Scanned by Heide
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Scanned by Heide
Kösel
ISBN 3-466-36563-5 © 2001 by Kösel-Verlag GmbH &Co., München Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten Druck und Bindung: Pustet, Regensburg Umschlag: Kaselow Design, München Umschlagmotiv: Mauritius/Age l 2 3 4 5 • 05 04 03 02 01 Gedruckt auf umweltfreundlich hergestelltem Werkdruckpapier (säurefrei und chlorfrei gebleicht)
Inhalt
Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l
Drei Anfragen: Mensch - Tier Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1 Was haben Christen mit Tieren zu tun? . . . . . . .
9
21
22
1.1.1 Märtyrer: Wilde Bestien und fromme Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
22
1.1.2 Die Tierschutzbewegung . . . . . . . . . . . . . . . .
29
1.1.3 Ein Wort zur Menschentheologie . . . . . . . . .
33
1.2 Ist Gott Vegetarier? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
l .2. l Rezepte aus der Bibel »Vorsicht: Fundamentalismus!« . . . . . . . . . .
42
1.2.2 Was steht in der Bibel? . . . . . . . . . . . . . . . . .
44
1.2.3 War Jesus Vegetarier? . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52
1.2.4 Haben Tiere eine Seele?. . . . . . . . . . . . . . . . .
55
1.2.5 Was ist mit den Tieropfern in der Bibel? . . .
63
1.2.6 Ist das Friedensreich nur eine fromme Utopie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
1.3 Können es andere besser? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72
1.3.1 Der lateinisch sprechende Hund. Eine Erzählung aus den Anden . . . . . . . . . . .
72
1.3.2 Heilige Kühe und heilige Affen . . . . . . . . . .
79
1.3.3 Ein »heißes Eisen«: Das Tier im Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84
1.3.4 Zivilisationsprobleme: Muslime in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . .
96
2 Auf der Suche nach christlicher Spiritualität
101
2.1 Erinnerung an ein christliches Modell: Heilige und Tiere .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
102
2.1.1 Einige alternative Heiligengeschichten .. . . .
105
2.1.2 Einige Regeln im Umgang mit Heiligenlegenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
111
2.1.3 Heilige und Tiere - Eine spirituelle Zoologie
121
2.2 Eine veränderte Spiritualität .. . . . . . . . . . . . . . . .
134
2.2.1 Sind wir ein Teil der Erde? . . . . . . . . . . . . . .
134
2.2.2 Kommunikation mit Wesen . . . . . . . . . . . . . .
138
2.2.3 Was Spiritualität bedeuten könnte .. . . . . . . .
154
2.3 Tiere in die Kirche Einige praktische Veränderungen . . . . . . . . . . . .
165
2.3.1 Der Hund neben der Kanzel .. . . . . . . . . . . . .
165
2.3.2 Tiergottesdienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
173
2.3.3 Tier-Liturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
180
2.3.4 Tod, Trauer, Abschied - auch vom Tier . . . .
185
2.3.5 Eine Kirche für Menschen und Tiere . . . . . .
193
2.3.6 Rezepte für Gemeindefeste ohne Totschlag. .
200
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
210
Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
214
Einleitung Vor einiger Zeit beschäftigte sich eine Radiosendung mit der Frage, ob Männer weinen dürfen, ob es gesellschaftlich erlaubt ist, wenn Männer Schwäche zeigen. Es wurden Beispiele genannt, die deutlich machen, dass diese Frage nicht so eindeutig zu beantworten ist: Einem Gouverneur in den Vereinigten Staaten kostete sein Weinen in den späten Siebzigerjahren die politische Karriere, während es bei dem amerikanischen Präsidenten Bill Clinton durchaus als Zeichen von Stärke gedeutet wurde. Ich fand die Frage interessant, denn dahinter verbirgt sich ein starker gesellschaftlicher Bewusstseinswandel, der nur vordergründig mit dem Hinweis auf Veränderungen in der Rollensituation erklärt werden kann. In den westlichen Gesellschaften hat sich seit den Siebzigerjahren sehr viel in Bewegung gesetzt, das sich nach außen in veränderten Verhaltensweisen zeigt. All das lässt sich aber nur schwer auf einen Punkt bringen. In der Euphorie der späten Siebzigerjahre sprach man vom beginnenden Zeitalter des Wassermanns: »Love and Peace and Understanding« (aus dem Musical: »Hair«). Heute sollten wir mit Etiketten und Begrifflichkeiten vorsichtiger sein. 9
Diese Vorsicht sollte aber nicht den Blick trüben für die Realität und die Radikalität der Veränderungen. Einem bisher wenig beachteten Moment dieses Bewusstseinsprozesses geht dieses Buch nach, nämlich dem der Veränderung der Einstellung des Menschen zu den nicht-menschlichen Wesen. Ausdruck dieses Beziehungswandels ist der enorme Aufwand und die innere Betroffenheit, mit der Menschen sich im Tierschutz engagieren. Dem Argument der Straße, dass diese Menschen »komisch« seien oder sich stattdessen lieber für den Menschenschutz einsetzen sollten, muss mit dem evangelischen Theologen Karl Barth entgegengehalten werden: »Es ist wohl kein Zufall, dass die Stimmen, die sich in dieser Richtung vernehmen lassen, in der Regel etwas Bizarres, ja Wildes an sich haben: Es wird damit zusammenhängen, dass wir uns an der Grenze des Sagbaren und Tubaren befinden.«1 Im Verhältnis der Wesen zueinander zeigt sich etwas von dem letzten Geheimnis, vor dem alle Geschaffenen stehen. Es ist wichtig, diesen Veränderungen nachzuspüren, denn sie geben uns wichtige Hinweise auf den Weg zum Geheimnis des Lebens. Gerade heute, nach der Neuentdeckung von Natur und der Verantwortung des Menschen für Luft, Wasser und Erde gehen viele Menschen verstärkt auf die nicht-menschlichen Lebewesen zu. Dass dies ein spiritueller und geistgeleiteter Vorgang ist, versucht dieses Buch zu skizzieren. Nun gibt es viele Bücher über Tiere und Menschen. Es gibt auch imposante theologische und ethische Deutungen des Mensch-Tier-Verhältnisses - oft in Vergessenheit geraten, wie zum Beispiel das Werk Albert Schweizers. Auch andere spirituelle Autorinnen und Autoren haben sich dazu geäußert: Joseph Bernhart, Erich Grässer, Gotthard Teutsch, Eugen Drewermann, Günter Altner. Es fällt auf, dass ihr Anliegen gerade in der Theologie und in den Kirchen nicht ernst genommen wurde, weil eine Blickverengung die theologische Reflexion stumpf und dumpf gemacht hatte. Und diese Blickverengung, eine Art von geistigem 10
»grauen Star« dauert noch an. Diese Engführung des Blicks umfasst vieles: die Nichtbeachtung der Lebewesen in den Kirchen, die Bedenken- und Geistlosigkeit, mit der Theologie auf den Menschen, und zwar noch dazu in ihrer europäischen Spielart, ausgerichtet wird. Erst allmählich weitet sich der Blick und man beginnt zaghaft zu erkennen, dass Schöpfung und Erlösung viel universaler aufzufassen sind. Eine Folge solch reduzierter Theologie ist die große Blindheit gegenüber den gegenwärtigen spirituellen Erfahrungen vieler Menschen. Dabei betreffen »spirituelle Erfahrungen« nicht notwendig das Außeralltägliche, Besondere, »Mystische«. Mindestens ebenso bedeutsam wie religiöse Spitzenerfahrungen sind Erfahrungen von Veränderungen, die sich vollziehen, wenn Menschen entdecken, dass sie in einem universalen Zusammenhang mit allem Geschaffenen stehen und wenn sie fragen, was diese Erkenntnis für das alltägliche Leben bedeutet. Diesen Menschen ist dieses Buch gewidmet. Es fragt nach Veränderungen im Umgang mit Lebewesen und nach Möglichkeiten eines reiferen und freieren Verhältnisses auf der Basis christlicher Überzeugungen. Es will auch ein klein wenig die trösten, die sich seit Jahren und Jahrzehnten dafür einsetzen, dass Tiere in den Kirchen und in der Theologie vorkommen. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Ich habe persönlich sehr oft mit Menschen zu tun gehabt, die nicht verstehen konnten, warum Kirchenleute, Theologinnen und Theologen sich nicht um unsere Mitgeschwister kümmern, warum diejenigen, die sich dafür einsetzen, sozusagen an der Pforte des Pfarrhauses für ihr Engagement verlacht werden. Eine Dame berichtete mir vor einiger Zeit folgende symptomatische Szene: An einem Stand auf dem Kirchentag in Hamburg sei sie mit einer protestantischen Bischöfin ins Gespräch gekommen. Es sei dann auch um Tiere gegangen. Woraufhin die Bischöfin das Gespräch mit dem spöttischen Hinweis abgebrochen habe, dass sie nicht sicher sei, ob Tiere eine Seele hätten. Sowohl der Spott als auch die Sachaussage haben der Dame keine Ruhe gelas11
sen. Sie schrieb der Bischöfin nach dem Kirchentag einen langen Brief. Woraufhin sie eine sehr knapp gehaltene Antwort erhielt mit dem Kernsatz: »Die Bischöfin überlege derzeit, ob man Tieren eine Seele zusprechen könne und ob dies im Einklang mit der christlichen Theologie stehe.« Jeder, der Kontakt mit Tieren hat, braucht die Antwort der Bischöfin nicht mehr. Er oder sie weiß, dass Tiere eine Seele haben, und weiß auch um die entsetzlichen Grausamkeiten, die daraus entstanden sind, dass man Gottes Geschöpfen die Seele abgesprochen hat. Ein veränderter Umgang mit Lebewesen bildet den Ausgangspunkt für eine neue spirituelle Offenheit. In ihm zeigt sich eine neue Form von Spiritualität. Wer mit Wesen umgeht, ist dem unverbindlichen Gerede über »Schöpfung«, »Schöpfungsverantwortung« usw. entzogen. Er oder sie wendet den Blick weg von einem abstrakten Naturbegriff, diesem typischen Produkt unserer abendländischen Mentalitätsgeschichte und öffnet die Augen für das jeweilige individuelle Wesen mit seinen subjekthaften Eigenschaften: einen Willen zum Leben, der sich nicht von unserem Lebenswillen unterscheidet, seine Individualität, seine Seele, die mit allen geschaffenen Seelen in Verbindung steht. Diese Spiritualität legt Weltflucht, die Wegwendung von allem Geschaffenen, Irdischen, Fleischlichen ab. Viele theologische Darstellungen von Spiritualität in den letzten Jahrhunderten durchzieht diese Gleichsetzung von Welt und Sünde, von der man sich eben abwenden müsse. Auch neuere Äußerungen kirchlicher Vertreter sind nicht frei von einer zumindest missverständlichen Auffassung von Schöpfung. Diese alte Spiritualität möchte die Welt überwinden. Leiden wird zum Ausweis der Richtigkeit; Opfer bis hin zur Aufopferung des eigenen Selbst stellen den Königsweg zu Gott dar. Spiritualität steht in einem deutlichen Gegenüber zu Welt und Erdhaftigkeit. Eine solche spirituelle Ausrichtung stellt eine Vereinseitigung christlicher Spiritualität dar und führt zu einer weltlosen, ausgebluteten Geistigkeit. 12
Der Weg zu Gott führt aber über das Geschaffene. Nicht umsonst wissen alle großen Gestalten und Zeugen des Glaubens darum, dass die ewige Wahrheit Gottes in den Geschöpfen liegt. Zum Geschaffenen gehört unser Leib - genauso wie Tiere. Es war schwierig, in der christlichen Tradition mit dieser Tatsache umzugehen. Aus Mitgeschöpfen wurden im Laufe der Zeit reißende Bestien, aus der Sonderstellung des Menschen als Statthalter Gottes wurde ein umfassender Herrschaftsanspruch des Menschen, aus von Gott geschaffenen Wesen wurden bloße Körper und Maschinen. Die Tiere verschwanden aus dem Bereich der Spiritualität genauso wie die Sensibilität für den anderen Menschen und für sich selbst. Aus dem realen Menschen wurde ein leibloses Wesen, das dann (natürlich) auch keine Verbindungen zu anderen Wesen aus Fleisch hat. Das Fleisch musste bekämpft werden. Es war schlecht. Man stellte sich vor, dass Gott Armut, Kreuzigungen, Demütigungen, Leiden, Opfer liebt, kurzum alles, was uns vom wirklichen Leben abschneidet. Es wäre interessant, dieser Frage genauer nachzugehen, denn immerhin besteht die zentrale christliche Gottesvorstellung darin, dass Gott in Jesus Christus Fleisch wird, lateinisch: »incarnatio« (Inkarnation)2. Tiere als Mitwesen anzusehen, Beziehungen mit ihnen einzugehen hält uns eine Tür zur neuen Spiritualität offen - zur Verbindung mit allen Wesen. Eine neue Inkarnation ist, wenn sich der Mensch in dieser Verbindung erfährt, sie fühlt, sich intuitiv diesen Kommunikationen und Interaktionen öffnet. Diese neue Sicht stellt nicht zuletzt eine Heiligung der Welt und des Alltäglichen dar. Spiritualität ist dann kein Fliehen von der Welt, sondern ein Gegenwärtigsein in der Welt. Zu diesem Gegenwärtigsein in der Welt gehört aber vor allem das Bewusstsein der vielen Beziehungen zu allen Wesen, die es noch zu entdecken und entwickeln gilt. Wir stehen hier erst am Anfang einer neuen Geschichte des Miteinanders aller Lebewesen. 13
Der heilige Bonaventura, einer der Großen in der westlichen Tradition, hat diese Haltung so umschrieben: »Die Wesen der sinnlichen Welt bezeichnen die unsichtbaren Attribute Gottes, weil Gott der Ursprung, das Urbild und das Ziel jedes Geschöpfs ist, jede Wirkung so Zeichen dieser Herkunft ist, ein Abbild des Urbilds und der Weg zum Ziel... jedes Geschöpf ist durch seine Art Bildnis und Gestalt der ewigen Weisheit. Öffnet darum die Augen, macht die Ohren eures Geistes wachsam, öffnet eure Lippen und bereitet euer Herz, um in allen Geschöpfen euren Gott zu sehen, zu hören, zu preisen, zu lieben, zu verehren und zu verherrlichen...«3 Diese Spiritualität nimmt ernst, was sie fühlt, dass nämlich in allem Geschaffenen etwas von der ewigen Herrlichkeit Gottes aufleuchtet und dass wir Menschen diese Erfahrung zurückweisen. Die Veränderung in der Haltung setzt voraus, dass der angerufene Mensch bereit ist, mit anderen Wesen in Kontakt zu treten, mit ihnen eine Beziehung einzugehen. Was bedeutet es, eine Beziehung zu haben? Beziehungen können vieles sein. Es gibt aber zwei grundsätzlich unterschiedliche Arten, wie sich Wesen aufeinander beziehen: im Sinne eines Objekts und im Sinne eines Subjekts. Ein Objekt ist letztlich etwas, das dem Zugriff des Subjektes ausgeliefert, unterworfen ist. Das Objekt wird behandelt. Wie in einem Satz unserer eigenen Sprache ist immer das Subjekt das eigentlich Entscheidende. Was geschieht, wenn wir Menschen gegenübertreten? Nach der Kindheit werden andere Menschen zunehmend zu Objekten des eigenen Selbst. Um in einer Gesellschaft voranzukommen, muss das Subjekt über die Fähigkeit verfügen, andere Menschen für seine Bedürfnisse einzusetzen. Wir nennen dies auch Manipulation. Wenn wir darüber nachdenken, stellen wir fest, dass in einem solchen Umgang mit anderen Menschen etwas nicht richtig läuft, uns vielleicht etwas stört. Jeder Mensch trägt ein inneres Bild in sich, das jenseits dieser Subjekt-Objekt-Beziehung liegt. Man könnte dieses Jenseitige »Liebe« nennen. Es stellt sich selten 14
ein, verschwindet manchmal fast. In seinem Kern besteht es darin, dass ich erkenne, dass mir ein anderes Ich mit denselben Interessen, Ansprüchen, Rechten gegenübersteht. Erst diese Erkenntnis erlaubt mir, mit einem anderen wirklich zu sprechen. In jedem Sprechen setze ich voraus, dass die Welt, die der andere ist, ähnlich aufgebaut ist wie meine, dass wir mit bestimmten Ausdrücken unserer Sprache etwas Ähnliches meinen: das Auto da vorn, jenes Buch usw. In einem solchen Verhältnis wird jeder mehr; denn dem jeweils anderen wird ein größerer Raum geschaffen, in den hinein er sich entwickeln kann. Ein äußeres Zeichen für eine Beziehung ist der Name. Wer vom anderen den Namen weiß, ist in eine Beziehung zu einem Subjekt eingetreten. Es gab über den weitaus längsten Teil der menschlichen Entwicklungsgeschichte eine solche Art von Beziehung zum nicht-menschlichen Leben, wie viele Jägergesellschaften zeigen: Menschen fühlen sich anderen Wesen verbunden und zwar ähnlich wie sie mit anderen Menschen verbunden sind. Deshalb bedarf es komplizierter Rituale, um zum Beispiel die Seele des getöteten Bären zu besänftigen. Der Bison wird vorher um Entschuldigung gebeten, dass er getötet wird. Ihm wird versprochen, dass alle seine Teile dafür verwendet werden, um das Überleben des Clans zu sichern. Auch mit dem bedrohenden Tier wird gesprochen. Die Wölfe werden gebeten, vom Dorf wegzubleiben. Der Mensch ahnt intuitiv, dass er mit anderen Wesen Bestandteil eines größeren Gesamtzusammenhanges ist. Diese Beziehung veränderte sich zunehmend, wenngleich in langen Wellen, als Tiere domestiziert wurden: der Hund vor etwa 14.000 Jahren, die Rinder und Pferde. Vor allem die Tiere, die zum festen Bestand in der Nahrung wurden, waren davon besonders betroffen: Schweine, Ziegen, Schafe, später auch Rinder. Eine vollständige Trennung domestizierter Tiere und wilder Tiere wurde erst in der modernen Intensivtierhaltung erreicht. - Doch: Noch immer werden Rentiere im nördlichen Europa durch Salz zum Menschen zurückgelockt, ähnlich wie das wilde Rind bei den 15
indischen Ureinwohnern. Durch den täglichen Kontakt über einen längeren Zeitraum hinweg gibt es während dieser Zeiten zwar noch die Beziehung, den Tieren werden Namen gegeben, aber sie werden dennoch immer mehr zu Objekten, wenngleich in einem fragilen Gleichgewicht, das in seinen letzten Resten eine Ahnung der verloren gegangenen Verbindung erahnen lässt: »Der Schnee knirschte, die tonnige Jolanthe erschien, leicht schwankend... Großvater führte mit beruhigendem Rezitativ und mit streichelnder Hand; eine hofeigene Prozession mythischen Schweinseins; ein ganzes lebendes Schwein erfüllte mit seinem Sein noch einmal gebieterisch den Raum... Das Messer stach zu. Das Blut sprudelte aus der geöffneten Kreatur und rauchte, sobald der Frost es streifte. Todesschreie gellten in die winterweiße Morgenstarre des Dorfes hinein. Jeder hörte, was geschah. Plötzlich wurde das Schwarz der sich plusternden Krähen auf bedrohliche Weise im Geäst roher Reifbäume sichtbar. Jeder hütete sich, das verendende Wesen zu bedauern, hieße das doch, wie Großvater sagte, den baldigen eigenen harten Tod heraufzubeschwören. Er und der Schlachter prosteten sich mit dem ersten Köm zu, dem Ehrenschluck. Der Scharfrichter murmelte dabei, als er das Glas absetzte, in Richtung seines Opfers: >Dat is as dat is, wat mutt dat mutt!Gemeindesau< hilft beim Sparen für die neue Sakristei«. Man hat die Sau Auguste ein Jahr lang gemästet, um sie dann zu schlachten. Der Erlös dieses »Schlachtessens« soll dem Neubau einer Sakristei dienen. Der Artikel lobt die Findigkeit in Zeiten knapper Kassen. Das Bild zeigt im Vordergrund das große Schwein und im Hintergrund vier ältere Männer (der Pfarrer ist darunter). Kein Satz dieses Artikels lässt ein Bewusstsein von der Obszönität dieses Plans auch nur ahnen. Ich weiß nicht, ob diese Sakristei inzwischen gebaut wurde. Ich selbst würde mich nicht gerne an einer solchen mit Blut erkauften Stätte auf die heilige Liturgie vorbereiten. Damit nun aber niemand vor der Verlegenheit steht: »Was können wir denn dann überhaupt noch christlich vertreten?«, habe ich einige Rezepte für Kirchenfeste ohne Mord und Totschlag ans Ende dieses Buches gesetzt. Ich würde mich freuen, wenn möglichst viele Gemeinden das Thema einer in der heutigen Situation vertretbaren Verpflegung auf Gemeindefesten aufgreifen würden. Jede kleinste Diskussion erfüllt hier schon einen Zweck. Ich vertraue darauf, dass sie in jenem Geist geführt wird, der die gesamte Schöpfung heilt und beseelt. Bei aller Nüchternheit in der Wahrnehmung und in der Darstellung kann unser Thema nicht verhandelt werden, ohne Hoffnung spirituell zu stärken. Zeichen dieser Hoffnung sind die vie19
len Lernwege, die Menschen in den letzten Jahren gegangen sind und mir auch mitgeteilt haben. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen und selbst zu lernen, dass die vielen Wege der Beziehungen zu allen Wesen spirituelle Aufbrüche darstellen. Meine Frau Cornelia hat das immer schon gewusst. Sie hat mir das Herz geöffnet für die vielen Gestalten der Liebe, die sich in unserer Umgebung zeigen und sich mitteilen möchten. Auch meine Töchter Anna, Agnes, Nora und Lydia haben ihren gewichtigen Anteil an diesem Lernprozess. Und ich glaube, dass in den vergangenen zwanzig Jahren kein Tag ohne ein zumindest winziges Lernergebnis in Sachen Lebewesen-Spiritualität geblieben ist. Michael Blanke danke ich, dass er mich gegen meinen anfänglichen Widerstand in die theologische und kirchliche Auseinandersetzung um Lebewesen hineingezogen hat. Wesentliche Impulse verdankt dieses Buch auch den vielen Vorarbeiten von Gotthard Teutsch, dem großen Förderer der Tierethik-Diskussion in Deutschland. Auch dem Lektor des Kösel-Verlages, Winfried Nonhoff, sei hier aus ganzem Herzen gedankt. Er hat nicht locker gelassen, bis dieses Buch geschrieben war. Ich wünsche mir Spaß beim Lesen, Kritik und Anregungen und freue mich über die Resonanz-Wellen, die mein Stein des Anstoßes auf der scheinbar ruhigen Oberfläche gegenwärtiger Spiritualität hoffentlich erzeugen wird.
Drei Anfragen: Mensch TierReligion
1.1. Was haben Christen mit Tieren zu tun? 1.1.1 Märtyrer: Wilde Bestien und fromme Menschen Eusebius von Caesarea über Tierhetzen auf Märtyrer »Wir haben die lebendigste Erinnerung an die leuchtenden Blutzeugen in Palästina, auch jene zu Tyrus in Phönizien. Welchen Augenzeugen hätte es nicht erschüttert: diese unzähligen Peitschenhiebe, die Standhaftigkeit dieser wahrhaft bewundernswerten Streiter für den Glauben, der Kampf dieser eben noch Gepeitschten mit menschenfräßigen Bestien, das Losstürzen der Panther, Bären, wilden Eber und Stiere, die man mit Feuer und Eisen hetzte, aber auch die erstaunliche Geduld dieser edlen Tiere. Ich selbst habe solchen Schauspielen angewohnt und die göttliche Macht Jesu Christi, unseres Erlösers, als gegenwärtige in seinen Blutzeugen wirksam gesehen. Denn die gierigen Bestien getrauten sich lange Zeit nicht, die Leiber der Gottgeliebten zu berühren, ja sich nur zu nähern. Sie rannten umgekehrt gegen die andern an, die sie am Rande der Arena her mit ihren Reizungen antrieben, und nur die heiligen Kämpfer, die nackt dastanden und in die Hände klatschten, um die Tiere auf sich zu ziehen (denn so war ihnen befohlen), rührten sie überhaupt nicht an. Und wenn sie wirklich einmal auf sie losgingen, so wichen sie, wie von einer höheren Macht abgeschlagen, wieder zurück. So ging es zum Staunen der Zuschauer geraume Zeit fort, denn wenn das erste Tier seinen Märtyrer nicht angriff, so hetzte man ein zweites und drittes auf ihn. Ergreifend war die unbeugsame Seelenstärke dieser Heiligen und die Heldenkraft, die in den jugendlichen Körpern wohnte. Man sah dort einen jungen Menschen von noch nicht zwanzig Jahren: ohne Fesseln stand er da, mit kreuzförmig ausgestreckten Armen, aus hellem Geiste sprach er langsam sein Gebet zu Gott, 22
ohne sich von der Stelle zu rühren, auf der er stand - und doch schnaubten Bär und Panther Wut und Tod gegen ihn und packten schon sein Fleisch, aber ich weiß nicht, wie durch geheime Gotteskraft sperrte sich ihr Rachen, und sie gingen wieder zurück. Andere von den Fünfen sah man, die einem aufgereizten Stier hingeworfen waren: der aber schleuderte wohl die Anhetzenden mit den Hörnern in die Luft, zerriss sie und ließ Halbtote zurück, die man wegtragen musste, den Heiligen aber vermochte er, auch wenn er wild und drohend auf sie ansetzte, nicht einmal nahe zu kommen, stampfte mit den Füßen, fuhr mit den Hörnern hierhin und dorthin und kehrte sich, durch die Brandeisen hinter ihm rasend geworden, von den Menschen heiligen Sinnes rückwärts nach der Gegenseite, sodass man, weil er den Märtyrern auch nicht das geringste Leid zufügte, andere Tiere auf sie losließ. Schließlich aber wurden sie nach mannigfachen Martern alle mit dem Schwert enthauptet und, statt der Erde eines Grabes, den Wogen des Meeres übergeben. So also war es mit dem Kampfe der jungen Ägypter zu Tyrus, die in Leiden ihre Religion bewiesen.«
Der historische Kern dieser Erzählung ist schwierig zu bestimmen. Und wir wissen auch nicht genau, ob Eusebius (265-339 n. Chr.), der dies alles im damals üblichen Berichtsstil schreibt, tatsächlich bei den Vorgängen anwesend war und sie beobachtet hat. Jedenfalls stellen Kämpfe von Tieren gegen Menschen in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten eine »normale« römische Unterhaltung dar. Sie spiegeln die Ideologie des römischen Reiches, das über alles, zuletzt auch über die Natur siegen kann. Öffentliche Spiele folgen dieser Dramaturgie: Erst kämpft Tier gegen Tier, dann Tier gegen Mensch, danach Mensch gegen Mensch. Mosaike in der Römervilla in Bad Kreuznach aus der Mitte des zweiten Jahrhunderts nach Christus zeigen dies plastisch. Wir müssen uns vor Augen halten, dass der christliche Glaube durch die Entscheidung des Kaisers Konstantin aus einer verfolgten Sekte zu einer Staatsreligion wurde. Dabei änderte sich seine 23
Gestalt ganz wesentlich. Vor allem wird das persönliche Ergriffensein, das Zeugnis, die eigene Gnadenerfahrung, die eigene Spiritualität immer unwichtiger. Bedeutender wird der öffentliche Kultus, der damit den älteren römischen Kaiserkult ablöst. Christliche Religion ist spätestens ab diesem Zeitpunkt nicht mehr von der profanen Geschichte des Abendlands zu trennen. In gewisser Weise ist europäische Geschichte Kirchengeschichte. Erst die französische Revolution trennt diese Verbindung. Christen leben eben nicht außerhalb der Gesellschaft. Diese heute triviale Aussage gilt aber weitaus stärker vor der Neuzeit. Denn da ist die tragende Weltanschauung unlösbar verschmolzen mit einer bestimmten religiösen Ausformung christlichen Gedankengutes. Was davon authentische Glaubensvorstellung sei, welche Teile falsch interpretiert oder zumindest sehr zeitbedingt gesehen wurden, kann an dieser Stelle weitgehend unentschieden bleiben. Es geht hier weder um eine pauschale Schönfärbung eines historischen Vorgangs noch um die weit verbreitete Schwarzmalerei. Aber der Zusammenhang Tiere und Christen verdient doch einige Worte, denn er ist untrennbar eingewoben in die Entstehung 24
der abendländischen Gesellschaften und Kulturen. Die Geschichte der abendländischen Zivilisation lässt sich nach zwei Polen hin ausfalten, deren Nähe häufig übersehen wird. Den einen Pol bildet die Zähmung der äußeren Natur, die immer mehr ihren Schrecken verliert, bis sich das Mensch-Natur-Verhältnis nahezu umkehrt. War es in der Geschichte des Menschengeschlechts eher so, dass das Überleben des Menschen fraglich schien, ist es heute so, dass viele Naturwesen (Tiere und Pflanzen) von der Ausrottung bedroht sind.
