhang mit der Tatsache genannt, dass die Kinder sich in diesen Einrichtungen auch selbst bedienen dürfen und dadurch lernen sollen, ihren Appetit einzuschätzen. Sie lernen auf diese Weise auch, das richtige Maß für sich zu finden und ihren Körper sowie ihre Bedürfnisse bewusst wahrzunehmen. Von den Befragten wurden Konsequenzen verschiedenster Art genannt, falls die Kinder die Regel nicht befolgen. In manchen Einrichtungen werden sie lediglich ermahnt, sich beim nächsten Mal weniger zu nehmen, in anderen Betreuungseinrichtungen wird der Nachtisch gestrichen bzw. auf den Nachmittag verschoben. Eine Befragte gab jedoch auch an, dass die Kinder so lange am Tisch sitzen bleiben müssten, bis alles aufgegessen worden sei. Über das in dem Diagramm Sichtbare hinaus wurden vereinzelt als Regeln noch eine ordentliche Sitzhaltung und in einem Fall das Benutzen der Serviette genannt. Auch wurde als Regel erwähnt, dass die Kinder auf andere Rücksicht nehmen, mit anderen teilen sollen. In einer Einrichtung schließlich dürfen die Kinder erst aufstehen, wenn die Bezugspersonen das entsprechende Signal dazu geben.
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2. Die Beobachtungen Beobachtungssituation und Beobachtungsleitfaden Die Beobachtungen wurden von zuvor geschulten Studierenden in 28 Einrichtungen verschiedener Trägerschaften durchgeführt. Hierbei handelte es sich bei 18 der beobachteten Kindergruppen um Einrichtungen bzw. Gruppen für unter Sechsjährige, bei 10 der Gruppen handelte es sich um Einrichtungen für Schulkinder (Hort, Schülerladen). Eine der beobachteten Einrichtungen wurde ausschließlich von Kindern unter drei Jahren besucht. Die relativ große Zahl an Beobachtungen kam größtenteils durch Kontakte zustande, über die die Studierenden aufgrund eigener Berufstätigkeit oder absolvierter Praktika bereits verfügten. Wie beim Schneeballsystem kamen weitere Einrichtungen hinzu, so dass schließlich nicht alle, die sich für eine Beobachtung bereit erklärten, berücksichtigt werden konnten. An dieser Stelle sei noch einmal allen Einrichtungen für ihre Bereitschaft, sich am Projekt zu beteiligen, herzlich gedankt. Es handelt sich also nicht um eine repräsentative Stichprobe von Einrichtungen, aber einbezogen sind eine Vielzahl von Trägerschaften mit unterschiedlichsten Rahmenbedingungen sowie die verschiedenen Altersstufen. Von den 28 Einrichtungen sind 12 in städtisch/kommunaler Trägerschaft, 13 in frei-gemeinnütziger und 3 in konfessioneller Trägerschaft. Die Auswertung bringt ein breites Spektrum an Informationen zu der Fragestellung des Projekts, welche Bedeutung dem Essen in den verschiedenen Einrichtungen zukommt und wie die Essenssituationen gestaltet werden. Der Beobachtungsbogen ist gemäß den einzelnen Phasen des Essens untergliedert. Er befasst sich sowohl mit der Vorbereitung des Essens, dem Essen selbst und dem Mahlzeitenende als auch mit dem Aufräumen und der Situation nach dem Essen. Grundlage für den Inhalt des Beobachtungsbogens waren die zuvor durchgeführten Bezugspersonen-Befragungen. Das Augenmerk wurde bei den Beobachtungen auf diejenigen Aspekte gelenkt, die sich in den Befragungen als relevant erwiesen hatten. Die Beobachtungen wurden in der Regel durch zwei Beobachter(innen) durchgeführt, denen vorher die Einrichtung nicht bekannt war und von denen jede/r einen eigenen Beobachtungsbogen ausfüllte. Dadurch konnten die unterschiedlichen Perspektiven, Wertvorstellungen und Normen, die in die Beobachtungen immer eingehen, sichtbar gemacht werden. Die Beobachtungen begannen in den meisten Fällen bereits am Vormittag, so dass die Studierenden schon vor der zu beobachtenden Essenssituation am Mittag einen Eindruck von den Einrichtungen und den Kindern erlangen konnten. Zudem wurden die Bezugspersonen nach jeder Beobachtung gefragt, ob das beobachtete Essen eine alltägliche oder eher eine außergewöhnliche Situation darstellte. Zusätzlich zum Ausfüllen des Beobachtungsbogens fertigte jede Beobachtungsgruppe
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noch je eine Falldarstellung an, so dass neben den quantitativen Ergebnissen auch Qualitatives und nicht zuletzt die Atmosphäre in der jeweiligen Einrichtung erfasst werden konnte. Bei der Auswertung der Beobachtungen wurde vor allem auf existierende Zuständigkeiten sowie auf Regeln und Rituale in den jeweiligen Einrichtungen geachtet. Ergebnisse: Zuständigkeiten beim Essen Im Folgenden werden zunächst ausgewählte Zuständigkeiten betrachtet; es interessierte im Besonderen, für welche Dinge die Kinder bzw. die Bezugspersonen alleine zuständig sind. Betrachtet man die Zuständigkeiten im Essensverlauf, so zeigen sich folgende Ergebnisse:
7%
Raum vorbereiten
Kinder alleine 30 %
15%
Tischdecken
30 %
4%
Essen auf d. Tisch stellen
67%
37%
Essen auf d. Teller tun
26%
15%
Getränke auf d. Tisch stellen
48%
44%
Einschenken
7%
33 %
Nachschlag auftun
26%
22%
Fehlendes holen
30 % 0%
Diagramm 2:
BZP alleine
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
Genannte alleinige Zuständigkeiten von Kindern bzw. Bezugspersonen, n = 28
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In den Fällen, die an 100% fehlen, besteht offenbar eine gemeinsame Zuständigkeit von Kindern und Bezugspersonen. Zunächst fällt auf, dass die alleinige Zuständigkeit der Bezugspersonen bei den meisten Tätigkeiten überwiegt. Bei drei der acht Zuständigkeiten werden Kinder im Vergleich zu den Bezugspersonen häufiger allein und selbstständig tätig: Essen auf den Teller tun; Einschenken; Nachschlag auftun. Nur in einem Viertel der Fälle füllen immer die Bezugspersonen die Teller, und nur in 7% ist das Einschenken der Getränke ausschließlich Aufgabe der Bezugspersonen. Das spricht dafür, dass in der Mehrzahl der Einrichtungen ein Erziehungsziel darin besteht, den Kindern zu ermöglichen, ihre Bedürfnisse bezüglich Hunger, Durst und Sättigung eigenständig wahrzunehmen und angemessen einzuschätzen. Bei allen acht ausgewählten Zuständigkeiten bestand die Vermutung, sie würden vom Alter der Kinder abhängig sein und zwar so, dass die Hortkinder für mehr Aufgaben zuständig wären, da sie schon über mehr Fähigkeiten verfügen. Die Überprüfung ergab jedoch, dass das nur bei den Tätigkeiten Essen und Getränke auf den Tisch stellen sowie Einschenken der Fall war. Bei den meisten anderen Zuständigkeiten unterscheidet sich die Beteiligung der Kindergartenkinder kaum von der der Hortkinder, das heißt auch den Kleineren wird bereits sehr viel Selbstständigkeit zugetraut. Anhand der vorliegenden Daten ist erkennbar, dass sowohl die Kindergartenals auch die Hortkinder sehr viel Unterstützung durch die Bezugspersonen erfahren. Das Maß an Unterstützung ist hierbei vermutlich abhängig von der jeweiligen Essenssituation. Die Art der Mahlzeit kann beispielsweise Einfluss darauf nehmen, wie viel Hilfe die Kinder von den Bezugspersonen beim Aufschöpfen erhalten. Bei anderen Aufgaben, wie z.B. beim Decken des Tisches, kann die Hilfe durch die Bezugspersonen davon abhängen, welchen Aktivitäten die Kinder am Vormittag nachgegangen sind und wie erschöpft und müde sie hierdurch bereits sind. Es wurde jedoch auch deutlich, dass die Kinder zwar nicht in vielen Punkten alleine zuständig, gleichwohl jedoch häufig beteiligt sind. Als weniger bedeutsam erwiesen sich hierbei die Altersunterschiede. In den beobachteten Einrichtungen waren die Hortkinder, wenn überhaupt, nur zu einem geringen Prozentsatz bei einzelnen Aktionen stärker beteiligt als die jüngeren Kindergartenkinder. Einfluss nehmen könnte hierauf möglicherweise die Tatsache, dass das Essen in den beiden Kindergruppen eine völlig andere Positionierung im Alltag erfährt. Während ein bereits gedeckter Tisch für gerade aus der Schule eintreffende Hortkinder eine Art ‘Willkommensgruß‘ darstellen könnte, steht bei den Kindergartenkindern, die schon den Vormittag zusammen verbracht haben, möglicherweise eher die gemeinsame Tätigkeit im Vordergrund.
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Beobachtungen in einzelnen Einrichtungen – zwei Fallbeispiele Die Fallbeschreibungen der beobachtenden Studierenden wurden weitestgehend in ihrem Originalzustand belassen. Aufgrund der Länge wurden einzelne Abschnitte gekürzt. Auslassungen sind hierbei durch Punkte gekennzeichnet. Kinderhort Die integrative Einrichtung befindet sich in frei-gemeinnütziger Trägerschaft. Sie liegt innenstadtnah und wird von 45 Kindern in 3 Gruppen zu je 15 Schülern besucht. Die Einrichtung ist von 8 bis 16:30 Uhr geöffnet. Hier arbeiten zum Zeitpunkt der Interviewdurchführung 7 Bezugspersonen, alle Vollzeit. ... Der Kinderhort hat einen speziellen Essensbereich; hierbei handelt es sich um eine Küche und zwei freundlich gestaltete Räume, wovon der größere Raum sowohl als Essens- als auch als Projektraum genutzt wird. ... Im Anschluss an eine kleine Führung durch die Einrichtung hatten wir Zeit unsere Fragen zu stellen. Bereitwillig und sehr ausführlich erhielten wir unsere Antworten von Frau Becker, der Leiterin, welche währenddessen Salat zubereitete. Sie betonte dabei, dass es diesen immer zu der jeweiligen warmen Mahlzeit, welche aus der Großküche geliefert wird, dazu gibt. Desweiteren erwähnte sie, dass der Salat selten fertig zubereitet wird. Normalerweise wird einfach geschnittenes Gemüse auf den Tisch gestellt und jedes Kind kann sich individuell aussuchen, was es gerne mag. Sie sagte, dass diese Variante viel erfolgreicher wäre als der fertige Salat. Wie wir später auch selbst feststellten, wurde der leckere Salat nur von wenigen Kindern probiert. Während des Gesprächs mit Frau Becker, welche an diesem Tag „Küchenverantwortliche“ war, wurden wir auf die Speisepläne der Großküche, wie auch auf die Küchendienstpläne hingewiesen. Auf dem Küchendienstplan stehen die jeweiligen Mitarbeiter(innen), die an einem bestimmten Tag für die Zubereitung der Vor- und Nachspeise (Salat etc.), wie auch für die Bestellung des Hauptgerichtes aus der Großküche verantwortlich sind. Finden die Mitarbeitenden das Angebot der Großküche nicht interessant, kochen sie in sehr kurzer Zeit ein schmackhaftes Mittagessen. Frau Becker kaufte zum Beispiel acht Pizzen für diesen Tag aus dem Großmarkt ein (vier vegetarische und vier Pizzen mit Salami), die sie von ihren Kolleg(inn)en auf den einzelnen Etagen fertig backen ließ. Wir halfen ihr, die Pizzen auf die einzelnen Etagen zu verteilen und erhielten somit einen Einblick in die Räumlichkeiten in den anderen Etagen. Dabei lernten wir noch andere Mitarbeitende der Einrichtung kennen und stellten fest, dass schon die ersten Kinder aus der Schule eingetroffen waren. ... In der Zwischenzeit fanden sich zwei weitere Mitarbeitende in dem Essensbereich ein, welche die Tische deckten. Danach vereinbarten sie mit Frau Becker, dass
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13:15 Uhr Essensbeginn sein sollte. Frau Becker stellte uns dann einen kleinen Tisch in den größeren der beiden Räume, von wo aus wir beobachteten. Um Punkt 13:15 Uhr füllten sich die Räume mit den Kindern. In dem kleineren Raum, welcher mit zwei runden und einem halbrunden Tisch bestückt war, fanden sich größtenteils nur Mädchen ein. In dem großen Raum, wo sich drei rechteckige Tische befanden und wo wir auch beobachteten, kristallisierten sich ein Jungentisch und zwei „gemischte Tische“ heraus. Die Kinder nahmen ohne erkennbare Sitzordnung zügig ihre Plätze ein. Etwas neugierig wurden wir von zwei Jungen nach unseren Namen gefragt, die aber sehr schnell wieder das Interesse an uns verloren. Mit raschen Handgriffen verteilten die Bezugspersonen die Pizza, je nach Wunsch bzw. religiöser Gewohnheit vegetarisch oder mit Salami, an die Kinder. Während der Essenssituation herrschte eine sehr rege Kommunikation zwischen den Kindern. Zwischenzeitlich erhöhte sich der Lautstärkepegel auf einen Wert, der einen Eingriff durch eine Bezugsperson notwendig werden ließ. Danach entspannte sich die Situation etwas. Während unserer Beobachtung konnten wir keinen Unterschied zwischen einem Regelhortkind und einem heilpädagogisch-integrativen Kind feststellen. Aufgefallen ist uns eine Situation zwischen einem deutschen und einem türkischen Jungen. Der türkische Junge wollte ein Stück Salamipizza; daraufhin meinte der andere Junge: „Nein, Du darfst nicht, Du bist Türke, Du musst die vegetarische Pizza essen.“ Frau Becker versuchte dann noch mit den Worten: „Wer ist denn hier ein Feinschmecker?“ ihren Salat anzupreisen, was aber wenig Erfolg hatte; nur wenige Kinder probierten davon. Nachdem die ersten Kinder nachfragten, ob sie den Tisch verlassen könnten, wurden sie darauf hingewiesen, das Geschirr zusammen zu räumen und danach durften sie gehen. Hierdurch wurde ein allgemeiner Aufbruch initiiert. Die Kinder erhielten noch alle schnell einen Apfel und dann fuhren sie gemeinsam ins nahe gelegene Schwimmbad. Das Abräumen des Geschirrs und das Reinigen der Tische übernahmen die Bezugspersonen. Um 14:00 Uhr verabschiedeten wir uns von Frau Becker und bedankten uns für die ausführlichen Informationen und für die geduldige Beantwortung unserer Fragen. Kinderladen Der Kinderladen befindet sich in frei-gemeinnütziger Trägerschaft und liegt innenstadtnah. Er wird von 19 Kindern zwischen 3 und 6 Jahren besucht und ist von 8 bis 16 Uhr geöffnet. Es arbeiten dort zum Zeitpunkt der Befragung fünf Bezugspersonen, davon drei in Teilzeit.