Eugen Drewermann, der tödliche Fortschritt ...der (abendländische) Mensch ist mit der äußeren Natur gerade so verfahren, wie er mit sich selbst verfuhr, und es war ein und derselbe Vorgang, das »Tierische«, Triebhafte in der eigenen Psyche auszurotten und in der äußeren Natur alles scheinbar »Wilde« und »Unbeherrschte« zu vernichten. In gewissem Sinne wird man sogar die These wagen können, dass in der Zerstörung der Natur durch die abendländische Technologie nur die innere Verwüstung des abendländischen, christlichen Menschen nach außen verlagert wurde.
Hand in Hand damit ging eine zunehmende »Zivilisierung« des Menschen und seiner inneren Natur. Vielleicht ist es in gewisser Weise ähnlich der Zähmung der äußeren Natur zu sehen, dass diese innere Natur jetzt bedroht ist. Manchmal scheint es zwar so, dass diese Zähmung des Menschen nicht sehr weit gegangen sei, und dass das Tierische, Animalische, Instinkthafte zumindest noch in greifbarer Nähe unseres Selbst ruht. Das Bewusstsein davon oder auch nur die Vermutung einer solchen Nähe ängstigen. Und wie bei jeder Art von krankhafter Angst ist dies umso schlimmer, je weniger wir diese Nähe des Menschen zu seinen Verwandten, den nicht menschlichen Lebewesen, wahrhaben wollen. 25
Der gute Hirt. Mosaik in den Calixtus-Katakomben.
Es gab Zeiten, in denen der religiös sich selbst bewusste Mensch diese innere Nähe zu anderen Wesen als Quelle der Kraft nutzen konnte. Schamanistische Riten kennen diesen Zusammenhang, der in Europa im Volk wohl erst durch die flächige Vernichtung weiser Frauen im Zeitalter der Hexenverfolgungen endgültig aufgelöst wurde. Tiere belehren vor dieser Zeit den Menschen, manchmal sogar über das Wesen der Erlösung, wie in einigen indianischen Mythen. Auch im frühen vorkonstantinischen Christentum ist dieser Zusammenhang greifbar, etwa dort, wo Orpheus, dem nachgesagt wird, mit den Tieren reden zu können, auf Mosaiken, etwa in den Calixtus Katakomben, dem guten Hirten Jesus ähnlich dargestellt wird. Die Zivilisierung des Menschen zerstört diesen Zusammenhang, löst den Menschen aus seiner engen Beziehung zum Tier und dämonisiert es. Es wird zur »reißenden Bestie«, wo die eigentliche Bestie immer wieder nur der Mensch ist. Da das Christentum die bestimmende gesellschaftliche Kraft in Europa ist, ist es natürlich auch an diesem Zivilisationsvorgang beteiligt. Aber die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft folgt nicht einem einlinigen Schema. Es gibt Brüche; gerade in der Entwicklung der christlichen Spiritualität treffen wir auf diese Ränder, diesen Gegensatz zur Mehrheit und zur bestimmenden Meinung. Einer dieser Brüche zeigt sich in dem Bewusstsein, dass der wirkliche Heilige sich in einem gnadenhaften Zustand befindet, der die äußere Natur verwandelt. Er ist geradezu das Gegenbild zu dem vor allem im katholischen Bereich lange gepflegten Bild des Frommen, der alle Triebe in sich abtöten will, bildlich gesprochen: das Tier in sich töten will, und gerade dadurch nicht frei von der Natur wird, sondern sich immer mehr verstrickt in seine Triebe. Diesen Spuren werde ich in einem eigenen Kapitel nachgehen. Bei Eusebius findet sich bereits das Erstaunen darüber, dass die von ihm geschilderten Märtyrer »durch geheime Gotteskraft« die wilden Tiere dazu bringen, ihnen nichts zu tun. Dieser Text stammt eben aus jener frühen Zeit, der prägenden Zeit für die erste 27
Christenheit, in der diese neue Religion verfolgt wurde und nur deshalb überlebt hat, weil Menschen dem Impuls des »Mehr« und »Über« über die vorhandenen, sichtbaren Dinge hinaus getraut haben. In diesem Zutrauen steckt eine ungeheure Kraft. Sie ist so groß, dass das Gesetz der Gewalt in der Natur außer Kraft gesetzt wird. Sie setzt auch die Herrschaftsordnung der Römer und ihr Weltbild - Tier gegen Tier, Tier gegen Mensch, Mensch gegen Mensch - außer Kraft. Max Horkheimer, Notizen 1950-1969 »Indem man den tierischen Räuber zur >Bestie< stempelt, schlägt man draußen mit abgefeimter Brutalität, was man drinnen in sich selbst nicht ausrotten kann, das Vor-Zivilisatorische. Es kommt darüber hinaus in dem bestialischen Hass gegen den Wolf aber noch weiter zum Ausdruck, dass man den eigenen Fraß, dem die Schafe ausschließlich vorbehalten bleiben sollen, insgeheim als die grauenvolle Praxis empfindet, die sie wirklich ist... Der eigene Widerwille gegen den Mord am Beschützten, gegen den Verkauf an den Schlächter, ist in die untersten seelischen Schichten verstoßen und steigt in der Wut gegen den illegalen Fresser, der so viel harmloser ist als der verräterische Hirte selbst, mit blutunterlaufenen Augen herauf. Im Mord am Wolf bringt man das eigene Gewissen zum Schweigen.«
Eusebius ist der Ideologie der Reichskirche so verhaftet, dass er keine Erklärung mehr für das Geschehen hat: »aber ich weiß nicht, wie durch geheime Gotteskraft sperrte sich ihr [der wilden Tiere, G.K.] Rachen, und sie gingen wieder zurück«. Das äußere als Wunder wahrgenommene Geschehen wird sehr viel wichtiger als der spirituell viel bedeutsamere Vorgang, dass fromme Menschen mit wilden Bestien so in Verbindung stehen, dass diese ihnen nichts tun. Eusebius ist das Martyrertum, das Einstehen für die Botschaft bis in den Tod, für seine Verteidigung des christlichen Glaubens als konstantinische Reichstheologie wichtiger als 28
die Frage nach dem göttlichen Geist, der sich in dem Geschehen zeigt. Wir haben jenes Modell des Mensch-Tier-Verhältnisses vor uns, das uns bis in unsere Tage hinein bestimmt. Christen und Tiere gehören in diesem Modell zwei Gemeinschaften an: Christen als Menschen dem Gottesstaat und Tiere dem Reich der Natur, des Anti-Christlichen, Triebhaften und Fleischlichen, dem Reich des Satans. Wilde Bestien und fromme Menschen stehen sich in Feindschaft gegenüber.
1.1.2 Die Tierschutzbewegung Auszug aus dem Biberacher Gesangbuch von 1802 »Die Thiere, deren Herr du bist, (erwäg es Mensch, erwäg es Christ!) sind auch des Ganzen Glieder: Der Schöpfung Bürgerrecht verlieh Gott ihnen auch: o blick auf sie Nicht mit Verachtung nieder! Sie, Wunder auch von Gottes Hand, durch ihren Bau dir nah verwandt, durch eingepflanzte Triebe: verraten oft des Denkens Spur, sind treue Kinder der Natur, genießen ihre Liebe... Du kannst, was deine Hand gemacht, was dein Verstand hervorgebracht, wenn dirs gefällt, zernichten. Das Thier ist ein Geschöpf von Gott; Giebst du muthwillig ihm den Tod, wird dich sein Schöpfer richten. 29
Nicht alle Menschen mochten sich dieser das Mittelalter und die Neuzeit bestimmenden Vorstellung beugen, dass andere nicht-menschliche Lebewesen nur dazu bestimmt seien, im günstigsten Fall unter der Verfügung des Menschen zu stehen. Einer der wesentlichsten Ausgangspunkte für die moderne Tierschutzbewegung sind christlich orientierte Kreise. Die Pietisten in Deutschland entdecken Lebewesen als Thema ihrer Spiritualität. Ein interessantes Beispiel in diesem Zusammenhang bietet das Biberacher Gesangbuch von 1802 mit einer eigenen Rubrik: »Pflichtgemäßes Betragen gegen die Tiere, Pflanzen und Bäume«.1 Religiöse Menschen waren maßgeblich an der Gründung des ersten Tierschutzvereins in England 1824 beteiligt (Gesellschaft zur Verhütung von Grausamkeit an Tieren). 1821 wurde ebenfalls in England ein Tierschutzgesetz verabschiedet, wobei es in erster Linie darum ging, den Menschen zu erziehen. Man war sich darüber im Klaren, dass Gewalt gegenüber Tieren die sittliche Erziehung des Menschen negativ beeinflusst. Von heute aus gesehen, ging es also weniger um Tier- als um Menschenschutz. In Deutschland wurde 1837 in Stuttgart der erste deutsche Tierschutzverein gegründet, vorbereitet von Pfarrer Christian Adam Dann und Pfarrer Albert Knapp, beide dem pietistischen Gedankengut stark verpflichtet. Ab 1838 wurden in verschiedenen deutschen Ländern, allen voran Sachsen, Tierschutzbestimmungen eingeführt. Nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 wurden diese Einzelbestimmungen vereinheitlicht. So wurde 1879 Tierquälerei unter Strafe gestellt. Im Mittelpunkt stand dabei wiederum der Mensch und noch nicht genügend das Leiden der Tiere. Tierquälerei wurde verboten, wenn sie in der Öffentlichkeit geschah und dadurch die Empfindsamkeit der Beobachter durch den Anblick des Tierleids herausgefordert wurde. 1933 wurde dann ein eigenes Tierschutzgesetz formuliert und unter der Nazi-Regierung verabschiedet. Im Mittelpunkt stand nun nicht mehr wie früher ein Tierschutz um der Menschen, son30
dern um der Tiere willen. Allerdings wurde dieses Gesetz, das in seinen Grundzügen bereits Jahre vorher vorlag, zu einem antisemitischen Propagandagesetz. In einem Kommentar von 1934 heißt es dazu: »Auch im Volke ist das Verlangen nach verstärktem Schutz der Tiere und nach Anerkennung ihres Rechts auf gerechte und anständige Behandlung seit langer Zeit lebendig, denn das deutsche Volk besitzt von jeher eine große Tierliebe und ist sich der hohen ethischen Verpflichtung gegenüber dem Tier immer bewusst gewesen.« In diesem Zusammenhang bedeutet dieser Kommentar unzweideutig: andere Völker, vor allem das jüdische besitzen keine solche Tierliebe! Man kann vereinfachend sagen, dass die moderne Tierschutzbewegung nicht möglich gewesen wäre ohne den Einfluss von überzeugten Christen. Das soll nicht bedeuten, dass die Begründungen, mit denen Tierschutz auch in christlichen Kreisen betrieben wurde, jeweils »christlicher« oder »spiritueller« gewesen wären als Begründungen anderer engagierter Menschen. Aber es fällt auf, dass bestimmte Zusammenhänge immer wieder in regelmäßigen Abständen auftauchen, nicht wirklich thematisiert werden und dann von vorläufig aktuelleren Themen verdrängt werden. Ich vermute, dass sich etwa die Gesamtgeschichte des Pietismus mit seinen moderneren Richtungen im anglo-amerikanischen Bereich sehr gut unter dem Aspekt von »Schöpfung und Tierschutz« schreiben ließe. Der Gründer der Methodisten, John Wesley, setzte sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts bereits ganz engagiert für Tiere ein und sah Unsterblichkeit keineswegs nur auf den Menschen beschränkt. Allerdings sind diese Zusammenhänge weitgehend unaufgearbeitet. Heute ist die Verbindung zwischen (engagierten) Christen und Tierschützern ausgesprochen gespannt. Es gibt gerade bei Menschen, die sensibler auf das Leid aller Wesen reagieren, tiefe und tiefste Verletzungen durch das Verhalten von Amtsträgern, Kirchenleitungen, Pfarrern, Bischöfen. Es existiert nur in Ansät31
zen ein wirkliches Gespräch zwischen beiden Seiten. Die Kirche wird verdächtigt, die gegenwärtigen Praktiken des Umgangs vor allem mit Nutztieren zu ignorieren und keine klaren Worte zu finden. Tierschützer werden von Kirchenkreisen häufig als überspannte, neurotische Menschen abgetan. Tief sitzt vor allem die Vorstellung, dass, wer sich für Tiere engagiere, diese Energie vom bedürftigen Menschen abziehe. Aber ein solches Vorurteil geht fehl. Es verkennt, dass Erbarmen, Gnade, Friedfertigkeit, Liebe unteilbar sind und nicht an der Oberkante eines Speisezettels enden. Noch immer vertraue ich darauf, dass die jüdisch-christliche Botschaft vom Gottesreich, das ganz nahe gerückt ist, die gesamte Schöpfung umfasst und nicht nur den Menschen. Das heißt aber im Gegenzug, dass die vor allem human-ethische Engführung der Theologie aufgebrochen werden muss. Dies kann letztlich nur gelingen, wenn in einer gemeinsamen Anstrengung der Raum für den Geist geschaffen wird. Eine solche Haltung, die Raum schaffen will, ins Offene treten will, wird im Folgenden »Spiritualität« genannt. Sie bildet die Folie, vor der Wege gesucht werden, wie die Beziehung von Tier und Mensch heute weiterentwickelt werden könnte.
John Wesley, Gründer der Methodisten: Die ganze (Tier-)Schöpfung wird dann wiederhergestellt werden. Dann - in jenen Tagen - wird alle Nichtigkeit, denen sie jetzt ausgesetzt sind, zerstört werden... Als Ausgleich für das, was sie einst litten, unter der Sklaverei der Zerstörung, werden sie dann, wenn Gott »das Antlitz der Erde erneuert« hat, den zerstörbaren Körper in einen unzerstörbaren gewandelt hat, nach ihrem Stande das Glück sehen, das ihnen zusteht, ungetrübt, ohne Unterbrechung und ohne Ende.
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1.1.3 Ein Wort zur Menschentheologie Viele Menschen fragen immer wieder an, warum sich die gegenwärtige Theologie nur am Rande mit dem Verhältnis von Tier und Mensch beschäftigt. Ich habe einmal auf eine solche Frage geantwortet: »Weil damit keine theologischen Lehrstühle besetzt werden!«4 Ich will die Aussage nicht zurücknehmen, aber die Gründe liegen natürlich tiefer, als sich in einem kurzen Satz sagen lässt. Es hilft, wenn man sich die gegenwärtige Theologie wie eine Landkarte vorstellt. Da gibt es verschiedene Kontinente. Die einen sind weiter von anderen entfernt, andere sind uns näher. Bei manchen merkt man kaum, wo der eine aufhört und der andere beginnt (Europa und Asien). Es gibt größere und kleinere Kontinente. Und auch diese Kontinente sind untereinander noch einmal gegliedert. Wir sehen geographische Gliederungen: Berge, Täler, Flüsse, Seen, das Meer; aber auch politische Untergliederungen: Staaten. Manche dieser Staaten sind ganz organisch gewachsen, zwar in vielen Kriegen und Kämpfen, trotzdem in einer gewissen Folgerichtigkeit wie etwa die meisten Nationalstaaten in Europa. Aber wir erkennen auch die Kehrseite, etwa in Afrika, wo die Kolonialmächte per Anordnung Linien über das ganze Land gezogen haben und so das Land und das Volk unter sich verteilt haben. All das findet sich auch in der Theologie. Die gegenwärtige Theologie ist eurozentrisch. »Eurozentrisch« heißt, dass die meisten Christen bei uns (der nördlichen Erdhalbkugel) glauben, sie seien der Nabel der Welt und ihre eigenen kulturellen und religiösen Verhaltensmuster und Glaubensüberzeugungen seien die allein richtigen. Das ist - in geschichtlicher Perspektive - eine gewaltige Dummheit. Denn unsere eigene Kultur (wir rechnen jetzt einmal die amerikanische hinzu) ist in einem im Grunde genommen sehr kurzen Prozess zu dem geworden, was sie heute ist. Wir können solche Schnittpunkte etwa im 16. Jahr33
hundert und mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert ansetzen. Auch die verschiedenen bei uns vorherrschenden Gestalten von Theologie und kirchlicher Organisation haben sich in diesem Zeitrahmen entwickelt: die Wiederentdeckung der Bibel als Fundament des Glaubens gegen alle menschlichen Verzerrungen durch Martin Luther und die Reformatoren; die Neubesinnungen und Neuordnungen innerhalb der katholischen Theologie und Kirche als Antwort auf den Protestantismus. Das Zeitalter der Spaltungen und harten Fraktionen hallt noch nach, verblasst aber allmählich und Menschen suchen nach Dialogmöglichkeiten. Trotz dieser Ausgangslage ist nicht im Blick, was sich in anderen, besonders den südlichen Weltgegenden tut. Die meisten Christen leben heute schon im Süden der Welt, mit stark zunehmender Tendenz. Sie wählen sich ein Christentum aus, das mit unseren etwas behäbigen bürokratischen Strukturen wenig zu tun hat. Pfingstlerische und charismatische Gruppierungen sind stark im Aufwind. Die meisten Kirchenleute und Theologen sehen vielleicht diese Veränderungen, aber sie wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Es fehlt ein Verständnis für die jeweilig ganz andere Kultur, Lebensweise und Religion. Trotzdem werden immer noch theologische Traktate verfasst, in denen etwas Grundlegendes über Gott und die Welt gesagt wird, ohne dass die konkreten anderen Lebens- und Denkbedingungen beachtet werden. Das ist schade. Eine solche Einstellung verhindert, von anderen zu lernen, nach ihren Wegen des Lebens zu fragen und sich selbst anfragen zu lassen. Die gegenwärtige Theologie ist anthropozentrisch (ausschließlich auf den Menschen konzentriert): Breiteste Teile der Kirchen und Christen tun so, als ginge es in der jüdisch-christlichen Glaubenstradition nur um das Heil des Menschen. Das letzte gewaltige Aufsteigen (Aufbäumen) einer solchen Art von Theologie haben wir in den verschiedenen Spielarten protestantischer Theologie 34
bis in die Achtzigerjahre dieses Jahrhunderts vor uns: ein gewaltiges Aufgebot von Denkern, die sich um einen Teil der theologischen Lehre des Paulus sammeln, nämlich den Gedanken der »Rechtfertigung« (Der Mensch wird nicht durch Werke, die er selbst vollbringt, sondern allein von Gott her erlöst [»gerechtfertigt«]). Dieser Rechtfertigungsgedanke ist theologisch weiterführend und an sich nicht problematisch. In der Praxis führt er aber zur fatalen Konsequenz, dass alles, was außerhalb der moralischen Reichweite des Menschen liegt, eigentlich ohne Bedeutung ist. Was zählt, ist nur die Gott-Mensch-Beziehung. Welt, vielleicht sogar die »schlechte Welt« bleibt hier ohne Bedeutung, genauso wie die nicht-menschlichen Geschöpfe, wie die Natur überhaupt. Dieselbe Tradition wird sich dieser gewaltigen Schieflage zunehmend bewusst. »Ökologisch-theologische« Gedanken sind zuerst protestantische Kinder gewesen. Ein Besuch bei den Benediktinern. Im Rahmen eines Ausbildungswochenendes besuchten wir mit einer Gruppe das Vespergebet (18.00 Uhr) in der Benediktinerabtei Münsterschwarzach. Beeindruckend war der Einzug der etwa achtzig in schwarze Habits gekleideten Brüder, die dann anfingen, das Chorgebet zu beten. Ich hatte Schwierigkeiten, dieser Liturgie, die im Wesentlichen aus gesungenen Psalmen besteht, akustisch zu folgen. Nach dem Gottesdienst schubste mich ein Kursteilnehmer an und sagte: »Hast du mitbekommen, wie für die Tiere gebetete wurde?« Nein - ich hatte nicht. Daraufhin sagte er: »Na, die Benediktiner haben den alten Psalmvers gebetet, dass Gott sich auch aller Tiere und aller Geschöpfe erbarmen möge.« Die Fürbitte für die Tiere ist fester Bestandteil ihres Gebetes.
Nun soll das nicht heißen, dass katholische oder orthodoxe Theologen und Christen hier weiter wären. Auch hier ist die Theologie auf den Menschen konzentriert, jedoch ohne die eigenen Traditionen zu beachten oder zu kennen. Im Bereich der orthodoxen Kir35
chen ist es theoretisch ganz unstrittig, dass etwa die Tiere in das Erlösungswerk mit hineingehören. Praktisch hat dies aber keine Konsequenzen. In der katholischen und orthodoxen Theologie ist hier Entwicklungshilfe gefordert. Allerdings hat es solche Entwicklungshilfe schwer, weil Vorurteile tief sitzen und viele Menschen regelrecht persönlich beleidigt sind, wenn ihnen zugemutet wird, dass Gott auch der Vater aller Tiere ist und damit streng genommen Tiere unsere Geschwister sind. Ein Besucher eines Gottesdienstes, ein älterer Herr, fasste mich einmal nach einer Predigt im Vorbeigehen am Arm und sagte: »Herr Diakon, ich habe nichts gegen das, was sie in der Predigt über Tierschutz gesagt haben. Trotzdem bin ich nicht der Bruder ihres Hundes!« Ich glaube, da kommen wir an den neuralgischen Punkt, der wehtut. Zurück zu unserer Landkarte: Stellen wir uns vor, der Eurozentrismus bilde die Längengrade und der Anthropozentrismus die Breitengrade. Innerhalb dieses Koordinatensystems liegt ein theologischer Globus mit dem Anspruch, die ganze Welt vermessen zu können. Zuerst wird Amerika, Asien, zuletzt Australien »entdeckt«. »Entdecken« ist selbst schon ein verräterischer Begriff. Suggeriert er doch, etwas sei unbekannt und käme jetzt ans Licht. Für die Völker und Menschen Nordamerikas war ihr Land nicht unbekannt, es brauchte nicht »entdeckt« zu werden. Nur aus der Sicht des herrschen wollenden Europäers ging es um »Entdeckung«. Entdeckung bedeutet Inbesitznahme, Ausbeutung, Bildung von Kolonien für das eigene Land, Versklavung von Mensch und Tier. Auch die Mayas in Südamerika kannten beispielsweise ihr Land, es musste ihnen nicht entdeckt werden. Der »Prozess der Zivilisation«, von heute aus müssten wir besser sagen, der Ausbreitung der Barbarei ging weiter: Als letzter Kontinent wurde Australien »entdeckt«. Die Siedler und Sträflinge, überwiegend Männer, betraten das Land. Was stellten sie 36
fest? Es ist, von den Küstenregionen abgesehen, im Prinzip Steppe und Halbsteppe; es ist eigentlich unbewohnt. Die Siedler konnten sich nicht vorstellen, dass diese merkwürdigen Wesen, noch dazu tief schwarz, die in diesem Land herumwandern, Menschen sein sollen. Die australischen Ureinwohner (die Aborigines) bauen keine Häuser, sie haben keine Tempel (enttäuschend, weil man nichts zum Plündern vorfindet), sie haben noch nicht einmal eine vernünftige Religion, keine heiligen Schriften, keine erkennbaren Kulturmanifeste. Was schließt der Europäer daraus? Da Gott ihm die unbeschränkte Herrschaft über alles übertragen hat (so haben die Priester und Pfarrer zu Hause immer die ersten Abschnitte der Bibel verstanden und den Menschen entsprechend gepredigt), ist er auch berechtigt, zu töten, zu versklaven, auszubeuten, wie es ihm gerade passt. Ich erinnere mich gut an eine protestantische südkoreanische Theologin, die 1993 auf der Weltvollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Seoul (Korea) einen protestantisch-schamanistischen Gottesdienst zelebrierte. Schwarze Männer mit großen Trommeln, sie selbst im Vordergrund, ein Ritual praktizierend. Was war das? Eine weiß gekleidete Schamanin? Oder Priesterin? War das noch evangelische, christliche Liturgie? Der Aufschrei und das Ringen nach Worten von Seiten der westlichen Kirchenvertreter war groß. Die Theologie baut sich ganz ähnlich auf. Sie geht von Europa aus, erobert dann fremde Länder. Die katholische Theologie der spanischen Konquistadoren hat sich lange und intensiv mit der Frage beschäftigt, inwieweit man von den Wesen in Lateinamerika als Menschen sprechen kann. (Es gab natürlich Ausnahmen: die Linie vom spanischen Dominkanermönch Bartolomé de las Casas bis zum ermordeten salvadorianischen Bischof Oskar Romero). Und dieser Rassismus ist noch lange nicht zu Ende. Selbst in höchsten kirchlichen Kreisen hält sich eine Mentalität, die Afrikanern zum Beispiel erst dann theologische Würde einräumt, 37
wenn sie vollständig den kulturellen Gepflogenheiten der römischen Hemisphäre entsprechen. Vorher wird nicht einmal der ugandischen Bischofskonferenz erlaubt, die Hochgebete in die eigene Landessprache zu übersetzen. Ein afrikanischer Theologe hat zu mir einmal am Rande einer Tagung gesagt: »Wir haben zwar inzwischen schwarze Bischöfe, die haben aber weiße Köpfe!« Etwas aber kommt in Fluss. Zum einen werden die Stimmen der Christinnen und Christen aus anderen Kulturen stärker. Verwundert stehen wir ein wenig altbacken europäisch da und sehen, dass dort etwas lebendig bleibt und sich immer wieder in neuen Formen als Leben erschafft, was bei uns irgendwo auf dem Weg in die Strukturen ausdörrt: Heiliger Geist. Manchmal geradezu erschrocken stehen wir vor einer Fremdartigkeit, Andersgestaltigkeit und Kraft, die sich nicht in die europäische Geographie einfügen will. Mit den Breitengraden (dem Anthropozentrismus) ist es so ähnlich. Er bildet eine typisch europäische Form der Theologie heraus, die nur auf den Menschen schaut. Hier ist eine radikale Umkehr der Werte gefordert. Nachdem allmählich alle Menschen in der Theologie angekommen sind, auch die Schwarzen, die Ureinwohner in Australien, die Frauen, muss jetzt auch die nicht-menschliche Schöpfung hereingelassen werden. Dazu gehört der Blick auf das jeweils konkrete einzelne Tier und dessen »Subjekt-Sein«. Ihm kommt unveräußerliche Würde und Gerechtigkeit zu: »suum cuique«, jedem das Seine. Jedes einzelne Tier ist nicht nur nicht Objekt meines Willens, mit dem ich tun kann, was ich will. Das Tier ist auch keine Veredelungsmaschine auf dem Weg des Nahrungsmittels vom gentechnisch veränderten Mais hin zum Magen des Menschen (so der Vorsitzende einer hessischen Raiffeisengenossenschaft in einem Rundfunkinterview). Dieses so leicht dahingesagte »Subjekt-Sein« greift tief in alltägliche Strukturen ein: Erschrocken hat mich eine ältere Dame 38
nach einer kirchlichen Veranstaltung gefragt: »Ja, kann man denn dann überhaupt noch Fleisch essen?« - Dieses Subjekt-Sein erfordert eine Wende in der Perspektive. Nur Mut, wir haben diese Möglichkeit einer Wende, einer Perspektivenveränderung, sie erfordert aber einen wachen Blick und ein gläubiges Herz. Sie muss unsere Verhärtungen auflösen für Wege des Geistes, den Gott uns eingießen will. »Heilige« sind für mich beständige Beispiele, wie das geht: ein Modell für das Mensch-Tier-Verhältnis, das übrigens so etwas wie ein kulturelles »Universale« darstellt: Wir finden ähnliche Berichte, etwa vom Sprechen des Tieres mit den Menschen, der gegenseitigen Hilfe, des Erbarmens in allen Kulturen (außer in den Hybridkulturen der großen Agglomerationen und Städte). Was das Subjekt-Subjekt-Verhältnis angeht, bewegen wir uns noch auf einer nur human-ethischen Ebene. Jener Perspektivenwechsel stimmt ärgerlich, wirkt beängstigend, bricht mit alten Gewohnheiten: Man muss zum Beispiel bestimmte Routinen auch von kirchlichen Gemeindefesten hinterfragen (die Bockwurst und das Spanferkel auf dem Grill, bei dessen Verzehr sich alle so heimelig fühlen). Gar nicht einfach! Aber solches Umdenken wird selbst noch einmal eine Vorstufe zu einer anderen Theologie: zu einer umfassenden Erlösungstheologie.
Leonhard Ragaz, evangelischer Theologe, 1942 Nicht Gott oder der echte Mensch, der ein Schützer und Erlöser der Natur sein sollte, ist mehr Herr der Natur, sondern die Technik. Sie ist der Moloch geworden, der Himmel und Erde, Wasser und Luft beherrscht... Wir haben ganz allgemein die heilige Scheu vor der Natur verloren, der Bauer nicht weniger als der Städter. Wir beuten die Natur aus, vergewaltigen sie, zerstören sie in unserer gottlosen Gier und Brutalität - und werden dafür, wenn keine Wandlung eintritt, mit dem Tod und Untergang bezahlen. 39
Es geht nicht nur um »Schöpfung«. Der Gedanke der Schöpfung hält fest, dass wir selbst Geschaffene sind, dass wir uns nicht selbst gemacht haben und dass wir auch andere Wesen nicht machen. Der Gedanke der Schöpfung bewahrt aber auch, dass wir mit allen anderen Wesen in einem Schöpfungszusammenhang stehen, also von Gott aus gesehen Geschwister sind. Seit den Achtzigerjahren dieses Jahrhunderts, spät genug, aber immerhin, entdecken Theologinnen und Theologen, dass die Terra Australis incognita, dass die Schöpfung Welt umfasst, dass es also nicht immer nur und ausschließlich um die Ethik des Menschen in Bezug auf andere Menschen geht, sondern dass auf diesem Schöpfungskontinent auch noch andere Wesen wohnen, denen gegenüber wir uns solidarisch verhalten müssen: Die Erde mit ihren vielfachen Erscheinungen, die ökologischen Zusammenhänge, der respektvolle Umgang mit Wasser, Bodenschätzen, Luft, den Ressourcen - all das kommt in den Blick. Doch der Schöpfungsgedanke muss aus christlicher (und jüdischer) Sicht um die Dimension der Erlösung ergänzt werden. Dem Menschen kommt hier eine besondere Verantwortung zu, weil er Stellvertreter Gottes auf Erden ist. Die amerikanische Rockgruppe »The Doors« hat in den siebziger Jahren in ihrem Song »When the music's over« formuliert: »Was haben sie (die Menschen) mit der Erde gemacht, vergewaltigt und geplündert, getreten und ausgeraubt. Pfähle in die Erde gerammt wie Messer in die Seite.«
Um diese klar zu sehen, müssen wir auch spirituell erfahren, dass Schöpfung und Erlösung ganz eng zusammengehören. Ich sage »spirituell erfahren«, weil ich nicht meine, dass es nur damit getan ist, einen Satz zu formulieren oder Ja zu einer solchen Formulierung zu sagen. Jetzt, heute, hier, an dem relativen Ende der Ausdehnungs-, leider auch Eroberungsgeschichte des Chris40
tentums besteht die theologische Aufgabe in einer spirituellen Achtsamkeit gegenüber den Aufgaben unserer Stellvertretung Gottes. Die Bibel drückt dies mit den Worten aus: »Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich« (Gen 1,26) und »Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie« (Gen l ,27). Der Alttestamentler Erich Zenger legt schlüssig dar, dass dieser Satz im Zusammenhang mit der Paradies-Erzählung der Bibel steht: »Gott, der Herr, nahm also den Menschen und setzte ihn in den Garten von Eden, damit er ihn bebaue und hüte« (Gen 2,15). Der Mensch ist nicht deswegen Abbild Gottes, weil der Mensch wie Gott aussieht. Er ist aber auch nicht deshalb Gottes Abbild, weil er über Vernunft oder gar den freien Willen verfügt (wie dies die mittelalterliche Theologie gesehen hat). Er ist deswegen Abbild Gottes, weil er Gottes guten Schöpfungswillen fortführen und umsetzen soll. Das bedeutet im Klartext: Der Mensch ist Abbild Gottes, wenn er dieser Verpflichtung nachkommt. Wenn er seinen Auftrag verrät, entfernt er sich von seinem göttlichen Ursprung. Er verrät den Auftrag, wenn er tötet, ausbeutet, beherrscht, unterjocht. Das Entfernen vom göttlichen Auftrag bedeutet: »Sünde«. Aber wir kennen nicht nur die Entfernung von Gott, sondern auch das Zugehen auf Gott in der Erfüllung dieses Auftrags: bewahren, schützen, hegen. Dann jedoch entledigt sich der Mensch einer reinen Menschentheologie und Gott denkt und redet wieder durch ihn (das meint ganz ursprünglich »theo-logie«).
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1.2 Ist Gott Vegetarier? 1.2.1 Rezepte aus der Bibel »Vorsicht: Fundamentalismus!« Die meisten Menschen, die ich kenne, gehen im Grunde genommen fundamentalistisch an die Bibel heran. Das ist verständlich. Ähnlich wie die Muslime schauen sie auf die Bibel als letzt verbindliches Wort Gottes. Sie wird gehandhabt wie ein Kochrezept. Habe ich eine Frage, schaue ich hinein und erhalte eine Antwort. Wie gesagt, ein solcher Umgang ist verständlich. Jeder von uns braucht Verlässlichkeiten und Sicherheiten, etwas, nach dem das Leben ausgerichtet und eingerichtet werden kann. Warum also nicht die Bibel? Ich finde, es gibt Dürftigeres, auf das Menschen vertrauen. Das Ganze hat aber bei genauerem Hinsehen mehrere Haken. Der größte davon ist, dass die Aussagen der Bibel nicht immer sehr eindeutig sind. Man muss sie interpretieren und erleben: »Was bedeutet es, dass Gott die Welt in sieben Tagen geschaffen hat?« »Was bedeutet das Bild vom himmlischen Jerusalem am Ende der Bibel?« - Manchmal denkt jemand, dass alle Aussagen direkt verstehbar seien. Das geht aber auch im alltäglichen Leben oft nicht gut. Unsere alltäglichen Missverständnisse sind das beste Beispiel dafür. Hinzu kommt, dass Aussagen der Bibel sich auch direkt widersprechen. Die vier Evangelisten überliefern beispielsweise drei verschiedene Versionen der letzten Worte Jesu am Kreuz. Es gibt zwei verschiedene Schöpfungsberichte. Oder: Auf die Frage, welche Tiere mit Noah in die Arche gehen, finden wir verschiedene Antworten. Wir wissen mittlerweile relativ genau, wie diese Widersprüche zu erklären sind. Jedes Dokument der Bibel ist von verschie42
denen Menschen verfasst und überarbeitet worden; hinsichtlich dieser Entstehungs-»Schichten« der Bibel herrscht bei den Fachwissenschaftlern eine gewisse Einigkeit. Damit ist aber die Frage nach der Deutung und Bedeutung dieser Stellen immer noch offen. Immerhin gehen ja Juden, Christen und auch Muslime mit der Bibel als einem Buch um, in dem Gott sich den Menschen mitgeteilt hat. Das gerät bei den Spitzfindigkeiten in der Diskussion von Fachtheologen manchmal aus dem Auge. Da werden alle bedeutsamen Dinge arg relativ, vorläufig, vereinzelt. Sie fügen sich häufig nicht mehr zu einem sinnvollen Ganzen. Gehe ich naiv an dieses Grunddokument des christlichen Glaubens heran und argumentiere gar damit, komme ich in die Schwierigkeit, dass ich zu den meisten Stellen auch das genaue Gegenstück finden kann. Je nach Standpunkt schwächt der eine dieses, der andere jenes ab. Der Prozess der kritischen und auch selbstkritischen Auseinandersetzung mit der Bibel ist für jemanden, der christlich glaubt, gar nicht zu umgehen. Aber nicht alle haben die Mittel für eine solche Auseinandersetzung an der Hand. Vielleicht wollen sie auch nicht überlegen, weil lieb gewordene Annahmen hinterfragt werden. So machte sich ein Bibelwissenschaftler ein regelrechtes Vergnügen daraus, immer vor dem Weihnachtsfest seine »Weihnachtsvorlesung« zu halten. Darin räumte er mit den Mythen um das Weihnachtsfest auf. Ein Student erzählte mir einmal direkt nach einer solchen Vorlesung: »Haben Sie das gewusst? Die Geburt Jesu, die Kindheitsgeschichten, die drei Weisen aus dem Morgenland, Ochs und Esel an der Krippe, der Kindermord - alles erstunken und erlogen!« Er war sehr aufgebracht. Natürlich wusste ich das, aber die persönliche Betroffenheit, mit der er das mir gegenüber geäußert hat, hat mich noch lange beschäftigt. Wie dem auch sei, wenn man sich diese Auseinandersetzung erspart und einfach so glauben will, wie es dasteht, landet man immer beim »Fundamentalismus«. Der Fundamentalist möchte sich 43
die Diskussion, das Vorläufige einer Deutung, die Beteiligung des Menschen an der göttlichen Offenbarung ersparen. Es entzieht ihm die »Fundamente«, wenn er sich eingestehen muss, dass es Widersprüche und vieles Unverständliche gibt. »Gott kann sich doch nicht widersprechen oder irren!« Auf was soll er dann sein Leben setzen? »Vorsicht: Fundamentalismus« müsste eigentlich vor und über allen Versuchen stehen, einzelne Sätze der Bibel für eine Argumentation zu benutzen. Das gilt auch für die Auseinandersetzung um Tiere in der Bibel. Eine Tierschützerin sagte mir einmal: »Es wäre halt schön, wenn wir wirklich wüssten, dass Jesus kein Fleisch gegessen hat«. Ich gab ihr damals zur Antwort: »Was würde uns das nützen?« Wenn ein warmes Herz (Barmherzigkeit) für das Tier nicht da ist, würde uns auch das Wort des Meisters nichts nützen. Tierschützer zaubern dann manchmal neue Evangelienfunde hervor, die belegen sollen, dass Jesus Vegetarier war. Aber selbst wenn diese »neuen« und »wahren« Evangelien authentisch wären, das Problem »Fundamentalismus« würde damit immer noch weiter bestehen. Wenn wir daher eine Bestandsaufnahme von dem machen, was in der Bibel zu unserem Thema steht, müssen wir uns diese Gefahren immer vor Augen halten.
1.2.2 Was steht in der Bibel? Sehr oft ist die Meinung zu hören, dass die Bibel sich zwar mit dem Menschen und seinem Verhältnis zu Gott beschäftige. Aber darin hätten Tiere keinen Platz. Nun belehrt uns bereits ein erster oberflächlicher Blick in das Alte Testament, dass diese Einschätzung nicht stimmt. Fast auf jeder Seite kommen Tiere vor und mit zum Teil sehr anschaulichen Tierbeschreibungen. Tiere wurden ganz genau beobachtet. 44
Über das Verhältnis Tier-Mensch und die Stellung des Menschen in der Schöpfung nachzudenken, ist den Juden so wichtig, dass sie die Bibel damit anfangen lassen. Wir wollen auch so vorgehen. Natürlich ist der Mensch (hebräisch: »Adam«) Vegetarier, sogar ein ganz strenger. Er darf nur von den Samen der Pflanzen essen, wie die Tiere auch: Gen 1,29: »Dann sprach Gott: Hiermit übergebe ich euch alle Pflanzen auf der ganzen Erde, die Samen tragen, und alle Bäume mit samenhaltigen Früchten. Euch sollen sie zur Nahrung dienen.«
Das ist sozusagen die von Gott gewollte Speiseordnung. Nun passiert etwas: Der Mensch sündigt und mit seiner Sünde kommt in die gute Schöpfung Gewalt, Entzweiung, das Böse. Auf die Übertretung der göttlichen Ordnung folgen: Feindschaft, Mühsal, Schmerzen, Arbeit im Schweiße des Angesichts und am Ende der Tod, der den Menschen dem Staub der Erde gleichmacht (nach Gen 3,14-20). Die Bibel sieht es also so, dass der Mensch sich die ganze Suppe selbst einbrockt, an der wir täglich löffeln: Gewalt, Streit, Tod, Missgunst, Neid. Die Tiere sind von diesem Verhalten des Menschen mitbetroffen. Nachdem der Mensch versagt hat, entsteht Gewalt und Blut fließt. Wir kennen die Geschichte von Kain und Abel (Gen 4,1-16). Nach der ersten berichteten Tötung eines Tieres durch Abel wird dieser wiederum von Kain getötet. Ab diesem Zeitpunkt herrscht die Sünde in der Welt, von der alle betroffen sind: Menschen, Tiere, Pflanzen, die Erde. Alles ist mit dem göttlichen Willen entzweit. (Seit dem Ende des 20. Jahrhundert hat unsere Zivilisation erkannt, dass dies tatsächlich so ist, und begonnen, dies unter dem Begriff »Ökologische Bedrohung« kritisch zu durchdenken.) Wichtig: Mit einem Menschen kommt die Sünde in die Welt. (Das sollten wir uns merken, wenn wir später den Apostel Paulus in dieser Sache verstehen wollen.) Diese ganze Unordnung geht so weit, dass in der Bibel Gott überlegt, ob er mit dem »Spuk« Schluss machen soll: 45
Gen 6,7: »Der Herr sagte: Ich will den Menschen, den ich erschaffen habe, vom Erdboden vertilgen, mit ihm auch das Vieh, die Kriechtiere und die Vögel des Himmels, denn es reut mich, sie gemacht zu haben.«
Nur Noah findet Gnade vor seinen Augen. Und Noah rettet auch die Tiere in die Arche. Wieder ist es ein Mensch, von dem die Rettung der Lebewesen abhängt. Der Mensch hat eine herausgehobene Stellung im Schöpfungswerk. Denn er muss die Schöpfung Gottes als dessen Stellvertreter weiterführen. Wie er das tut? Zum Beispiel durch die Namensgebung. Der Mensch soll den Tieren ihre Namen geben (Gen 2,19). Er soll sie benennen. Wir dürfen dabei nicht an eine beliebige Auswahl von irgendwelchen Worten denken. »Namen« steht hier gleichbedeutend für »Wesen«. Der Mensch hat die Fähigkeit, diese Wesen zu erkennen und deswegen einen Namen zu vergeben. Das ist eine ganz alte Menschheitsvorstellung: Wer den Namen kennt, besitzt die Seele des anderen (z.B. im Märchen »Rumpelstilzchen«). Hat der Mensch damit auch Gewalt über das Tier? Schauen wir uns die Stelle an, die diese Frage aufgreift: Gen 1,28: »Gott segnete sie, und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar, und vermehret euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch, und herrschet über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen.« Irgendwie übt er schon Gewalt und Herrschaft aus. Früher war ganz klar, was damit gemeint sei: Der Mensch hat unbeschränkte Macht über die gesamte geschaffene Welt, ob es um den Umgang mit der Erde und ihren Bodenschätzen, mit den Pflanzen oder um das Töten von Tieren geht. Alles das konnte man aus dieser Stelle herauslesen. Die beiden in diesem Zusammenhang verwendeten hebräischen Worte radah und kabas sind nicht so eindeutig. Sie bezeichnen das, was der Hirt mit der Herde macht und was der Bauer mit der Erde. Diese sorgende und bewahrende Grundhaltung und die dazu passende göttliche Grundordnung zeigt sich in vielen Teilen 46
des Ersten Testaments. Wer diese Grundordnung und diese Grundhaltungen bejaht, ist ein »Gerechter«. Wer sein Leben, seine ethischen und religiösen Grundlagen auf Gott hin ausrichtet, erkennt die Seele seines Tieres. Er weiß, was es will und braucht (Spr 12,10). Er hält die rechte Ordnung Gottes in der Welt ein. Zu dieser richtigen Ordnung gehört auch die Vermeidung von Tierleid. Durch diese Ordnung haben Tiere sogar Rechte: Der Ochse hat das Recht, sich an der neuen Ernte sattzufressen: - »Du sollst dem Ochsen zum Dreschen keinen Maulkorb anlegen« (Deut 25,4). Rechte sind immer etwas Gegenseitiges. Und wer dieses gegenseitige Rechtsverhältnis einhält, ist ein »Gerechter« (hebr.: »zaddik«). Der »Gerechte« übt Gerechtigkeit, indem er ein warmes Herz hat (»Barmherzigkeit«): So wäre es hartherzig und ungerecht, das Zicklein in der Milch der eigenen Mutter zu kochen (Ex 23,19b). Denn die Mutterkuh bleibt ihrem Kind möglicherweise noch über dessen Tod hinaus verbunden. Deswegen weint sie auch, wenn ihr das Kind weggenommen wird, wie dieses Bild aus Ägypten zeigt.
»Die weinende Kuh«, ein in Ägypten weit verbreitetes Motiv. Relief auf dem Sarg der Kauit, 11. Dynastie. Museum Kairo.
Überhaupt muss auf die besondere Beziehung des Neugeborenen zum Muttertier Rücksicht genommen werden. Jakob muss Esau langsam nachfolgen, weil er sich um seine säugenden Muttertiere sorgt, die nicht so schnell gehen können (Gen 33,13). Diese Weisheit gilt nicht nur für die menschliche Ebene: Auch der göttliche Hirte kümmert sich um die säugenden Muttertiere in besonderer Weise (Jes 40,11; PS 78,71). Selbst die Speise- und Reinheitsvorschriften Israels sind durchaus im Sinne der Schonung von Lebewesen zu verstehen (Dtn 14; Lev 11). Der Kreis der Tiere, die für den frommen Juden verzehrbar sind, ist sehr eng gezogen. Das gilt besonders dann, wenn das heimische Land verlassen werden muss. Eine herausragende Rolle spielen Tiere dann aber im endzeitlichen Geschehen, etwa beim Propheten Jesaja. Darauf will ich eigens eingehen (s. u. 1.2.4). Sie stehen in einem direkten Kontakt zu Gott und übermitteln den göttlichen Willen da, wo die Menschen ihn nicht mehr direkt verstehen. Tiere sind im strengen Sinne Engel. Sie übermitteln die göttliche Botschaft, was auch erklärt, warum die Verfasser der biblischen Schriften die Tiere so genau beobachten. Als die Philister die Bundeslade von Israel erbeutet hatten (9. vorchristliches Jahrhundert) und es darauf dem ganzen Land schlecht geht (eine Pestepidemie), fragen sie sich, ob die Bundeslade im Land bleiben darf. Daraufhin raten ihnen die eigenen Priester und Wahrsager, zwei Mutterkühe vor den Wagen mit der Bundeslade zu spannen. Den Kühen sollen die Kälber weggenommen werden. Wenn die Tiere ihrem Mutterinstinkt nicht folgen und in die andere Richtung, zu den Israeliten laufen, dann wissen die Philister, dass die Hand Gottes sie treffen wolle, falls nicht, dann war die Pestepidemie ein Zufall (nach l Sam 6). Die Priester der Philister vertrauen darauf, dass sich Gott darin zeigt, wenn der Instinkt der Mutterkuh, zu den Kälbern zurückzulaufen, außer Kraft gesetzt ist. Gott offenbart sich im Verhalten der Tiere. 48
Etwas ganz Ähnliches stößt dem Propheten Bileam zu. Er macht sich auf den Weg nach Moab, um im Auftrag des moabitischen Königs das Volk Israel zu bannen (zu verzaubern). Gott stellt sich ihm in den Weg. Bileam sieht Gott nicht. Aber die Eselin, auf der er reitet, sieht Gott. Sie hält an und lässt sich auch durch Schläge nicht zum Weitergehen bewegen. Und dann redet die Eselin mit Bileam und legt ihm Gottes Willen offen. Gott spricht durch den Mund eines Tieres (nach Num 22,22-35). Hinter all dem steht die sehr alte religiöse Vorstellung, dass der Mensch aus dem Verhalten der Tiere Gottes Botschaften lesen kann, wenn er sie nur genau genug beobachtet. Dieses sorgfältige Schauen öffnet einen Weg zu dem ansonsten verborgenen und geheimnisvollen Willen Gottes. Aber das Verhältnis des Menschen zum Tier in der Bibel ist nicht eindimensional. Erinnern wir uns noch einmal an unser Rezept: »Vorsicht - Fundamentalismus«. Es finden sich viele verschiedene Denkansätze. Die Behandlung des Tieres ist auch der Hirten- und Bauerngesellschaft, die die Lebenswelt der Bibel darstellt, angepasst. Es finden sich neben eindeutigen Barmherzigkeitsvorschriften und den Hinweisen auf Schonung des Lebewesens ebenso Anleitungen zu Schlachtopfern, d.h. zur Tötung in einem großen Maßstab (Brand- und Speiseopfer im Buch Leviticus). Diese Tötung und die damit verbundenen Vorschriften, etwa die jüdische Vorschrift des betäubungslosen Schächtens, stellen immer wieder ein Problem dar. Trotzdem drängt insgesamt eine andere Linie in den Vordergrund. Sie legt Wert darauf, mit dem göttlichen Willen in Verbindung zu stehen. Wenn schon der Mensch das nicht mehr allgemein weiß, dann bedarf es eben besonderer Gestalten, die diesen Willen Gottes kundtun: die Propheten. Gerade die Propheten setzen sich ausführlich mit den Opfern auseinander. Sie wissen, dass Gott nicht die Tötung will, damit sich der Mensch von Schuld freiwaschen kann, sondern dass Gott ein »reines Herz« des Menschen will. Die angekündigte Wiederherstellung des göttlichen Willens schafft die 49
Opfer ab. Wir sehen uns das aber später bei dem Propheten Jesaja noch einmal genauer an, weil hier auch die Messias-Vorstellung ins Spiel kommt, die in christlicher Sicht wichtig ist. Wie steht es mit all dem im Neuen Testament? Es ist sinnvoll, zwei Gruppen von Schriften im Neuen Testament zu unterscheiden: die Briefe, vor allem die des Paulus an verschiedene Gemeinden, und die Evangelien. Die Evangelien sind wesentlich später entstanden als diese Briefe und sie stellen bewusst gestaltete Dichtungen dar, während der Briefcharakter bei Paulus noch deutlich spürbar ist. Paulus steht auch den Traditionen des Ersten Testaments insgesamt näher als die Verfasser der Evangelien Markus, Matthäus, Lukas und Johannes. Jeder zweite Satz stellt im Prinzip einen Kommentar zu einer Bibelstelle aus dem Ersten Testament dar. Im Zusammenhang mit Tieren fällt uns eine Stelle im Römerbrief, da durchaus nicht isoliert, auf. In diesem Brief an die römische Gemeinde (wahrscheinlich verfasst zwischen dem Jahr 56 und 58 n. Chr.) stellt Paulus die wesentlichen Punkte seiner Theologie vor. Er beschäftigt sich mit der Veränderung, die, seiner Ansicht nach, in der christlichen Gemeinde geschehen wird, wenn in ihr die Welt verwandelt wird. Natürlich muss er dann erklären, was er darunter versteht und warum es gerade dieser Jesus Christus ist, auf den er sich bezieht. Dabei benutzt er - der sonst immer fest auf den jüdischen Grundlagen aufbaut - eine ganz neue Argumentation: »Wie durch einen Menschen (Adam) Sünde und Tod in die Welt gekommen ist, so hat ein Mensch (Jesus Christus) Gerechtigkeit und Leben gebracht«. (Röm 5,12-21)
Danach beschreibt er dieses neue Leben, das Christus durch den Heiligen Geist verleiht. Die Getauften haben Anteil an Christi Tod erhalten und sind so zu einem neuen Leben mit ihm erstanden, ein Leben, das frei ist und die Herrschaft der Sünde nicht mehr zu fürchten braucht. Durch den Geist Gottes wird der Mensch (zur Tochter und) zum Sohn und Erben der künftigen 50
Herrlichkeit gemacht. Er ist Statthalter Gottes auf Erden. Vor allem kommt diesem veränderten Menschen die Aufgabe der Welterlösung zu. »Denn das sehnsüchtige Harren der Schöpfung wartet auf die Offenbarung der Söhne Gottes. Denn die Schöpfung ist der Nichtigkeit unterworfen worden - nicht freiwillig, sondern durch den, der sie unterworfen hat -, auf Hoffnung hin, dass auch selbst die Schöpfung von der Knechtschaft der Vergänglichkeit frei gemacht werden wird zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes.« (Röm 8,19-21)
Die gesamte Schöpfung ist der Vergeblichkeit unterworfen. Sie ist von jenem ersten Versagen Adams mitbetroffen. So sieht das Paulus und mit ihm selbstverständlich die biblische Tradition. Auch für Paulus ist die nicht-menschliche Schöpfung von der Situation und dem Handeln des Menschen mitbetroffen. Er wendet das Ganze dann allerdings positiv: Durch Jesus Christus kann im Menschen wieder die Erlösung der Schöpfung offenbar werden. Es ist sogar so, dass die Schöpfung selbst auf diese Erlösung sehnsüchtig und hoffnungsvoll wartet. Das ist keine Spielerei. Paulus ist hier sehr streng in der Sprache. An keiner Stelle ist zu erkennen, dass Paulus hier etwa nur an den Menschen denkt. »Erlösung«, d.h. auch ganz ausdrücklich »Erlösung« der Schöpfung durch den Menschen (Söhne und Töchter Gottes). Ganz eindeutig wird ausgesagt, dass die gesamte Schöpfung an der Erlösung des Menschen teilhat. Die Schöpfung macht von sich aus Mitteilung über dieses Gespanntsein, sie deutet die Verbundenheit mit unserem Wesen und das gemeinsame Warten auf die Erlösung an. Tiere gehören also in den Horizont der christlichen Erlösungsvorstellung mit hinein.5 Natürlich hatte meine Tochter Recht, als sie damals nach dem Tod unseres Meerschweinchens Knorpel mit Tränen feststellte: »Der Knorpel ist jetzt im Meerschweinchen-Himmel!« - Ich glaube, Paulus meint das auch. 51
1.2.3 War Jesus Vegetarier? Jesus steht ganz in der jüdischen Tradition. Das machen viele Stellen des Neuen Testaments deutlich. Selbstverständlich gelten für ihn die »Weisungen Gottes« (die Tora des Juden). Dazu gehören auch die Ernährungsvorschriften. Sie machen einen wesentlichen Teil der jüdischen »Kaschrut« (Reinheitsvorschriften) aus. Es findet sich kein Hinweis in den Evangelien, dass Jesus sich außerhalb dieser Ordnung gestellt hat. Überhaupt ist interessant, einmal zu fragen, was Jesus eigentlich gegessen hat. War er Vegetarier? Wieder sei erst einmal an unsere Regel: »Vorsicht: Fundamentalismus!« erinnert. Wir wissen es nicht. Aber wir haben ein paar indirekte Hinweise. Bei der Speisung der Fünftausend (Mt 14,13-21) segnet Jesus zwar die fünf Brote und zwei Fische. Als das eigentliche Wunder geschieht, wird aber nichts mehr von Fischen berichtet: »...und alle aßen und wurden satt. Als die Jünger die übrig gebliebenen Brotstücke einsammelten, wurden zwölf Körbe voll.«
Hat Jesus mitgegessen? - Fisch isst er überhaupt nur an einer Stelle: Lk 24,36-43. Da ist er aber bereits auferstanden und muss die Zweifel zerstreuen, dass er ein Geist sei. Matthäus, Markus und Johannes wissen gar nichts davon, dass Jesus Fisch gegessen habe. Brot ja. Zusammen mit Wein bei einem gemeinsamen Mahl: Das ist das zentrale Kultsymbol der späteren Christen, die Eucharistie. Und ob es sich bei diesem letzten Abendmahl um ein Pessahmahl der Juden handelte, ist nicht ganz klar. Da wäre nämlich in Erinnerung an den Auszug aus Ägypten eine Vorschrift einzuhalten gewesen, ein Lamm zu schlachten. Johannes meint: »vor dem Pessachfest« (der Vorabend mit dem Seder-Mahl gehört aber nach jüdischer Denkvorstellung bereits zum Tag dazu). Bei Matthäus wird zwar dieses Mahl als Pesachmahl bezeichnet, das die Freunde Jesu vorbereiten sollen, beim Mahl selbst aber spricht Je52
sus den Segen nur über Brot und Wein. Ein geschlachtetes Lamm taucht hier nicht mehr auf (Mt 26-20-29) - genau wie bei Markus (Mk 14,12-27) und Lukas (Lk 22,7-23). Die beiden Letzteren wissen sogar von einem Mann, in dessen Haus das Mahl gehalten wird und dem die Jünger folgen sollen. Dieser Mann wird daran erkannt, dass er einen Wasserkrug trägt. Doch Vorsicht: Dies ist ein Bericht aus Palästina und nicht aus einem Vorort von Frankfurt, Berlin oder Hamburg. Im Orient trägt ein Mann kein Wasser. Das ist reine Frauensache. Die Einzigen, die davon eine Ausnahme machten, sind die Essener - und die sind aus Gründen kultischer Reinheit sehr strenge Vegetarier. Wenn Jesus in einem solchen Haus das letzte Abendmahl feierte, ist es unwahrscheinlich, dass ein getötetes Tier dabei verzehrt worden sein soll. Wie gesagt: sehr indirekte Hinweise. Allerdings würde es zum Erlöser der Welt nach jüdischer Denkvorstellung eigentlich nicht passen, dass er Gottes Schöpfung dadurch erlösen will, dass er sich an der Tötung von Lebewesen direkt oder indirekt beteiligt. Schwierig auch die direkte Frage nach dem Verhältnis Jesu zu den Tieren. Immerhin gibt es einige interessante indirekte Bemerkungen, z.B. das Ende der Versuchungsgeschichte bei Markus: Jesus weilte 40 Tage in der Wüste, vom Satan versucht; er lebte mit den wilden Tieren zusammen, und die Engel bedienten ihn (Mk 1,13). Frühere Bibelausleger glaubten, dass hier die lebensbedrohliche Situation in der Wüste geschildert wird, um die Versuchung Jesu in einem deutlicheren Lichte erscheinen zu lassen. Im Grunde wäre das ein kleiner poetischer Kunstgriff. »Zusammenleben mit den Tieren« ist aber ein altes Motiv. Wer mit den Tieren zusammenleben kann, bei dem hat sich Gottes Gnade direkt gezeigt. Nach Meinung des Evangelisten ist dies ein Zeichen der in der Person Jesu angebrochenen endgültigen Heilszeit. Eine besondere Beziehung hat Jesus zu den Propheten. Er tritt mit einer ähnlichen göttlichen Vollmacht auf. Matthäus berichtet 53
von der Reinigung des Tempels durch Jesus. Den Vorraum zum Tempel, den er da reinigt, dürfen wir uns nicht gerade wie eine moderne Kirche vorstellen. Es ist in Wirklichkeit ein riesiger Handelsplatz, auf dem getauscht und gekauft wird, unter anderem die Opfertiere. Von diesen Opfertieren wird nur der geringere Teil ganz verbrannt. Von den meisten Tieren aber wird nur ein Teil verbrannt und der größere Teil dient zur Nahrung und wird dem »Opfernden« wieder zurückgegeben. Eigentlich reinigt Jesus das jüdische Schlachthaus. Wie sagten die Propheten:... »Eure fetten Heilsopfer will ich nicht sehen, ...sondern das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach« (Am 5, 22 und 24). In der Johannes-Apokalypse findet sich ein Fülle von Tierbildern und -Symbolen. Sowohl der göttliche Bereich als auch der Bereich des Bösen werden jeweils mit Tieren symbolisiert: Jesus Christus ist das »geschlachtete Lamm«, der Feind das Tier aus dem Abgrund. Es geht in diesem letzten Buch der Bibel um die Herrschaft Gottes, also um das, was passieren wird, wenn sich das, was Jesus durch sich angekündigt hatte, vollständig erfüllt. Natürlich dürfen bei den Hinweisen auf das Endheil die Tiere nicht fehlen. Und das Tier »Lamm« steht im Mittelpunkt des Geschehens, bis zuletzt, wo im himmlischen Jerusalem der Thron Gottes und des Lammes aufgerichtet ist (Apk 22,1). Das Lamm ist Jesus Christus selbst. Das Lamm zerreißt den Schuldzusammenhang der Menschen und ist in der Lage, das versiegelte Buch zu öffnen. Damit treibt es die geschichtlichen Ereignisse voran in ihre entscheidende Phase (Apk 5). Gott zeigt sich dem Seher (dem Verfasser der Apokalypse) zuerst umgeben von Tieren: Apk 4,6b-8: »Und in der Mitte, rings um den Thron, waren vier Lebewesen voller Augen, vorn und hinten. Das erste Lebewesen glich einem Löwen, das zweite einem Stier, das dritte sah aus wie ein Mensch, das vierte glich einem fliegenden Adler.« 54
Und sie sind es auch, die zuerst »dem, der auf dem Thron sitzt ...Herrlichkeit und Ehre und Dank erweisen«. Erst danach folgen die Menschen (»vierundzwanzig Älteste«). Johannes steht in einer Linie mit Paulus, wenn er meint, dass die Befreiung von der Sünde, die Erlösung schon jetzt in der Welt geschieht, wenn die Gemeinde die Herrschaft Gottes über die Welt jetzt schon anerkennt und vertritt. Diese Herrschaft Gottes, die in der Zukunft den ganzen Kosmos erfüllen wird, wird jetzt schon auf der Erde inmitten aller satanischen Weltmächte in der Gemeinde der Christen sichtbar. Die Apokalypse ist hier sehr konkret und knüpft direkt an die Anfangs Vorstellung der Bibel an: Die gesamte Schöpfung ist gut geschaffen, aber von der Schuld des Menschen mitbetroffen. Der Mensch hat jedoch auch die Mittel an der Hand, das zu ändern.