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... Die Zeit bis zum Mittagessen, welches um 13 Uhr stattfand, verbrachten wir mit den Kindern, die sich alle selbstständig beschäftigten. Die eine Hälfte der Kinder hatte ihren Turntag und kam erst kurz vor dem Essen zurück. Ein Teil der Bezugspersonen deckte die zu einer langen Tafel aneinander gereihten Tische im Gemeinschaftsraum mit bunten blumenförmigen Plastiktellern und Bechern. Es gab kein Besteck, da mit den Fingern gegessen wurde. Aus dem Menüplan im Eingangsbereich wurde ersichtlich, dass jeden Tag ein anderes Kind bzw. dessen Eltern für das Essen zuständig waren. Das ‚Kochkind’ an diesem Tag war Ira, deren Eltern Würstchen und Pommes mitgebracht hatten, was dann von den Bezugspersonen in der Küche warm gemacht wurde. Nachdem die Turngruppe wieder zurück war, wurden diese Kinder erst mal zum Händewaschen geschickt. Der Gong, der von einer Bezugsperson geschlagen wurde, läutete das Mittagessen ein und sofort stürmten alle Kinder auf den Tisch zu. Es gab keine feste Sitzordnung, nur das ‚Kochkind’ durfte sich aussuchen, wer neben ihm saß. Die Bezugspersonen taten den Kindern die Portionen auf den Teller und schenkten ihnen am Anfang auch Wasser ein. Später füllten die Kinder ihre Becher eigenständig wieder auf. Es gab kein gemeinsames Beginnritual, sondern jede/r fängt an zu essen, sobald er/sie ihr bzw. sein Essen hat. Wenn die Kinder nach einer Portion noch nicht satt sind, tun die Bezugspersonen ihnen Nachschlag auf. Diese kümmern sich auch darum, dass nichts am Tisch fehlt. Über die Handhabung von Missgeschicken können wir uns leider nicht äußern, da keine passiert sind. Die Bezugspersonen essen mit den Kindern an einem Tisch und fragen sie nach Geschichten oder Witzen, welche dann auch prompt mit großem Eifer zum Besten gegeben werden. Ansonsten unterhalten sich die Kinder kreuz und quer über den Tisch. Es gibt keine Benimmregeln: Mit vollem Mund sprechen, Teller ablecken und mit dem Essen spielen stört niemanden. Selbst die Bezugspersonen essen mit den Händen. Das ist nur ein Beispiel, was deutlich macht, dass Bezugspersonen und Kinder eine Gemeinschaft bilden. Es herrscht kein strenges Autoritätsverhältnis, sondern eine ungezwungene, entspannte Atmosphäre. Die Bezugspersonen greifen nur ein, wenn ein Kind die „Stopp-Regel“ missachtet. (Stopp-Regel: Wenn in einer zwischenmenschlichen Interaktion eine der beteiligten Parteien „stopp“ sagt, muss sofort damit aufgehört werden.) Die Kinder stehen auf, wenn sie fertig sind mit essen bzw. keinen Hunger mehr haben (Aufessen ist keine Pflicht) und widmen sich wieder ihrem Spiel. Es gibt demnach weder ein gemeinsames Abschlussritual noch andere Regeln oder Verpflichtungen. Das Einzige, das die Kinder tun, ist selbstständig ihr Geschirr auf den Wagen räumen. So ca. um 13:20 Uhr sind alle Kinder wieder mit Spielen beschäftigt und die Bezugspersonen beginnen mit dem Abräumen des restlichen Geschirrs und dem Abwischen des Tisches. Die Eltern kommen im Laufe des Tages vorbei und spülen. Um 13:45 Uhr ertönt erneut der Gong und die Kinder versam-
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meln sich wieder blitzartig am Tisch, wo sie zu guter Letzt ihren Nachtisch verspeisen (Eis am Stiel). Danach werden auch schon die Ersten abgeholt. Alles in allem waren es schöne, interessante Stunden, was hauptsächlich an der Offenheit und Ungezwungenheit der Kinder lag. Die familiäre Atmosphäre wurde durch die verhältnismäßig kleine Gruppe von 19 Kindern noch unterstützt. Überrascht waren wir auch über die große Selbstständigkeit der Kinder und das relativ reibungslose Zusammenleben, ohne dass ständig die Bezugspersonen eingreifen mussten. Zusammenfassung und Ausblick Aus der Gesamtheit der Ergebnisse, wie vor allem auch aus den Falldarstellungen, lässt sich die Vielfältigkeit ablesen, mit der in den Kindertagesstätten, in denen die Befragungen und Beobachtungen durchgeführt wurden, Essenssituationen gestaltet werden. Dies ist ein deutlicher Hinweis, dass das Gelingen einer Essenssituation stets durch den gesamten Kontext sowie die Rahmenbedingungen und konzeptionelle Überlegungen des Teams bestimmt wird. Vor diesem Hintergrund ist auch die Auswahl der Ergebnisse zu verstehen, die im Folgenden hervorgehoben werden. Ein wichtiger Aspekt bei der Gestaltung von Essenssituationen scheint die Unterstützung der Kinder durch die Bezugspersonen zu sein. Dies wurde durchgängig – also auch in den Hortgruppen – beobachtet. Pädagogische Arbeit ist gerade auch in Alltagssituationen bedeutsam. Hier werden Werte und Normen scheinbar nebenbei vermittelt. Das Verhalten von Bezugspersonen dient den Kindern zur Orientierung; ob diese dem Thema Essen eine große oder eher eine geringe Bedeutung beimessen, wird sich auf die Kinder und deren Umgang mit Essen auswirken. Viel Unterstützung bei den Tätigkeiten rund um das Essen muss nicht bedeuten, dass den Kindern keine Selbstständigkeit zugesprochen wird – es kann auch Ausdruck davon sein, dass die Mahlzeiten als wichtige Gemeinschaftserfahrung angesehen werden. Dies wird in vielen Einrichtungen durch gemeinsame Tätigkeiten für die Essensvorbereitung und ein Beginnritual unterstrichen. Um das Essen auch zu einer Alltagserfahrung werden zu lassen, die von allen positiv bewertet wird, versuchen viele Einrichtungen, die Kinder bei der Menüplanung mit einzubeziehen. Dies geschieht z.B. in der Gruppen- oder Kinderbesprechung oder mit Hilfe einer Meinungswand. Der Wunsch der Bezugspersonen, die Kinder auch an weiteren sinnvollen, das heißt vor allem von Erwachsenen ernst genommenen Tätigkeiten zu beteiligen, scheint im Alltag schwer umsetzbar zu sein. Diese Intention wurde vor allem bei den Änderungswünschen betont. Sowohl bei der Gestaltung der Mahlzeiten als auch bei den Regeln und deren Einhaltung fiel auf, wie abhängig diese von der Positionierung des Essens im Tagesablauf sind: Für viele Hortkinder bildet das Mittagessen den Anfang ihres Auf-
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enthalts in den Einrichtungen nach der Schule und ist somit eine Art ‘Willkommensgruß‘. Für Kindergartenkinder steht das Mittagessen dagegen als Fixpunkt inmitten der gemeinsam verbrachten Zeit. Deshalb ist nachvollziehbar, dass die müden Hortkinder trotz ihres höheren Alters zum Teil mehr Unterstützung durch die Bezugspersonen erhalten als die jüngeren Kinder. Auch zeigen die Bezugspersonen im Hort Verständnis für den gesteigerten Mitteilungsdrang und die spontanen Bedürfnisse der Kinder nach der Schule. Dies wäre eine Erklärung dafür, dass sie beim Sprechen mit vollem Mund seltener eingreifen als in den Kindergartengruppen. Weniger von der Situation als vielmehr vom Konzept mag es abhängen, wie die Bezugspersonen es bewerten, wenn Kinder ‘mit dem Essen spielen‘ oder ob sie ein bestimmtes kindliches Verhalten als ‘mit dem Essen spielen’ wahrnehmen. Weitgehende Einigkeit scheint darüber zu bestehen, dass Essen nicht ungenießbar gemacht werden soll. Dass die Kinder damit experimentieren, dem Essen auf dem Teller vor dem Verzehr eine andere Form geben oder – z.B. indem sie die Nahrungsmittel anfassen – neue sinnliche Erfahrungen machen, scheint jedoch in vielen Einrichtungen erlaubt zu sein. Manche Regeln, die so selbstverständlich erscheinen, dass sie einer Erwähnung nicht für wert gehalten werden, erwiesen sich in Einrichtungen, die von Kindern unterschiedlicher Herkunftskulturen besucht werden, durchaus nicht als selbstverständlich, sondern als gesellschaftlich-kulturelle Festlegungen, so z.B. das Essen mit Besteck statt mit den Fingern. Im Team der Bezugspersonen führen diese Erfahrungen regelmäßig zur erneuten Diskussion über den Umgang mit kulturspezifischen Normen und Regeln. Werden auch die Kinder in solche Überlegungen einbezogen, so kann ein wichtiger Schritt zum Abbau von Vorurteilen gegenüber fremden Sitten und Gebräuchen getan werden. Im Sinne einer interkulturellen Erziehung kann darüber hinaus das Kennenlernen und Probieren unbekannter Speisen aus verschiedenen Ländern zu einer Aufgeschlossenheit für Fremdes – auch über das Essen hinaus – führen und damit die Grundlage für gegenseitig bereichernden Kulturaustausch bilden. Zwei Aspekte wurden besonders häufig genannt, als die Befragten zum Abschluss des Interviews etwas benennen sollten, was sie aus der Erfahrung in der eigenen Einrichtung für andere als nachahmenswert empfehlen würden:
Frisches Kochen in eigener Küche Kein Essenszwang, Entscheidungsfreiheit der Kinder
Frisches Essen in eigener Küche zuzubereiten, kann als ein wichtiges Entwicklungsthema für Kinderbetreuungseinrichtungen gelten. Eine eigene Küche bietet Platz für eine besondere Beziehungs- und Arbeitsatmosphäre. Sie ermöglicht das Miteinbeziehen der Kinder in hauswirtschaftliche Tätigkeiten mit Ernstcharakter. Sie
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können sich so als nützliches Mitglied der Gemeinschaft erleben. Die eigene Küche schafft aber auch erst den Rahmen dafür, bei der Ernährung den Besonderheiten familiärer oder nationaler Traditionen, die die Kinder mitbringen, experimentellen Raum zu geben. Wenn Kinder bei der Essenszubereitung mithelfen, schafft dieses Gelegenheiten, Nahrungsmittel z.B. Gemüse, im ‘Originalzustand‘ und die Techniken der Zubereitung unmittelbar kennen zu lernen. Was muss man schälen, wie ist was essbar und was ist auch nicht essbar? Was schmeckt in welchem Zustand wie? Was ist gesund, was nahrhaft, welche Inhaltsstoffe haben einzelne Nahrungsmittel? Nebenbei werden Fingerfertigkeit und handwerkliche Geschicklichkeit trainiert. Kochen in einem geschützten Rahmen ist möglich; kindgerechter Umgang mit Küchengeräten ist erlernbar. Die Handlungskompetenz der Kinder wird erhöht, sie werden von Erwachsenen unabhängiger und erfahren Befriedigung und Bestätigung. Darüber hinaus kann Geschlechterrollenklischees entgegengewirkt werden, wenn Jungen und Mädchen gleichermaßen beteiligt werden. Kochen im Kindergarten bietet den Kindern die Möglichkeit, komplexe Zusammenhänge durch praktisches Tun und Miterleben begreifen zu lernen. Die Wunschformel „kein Essenszwang, Entscheidungsfreiheit der Kinder“ verweist schließlich auf pädagogische Kernfragen: die Balance zwischen kindlicher Freiheit und erwachsenem Halten. Wenn Kinder beim Essen zu nichts gezwungen werden, fördert dies ihre Eigenverantwortlichkeit und Selbstständigkeit in hohem Maß. Doch wie weit kann die Selbstbestimmung der Kinder beim Essen zugelassen werden? Wann sind doch erwachsene Eingriffe erforderlich? Wie kann trotz der Freiheit der Kinder sicher gestellt werden, dass sie lustvoll und mit Spaß zu ihren gemeinsamen Mahlzeiten gehen und das Vergnügen eines kollektiven Speisens erleben können? Hierzu ist Selbstreflexion der Fachkräfte notwendig, denn jede pädagogische Fachkraft begegnet in ihrem Kontakt mit dem Kind letztlich zwei Kindern: dem Kind in ihr selbst und dem Kind, welches vor ihr steht. Hat sie selbst als Kind Erniedrigungen beim Essen erfahren, so neigt sie dazu, an dem Kind vor ihr möglicherweise etwas wieder gut machen zu wollen. Dann fällt es ihr schwer, Grenzen zu setzen und Regeln einzufordern. Klarheit der Bezugspersonen, auch im Umgang mit Regeln und Grenzen, ist wichtig. Wenn Kinder Klarheit fühlen, nicht erleiden, gewinnen sie Orientierung. Damit bleibt die Gestaltung des Essens eine Gratwanderung zwischen zwei Polen. Ein von Erwachsenen garantierter sicherer Rahmen ist notwendig. Doch Kinder als eigenständige Persönlichkeiten mit ihren verschiedenen Bedürfnissen und Neigungen ernst zu nehmen, verbietet, Druck und Zwang beim Essen auszuüben, und erfordert, ihnen größtmögliche Eigenständigkeit und Selbstbestimmung zu ermöglichen. Denn was die Kinder jetzt erleben, wird die Grundlage dafür sein, was sie später als Erwachsene weitergeben können.
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Die von pädagogischen Fachkräften in Einrichtungen gestalteten tagtäglichen kleinen und großen Essenssituationen können Ausgangspunkte für Team- oder Supervisionsgespräche sein, denn wie diese Alltagssituationen auch immer verlaufen mögen, sie sagen etwas darüber, wie die Beziehung zu dem Kind oder den Kindern aussieht und wie ein pädagogisches Schlüsselthema bewältigt wird.
Weiterführende Literatur Audehm, Kathrin (2006): Erziehung bei Tisch. Zur sozialen Magie eines Familienrituals. (Diss.) Bildungsort Esstisch. Zur Bedeutung und Gestaltung des Essens in Familien, in Kindertagespflege und in Kindertagesstätten (2008). Frankfurt am Main (ifoebb Materialien. Band 7.) Demmer-Gaite, Eleonore; Dilfer, Andrea; Kallert, Heide; Wieners, Tanja (2004): Essen in Kinderbetreuungseinrichtungen. Ergebnisse aus Befragungen und Beobachtungen. Frankfurt am Main. (ifoebb Materialien Band 1.) Deutsche Gesellschaft für Ernährung e.V. (2000): Essen und Trinken in Tageseinrichtungen für Kinder. Ernährungsbericht 2000. Frankfurt am Main Friebertshäuser, Barbara (2004): Ritualforschung in der Erziehungswissenschaft. Konzeptionelle und forschungsstrategische Überlegungen. In: Wulf, Christoph; Zirfas, Jörg (Hrsg.): Innovation und Ritual. S. 29-45 Heinzel, Friederike (Hrsg.) (2000): Methoden der Kindheitsforschung. Ein Überblick über Forschungszusammenhänge zur kindlichen Perspektive. Weinheim, München Helmer, Maria (2001): „Vier Jahreszeiten“ oder: Weg mit dem Probierlöffel. In: Theorie und Praxis der Sozialpädagogik (TPS), Jahrgang 109, Heft 1, S. 32ff. Kallert, Heide; Meyer-Wehmann, Gudrun; Wieners, Tanja (2008): Bildungsort Esstisch. Zur Bedeutung und Gestaltung des Essens in Familien, in Kindertagespflege und in Kindertagesstätten (2008). Frankfurt am Main (ifoebb Materialien. Band 7.) Methfessel, Barbara (Hrsg.) (2002): Essen lehren – Essen lernen. Beiträge zur Diskussion und Praxis der Ernährungsbildung. 3. Auflage. Baltmannsweiler Rose, Lotte (2005): „Überfressene Kinder“ – Nachdenklichkeiten zur Ernährungs- und Gesundheitserziehung. In: Neue Praxis 2/2005, 19 – 43 Schöch, Gerhard (2000): Ernährungssituation in Kindertagesstätten: Die KindertagesstättenErnährungs-Situations-Studie „KESS“. In: DGE: Ernährungsbericht 2000. Deutsche Gesellschaft für Ernährung e.V., Frankfurt am Main. S. 97 – 114 Theorie und Praxis der Sozialpädagogik (TPS) (2008): Angerichtet: Essen in der Kita. Themenheft der Zeitschrift TPS. Jg. 116, Heft 1
Richtiges Kartoffelpüree, Urmohrrüben und Getränk nach Wahl. Überlegungen zum pädagogischen Gehalt des Essen-Gebens am Beispiel der Drogenberatung Bielefeld Melanie Plößer
Vorspeise Angebote der Essenversorgung drogenabhängiger Menschen sind fester Bestandteil einer akzeptanzorientierten Drogenarbeit. Angesichts der gesundheitlichen, psychischen und sozialen Beeinträchtigungen von Konsumenten und Konsumentinnen illegaler Drogen soll die Einrichtung von Cafés, in denen drogenabhängige Menschen gegen ein geringes Entgelt eine warme Mahlzeit zu sich nehmen können, zu einer Stabilisierung beitragen und das allgemeine Überleben sichern helfen. Dabei werden die vorgehaltenen Essensangebote in den Kontaktcafés als niedrigschwelliger Zugang zum Hilfesystem verstanden, durch den die Vermittlung in weitere Unterstützungsangebote angeregt wie auch eine individuelle Begleitung bei der Herauslösung aus der Drogenszene und der Abhängigkeit initiiert werden kann (vgl. Groenemeyer 1994). Darüber hinaus helfen die Cafés einer sozialen Desintegration vorzubeugen, und sie fungieren als Orte, an denen über dysfunktionale Gebrauchsmuster informiert und Hinweise zur Minimierung der Risiken bei intravenösem Konsum gegeben werden kann (vgl. etwa Schneider 1997, Stöver 1999). Das heißt, Essensangebote im Rahmen einer lebensweltorientierte Drogenarbeit zielen einerseits auf die leiblich-psychische Situation der Drogenkonsumenten und -konsumentinnen ab und sie verstehen sich andererseits als vertrauensbildende Maßnahme, mittels derer weiterführende pädagogische Kontakte und Interaktionen ermöglicht werden. Das Essensangebot in der Drogenberatung Bielefeld Die Drogenberatung Bielefeld hat sich in den 1970er Jahren als Verein gegründet und hält seitdem unterschiedlichste Angebote für Frauen und Männer vor, die illegale Drogen konsumieren. Neben niedrigschwelligen und akzeptanzorientierten Angeboten wird von dem Verein auch eine Vielzahl weiterer Hilfen für Konsumenten und Konsumentinnen illegaler Drogen wie Therapievermittlung, Prävention, Beratung, Substitutionsbegleitung sowie eine Therapieeinrichtung und Beschäftigungsprojekte vorgehalten. Aktuell betreibt die Drogenberatung e.V. auf der
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Grundlage des dezentralen Drogenhilfekonzeptes der Stadt Bielefeld zwei niedrigschwellige Kontaktcafés: das Café Impuls der Beratungsstelle in der AugustSchröderstraße, das an drei Tagen in der Woche ein warmes Mittagessen und zwei mal in der Woche ein Frühstück für drogenabhängige Menschen anbietet sowie das Café im niedrigschwelligen Drogenhilfezentrum in der Borsigstraße, das von Montag bis Freitag Frühstück und Mittagsessen vorhält. Eingerichtet wurden die niedrigschwelligen Angebote mit dem Ziel, die Lebenssituation der Menschen in der offenen Drogenszene, die durch vielfältige Beeinträchtigungen sowie durch Ausgrenzungs- und Stigmatisierungserfahrungen charakterisiert ist, zu verbessern und einen voraussetzungsarmen Zugang zum Hilfesystem zu eröffnen (vgl. Drogenberatung e. V. Bielefeld 2007). Aktuell nehmen täglich rund 50 drogenabhängige Männer und Frauen das Essensangebot im Drogenhilfezentrum wahr. Das in der Bielefelder Innenstadt gelegene Café Impuls gibt an seinen Öffnungstagen ebenfalls Essen an rund 50 drogenabhängige Menschen aus (vgl. ebenda). Beide Cafés ähneln von ihrer räumlichen Gestaltung (abgetrennte Küche, Thekenbereich) und ihrer Organisation der Essenszubereitung und Essensausgabe (z.B. wird das Essen an der Theke bestellt, bezahlt und abgeholt) herkömmlichen Restaurationsbetrieben. Konzeptionell versteht die Drogenberatung e.V. Bielefeld die niedrigschwelligen Essensangebote als lebenspraktische Hilfen und als Beiträge zur gesundheitlichen Grundversorgung, die unabhängig von einer Abstinenzmotivation darauf abzielen, die aktuelle Lebenssituation drogenabhängiger Menschen zu stabilisieren und ihrer Verelendung in der Szene entgegen zu wirken (vgl. Drogenberatung e.V. Bielefeld 2008). Ein fester Bestandteil des niedrigschwelligen Konzepts ist die Maxime, dass die Zubereitung und die Ausgabe der Mahlzeiten durch die in der Einrichtung tätigen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter erfolgt. Dadurch, dass die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in wechselndem Turnus für das Kochen und das Ausgeben des Essens zuständig sind, soll die Distanz zwischen Professionellen und Klientel verringert und die Kontaktaufnahme erleichtert werden (vgl. dazu auch Groenemeyer 1994; S. 70f.). Zum anderen gibt es den Anspruch, dass die verarbeiteten Produkte möglichst hochwertig sind und aus ökologischem Anbau stammen (dieses wird z.B. durch die enge Kooperation mit Biohöfen in der Umgebung organisiert). Darüber hinaus sollen die Speisen in ihrem Nährwert auf die besonderen Bedarfe drogenabhängiger Menschen abgestimmt sein. Die Frage, welche pädagogische Bedeutung das niedrigschwellige Angebot der Essensversorgung für drogenabhängige Menschen hat, bildete den Ausgangspunkt einer qualitativen Interviewstudie mit Klienten und Klientinnen der Drogenberatung Bielefeld e.V., die im November 2008 durchgeführt wurde. Vor dem Hintergrund der Annahme, dass „Mahlzeiten (…) vorrangig sozial und nicht biologisch bestimmt“ (Audehm 2007; S. 26) sind, interessierte im Rahmen der Studie die soziale Bestimmung der in der Drogenberatung Bielefeld angebotenen Mahlzeiten durch die Nutzer und Nutzerinnen. In den Interviews, die mit den Besuchern und Besu-
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cherinnen des Café Impuls durchgeführt wurden, stand deshalb die Frage nach der sozialpädagogischen Bedeutung der Essensangebote für die Klienten und Klientinnen im Fokus. Durch die Besonderheit, dass das Essen nicht von einem professionellen Koch oder einer professionellen Köchin, sondern von den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern zubereitet und ausgegeben wird, stellte sich auch die Frage nach den Auswirkungen dieser Konstellation für das Beziehungsverhältnis zwischen Klientel und Mitarbeiterteam. Darüber hinaus interessierte, ob und wie die konzeptionell verankerte Idee, ein „gutes“, weil biologisches und nahrhaftes Essen anzubieten, von den Nutzern und Nutzerinnen des Angebotes gedeutet wird. Anhand von drei Typisierungen werden Verständnisse und Nutzungsweisen des Essensangebots der Drogenberatung vorgestellt und hinsichtlich ihrer Bedeutsamkeit, ihrer Funktionen und pädagogischen Wirkungsweisen kommentiert1. Hauptgericht Katja: Essen als Normalisierungsmöglichkeit oder „Mein Lieblingsessen? Gehacktes halb und halb schön als Frikadellen, braune Soße, Blumenkohl und dazu kleine Kartöffelchen – aber von Oma gemacht“ Die 36-jährige Katja nimmt das Essensangebot in der Drogenberatung, insbesondere das Mittagessen im Café Impuls, regelmäßig wahr. In ihren Ausführungen weist Katja wiederholt drauf hin, dass ihr das Essensangebot gefällt: „Aber die Vielseitigkeit, die wir hier haben mit dem Essen so, ist also sehr… Ja, du siehst es selber mit dem Spinat zum Beispiel. Das sind so Sachen, wer macht sich von uns zu Hause Spinat? Oder wer macht sich selber die Arbeit mit Kartoffelpüree? Da nimmt man Fertig-Kartoffelpüree, schnell, wenn man alleine ist.“ Katja macht in Bezug auf das Essen eine Differenz auf: die zwischen einem Essen, das aufwendig und selbst gemacht ist und einem Essen, das unaufwendig ist und das man sich macht, wenn man allein ist. Diese Differenz wird im Laufe des Interviews weiter bestärkt: „Aber ich bin auch sehr oft krank und das Essen hier ist halt auch – jetzt wie mit dem Quark so (…). Wer macht sich denn bitte von uns Quark mit Himbeeren? 'Nen Quark, den mach ich mir auch schon mal aufs Brot, mit Nutella dann oder so, aber jetzt so mir großartig 'nen Quark anzurühren auch nicht.“ Dem Fertig-Kartoffelpüree und dem Joghurt stehen Speisen gegenüber, die für Katja „richtig“ sind: Speisen, die selbst gemacht sind, die vielseitig und aufwendig sind und für die Katja eine Wertschätzung einfordert: „Das ist richtiges Kartoffelpüree. Hast du den Stampfer eben nicht
1 Für die Hilfe bei der Planung des konkreten Forschungsvorgehens und der Diskussion der Interviewergebnisse danke ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Interkulturellen Kolloquiums und Mark Neidert. Mein weiterer Dank gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie den Klienten und Klientinnen der Drogenberatung Bielefeld. Mein besonderer Dank gilt Benedikt Sturzenhecker, der mit seinen konstruktiven Ideen und Kommentierungen den vorliegenden Text noch „nachgewürzt“ hat.