1.2.4 Haben Tiere eine Seele? Man kann es sich natürlich einfach machen. Dann hängt die Antwort auf die Frage danach, ob Tiere eine Seele haben, davon ab, was jemand unter Seele versteht. Je nach Definition kann dann dem Tier die Seele entweder zu- oder abgesprochen werden. Wir wollen die Frage aber so stellen, wie sie in der Geschichte des Tier-Mensch-Verhältnisses gestellt wurde. Denn je nach Antwort wird eine grundlegende Entscheidung darüber getroffen, ob man mit Tieren machen kann, was man will, ob sie Rechte haben, oder in das Erlösungswerk mit hineingehören. Wir wollen einen kleinen Weg in dieser Geschichte der Seele zusammen gehen. Der Seelenbegriff ergibt sich in der griechischen Denktradition aus einer im Grunde genommen ganz alltäglichen Beobachtung: Ich erlebe mich als Mensch andauernd in Bewegung; selbst wenn ich ruhe, schlägt mein Herz weiter, ich kann meinen Puls fühlen, mein Atem läuft immer weiter. Alles an 55
mir ist Bewegung. Mit dieser dauernden Bewegung sind auch wechselnde Zustände im Raum verbunden. Ich stehe auf, setze mich, strecke die Beine aus, bewege meine Arme, bemerke, dass ich etwas angestrengt atme, weil ich aufgeregt bin, mein Herz rast, dann geht es wieder ruhiger usw. Wer sich diese körperliche Befindlichkeit klarmacht und über die pausenlosen Veränderungen nachdenkt, kann zu dem Ergebnis kommen, dass irgendein Prinzip die Grundlage dieser Veränderungen bildet. Irgendetwas treibt mich an, veranlasst mich zu diesem oder jenem. Nun ist eine Entscheidung fällig. Ich kann diesen Bewegungsantrieb als etwas zur Materie Gehöriges betrachten oder es als etwas Unkörperliches ansehen. Ich kann dann behaupten, dass alle meine Handlungen bewusst von meinem Ichzentrum oder einem Geistzentrum in mir gesteuert sind. Diese zwei möglichen theoretischen Entscheidungen waren auch die Grundentscheidungen der griechischen Philosophie in der Frage nach der Seele; sie tauchen bereits sehr früh auf. Auf der einen Seite steht der griechische Philosoph Plato. Er nimmt an, dass das, was alles antreibt, die »Seele« (griech.: »psyché«), in allen Bewegungen immer vorhanden ist und im Grunde genommen nie zerstört werden kann. Das ist für ihn sehr wichtig. Plato wendet sich damit bewusst gegen ältere Vorstellungen, die sich die Seele als etwas Materielles, wenngleich im Unterschied zum Körper als etwas ganz Feinstoffliches denken. »Nein«, sagt Plato, »die Seele ist geistig«. Sie ist damit nicht zerstörbar, nicht sterblich und auch nicht auf eine bestimmte Dauer, etwa die Gegenwart, beschränkt. Die Seele ist vor dem Leib da; es gibt sie vor der Erschaffung des Körpers (sie ist präexistent). Und die vielen existierenden Seelen sind darüber hinaus miteinander verbunden. »Seele« ist nicht etwas Einzelnes, vom anderen Getrenntes. Jede Seele aller sich bewegenden Wesen ist zugleich der Ausdruck für die alles durchdringende Seele, die Weltseele. Hier zeigt sich ein geistiges Prinzip, das in allen Dingen und Wesen vorhanden ist. Nun versucht Plato aber auch, verschiedene Ebenen der Seele 56
zu unterscheiden. Die Seele besteht aus drei Teilen: der Vernunft, dem Mut und der Begierde. Die Vernunft wohnt im Haupt, der Mut zwischen Hals und Zwerchfell und die Begierde zwischen Zwerchfell und Nabel. Der Mensch besitzt alle drei Seelenteile, das Tier nur Mut und Begierde, die Pflanze ausschließlich die Begierde. Die Seele des Tieres und die der Pflanze werden von Plato ausdrücklich mit einbegriffen, wenngleich in dieser Abstufung. Auf der Welt leben zwar einzelne Seelen, die aber nur vorläufig einzelne sind. Sie kehren nach dem Tod des Körpers wieder zu Gott zurück. Vieles von dem, was Plato unter »Seele« versteht, ist gespeist aus älteren Seelenvorstellungen, z.B. der Gedanke, dass die an sich unsterbliche Seele durch verschiedene Körper wandern kann (Seelenwanderung, griech.: metempsychosis) oder die Vorstellung vom Leib als irdischem Gefängnis für die eigentlich unsterbliche Seele; auch die Sehnsucht aller Seelen nach der Rückkehr zu der einen Weltseele oder zu dem, der diese Seelen geschaffen hat. Diese Vorstellung greift auf alte religiöse Vorstellungen von Pythagoras und seinen Schülern zurück. Aristoteles, der große Schüler und Gegner des Plato, sieht die Bewegungsvorgänge ebenso. Er bringt sie ebenfalls in einen Zusammenhang mit der Seele, kommt aber zu anderen Ergebnissen. Aus den Beobachtungen der Natur schließt Aristoteles, dass die Seele zugleich mit dem gesamten Wesen entsteht, also nicht wie bei Plato vorher schon existiert. Die Seele wird »verdiesseitigt«. »Seele« ist für Aristoteles die Grundlage des pflanzlichen, des tierischen und des geistigen Lebens. Und die Seele ist zweigeteilt: Ein Teil der Seele ist vernunftbegabt, ein anderer vernunftlos. Was im vernunftlosen Teil der Seele (sagen wir einmal: den unteren Teil) allen Lebewesen gemeinsam sei, ist etwa die Tatsache des Lebens überhaupt, d.h. dessen, was zur Ernährung und zum Wachstum dient. Der obere Teil entspricht dem, was wir vielleicht umgangssprachlich »Vernunft« nennen. Aber dazwischen muss auch noch etwas angenommen werden, was beide Teile wie57
derum miteinander verbindet. Dieser Teil der Seele scheint auch vernunftlos zu sein, aber in gewisser Weise doch an der Vernunft teilzuhaben. Aristoteles verweist darauf, dass wir zum Beispiel einen beherrschten Menschen wegen dieser Beherrschung loben. Er liefert sich nicht einfach seinen Gefühlen aus. Das bedeutet aber, dass wir zugeben, dass es neben der Vernunftseele (ganz oben) und der reinen Lebensseele (ganz unten) noch einen Teil gibt, der mit der Vernunft verbunden ist, und sei es so, dass die Vernunft mit ihm kämpfen muss: Trieb oder Gefühl gegen Vernunft. Was will Aristoteles mit dieser Seelenlehre? Aristoteles hat seiner Ansicht nach damit eine Möglichkeit gefunden, wie er die gesamte uns umgebende Natur einteilen kann: je nach Anteil an der Vernunft. Es gibt höhere und niedrigere Stufen des Lebendigen, je nach Anteil an der Vernunft. Die Pflanzen haben eine Lebensseele (eine vegetative Seele). Tiere stehen in dieser Ordnung höher, weil sie auch physisch in Bewegung sind, offensichtlich Dinge begehren, etwas »wollen«. Der Mensch wiederum teilt mit Pflanzen und Tieren diese Seelenanteile, allerdings ist ihm die Stufe der Vernunft exklusiv vorbehalten. »Seele« hat in diesem System die Funktion eines Unterscheidungskriteriums für die Natur. Plato hatte ethische und religiöse Interessen. Ihm ging es darum, den Zusammenhang zwischen der einzelnen Seele, der Möglichkeit zur Erkenntnis (des Guten) und der Weltseele herauszuarbeiten. Weder Plato noch Aristoteles würden bestreiten, dass Tiere eine Seele haben, wenngleich beide vehement bestreiten würden, dass die Tiere über Vernunft verfügen. Bei beiden ist zumindest die Vernunftseele unsterblich. Allerdings verzichtet Aristoteles im Unterschied zu Plato auf eine religiöse Begründung. Irgendeine starke Ausgrenzung und Unterdrückung von Tieren, die Rechtfertigung etwa von Quälerei oder die Reduzierung auf Fleischmaschinen, sind bei beiden nicht spürbar. Diese Situation ändert sich allerdings unter dem Einfluss christlicher Systematisierungen. Vor allem steht jetzt die Frage 58
nach der Erlösung im Vordergrund. Diese Frage hatten die Griechen nicht vor Augen. Thomas von Aquin (1225 -1274) bestreitet nicht, dass die Tiere eine Seele haben, ganz einig mit Aristoteles. Wichtig ist für ihn aber die Feststellung, dass die Tiere keine unsterbliche Seele haben, d.h. sie sind im Unterschied zum Menschen nicht für die Ewigkeit geschaffen.6 Warum ist das jetzt plötzlich wichtig? Thomas sieht in den Tieren keine Vernunft am Werk und das heißt für ihn, kein Vermögen nach einem Streben zu immer währendem Sein, sondern nur ein Streben, sich gemäß ihrer Art zu erhalten. Mit dem Tod des Wesens stirbt auch dessen Seele. Thomas beruft sich hier einerseits auf die Bibel (Lev 17,11: »Die Seele des Fleisches ist im Blute«), andererseits auf die Autorität des Augustinus: »Wir glauben, dass allein der Mensch eine substanzielle, das heißt durch sich lebendige Seele besitzt, während die Seelen der Tiere mit den Körpern zugrunde gehen«. Aurelius Augustinus (354-430), Bischof in Nordafrika und Kirchenvater, hatte dies deswegen so scharf betont, um sich gegen Origenes abzugrenzen. Das Kapitel 17 im 21. Buch des »Gottesstaates« wendet sich deutlich gegen die von Origenes vertretene Lehre einer Wiedergeburt. Origenes (185 bis ca. 245 n. Chr.) hatte die Auffassung vertreten, dass die an sich unsterbliche Seele von Gott in die Körperlichkeit versetzt wird, um sich zu bewähren, also eine Art göttlicher Pädagogik. Nach bestandener Prüfung kann sie wieder in die ursprüngliche Reinheit und Einheit mit Gott zurückkehren. Gelingt ihr diese Prüfung nicht, muss sie zurückkehren, möglicherweise als Tier. Origenes hat keine Schwierigkeit, alle Wesen, Menschen und Tiere miteinander verbunden zu denken, weil er davon ausgeht, dass Gottes Wirken sich nicht auf den Menschen und die Geschichte beschränkt, sondern auch Herrschaft über die Natur ist. Für Augustinus ist nur der Mensch von Gott erwählt und nur er wird auch von ihm gerettet. Man könnte etwas überspitzt formulieren, der Gott des Augustinus herrscht nur über die menschliche Geschichte, nicht aber über die Natur. Diese Zweiteilung hat ganz gewaltige Konsequenzen. In der Neu59
zeit wird sie über die Reformation noch verschärft. Luther war Augustinermönch und mit den Werken des Augustinus bestens vertraut. Er schärft die Lehre von der ausschließlichen Gnadenerwählung des Menschen noch einmal ein. Tiere, Pflanzen, die Welt kommen hier nicht mehr vor. Wir stoßen auf ganz grundlegende philosophische und theologische Positionen. Sie sind aber auch nur solche. Es geht um Überlegungen in einem grundsätzlichen Bereich, bei Plato und Aristoteles um philosophische Gedanken, bei Thomas von Aquin um die systematische Durchdringung der Grundlagen des christlichen Glaubens. Aus keiner dieser Positionen lässt sich eine direkte Verfügung des Menschen über das andere Lebewesen herauslesen. Das eigentliche Problem wird erst in der Neuzeit mit der beginnenden Mechanisierung und einer vollständigen Veränderung des bisher gemeinsamen Menschheitswissens vollständig deutlich. Und hier zeigt dann auch die Vorstellung eines Gottes, dessen Erlösungswirken sich nicht mehr auf die ganze Natur bezieht, seine eigentliche Wirkung. Rene Descartes (1596-1650) formuliert ganz »modern« das Seelenproblem der Antike vollständig um. Es ist für ihn ausgemacht, dass es nur zwei Arten von Dingen in der Welt gibt: Dinge, die sich im Raum ausbreiten (denken wir an irgendetwas in unserem Raum, der Stuhl, auf dem ich sitze oder der Tisch) und andere Dinge, die denkend sind und keine Ausdehnung im Raum haben. Der Mensch ist »res cogitans« (denkendes Seiendes), der Körper des Menschen gehört zu den »res extensa« (ausgedehntes Seiendes) und erstreckt sich wie andere Dinge auch in den Raum hinein. Körper sind für Descartes Maschinen. Muskeln, Sehnen, und Knochen des Körpers spielen mechanisch zusammen und wirken auf andere Dinge im Raum ein. Natürlich erweckt eine solche Vorstellung, dass etwas Lebendiges wie eine Maschine funktioniert, Vorbehalte. Aber Descartes zerstreut diese Bedenken mit dem Hinweis auf die Fortschritte der Mechanik: 60
»Das Gesagte wird denen keineswegs seltsam vorkommen, die wissen, wie viele verschiedenartige Automaten oder bewegungsfähige Maschinen die Geschicklichkeit der Menschen zustande bringen kann, wobei sie nur recht wenige Stücke verwenden.«7 Descartes verzichtet bei seiner Erklärung von Bewegungen darauf, ein Prinzip, eine zugrunde liegende Seele anzunehmen. Die in dieser Zeit vielfach erfundenen Uhren und Automaten beweisen scheinbar seine Theorie. Descartes muss nicht mehr auf eine Seelentheorie zurückgreifen, wenn er erklären will, wie Bewegungen entstehen. Er braucht nur noch eine Maschinentheorie. Nun benötigt er noch den Beweis der reinen mechanischen Körperhaftigkeit von Tieren. Tiere haben keine Vernunft, denn sie können sich ja nicht unterhalten (das weiß ja jeder!), sind also kein denkendes Seiendes (res cogitans), sondern sind Dinge im Raum (res extensa) und damit ähnlich wie eine Maschine zu sehen. Voilà: Die Seele ist abgeschafft. Damit wird der Weg frei für eine umfassende Analyse der Leiber und der Tiere. Mit Descartes hebt das bis heute noch nicht beendete Zeitalter der Tierversuche an. Tiere stehen als Maschinen dem Menschen beliebig zur Verfügung. Sie können im Prinzip nicht leiden, da sie keine Seele haben. Sie haben auch nichts mit der Erlösung zu tun. Dies ist der Auftakt für eine Reihe von 61
Diskussionen um den Status des Tieres im Vergleich zu dem des Menschen. Denn von der Beantwortung dieser Frage hängt ab, wer der Mensch ist und vor allem was seine Aufgabe im Ganzen der Natur ist. Die Konfliktlinie verläuft so: Wenn Tiere eine Seele hätten (Seele im Sinne des cartesischen res-cogitans-Begriffes), dann wäre der herausgehobene Status der Menschenseele in Gefahr. Und dann müssten theologisch unliebsame Fragen nach dem jenseitigen Leben der Tiere aufgeworfen werden. »Sind Tiere vielleicht ähnlich unsterblich wie Menschen?« Andererseits wäre auch die Besonderheit des Menschen in Frage gestellt, wenn die Tiere keine Seele hätten. Denn die Tiere sind ja in vielen Tätigkeiten dem Menschen ähnlich. »Wenn Tiere keine Seele haben, haben Menschen vielleicht auch keine!« Diese Überlegungen werden bis in die Gegenwart weitergeführt. So gibt es im 18. und 19. Jahrhundert anhaltende Diskussionen um die Tierseele und besonders um die Frage, ob der Mensch dem Tier gegenüber moralische Pflichten habe. Der Arzt Johann Unzer schreibt anno 1769 zur Rechtfertigung des Fleischkonsums: »Allein, da wir doch ein für alle Mal allesammt Fleisch essen, und niemand den Anfang wird machen wollen, es abzuschaffen, so ist es billig, zu beweisen, dass wir daran nicht unrecht thun. So ist es eingeführt! Es giebt Gewohnheiten unter den Menschen, die sie durchaus nicht ändern wollen, sie mögen nun recht oder unrecht seyn. Dafür sind die Gelehrten, dass sie darthun müssen, dass alle diese Gewohnheiten recht sind: und weil nichts leichter ist, als jemanden von etwas zu überzeugen, wozu er überzeugt seyn will, so sind diese Beweise beynahe die glücklichsten, die jemals der menschliche Verstand geführt hat.«8 Das Problem besteht letztlich darin, dass der Mensch in moralische Schwierigkeiten kommt, wenn er sich darauf verständigt, dass das Tier eine unsterbliche und vernunftbegabte Seele habe. In diesem Dilemma befindet sich der Philosoph G. F. Meier im 62
Jahre 1749, der den Tieren eine unsterbliche und verständige Seele zuspricht, sich jetzt vor dem Problem einer Rechtfertigung des Leidens und der Tötung von Tieren sieht. Er löst dieses Problem, indem er auf Leibniz' Rechtfertigung Gottes angesichts des Übels in der Welt (das so genannte Theodizeeproblem) zurückgreift: »Die Natur tut nichts ohne Nutzen. Folglich muss der Tod der Thiere, seine nützlichsten Folgen, in den Seelen der Thiere haben. Nimmt man also an, dass die Seelen der Thiere durch den Tod an Verstand und Vernunft zunehmen: so wird ihnen alles das Uebel, so sie bey ihrem Tode ausstehen, reichlich ersetzt. Gott ist ein gütiger Vater aller seiner Geschöpfe; und es ist in Wahrheit eine anstößige Sache, wenn man sieht, wie viel thausend Thiere, die keine Strafe verwürckt haben, alle Augenblicke mit den größten Schmerzen sterben müssen. Gewinnen sie nun durch den Tod so viel: so ist das der Güte und der allgemeinen Liebe Gottes gemäß, dass durch diese einzige Betrachtung meine Meinung annehmungswürdig wird. Den Thieren kann keine größere Wohlthat widerfahren, als wenn sie getödtet werden.«9 Welch verschlungene Pfade des menschlichen Denkens, um zu rechtfertigen, was offensichtlich ein nicht aufhebbares Unrecht ist!