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gesehen? Nee? Soo ein Stampfer. Nee, nee, das haben die alles selber gemacht. Das, denke ich, sollte man auch zu schätzen wissen.“ Gerahmt wird die Differenz der Speisen durch die Markierung zweier Gruppen einem „wir“, (wer von uns?) als Gruppe der Konsumenten und Konsumentinnen illegaler Drogen und einem „die“, mithin die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Einrichtung, bzw. die jeweiligen Köche und Köchinnen. Das heißt, das aufwendige, selbst gemachte Essen wird durch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Einrichtung präsentiert – das schnelle, unaufwendige Essen steht für die Gruppe der drogenabhängigen Frauen und Männer. Durch diese Differenzsetzung wird das Essen von Katja sozial aufgeladen. Entworfen wird dabei ein Ideal des Essens, das an bürgerliche Essens-Vorstellungen (der „richtige“, selbst gemachte Kartoffelbrei) erinnert. Die symbolische Aufladung des selbst gemachten Essens als Inbegriff eines „normalen“ Lebens wird auch durch eine Schilderung aus Katjas Alltag gestützt. So wohnt Katja während der Zeit des Interviews vorübergehend bei ihrem Freund. Dieses Wohnverhältnis wird aber von den Vermietern nicht geduldet, so dass Katja wieder obdachlos zu werden droht. „Ja, Sonntag, da macht der W. (Katjas Freund, Anmerkung M.P.) mir Schmorbraten. Und dann in einer Woche muss er mich rausschmeißen, weil die Vermieter anklopfen.“ Der von ihrem Freund selbst zubereitete Schmorbraten nimmt in der Erzählung eine herausragende Stellung ein, weil mit ihm eine Differenz, ein Unterschied zu dem sonst von Wohnungslosigkeit und Unsicherheit geprägten Leben von Katja markiert wird. Der Schmorbraten symbolisiert Geborgenheit und erweist sich damit ebenso wie das selbst zubereitete Essen in der Drogenberatung als Möglichkeit der Normalisierung, genauer gesagt, als Möglichkeit auf der basalen Ebene des Essens Teil einer „normalen“ Gemeinschaft zu werden und die Erfahrungen der Ausgrenzung, des „Nicht-Normal-Seins“ als konstitutive Bestandteile der Lebenswelt drogenabhängiger Menschen bearbeiten zu können. Gerade durch die dramatische Konfrontation von „Schmorbraten“ (Geborgenheit) und „Rausschmeißen“ (Unsicherheit) wird der prekäre Charakter von Katjas Lebenssituation betont. Dieser prekären Situation gegenüber erscheint die Normalität des guten Essens („Schmorbraten“) als Gegenbild auf, als ein Zustand der ersehnt, aber schwer zu realisieren scheint. Im Interview mit Katja werden nun insbesondere zwei Strategien deutlich, mittels derer über das Essen eine Normalisierung angestrebt werden kann. Zum einen nutzt Katja die Möglichkeit der Distinktion innerhalb der Gruppe der Drogenabhängigen, indem sie auf Umgangweisen anderer Besucher und Besucherinnen mit dem in der Drogenberatung angebotenen Essen verweist und sich von diesen distanziert: „Es wird unwahrscheinlich viel für uns getan, und es kommt eigentlich wenig von uns zurück. Also die Undankbarkeit ist erkennbar schon, wenn du den Spülwagen siehst, dass das gar nicht irgendwie, noch nicht mal von den meisten irgendwie für gut befunden wird, die Gabel jetzt in das Dingen zu stellen, wo die Gabel reingehört für die Spülmaschine. Das schaffen die meisten noch nicht mal. Oder jetzt hier ihre Essensreste irgendwie zu entsorgen. Das ist schon ganz
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schön schade.“ Katja verweist auf normale Rituale, die sie mit dem Essen verbindet: Essenreste entsorgen, das Besteck wegräumen. Katja macht dabei eine Undankbarkeit im Umgang mit dem von der Drogenberatung angebotenen Essen aus. Sie findet die von ihr beobachteten Umgangsweisen anderer Besucher und Besucherinnen mit dem Essen „schade“ und distanziert sich von diesen. Mit der Forderung nach Einhaltung der Umgangsregeln wird mithin auch der Anspruch auf Dankbarkeit verbunden. Katjas Bewertung macht deutlich, dass zwischen Kochenden bzw. Fürsorgenden und Essenden bzw. Umsorgten idealerweise eine anerkennende Reziprozität hergestellt werden soll. Die mit dem Essen vermittelte Erfahrung von Sorge und Anerkennung gilt es durch Dankbarkeit und Befolgung der Aufräumrituale zurückzuerstatten. Und ist Katja zunächst noch Teil der Gruppe der Drogenabhängigen (für die „unwahrscheinlich viel getan wird“), stellt sie sich im Laufe der Schilderung durch die normative Bewertung der von ihr beobachteten Verhaltensweisen als Ausdruck von „Undankbarkeit“ als eine Person dar, die es schafft, die kulturell gültigen Essens-Regeln und auch die damit verbundenen „normalen“ Beziehungsregeln einzuhalten. Die zweite Möglichkeit über Essen eine Normalität herzustellen bietet sich für Katja neben der Praxis der Differenzierung innerhalb der Gruppe der Drogenabhängigen durch die Praxis der Konjunktion und zwar genauer durch die Vergemeinschaftung mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Einrichtung. Diese Praxis der Vergemeinschaftung wird für sie zum einen durch die konkrete Interaktion mit den kochenden Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen möglich: „Vor allen Dingen wenn du das jetzt so siehst (…), der A. (Sozialarbeiter im Café Impuls und Koch des Kartoffelpürees, Anmerkung M.P.) saß da. Ich sag ‚Du fauler Hund du. Jetzt setzt du dich auch noch hin und isst’. Ich sag so: ‚Du hast heute doch noch gar nichts getan’. (lacht) Jetzt stand er mir eben gegenüber. Der Große, der fährt auch Motorrad und ich bin früher auch Motorrad gefahren und daher hab ich irgendwie. … Aber mit den Leuten kann man immer Spaß haben in der Küche (…). Ja, ist schon sehr schön, 'ne familiäre Atmosphäre möchte ich mal sagen.“ Durch die Praxis des Kochens wird der Sozialarbeiter von Katja weniger als professioneller Berater denn als alltäglicher Gesprächspartner, als jemand mit ähnlichen Interessen und als jemand, mit dem Katja Spaß haben kann, wahrgenommen. Die Möglichkeit der Alltagskommunikation und die familiäre Atmosphäre werden von Katja als bedeutsame Qualitäten der Caféinteraktionen herausgestellt. Dabei können der Aufbau einer personalen Beziehung und das Anknüpfen an die alltägliche Lebenswelt als notwendige Voraussetzungen verstanden werden, vor deren Hintergrund eine Minimierung der Differenz zwischen Professionellen und Klientel und damit eine vertrauensvolle Beratungsinteraktion überhaupt erst entstehen kann (vgl. Fuhr 2003). Die Essenssituation im niedrigschwelligen Café präsentiert sich somit als geeignete Situation, in der das professionelle Verhältnis eine familiäre Komponente erhält – und das sicherlich nicht zuletzt auch deshalb, weil mit dem Setting der
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Essensversorgung an ein zentrales familiäres Muster, nämlich an das Familienritual des gemeinsamen Essens angeknüpft werden kann (vgl. Audehm 2007). Eine weitere Erfahrung von Gemeinsamkeit wird schließlich durch die gemeinsame Einverleibung der Speisen erzeugt: „Aber das sind so Sachen. Die essen halt mit uns. Die Security isst, und jeder isst von diesem Essen und irgendwie ist das auch so 'ne Gemeinsamkeit: Man sieht, wie das Essen auch nach oben geht (in die Etage, in der die Beratungsräume sind, Anmerkung M.P.). So, die L. (Mitarbeiterin, Anmerkung M.P.) holt sich was hoch, die C. (ehemalige Mitarbeiterin, Anmerkung M.P.) früher auch“. Dadurch, dass jede und jeder von dem Essen isst – „die da oben“ ebenso wie die „Security“ wird für Katja eine Gemeinschaft hergestellt, die über das Essen leiblich aneinander gebunden ist und dieselbe körperliche Erfahrung teilt. So kann die Differenz zwischen einem „wir“ (die Drogenabhängigen) und einem „die“ (die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen und das Wachpersonal) durch die gemeinsame Einverleibung der Mahlzeit minimiert bzw. kurzfristig außer Kraft gesetzt werden. Katrin Audehm (2007; S. 27) hat im Rahmen ihrer Untersuchungen festgestellt dass „in diesem körperlichen Aspekt gemeinsamer Mahlzeiten, der die individuellen Körper leibhaftig aneinander bindet und sowohl real zur Gemeinschaft transformiert als auch symbolisch transzendiert, (…) ein außerordentliches rituelles Potential begründet“ liegt. Das pädagogisch-rituelle Potential, auf das von Katja an dieser Stelle verwiesen wird, kann darin gesehen werden, dass über das niedrigschwellige Essensangebot die für drogenabhängige Menschen diskriminierende Erfahrung der „Andersheit“ und des „Nicht-Normal-Seins“ aktiv bearbeitet werden kann. Katja wird zum Teil der „normalen“ Kultur. Das, was sie isst, essen alle; sie unterscheidet sich nicht mehr von den anderen Gesellschaftsmitgliedern. „In gemeinsamen Mahlzeiten wird aus einer größtmöglichen körperlichen Differenz eine kollektive Versicherung geteilter Gemeinsamkeit“ (Audehm 2007; S. 27). Für Katja erweist sich damit das niedrigschwellige Angebot als Möglichkeit der Differenzbearbeitung, das heißt als Möglichkeit im Rahmen der kulturellen Praxis des Essens Normalität herzustellen und bestehende Differenzerfahrungen zu minimieren. Dabei ist es so, dass die Bearbeitung der Differenz durch das Essen in einem Kontext stattfindet, in dem die Differenz zwischen „den Drogenabhängigen“ und dem „Rest“ prägend ist und auch über das Essen nicht aufgelöst, sondern weiter markiert und symbolisiert („unser Essen“ – „das richtige Essen“) wird. Gleichwohl eröffnet sich mit dem gemeinsamen Essen für Katja eine Form der Differenzbearbeitung im Sinne einer Normalisierungsarbeit (vgl. Kleve 2003), die durch die von ihr profilierte Distinktion zu anderen Cafébesuchern, durch die Herstellung eines familiär bestimmten Verhältnisses zu den Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen und nicht zuletzt auch durch die Herstellung einer kollektiven Gemeinschaft durch die gemeinsame Einverleibung des Essens geleistet werden kann.
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Tom: Zum Gast werden – oder: „Frühstück nach Wahl“ Auch der 41 Jahre alte Tom ist regelmäßiger Besucher des Café Impuls. Insbesondere gefällt ihm die Möglichkeit im Café zu frühstücken. So weist Tom ausführlich auf die verschiedenen Angebote hin, die den Besuchern und Besucherinnen des Cafés morgens zu Wahl stehen: „Das Frühstück, also bestehend aus 'nem Brötchen, also zwei Hälften, die man denn halt nach Wahl belegen lassen kann, also meinetwegen eine Hälfte mit Käse, eine Hälfte mit Schinken. Und dann bekommt man das halt richtig auf einem Teller zurechtgemacht, also dass dann da eben zwei Scheiben Käse liegen, zwei Scheiben Schinken mit 'nem bisschen Garnitur, also Gurke oder Möhrchen noch dabei und ein kleines Schälchen mit Butter und dann halt ein Getränk nach Wahl dazu, also Kaffee, Tee, Kakao oder 'ne Cola und dazu noch ein Ei, also gekochtes Ei oder Rührei oder Spiegelei – je nachdem was du dann haben möchtest.“ Tom betont in seiner Beschreibung des Frühstückangebots die Möglichkeit zwischen unterschiedlichen Getränken und Speisen auswählen zu können. Durch diese Wahlmöglichkeit verschiebt sich sein Status weg von dem des Klienten hin zu dem des Gastes, zu einem, der ein Angebot präsentiert bekommt und der sich angesichts dieses Angebotes für eine bestimmte und dabei ganz individuell zusammengestellte Speise entscheiden kann. „Ja, von der Essenauswahl, das wird halt immer angeschlagen, also an der Tafel aufgeschrieben, was es halt zu Mittag gibt und dann weißt du halt, was auf dich zukommt. Und wenn du dann auch noch siehst, wer kocht, dann kannste auch von vorne herein abschätzen, wie das Essen schmecken wird.“ Neben der Möglichkeit der individuellen Auswahl der Speisen kann Tom auch über die Präsentation des Essenangebots und den Blick auf den jeweiligen Koch oder die jeweilige Köchin die Rolle des Gastes einnehmen, der seine Entscheidung vor dem Hintergrund einer Vielfalt von Möglichkeiten sicher und informiert treffen kann. Bestärkt in seiner Rolle des Gastes wird Tom auch durch die Art und Weise, wie ihm das Essen serviert wird: „Wenn man morgens hierhin kommt, und es ist halt nett zurecht gemacht und na dann holt man sich das halt an der Theke ab und setzt sich hin und dann gibt’s auch noch die jeweilige Tageszeitung dazu, also dass man sich dann so richtig einen schönen Frühstücksplatz zurecht machen kann.“ Die Bedeutung, die Tom der Möglichkeit das Essen zu wählen, zuspricht, findet sich auch in der Beschreibung seines Verhältnisses zu den Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen wieder, bzw. wird auf dieses übertragen „Ja, weil dadurch, dass die Sozialarbeiter das Essen machen, also jetzt nicht nur das Frühstück, sondern eben auch mittags kochen und die dann eben hinter der Theke beschäftigt sind, dass man die dadurch überhaupt erst kennen lernt, dass man weiß, wer arbeitet jetzt im Café und wer nicht, und dass man also sieht, wer ist jetzt Ansprechpartner und wer nicht. Ja also, die Theke ist halt schon ein wichtiger Kontaktkern innerhalb des Cafés.“ Die Tatsache, dass das Essen abwechselnd von den verschiedenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Drogenberatung zubereitet und ausgegeben wird, ermöglicht es Tom auch hier informiert zu sein und seine Wahl zu treffen. Ebenso wie beim Essen versteht sich Tom in der sozialpädagogischen Beziehung als Gast bzw. als Kunde, der die Sozialarbeiter und Sozialarbeite-
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rinnen zunächst unverbindlich und geschützt (nämlich als hinter der Theke beschäftigt) wahrnehmen und kennen lernen kann. Zugleich wird das soziale Verhältnis zwischen Tom und den Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen durch die Rahmung der Cafésituation als Dienstleistungsverhältnis beschrieben: „Weil dadurch, dass das eben ein Café ist, besteht ja eigentlich die Aufgabe nur darin eben die Klienten zu bedienen, sag ich jetzt mal so. Und wie in 'nem ganz normalen Café, ne? Mit 'nem bisschen mehr Aufmerksamkeit sogar. Dafür sind sie ja eben auch Sozialpädagogen und dass man einfach auch so 'ne etwas andere Vertrauensebene bekommt“. Soziale Arbeit, so könnte man mit Tom definieren, ist eine Dienstleistung, im Zuge derer der Gast erhält, was und wen er wählt und wünscht, mithin indem er bedient wird und diese Form des Bedient-Werdens sich durch eine bestimmte Qualität (das „bisschen mehr Aufmerksamkeit“) von einem „normalen“ Gasthaus unterscheidet. Ebenso wie bei Katja werden hier die Merkmale der Interaktion zwischen den Café-Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen als bedeutsame Voraussetzungen für ein Vertrauensverhältnis herausgestellt. Genauer: Über das Essen lernt Tom die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen nicht nur kennen, sondern er entscheidet angesichts der Zubereitung und der Darreichung des Essens auch über die pädagogische Qualität der jeweiligen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen: „Also, wenn man sieht, die geben sich Mühe mit dem Essenmachen, dann kann ich mich vielleicht auch mit irgendwelchen Problemen an die wenden und na ja, dann kann man vielleicht auch mal 'nen Termin für irgendein Gespräch ausmachen.“ Tom zieht mit dieser Aussage eine Parallele zwischen der Praxis des Essenmachens und der Praxis Sozialer Arbeit. Für ihn manifestiert sich in der Essenszubereitung eine Haltung, die man ihm als Gast gegenüber zeigt, eine Haltung, die sich durch „Mühe geben“ und „Aufmerksamkeit“ auszeichnet. Zugleich sieht Tom für die Soziale Arbeit eine Möglichkeit durch die Situation des Kochens eine bestimmte Haltung gegenüber ihren Kunden und Kundinnen zum Ausdruck bringen zu können. „Und ich denke mal für den Sozialarbeiter selber ist das auch ganz gut, wenn die für die Leute kochen. Wenn man das also sieht, dass die für ein Mittagessen 'ne gute Stunde, anderthalb beschäftigt sind und irgendwelches Gemüse klein schneiden und so, dass das Essen einfach mit ein bisschen Liebe gemacht ist und dass das dann bei den Leuten auch ganz gut ankommt, denk ich mir.“ Die Art und Weise, wie die Adressatinnen und Adressaten als Gäste des Cafés behandelt werden, wird für Tom zum Sinnbild für den Umgang auf einer pädagogisch-professionellen Ebene. So wird die Qualität, die Tom bei der Herstellung und Zubereitung des Essens wahrnehmen kann, als Indikator für die pädagogische Sorgfalt und Zuwendung im Umgang mit den Klienten und Klientinnen verstanden. Das Kochen wird zum Prüfstein, an dem der Wert der pädagogischen Beziehung gemessen wird. Man könnte mit Tom eine „pädagogische“ Gleichung aufmachen: Zeigen die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen Sorgfalt beim Essen machen, wird auch Fürsorge in der Beziehung zu ihren Klienten und Klientinnen möglich. Jörg Zirfas verwendet das Verhältnis von Gast und Gastgeber in Anlehnung an Derrida (1993) als Sinnbild für ein pädagogisches Verhältnis, das Bildung ermög-
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licht. Der Pädagoge, die Pädagogin ist als Gastgeber für den Educanden, die Educandin – hier den Klienten bzw. die Klientin – „radikal verantwortlich. Er erscheint insofern als ein Gastgeber der Bildung, der seinen Status dem Gast verdankt bzw. dem Haus der Gastlichkeit, in dem er den Zögling empfängt. Auch der Erzieher als Gastgeber ist also ein Gast, der in seinem Haus (der Bildung) empfangen wird und der sich dort in Frage gestellt sieht“ (Zirfas 2001a; S. 93). Genau dieses Verhältnis von Gast und Gastgeber wird in Toms Ausführungen beschrieben. In der Drogenberatung wird Tom als Gast empfangen; gleichzeitig verdanken die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ihren Gastgeberstatus Tom und seiner Prüfung des „GastGebens“. Zugleich wird diese Situation als notwendig für die Herstellung einer pädagogischen Beziehung und damit für die Ermöglichung von Bildung erachtet. Wie für Katja stellt das Essen für Tom eine niedrigschwellige Möglichkeit dar, sich auf die sozialpädagogische Beziehung einzulassen. Und während dieses bei Katja durch die Herstellung eines familiären Verhältnisses möglich wird, kann Tom sich durch das Essensangebot als Gast verstehen, als jemand der eine (helfende) Beziehung wählt, der bedient und mit einer bestimmten Aufmerksamkeit bedacht wird. Zugleich fungiert in beiden Fällen das Essen als eine Möglichkeit die Beziehung zwischen den Adressaten und den Adressatinnen der Drogenarbeit und den dort professionell Tätigen gemäß der je individuellen Bedürfnisse sozial rahmen und gestalten zu können. Mathias: Bildung als (Essens-)Gabe oder „Die haben mir die Urmohrrübe gegeben“ Der 36 Jahre alte Mathias nutzt das Essensangebot der Drogenberatung in unregelmäßigen Abständen. Auf die Frage, wie ihm das Essen in der Drogenberatung gefällt, verweist Mathias begeistert auf die Qualität der Produkte und Zutaten sowie auf die sorgfältige Zubereitung der Speisen. „Aufgefallen ist mir hier, ganz klar, dass die ganz tolle Zutaten verwenden in vielen Fällen. Also mir fällt immer auf, so die Urmohrrübe, die mehrfarbige, die man ja eigentlich gar nicht kennt. Und das finde ich ziemlich spannend, weil die viel Wert auf Qualität legen und, dass das einfach mit sehr viel Liebe zum Detail gemacht ist.“ Die Wahl der Zutaten, die Lagerung und Zubereitung der Produkte markieren für Mathias den Wert des Essens in der Drogenberatung. Diesen Wert hat Mathias auch im Rahmen eines einjährigen Therapieaufenthalts kennen und schätzen gelernt. Hier wurde das Essen in Demeter-Landwirtschaft angebaut, geerntet und selber verarbeitet. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen ist für Mathias die Art und Weise wichtig, wie Produkte angebaut und zubereitet werden. „Ja, ich bin mir sicher, dass es ganz viel ausmacht, wenn man Produkte isst oder Sachen isst, die ich sag mal liebevoll, ich sag mal in Anführungsstrichen ‚liebevoll’ hergerichtet oder auch liebevoll gezüchtet wurden.“ Ein wichtiges Kriterium stellt für ihn die „liebevolle“ Zubereitung der Speisen dar. Durch den Verweis auf die Anführungsstriche formuliert Mathias ein reflektiertes, d.h. ein sich des professionellen Settings bewusstes Verständnis von „liebevoll“.