1.2.5 Was ist mit den Tieropfern in der Bibel? Es gibt Tieropfer im Alten Testament. Es lassen sich auch Spuren von Menschenopfern nachweisen, wie etwa in der sehr alten Geschichte von Abrahams Opfer (Gen 22). Isaak, Abrahams Sohn wird verschont und anstelle des Menschenopfers ein Tieropfer eingesetzt. Interessant ist allerdings, dass Abraham am Ende der Geschichte ohne seinen Sohn Isaak vom Berg herabkommt. Hat er Isaak doch geopfert? Auf jeden Fall ist das Opfer des Lebens ei63
nes Wesens eine scheinbar ganz dauerhafte Einrichtung in der Bibel. Noch die mittelalterliche Theologie und der Volksglaube bis in die Gegenwart deuten den Tod Jesu am Kreuz als Sühneopfer, um den Vater mit der Menschheit zu versöhnen, ganz dieser historisch alten Tradition entsprechend. Es scheint damit eine tiefe Wirklichkeit angesprochen zu sein, sonst hätte sich dieses Thema nicht so lange halten können. Erst die gegenwärtige westliche Theologie löst sich allmählich und mit vielen Geburtswehen von dieser Opfervorstellung. Wir betreten mit der Frage nach den Kult- und Sühneopfern ein schwieriges Gebiet. Sie sind nicht wegzudiskutieren und stellen einen erheblichen Teil der priesterlichen Kultvorschriften dar. Opfer gehören zur normalen Kultpraxis Alt-Israels, besonders im Jerusalemer Tempelkult. Aber es lassen sich auch viele Hinweise, besonders bei den Propheten finden, die diese Praxis kritisieren: Jes 66,3: »Man opfert Rinder — und erschlägt Menschen; man opfert Schafe - und erwürgt Hunde... wie diese Menschen ihre eigenen Wege wählen, und an ihren Götterbildern Gefallen haben, so wähle ich für sie die Strafe aus und bringe über sie Schrecken.«
Diese vielen verschiedenen Hinweise sind von der jeweiligen historischen Situation her zu verstehen. Wir bemerken in einer frühen Phase Opfer, die an verschiedenen Orten dargebracht wurden - ohne Hilfe von Priestern oder ganz genau geregelten Opferungsvorschriften, und ebenso nach der Zentralisierung des Opferkults in Jerusalem ein genau geregeltes und ausgeklügeltes System von Vorschriften und Anweisungen mit dem Ziel einer Versöhnung mit Gott. Opfer sind keine Spezialität Israels. Sie lassen sich in praktisch allen Kulturen nachweisen. Deshalb kennen wir auch verschiedene Theorien, die den jeweiligen Sinn solcher Opfer erklären sollen. Im Fall von Israel geht es sicher ganz stark um die Gemeinschaft und deren Beziehung zu Jahwe, den »Bund«. Trotz 64
der Zusage Gottes zum Menschen bleiben die Menschen aufgrund ihrer eigenen Schuld nicht in diesem Bundesverhältnis. Die Menschen vergehen sich, sie beachten Vorschriften nicht und fallen damit von Gott ab, laden Sünde auf sich. Es gibt aber die Möglichkeit, sich mittels eines Opfers zu entsühnen. Der zentrale Tag, an dem dies geschieht, ist der Versöhnungstag (Jom Kippur). Lev 16 beschreibt den Vorgang. Zuerst bringt der Hohepriester ein Opfer dar, um sich zu entsühnen, danach für die Priester und danach für das ganze Volk. Nur an diesem Tag darf er das Zentrum des Heiligtums (das Innere der Stiftshütte, später in Jerusalem des Tempels) betreten. Wenn er alles entsühnt hat, soll er einen Bock nehmen, beide Hände auf den Kopf des lebenden Bocks legen und laut die Sünden der Israeliten bekannt machen. Dann wird der Bock in die Wüste getrieben. Man hat ihm alle Sünden aufgeladen. Wir kennen diesen Bock noch als »Sündenbock«. Jede Gemeinschaft muss von Zeit zu Zeit ihr Gewaltpotenzial senken und sich von zerstörerischen Elementen befreien. Sie tut dies, indem sie Gewalt auf andere überträgt (René Girard). Die Geschichte ist voll von solchen Übertragungen. Vorurteile und Fremdenhass, die panische Angst des Menschen vor dem Anderen und Wilden speisen sich aus dieser Quelle. Immer wieder auftauchende Verfolgungen und Pogrome gegen Juden, Roma und Sinti, aber auch Menschen mit anderer Wert- und Moralordnung lassen sich so deuten. Diese Aggressionsübertragung bildet zugleich den Ausgangspunkt für eine menschliche Gemeinschaft. Die Gemeinschaft bildet sich dadurch, dass sie sich abgrenzt, im Fall von Israel von der Wildnis und den dort wohnenden anderen Völkern, dem Platz der Unordnung und Ungesetzlichkeit. Es ist wichtig, die durch die Sünde in Unordnung geratene Ordnung wiederherzustellen. Dadurch bedarf es eines Opfers: Beim Opfer handelt sich also um eine Institutionalisierung und Regelung von Gewalt, die - wenn sie nicht geregelt wird - blindlings und mit größeren Folgen zuschlägt. 65
Man kann sich natürlich über diese Theorie - wie über jede andere - streiten. Aber Gewalt und Aggression sind eine Realität unserer Welt. Und sie wird weder dadurch aus der Welt geschafft, dass man die Gewalt nicht ansieht oder sie theologisch wegerklärt. Die grundlegendste Form, mit diesem Gewaltpotenzial umzugehen, war die Übertragung von Gewalt auf das Tier, eine Art Blitzableitung auf das Andere, Fremde. Es wäre interessant, an dieser Stelle einmal der Frage nachzugehen, ob diese Blitzableiterfunktion nicht der eigentliche Grund für die Jagd (der Männer) auf Tiere war. Denn für die Ernährung spielen Jagdtiere außer in Randbereichen der Zivilisation - wie etwa in den Inuit-Kulturen (»Eskimos«) - schon seit vielen Zehntausenden von Jahren eine immer geringer werdende Rolle. Der Mensch ernährt sich seit dieser Zeit von dem, was um das Haus herum wächst oder was er auf seinen Wanderungen findet. Seit dieser Zeit gibt es aber auch die Legende von der Notwendigkeit der Jagd. Und am Beginn des 21. Jahrhunderts nach Christus finden sich immer neue Mythologisierungen für diese Schlachtungsart. Irgendwo hier scheint der Grund für Tieropfer zu liegen. Die biblischen Autoren drücken dies so aus: Wegen der scheinbar unausrottbaren Gewalt erlaubt Gott nach dem Sündenfall Tieropfer, sozusagen ein Kompromiss für die gefallenen Gottessöhne und -töchter, allerdings nicht irgendwie, sondern genau geregelt. Tiertötung soll nicht zu einer Steigerung von Gewalt führen, sondern zu deren Verminderung. Wo diese Erwartung sich nicht erfüllt, ist das Opfer sinnlos: Psalm 51,18-19: »Schlachtopfer willst du nicht, ich würde sie dir geben, an Brandopfern hast du kein Gefallen. Das Opfer, das Gott wohlgefällt, ist ein zerknirschter Geist, ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verschmähen.«
Ein solches Opfer ist sogar gotteslästerlich: 66
Jes 1,10-17: »Die Widder, die ihr als Opfer verbrennt, und das Fett eurer Rinder habe ich satt; das Blut der Stiere, der Lämmer und Böcke ist mir zuwider... Bringt mir nicht länger sinnlose Gaben, Rauchopfer, die mir ein Gräuel sind... Wenn ihr auch noch so viel betet, ich höre es nicht. Eure Hände sind voller Blut... Hört auf, vor meinen Augen Böses zu tun! Lernt, Gutes zu tun! Sorgt für das Recht! Helft den Unterdrückten! Verschafft den Waisen Recht, tretet ein für die Witwen!«
Diese Feststellung ist wichtig und sie erlaubt es, in den Opfern und dem Töten nicht etwas zu sehen, was Gott von sich aus fordert, sondern was in der menschlichen Schwäche begründet ist. Der Umkehrschluss ist ebenso zulässig: Wo der Mensch andere Wege findet, mit der Gewalt, der Aggression und der Sünde umzugehen, sind solche Opfer nicht mehr notwendig. Historisch sind alle drei großen abrahamitischen Religionen diesen Weg gegangen. Die Tempelopfer im Judentum enden mit der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n. Chr. Für die Christen wurde die Vorstellung von Jesus als (einzigem) Opferlamm immer wichtiger. Er hat die Sünden der Welt auf sich genommen, wie dies die christlichen Liturgien in der Welt immer wieder bekennen. Der Islam kennt noch das Tieropfer: Am Ende der Pilgerfahrt nach Mekka (der Hadj), oder des Festes zum Andenken an Abrahams Bereitschaft, seinen Sohn Isaak zu opfern (Eid el Adha). Immer handelt es sich um rituelle Schlachtungen mit anschließender Speisung, also nicht um ein Rauch- oder Ganzopfer (wie dies zum Teil im alten Israel üblich war). Falls man der Opfertheorie von Girard folgt, könnte man sagen, an die Stelle der menschlichen Gewalt tritt die Gewalt gegen Tiere. Sie wäre dann eine naturgesetzliche Notwendigkeit für den Frieden in der menschlichen Gesellschaft. Deswegen betonen und bejahen Teile des Alten Testaments auch Tieropfer. Sie sind aber nicht der Weisheit letzter Schluss.
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1.2.6 Ist das Friedensreich nur eine fromme Utopie? Das Tier-Mensch-Verhältnis steht im Ersten wie im Neuen Testament in einem engen Zusammenhang mit der Erlösung. Diese ist aus christlicher Sicht ganz gekoppelt an und konzentriert auf Jesus. Dies hat die Apokalypse deutlich gemacht. Dabei knüpft sie an sehr alte Vorstellungen an, die den Anfang mit dem guten Ende verknüpfen. Die berühmteste und möglicherweise wirkmächtigste dieser Vorstellungen lesen wir in der Ankündigung des Friedensreichs durch den Propheten Jesaja. Sie stellt auch eine Brücke zum Verständnis der Tier-Mensch-Beziehung im
Edward Hicks (1780-1849), Das Königreich des Friedens, um 1830. Öl auf Leinwand. New York State, Historical Association, Cooperstown/NY.
Neuen Testament dar. Jesaja kündigt in seinem 11. Kapitel (Verse 1-10) einen zukünftigen idealen Herrscher an. Dieser Herrscher hat sehr umfangreiche Kompetenzen. Vor allem ist er Garant des Friedens. »Frieden« (hebr. salom) ist etwas sehr Weitgehendes. Es bedeutet die Übereinstimmung aller Verhältnisse mit dem göttlichen Willen. Ein solcher Zustand des salom meint selbstverständlich auch den Frieden mit dem Tierreich: »Und der Wolf wird beim Lamm weilen und der Leopard beim Böckchen lagern. Das Kalb und der Junglöwe und das Mastvieh werden zusammen sein, und ein kleiner Junge wird sie treiben. Kuh und Bärin werden miteinander weiden, ihre Jungen werden zusammen lagern. Und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. Und der Säugling wird spielen an dem Loch der Viper und das entwöhnte Kind seine Hand ausstrecken nach der Höhle der Otter.«
Na und? - Als aufgeklärte Menschen wissen wir doch, dass damit eigentlich gar nicht ein friedliches Beisammenleben von Tier und Mensch gemeint sein kann. Das ganze stelle »nur« eine Metapher dar. Warum? Weil natürlich Löwen schon aus Gründen des Verdauungstrakts kein Gras und kein Stroh fressen können. - Ist damit die Geschichte jedoch für uns vollständig erklärt? Das Bild vom friedlichen Beieinander von Tier und Mensch sagt aus, dass die Welt von ihrer Heillosigkeit genesen kann, wenn der König als Statthalter der Gottheit seines Amtes waltet. Diese Vorstellung ist uns auch in unserem Kulturkreis bekannt: In den Legenden um die Suche nach dem heiligen Gral wird alles wieder gesund, wenn der König gesundet ist... Wo liegt die Bedeutung jener Bilder? Können Löwen Gras fressen und auf die Tötung anderer Beutetiere verzichten? Oft wurde versucht, den offenkundigen Widerspruch zwischen der scheinbar feststehenden Naturordnung, in der getötet wird, und den an69
Ein kollegiales Geplänkel: Ein Kollege, mit dem ich schon seit Jahren in einer Arbeitsgruppe zusammenarbeitete, wollte mich neulich etwas foppen. Er weiß natürlich, dass ich mich mit dem Thema Tier befasse, und er erzählt mir, er habe einen Bericht von Sikhs in Nordindien gesehen. »Stell dir mal vor«, sagte er, »die bringen es sogar fertig, Löwen irgendwie vegetarisch zu ernähren« und er lachte über diese für ihn groteske Vorstellung. Ich fragte zurück: »Wie ging's denn den Löwen?« »Naja, eigentlich nicht schlecht, sie lagen halt nur etwas schlapp und kraftlos herum.« Darauf bemerkte ich: »H., weißt du, Löwen liegen in jedem Fall fast die ganze Zeit herum. Nur bei Tierfilmen rennen sie die ganze Zeit durch die Gegend.« Mein Kollege hatte geglaubt, dass der Grund für das, wie er sagte, »faul herumliegen« in der fleischlosen Ernähung zu suchen sei. Ich weiß nicht, ob das der Grund ist, aber Löwen sind - egal bei welcher Ernährung Meister des Faulenzens.
schaulichen Beschreibungen von Jesaja zu entschärfen. Der Text wurde bildlich gedeutet, so als ginge es im Grunde genommen gar nicht um Tiere, sondern um das Verhältnis Israels zu den umgebenden Völkern. Noch Martin Buber versuchte es auf diese Weise. Im Text selbst gibt es keinen Hinweis auf eine solche Deutung. Jesaja selbst stellt sogar noch deutlicher fest: Man wird nichts Böses tun, noch verderblich handeln auf meinem ganzen heiligen Berg (Vers 9). Es wird nichts Böses mehr geben, weder unter den Menschen noch unter den Tieren. Das ganze stellt auch keine Einzelaussage dar. Bei Jesaja findet sich eine andere Stelle, die ganz ähnlich lautet: 70
»Wolf und Lamm weiden zusammen, der Löwe frisst Stroh wie das Rind (...) Man tut nichts Böses mehr und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg, spricht der Herr.« (Jes 65,25)
Mittlerweile wissen wir, dass diese späte Jesaja-Stelle von einem anderen Verfasser stammen muss, der viel später gelebt hat. Aber auch diesem ist dieses Friedensreich sehr wichtig. Unbedingte Voraussetzung dieser salom-Ordnung ist die Erkenntnis des Herrn - ein Glaubensakt. Wenn diese anerkannt wird, wird Friede das ganze Land erfüllen. Friede wird jedem zuteil werden, wie Wasser das Meer bedeckt. Die Verwirklichung der göttlichen Ordnung gewinnt Gestalt in einer neuen Ordnung in allen Bereichen des Lebens. Diese neue Ordnung hebt alle gewalttätigen Bestandteile der Wirklichkeit in die Allgegenwart Gottes hinein auf. Wenn Theologie redlich bleiben will, dann kann sie dieser Grundvorstellung, dass Gottes Ordnung auch die Verhältnisse in der Natur auf den Kopf stellt, nicht entgehen. Wir müssen diese Vorstellung als eine mögliche aufrechterhalten. Aber es gibt Einwände: Es ist einfacher, Glauben als etwas Innerliches, rein Psychologisches zu betrachten. Oder man reduziert Glauben auf bestimmte ethische Grundhaltungen und -einstellungen. Jene Vision heute aber zu vertreten, ist natürlich schwierig. Vor allem erfordert sie einen veränderten Umgang mit Spiritualität. Was sie im Einzelnen bedeuten kann, soll später (Teil 2) erläutert werden. Für den oder die Verfasser stellt die Aussage von der Verwandlung auch des Tier-Mensch-Verhältnisses ein Leitmotiv prophetischer Theologie dar.
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1.3. Können es andere besser? 1.3.1 Der lateinisch sprechende Hund. Eine Erzählung aus den Anden1
Eines Tages ging der Herr mit seinem Hund aus, um einen weiten Spaziergang zu machen. Da tauchte plötzlich eine Schlange vor dem Herrn auf. Die Schlange kroch in ein Erdloch. Da bedeckte der Herr das Loch und sagte: »Ich will die Schlange in der Spalte zudecken. Was für ein schlechtes Zeichen, dass sie uns über den Weg gekrochen ist!« Der Hund aber merkte sich genau, was gemacht wurde. Dann kehrten sie nach Hause zurück. Nach einer langen Zeit wurde der Herr ernsthaft krank. Er wurde von vielen Ärzten und von vielen Yatiris (einheimischen Heilkundigen) behandelt. Alle Arten von Medizin probierte er aus, aber keiner der Ärzte konnte den Herrn heilen. Da sagte er: »Was kann ich jetzt noch tun? Ich habe viele Behandlungsarten versucht und es ist kein Geld mehr übrig. Was soll ich tun?« Er war sehr unglücklich, er und seine Frau und die Familie. In dieser Situation kam ein Mann an, um den Herrn zu besuchen. Der Hund des Herrn empfing ihn und redete mit ihm zuerst in Latein, da dieser Hund lateinisch sprach. Der Besucher redete auch lateinisch. Der Hund sagte dies in Latein: »Mein Herr ist sehr krank«, sagte er. Darauf fragte der Mann: 72
»Wie wurde er krank?« Der Hund sagte: »Eines Tages machte er einen weiten Spaziergang und sah eine Schlange vor sich auf der Straße. Die Schlange kroch in ein Loch und wir bedeckten das Loch mit einem Stein. Das war der Grund, warum er krank wurde. Und sie waren nicht imstande, das herauszufinden.« Alles das sagte der Hund in Latein zu ihm und der Mann verstand Latein. So redeten sie. Jetzt fragte der Mann den Hund, Und der Hund antwortete: »Sehr gut, wir können gehen. Der Schlange kann es nicht gut gehen, daher ist mein Meister krank.« So sprach der Hund: »Also gehen wir. Ich will zuerst deinen Herrn sprechen.« »O.k., sage ihm das«, antwortete der Hund. Der Mann sprach zu dem Herrn. »Hallo, Herr.« »Hallo«, sagte der Kranke. »Was war der Grund für deine Krankheit«? »Das ist es ja gerade. Ich frage dich, was meine Schuld gewesen sein könnte. Mir geht es überhaupt nicht gut.« So sprach er. Und der Mann sagte zu dem Herrn: »Ich will dich heilen.« »Wenn du das tatsächlich könntest! Ich wurde von vielen Ärzten behandelt. Niemand war in der Lage, mich zu heilen« So sprach der Herr zu dem Mann. Darauf entgegnete der Mann: »Kannst du mir etwas Milch geben? Wir werden sehen, ob wir dir helfen können«, sagte er zu dem Herrn. Und der Herr sprach:
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»Wir wollen sehen, Mama, gib dem Mann etwas Milch. Vielleicht wird er mich heilen.« So sagte er zu seiner Frau. Die Frau gab dem Mann die Milch. Und dann ging er mit dem Hund weg. Der Hund sprach: »Ich kenne den Platz, wo er die Schlange eingesperrt hat. Ich werde dich gerade dahin führen.« So sagte er. Dann gingen der Mann und der Hund so schnell sie konnten über die Steppe (Pampa), bis sie diesen Platz erreicht hatten. »Es ist hier, wo mein Herr die Schlange eingesperrt hat«, sagte der Hund. Darauf sagte der Mann: »Wir wollen nachsehen.« Er rollte den Stein von dem Erdloch weg. Die Schlange war da, aber bereits sehr ausgetrocknet und in einem erbärmlichen Zustand, dem Tode nahe. Und der Mann gab der Schlange ein bisschen Milch. Die Schlange trank die Mich gierig und sofort ging es ihr besser. Dann sagte der Mann zu dem Hund: »Sieh dir das an! Es geht ihm gut! Ich bin sicher, dass es deinem Herrn jetzt auch besser geht.« »Das hoffe ich«, sagte der Hund. Sie redeten in Latein und rannten den ganzen Weg zum Haus des Herrn zurück. Dem Herrn ging es tatsächlich besser. »O mein Herr, wie hast du mich geheilt? Ich fühle mich viel besser.« Während er dies sagte, stand er aus dem Bett auf. »Danke, werter Herr, wie hast du mich geheilt? Ich fühle mich wieder wohl, jetzt geht es mir gut. Ich kann überallhin gehen.« So sagte er zu ihm. Und danach sprach er zu seiner Frau: »Das ist der Mann, der weiß, wie man heilt! Aber ich habe so viel Geld für die Yatiri und die Ärzte verschwendet,
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dass ich keines mehr habe, um ihn für die Heilung zu bezahlen.« Seine Frau antwortete: »Sicherlich ist dieser Mann Gottes Sohn! Das ist der Grund, warum er dich geheilt hat, ohne dich nur zu berühren.« »Gut, Mann, was kann ich tun? Lass uns alle Ärzte und auch die Yatiri holen. Lass uns alle versammeln. Sattle sofort mein Pferd. Ich werde es dem Mann geben, der mich geheilt hat und ich werde ihm mehr Geld geben. Auf diese Weise werden die Ärzte und die Yatiri überzeugt, dass ich geheilt wurde. Haben sie es geschafft, mich zu heilen? Diese Ärzte und die Yatiri müssen mir all das Geld zurückbringen, das ich ihnen gezahlt habe. Es soll nicht für mich sein; es soll für jenen Mann sein. Dann werde ich es ihm im Angesicht von jenen geben.« So sprach er. »Dir sei Dank«, antwortete der Mann. Und er sprach mit dem Hund in Latein. Der Herr verstand die lateinische Sprache des Hundes nicht, noch verstand er, dass der Mann auch in Latein sprach. Der Mann und der Hund redeten über alles, geradeso wie menschliche Wesen. Als der Herr die Ärzte und die Yatiri zusammengeholt hatte, sagte er zu ihnen: »Wisst ihr, wie ich geheilt wurde? Jeder von euch hat mich behandelt, aber wurde ich gesund? Ihr habt mich betrogen! Jetzt gebt diesem Mann, jeder von euch. Gebt zurück, was immer ich euch gegeben habe. Es soll nicht für mich sein, sondern für diesen Mann. Ich bin ganz gesund, ich war in einem Augenblick geheilt. Ich werde ihm sogar mehr geben.« So erledigte er alles. Und der Mann, der mit dem Hund in Latein gesprochen hatte, ging mit seinem Pferd weg, mit dem Geld und mit dem Essen. Danach war der Herr ein sehr glücklicher Mann.
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(Anmerkung: Manchmal dient diese Geschichte zum Lachen, zu anderen Zeiten dient sie dem Nachdenken.) In einem Zimmer der Frankfurter Universität hatte Domingo Llangue diese Geschichte erzählt und er hatte hinzugefügt, dass das Entscheidende aus seiner Sicht die »reciprocidad« zwischen Tier und Mensch sei. »Reciprocidad« ist schwierig wiederzugeben. Es ist mehr gemeint, als das Fremdwort »Reziprozität« hergibt. Es existiert eine tief liegende Gewissheit von Verbundenheit, Interaktion, Abhängigkeit aller Wesen voneinander: in der Vorstellungswelt der lateinamerikanischen wie der nordamerikanischen Ureinwohner auf weit mehr bezogen als nur die Welt der Lebewesen. Berge zählen ebenso dazu wie Pflanzen. Zu diesem feinen System von Verbindungslinien gehören bestimmte Kommunikationsformen: Gespräche, Gebete, Rituale, Vorschriften. Das, was in der abendländischen Bewusstseinsform »Natur« heißt, »Umwelt« des Menschen, auf den Menschen allein bezogen, ist in dieser spirituellen Tradition ein geistiges Netz mit einem fragilen Gleichgewicht. Was jeweils getan werden kann und darf, wird genau geregelt. Diese andine Philosophie ist keineswegs tot. Es scheint eher so zu sein, dass sie ihre Lebendigkeit und Wirksamkeit heute zu uns herüberträgt. Dies hängt wesentlich daran, dass für das Indiovolk der Aymara nicht die Rolle des Beobachters das Entscheidende ist, sondern die Errichtung einer Beziehung. Wer einen anderen, ein nicht-menschliches Lebewesen, einen Stein beobachtet, stellt eine Verbindung zu ihm her. Die Geschichte des lateinisch sprechenden Hundes erzählt davon, wie ein Mann diese Beziehung zerstört und wie ein Hund hilft, diese Beziehung wieder einzurichten. Beziehung bedeutet hier anzuerkennen, dass jedes Element der Wirklichkeit einen angestammten Platz hat, eine vorgegebene Harmonie. Der Mensch erhält diese Harmonie, indem er eine Beziehung des Respekts zu diesen Wesen und Dingen aufbaut. Die Geschichte zeigt, wie sich ein Mann gegen diese Ord76
nung verhält. Er hat die grundlegenden Lehren seiner eigenen Tradition vergessen. Im Volksglauben der Aymara (und anderer südamerikanischer Indiovölker) hat die Schlange eine herausgehobene Bedeutung. Sie nimmt heilende Funktionen wahr, sie symbolisiert die Lebenskraft und ihr Auftauchen ist demzufolge ein gutes Omen. Der Mann in der Geschichte will die Schlange töten, indem er sie in ein Loch einsperrt. Diese Verweigerung gegenüber den eigenen Traditionen führt zu Krankheit, die auch kein Arzt oder Heiler kurieren kann. Der Hund benimmt sich demgegenüber so, wie sich ein Mensch verhalten sollte. Er beobachtet das Einsperren der Schlange, ist besorgt über den Zustand seines Herrn, spricht mit dem geheimnisvollen Fremden. Krankheit - so weiß er - hat damit zu tun, ob die Lebenskraft (die Schlange) eingesperrt ist. In der Aymara Sprache ist Krankheit: »katja«, gleichbedeutend mit »eingesperrt-sein«. Gesundheit kann erst dann wiederhergestellt werden, wenn die Lebenskraft befreit ist. Auch der erkrankte Mann hat noch eine Ahnung von diesem Grundverhältnis, indem er den Fremden fragt, wo er sich falsch verhalten hätte. Interessant ist das »lateinisch Reden« des Hundes. Latein steht für die Sprache, die der Mann nicht versteht, ist die Sprache, in der natürliche Ordnung und spirituelle Ordnung sich aufeinander beziehen. Es ist auch die Sprache einer nicht-menschlichen Kommunikation zwischen Tieren und Menschen und Tieren und Tieren. Die lateinische Sprache umschreibt für die Aymara ein Geheimnis, meint eine nicht-verstehbare Sprache. Weil aber Sprache etwas so Bedeutsames für den Menschen ist, wird das Fehlen des Verstehens ein Mangel. Zugleich aber bedeutet das Nicht-Verstehen nicht, dass Tiere über keine Kommunikation verfügten. Sie können sich sehr wohl unterhalten und mit Gott in Verbindung treten - aber eben auf »Latein«. Der Hund bedeutet in der Aymara-Symbolik den Begleiter der Seelen in die Ewigkeit. Der Haushund ist nicht nur ein getreuer Begleiter des Menschen (und ein guter Beobachter, wie übri77
gens jeder Hundehalter weiß), er steht in einer besonderen Beziehung zum Inneren, zur Seele des Menschen. In der Aymara-Tradition gibt es ein Verbot, Tiere ohne Grund zu quälen. Weil sie sich nicht selbst verteidigen und den Tierquäler anklagen können, rufen sie Gott um Hilfe. Außerdem kennt der Aymara die Bedürfnisse der Tiere, mit denen er umgeht. Jedes Tier verdient Respekt und Sorge, unabhängig davon, ob es ein »höher« oder »niedriger« entwickeltes Tier ist. Eingegriffen werden darf in diesen Naturschutzzusammenhang nur dann, wenn es für die menschlichen Bedürfnisse unabdingbar ist. Ich will noch einmal auf »Reziprozität« zurückkommen. Heilung geschieht in dieser Geschichte dann, wenn die wechselseitige Beziehung (die Reziprozität) wiederhergestellt wird. Die Schlange wird befreit und von dem Fremden wieder aufgepäppelt. Im gleichen Maße, wie dies geschieht, wird auch der Mensch wieder heil. Dies ist ganz grundlegend. Auch das Wohlergehen der gesamten Gesellschaft hängt davon ab, dass die Balance zwischen allen Wesen beachtet wird und sie bei einer Störung wiederhergestellt wird. Gerechtigkeit als Ausgleich ist dann verwirklicht, wenn das Gesetz der wechselseitigen Reziprozität beachtet wird. Diese Vorstellungen unterscheiden die Aymara von den typisch westlichen Denkstilen und Lebensweisen. Nach der Aymara-Kosmologie ist die physische Welt aufs Engste mit den sozialen Beziehungen verflochten. Alles, was ist, hat zunächst auch die Berechtigung zu existieren. In dieser Tradition sind Menschen, auch wenn sie eine besondere Verantwortung für die gesamte Schöpfung haben, keineswegs die absoluten Herrscher über alle Kreaturen. Sie haben sich an die vorgegebene Ordnung zu halten, ihr mit Respekt zu begegnen. Dies gilt auch und besonders für die scheinbar niedrigeren Formen des nicht-menschlichen Lebens.
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1.3.2 Heilige Kühe und heilige Affen Alle Religionen, die eine Art von zyklischem Zeitbewusstsein kennen, also von einer immer wieder neuen Verwandlung aller Wesen in einem Kreislauf ausgehen, tun sich leicht zu begründen, warum man einem Tier nichts Böses antun soll. Denn es könnte früher ein Mensch gewesen sein, der sich vergangen hatte und zur Strafe in ein Tier verwandelt wurde. Wir kennen etwa aus dem indischen Bereich sehr viele Erzählungen, die dieses Gestaltwechseln in mythologischer, märchenhafter Form erläutern. Aber es handelt sich hier keineswegs nur um abendlichen Erzählstoff für Kinder. Die Durchlässigkeit der gesamten Weltordnung und ihrer Wesen ist ein grundlegendes Motiv im hinduistischen Bereich (in Sanskrit: samsâra, d.h. Wiedergeburt, Kreislauf, Wandelwelt). Sie wird verbunden mit der Lehre von der Auswirkung der Tat:
Affentempel in Benares
»Erfahrt also in Gänze und gemäß der Ordnung, in welchen Mutterschoß die Seele hier in dieser Welt eingeht und (in Folge) welcher Taten. Diejenigen, die Todsünden begangen haben, werden, nachdem sie eine lange Reihe von Jahren in schrecklichen Höllen zugebracht und (die Strafen) abgebüßt haben, wieder geboren wie folgt: Der Mörder eines Brahmanen geht in den Mutterschoß von Hunden, Schweinen, Eseln, Kamelen, Kühen, Ziegen, Schafen, Hirschen oder Vögeln... ein. Der Brahmane, der Alkohol trinkt, geht in den von Würmern, Regenwürmern oder Insekten, von Vögeln, die sich von Exkrementen nähren, oder von Schädlingen ein ... wenn man einen Hirsch oder einen Elefanten stiehlt, wird man ein Wolf; ein Pferd, ein Tiger; Früchte und Wurzeln, ein Affe; wenn man eine Frau stiehlt, ein Bär; Wasser, ein schwarz-weißer Kuckuck...«1 Dies ist nur ein Ausschnitt aus der Aufzählung. Aber diese genau geregelte Strafe und Sühnevorstellung, volkstümlich vielleicht in der Vorstellung, man verspeise als Fleischesser einen gestorbenen Verwandten, gibt nur einen Teil der ethischen Grundeinstellung wieder. Sie ist notwendig zu ergänzen mit einer Vorstellung, die sich etwa um die Zeit der Geburt Christi in Indien durchsetzt: die »ahimsa«. Mahatma Gandhi hat den Begriff mit »non-violence«, Gewaltlosigkeit, übersetzt: wohl auch von der Wortbedeutung und der Wichtigkeit dieser Vorstellung her eine zu ungenaue Übersetzung. Besser wäre wohl zu sagen: »Nichtvorhandensein des Tötungswillens«. Dies stellt ein hohes religiöses Ideal dar. In der vedischen Zeit (1500-200 v. Chr.) existiert als notwendiges Opfer das eines Tiers. Das so genannte Purusha-Lied beschreibt die Opferung des Riesenmenschen Purusha, aus dessen Gliedern alle Wesen hervorgegangen sind. Die gängige Opferpraxis dürfte hier Pate gestanden haben: »Als Opfertier ward auf der Streu geweiht, der Purusha, der vorher war entstanden... Aus ihm als ganz verbranntem Opfertier; Floss ab mit Schmalz gemischter Opferseim; Daraus schuf man die Tiere in der Luft; Und die im Walde leben und daheim; Aus 80
ihm als ganz verbranntem Opfertier; Die Hymnen und Gesänge sind entstanden, Aus ihm die Prunklieder allesamt und was an Opfersprüchen ist vorhanden.«2 Ganz gewandelt dann das Gesetz des Manu, das bereits das Prinzip der Ablehnung des Willens zum Töten (ahimsa) einschärft: Der Brahmane soll, außer in Notfällen, einen solchen Lebenswandel führen, dass er den Geschöpfen keinen oder den möglichst geringsten Schaden zufügt. Wenn die Zeit der weltlichen Pflichten erfüllt ist, soll er zum Asketen werden, er soll sich in den Wald zurückziehen, sich mit Kräutern, Früchten und Reis ernähren, er soll gütig und gesammelt sein, geben ohne zu nehmen und mit allen Wesen Mitleid haben. Das bedeutet eine vegetarische Lebensweise. Fleisch zu essen bedeutet für den frommen Hindu so viel wie Aas essen. Ganz so streng ist Buddha offensichtlich nicht. Für ihn reicht es, dass die Speise, die dem Mönch gereicht wird, nicht für den Mönch getötet wurde. Der Jainismus hingegen
Straßenszene in Delhi
betont sehr stark den Zusammenhang zwischen ahimsa und der Seelenwanderungslehre und der Betonung der guten Taten. Alles steht in einem Zusammenhang zum asketischen Gedanken, dem eigentlichen Mittel, um diese Welt befreit zu verlassen. Tierverehrung hat in Indien eine lange Tradition, die viel älter ist als das, was wir im Westen heute als »Hinduismus« bezeichnen. Die Verehrung der Tiere hat ihre Wurzeln in einer landwirtschaftlich ausgerichteten Kultur, in der die Kuh zum Überleben unbedingt notwendig war. In einer Wirtschaft, die nur Rinder als Hilfen für den Menschen in der Landwirtschaft kennt, werden diese essenziell für das Leben selbst. Sie geben Milch für die Kinder. Milch ist der Ausgangspunkt für eine Reihe anderer Erzeugnisse: Butter, Jogurt, Milchprodukte. Rinder sind in diesen Lebens- und Wirtschaftskreislauf perfekt ökologisch eingepasst. Rinder sind wie alle Tiere Teil der geschaffenen Natur, deshalb sind sie - wie alle Wesen - verehrungswürdig. Kühe repräsentieren so für den Hindu die ganze Schöpfung, genau wie alle Säugetiere, Fische oder Vögel. Auf einer anderen Ebene, die sich mit der Entwicklung der religiösen Vorstellungen im indischen Bereich erst ganz langsam herausbildet, symbolisieren Kühe die Dauerhaftigkeit des Lebens über den Tod hinaus. Sie sind Sinnbilder für die Seele, die Gefühle, den Geist und sie stellen den Menschen die religiös bedeutsame Haltung des Gebens vor Augen, ohne mehr zu nehmen als eben Gras. Die Kuh gibt her, so wie die Seele immer mehr hergibt, als zu erhalten. In der westlichen, besonders der deutschen Literatur wird immer wieder auf die besondere Freundlichkeit der Inder Tieren gegenüber hingewiesen. Doch für den Nicht-Asketen, also die deutliche Mehrheit der Bevölkerung, stellt Fleischgenuss kein religiöses Tabu dar. Man kann zwar sagen, je höher die Kaste, desto mehr wird Wert auf eine fleischlose Ernährung gelegt. Aber hier gibt es auch starke lokale Unterschiede. So weit die Theorie. Was ist mit der Praxis? Im Westen besonders bekannt geworden ist die kultische Verehrung der Kuh in In82
dien. Kühe werden nicht angerührt, ihnen darf kein Leid geschehen: Dies jedoch zulasten von Menschen. Natürlich dürfen Kühe auch nicht getötet werden, jedenfalls offiziell. Wir wissen aus der Alltagspraxis, dass genau diese religiöse Verehrung im Grunde genommen einen Tierschutz für Kühe stark behindert. Nicht erlaubt ist, eine Kuh zu schlachten, auch dann nicht, wenn Euthanasie bei einem unaufhebbaren Leiden die tierwürdigere Entscheidung wäre. In der Praxis herrscht häufig eine große Missachtung gegenüber dem Leid der Tiere vor, auch wenn die religiösen hinduistischen Gesetze scheinbar befolgt werden. Aber diese religiöse Haltung den Tieren gegenüber ist meistens genauso wenig in den Alltag hinein umgesetzt wie in anderen Teilen der Erde. Das Schlachten von Rindern stellt gegenwärtig in der indischen Gesellschaft ein Problem dar. Es werden immer mehr Kühe getötet; aber darüber wird nicht gerne in der Öffentlichkeit geredet, weil man befürchtet, religiöse Gefühle zu verletzen. Es breitet sich eine auch in den Industriegesellschaften weit verbreitete Doppelmoral aus. Unter dem Schatten dieses öffentlichen Schweigens haben Schlachthäuser und Tiertransporte längst ihren Weg nach Indien gefunden. Von dem idyllischen Bild des Kühe und Tiere liebenden Inders, das noch aus der Zeit Mahatma Gandhis stammt, scheint gegenwärtig nicht mehr viel übrig zu bleiben. So schreibt die Präsidentin der Tierschutzorganisation PETA, Ingrid Newkirk, die selbst ihre Kindheit in Indien verbracht hatte, über einen Besuch im heutigen Indien: »Als ich in Indien aufwuchs, gab es überall Bilder von glücklichen Kühen. Nicht, als ob sie es einfach gehabt hätten, aber es war der Rest von Gandhis Verehrung des Lebens. Heute, unter starkem westlichen Einfluss, ist davon nichts mehr zu spüren. Ich fand ein blühendes Fleisch- und Ledergewerbe vor, das Hunger, Durst, Schläge, gebrochene Knochen und grausames Schlachten bedeutet. Es gibt keine einzelnen Verursacher dieses Leidens: Hindus, Muslime, Christen und Jains sind beteiligt.« Als Folge der gesellschaftlichen Veränderungen in den letz83
ten Jahren wird das gesetzliche Verbot der Rinderschlachtung in Indien heute nicht mehr beachtet. Auch Grausamkeiten gegen Tiere werden durch einen korrupten Polizeiapparat nicht mehr verfolgt. Eine »moderne« Entwicklung hat stattgefunden. Der Kernbestand der indischen Religion, der Gedanke der allumfassenden »ahimsa«, der in der Zeit Mahatma Gandhis zu einer gesellschaftlich prägenden Kraft wurde, verliert in einem raschen Prozess an Einfluss. Das heutige Indien ist auch aufgrund des Hungers und der tiefen gesellschaftlichen Armut weit entfernt vom Mitleid für Tiere.
1.3.3. Ein »heißes Eisen«: Das Tier im Judentum Drei Dinge stehen für mich außer Frage: 1. Die jüdische Religion kennt eine der am weitesten entwickelten traditionellen Ethiken für den Umgang mit dem Tier. 2. Diese Ethik wird heute durch ein fundamentalistisches Verständnis der biblischen Vorschriften zur Tötung von Tieren unterlaufen. 3. Es nützt nichts, sich der Diskussion zu entziehen, weil man in Rechnung stellt, dass Antisemitismus und Tierschutz gerade in Deutschland spätestens seit der Weimarer Republik eine enge Verbindung eingegangen sind. Als AKUT (Aktion Kirche und Tiere) im Herbst 1998 zu einem Studientag über das Tier in der jüdischen Weisung aufrief, hagelte es Proteste und Austritte. Etwas verwirrt stand der Veranstalter vor dieser Situation. Ein Kenner der Szene meinte dazu: »Das hättet ihr wissen müssen, was ihr da lostretet, wir haben uns immer davor herumgedrückt, uns mit dem Thema zu beschäftigen.« 84
Nach einer Podiumsdiskussion in Frankfurt hatte ich Gelegenheit, mit einem führenden Mitglied der jüdischen Gemeinde in Frankfurt zu sprechen. Ich fragte ihn nach seiner Meinung dazu, dass viele Menschen die jüdische Form des Schlachtens, die Schechita, ablehnen. Er meinte lakonisch: »Alles Antisemitismus.« Ich muss gestehen, dass ich darauf keine Antwort mehr parat hatte. Sollte es stimmen, dass jeder, der diese Qual der Tiere vor Augen hat, automatisch ein Antisemit ist? Eine zweite Antwort: Eine bekannte jüdische Theologin sagte bei einem Arbeitstreffen auf die gleiche Frage: »Alles Heuchelei. Warum kümmert ihr euch um die paar geschächteten Rinder im Vergleich zu euren Millionen Schlachttieren. Wollen Sie mir etwa sagen, dass deren Tod immer schmerzfreier sei als die sehr genau geregelte Methode des Schächtens?« (Sie hatte für sich selbst übrigens den Schluss gezogen, vegetarisch zu leben, dies sei für sie als Jüdin heute die angemessenste Lebensweise) Natürlich hatte sie wegen der Zahlen Recht. Jeder Direktor eines Schlachthauses weiß aus eigener Erfahrung, dass selbst bei einer vorausgehenden Betäubung eine große Anzahl von Tieren erheblichen Leiden und Schmerzen bei der Tötung ausgesetzt ist, weil durch die Fließbandarbeit die Methoden häufig versagen: Elektrozangen werden nicht richtig, der Bolzenschussapparat wird nicht sachgemäß angesetzt und die Schlachtungsvorgänge werden auch nicht laufend von Amtstierärzten überwacht. Aber man kann Leid nicht einfach verrechnen. Die Frage muss trotzdem gestellt werden, welches Leid das Schächten beim einzelnen Tier tatsächlich hervorruft und welche Konsequenzen in unserer Gesellschaft daraus zu ziehen sind. Das Schächten steht in einem größeren religiösen Zusammenhang und sollte nicht isoliert betrachtet werden. Ich gehe davon aus, dass sich aus diesem letztlich religiös-spirituellen Zusammenhang durchaus etwas für eine christliche Spiritualität im Umgang mit dem Tier lernen lässt. 85
Die Nahrungsaufnahme gehört grundlegend zu unserem Leben. Ohne Nahrung gibt es kein Weiter- und Überleben. Da die Aufnahme von Nahrung beim Menschen überwiegend in einer Gemeinschaft, Gruppe, Familie geschieht, ist die Art, was und wie ich esse immer zugleich ein Symbol für die eigene Stellung in der Welt, in der Gemeinschaft. Es war zum Beispiel in unserem Kulturraum früher üblich, dass der männliche Haushaltsvorstand zuerst sein Essen erhielt und die größte Portion. Dahinter stand die Vorstellung, dass er die wichtigste Person für die Ernährung des gesamten Haushaltes sei. Zugleich symbolisiert diese Art der Essens-Reihenfolge auch eine Familien und Gesellschaftsordnung: patriarchal, klar hierarchisch aufgebaut und am Mann orientiert. Was man isst, welche Zutaten man verwendet, ob ein Nahrungsmittel angemessener ist als ein anderes, wurde entweder von der Einkommenslage oder dem persönlichen Geschmack entschieden. Innerhalb unserer westlichen Glaubens- und Kulturtradition haben sich lediglich Mönche von Zeit zu Zeit hierüber Gedanken gemacht. So lehnt das Mönchstum von seinen Anfängen mit den Wüstenvätern des 3. und 4. Jahrhunderts n. Chr. den Genuss von Fleisch wie überhaupt jeden übermäßigen Genuss ab, weil sie darin die Gefahr sahen, dass der Mönch (der Mensch) die Triebe und Sehnsüchte absolut setzt und sich nur daran ausrichtet. Man mag das von heute aus gesehen beurteilen, wie man will; immerhin war ein starkes Bewusstsein davon vorhanden, dass es keineswegs gleichgültig ist, was man isst und wie man isst: »Der Mensch ist, was er isst«. Dieses Mönchtum war aber in unserer Gesellschaft im Grund genommen immer nur eine Randerscheinung und die ursprünglichen Regeln wurden und werden auch dort nicht immer so konsequent beachtet. An der Wiege der westlichen Zivilisation und der sie symbolisierenden Religion, des Christentums, steht der Entschluss, sich von den Rechtsvorschriften des Judentums einschließlich der Reinheitsordnung zu verabschieden. Es mag reli86
giöse Gründe hierfür geben. Paulus behandelt das an mehreren Stellen ausführlicher, aber ich möchte das hier nicht ausbreiten. Ich möchte eher den Blick darauf lenken, was bei diesen ganzen Veränderungen auf der Strecke geblieben ist. Dazu schauen wir zuerst nach den jüdischen Speisegesetzen. Weil Nahrungsaufnahme so wichtig ist, gehören diese Essensvorschriften zu den zwingendsten jüdischen Regelungen. Sie sind jeweils aus der Tora (den ersten fünf Büchern Mose im Alten Testament) begründet. Ich gebe einige prägnante Aussagen wieder: Lev 11,2-8 (= 3. Buch Mose): »Sag den Israeliten: Das sind die Tiere, die ihr von allem Vieh auf der Erden essen dürft: Alle Tiere, die gespaltene Klauen haben, Paarzeher sind und wiederkäuen, dürft ihr essen. Jedoch dürft ihr von den Tieren, die wiederkäuen und gespaltene Klauen haben, folgende nicht essen: Ihr sollt für unrein halten das Kamel, weil es zwar wiederkäut, aber keine gespaltenen Klauen hat; Ihr sollt für unrein halten den Klippdachs, weil er zwar wiederkäut, aber keine gespaltenen Klauen hat; Ihr sollt für unrein halten den Hasen, weil er zwar wiederkäut, aber keine gespaltenen Klauen hat; ihr sollt für unrein halten das Wildschwein, weil es zwar gespaltenen Klauen hat und Paarzeher ist, aber nicht wiederkäut. Ihr dürft von ihrem Fleisch nicht essen und ihr Aas nicht berühren. Ihr sollt sie für unrein halten.«
Das sind sozusagen die von Natur aus reinen bzw. unreinen Tiere. Aber selbst bei den grundsätzlich reinen Tieren gibt es Ausnahmen. Ein Tier kann unrein sein, d.h. es darf nicht verzehrt werden (hebr.: »trefah«), wenn es verletzt ist, wenn die Speiseröhre durchbohrt oder die Luftröhre zerrissen ist, wenn die Hirnhaut oder das Herz verletzt sind, wenn der größere Teil seiner Außenhaut durchbohrt ist, wenn das Tier so geschädigt ist, dass es aus eigener Kraft die nächsten 12 Monate nicht überleben würde. Diese Aufzählung geht noch weiter. Aber nicht nur die Tierart, die gegessen werden darf, wird festgelegt, sonder auch die Zubereitung. So darf z.B. Milch nicht mit Fleisch bei der Zuberei87
tung zusammenkommen. Dies bedeutet die Umsetzung des Barmherzigkeitsgebotes: »Das sollst ein Böcklein nicht in der Milch der Mutter kochen« (Ex 23,19 = 2. Buche Mose). Es wäre aus der Sicht des Juden ungehörig grausam, ein geschlachtetes Junges in der Milch der eigenen Mutter zu kochen. Und nachdem man einer Milch nicht ansieht, woher sie kommt, muss verhindert werden, dass der Mensch unbeabsichtigt grausam gegenüber dem Lebewesen ist. Darüber hinaus gilt ein allgemeines Verbot des Genusses von Blut. Lev 17,10-14: »Jeder Mann aus dem Haus Israel oder jeder Fremde in eurer Mitte, der irgendwie Blut genießt, gegen einen solchen werde ich mein Angesicht wenden und ihn aus der Mitte seines Volkes ausmerzen. Die Lebenskraft des Fleisches sitzt nämlich im Blut. Dieses Blut habe ich euch gegeben, damit ihr auf dem Altar für eurer Leben die Sühne vollzieht; Denn das Blut ist es, das für ein Leben sühnt. Deshalb habe ich zu den Israeliten gesagt: Niemand unter euch darf Blut genießen, auch der Fremde, der in eurer Mitte lebt, darf kein Blut genießen. Jeder unter den Israeliten oder der Fremde in eurer Mitte, der Wild oder für den Genuss erlaubte Vögel erlegt, muss das Blut ausfließen lassen und es mit Erde bedecken. Denn das Leben aller Wesen aus Fleisch ist das Blut, das darin ist. Ich habe zu den Israeliten gesagt: Das Blut irgendeines Wesens aus Fleisch dürft ihr nicht genießen; denn das Leben aller Wesen aus Fleisch ist ihr Blut. Jeder, der es genießt, soll ausgemerzt werden.«
Man kann natürlich sagen, dass die alte Vorstellung, man könne das Blut entfernen, indem man ein Lebewesen ausbluten lässt, prinzipiell falsch ist, da sich im Fleisch selbst und überall im Körper noch Blut befindet, auch wenn es scheinbar ausgeblutet ist. Nach dieser älteren Vorstellungswelt werden wohl Fleisch und Blut als zwei Substanzen angesehen, die man säuberlich trennen kann. Wir wissen heute, dass das nicht geht. Aber es handelt sich 88
hier um eine Beobachtung und nicht um eine mikroskopische Untersuchung. Auf jeden Fall liegt hier eine sehr wichtige Bestimmung vor, wie das dreimalige Einschärfen dieser Regel zeigt. Ich frage jetzt zuerst nach der praktischen Auswirkung: Könnte man diese Regel auf unsere Kultur übertragen, würden weite Teile der Ernährung durch Tiere wegfallen. Es wäre auch nicht möglich, Tiere über einen längeren Zeitraum so zu transportieren, dass sie eher tot als lebendig im Schlachthaus ankommen. Sehr viele Tiere dürften überhaupt nicht verzehrt werden. Die Jagd, wie wir sie kennen, gäbe es nicht. (Israel kennt nur die Erlaubnis zur Selbstverteidigung gegenüber wilden Tieren, nicht aber die Vorstellung von Jagden zum Freizeit-»Vergnügen« oder für den Speisezettel.) Auch die industrielle Tötung von Tieren wäre nur eingeschränkt möglich, da dann nicht sichergestellt wäre, ob die Tiere tatsächlich gemäß diesen Vorschriften getötet wurden. Auch die Kontrolle der Nahrung nach diesen Vorschriften wäre hilfreich: Jogurt darf dann eben keine Gelatine aus dem Gebein von BSE-verseuchten Rindern enthalten und es dürfte auch keine Brühe verwendet werden, bei der nicht klar ist, welche Bestandteile darin sind. Kehren wir vom Reich der Fantasie in die wirkliche Welt zurück. Wenn wir uns wach ansehen, wie heutige Juden etwa in Israel mit diesen Weisungen umgehen, wird schwerlich ein total verschiedener Umgang mit Lebewesen erkennbar sein. Auch in Israel existieren Massentierhaltung, Legebatterien, industrielle Tötung. Hier ist kein nennenswerter Unterschied zu anderen westlichen Zivilisationen. Und grundsätzlich gilt, dass Gesetze und Vorschriften im Allgemeinen dann aufgeschrieben werden, wenn sie nicht beachtet werden. Wenn es keinen Diebstahl gibt, braucht man nicht aufzuschreiben: »Du sollst nicht stehlen«! Welchen Sinn haben solche Vorschriften? Verschiedene Versuche werden unternommen, diese Regeln zu erklären. Der gängigste ist die Zugrundelegung hygienischer Vorschriften: Es sei schwierig, unter den Bedingungen des Orients Schweinefleisch 89
ohne Kühlung aufzubewahren. Der Entzug von Blut macht das Rindfleisch haltbarer. Andere Erklärungen bevorzugen etwa die Vorstellung einer ökologischen Ordnung. Danach würde bei Einhaltung der Regeln die Natur in einem organischen Gleichgewicht stehen. Schweine passen nicht in das ökologische System dieser Landschaft, da sie zum Ausgleich ihrer Körpertemperatur sich suhlen müssen. Steht zu wenig Wasser zur Verfügung, tun sie das zur Not im eigenen Kot und Urin, was sie wiederum anfälliger für alle möglichen Infektionskrankheiten macht. Aus gegenwärtiger jüdischer Sicht sind solche Erklärungen wohl nicht direkt falsch, verfehlen aber den eigentlichen Sinn. Denn deren Sinn liege im Religiösen. Indem der Mensch sich aktiv mit seiner Nahrung beschäftigt, muss er permanent entscheiden, ob diese oder jene Speise einem höheren als seinem eigenen Willen entspricht. Dadurch wird selbst der alleralltäglichste Vorgang wie das Zu-sich-Nehmen von Speisen zu einer fortwährenden Anerkennung dessen, der diese Vorschriften erlassen hat, zu einer Art Gebet ohne Worte. Die Reinheits- und Speisegebote sollen den Menschen darüber hinaus zivilisieren. Er soll nicht blindlings einem Trieb folgen und ohne Bedacht etwas in sich hineinstopfen. Damit sondern sie ihn vom Tierreich ab. Sie sondern den Juden aber auch von dem Rest der Menschheit ab, die diese Gebote nicht befolgen. Jüngere Jüdinnen und Juden berichten immer wieder davon, wie sie bei einem gemeinsamen Essen mit Nicht-Juden aufpassen müssen, was angeboten wird. Es käme immer wieder zu Diskussionen, man müsste erklären. Die Lebensweise hebt sich damit stark von anderen ab. Für Juden ist dieses permanente Fremd- oder Anderssein zugleich ein Hinweis auf die herausgehobene Funktion des jüdischen Volkes als Priestervolk. Moral und Ethik sind für uns prinzipiell nachvollziehbar, ein anderer Glaube streng genommen nicht. Auf jeden Fall ist sinnvoll zu beachten, was man jeweils isst. Wer weiß bei uns schon, was alles in unserer Nahrung steckt, und wer kann die Frage wirk90
lich beantworten, ob das alles für unser leibliches (und seelisches) Wohl zuträglich ist. Konsequenzen für die Natur hat aber auch, in welchem Umfang wir etwa Fleisch zu uns nehmen, denn damit wird eine ganze Kette und Ursachen und Wirkungen in Gang gesetzt. So weit zu Ethik und Moral der jüdischen Reinheits- und Speisevorschriften. Der religiöse Sinn dagegen ist für uns schwieriger zu verstehen, besonders dann, wenn es um die zentrale Frage des in der rabbinischen Tradition vorgeschriebenen Schächtens von Tieren geht. Das Schächten bildet die Hauptauseinandersetzungslinie. Das ist schade, weil so die Weite und grundsätzliche Bedeutung der jüdischen Tierethik nicht beachtet wird. Der Tanz ums goldene Kalb Recht drastisch sieht Carlos Mesters, ein brasilianischer Theologe, diesen Zusammenhang, wenn er beschreibt, dass in Brasilien große Dschungelflächen gerodet werden, um Weideflächen für Rinder zu schaffen, die für den Export bestimmt sind. Es handele sich um einen »Tanz ums goldene Kalb« wie im Alten Testament (Exodus 32), da alles diesen Interessen untergeordnet werde: Die Menschen, die vertrieben werden, die Natur...