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Gleichwohl zeigt sich in der Notwendigkeit der Markierung aber auch, wie nah die soziale Beziehung durch das Essen bzw. seiner Zubereitung „echter“ Liebe kommt. Ebenso wie Tom sieht also auch Mathias einen Zusammenhang zwischen der Art und Weise der Essenzubereitung, bzw. den Essenzutaten und der Gestaltung der pädagogischen Beziehung zu den Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen. Und während die Gestalt der Beziehung bei Tom die Gestalt eines Gastes oder eines Kunden annimmt, ist es bei Mathias das Prinzip des Gebens, das sich im Essen ausdrückt und zu einem allgemeinen pädagogischen Prinzip erhoben wird: „Und ich denke, das ist 'ne tolle Brücke, die die hier schlagen, dass die sagen ‚Hallo, wir kochen da selber, wir machen das, wir haben hier was zu geben. Also, wir hören hier nicht einfach nur zu, sondern wir möchten dir auch was geben’. Sicherlich ist Zuhören auch 'ne Form von Geben, aber ich finde es völlig o.k. so.“ Geben wird bei Mathias zum zentralen Prinzip erklärt, das die Beziehung zwischen den drogenabhängigen Besuchern und Besucherinnen und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Drogenberatung charakterisiert und sich in der Vorstellung vom Essen als Gabe manifestiert. Dabei ist es für Mathias wichtig, dass es sich um eine gute Gabe handelt, eine, die eine bestimmte Qualität hat (z.B. dadurch, dass das Essen liebevoll zubereitet wurde oder die Produkte hochwertig sind). Durch das Essen wird Mathias etwas gegeben und die Gabe des Essens „bewegt was, bewegt was positives“ für ihn. Die Gabe des Essens wird hier zum Anlass für Bildung und zum Anlass einer intensiveren Selbstsorge. In Anlehnung an Derrida weist Jörg Zirfas darauf hin, dass Pädagogik nicht als eine Form des Tauschs oder der Ökonomie verstanden werden kann, „sondern zunächst als Gabe zu betrachten ist“ (Zirfas 2001b; S. 58). So werde der Bildungsgehalt einer pädagogischen Beziehung dann fraglich, wenn ein intentionales Ergebnis erzielt oder eine bestimmte Einstellung, eine Antwort erreicht werden soll (vgl. ebenda). Für Mathias wird dieses nicht-intentionale, das keine Antwort wollende Geben in der Art und Weise erkannt, wie in der Drogenberatung das Essen gegeben wird. Dagegen kann das Zuhören als spezifisch-pädagogisch gerahmte Interaktionsform verstanden werden, die anders als das Essen, etwas wiederhaben will – nämlich z.B. die Rede von sich, eine Selbstklärung, eine Kompetenz o. ä.. Demgegenüber erweist sich die Gabe des Essens für Mathias als eine Bildungsmöglichkeit, die als solche offen bleibt, die sich gar nicht als Gabe wahrnimmt, die ihren internationalen Gestus vergisst und nichts erwartet – außer angenommen und „verspeist“ zu werden. Gerade dadurch kann das Essen der Drogenberatung bei Mathias zu einem Bildungserlebnis führen. „Es gibt doch diesen Spruch so, wenn du was Gutes in den Topf reinpackst, dann kannste auch was Gutes rausholen. Und das finde ich ziemlich richtig. Man kann was weitergeben, wenn man überhaupt weiß, dass es existiert und ich hab zum Beispiel die Urmohrrübe (lacht) erst kennen gelernt durch die Drogenberatung“ Für Mathias wird die Essens-Gabe der Drogenberatung durch eine bestimmte Qualität charakterisiert – nämlich die des gesunden, des ursprünglichen, des liebevoll angebauten und zubereiteten Essens. Mathias greift
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diese Werte über die Gabe des Essens für die Gestaltung seiner eigenen Lebensführung auf und entwickelt daraus eine Form der Selbstsorge (vgl. Foucault 1989). „Und ich finde das ganz schön, wie man jetzt hergehen kann und ein bisschen von dem, was du mitgenommen hast, gibst du weiter. Also sprich, dass wir nur noch selbst gemachten Honig essen, sprich, dass wir versuchen, viel zu kochen, ganz klar. Wir versuchen frisch einzukaufen, und ich habe auch 'ne ganz andere Einstellung zum Kochen gekriegt.“ Die Urmohrrübe, die guten und gesunden Produkte, die Liebe zum Detail fungieren als Impulsgeber dafür, wie Mathias mit seinem Körper und seinem Leben umgehen will. Durch das Essen wird Mathias zu einer Ästhetik der eigenen Existenz angeregt (vgl. Koller 2001; S. 45). Dabei wird die „Urmohrrübe, die mehrfarbige, die man ja eigentlich gar nicht kennt“ für Mathias zum Ausdruck für eine Ur-Vertrauen erzeugende ideal-utopische Nährsituation. Das, was man eigentlich gar nicht kennt: eine Fürsorge, die kein Rückerstattung will, die keine Forderungen stellt und das „Mehrfarbige“ zulässt – das wird in der Essenzubereitung für Mathias schmeckbar. Zugleich bleibt diese Nährsituation kein symbolisches Idealbild, sondern findet ihre Realisierung im Essen. Diese idealen Umgangsweisen mit dem Essen (der Anbau, die Lagerung, die Zubereitung und Versorgung) werden von Mathias zur Selbstbildung aufgegriffen. Das „gute“ Essen lässt sich damit als Bildungseröffnung verstehen, insofern „sich das Subjekt mithilfe bestimmter Praktiken Erfahrungen aussetzt, die geeignet sind, es in einer Weise zu transformieren, deren Resultate zu Beginn nicht absehbar sind“ (Koller 2001; S. 46). Nachtisch Die Analyse der Interviews mit den Nutzern und Nutzerinnen des Essensangebots der Drogenberatung Bielefeld e.V. hat gezeigt, dass das Essen für die Klienten und Klientinnen eine Möglichkeit bietet, die Beziehung zu den Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen – abhängig vom je individuellen Lebenskontext und den je eigenen Bedürfnissen – gestalten zu können. Für Katja erweist sich das Essen als Möglichkeit, ihr Verhältnis zu den Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen als familiäres zu rahmen; für Tom bietet es die Möglichkeit, sich als Gast, als jemand, für den man sich Mühe gibt, zu verstehen und bei Mathias eröffnet die Essens-Gabe die Erfahrung der Bildung und regt eine Ästhetik der eigenen Existenz an, die sich möglicherweise als hilfreich bei der Bewältigung der Drogenabhängigkeit erweisen kann. Zugleich verweisen die drei Beschreibungen auf die Möglichkeit Differenzen (z.B. die Differenz „Klientin/Klient“ versus „Sozialarbeiter/Sozialarbeiterin“, die Differenz „normales, bürgerliches Leben“ versus „unsicheres, anderes Leben“ und die Differenz „gesund“ versus „ungesund“), die die Lebenswelt „Drogenabhängigkeit“ markieren, für sich zu bearbeiten. Auch hier lassen sich wieder unterschiedliche Strategien der Bearbeitung feststellen: Bei Katja findet die Differenzbearbeitung in Form einer Normalisierungsarbeit statt. Das Essen stiftet eine Gemeinsamkeit zwischen den als unterschiedlich wahrgenommen Gruppen (Drogenabhängige, Sozial-
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Melanie Plößer
arbeiterinnen und Sozialarbeiter, Security). Und durch den normativ richtigen Umgang mit dem Essen kann Katja sich von denen abgrenzen, die diesen Umgang nicht (mehr) schaffen. Für Tom hingegen führt die Möglichkeit das Essen und damit auch die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen wählen zu können, zu einer Verschiebung seines Status. Tom wird zum Gast und das hierarchische Verhältnis wird für ihn aufgebrochen und zu einem egalitäreren verschoben, zu einem Verhältnis, in dem sich auch die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen beweisen und darstellen müssen – z.B. durch das Essen. Mathias hingegen nutzt das Essen, um die Differenz zwischen „gesund, gut, liebevoll“ und „ungesund, lieblos“ bearbeiten zu können und über die Praxis des guten Essens eine gute Lebenspraxis für sich zu entwickeln. „Erst kommt das Fressen und dann…?“ Die drei Interviews machen deutlich, dass das Essen nicht „erst“ kommt, sondern untrennbarer Teil einer sozialen Praxis ist, die – gerade aufgrund ihrer pädagogischen Nicht-Intentionalität – von den Nutzern und Nutzerinnen auf vielfältige Weise gedeutet, angeeignet und praktisch verhandelt werden kann. Gerade für Konsumenten und Konsumentinnen illegaler Drogen beinhalten niedrigschwellige Essensangebote – insbesondere wenn diese von den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern (wie in der Drogenberatung Bielefeld) auch als soziale Angebote verstanden und inszeniert werden – eine Vielzahl pädagogischer Anknüpfungspunkte und Potentiale: Essen kann für eine Normalisierungsarbeit angesichts von Ausgrenzungserfahrungen genutzt werden (Katja); Essen kann als Türöffner für ein anerkennendes Beratungsverhältnis fungieren (Tom) oder als Bildungsauslöser zur Ästhetisierung der eigenen Existenzweise anregen (Mathias). Somit kommt nicht „erst“ das Essen, sondern das Essen selbst zeigt sich auf vielfältigste Weise pädagogisch produktiv.
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Ernährungspolitik, Sozialpolitik, Gesundheitspolitik und Lustpolitik
Das Besser-Esser-Konzept. Schulessen, Ernährungsbildung und Regionalentwicklung Klaus Adamaschek
Einführung Die Meldungen sind bekannt: Unsere Kinder essen bekanntlich zuviel und das Falsche, sie werden durch belastete Lebensmittel schleichend vergiftet, und Medienüberflutung und passiver Lebensstil steigern die Bewegungslosigkeit. Es fehlt das Wissen über die Grundlagen der eigenen Ernährung, und es fehlen die Regulative einer sozialen Esskultur. Dennoch geschieht nichts wirklich Durchgreifendes. Die einen verfallen angesichts der vermuteten Übermacht von Burger, Döner und Co. gleich in lamentierende Tatenlosigkeit, die anderen reiben sich in vielen kleinen Pilotprojekten und Modellversuchen auf, ohne dass die wichtigen Ergebnisse bisher tatsächlich zum großen Wurf geführt haben. Dabei gäbe es vielversprechende Anknüpfungspunkte. In Deutschland entstehen Tag für Tag neue Ganztagsschulen, und all diese Schulen müssen ein angemessenes Verpflegungsangebot bereitstellen. Hier bietet sich doch eigentlich die große Chance, „pädagogischen Zugriff“ auf die Ernährungsverbesserung unserer Kinder zu erhalten. Ganztagsschulen könnten zum Vorreiter einer neuen Ernährungskultur werden. Der folgende Artikel berichtet von zwei Modellversuchen zum Schulessen. Ihre Botschaft ist einfach: Lösungsansätze für die Ernährungskrise unserer Kinder liegen in den Regionen selber. Schulen und Kindertagesstätten, aber auch die Landwirtschaft können von kleinen regionalen Kreisläufen profitieren, die nicht nur zu einer durchaus nennenswerten Wertschöpfung führen, sondern Kindern auch wieder eine lustvolle Ahnung von den Grundlagen ihrer Ernährung vermitteln. 1. Das Praxisbeispiel des Ökologischen Schullandheims Licherode Ausgangspunkt für die Entwicklung dieser alternativen Konzepte sind Erfahrungen aus der Praxis eines 15-jährigen Bildungsbetriebs und weit über 120.000 regionalbiologischen Verpflegungstagen an einem Umweltbildungszentrum in Nordhessen. Am Ökologischen Schullandheim und Tagungshaus im Dorf AlheimLicherode im Landkreis Hersfeld-Rotenburg verbringen alljährlich ca. 3.000 Kinder und 1.000 Lehrkräfte Umweltbildungswochen oder Seminartage. Licherode ver-
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wirklicht ein ganzheitlich ökologieorientiertes Grundkonzept unter bewusster Einbeziehung des regionalen Umfelds. Die 25 Arbeitsplätze, die das Projekt in den Bereichen Pädagogik, Hauswirtschaft, Verwaltung und Praktika bietet, wurden so weit wie möglich aus der Region besetzt. Hinzu kommt, dass die Küche des Schullandheims die Lebensmittel für die regional-vollwertige Verpflegung der Gästegruppen so weit wie möglich direkt bei Bio-Erzeugern der Region und bei Landwirten in und um Licherode bezieht. In Licherode haben seit 1995 ca. 40.000 Schulkinder Umweltbildungswochen verbracht. Lernort ist nicht das Klassenzimmer, sondern es sind Erlebnisorte wie Feuchtbiotope, Waldareale, Werkstätten und Bauernhöfe. Über 100, meist ehrenamtlich Tätige wie z. B. Revierförster, Landwirte, Handwerker, Künstler und Naturschützer unterstützen die Umweltpädagogen bei ihrer Arbeit. Die Expertise von Menschen mit besonderen Kenntnissen und Fähigkeiten wird somit ganz gezielt in die außerschulische Bildungsarbeit eingebunden. Licherode wurde von der UNESCO bereits dreimal als Projekt der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ ausgezeichnet. Unter den mittlerweile 13 Projektwochen, die Licherode für Schulen aller Schulformen ganzjährig anbietet, finden sich neben klassischen Umweltbildungsthemen wie Wald, Wasser oder Erneuerbare Energie auch zahlreiche Wochen, die sich mit gesunder Ernährung und Biolandbau befassen, so z. B. die Eierwoche, die Milchwoche oder die Fleischwoche. Doch egal, für welches Wochenthema sich die Schulklassen in Licherode entscheiden, das Thema Ernährung spielt ohnehin immer eine zentrale Rolle. Das Ernährungskonzept ist integraler Bestandteil des ganzheitlichen Ansatzes der Einrichtung und richtet sich nach folgenden Grundsätzen. Regionale und saisonale Aspekte Die Nahrungsmittel werden so weit wie möglich von Erzeugern der unmittelbaren Region bezogen. Die Kooperationspartner erklären sich im Gegenzug bereit, den Kindern Einblick in die Erzeugungsprozesse zu geben. Es werden zudem bevorzugt solche Produkte auf den Tisch gebracht, die die Region zu dieser Saison bietet bzw. die sinnvoll eingelagert werden können. Denn auch viele Eltern und Lehrer fragen sich mittlerweile mit Recht: Erdbeeren im November, Trauben im Februar – brauchen wir das wirklich? Biologische und ökologische Aspekte Die Nahrungsmittel werden so weit wie möglich von Erzeugern bezogen, die nach Bio-Richtlinien arbeiten. Im Blick hat Licherode dabei auch den so genannten „Ökologischen Rucksack“, der auch die Produktionsbedingungen und die Transportwege der Lebensmittel einbezieht. Bio-Produkte aus der Region und das gleiche Produkt aus einem anderen Erdteil sind zwar beides „bio“, aber dennoch trennt sie ökologisch ein himmelweiter Unterschied. Und so kann mitunter auch eine bewuss-
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te Entscheidung für verantwortungsvoll erzeugte konventionelle Nahrungsmittel aus der Region fallen. Der gesundheitliche Aspekt Dem gesundheitlichen Aspekt kommt besondere Bedeutung zu, vor allem natürlich durch eine ausgewogene Speiseplangestaltung. Aber auch mit dem Bio-Ansatz ist man unter gesundheitlichem Aspekt eher auf der sicheren Seite. Bio-Produkte weisen in Lebensmittel-Tests deutlich weniger Schadstoffe vor allem bei den Pestiziden auf. Bei verarbeiteten Produkten finden sich deutlich weniger Zusatzstoffe und weniger Farbstoffe, was gerade für Allergiker wichtig ist. Über das pädagogische Programm und natürlich die Lern- und Erlebnislandschaft „Unserland“ werden den Kindern zudem vielfältige Anreize zu Eigenaktivität und Bewegung geboten. Der pädagogische Aspekt Die Tagesmenüs werden von Hauswirtschafterinnen vorgestellt und erläutert. Bei den eintägigen Vorbereitungsseminaren werden auch die verantwortlichen Begleitlehrer auf die Bedeutung ihres Vorbildverhaltens eingestimmt. Möglichst oft werden die Kinder in Kleingruppen in die Zubereitung der Mahlzeiten einbezogen. Über vielfältige pädagogische Aktionen ist das Thema „Gesunde Ernährung“ fest in allen Licheröder Wochenprogrammen verankert. Bei Ernährungswochen stehen zudem spezielle Lernwerkstätten und Besuche bei den landwirtschaftlichen Kooperationspartnern auf dem Programm. Soziale und psychologische Aspekte Es wird auf soziale Rituale geachtet wie z. B. gemeinsame Mahlzeiten, feste Essenszeiten und verbindliche Tischregeln. Eingefahrene Essgewohnheiten kann man nicht mit einer einwöchigen „Öko-Körner-Kur“ aufbrechen. Ganz im Gegenteil laufen sie Gefahr, bei Eltern – und Kindern – das verbreitete negative Klischee von „Öko und Verzicht“ zu bestätigen. Auch gesunde und regional-biologische Verpflegung muss vor allem schmecken und Spaß machen, sie muss mit positiven Gemeinschafts- und individuellen Erfolgserlebnissen verknüpft werden, um emotional prägen zu können. Dieses alternative Ernährungs- bzw. Bildungskonzept ist nicht auf dem Papier entstanden, sondern hat sich im Verlaufe von fast 15 Jahren entwickelt. Dabei musste auch Licherode in den ersten Betriebsjahren einiges an Lehrgeld zahlen, aber das wäre ein eigenes Kapitel wert. 2. Das Pilotprojekt „Regional-biologische Schulverpflegung“ Das Licheröder Ernährungskonzept unterscheidet sich grundlegend vom Konzept vieler Schulen und Kindergärten, die auf industriell vorgefertigte Lebensmittel zu-
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rückgreifen, die in Großküchen erwärmt und zu kompletten Menüs zusammengestellt werden. Einrichtungen der Außer-Haus-Verpflegung kochen heute immer seltener selbst. Dies macht es kaum mehr möglich, die Beziehung zwischen einem landwirtschaftlichen Produkt und der Mahlzeit auf dem eigenen Teller herzustellen. Die Folge ist die viel beklagte Ahnungslosigkeit von Kindern, die oft keine Vorstellung haben, woher die Nudeln oder Eier aus dem Supermarkt überhaupt stammen. Diese Beziehungslosigkeit zu den eigenen Lebensgrundlagen und die fehlende Ernährungskompetenz werden die ohnehin schon beunruhigende Gesundheitssituation auf lange Sicht weiter verstärken. Diese Entwicklung ist auch dem Bundesernährungsministerium nicht verborgen geblieben, das 2003 über das Bundesprogramm Ökologischer Landbau (BÖL) bundesweit vier Modellprojekte initiiert hat. Es sollten Konzepte entwickelt werden, mit denen die Verwendung hochwertiger ökologischer Lebensmittel in Kindergarten- und Schulküchen sowie die Etablierung begleitender Lernangebote unterstützt werden können. Eines dieser vier Pilotprojekte ist das Modellvorhaben „Regional-biologische Schulverpflegung“, das das Umweltbildungszentrums Licherode gemeinsam mit der Uni Kassel im nordhessischen Schwalm-Eder-Kreis durchgeführt hat. In der zweieinhalbjährigen Laufzeit wurden regional angepasste Konzepte für die Versorgung, die Beratung und die pädagogische Betreuung von Ganztagsschulen entwickelt und in der Pilotregion realitätsnah erprobt. Der Fokus regionaler Wirtschaftskreisläufe Die Finanzierung des Forschungsvorhabens aus Mitteln eines Programms zur Förderung der Landwirtschaft ist nicht zufällig. In Deutschland entstehen Tag für Tag neue Ganztagsschulen, die allesamt ein angemessenes Verpflegungsangebot bereitstellen müssen. Hier wächst ein enormer Markt für die Anlieferung der Mahlzeiten, der entsprechend hart umkämpft ist. Und natürlich entsteht auch ein neuer Markt für landwirtschaftliche Produkte. Zentrale Aufgabe des Projekts war zu prüfen, wie weit dieser Markt auch für regional und biologisch verantwortliche Produkte genutzt werden kann. Im Klartext heißt das: Soll man den neuen Markt der Schulverpflegung den „Rundum-SorglosPaketen“ der Großcaterer überlassen, die ernährungsphysiologisch sicherlich korrekt zusammengestellt, aber ohne regionalen Bezug, mit einem prall gefüllten ökologischen Rucksack und meist ohne jeden pädagogischen Wert sind? Oder soll man die Chance nutzen, um kleine regionale Kreisläufe zu beleben, die eine regionale Wertschöpfung ermöglichen und Kindern wieder die Chance geben, die Herkunft und den Wert ihrer Lebensmittel unmittelbar zu erfahren? Das Grundkonzept für den Modellversuch war denkbar einfach und in drei Projektschritte unterteilt. Im ersten Schritt wurde erfasst, welche Lebensmittel die Region zu bieten hat und wie diese Produkte für Gemeinschaftsverpflegung genutzt
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werden können. Es stellte sich schnell heraus, dass es gerade im Biobereich durchaus Defizite im regionalen Angebot gibt, aber immerhin konnten z. B. Kartoffeln, Eier, Brot, einige Gemüsesorten und Fleisch relativ verlässlich bereitgestellt werden. Im Modellversuch im Schwalm-Eder-Kreis wurde mit 30 Cent Mehrkosten immerhin ein 50%-Anteil von regional und „bio“ erreicht. Im zweiten Schritt wurden regionale Großküchen gesucht (und gefunden), die bereit und in der Lage sind, als regionale Bio-Caterer Schulen und KiTas im Umkreis von ca. 30 km zu beliefern. Mit „Hephata“ in Schwalmstadt und der „Starthilfe“ in Homberg fiel die Wahl auf sozial-rehabilitative Einrichtungen, die neuen Konzepten offen gegenüber stehen und als Einrichtungen, die mit jungen, behinderten und benachteiligten Menschen arbeiten, auch anders kalkulieren können. Aber natürlich mussten auch diese neuen Partner durch gezielte Beratungsmaßnahmen erst für die neuen Herausforderungen fit gemacht werden. Im dritten Schritt ging es dann darum, das hochwertige und regionalbiologische Essen nun auch an den Schulen zu verankern. Das bedeutete zum Beispiel konkret, um Akzeptanz für den ca. 30 Cent teureren Preis zu werben. Vor allem aber ging es darum, die Chancen, die ein solches Essen für die Ernährungsbildung von Kindern bietet, konsequent zu nutzen und dauerhaft im Schulprogramm zu verankern. Koordiniert wurde die Arbeit von einer Projektsteuerungsgruppe, in die alle beteiligten Partner wie der Landkreis, die Uni Kassel, das Schulamt, das Kultusministerium und auch die Caterer eingebunden waren. Hier wurden grundlegende Fragen wie z. B. die angemessene Definition von „bio“ und „regional“ oder auch die Öffentlichkeitsarbeit diskutiert.1 Öko-Food löst noch immer Ängste aus Die Einführung einer regional-biologischen und gesunden Schulverpflegung an Ganztagsschulen scheitert häufig an mangelnder Akzeptanz und den Beharrungskräften im „System Schule“ selbst. Dies bestätigten auch die Interviews, die in der ersten Projektphase geführt wurden. Die Umstellung scheitert z. B. …
… an der Schulleitung bzw. den verantwortlichen Lehrkräften, die kleinen regionalen Kreisläufen eher skeptisch gegenüberstehen. Befürchtet werden zu hoher Organisationsaufwand, aufwändige Hygienemaßnahmen und unüberschaubare Kosten … an der Elternschaft, die das „Öko-Food“ mitunter recht ablehnend betrachtet. Endlos diskutiert wird über zu hohe Kosten; spürbar ist häufig auch die
1 Verantwortlich für die Projektumsetzung waren Dietmar Groß als Projektleiter von der Uni Kassel und der Autor, Leiter des Umweltbildungszentrums Licherode.
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Angst, sich zukünftig vor den eigenen Kindern für die „heimische Esskultur“ mit Mikrowelle und Pizza-Taxi rechtfertigen zu müssen … am Einfluss der „grauen Eminenz“ so mancher Schulgemeinde, nämlich dem Hausmeister, der um die sicheren Einnahmen aus Cola-Automat und Kiosk-Verkauf fürchtet … an den Schulkindern (und manchmal auch ihren Lehrkräften), die Angst vor vermeintlich fadem und freudlosem „Öko-Fraß“ haben. Die Anziehungskräfte von Cola und Fast Food werden häufig noch durch das freudlose Verzichtsimage der frühen Öko-Bewegung verstärkt.
Diesen tief verwurzelten und rational oft nicht begründbaren Vorurteilen und Hemmnissen kann man nur durch gezielte Maßnahmen an der jeweiligen Schule selbst entgegentreten. Eine Schule, die sich mit dem Gedanken trägt, regionalbiologische Verpflegung einzuführen oder darauf umzustellen, benötigt ganz konkrete Hilfestellungen. Gerade beim Thema „Gesunde und ökologische Schule“ gibt es an vielen Schulen sehr engagierte Einzelkämpfer, die oft auch eine Menge bewegen. Diese Kräfte muss man durch externe Unterstützung gezielt stärken, denn natürlich birgt das Einzelkämpfertum auch immer die Gefahr, sich im Kollegium aufzureiben. Die ganze Schule mitnehmen Aber kann man die heutigen Kinder (und ihre Eltern) überhaupt noch für ein gesundes und regional-biologisches Mittagessen gewinnen? Sind die Vorbehalte der Fast-Food-Generation gegenüber fadem und freudlosem „Öko-Fraß“ nicht unüberwindbar groß? Und wie kann man das Thema „Gesunde Ernährung“ dauerhaft im Schulleben verankern? Aufbauend auf den positiven Erfahrungen am Ökologischen Schullandheim hat ein Licheröder Projektteam in Kooperation mit dem Amt für Lehrerbildung die Aufgabe übernommen, ausgewählte Modellschulen im Schwalm-Eder-Kreis zu begleiten. Der Projektansatz zielte darauf ab, an Schulen mit Ganztagsangeboten ein grundlegend positives Klima für die Einführung einer gesundheits-orientierten Schulverpflegung zu schaffen. Mit einem ganzen Bündel abgestimmter Maßnahmen wurde versucht, die „ganze Schulgemeinde“ auf den Weg zu einer anderen Schulverpflegung einzustimmen. Neben dem Transfer von theoretischem Wissen und praktischen Erfahrungen waren hier vor allem Methoden der vorbereitenden Sensibilisierung von Schulkindern, Eltern und Lehrern gefragt. Wie kann man Kinder, Eltern und Kollegen für die Umstellung gewinnen, wie kann ich vor allem die Skeptiker „mitnehmen“? Herausgekommen ist dabei das so genannte „Besser-Esser-Konzept“, das u. a. Fortbildungsveranstaltungen für das Kollegium, Informationsabende für die Eltern
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sowie betriebswirtschaftliche und hauswirtschaftliche Beratungsangebote für Schulleitung und Küche umfasst. Pädagogisches Kernstück ist eine Projektwoche zu den Themen gesunde Ernährung und ökologischer Landbau, die so genannte „BesserEsser-Woche“, die im dritten Kapitel näher vorgestellt wird. Einige Beispiele aus der Arbeit an Schulen Von der Schulverwaltung des Schwalm-Eder-Kreises war die Eckhard-VonholdtSchule in Schwalmstadt als erste Modellschule empfohlen worden. Nach zahlreichen Vorgesprächen, Konferenzen und Präsentationen konnten Lehrerkollegium, Elternbeirat und Schulkonferenz für das Projekt gewonnen werden. In der Zeit von März 2004 bis Januar 2005 hat das Projektteam aus Licherode die „Besser-Esser-Woche“ dann mit insgesamt sieben Schulklassen unter wechselnden Bedingungen durchgeführt. Um sicherzustellen, dass das Konzept auch nach der externen Betreuung einen festen Platz im Schulprogramm findet, wurden gemeinsam mit dem Amt für Lehrerbildung offizielle Fortbildungsveranstaltungen für das gesamte Kollegium der Schule u. a. in Licherode durchgeführt. Zur Einbindung der Eltern wurden mehrere Elternabende veranstaltet, die jedoch nur auf geringe Resonanz trafen. Gut besucht wurde demgegenüber ein Schulfest zum Thema „Gesunde Ernährung und Bewegung“. Die positive und offensive Kommunikation über Rundbriefe u. ä. hat wohl mit dazu beigetragen, dass die anstehenden Preiserhöhungen von den Eltern ohne Widerspruch akzeptiert wurden. Das an der Eckhard-Vonholdt-Schule erstmals eingesetzte Maßnahmenpaket zur pädagogischen Absicherung einer regional-biologischen Schulverpflegung wurde dann an weiteren Schulen des Kreises erprobt und optimiert. Dabei wurde der Fokus insbesondere auf die Auswirkungen geänderter Rahmenbedingungen (Altersgruppe, Organisationsform etc.) gelegt. Die Erfahrungen mit dieser umfassenden Schulbetreuung waren überaus positiv: Schulleitung, Lehrkräfte, Caterer und Küche sind enger zusammengerückt, und die Eltern waren sogar bereit, einen verträglichen Mehrpreis für die regionale Biokost zu akzeptieren. Es wurde deutlich, dass ein prozessorientiertes Kommunikationskonzept nachhaltiger wirkt als punktuelle und kurzfristige Maßnahmen. Als besonders hilfreiche Instrumente haben sich dabei verschiedene projektbegleitende Arbeitsgruppen erwiesen: In einer schulinternen Steuergruppe halfen Lehrkräfte und Schulleitung dem Beratungsteam, das Licheröder Konzept den tatsächlichen Gegebenheiten der jeweiligen Schule anzupassen. Und in einer „Koop-AG“ diskutierten die „Lehrenden“ (Schulleitung und Lehrkräfte) mitunter sehr lebhaft mit den „Kochenden“ (Caterer und Köchinnen) über konkrete Fragen des Versorgungskonzepts und der Speiseplangestaltung. Ohne die gegenseitige Wertschätzung der Kompetenzen pädagogischer und hauswirtschaftlicher Fachkräfte kann gesunde Schulverpflegung nicht funktionieren. Wenn wir Ernährungsbil-
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dung als schulische Zukunftsaufgabe ernst nehmen, brauchen unsere Schulen eine Renaissance der Hauswirtschaft.2 3. Die „Besser-Esser-Woche“ als pädagogisches Kernstück Als pädagogisches Kernstück wurde im Rahmen des Projekts „Regional-biologische Schulverpflegung“ eine kompakte Projektwoche entwickelt, die die Themen gesunde Ernährung und ökologische Landwirtschaft handlungsorientiert miteinander verbindet.3 Diese „Besser-Esser-Woche“, die mit dem kindgerechten Zertifikat „Besser-Esser-Pass“ abschließt, wurde im Rahmen des Projekts „Lernende Regionen Hersfeld-Rotenburg/Werra-Meißner“ an zahlreichen weiteren Schulen fortentwickelt und lässt sich unter bestimmten Bedingungen auch an Schulen ohne Mittagsverpflegung sinnvoll einbinden. Dabei muss aber klar gestellt werden, dass die Projektwoche nur ein Bestandteil eines umfassenden Gesamtkonzepts zur Stützung des Themas „Gesunde Ernährung“ sein kann. Bei der „Besser-Esser-Woche“ geht es um gesunde Ernährung, regionale Landwirtschaft und biologischen Landbau – und zwar erfahrungsbezogen und mit allen Sinnen. Die Kinder erleben konkret Orte ökologischer und ernährungswirtschaftlicher Kreisläufe, vollziehen vernetztes Denken, und ganz nebenbei erlernen sie auch wieder verloren gegangene Alltagskompetenzen. Es handelt sich dabei um eine klassische Projektwoche, bei der ein Tag auf dem anderen aufbaut: Tag 1: Die Lernwerkstatt Ernährung – Einstieg mit allen Sinnen Die Schüler bearbeiten in Kleingruppen zehn unterschiedliche Stationen zum Thema Ernährung. Wer „erschmeckt“ Brotsorten mit verbundenen Augen? Wie viele Stück Würfelzucker sind in Cola, Ketchup und Fruchtzwergen? Wer kann Gewürze am Geruch bestimmen? Es wird getastet, gefühlt, geschmeckt und gerochen … und jeder kann sich sein eigenes Bio-Pausen-Brötchen zubereiten. Mindestens genauso wichtig wie die handlungsorientierten Stationen ist die ausgiebige Nachbesprechung im Anschluss an die Stationsarbeit.
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Die Ergebnisse des Projekts „Regional-biologische Schulverpflegung“ im Schwalm-Eder-Kreis und drei weiterer Forschungsprojekte in Berlin, Hamburg und im Rhein-Main-Gebiet wurden vom Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (BMVEL) in der Broschüre „Mehr Bio ist machbar“ publiziert. Sie bietet einen praxisorientierten Leitfaden für alle Fragen rund um eine gesunde und regional-biologische Gemeinschaftsverpflegung an Schulen und Kindertagesstätten. 3 Entwickelt wurde diese Modellwoche vom Licheröder Umweltpädagogen und Dipl. Agr. Ingenieur Johannes Lutz und seinem Team. Eine DVD, die eine exemplarische Projektwoche dokumentiert, ist über das Umweltbildungszentrum Licherode zu beziehen. Bei der Evaluation des Konzepts besteht eine enge Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Angelika Plöger, Fachbereich Ökologische Agrarwissenschaften an der Uni Kassel und mit Prof. Dr. Barbara Freytag-Leyer vom Fachbereich Oecotrophologie an der Hochschule Fulda.
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Tag 2: Der Besuch auf dem Biohof – Biolandbau aus erster Hand Einen Vormittag lang erkunden die Kinder einen Biohof, der zu den Zulieferern der Schulküche oder des Öko-Caterers gehört. Hier lernen sie die Menschen persönlich kennen, die wertvolle Lebensmittel für die Schulküche produzieren. Die Klassen werden in vier Gruppen aufgeteilt und gehen dem ökologischen Landbau auf die Spur – nicht nur durch Zuschauen, sondern auch durch eigenes Mitanpacken. Es wird Getreide mit der Hand gemahlen, die Schweine werden gefüttert, es wird je nach Jahreszeit eingesät, pikiert und natürlich auch geerntet. Und in der „Lernwerkstatt Ökolandbau“ erfahren die Schüler Wissenswertes und Spannendes über ökologische Landwirtschaft und ihre Erzeugnisse. Tag 3: Gemeinsam kochen und gemeinsam genießen Unter fachlicher Anleitung wird in der Schulküche Gemüse geschnibbelt und Salat geputzt, es wird gebrutzelt und gekocht, und dabei möglichst viel von dem verarbeitet, was am Vortag auf dem Biohof selber geerntet wurde. So schließt sich ein kleiner exemplarischer Kreislauf von der Ur-Produktion bis in die Schulkantine. Und hier leistet jeder seinen eigenen Beitrag, egal ob beim Kochen, beim Dekorieren oder beim Eindecken. Und schließlich wird das schmackhafte Menü natürlich auch gemeinsam genossen. Tag 4: Auswerten, diskutieren, präsentieren Der vierte Tag dient der Auswertung, dem vertiefenden Gespräch und der Erarbeitung einer eigenen Präsentation in Gruppenarbeit. Dem Alter angemessen wird das bisher Erlebte und Erlernte diskutiert und auf eigene Zusammenhänge übertragen. Beispiele für konkrete Aufgabenstellungen sind Dokumentationen und Ausstellungen zur Projektwoche, die Gestaltung von Speiseplänen für die Schulkantine, Vorschläge für das Sortiment des Schulkiosk, Bio-Dekoration der Cafeteria oder auch Umfragen bei Mitschülern und Lehrern zum Thema regionale Biokost. Tag 5: Der „Besser-Esser-Pass“ – verdiente Anerkennung und Belohnung Am letzten Tag der Projektwoche werden die Ergebnisse der Gruppenarbeiten vorgestellt, und die Projektwoche wird in einem zusammenfassenden Abschlussgespräch vertieft. Schließlich erhalten die Schülerinnen und Schüler in einer Feierstunde ihr ganz offizielles Zertifikat, den „Besser-Esser-Pass“, der nicht nur vom Umweltpädagogen und Schulleiter unterzeichnet ist, sondern auch das Logo des Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft trägt. Die Inhalte der Woche und bei älteren Kindern auch die individuellen Leistungen werden im Zertifikat dargestellt. Die Ergebnisse an solchen Schulen, die dauerhaft mit dem „Besser-EsserKonzept“ arbeiten, sind ermutigend. So wird die „Besser-Esser-Woche“ z. B. an der Eckhard-Vonholdt-Schule mittlerweile eigenständig mit allen dritten Klassen durch-
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geführt, der „Besser-Esser-Pass“ hat wie ein Freischwimmer-Zeugnis seinen festen Platz im Schulleben gefunden. Andere Schulen wie z. B. die Georg-August-ZinnSchule im nordhessischen Morschen haben sich angeschlossen. Entscheidend für den Erfolg des Konzepts ist die dauerhafte Verankerung dieses Instruments im Schulprogramm und vor allem im alltäglichen Schulleben. Dies hat auch das Hessische Kultusministerium erkannt und fördert diesen Ansatz mit sanftem institutionellem Druck. So ist das „Besser-Esser-Konzept“ als Baustein zur Zertifizierung als gesundheitsfördernde Schule anerkannt. Gemeinsam mit dem Amt für Lehrerbildung bietet das Umweltbildungszentrum Licherode Seminare und Workshops zum „Besser-Esser-Konzept“ an. Und um den Anreiz für hessische Lehrkräfte zu erhöhen, ist die Durchführung der „Besser-Esser-Wochen“ in Licherode als offizielle Lehrerbildung akkreditiert. 4. Ernährungsbildung als Leitbild der Regionalentwicklung – Weiterentwicklungen der Pilotphase Das Pilotprojekt im Schwalm-Eder-Kreis ist ein Erfolg: Das Thema „Regional und Bio für die Schulküche“ ist dort heute in vieler Munde; Engagement und Kooperationsbereitschaft sind auch bei anfangs eher zurückhaltenden Prozessbeteiligten spürbar angestiegen. Aber natürlich sind auch viele Fragen offen geblieben: Wie kann man die Beratungsleistungen dauerhaft personell und finanziell absichern? Kann der Schulträger über Vergaberichtlinien auf die gesundheitliche, pädagogische und soziale Qualität von Schulverpflegung Einfluss nehmen? Mit welchen Strukturen kann für eine dauerhafte Verstetigung des Projektansatzes in der Region gesorgt werden? Vor einer flächenhaften Verbreitung des Konzepts ist es daher sicherlich sinnvoll, den Projektansatz gezielt zu erweitern, um die Frage nach den „Erfolgsfaktoren“ für eine Übertragung auf andere Regionen beantworten zu können. Für einen solchen erweiterten Modellversuch gibt es zurzeit sehr konkrete Planungen in der Region Hersfeld-Rotenburg, die unmittelbar an den Schwalm-EderKreis angrenzt. Legt man diese beiden nordhessischen Flächenlandkreise zusammen, ergibt sich eine Fläche von über 2.500 qkm, die dann tatsächlich so groß ist wie das Bundesland Saarland. In einem solch umfassenden Cluster ließen sich auch im Bereich der Produktion, der Logistik, aber auch der Öffentlichkeitsarbeit greifbare Synergieeffekte erzielen. Erfreulich ist, dass in dieser Region nicht nur Pädagogen, Oecotrophologen und Sozialwissenschaftler das Thema für sich entdeckt haben, sondern dass sich neue Koalitionen mit neuen Akteuren insbesondere aus dem Bereich der Regionalentwicklung gebildet haben. So ist das Projekt „Regional-biologische und gesunde Schulverpflegung“ als eines der zentralen Leuchtturmprojekte im regionalen Entwicklungskonzept der Region Hersfeld-Rotenburg aufgeführt, das unter Beteiligung vieler relevanten gesellschaftlichen Kräfte erarbeitet wurde.