In Deutschland ist die Ausgangslage so, dass vom Tierschutzgesetz her Wirbeltiere, besonders Säugetiere nur nach vorhergehender Betäubung getötet werden dürfen. Diese Betäubung geschieht entweder mittels eines Bolzenschussapparates oder Elektrozangen. Die Betäubung lehnen orthodoxe Juden ab, denn sie stehe nicht im Einklang mit der Weisung Gottes (Tora). Nun ist allein durch das hohe Alter der Reinheitsordnung verständlich, dass Vorschriften über die Betäubung fehlen - es gab sie damals noch nicht. Heute kennen wir aber Betäubungsmethoden. Hier befinden wir uns in einem grundlegenden Dilemma. Die meisten Menschen gehen davon aus, dass ein Tod mit Betäubung »humaner« 91
sei als ein solcher ohne. Dazu müssen wir aber wissen, dass unter den Bedingungen moderner Schlachthöfe, dem Stress, der Akkordarbeit, diese Betäubung nicht immer wirkt. Wir wissen auch sehr wenig von den psychischen Vorgängen nach dieser Betäubung, wenn Schweine etwa nach dem Auftrennen der Halsschlagader sterben. Bei uns regelt keine Bestimmung, dass etwa ein nicht sachgemäß getötetes Tier nicht mehr für den Verzehr zugelassen werden könne. Solche Bestimmungen gibt es aber im Judentum. Der Schochet, der die jüdische Schlachtung ausführt, ist in besonderer Weise ausgebildet, er ist ein besonders religiöser Mann und arbeitet im Auftrag des Rabbiners. Mittlerweile wird etwa in Amerika durch Drehvorrichtungen das Rind in einen kurzzeitigen Schockzustand versetzt, innerhalb dessen dann der Schächtschnitt angebracht wird. Das erklärte Ziel des Schächtens ist, eine möglichst schonende Art der Tötung für das Tier zu erreichen. Das war zu den klassischen Zeiten des Judentums sicher fortschrittlich, wenn man sich die Tötungsmethoden der anderen Völker anschaut. Allerdings wäre dieser Sinn möglicherweise heute noch einmal neu durchzubuchstabieren. Es könnte sein, dass beim Verbot der Betäubung ein fundamentalistisches Grundverständnis der Weisung Gottes vorliegt, das sich im Grunde genommen nur am Rande um das Wohl der Tiere kümmert. Dies zeigt sich an den Auseinandersetzungen um moderne »Tierproduktion«, die es natürlich in Israel genauso gibt wie in anderen Industriestaaten, als Folge eines stark gestiegenen Fleischkonsums. Der Talmud warnt noch davor: »Die Torah lehrt uns eine Lebensregel, indem sie sagt, dass ein Mensch nicht Fleisch essen soll so viel sein Herz gelüstet, sondern er soll nur gelegentlich und sparsam essen.«4 Aber was bedeutet eine solche Warnung in Zeiten des Wohlstands und der zunehmenden Bedeutungslosigkeit dieser Lebensregel auch in Israel? Nun wird gegen diese Praxis der Tiertötung schon sehr lange protestiert. Dieser Protest ist eng mit antisemitischen Bestrebungen verbunden, sodass am Ende gar nicht mehr zwischen Tier92
schutz und Antisemitismus unterschieden werden kann. Besonders negativ hat sich hierbei die Propaganda der Nazis ausgewirkt, die nach wie vor das Modell für die weit verbreitete Vorstellung des Schächtvorgangs darstellt.5 Zwei Filme wirkten hier sehr weit reichend und negativ: »Jud Süß« und »Der ewige Jude«. »Jud Süß«, ein Film des auch nach dem 2. Weltkrieg tätigen Regisseurs Veit Harlan, baute auf einem historischen Stoff auf. Es ging um die problematische Rolle des Joseph Süß Oppenheimer, eines Finanzberaters des württembergischen Herzogs Karl Alexander in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Die Geschichte war bereits mehrfach bearbeitet worden (z.B. von Lion Feuchtwanger) und bekannt. In der Gesamtmontage werden erkennbar alle gängigen Stereotype des Antisemitismus - unter anderem die Grausamkeit der Juden gegenüber allen Geschöpfen (am Beispiel des Schächtens) bedient. Die Handlung des Filmes beschreibt den verhängnisvollen Einfluss des Juden auf den Herzog und die Ausbeutung des württembergischen Volkes. Das Drama erreicht seinen Höhepunkt in der Vergewaltigung der »arischen« Heldin und der »sühnenden« Hinrichtung des Juden. Der »Ewige Jude« war nach den Vorstellungen Hitlers und Goebbels als Ergänzung zu »Jud Süß« gedacht. Als »Dokumentarfilm« sollte er dem deutschen Volk glaubhafte Argumente zur »Minderwertigkeit« der jüdischen Rasse liefern. In geschickten Kombinationen von Dokumentaraufnahmen und Trickfilmen werden Juden mit Ratten verglichen und die jüdische Grausamkeit ebenfalls anhand blutiger Schächtszenen gezeigt. »Jud Süß« und »Der Ewige Jude« verdankten ihren propagandistischen Erfolg einer Gemeinsamkeit: Sie bedienten sich beide aller antisemitischen Stereotypen, die in der Geschichte des Antisemitismus greifbar waren. Das reichte von dem Vorwurf der religiösen Kindesopferung (Ritualmord) bis zur Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung. Diese vielen Vorurteile wurden durch das Medium Film geschickt dargestellt und damit bildhaft greifbar. »Jud Süß« und »Der Ewige Jude« wurden wiederholt 93
Polizei- und Wehrmachtseinheiten sowie KZ-Wachpersonal vorgeführt und halfen auf ihre Weise mit, die Hemmschwelle für Gewalt gegenüber jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu senken. Interessant ist, dass die Kombination Antisemitismus-Tierschutz auch heute noch wirkt. Als »Der Ewige Jude« im Oktober 1999 im Zuge eines Publizistikseminars an der Technischen Universität Berlin gezeigt wurde, diskutierte das Publikum nicht über die Propagandawirkung des Filmes, sondern man stritt sich um die angeblich bestialische Grausamkeit der jüdischen Schächtsitte. Dies war die gleiche Wirkung, die der Film bereits 1940 ausübte. Es scheint so zu sein, dass man sich der beabsichtigten Gesamtwirkung nur sehr schwer entziehen kann. Tierschutzbewegung und Antisemitismus sind in Deutschland, Österreich, der Schweiz von Anfang an eine sehr enge Bindung eingegangen. Das erschwert zusammen mit den historischen Erfahrungen, die gerade Juden nicht überspringen können, die Diskussion um das Schächten. Hilfreich wäre hier allein ein interreligiöser Dialog. Dieser steht aber gegenwärtig vor unüberwindlichen Schwierigkeiten. Zunächst besteht nur eine sehr geringe Gesprächsbereitschaft. Jede orthodoxe religiöse Ausrichtung ist in erster Linie daran interessiert, den bisherigen Bestand von religiösen Riten und Vorstellungen zu sichern. Dies gilt besonders für Vorschriften, die religiös so zentral sind wie die Speisegesetze bei Juden. Hier soll gerade nichts verändert werden - aus Respekt Gott gegenüber. Am anderen Pol stehen als mögliche Dialogpartner christliche Kirchen, Gemeinschaften und deren Theologien. Das Christentum hat sich sehr schnell aus einer jüdischen Sekte unter strenger Einhaltung aller jüdischen Vorschriften in eine Religionsgemeinschaft verwandelt, die sich sehr weitgehend den jeweiligen kulturellen Bräuchen angepasst hat - besonders was die Riten und auch die Vorschriften für das alltägliche Leben angeht. Lediglich der Katholizismus war bis in die Zeit nach 1945 noch bestrebt, hier 94
ein wenig zu regulieren (es gab freitags kein Fleisch, sondern Fisch als Erinnerung an das Leiden und Sterben Jesu). Für das Heidenchristentum (also die heutige Gestalt des Christentums) galt: »Freiheit vom Gesetz«. Wenn aber nicht mehr das göttliche Wort den Umgang mit den Mitgeschöpfen reguliert, was tritt dann an diese Stelle? Christliche Theologie hat bis in die Achtzigerjahre gebraucht, um überhaupt »Welt« und »Schöpfung« als Gegenstand der Theologie zu entdecken. Erst seit wenigen Jahren werden (wenngleich wachsweiche) ethische Formulierungen über den Umgang des Menschen mit dem Tier vorgelegt. Hilfreich und die Verhältnismäßigkeit gerade in der interkulturellen Schlachtdiskussion wahrend sind einige Zahlen. Im Falle der jüdischen betäubungslosen Schechita in Deutschland geht es um weniger als 800 Tiere pro Jahr, von denen die hier lebenden Juden aus religiösen Gründen wiederum nur die Hälfte des Fleisches zu sich nehmen dürfen. Die andere Hälfte des Schechita-Fleisches kommt in den nicht-jüdischen Markt. Millionen von Schweinen und Rindern kommen aber durch Tötung in (»christlichen«?) Schlachthäusern um, nach einem »Leben« in Intensivhaltung und einem unwürdigen Transport. Welche religiösen Menschen haben sich um diese Zustände gekümmert? Wo sind entschiedene Worte von Kirchenleitungen und Gemeinden? Wo findet eine Auseinandersetzung darüber statt, ob die Jagd auf Tiere ethisch vertretbar ist? All dies ist der religiösen Ethik des Judentums alles andere als egal und sehr weitgehend geregelt. Trotz aller religiösen Differenz sind hier noch einige christliche Vorleistungen nötig, bevor ein Dialog um die Schechita auf einer vergleichbaren Ebene geführt werden kann. Das Eisen des Schächtens bleibt nichtsdestotrotz heiß. Vor allem wird es fälschlicherweise häufig mit dem rituellen Schlachten im Islam in Verbindung gebracht. Hier ist die Lage aber eine andere:
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1.3.4 Zivilisationsprobleme: Muslime in Deutschland Das Thema der betäubungslosen Schlachtung stellt sich auch den Muslimen. Wäre die betäubungslose Halal-Schlachtung in Deutschland zugelassen, dann wäre ein Markt für ca. eine Million Moslems vorhanden. Wie soll man mit diesem Problem umgehen? Aus einem offenen Brief des islamischen Zentrums Karlsruhe an deutsche Tierschutzvereine vom 4. März 2000 von Dr. Nadeem Elyas (Vorsitzender): »Alle wesentlichen islamischen Gruppierungen Deutschlands haben bisher immer wieder ihre sorgfältig geprüfte Glaubensüberzeugung zum Ausdruck gebracht, nach der die betäubungslose Schächtung als wesentlicher Bestandteil unserer Religionsausübung zwingend vorgeschrieben ist und zum lebendigen Inhalt unseres Glaubens gehört. Wir sind ebenfalls davon überzeugt, dass unsere Art der Schlachtung die humanste ist. (...) Eine vorherige Betäubung bringt nur eine unnötige zusätzliche Qual für das Tier mit sich. Wir sehen unsere rituelle Schlachtung in einem größeren Zusammenhang eines weiterreichenden Tierschutzes. Die Tiere sind nach islamischer Lehre die Mitgeschöpfe des Menschen und müssen dementsprechend auch mit Würde behandelt werden. Dazu gehören beispielsweise die Probleme der artgerechten Tierhaltung, der Tierversuche und der Tiertransporte. Für das betäubungslose islamische Schlachten, das nach unserer festen Glaubensüberzeugung uns zwingend vorgeschrieben ist, können wir folgende Voraussetzungen und Vorschriften zusammenfassen: • Das Tier ist ein Mitgeschöpf (deswegen haben wir auch den Beschluss des Parlaments begrüßt, auch im deutschen Gesetz das Tier nicht als eine Sache sondern endlich als Mitgeschöpf anzuerkennen). 96
•
Ein Tier muss artgerecht gehalten werden. Eine industrielle Tier-Massenproduktion lehnen wir genauso ab, wie inhumane Transporte lebender Tiere. • Die Schlachtung habe betäubungslos zu geschehen. Die Art der islamischen Schlachtung: • Das Tier darf nicht zusehen, wie ein anderes geschlachtet wird. • Die Fesseln des Tieres dürfen nicht vollständig sein; wenigstens ein Bein muss frei bleiben. • Das Tier muss vorher getränkt, gefüttert und beruhigt werden. • Vor der Schlachtung muss ein Gebet über dem Tier gesprochen werden. • Das Messer muss sehr scharf sein und keine Scharten aufweisen. • Der Schnitt muss sofort die Halsschlagader und die Luftröhre durchtrennen, damit der Tod schnellstens eintritt und das Leiden des Tiers auf ein Minimum beschränkt bleibt. (...) Wir hoffen, dass Sie für unsere Glaubensüberzeugung Verständnis aufbringen, wie auch wir die Glaubensüberzeugungen anderer achten. Wir sind uns ja in den Grundsätzen des Tierschutzes einig. Wir möchten Sie darum bitten, sich auch in unsere Lage hineinzuversetzen und unsere Argumentation zu verstehen. Ein Miteinander ist ja keine Einbahnstraße. Es liegt uns fern, die Brücken zwischen uns und anderen Teilen der Gesellschaft abzureißen. Neben unserem Anliegen als Tierschützer, die wir aufgrund unserer Religion sein müssen, hoffen wir auch aus unserer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung auf eine konstruktive Zusammenarbeit mit allen.« Ich spreche hier von »Schlachten«, weil der Muslim andere Voraussetzungen hat als der gläubige Jude. Immer wieder kommt es zu Schwierigkeiten gerade in diesem Bereich. Es sind weit mehr 97
Tiere durch die Schlachtungsmethoden des Islam auch in Deutschland betroffen, als dies von jüdischer Seite aus der Fall ist. Ein Teil des Problems entstand daraus, dass im Unterschied zum Judentum das betäubungslose Schlachten im Islam seit 1995 nicht mehr als eine religiös zwingende Vorschrift angesehen wird. Damit waren die jeweiligen Amtstierärzte gezwungen, diese Art des Schlachtens zu verbieten. Man betrieb in der Folge eine intensive Aufklärungsarbeit über die Elektrokurzzeitbetäubung. Der »Erfolg« war gemischt. Ein betroffener Tierarzt schildert seine zwiespältigen Erfahrungen: »Erst beim Opfertag 1999 konnte eine allgemeine Akzeptanz des Betäubungsverfahrens beobachtet werden, wahrscheinlich aber nur dann, wenn die Aufsichtsbehörde vor Ort war (...)« Im Islam ist es eine selbstverständliche Überzeugung, dass jede Form der Quälerei unvereinbar mit dem Gebot der Barmherzigkeit sei. Trotzdem stellt es bis heute im Bewusstsein der Gläubigen kein Problem dar, Tiere zu töten oder sie nach den jeweiligen Bedürfnissen der Menschen zu benutzen. Das Schächten im Judentum stand in einem engen Zusammenhang mit der Vorstellung des Blutes als Sitz der Seele, über das allein Gott verfügen dürfe. Der Islam kennt diese Begründung nicht mehr. Die Vorschrift des Blutentzugs beim Schlachten wird hygienisch und theologisch begründet. Blut ist unrein und es handelt sich um eine im Koran bezeugte religiöse Vorschrift des Propheten Mohammed. Das ist hier wichtig. »Islam« bezeichnet als Begriff die bedingungslose Hingabe an Gott. Die Vorschriften des Koran und der Hadith (Sammlungen von Sprüchen des Propheten und Beispielerzählungen) müssen befolgt werden. Der Islam sieht sich selbst als eine leichte Lehre. Die Vorschriften sollen den Menschen nicht durch zu viele Lasten und komplizierte Vorschriften einschränken, sondern es ihm im Gegenteil leicht machen, den Vorschriften Gottes zu folgen. Es gibt Bestimmungen für eine Schlachtung im Einklang mit der Scharia, aber diese werden nicht so streng gehandhabt wie im Judentum. 98
Zwar sehen viele Rechtsschulen auch den Akt der rituellen Tötung eines Tieres als Verehrung Gottes, aber einfach deswegen, weil alles, was der gläubige Muslim tut, der höheren Ehre Gottes dient. Die eindeutig religiösen Handlungen, die zu einem solchen Schlachten gehören, z.B. die Anrufung Gottes über dem Schlachttier (tasmiya) und die Ausrichtung des Tieres nach Mekka, werden nur von wenigen islamischen Richtungen als absolut verpflichtend angesehen (bei diesen können diese Verpflichtungen aber nicht aufgehoben werden). Der Islam bietet ein breites Spektrum von verschiedenen Richtungen, die sich allerdings - trotz aller Unterschiede - als eine Familie (die Umma) fühlen. Das gilt auch für die Frage, wie zwingend im Islam die Forderung nach dem betäubungslosen Schlachten eingehalten werden muss. Im Hintergrund steht hier, dass das Schlachttier unversehrt sein muss. Es ist dem Muslim verboten, Aas zu essen. Das wäre eine Beleidigung Gottes. Aas wäre jedes Tier, das bereits vor dem Schlachtvorgang getötet worden wäre oder im Sterben läge. Die Frage stellt sich für die Muslime nun auf der Ebene: Bedeutet die Betäubung, etwa durch Elektroschocks eine Tötung oder ist das Tier danach noch lebendig? Hier gibt es verschiedene Einschätzungen. Es hängt allerdings sehr viel von der Überzeugungsarbeit der Fachleute ab. Allerdings: Dieser schonende Umgang mit dem Tier denkt nicht vom Tier her, sondern allein von der Verehrung Gottes her. Neuere ethische oder jüdisch/christliche Ansätze, die versuchen, den Schutz des Tieres aus dessen eigenem, inneren Wert als Geschöpf zu begründen, sind dem Islam fremd, außerhalb seines religiösen Ansatzes. Das bedeutet aber auf keinen Fall, dass die alltägliche Tötungspraxis in eher christlich geprägten Ländern besser sei, markiert aber eine Kulturgrenze, die jeder beachten muss, der in ein Gespräch mit Muslimen über Tierschutz eintritt. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Beobachtung des Amtsveterinärs Riethmüller, der auf eine sehr lange Praxis im Umgang mit Muslimen zurückblicken kann: 99
»Der Umgang mit den Tieren, sowohl bei den alltäglichen Schlachtungen, als auch besonders an den Opfertagen, unterschied sich ganz wesentlich von den Gepflogenheiten in den >christlichen< Schlachthäusern. Die Tiere erlangten durch manuelle Behutsamkeit, durch ruhiges und demütiges Verhalten der Menschen und durch das Gebet eine eigene Würde. Es entstand keine Herabwürdigung und Anonymisierung des Schlachttieres wie es in den kommerziellen hiesigen Schlachthäusern geschieht.«8 Im Verhältnis zu Muslimen steht man vor der Aufgabe, einen respektvollen Dialog zu führen. Dieser Dialog muss wissen, dass es im Islam viele verschiedene Richtungen gibt und dass es sehr wohl Möglichkeiten gibt zu überzeugen. Hier wird eine weitreichende Aufklärungsarbeit notwendig. Ich sehe allerdings nicht, wie diese Aufklärungsarbeit von jemandem geleistet werden soll, der keinen Zugang zu den religiösen und spirituellen Kernströmungen des Islam hat. Insofern stellt sich auch ein solcher Dialog als religiöses Problem dar.
Auf der Suche nach christlicher Spiritualität
2.1 Erinnerungen an ein christliches Modell: Heilige und Tiere Was sagte mir meine Tochter: »Mit Heiligen kann heute niemand mehr etwas anfangen. Sogar im Religionsunterricht hat sich der Lehrer darum herumgedrückt.« Wir gehen nicht mehr mit den Heiligen und ihren Geschichten um. Es gibt eine Berührungsangst im Umgang mit Legenden und Geschichten von Heiligen. Es widerspricht vielleicht einem »postmodernen« Zeitgeist, sich mit Erzählungen aufzuhalten, die einer kritischen Betrachtungsweise nicht standhalten. Im Bereich der evangelischen Theologie ist eine solche Abwehr gut verständlich. Den Reformatoren ging es ja gerade darum, die ganzen mittelalterlichen Übermalungen des christlichen Glaubens wegzunehmen, um die ursprüngliche Schicht wieder sichtbar zu machen. Keine Frage, dass der Protestantismus eine heilsame Korrektur des im Mittelalter immer mehr aus den Fugen geratenden Umgangs mit Heiligen, Reliquien, Ablässen darstellt. Dass das Kind vielleicht mit dem Bade ausgeschüttet wurde, zeigt sich daran, dass immer wieder Anläufe zu einem evangelischen Heiligenverständnis unternommen wurden (z.B. die vielen populären Heiligen-Bücher von Walter Nigg). Wirklich verändert wurde aber dadurch im evangelischen Bereich bis zur Stunde nichts. Wie sieht es katholischerseits aus? Hier waren Heiligengeschichten gerade im 19. und 20. Jahrhundert ein hervorragendes Erziehungsmittel. Auf der einen Seite kannten wir für Glaubens102
Rembrandt, Studie zu einer Radierung, die 1653 entstand. Hieronymus sitzt vor seiner Klause und ist in die heilige Schrift vertieft. Neben ihm der Löwe, nach der Legende sein ständiger Begleiter.
Unterweisungen die Katechismen, die in bündiger Form versuchten, die zentralen Inhalte des katholischen Glaubens in einem Frage- und -Antwort-Schema zu formulieren. Auf der anderen Seite lieferten die Heiligengeschichten anschauliche Modelle dafür, was mit diesen doch recht abstrakten Sätzen gemeint sein könnte. Heilige lieferten die Modelle für das tägliche Leben. Sie boten Orientierung und zeigten, wie sich Menschen verhalten sollten. Während dieser Zeit kam es unter der Hand zu einer Umgestaltung dieser Heiligenlegenden. Aus vielen Geschichten wurde das Anstößige entfernt. Aus dem Löwen des heiligen Hieronymus wird zum Beispiel eine Fabel, wie ein vorbildlicher Mensch zu leben hat: Er hat seine Triebe zu zähmen (Löwe = Trieb) und das Beste wäre, wenn er als Mönch leben könnte. In den Siebzigerjahren treten Heilige in der religiösen Unterweisung an den Rand. Dabei spielen sie jedoch in der Frömmigkeit immer noch eine wichtige Rolle. Für die katholische Kirche bleiben Heilige ein wichtiges Thema, auch wenn die theologische Beschäftigung damit eher selten ist. So besteht die Möglichkeit, durch förmlich genau geregelte Heiligsprechungsprozesse das Besondere, das einen Menschen umgibt, noch einmal, Jahre nach seinem Tod, ins Gespräch zu bringen. Ein tiefes menschliches Bedürfnis wird damit aufgegriffen: Jemand, der sich immer wieder um Gerechtigkeit und die Erfüllung seiner ihm von Gott zugedachten Aufgabe bemüht hat, kann mit dem Tod nicht einfach nicht mehr sein. Er spielt immer noch eine Rolle im öffentlichen Bewusstsein. Die Frömmigkeit schafft so immer neue Heilige. Das salvadorianische Volk zum Beispiel verehrt den getöteten Bischof von San Salvador, Oskar Romero, als Heiligen. In Kulturen außerhalb des engeren europäischen Raumes spielen solche Gestalten eine gewichtige Vorbild- und Führungsrolle: so im tibetischen Lamaismus, so die Tradition heiliger Männer im Hinduismus 104
(sadhus) oder im Buddhismus (Bhodisattvas). Aus anderen Kulturen, etwa den afrikanischen, wissen wir, dass die Verehrung der Ahnen ähnlich motiviert ist. Der Glaube braucht Legenden. Die göttliche Gegenwart wird dort bildlich gestaltet.
2.1.1 Einige alternative Heiligengeschichten1 Makarius von Alexandrien und die Hyäne Der heilige Makarius saß in seiner Zelle, als eine Hyäne an die Tür kam, ihr Junges im Maul, und klopfte. Makarius hörte das Pochen, dachte, es sei ein Mitbruder, der zu ihm komme und ging zur Tür. Als er die Tür geöffnet hatte, sah er die Hyäne. Erstaunt fragte er: »Was willst du hier?« Die Hyäne aber nahm ihr Junges ins Maul und streckte es Makarius hin. Der nahm das Junge und betrachtete es genau. Da sah er, dass das Junge blind war. Da nahm er es und seufzte, spuckte ihm ins Gesicht und berührte es mit seinem Finger an den Augen. Da sah das Junge wieder, verlangte nach der Zitze der Mutter und saugte. Danach gingen beide weg. Am nächsten Tag blieb die Hyäne aus. Als sie aber danach zu Makarius kam, hatte sie in ihrem Maul ein Schaffell mit dicker Wolle und von einem offensichtlich gerade getöteten Schaf. Wiederum pochte sie an die Tür. Makarius sah die Hyäne und sagte zu ihr: »Wo bist du gewesen? Wo hättest du
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das gefunden, wenn du nicht ein Schaf gefressen hättest? Was du mir da bringst, kommt vom Unrecht - das nehme ich nicht.« Die Hyäne senkte ihren Kopf, beugte die Pfoten, dass sie kniete und legte das Schaffell Makarius bittend zu Füßen. Er sagte: »Ich habe dir doch gesagt, dass ich es nicht nehme außer du versprichst mir: Ich will nicht den Armen kränken und ihm seine Schafe fressen.« Sie machte viele Bewegungen mit ihrem Kopf, auf und nieder, als wenn sie's ihm verspräche. Noch einmal wiederholte er und sagte: » - außer du versprichst mir, ich will kein lebendes Wesen töten, aber von heut an wirst du keine Beute fressen, wenn sie nicht tot ist. Wenn du in Not bist, suchst und nichts findest, komm hierher, und ich werde dir Brot geben. Von Stund an verletze keine Kreatur.« Die Hyäne sah ihn an, als ob sie es ihm verspräche. Und Makarius verstand in seinem Herzen die Meinung Gottes, der den Tieren Verständnis gibt als Vorwurf gegen uns selbst. Da gab er Gott die Ehre, der den Tieren Verständnis gibt, und sang zu Gott, der immerdar der Lebendige ist, denn die Seele weiß, was Würde ist. Er sagte: »Ich gebe die Ehre dir, o Gott, der du mit Daniel warst in den Zähnen des Löwen, der du Verständnis gabst den Tieren: Du auch hast dieser Hyäne Verständnis gegeben und du hast meiner nicht vergessen: Du hast mich ja verstehen lassen, dass dieses hier dein Werk und deine Lehre ist.« Und Makarius nahm von der Hyäne das Fell und sie ging weg. Von Zeit zu Zeit kam sie wieder, um ihn zu sehen.
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Wenn sie kein Futter finden konnte, kam sie zu ihm, und er gab ihr einen Laib Brot. Das tat sie öfters. Makarius schlief auf dem Fell sein Leben lang. Und ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Vor seinem Tode vermachte er es der seligen Melania, als sie ihn besuchte. Sie besaß es als ein treues Andenken an ihn bis an ihr Ende.
Franziskus und die Vögel Eine relativ bekannte Geschichte ist die von Franziskus, der den Vögeln predigt. Franziskus trifft eines Tages bei seiner Wanderung durch das Tal von Spoleto eine Vogelschar: Tauben, Krähen, Elstern. Als er die Vögel erblickt, läuft er fröhlich auf sie zu und lässt seine Gefährten hinter sich. (Dem Verfasser der Geschichte ist nicht ganz wohl dabei, deshalb fügt er einen erklärenden Zusatz bei: »Der Diener Gottes aber war ein Mensch von großer Glut, und mit der Erquickung der Liebenden empfand er innig auch die Kreatur unterhalb von Mensch und Geist«.) Wie auch immer, Franziskus schert sich nicht um das, was die Leute denken könnten. Er sieht den Vögeln an, dass sie auf ihn warteten, und grüßt sie. Die Vögel bleiben ruhig und er trägt ihnen das Wort Gottes vor: »Meine Brüder Vögel, ihr müsst euren Schöpfer kräftig loben und müsst ihn immer lieben! Euch hat er zur Kleidung den Flaum gegeben und Federn zum Fliegen und alles, was 107
ihr sonst noch braucht. Er hat euch zum Adel unter seinen Geschöpfen erhoben und in der reinen Luft eure Wohnung bereitet. Ihr säet nicht, ihr erntet nicht, und dennoch sorgt er und waltet über euch, ohne dass ihr viel Kummer hättet. (Vorsichtig vermerkt der Verfasser, dies hätte Franziskus »mit anderem« den Vögeln gesagt. Allzu theologisch kommt die Rede daher.) Franziskus selbst habe erzählt, dass die Vögel sich wie Zuhörer benommen hätten: die Hälse gestreckt, die Flügel gedehnt, die Schnäbel aufgesperrt und auf ihn schauend. Er segnet sie und erlaubt ihnen, wegzufliegen. Ab diesem Zeitpunkt gehört die Predigt zu den Tieren zu seiner selbstverständlichen Verkündigungspraxis. Die Geschichte endet: »Kein Tag verging, an dem er nicht die Willfährigkeit der Geschöpfe sah, wenn er den Namen des Erlösers angerufen hatte«.
Sicherlich merkt man diesen Geschichten ihr Alter an. Beide sind überarbeitet, um den anstößigen Kern sanft zu umkleiden. Denn die Vorgänge überschreiten die Grenze zwischen dem, was wir uns als »normal« im Umgang mit Tieren vorstellen können und einer veränderten Wirklichkeit. In dieser »anderen« Wirklichkeit wird möglich, was vorher undenkbar schien: Die Tiere verhalten sich tatsächlich so, wie Jesaja das für das Friedensreich geschildert hatte. Eine jüngere Geschichte, die allerdings immer noch um diese Friedenstradition weiß, ist die Geschichte von Don Bosco und seinem »Grauen«. Die Deutung, der Rahmen wird der Geschichte vorangestellt: Gott bedient sich der Tiere zur Verteidigung und zum Wohl seiner Diener. Mit einem solchen Bekenntnis schließt die Geschichte auch. 108
Don Bosco ist abends öfters unterwegs und die Straßen sind gefährlich. Eines Abends gesellt sich ihm ein großer Hund zu, vor dem er zunächst erschrickt. Kein Wunder: Der Hund wird beschrieben als etwa einen Meter hoch, mit der Gestalt eines Wolfs, einer langen Schnauze, steifen Ohren und grauem Fell. Ein in der Dunkelheit bestimmt erschreckender Anblick. So muss das Don Bosco empfunden haben, aber er tritt auf den Hund zu und liebkost ihn, was der sich auch gefallen lässt. Und »der Graue« begleitet ihn von da ab immer dann, wenn er alleine ist oder in Gefahr. So schützt er ihn wiederholt vor Angriffen auf sein Leben. Von mehreren Angreifern bedroht, weiß Don Bosco eines Tages keinen Ausweg, als ihm plötzlich der Graue zur Seite steht.