Das Besser-Esser-Konzept
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Und so könnte das erweiterte Pilotprojekt dann auch aus dem EU-Programm Leader+ mitfinanziert werden, aus dem normalerweise eher Struktur fördernde Maßnahmen in Bereichen wie Landwirtschaft, Tourismus oder Regionalkultur gefördert werden. Praxisnahe Ernährungsbildung für unsere Kinder, natürlich verknüpft mit der Stärkung regionaler Wertschöpfungsketten, als Leitbild und Fördergegenstand der Regionalentwicklung – das wäre sicherlich eine ebenso erfreuliche wie sinnvolle Entwicklung. In der Region Hersfeld-Rotenburg steht das Thema Schulverpflegung für viele zukünftige Ganztagsschulen ganz aktuell auf der Tagesordnung. Die dortigen Richtlinien zur Mittagsverpflegung sehen bereits heute vor, dass zur Zubereitung der Speisen nach Möglichkeit Produkte aus ökologischer und regionaler Erzeugung verwendet werden sollen. Aber ob und wie diese sinnvolle Vorgabe in der Praxis tatsächlich umzusetzen ist, das muss den vielen Skeptikern aus den Reihen der Schulleitungen, der Lehrerkollegien und der Elternschaft erst noch belegt werden. Zu einem Kernstück der erweiterten Pilotphase gehört der Aufbau eines „regionalen Kompetenzteams für gesunde Ernährung an Schulen“. Dieses soll, ähnlich wie das Projektteam aus Licherode in der Pilotphase, umstellungsbereite Schulen fachlich und organisatorisch beraten und auch mit pädagogischen Aktionen im Unterricht, im Schulraum, auf dem Bauernhof und in der Schulküche unterstützend begleiten. Das Konzept zielt darauf, außerschulische Kompetenzen aus den Bereichen Landwirtschaft und Ernährung stärker als bisher in die schulische Ernährungsbildung einzubeziehen. Perspektivisch bietet sich auch die Chance, neue und sinnvolle Betätigungsfelder für Fachkräfte aus Bereichen wie Agrarwissenschaften, Umweltpädagogik, Hauswirtschaft oder Oecotrophologie zu erschließen. Zudem soll eine Regionale Plattform für Gesunde Ernährung initiiert werden, die dann auch Mitverantwortung für die Verstetigung und dauerhafte Finanzierung des Projekts übernimmt. Für die erweiterte Pilotphase wären, aufbauend auf den bisherigen Erfahrungen, folgende Handlungsschritte sinnvoll: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Aufbau eines regionalen Kompetenzteams Aufbau regionaler Versorgungsstrukturen Intensive Begleitung und Beratung der Modellschulen Dauerhafte Stärkung schulinterner Kompetenzen Konstruktive Revision der Richtlinien des Schulträgers Aufbau einer Regionalen Plattform Gesunde Ernährung
Bei der Diskussion über die Finanzierung solcher Konzepte muss eines völlig klar sein: Lässt man die Schulen in der Verpflegungsfrage mit ihrem hohen Entscheidungsdruck und ohne fachlichen Rat allein, muss man davon ausgehen, dass sich viele für bequeme, einfache und vermeintlich billige Lösungen entscheiden, die
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Klaus Adamaschek
jedoch gesundheitlichen und pädagogischen Intentionen oft massiv widersprechen – und das kostet auf lange Sicht weit mehr. Und zum guten Schluss eine konkrete Vision Zum Schluss sei ein kurzer visionärer Ausblick erlaubt, denn nur der Blick auf das Ideal ermöglicht es, sich aus festgefahrenem Denken zu lösen: Fünf Ganztagsschulen und evtl. einige Kindertagesstätten schließen sich zu einem regionalen „Cluster“ zusammen. Versorgt werden diese Schulen von einer regionalen Großküche, die nach einer entsprechenden fachlichen Beratung kindgerecht und gesund kocht und die Lebensmittel zu einem hohen Prozentsatz bei biologisch wirtschaftenden Landwirten der Region bezieht. Einer dieser Landwirte betreibt einen Lernbauernhof, der von den umliegenden Schulen regelmäßig genutzt wird, vor allem wenn die alljährlichen „Besser-Esser-Wochen“ durchgeführt werden. Für die Umsetzung der pädagogischen und kommunikativen Maßnahmen steht den fünf Schulen ein regionales Beratungsteam zur Seite. Die Eltern werden über diese Aktivitäten der Schule nicht nur informiert, sondern sie werden aktiv einbezogen. So bietet die Schule z. B. einen nachmittäglichen Kochclub, bei dem Kinder gemeinsam mit ihren Eltern und den Fachkräften Rezepte aus der regional-biologischen Schulküche ausprobieren. Die Lehrkräfte der Schule begleiten diesen Prozess aktiv und stützend. Sie nehmen regelmäßig an qualifizierten Fortbildungen teil und sind sich daher über die gesundheitliche, die pädagogische und die soziale Dimension der Schulverpflegung im Klaren. Ernährungsbildung wird als Fächer übergreifende Querschnittsaufgabe begriffen, das eigene Vorbildverhalten der Lehrkräfte ist eine Selbstverständlichkeit. Und die Kinder? Denen macht das neue Konzept ihrer Schule viel Freude, denn das gesunde Schulessen schmeckt richtig gut und die spannenden Unterrichtsaktionen dazu machen sogar Spaß. Was in der Konsequenz dann auch ihr langfristiges Verhalten und auch ihre Gesundheit beeinflusst. Warum sollte man sich nicht auch mal seinen Träumen hingeben?
Von der Ernährungskrise zur Ernährungsrevolution – Wenn der Fernsehkoch Jamie Oliver Sozialpolitik macht Kathrin Ottovay/Friedrich Schorb
Schulessen hat in Großbritannien eine lange Tradition. Die Versorgung der Schüler mit einer vollwertigen Mahlzeit war traditionell eine der wichtigsten Forderungen der Arbeiterklasse. Ihre Kinder sollten weder in Lumpen gekleidet – daher die Schuluniformen – noch mit knurrendem Magen die Schulbank drücken müssen. Nach dem Wahlsieg der konservativen „Tories“ 1979 zerschlug die neue Regierung unter Führung Margret Thatchers zwar erfolgreich die starken britischen Gewerkschaften, privatisierte Schlüsselindustrien wie die Werften, die Kohleförderung oder die Stahlerzeugung. Doch an einige Ikonen des britischen Sozialstaates wagte sich auch die „Eiserne Lady“ nicht. Dazu gehörte neben dem staatlichen Gesundheitsdienst, dem National Health Service (NHS), auch das Schulessen. Der Grund für Thatchers Zurückhaltung lag in Erfahrungen, die sie zu Beginn ihrer Amtszeit machen musste. Als eine ihrer ersten Amtshandlungen hatte die frischgebackene Premierministerin die Subventionen für Schulmilch gestrichen. Für ihre Gegner war das eine Steilvorlage. „Thatcher the milk snatcher“ – Thatcher, die Milchdiebin – hieß sie von nun an, und wurde diesen Spitznamen lange nicht mehr los. Nach dieser Episode wurden die Konservativen vorsichtiger. Statt das hochsubventionierte Schulessen einfach abzuschaffen, erhöhte die Thatcher-Administration den Kostendruck. Folge war, dass fast alle Schulküchen geschlossen und die Verpflegung der Schüler Catering-Firmen anvertraut wurde. Qualitätsstandards spielten keine Rolle, einziges Kriterium war der Preis, und der lag zum Teil bei nur 37 Pence pro Mahlzeit (BBC 2005). 2004 organisierte der international bereits zur Star-Ikone avancierte Fernsehkoch Jamie Oliver den Protest gegen den Zustand der Schulverpflegung im Vereinigten Königreich. Die sozialdemokratische Labour-Partei hatte zwar den Kampf gegen Übergewicht und ungesunde Ernährung zu einem ihrer Hauptanliegen erklärt, dabei aber vor allem auf Rhetorik gesetzt. Allzu viel Geld ausgeben wollte man nicht, und so blieb das Schulessen unangetastet, jedenfalls bis Jamie Oliver kam, sah und sagte, dass es so nicht weitergehen könne, da die Schulspeisung „die Entwicklung der Kinder zu fetten, kränkelnden Bastarden“ unterstütze (zit. nach Burkel 2005). Der quirlige Starkoch begann Unterstützung für eine bessere Schulverpflegung einzuwerben. Innerhalb kürzester Zeit brachte er 270.000 Unterschriften für die
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von ihm so benannte Initiative „Feed me better!“ zusammen. Tony Blair, der damalige britische Premierminister, war von Olivers Initiative höchst angetan und versprach, ihm finanziell unter die Arme zu greifen. Auch der Fernsehsender Channel 4 schloss sich Olivers Mission an und begleitete ihn regelmäßig zur besten Sendezeit. Die Sendung Jamie’s School Dinners war auch in Deutschland im Fernsehsender RTL II zu sehen. Doch Olivers Experiment stieß auf größere Schwierigkeiten als erwartet. Die ohnehin chronisch unterbezahlten Servicekräfte – die sogenannten Dinner Ladies – waren über den unbezahlten Mehraufwand wenig begeistert. Bisher mussten sie die Fertignahrung nur aufwärmen und austeilen. Oliver hingegen machte das immer noch knappe Nahrungsmittel-Budget zu schaffen, und die Kinder mussten sich auch erst an das neue Essen gewöhnen. Vor allem brach das Zeitmanagement an vielen Schulen zusammen: alle hungrigen Bäuche waren in den kurz bemessenen Pausen der Schüler nun nicht mehr zu füllen. An vielen Schulen flohen die Kinder vor dem gesünderen, aber auch teureren Essen und den langen Warteschlangen. Sie versorgten sich an Imbissbuden oder brachten Verpflegung von zu Hause mit – oftmals selbst dann, wenn ihnen aufgrund ihrer sozialen Lage ein kostenloses Mittagessen zugestanden hätte (Ottovay 2008). Die Zahl der Mittagesser in den Schulkantinen sank um bis zu 30 Prozent (Simpson 2006). Im nordenglischen Rawmarsh, einem Stadtteil des ehemaligen Stahl- und Kohlestandorts Rotherham, eskalierte die Situation schließlich. Die örtliche Schule hatte mit Einführung der neuen Mittagsverpflegung den Schülern das Verlassen des Schulgeländes untersagt. Offensichtlich fürchtete man, die Kinder könnten sich außerhalb der Schule versorgen und so das gesunde Mittagessen sabotieren. „Anders als die dankbaren Strolche aus der populären Fernsehsendung Jamie’s School Dinners, beschwerten sich die Kinder aus Rawmarsh bei ihren Eltern über eklige Tomaten, überteuerte Ofenkartoffeln und zu wenig Pommes Frites“, berichtete die Sunday Times (Hattersley 2006). Einige Mütter brachten ihren Kindern daraufhin Verpflegung vom Imbiss an den Schulzaun. Das Angebot war so populär, dass sich bald über 60 Schüler von den rebellischen Müttern versorgen ließen. Doch dem Treiben wurde Einhalt geboten, der Schuldirektor holte kurzerhand die Polizei. Internationale Presse ließ nicht lange auf sich warten. Sie könnten Jamie Oliver nicht leiden, wurden die Mütter in den Zeitungen zitiert. Eine andere Erzählung hört man indes, wenn man vor Ort nachfragt: Die in Deutschland als „Frittenrevolte“ (Rolff 2007) bekannt gewordene Aktion sei schlicht und einfach der Tatsache geschuldet gewesen, dass viele Kinder im neu entstanden Versorgungschaos sonst hungrig ausgegangen wären (Ottovay 2008). Dass die Mütter aus Rawmarsh institutionelles Versagen abmilderten, indem sie die Fürsorge für ihre Kinder selbst in die Hand nahmen, ist eine Version, die erst zwei Jahre später als Randnotiz den Weg in die Presse (Hendry 2008) gefunden hat. Doch da hatte die Geschichte von den „Junk Food-Müttern“ in der neuen „Haupt-
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stadt des Junk Foods“ längst ein folgenreiches Eigenleben angenommen. „Sinner Ladies sell kids junk food“ hatte Großbritanniens größte Boulevardzeitung The Sun auf dem Höhepunkt der „Frittenrevolte“ 2006 getitelt, und in der selben Ausgabe eine Karikatur von extrem adipösen, tätowierten Frauen in Leggins und Bikini veröffentlicht, die ebenso dicken Kindern Burger und Pizza durch den Schulzaun reichten – obwohl das Foto auf der Titelseite, dem die Zeichnung offensichtlich nachempfunden war, überwiegend normalgewichtige und -gekleidete Kinder und Mütter zeigte (Perrie 2006). Oliver ließ den „Junk Food-Müttern“ über die Medien ausrichten, sie seien „fette alte Flittchen“ (Hendry 2008). Wenn sie ihre Kinder umbringen wollten, sollten sie nur so weitermachen. Er sei lange genug politisch korrekt mit den Eltern umgegangen. Damit hatte Oliver diesen „Rabenmüttern“ nicht nur die Fähigkeit zu verantwortlicher Elternschaft abgesprochen. Landesweit wurde am Beispiel Rawmarsh über die Unbelehrbarkeit und Verantwortungslosigkeit der so genannten Underclass diskutiert. „Jamie Oliver vs. Junk Food-Mütter“ war zum Politikum geworden. Zum Ersten revitalisierte sich hier eine uralte Konfliktlinie: jene zwischen dem reichen, konservativen Süden Englands und dem industriell geprägten Norden. Jamie Oliver verkörpert in diesem Konflikt den überheblich-selbstsicheren Londoner, der alles besser weiß, und die Mütter aus Rawmarsh das Stereotyp der dämlich Ewiggestrigen aus dem rauen Norden. Zum Zweiten hat dieses Stereotyp Klasse und Geschlecht: die britischen Medien produzieren geradezu besessen Bilder der so genannten Underclass, die sich aus den durch Thatchers ökonomische Restrukturierungspolitik erwerbslos gewordenen Teilen der weißen Arbeiterschaft zusammensetzt. Ähnlich wie in der US-amerikanischen Underclass-Debatte (Auletta 1982; Murray 1984) wird behauptet, die Verlierer der Deindustrialisierung hätten eine „Kultur der Abhängigkeit“ entwickelt, seien faul, unambitioniert, rückständig und bedrohten die Werte der Nation. „Chavs“ werden sie abfällig genannt, etwa analog zum USamerikanischen „White Trash“. Zum nationalen Feindbild ersten Ranges, so die Soziologin Bev Skeggs (2005) in ihren Medienanalysen, werden dabei solche dämonisierten Frauenfiguren, wie sie in der Karikatur der Mütter aus Rawmarsh auftauchen: vulgär, laut, unbeherrscht, von bedrohlicher Sexualität und Fruchtbarkeit – und natürlich fett. Skeggs arbeitet heraus, dass diese Repräsentationen eine politische Funktion erfüllen: „The excessive, unhealthy, publicly immoral white working-class woman, I argue, epitomizes the zeitgeist of the moment – a crisis in middle-class authority and security, epitomized in the output of TV, concretized in criminal law (…) and a handy figure for the government to deflect its cuts in welfare provision via the identification of a ‘social problem’.” (Skeggs 2005, S. 968) Will man verstehen, warum der Fall Rawmarsh so hohe Wellen schlug, muss man sich die britische Debatte um Ernährung in ihrem sozialpolitischen Kontext genauer ansehen. Wir werden im Folgenden einige Schlaglichter auf sie werfen und
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argumentieren, dass in den aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um das „richtige Essen“ soziale Widersprüche bearbeitet werden – „von oben“ wie „von unten“. Deshalb werden wir die Emergenz der britischen Debatte um eine „Ernährungskrise“ in Beziehung setzen zur medialen Inszenierung einer angeblichen „Unterschichtskultur“ und dem sozialpolitischen Paradigmenwechsel unter New Labour. Die Ernährungskrise in Großbritannien Übergewicht sei mindestens ebenso schlimm für die Gesellschaft wie der Klimawandel, verkündete 2007 der amtierende Gesundheitsminister Allan Johnson. Die drastische Äußerung war kein Einzelfall. Schon 2004 hatte ein regierungsamtlicher Bericht über die Gefahren des Übergewichts die Behauptung aufgestellt, das Gesundheitswesen würde angesichts der „Übergewichts-Epidemie“ über kurz oder lang kollabieren und die kommende Generation werde die erste sein, die vor ihren Eltern sterben werde. Die Vehemenz, mit dem die Themen Übergewicht und Fehlernährung in Großbritannien diskutiert werden, wird landläufig damit erklärt, dass die britische Ernährungsweise nun mal traditionell nicht sehr genussorientiert und wenig gesundheitsbewusst sei. Doch das ließe sich von der deutschen, niederländischen oder skandinavischen Küche genau so gut sagen; selbst die hoch gelobte französische Küche ist sehr fleischlastig und wenig cholesterinbewusst, und die Freude am Frittieren haben die Briten ebenfalls nicht für sich alleine gepachtet. Neben der eher stereotypen Charakterisierung der britischen Küche als einfallslos, vitaminarm und ungesund wird auf die hohen Übergewichtsraten als Grund für die in Großbritannien so heftig geführten Diskussionen um Fettleibigkeit und Fehlernährung verwiesen. Nirgendwo sonst in Europa seien so viele Menschen so dick, nirgendwo spielten übergewichts- und ernährungsbedingte Krankheiten eine so große Rolle. Doch auch diese Begründung ist nur vordergründig einleuchtend. Es gibt keine europäische Statistik, mit der sich der Anteil der Adipösen an der Bevölkerung seriös vergleichen ließe. Zu unterschiedlich sind Erhebungsmethoden, Erhebungszeiträume, Stichprobenauswahl etc. Wenn man sich aber an den zur Verfügung stehenden repräsentativen internationalen Daten orientiert, liegt der Anteil der Adipösen in Großbritannien kaum höher als in Deutschland (vgl. Zannioto et al. 2006; Max Rubener Institut 2008). Fehlernährung und ernährungsmitbedingte Krankheiten zu definieren ist ein aussichtloses Unterfangen. Beinahe alle Behauptungen bezüglich der protektiven Wirkung von Obst und Gemüse haben sich als wissenschaftlich genauso unhaltbar erwiesen wie die viel zitierten Gesundheitsgefahren, die Fett, Zucker und Co. zugeschrieben werden (vgl. u.a. Burger 2008; Pollmer/Warmuth 2007; Pollmer/Niehaus
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2008). Doch während diese Erkenntnisse in Deutschland mittlerweile von vielen Ernährungswissenschaftlern anerkannt und die offiziellen Ernährungsempfehlungen, wenn auch nur zaghaft, liberalisiert und relativiert werden (vgl. DGE 2006; DGE 2007), ist in Großbritannien das umgekehrte Phänomen zu beobachten. Nicht nur die gesundheitlichen Gefahren, die von falscher Ernährung angeblich ausgehen, werden im Vereinigten Königreich maßlos übertrieben. Hier ist außerdem die Überzeugung weit verbreitet, die Nahrung wirke sich qua biochemischer Reaktion auf Verhalten und Charakter aus. Der Glaube, abweichende Verhaltensweisen von Kindern, wie Konzentrationsschwäche und Aggressivität, auf ihre Ernährung zurückführen zu können, war in der britischen Politik noch vor wenigen Jahren so fest verankert, dass der damalige Bildungsminister und spätere Gesundheitsminister Allan Johnson vorschlug, allen britischen Grundschülern Pillen mit Omega-6-Fettsäuren zu verabreichen (Oakeshott 2006). Gestoppt wurde das Projekt erst, als eine im Auftrag des Bildungsministeriums erstellte Literaturstudie die Wirksamkeit von Ernährungszusatzstoffen auf Leistung und Verhalten in Frage stellte (Ells et al. 2006). Die besondere Aufmerksamkeit, die dem Thema Fehlernährung in Großbritannien zukommt, ist auch deswegen so erstaunlich, weil sich die Ernährungsweise in Großbritannien insgesamt stärker noch als in anderen europäischen Ländern in eine Richtung entwickelt hat, die eigentlich im Sinne der Fehlernährungsmahner ist. So ist der Konsum von vermeintlich gesundheitsschädlichen Produkten wie rotem Fleisch, Butter, Vollmilch und Eiern zugunsten von fettärmeren Lebensmitteln wie weißem Fleisch, fettreduzierten Brotaufstrichen und fettreduzierter Milch stark zurückgegangen (National Statistics 2005). Auch das Argument, Großbritannien habe einen größeren Anteil an Fast- und Convienience-Food-Produkten an der Ernährung als jedes andere europäische Land, ist letztlich kein Beweis für eine Ernährungskrise. Die Tiefkühlindustrie bedient längst nicht nur das Niedrigpreissegment und setzt ebenso auf Qualität, Bio- und Light-Produkte wie andere Lebensmittelsparten auch. Schnelles Essen ist mehr als Burger und Pommes Frites: Sushi und Salate lassen sich ebenso als Essen für unterwegs vermarkten, wie sich Burger mit Bisonfleisch und Steaks von schottischen Hochlandrindern als Luxusessen verkaufen lassen. Und schließlich gehört das obere Angestelltensegment – etwa junge Banker und umtriebige Kreative, die als Ausweis moderner Dienstleistungsgesellschaften gelten – zu den größten Nachfragern von Restaurants, Imbissbuden und Convienience-Food-Produkten. Deshalb ließe sich die Tatsache, dass auf der Insel mehr als andernorts verarbeitete Lebensmittel konsumiert werden, ebenso gut als ein Symbol für Modernität begreifen: als Ausdruck einer arbeitsteiligen Gesellschaft, in der der Bereich der Nahrungsmittelzubereitung weitgehend warenförmig organisiert ist, in der die wertvolle Zeit der Angestellten und der Kreativarbeitenden nicht durch Einkaufen und Kochen volkswirtschaftlich vergeudet wird. Und genauso wird es
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auch gesehen – jedenfalls solange es sich um Mittel- und Gutverdienende aus den Metropolen handelt. Ganz anders sieht die Lage dagegen bei den „Abgehängten“, den prekär oder gar nicht Beschäftigten, der ehemaligen Arbeiterschaft an den Rändern der Boomtowns oder in den ehemaligen Industrieregionen aus. Harte Arbeit und karge Ernährung hatte das Leben der Arbeiterklassenfamilien lange bestimmt: Convenience Food als Symbol von Wohlstand und Modernität war lange Zeit unerreichbar geblieben. Heute gibt es für die ehemaligen Industriearbeiter nicht nur kaum Arbeitsplätze, auch die Versprechen der Konsumgesellschaft scheinen für sie nicht zu gelten. Just in dem Moment, in dem sie es sich leisten können, wird der Konsum von Tiefkühlprodukten und Mikrowellenmahlzeiten zum Ausweis sozialer Deklassierung und zum Symbol für „unwürdige Armut“. Das mit frischen Zutaten und vor allem selbst gekochte (Familien-)Mahl hingegen ist nicht etwa nur Kennzeichen einer gesunden Diät, sondern repräsentiert zugleich den zeitgemäßen „guten Geschmack“. Und es lässt eine respektable, individuell wie gesellschaftlich verantwortungsvolle Lebensführung erkennen. Während Burger und Mikrowellenessen zunehmend als Symbole für Rückwärtsgewandtheit, Stagnation und „Unterschichtskultur“ gelten, markiert das selbst zubereitete Essen die Mühen der Selbstmobilisierung. Die Bereitschaft und Fähigkeit selbst zu kochen, lässt das Bemühen erkennen, zu den „würdigen Armen“ gehören zu wollen. Hier lockt ein Versprechen prekärer Integration, dort lauern die Tiefen der „Underclass“. In den 1980er Jahren hat sich insbesondere im Norden Großbritanniens nicht nur die gesundheitliche Ungleichheit vergrößert (Phillimore et al. 1994), auch die Ernährungsstile haben sich gesamtgesellschaftlich gesehen weniger ausdifferenziert als polarisiert (Warde 1997, S. 97f). Betrachtet man die britische Debatte um die Ernährungskrise in diesem Kontext, so wird deutlich, dass hinter der Rede einer allgemeinen Krise der Ernährung vielmehr eine Krise des Gleichheitspostulats in einem modernisierten, dem Anspruch nach klassenlosen Großbritannien steht. Die Tatsache, dass Lebensmittel sich nicht ohne weiteres in gut und böse, respektive gesund und ungesund, einteilen lassen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Vorlieben für das eine oder andere Nahrungsmittel nicht simplifiziert als Resultat individueller Wahl verstanden werden können. Ernährung ist nach wie vor eine Klassenfrage, und zwar sowohl in materieller als auch in soziokultureller Hinsicht. 100 Kalorien kosten den britischen Verbraucher entweder 2 oder 51 Pence, abhängig davon, ob sie aus tiefgefrorenen Pommes Frites oder aus frischem Broccoli gewonnen werden (vgl. Lobstein 2008). Neben dem Preis hat der Broccoli gegenüber den Pommes Frites aber noch andere Nachteile. Er muss aufwendig zubereitet werden und wird bei den eigenen Kindern nicht unbedingt Freude auslösen. Die Entscheidung für das teurere und weniger leicht zu verarbeitende Gemüse setzt also weniger ein Wissen um die vielen Vorzüge des Broccolis voraus, als Le-
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bensumstände, die den Genuss von unverarbeitetem Gemüse aus geschmacklichen und ideellen Gründen sinnvoll erscheinen lassen. Denn nur dann erscheinen der höhere Preis und die komplizierte Zubereitung als lohnende Investition in die eigene Gesundheit und die der Kinder. Dass die durchschnittliche Lebenserwartung der „Broccoli-Esser“ am Ende tatsächlich höher liegt als der „Pommes-Esser“ ist wiederum weniger in den Inhaltsstoffen der Nahrung begründet als vielmehr in den Lebensumständen und -perspektiven, die mit den jeweiligen Verzehrgewohnheiten einhergehen. Vom Thatcherismus zu New Labour In keinem anderen europäischen Land werden die Themen Fehlernährung und Übergewicht in vergleichbar alarmierter Weise diskutiert wie in Großbritannien. Nirgendwo sonst ist man mit einschneidenden Maßnahmen so schnell bei der Hand wie im Vereinigten Königreich, und das, obwohl empirisch wenig für die behauptete Ernährungskrise zu sprechen scheint. Warum also Großbritannien? Warum ranken sich hier unzählige Fernsehformate und Zeitungsberichte um die Frage nach dem „richtigen“ Essen? Warum wird hier die Notwendigkeit von Interventionen so groß geschrieben? Zur Beantwortung dieser Frage lohnt es sich, von den unmittelbaren Auslösern der Debatte – Übergewicht und Fehlernährung – zu abstrahieren und einen Blick auf die Entwicklung der britischen Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten zu werfen. In Großbritannien vollzogen sich die ökonomischen und gesellschaftlichen Umbrüche viel schneller, viel früher und viel nachhaltiger als in den anderen großen europäischen Industriestaaten. Die Konservativen hatten in ihrer Regierungszeit den in den 1970er Jahren in die Krise geratenen, auf Industrieproduktion basierenden Fordismus mit aller Konsequenz in einen hochtechnologisierten, deregulierten Dienstleistungs- und vor allem Finanzkapitalismus transformiert. Der „New Deal“, die sogenannte sozialpartnerschaftliche Einbindung der gut organisierten Arbeiterklasse, war mit ihrem Regierungsantritt 1979 aufgekündigt. Dabei betätigten sich die Tories als Planierraupe am britischen Sozialstaat ebenso wie an der siechen Schwerindustrie, brachen die Macht der Gewerkschaften und privatisierten nicht nur die Großindustrie, sondern auch die Wasser- und Stromversorgung sowie Bahn und Post. Damit waren sie aus volkswirtschaftlicher Sicht zunächst ziemlich erfolgreich. Die Bilanz ihrer Regierungszeit waren ein stabiles Wirtschaftswachstum sowie die Geburt einer auf Finanzspekulationen basierenden Banken- und Versicherungsökonomie, deren Boom fast zwanzig Jahre das Bild von Großbritannien als eine der weltweit erfolgreichsten Volkswirtschaften zeichnete – ein Boom, der die Grundlagen für die heutige Wirtschaftskrise legte. Auf der Schattenseite standen eine rekordverdächtige Arbeitslosenquote, entsicherte Arbeitsverhältnisse und ganze Landstriche, die auch heute noch von der
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radikalen Deindustrialisierung gezeichnet sind. Die ehemalige Arbeiterschaft fand sich im Dreieck von Sozialhilfe, informeller Ökonomie und prekären Dienstleistungsjobs wieder. Die Organisationen der Arbeiterbewegungen, die in vielen Gemeinden der Industrieregionen das Alltagsleben gestaltet hatten, waren niedergekämpft. Deren mit Stolz hervorgehobenen Werte wie Solidarität und Zusammenhalt, durch welche Alltagskultur, Lebensentwürfe und Lebensweise maßgeblich strukturiert waren, hatten mit der Niederlage gegen den Neoliberalismus die materielle und ideelle Grundlage ihrer Hegemonie eingebüßt. Thatcher wollte der Idee des Kollektiven den Todesstoß versetzen und keine Gesellschaft mehr kennen, sondern nur noch selbstsorgende Individuen und Familien. Das war die Ausgangssituation, als die Labour-Partei 1997, nach fast zwei Jahrzehnten Abschied von der Macht, wieder ans Ruder kam. New Labour setzte nicht mehr auf eine Beschränkung des Staates auf seine repressiven Funktionen, aber auch nicht auf ein Zurück zu jenem Klassenkompromiss, der die Ära des Fordismus gekennzeichnet hatte. New Labour propagierte eine sogenannte Politik des „Dritten Wegs“. Dieser baut weniger auf einen Rückzug des Staates als auf eine indirekte und vor allem kostengünstige Regulation. New Labours sozialpolitischer „Dritter Weg“ basiert auf drei Strategien. Erstens auf der Individualisierung sozialer Problemlagen, zweitens auf einer Politik der „zero tolerance“ gegenüber abweichenden Verhaltensweisen, die weit in die Privatsphäre hineinreicht und drittens auf einer Mobilisierung von Eigeninitiative und bürgerschaftlichem Engagement zur Lösung sozialer Probleme. Auf dieser Folie wurde Zustimmung für den Rückbau des Sozialstaats organisiert. Im Unterschied zum klassischen sozialdemokratischen Modell besteht unter New Labour kein universaler Anspruch auf Sozialleistungen mehr. Doch diese werden auch nicht einfach ersatzlos gestrichen. Stattdessen werden Verträge formuliert, die ein gleichberechtigtes Verhältnis von Kunden (Antragssteller) und Dienstleister (Amt) simulieren. Damit wird ein ehemaliger Rechtsanspruch zu einer gegenseitigen Verpflichtung umgedeutet. Einerseits ist das Arbeits- bzw. das Sozialamt nun nicht mehr die übergeordnete Behörde, der der Hilfesuchende als Bittsteller gegenübertritt. Andererseits ist der frischgebackene Kunde aber von nun an zu einer Gegenleistung verpflichtet. Diese Gegenleistung besteht nicht mehr allein darin, dem Arbeitsmarkt grundsätzlich zur Verfügung zu stehen sowie Termine und Fristen einzuhalten, sondern zum Beispiel auch darin, zugunsten der „employability“ seine Persönlichkeit coachen zu lassen, bestimmte Verhaltensweisen abzulegen und neue zu erlernen. Programmatisch wurden damit durch die Regierung Blair die Weichen dafür gestellt, die soziale Bringschuld umzukehren (Lessenich 2003): Ihre Losung vom Fördern und Fordern meint, dass die Aktivierbarkeit der Subjekte – ihre Forderbarkeit – zum Prüfstein für ihre Förderungswürdigkeit wurde. Das britische Modell stand auch für die Arbeitsmarkreformen der Agenda 2010 unter der Kanzlerschaft
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von Gerhard Schröder Pate. So heißt es im Schröder/Blair Papier von 1999: „Moderne Sozialdemokraten wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln.“ (Schröder/Blair 1999, S.894) Doch nicht nur gegenüber den Beziehern von Sozialleistungen zeichnet sich das britische Modell durch eine hohe Bereitschaft aus, die Persönlichkeitsrechte und die Alltagsgewohnheiten der Bürger zu reglementieren. Neben der nirgendwo sonst so exzessiv eingesetzten Kameraüberwachung im öffentlichen Raum zeigt sich das vor allem an einer Vielzahl von Gesetzen zur Reglementierung von sozial abweichenden Verhaltensweisen: den von New Labour verabschiedeten „anti-social behaviour laws“. Darin wird vom Alkoholkonsum im öffentlichen Raum über aggressives Betteln und Rowdytum, Vandalismus, öffentliche Müllentsorgung sowie „halbstarken“ Verhaltensweisen so ziemlich alles kriminalisiert, was dem Idealbild eines verantwortungsbewussten und aufstiegsorientierten Bürgers widerspricht (vgl. Home Office o.J.). Dieser repressive Umgang mit abweichenden Verhaltensweisen erstreckt sich ebenso auf das Feld Ernährung. Da man auf der Insel fest davon überzeugt ist, Zeuge einer Ernährungskrise zu sein, schreckt man auch hier vor radikalen Maßnahmen nicht zurück. Zur Rettung des Sozialstaats und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, die aus Regierungssicht durch massenhaftes Übergewicht akut gefährdet sind, ist deshalb im 2008 vorgestellten Aktionsplan der britischen Regierung im Kampf gegen Übergewicht unter anderem vorgesehen, Familien, in denen abweichende Essgewohnheiten praktiziert werden, frühzeitig zu identifizieren und von Mitarbeitern des Gesundheitsdienstes aufsuchen zu lassen. Darüber hinaus sollen die kommunalen Junk Food-Bannmeilen um Schulen in nationales Recht übertragen werden und zukünftig auch öffentliche Parks einschließen (CrossGovernment Obesity Unit 2008). Noch sehen die Planungen lediglich vor, die Ansiedlung von Fast Food-Restaurants und Imbissbuden zu reglementieren. Doch auch ein Szenario, in dem der öffentliche Konsum von als schädlich betrachteten Lebensmitteln in der Nähe von Schulen und Parks bald schon unter die „anti-social behaviour“-Gesetzgebung fällt, scheint nicht sonderlich weit hergeholt. Regieren durch Communities Die dritte sozialpolitische Strategie von New Labour, die Mobilisierung bürgerschaftlichen Engagements, ist die ambivalenteste. Der Politikwissenschaftler Nikolas Rose (2000) hat einen ihrer zentralen Aspekte als ein „Regieren durch Communities“ beschrieben. Damit meint er einen Politikansatz, durch den Menschen, die denselben ethnischen, religiösen oder sozialen Hintergrund, aber zum Beispiel auch die gleiche sexuelle Orientierung oder dieselbe Wohnlage teilen, als Gemeinschaft angesprochen werden. Statt Beschlüsse „von oben herab“ zu fällen und die Betroffenen vor vollendete Tatsachen zu stellen, werden sie als Teil einer solchen Ge-
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meinschaft angerufen und in die Entscheidungsfindung integriert, aber zugleich auch in die Pflicht genommen, sich an diesem Prozess konstruktiv zu beteiligen. Dahinter verbirgt sich die Hoffnung, dass so gefundene Lösungen eine verstärkte Akzeptanz erfahren. Durch die Mobilisierung bestehender Ressourcen soll ehrenamtliche Arbeit eingebunden und Kosten gesenkt werden. Dabei wird die Staatskritik und Rhetorik der Sozialen Bewegungen aufgegriffen und für ein Projekt des Sozialstaatrückbaus in den Dienst genommen. Rose beschreibt diesen Prozess wie folgt: „Anfangs entfaltete sich diese Vorstellung von der Gemeinschaft als verloren gegangener Authentizität und Zusammengehörigkeit im sozialen Raum als Teil der Kritik und Opposition gegen eine bürgerferne Bürokratie. (….) Innerhalb kurzer Zeit verwandelte sich das, was als Diskurs des Widerstands und der Gegenkultur begonnen hatte, aus zweifellos höchst ehrenwerten Motiven in einen Expertendiskurs. (…) Was auf diese Weise Gestalt annahm, war eine neue Art und Weise, einen Bereich des Regierens abzugrenzen, dessen Kräfteverhältnisse mobilisiert, integriert und in neuen Programmen und Techniken genutzt werden konnten. Diese beruhten auf der Instrumentalisierung persönlicher Loyalitätsbeziehungen und der Bereitschaft, aktiv Verantwortung zu übernehmen: Regieren durch Community.“ (Rose 2000, S. 80f) Dabei ist die Strategie des Regierens durch Communities durchaus ambivalent: einerseits macht sie es wahrscheinlicher, dass Entscheidungen nicht einfach ohne die Kenntnis lokaler Gegebenheiten von oben verordnet werden, und sie nimmt die Kompetenz und die Erfahrung der Betroffenen ernst. Vielfach können diese von ihnen zur Erweiterung von Handlungsspielräumen genutzt werden. Andererseits stellt diese Strategie das Prinzip von Selbstermächtigung, nach dem Soziale Bewegungen agieren, auf den Kopf. Soziale Bewegungen mobilisieren sich und andere, um durch die selbstorganisierte Artikulation eines Anliegens Druck auf den Staat und seine Organe auszuüben. Dieses Prinzip wird durch Regieren über Communities umgedreht. Der Staat spricht engagierte Einzelpersonen oder Organisationen an, um sie für ausgewählte Ziele einzuspannen. Damit legt er auch die Sprache fest, in der Probleme beschrieben, Bedürfnisse artikuliert und Ansprüche geltend gemacht werden können. Nancy Fraser (1994, S. 240) kritisiert das als eine „Politik der Bedürfnisinterpretation“, welche „dialogische, partizipatorische Prozesse der Bedürfnisinterpretation“ verunmögliche. Das Problem, wenn auf diese Weise konstruierte Gemeinschaften von oben herab mobilisiert und in Verantwortung genommen werden, ist, dass sich Subjekte nicht der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft entziehen können. So kann Regieren durch Communities zu einer Zuweisung von Verantwortung führen, die unter anderen politischen Kräfteverhältnissen beim Staat und seinen Institutionen lag. Ein Beispiel, wie sich eine solche Politik im Bereich Ernährung auswirken kann, ist die Diskussion um sogenannte food deserts. In der Debatte um die Fehlernährung der „Underclass“ in Großbritannien und den USA ist der Begriff der food deserts, der
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Lebensmittelwüsten, aufgekommen. Bewohnern von Armenvierteln sei es allein schon deshalb nicht möglich, sich ausgewogen zu ernähren, weil es keine ausreichenden Einkaufsmöglichkeiten gäbe. Der Hintergrund: Die kleinen Kioske und „Tante Emma-Läden“ in diesen Vierteln verkaufen kein frisches Obst und Gemüse, und die großen Supermärkte sind ohne Auto nicht zu erreichen. Als Lösung für dieses Problem wurde vorgeschlagen, die Bewohner dieser Viertel sollten mit der Hilfe von Sozialarbeitern einen Einkaufsdienst organisieren, um so eine Versorgung mit frischen Lebensmitteln für alle zu gewährleisten. Hinter der auf den ersten Blick charmanten Idee verbirgt sich aber ein sozialpolitischer Skandal. Denn offensichtlich ist es in einem der reichsten Länder der Welt vielen Menschen nicht möglich, sich mit einem ausreichenden Sortiment an Lebensmitteln zu versorgen. Eine naheliegende Antwort wäre, das Scheitern des freien Marktes durch staatlich oder kommunal organisierte Supermärkte zu korrigieren. Stattdessen aber werden die Bewohner dieser Viertel dazu angehalten, ehrenamtlich eine provisorische Versorgung mit Grundnahrungsmitteln zu organisieren (Dowler/Caraher 2003). Eine Lösung, die für die öffentlichen Haushalte günstig ist, und die sich noch dazu mit der Rhetorik sozialer Bewegungen schmücken kann. Nicht nur, dass hier ehrenamtlich, sprich unbezahlt, staatliche Aufgaben übernommen werden, die Maßnahme hat noch einen zweiten problematischen Effekt. Wer sich dieser „Hilfe zur Selbsthilfe“ entzieht, macht sich verdächtig. Eine Ermächtigung von oben kann so ganz schnell zum entmächtigenden Zwang werden, besonders dann, wenn die Betroffenen finanziell von der Sozialbürokratie abhängig sind. Jamie Olivers Ernährungsrevolution Der Versuch des Starkochs Jamie Oliver das britische Schulessen zu reformieren ist ein Paradebeispiel für bürgerschaftliches Engagement, wie New Labour es sich wünscht. Da ist ein Bürger, ein prominenter noch dazu, der gesellschaftliche Missstände nicht einfach nur anprangert, sondern selbst aktiv wird und das mit Erfolg: Mittlerweile ist Olivers Engagement in Sachen Schulessen in Gesetzesform gegossen. Der umtriebige Starkoch hat seine erste Mission erfüllt und kann sich weiteren Aufgaben zuwenden. In seinem neuesten Projekt Ministry of Food appelliert er nicht mehr an staatliche Institutionen, sondern an die Verantwortung eines jeden Einzelnen. Hinter der Idee von Ministry of Food verbergen sich Ladenlokale, in denen Kochkurse von Ehrenamtlichen angeboten und Rezepte ausgetauscht werden. Diese sollen nach Olivers Vorstellungen im ganzen Land aus dem Boden sprießen und die Idee der dazugehörigen Kampagne „Pass it on! „ institutionalisieren. Diese zielt darauf, durch eine Weitergabe von Kochkenntnissen im Freundeskreis nach dem Schneeballprinzip das ganze Land in einer Begeisterungswelle zu erfassen und an den Herd zu locken. „Revolution“ nennt Oliver das vollmundig. Auch diese Idee
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erscheint auf den ersten Blick durchaus sympathisch. Doch auch hier lohnt es sich, genauer hinzusehen. Mit der Namensgebung Ministry of Food spielt Oliver ganz unverhohlen auf die gleichnamige Einrichtung der Kriegs- und Nachkriegsjahre an. Damals regelte das Ministry of Food die Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln und erklärte Frauen, wie sie aus den kargen Rationen eine vollwertige Mahlzeit für ihre Familie zaubern konnten. Auch heute stecke die Ernährungssituation wieder in einer ähnlichen Krise, doch diesmal soll es laut Oliver sogar ganz ohne den Staat gehen. Der wird nämlich ganz nebenbei und im Rückgriff auf die Staatskritik der Neuen Sozialen Bewegungen aus sozialpolitischer Verantwortung entlassen. Wir müssen einfach die Ärmel hochkrempeln und das selbst in die Hand nehmen, so die Idee hinter Ministry of Food. Für Ministry of Food kehrt Oliver zwei Jahre nach dem Aufstand der „Junk Food-Mütter“ an den Tatort zurück und gründet in Rotherhams Stadtzentrum sein erstes Ministry of Food-Lokal. Nach den Dreharbeiten wird es für ein Jahr mit £100.000 städtisch weiter finanziert (Pidd 2008) – obwohl das Projekt als „KommStruktur“ ohne Zielgruppenbezug in seiner gesundheitspräventiven Wirksamkeit durchaus umstritten ist (Ottovay 2008). Jamie Oliver indes ist Medienprofi genug, um sein Vorhaben groß raus zu bringen. Zusammen mit seinem Medienpartner Channel 4 produzierte Jamie Oliver den dazugehörigen TV-Vierteiler. Der war im Herbst 2008 im britischen Fernsehen zu sehen und rief abermals höchst kontroverse Reaktionen hervor. Der Plot dieser Reality-TV-Serie ist zunächst so einfach wie herzerwärmend: Acht Novizen aus Rotherham werden von Oliver in die Kunst des guten Geschmacks eingeweiht und sollen nach ihrer Läuterung die frohe Kunde weiter tragen. In der ersten Folge sieht man Oliver mit seinem Landrover an Industrieruinen vorbeirauschen. Als erstes fährt er bei Julie Critchlow vor, einer jener „Junk FoodMütter“, die er zwei Jahre zuvor noch als „fettes Flittchen“ beschimpft hatte. Vor laufender Kamera versöhnen sich die ehemaligen Kontrahenten. Dann tritt Oliver in Aktion. Sein erster Fall ist Natasha, eine allein erziehende Mutter. Natasha speist ihre Kinder nach eigenen Angaben jeden Abend mit dem gleichen Menü ab: Kebab und mit Käse überbackene Pommes Frites. Das Ganze wird direkt aus der Styroporverpackung vom Wohnzimmerboden gegessen: mit den Fingern. Natasha hat Sorgen, Schulden und einen großen Fernseher, sie lebt von Sozialleistungen, kochen hat sie nie gelernt. Oliver zeigt sich erschüttert und aufgewühlt angesichts von so viel Elend. Er will helfen. Er will Natasha beibringen, Spaghetti mit Fleischklößchen zu kochen. Das werde ihr Leben verändern, verspricht der Multimillionär. In der zweiten Folge trifft Oliver den Bergmann „Mick, the Miner“. Mick verkörpert auf klassische Weise den Stereotyp des Proleten vergangener Tage. Er ist nicht nur einer der letzten Kumpel in einer der letzten Kohlezechen Englands. Mick
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ist auch fest davon überzeugt, dass echte Männer nicht kochen. Bis er Jamie Oliver trifft. Der ist natürlich auch ein echter Mann, was er allein schon dadurch beweist, dass er unablässig flucht – und er kann kochen. Von „St. Jamie“ erweckt und an den Herd gelockt wiederholt Mick gebetsmühlenartig: „Das ist das Beste, was ich je gemacht habe!“ Der Fernsehkoch reflektiert: „Er ist Bergmann und etwas chauvinistisch, und wenn du ihn in zehn, fünfzehn Minuten umdrehen kannst, ist das nicht fantastisch?“ Oliver begegnet auf seiner Reise durch die Peripherie noch weiteren kulinarischen Analphabeten; Freaks, die, gleich ob echt oder nur geschauspielert, mit ihren Macken und Unzulänglichkeiten das Publikum amüsieren sollen – laut Zielgruppenanalyse von Channel 4 sind das insbesondere Frauen aus dem sogenannten ABC1Segment, sprich der Ober- und Mittelschicht (vgl. Acorn 2005). Jeder könnte, wenn er nur wollte In Jamie Olivers Welt der Ernährungsrevolution werden es Natasha und Mick schaffen, sich auf die Seite des „guten Geschmacks“ zu retten. Doch ihr „umgeschulter“ Arbeiterklassengeschmack wird immer defizitär bleiben gegenüber jenem der Mittel- und Oberklassen, der sich mit schlafwandlerischer Sicherheit durch die Welt der Aromen zu bewegen vermag. Denn Schmecken ist ein Moment von inkorporierter, zur zweiten Natur gewordener Ungleichheit. Mit Bourdieus Habitusbegriff, verstanden „ als Vermittlungsinstanz zwischen sozialer Position und Perspektive bzw. konkreter gesagt als Verbindungsglied zwischen sozio-ökonomischer Lage und den Denk-, Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata“ (Barlösius 2001: 86), ist es möglich, Praxen des Schmeckens nicht als bloße individualisierte Vorlieben oder Abneigungen zu begreifen, sondern als verinnerlichte Klassengeschichte. Deshalb bestimmt Bourdieu die Auseinandersetzungen um „guten Geschmack“ – im Wort- wie im übertragenen Sinn – sowie um „legitime Kultur“ auch als symbolische Klassenkämpfe (Bourdieu 1982). Die Serie Ministry of Food ist eine Arena solcher symbolischer Klassenkämpfe, eines Ringens um Deutungshoheit über zeitgemäße Essgewohnheiten und Lebensweisen. Dieses Ringen lässt sich auch als eines um Selbstvergewisserung der von Abstiegsängsten geplagten Mittelklasse analysieren. In Großbritannien boomen seit einigen Jahren Fernsehformate, in welchen lernwillige Kandidatinnen und Kandidaten ihren als veraltet und unpassend geltenden Habitus umarbeiten (McRobbie 2008; Skeggs 2005). Sie versuchen, so gut sie können, die Anforderungen einer Lebens- und Arbeitsweise zu erfüllen, die mit der hochtechnologischen Produktionsweise korrespondiert. Die geschmähte Vulgarität soll abgelegt, die Rohheit geschliffen und ein angemessener Lebensstil angelernt werden. Ministry of Food steht in einer Reihe solcher Make-Over-Shows, in der die Teilnehmenden sich „trotz geringer materieller Chancen zu selbstverantwortlichem Handeln im Sinne neolibe-
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raler Anforderungen bringen und mit den bestehenden gesellschaftlichen Hierarchien versöhnen. Durch ihre eigene Arbeit beteiligen sich die KandidatInnen aktiv an ihrer Unterwerfung und suchen nach individuellen Lösungen für gesellschaftliche Konflikte, womit verallgemeinerbare Perspektiven auf solidarisches Handeln und politisches Engagement suspendiert werden. Eine zentrale politische Funktion (...) ist demnach die Modernisierung der Lebensweise bei gleichzeitiger grundlegender Akzeptanz bestehender Ungleichheitsverhältnisse.“ (Niggemann 2009 i.E.) Olivers Fleischklößchen versprechen mitnichten eine Chance auf sozialen Aufstieg. Sie sind vielmehr ein Angebot, das Natasha, Mick und all die anderen nicht ablehnen können, wenn sie nicht das Stigma der „unwürdigen Armen“ tragen wollen. Wo die frohe Botschaft von „Pass it on“ nicht ankommt oder auf taube Ohren stößt, wo die geforderte Selbstmobilisierung nicht gelingt oder verweigert wird, lässt sich eine Linie ziehen: zwischen „mündigen Konsumenten“ und infantilisierten „Konsumidioten“, zwischen aktivierbaren „würdigen“ und passiven „unwürdigen Armen“. Vor diesem Hintergrund bekommt Jamie Olivers sympathische Parole „Jeder kann kochen!“ eine ganz andere Bedeutung: „Jeder kann“ heißt auch: „Jeder könnte, wenn er nur wollte.“ Und jeder muss wollen, jeder muss Lernwilligkeit und Flexibilität unter Beweis stellen. Das schließt mit ein, dass eine Frau wie Natasha sich bereit und fähig zeigen muss, ihre Armut individuell zu verwalten. Und tatsächlich: Schon in der zweiten Episode pflanzt sie ihr eigenes Gemüse an. Die britische Tageszeitung The Guardian sieht in Ministry of Food „eine der gewaltigsten politischen Dokumentationen seit Jahren“, weil hier bildlich werde, dass es beim Essen „immer noch um Klasse geht“ (Lawrence 2008). Und richtig, die soziale Frage wird hier durchaus gestellt. Doch sie wird gestellt auf eine Art und Weise, die Natashas Erfahrung auf ein bloß individuelles Schicksal reduziert, und damit nur eine Antwort kennt: Eigenverantwortung. So leistet die Serie ihren Beitrag dazu, die Aktivierungsanforderung gesellschaftlich zu popularisieren, ihr Jamies Lächeln zu verleihen und dabei den Topos soziale Ungleichheit – im Sinne einer ungerechten Gesellschaftsordnung – aus dem kollektiven Gedächtnis zu verbannen. Dass dies gut klappt, zeigt sich beim Blick auf die unzähligen Diskussionen um Ministry of Food in Internetforen. Viele lassen dort, von so manchen Ungereimtheiten in der Sendung unbeeindruckt, ihrer Empörung freien Lauf: Sie würden Natasha am liebsten die Kindern wegnehmen. Durch ihre „schiere Faulheit“ und den fehlenden Willen sich selbst zu helfen, hätte sie jedes soziale Recht verwirkt. Wie sie sich den Fernseher leisten kann, wollen sie wissen. Wie sie wurde, wer sie ist, wird seltener gefragt. Und aus diesem Effekt schöpft die Serie politische Brisanz. Sie trägt so zu einem Klima bei, in dem sich bereits eines Pauschalverdachts erwehren muss, wer aus den ehemaligen Industrieregionen des britischen Nordens kommt, alleinerziehend oder auf Sozialleistungen angewiesen ist.
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„Ich bin selbst eine alleinerziehende Mutter aus Rotherham“, schreibt in Jamie Olivers Internetforum eine Frau namens Charlotte, „ich habe meine Tochter ohne jede Unterstützung oder Sozialhilfe großgezogen. Ich lebe immer noch von einem engen Budget und koche immer mit frischen Zutaten. Seit es durch die Kreditkrise noch härter geworden ist, baue ich hinter meinem Haus Salat und Gemüse an, um Kosten zu sparen.“ „Super, Charlotte!“, wird sie von Minerva gelobt, „Das Geld ist bei vielen von Euch knapp, aber du schnallst den Gürtel enger und machst das Beste draus!“ (Jamie Oliver.com Forum 2008)
Charlotte pocht auf ihre Würde und ist stolz auf ihre Unabhängigkeit. Doch ihre Lust an der Selbstermächtigung und die Pflicht zur eigenverantwortlichen Armutsverwaltung, die Minerva anmahnt, liegen dicht beieinander. Ministry of Food knüpft hier an, indem es Alltagserfahrungen von materieller Ungleichheit und kultureller Ungleichzeitigkeit aufgreift und sie über die Sprache der „Ernährungskrise“ definiert. Um dieses Problem in den Griff zu bekommen, braucht es nach der Logik von Programmen wie Ministry of Food nicht etwa verhältnispräventive Maßnahmen gegen sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheit, kein Umdenken bezüglich der Strukturen der Lebensmitteldistribution, nicht mehr Geld für das Gesundheitswesen, für Bildung oder Soziale Arbeit und erst recht keinen Zugang zu menschenwürdiger sozialer Sicherung, gut entlohnter Arbeit und gesellschaftlicher Teilhabe, sondern bloß ein bisschen guten Willen. „Pass it on!“ radikalisiert in der medialen Event-Form das, was Rose als Regieren durch Communities bezeichnet hat: Mit einer Graswurzel-Rhetorik werden Subjekte als Mitglieder der als defizitär repräsentierten Arbeiterklasse des britischen Nordens angerufen und in die Pflicht genommen, als Teil von Freundschafts- oder Nachbarschaftsnetzwerken gegen „ihre“ Ernährungskrise aktiv zu werden. Ihre Sehnsüchte nach individueller und gesellschaftlicher Veränderung, ihr Begehren nach Handlungsfähigkeit und Selbstermächtigung werden gemeinsam mit dem Bedürfnis nach Strategien zur Linderung materieller Notlagen aufgegriffen und in ein gesellschaftliches Projekt integriert, das soziale Widersprüche und Konflikte herrschaftsförmig bearbeitet. Gerade in der Spannung zwischen Wollen und Sollen, dem „Zueinander von Konsens und Zwang, von ‚Lebensentwürfen von unten’ (...) und herrschaftlichen Anrufungen“ (Kaindl 2007, S. 22) entfaltet ein hegemoniales gesellschaftliches Projekt seine Wirkmacht. Als ein solches gelingt es nur, wenn es vermag, die sozialen Widersprüche „zu handhaben“ und eine spezifische Form ihrer Bearbeitung gesellschaftlich zu verallgemeinern. Ernährung war, ist und bleibt eines der Felder, auf dem die Kämpfe um diese Widerspruchbearbeitung ausgetragen werden – „von oben“ wie „von unten“. Das gilt ebenso für Rotherham. Auch hier wird nicht nur von oben interveniert, um gesellschaftliche Widersprüche im Feld Ernährung zu befrieden, sondern es regt sich auch Widerstand von unten gegen diese Politik der Bedürfnisinterpretation. In Reaktion auf das Ministry of Food-Projekt ist ein Internetblog auf den Plan
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getreten, der die Bewohner Rotherhams „zu den Waffen“ rufen will. Er erinnert an die lange Geschichte sozialen Ungehorsams der Stadt, allen voran an den großen Streik der Bergarbeiter 1984/85. Den Klassendünkel des selbsternannten Messias, die verzerrenden Repräsentationen und Entmündigungen, die seine TV-Serien transportieren, sollten sich die Menschen hier nicht länger gefallen lassen. Der Blog heißt „Jamie go home“ (2008). In einem anderen Internetforum kursierte ein Witz, der angeblich noch aus den Zeiten stammt, in denen das ursprüngliche Ministry of Food seine guten Werke tat: „Eine aristokratische Lady hält einer Gruppe Frauen einen Vortrag darüber, wie man einen nahrhaften Eintopf aus Fischköpfen zubereiten kann. Nach ihrem Vortrag stellt sie sich Rückfragen. Eine junge Arbeiterfrau steht auf und sagt: ‚Vielen Dank für ihren Vortrag, ich bin sicher, meinen Kindern und mir wird die Suppe schmecken. Aber sagen Sie bitte, wer hat denn den Rest vom Fisch gegessen?’“
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