In diesem Augenblick sprang, wie vom Himmel geschickt, der Graue hervor, an die Seite Don Boscos, bellte und heulte vor Wut, sprang wie rasend hin und her, sodass die Schurken vor Entsetzen und Angst, in Stücke gerissen zu werden, Don Bosco anflehten, den Hund zu beruhigen und an sich zu nehmen. Einer nach dem andern verschwanden sie und ließen den Priester seines Weges gehen. Nun wich der Graue nicht mehr von seiner Seite, bis das Oratorium erreicht war.2
Von diesem Grauen ist nicht bekannt, woher er kommt, wem er gehört, obwohl er Gegenstand von Nachforschungen gewesen sei. Hinzu kommt, dass an ihm etwas ist, was ihn über die Normalität hinaus hebt. Manchmal nimmt nur Don Bosco den Hund wahr, etwa wenn der ihn hindert, über die Schwelle des Hauses nach draußen zu gehen, was sich nachträglich immer als positiv erweist. 109
Einmal ruft Don Bosco, der in Gefahr ist, in einem Stoßgebet aus: »Ach wär nur mein Grauer da«, als sich dieser unvermittelt zeigt, ihn beschützt und nach Hause begleitet, dort aber plötzlich und unerklärbar verschwindet. Don Bosco selbst sieht in dem Tier ein Werkzeug der Vorsehung, weshalb es ihm scheinbar auch nicht so wichtig ist, zu wissen, woher das Tier stammt. Der Verfasser der Geschichte räumt ein, dass sich das Ganze wie ein Fabel anhöre und fühlt sich dabei unwohl. Die Geschichte schließt mit dem zu Beginn angedeuteten theologischen Bekenntnis: Was uns betrifft, so halten wir es für erlaubt und der Wahrheit angemessen, zu glauben, dass Gott in seiner väterlichen Güte sich eines Tieres, das das Sinnbild der Treue ist, bedienen wollte, um einem Manne beizustehen, der die Wut seiner Feinde herausforderte und sich den schwersten Gefahren aussetzte, weil er sich selbst, seine Jugend, seinen Nächsten in der Treue zu Gott und zur Kirche erhalten wollte.3
Makarius »erkennt« bei dem Tier ein Verständnis, das geradezu ein Vorwurf an den Menschen und dessen Unverständigkeit ist. Franziskus »entdeckt« die Tiere als zusätzliche Adressaten der frohen Botschaft, indem sein Herz für sie aufgeht. Für Don Bosco stellt der Graue ein Werkzeug Gottes dar, um ihn zu beschützen. Gerade an der letzten Geschichte wird deutlich, wie die Grenzen der Normalität überschritten und deren Regeln auch verletzt werden. Den Verfassern ist dies klar und sie haben ihre je eigenen Erklärungsmuster: Entschuldigung (so bei Franziskus), asketische Weisheit (bei Makarius), bei Don Bosco der Appell an die Zuhörer, dass es erlaubt sei zu glauben, dass Gott sich eines Tieres bediene. 110
Je näher solche Erzählungen an die Gegenwart rücken, desto stärker wird die Erklärungsnot. Die Zeit, vor solchen Geschehnissen mit den staunenden Augen eines Kindes zu verharren, scheint endgültig vorbei zu sein. Was heißt das aber für solche Geschichten? Vergisst man sie besser? Oder unterwirft man sie einer radikalen Entmythologisierung? Oder gibt es doch einen Wirklichkeitszugewinn im Umgang mit solchen Geschichten? Mich beschleicht bei solchen aufgeklärten Vorgehensweisen immer der Verdacht, dass »nicht sein kann, was nicht sein darf«. Die entzauberte Welt darf keine Zaubermomente mehr enthalten. Es darf nur das Realität sein, was sich den Bedingungen einer normalen (naturwissenschaftlich vermittelten) Sichtweise beugt. Wenn im Umgang mit diesen Geschichten einige Regeln berücksichtigt werden, dann spüren wir besser ihren Zauber auch für uns:
2.1.2 Einige Regeln im Umgang mit Heiligenlegenden Regel 1: Um was geht es? - Es geht um einen personalen Umgang mit der Wirklichkeit! Es gibt verschiedene Wirklichkeitsebenen. Wir gehen ganz selbstverständlich von zweierlei aus: Diese Wirklichkeit ist einfach. Sie ist jedem zugänglich. Jeder hat Anteil an ihr. Sie bildet die Grundlage dafür, dass ich mich überhaupt mit jemandem anderen verständigen kann. Wenn wir nicht von Gleichem reden würden, hätte Verständigung keinen Sinn. Aber wir wissen auch, dass die Wirklichkeit des anderen nicht die meine ist. Dinge werden anders gesehen, weil der andere nicht die gleichen Erfahrungen gemacht hat wie ich und weil er etwas anderes will als ich. Vielleicht will er ja den Horizont des Selbstverständlichen aufreißen und auf etwas Neues zeigen. Dazu wird das Selbstverständli111
che zugunsten des rein Möglichen überschritten. Diesen Bereich nennen wir »Fantasie« und gestehen ihn den Kindern zu. Ab irgendeinem Punkt in der Entwicklung wirkt diese Fantasie aber dann doch störend. Schulkinder werden gemaßregelt, wenn sie »träumen« anstatt aufzupassen. Doch was ist der Inhalt dieser Fantasien? Es geht um einen Umgang mit der Wirklichkeit, der das Personale in allen Dingen erfassen will: Bäume und Tiere reden, Steine sind plötzlich nicht mehr tot, alles steht mit allem in Verbindung, alles scheint plötzlich möglich, die Welt ist bevölkert von Wesen, manche geistiger, lichter, andere körperhafter. Wir sind (als Erwachsene) geneigt, diesen Umgang mit Wirklichkeit abzutun: »Träume sind Schäume«. Es gibt nur, was es gibt. Dabei stimmt gerade das nicht. Wer anders sehen lernt, für den verschieben sich die Selbstverständlichkeiten. Solche Fantasien stellen einen kreativen Umgang mit Wirklichkeit dar, der in der Wirklichkeit das personale Wahre erfassen will, nicht eine scheinbare naturwissenschaftliche Beschreibung. Was bedeutet die naturwissenschaftliche Erklärung eines Naturereignisses gegenüber dem sich darin offenbarenden Wesen, so wird jetzt gefragt.
...die Alte, die mit ihrem Enkelkinde die letzten Ähren gelesen hat, zeigt in die Lüfte: Siehst du die Marienfäden? Die Muttergottes hat sie gesponnen! Die Ahne glaubt es, und hörte sie, was die Gelehrten davon wissen, ihr Glaube wäre ihr lieber, und gegen das Auge eines Kindes, das gläubig dem Gespinst der himmlischen Frau nachsieht, wäre der Blick des aufgeklärten wie ein erlöschender Funke.4
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Auch bei der Begegnung zwischen Tieren und Heiligen geht es nicht um Naturwissenschaft. Es geht um eine Wesenserkenntnis, die einen personalen Zug trägt. Im Tier schaut mich ein Wesen an, und ich schaue ein Wesen an. Dieses wechselseitige Hinsehen, Einander-Ansehen öffnet die Starrheit der Wirklichkeit und offenbart einen weiten Bereich von Möglichkeiten, die möglich sein könnten, wenn ich sie zuließe. Die Kunst vollzieht diesen Übergang von einer ersten (gemeinsamen) Realitätswahrnehmung hin zu einem kreativen Umgang mit dieser Wirklichkeit. Ein Beispiel für diesen Grundzusammenhang ist das Gedicht: »Der Panther. Im Jardin des Plantes« von Rainer Maria Rilke (1903):
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, dass er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe Und hinter tausend Stäben keine Welt. Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, der sich im allerkleinsten Kreise dreht, ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht. Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille Sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille und hört im Herzen auf zu sein.
Was ließe sich aus naturwissenschaftlicher Sicht hier nicht alles einwenden? Woher weiß Rilke, was der Panther empfindet? Wie sieht der Panther? Was macht er mit dem Gesehenen? Kann man von einem Bild sprechen, das in den Panther hineingeht und im Herzen aufhört zu sein? Ist das überhaupt eine gültige Interpretation oder wird hier nur etwas in einen Vorgang hineinfantasiert? 113
Gewöhnlich gehen wir an ein Gedicht nicht mit solchen Fragen heran. Wir gestehen zu, dass uns ein Dichter gerade wegen einer gegenüber dem Normalen veränderten Sichtweise etwas Tieferes über die Wirklichkeit mitteilt. Und wir sind bereit, das Erhabene einer solchen Mitteilung in uns nachklingen zu lassen. Wie bei Heiligenlegenden steht auch hier diese Begegnung im Mittelpunkt. Das Gedicht teilt uns nicht eine Information mit, sondern lässt uns in einer Sprachgestalt die Kraft mitspüren, von der der Panther angetrieben wird, den Willen, um den der Panther kreist, und die Hemmung dieses Willens: Er, in dem dieser Wille Fleisch angenommen hat, kann hinter den engen Stäben sich nur um sich selbst drehen. Ein Bild tiefster Verzweiflung, weswegen auch das aufgenommene Bild an der Stelle aufhört zu sein, an der es eigentlich leben sollte: im Herzen. Das »Im-Kreis-Drehen« ist auch umgangssprachlich die Beschreibung einer ausweglosen Situation. Die Wirklichkeit, die Rilke hier beschreibt, trennt sich von der vordergründigen Wahrnehmung des gaffenden, sensationslüsternen, diesem Wesen gegenüberstehenden Beobachter und geht eine Beziehung ein. Diese Beziehung zerreißt das Selbstverständliche und eröffnet zugleich eine neue Wirklichkeit. Auch in jener Zeit, in der ich noch nicht viel über Tierschutz nachgedacht hatte, fiel mir bei jedem Käfig mit Raubtieren dieses Gedicht ein. Regel 2: Wie geschieht das? Es werden verschiedene Sprachebenen verwendet! Wenn wir Sprache benutzen, bezeichnen wir etwas durch etwas anderes. Wir wissen aber auch: Es gibt dann immer noch eine Differenz zu dem zu Bezeichnenden. Der Satz: »Das Schwein ist ein schmutziges Tier, das sieht man bereits am Namen« stimmt nicht. (Natürlich sind Schweine nicht schmutzig, sondern reinlich, wenn man sie nicht in Intensivtierhaltungen einsperrt.) Das Wesen, das wir im Deutschen mit »Schwein« bezeichnen, heißt zum Beispiel 114
in der englischen Sprache »pig«. Der Begriff, den wir also gebrauchen, ist von einer Vereinbarung in der jeweiligen Kultur abhängig. Es gibt immer einen Unterschied zwischen dem Wort, das wir benutzen, und der Sache oder dem Lebewesen, das wir mit diesem Lautgebilde bezeichnen. Um diesen Abstand zwischen dem Bezeichneten und der Bezeichnung zu überwinden, benötigen wir Hilfskonstruktionen. Die häufigste Hilfskonstruktion ist der Vergleich: Etwas Unbekanntes wird mit einem Bekannten verglichen. Ein Vergleich setzt etwas miteinander in Beziehung, das zunächst einmal gar nichts miteinander zu tun hat. Poetische Vergleiche haben immer eine solche Struktur. Der Verliebte sagt zur Geliebten: »Deine Augen sind so blau wie die Tiefe des Meeres.« Er will vielleicht sagen: Wenn ich dich ansehe, fühle ich etwas Tiefes und Unergründliches, das mein Herz berührt. Der Liebende drückt darin sein Grundverhältnis zur Geliebten aus. Er möchte, dass das, was ihn berührt und im Grunde genommen nicht in Worte zu fassen ist, bei der Geliebten ankommt, von ihr verstanden wird. In den Heiligengeschichten ist es ganz ähnlich. Etwas, was nicht in Worte zu fassen ist, wird mit Worten geschildert. Das Geheimnis, das sich für einen Moment geöffnet hat und dem ein Mensch auf seine eigene Weise geantwortet hat, lässt sich nicht einfachhin und klar bezeichnen. Wir haben auch in der Theologie dafür keine Begriffe. Wir brauchen Hilfskonstruktionen. Eine sehr häufige Hilfskonstruktion der Heiligengeschichten ist die Kommunikation mit dem Tier. Darin drückt sich ein tiefes Geheimnis aus, das von der verstehenden Verbindung zwischen allen Lebewesen etwas weiß. Durch die Erzählung selbst rückt dieses Geheimnis in der Form von Handlungen näher: Die Hyäne bringt Makarius zum Dank ein Fell. Vögel hören Franziskus zu, weil dieser wiederum von Liebe zu diesen Vögeln gepackt ist. Auch für Don Bosco ist es im Grunde genommen selbstverständlich, dass für seinen Schutz gesorgt wird und dass 115
er auch versteht, was der Graue jeweils von ihm will. Damit überwindet die Legende zwar die Distanz nicht, aber sie stellt eine Sprachebene her, auf der uns das Geheimnis begegnen kann. In den Tieren begegnet Gott selber diesen Menschen, sie sind seine Boten. Göttliche Mitteilung begegnet menschlichen Verstehensmöglichkeiten. Regel 3: Warum wird es erzählt? - Heiligengeschichten haben eine spirituelle Absicht! Heiligengeschichten erzählen Vorgänge, in denen normale Regeln nicht mehr gelten. Die scheinbar natürliche Ordnung der Dinge wird außer Kraft gesetzt. Es gelten jetzt eben göttliche Regeln. Die Menschen sollen auf diese hin erzogen werden. Dieser Punkt ist sehr wichtig. Mit dem Raster, mit dem der moderne Mensch an solche Geschichten herangeht, fragt er nach dem Realitätsgehalt, so wie eben unsere Zivilisation Wirklichkeit versteht: Ist das wirklich so passiert? (Er meint: »Hätte ich das so beobachten können, wenn ich daneben gestanden hätte?«) Aber er ist sich des Problems nicht bewusst, dass eine solche Realitätsauffassung nur eine von mehreren möglichen ist. Wo ist eigentlich in unserer Zivilisation die Erkenntnis aufgehoben, dass wir von unseren Beobachtungen getäuscht werden können? Dass der Blick, mit dem ich etwas ansehe, bereits ein geformter, ein zivilisierter, durch Elternhaus, Schule, Gesellschaft geformter Blick ist? Dass dieser Blick das sieht, was er aufgrund dieser Vorformung sehen will ( und kann) und nicht sieht, was er nicht sehen will? Mein Hund Wanja zum Beispiel lacht. Er ist eine Schnauzer-Labrador-und-sonst-noch-was-Mischung. Und wenn ich länger als einen Tag weg war, stürzt er sich auf mich und zieht die Lefzen nach oben. Wanja sieht dann zwar mit seinem schwarzen Fell eher wie der Hund von Baskerville aus als ein lachendes Wesen, aber der gesamte Ausdruck seines Körpers, das Benehmen, das Wedeln mit dem Schwanz, steht insgesamt für diese Freude 116
über das Wiedersehen. Ich bin immer ganz erstaunt, wenn Leute das bezweifeln, wenn sie sagen: Ein Hund lache nicht. Ich bin dann irritiert, weil ich das ganze Benehmen von Wanja überhaupt nicht anders als ein Lachen deuten kann. Warum sagen Menschen, dass mein Hund nicht lachen könne? - Der Prozess der Zivilisierung und Rationalisierung des Menschen in den technologischen Zivilisationen des Nordens hat eine weitgehende innere Loslösung des Menschen aus der Natur zur Grundlage. Die Natur wird entzaubert und diese »Entzauberung« (M. Weber) stellt die Grundlage der Industrialisierung dar. Wenn der Fluss ein lebendiges Wesen ist, kann ich ihn nicht ohne weiteres »benutzen«, mit industriellen Abwässern verschmutzen, seinen Lauf in eine Röhre zwängen, Flussauen zuschütten und Ähnliches. Neben dem direkt Fühlbaren, Messbaren und technisch Umgestaltbaren darf es also nichts geben. Sonst wäre der Prozess der Industrialisierung empfindlich gestört. Dieser Prozess der Zivilisierung verband sich eng mit dem Christentum, jedenfalls in seiner römisch-germanischen Spielart. Zu Beginn der Germanenmission fällt Bonifatius - ganz dieser Logik folgend - die heilige Eiche Ygdrassil, den Wohnort der Naturgötter. Die wirtschaftlichen Verhältnisse erzeugen dann im Laufe einer tausendjährigen Geschichte jenes Bewusstsein, das für die moderne Produktions- und Lebensweise notwendig ist: Erziehungs- und Bildungsprozesse kommen dazu, Lehrer und Hochschullehrer sorgen für allgemeine Bildung, Pfarrer und Priester sorgen für moralische Erziehung. Es kommt zu einem Diktat der durch diese Zivilisationsbrille angeschauten Wirklichkeit. So »wirtschaftlich effektiv« ein solcher Umgang mit Natur sein mag, er schränkt die Freiheitsmöglichkeiten des Menschen auch ein. Jenseits von Naturgesetzen gibt es keine alternative Weltsicht, Wirklichkeit, Wahrheit. Bei Widersprüchen ist allenfalls das Naturgesetz noch nicht richtig erkannt. Das engt ein und macht die Einsicht des Herzens, die alleine das Wesentliche 117
sieht, unmöglich. Das Wahre kann nur mit dem Herz erblickt werden (Antoine de Saint-Exupéry). Aber die Beziehung dieses Wahren zum Sichtbaren muss gedeutet werden. Sie ist und war jedoch noch nie ein-deutig und ein für alle mal zu entscheiden. Um diese Deutung geht es den Erzählern der Legenden. Beobachtbare Geschichte wird in eine Beziehung zu Gottes Geschichte gesetzt. Geschaffen wird ein sakraler Kreis: von der Schöpfung über die Offenbarung zur Erlösung. Der Kreis schließt sich: vom Zielpunkt einer Schöpfung der Welt als heiliger Ordnung des Friedens über die Verfallsgeschichte, in der jeder mit jedem kämpft, bis hin zum einstigen Ausgangs- bzw. Zielpunkt bei Gott (also jener Kreis, den wir bereits bei Jesaja gesehen hatten). In diesem göttlichen Kreis entfalten sich jene Erzählstücke, mit denen die Zuhörer biblisch »erzogen« werden sollen. Wir stoßen auf biblische Motive, aus dem Volk selbst gestaltet, in dessen Sprache, vereinfacht, erzählt, aber deshalb sicher nicht weniger »wahr« als andere Erkenntnisse aus der Bibel. Es gibt eine Theologie der Legende, die sich in vielen Splittern zeigt, aber weit entfernt ist von einem theologischen System. Josef Bernhart hatte in den dreißiger Jahren schon einmal über diese Theologie der Heiligenlegende nachgedacht; über jene (kleinen) Reflexionen und Deutungen, die in den Geschichten auftauchen: Wenn Markulf also einen flüchtenden Hasen im Ärmel seiner Kutte gegen die Meute schützt, so handelt er als Stellvertreter dessen, der Mensch und Vieh erlöst. Charilef, mächtig über einen unbändigen Stier, erfüllt das Wort des Eliphas im Buch Job (5,17) vom Gerechten: »die wilden Tiere werden mit dir befreundet sein«.5
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Dem Abt Kentigern, der einen Wolf zur Strafe dafür, dass er ihm den pflügenden Hirsch zerrissen hat, mit einem Befehlswort selber an den Pflug zwingt, legt der Beschreiber eine erklärende Anrede an die betroffenen Zuschauer in den Mund: »Warum macht das Wort euch erstaunen? Glaubt mir, bevor der Mensch von seinem Schöpfer abtrünnig wurde, gehorchten ihm nicht nur die Tiere, auch die Elemente. Jetzt aber nach dem Falle, da alles sich in Feindlichkeit verkehrt hat, ist es das Gewöhnliche, dass der Löwe zerreißt, der Wolf verschlingt, die Schlange verwundet, das Wasser hinunterzieht, das Feuer in Asche legt, die Luft verwesen macht, die Erde oft eisenhart geworden Hungersnot anrichtet - und die Höhe des täglichen Übels: dass der Mensch nicht nur gegen den Menschen, sondern in der Sünde an sich selber freiweg auch gegen sich selber wütet. Aber weil die Heiligen zumeist in wahrer Unschuld und reinem Gehorsam, in Heiligkeit, Liebe, Glauben und Gerechtigkeit vor dem Herrn vollkommen befunden werden, gewinnen sie gleichsam vom Herrn zurück das alte Recht und die natürliche Herrschaft (...) wenn sie den Tieren und den Elementen, der Krankheit und dem Tode gebieten.«6
Es ist interessant, in diesen Zusammenhang sich die Frage nach dem Verhältnis von Tieren und Heiligen noch einmal zu stellen. Wenn wir etwa an den Sonnengesang des hl. Franziskus denken: »Gelobt seist du, Herr, mit deinen Geschöpfen«, dann bedeutet dies nicht einfach einfach nur ein Lob des Schöpfers, sondern zugleich ein Lob des Erlösers: »Der Kosmos preist also nicht einfach seinen Schöpfer, sondern auch den Erlöser, >das LammAllgemeinen< zeigt mein Irischer Setter Rover alle Charakteristika, die der Typ >Hund< nach all meinen früheren Erfahrungen impliziert. Was jedoch gerade er mit anderen Hunden gemein hat, ist für mich belanglos. Ich erblicke in ihm meinen Freund und Begleiter Rover, der als solcher unter allen anderen Irischen Settern ausgezeichnet ist, mit denen er bestimmte typische Eigenarten der Erscheinung und des Verhaltens teilt. Ohne besonderen Anlass werde ich Rover nicht als Säugetier, als Lebewesen, als Gegenstand der Außenwelt betrachten, obwohl ich weiß, das er all dies auch ist.«
Wer sich auf Wesen einlässt, ist ein größerer Mensch. Er hat mehr von seinem Menschsein zugelassen als andere. Er gewinnt mehr - und hat mehr zu verlieren. Einer dieser Verluste ist der Tod. Deshalb hat dieser Mensch das Recht zu trauern. Wir wissen aus der Psychologie, dass Trauern ein notwendiger Vorgang ist. Er verhilft zu einer inneren Distanzierung. Wirkliche Trauer überbrückt die Schwelle des Todes, indem sie das gestorbene Wesen und dessen Gegenwart in dem Trauernden ernst nimmt. Innere Gestalten sind dauerhafter, als dies unser Alltagsbewusstsein uns vorgaukelt. Wir vergessen vieles, aber im Laufe der Zeit melden sich gerade die vergessenen und abgedrängten Teile wieder zu Wort. Trauern bedeutet sich aktiv diesem Vergegenwärtigungsvorgang zu stellen. Nicht im Vergessen liegt die Lösung, sondern im Erinnern. Erfahrungen eines Tierarztes mit der Trauer um das gestorbene Mitwesen lassen eine ähnliche Struktur erkennen wie die Trau190
erarbeit um den Verlust eines nahe stehenden Menschen: Zunächst will der Mensch den Todesvorgang nicht wahrhaben. Dies ist umso problematischer, sobald eine aktive Entscheidung ansteht, das Tier zu töten. Dieser Phase folgt der Zorn über den Tod, danach wird verhandelt, gefolgt von einer tiefen Depression. Nach diesen vier Phasen folgt die eigentliche Trauer als innere Zustimmung zu diesem Tod.3 Diesem Ablauf stehen aber häufig äußere Bedenken gegenüber: Ist es nicht verschroben, in dieser Weise um ein Tier zu trauern? Wird damit der Abstand zwischen Mensch und Tier nicht ungerechterweise verkleinert? Wird nicht das Tier vermenschlicht? - Bei diesen Fragen wird häufig nicht die sehr viel aktivere Rolle im Trauerprozess, die der Mensch beim Tiertod einnimmt, beachtet: die Entscheidung über die Euthanasie und häufig die Begleitung in den Tod hinein. Beides Wege, die es beim Tod des Angehörigen nicht gibt. Die Begleitung in den Tod durch einen Angehörigen findet in der Regel nicht mehr statt und manchmal sehen sogar auch Geistliche hierin keine Aufgabe mehr. Deswegen sollten Möglichkeiten gefunden werden, wie die betroffenen Menschen sich in Würde von ihrem Mitbewohner verabschieden können. Dies ist kein einmaliger Vorgang, sondern ein zyklischer, immer wiederkehrender. Manchmal scheint die Trauer ausgestanden, aber häufig kehrt die Trauerbewegung, die aktive Erinnerung an das andere Wesen wieder, verändert zwar, aber dennoch wirklich. Ein Mensch ist dann krank, wenn er nicht über diese Fähigkeit zur Erinnerung verfügt oder diese Erinnerung nicht zulassen kann. Trauer muss gepflegt werden, gerade wenn man will, dass das Leben weitergeht. Nun brauchen wir Orte, an denen eine solche Trauer- und Erinnerungsarbeit geleistet werden kann. Es spielt sich nicht alles nur in unserem Inneren ab. Für den Menschen akzeptieren wir diese Tatsache und legen Friedhöfe an. Diese Trauerkultur ist so alt wie die Menschheit. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass bei Ausgrabungen von Siedlungen, die z.T. 14.000 Jahre alt 191
sind, auch Gräber von Hunden gefunden wurden. Also gab es wohl auch ein Bewusstsein davon, dass das Wesen, das dem Menschen Gefährte war, auch in diese Trauerkultur hineingehört. Die Tierkörperbeseitigung stellt eine Missachtung dieser Beziehung dar. Besonders Besitzer von Großtieren (etwa Pferden) leiden sehr stark darunter, dass das Wesen, das ein Gesicht und Augen hatte, das gefühlt hatte und bis in jede Faser des Körpers ein individuelles Wesen war, nun in einer großen Mühle zusammen mit anderen Tierkadavern zermahlen werden soll. Die Alternative stellt eine rituelle Tierbestattung dar. Diese Möglichkeiten und Formen des Umgangs mit der Trauer bieten in jeder Hinsicht einen Zugewinn. Unter bestimmten Umständen ist erlaubt, Kleintiere im eigenen Garten beizusetzen. Meine Kinder haben bei den kleineren Tieren, die wir hatten, immer auf dieser Form bestanden. Als vor einiger Zeit die Landschildkröte unserer jüngsten Tochter eingeschläfert werden musste, bestand Lydia darauf, dass ich ein zeremonielles Begräbnis durchführte. Ich habe ein tiefes Loch gegraben, die Schildkröte hineingelegt und kurz für sie und alle Tiere auf der Welt, die in der Hand des Menschen sind, gebetet. Aber es gibt auch Tierfriedhöfe (ca. 70 in Deutschland), ein Tierkrematorium, und etwa 20 Tierbestatter.4 Die Form der Bestattungen und der Ablauf richten sich nach den Wünschen der Auftraggeber. Gesetzlich verboten ist eine Verwendung der Symbolik von Religionsgemeinschaften. Kirchen tun sich in der Regel schwer mit einem derartigen Umgang mit dem Tod von Lebewesen. Zu sehr sind sie bestimmt von dem Abstand zwischen der Menschenwelt und der Welt der Tiere. Zu wenig können Kirchen selbstkritisch erkennen, dass sie damit nur einem historischen Prozess folgen, der im Grunde die gemeinsame Wurzel alles Lebendigen verkennt, weil er sonst die Umwelt nicht so ausbeuten könnte, wie er dies tut. Dennoch: Es ist nicht einzusehen, warum nicht die Sorge um Trauernde im Mittelpunkt stehen sollte, unabhängig davon, um 192
was getrauert wird. Wir treten auch nicht einem Menschen gegenüber und sagen ihm: »Stell dich nicht so an, wenn deine über neunzigjährige Großmutter gestorben ist. Sie hatte ein langes Leben und der Tod hat sie von ihrem Leiden erlöst. Du hast eigentlich kein Recht zu trauern.« Trauer steht in sich und lässt sich nicht von außen nach der Qualität der Beziehung befragen, um die getrauert wird. Warum sollte dies nicht auch für die Trauer um das Tier gelten? Trauerriten beziehen sich überwiegend auf die Hinterbliebenen. Wir sind uns im Bereich der großen Religionen einig, dass der Verstorbene nach seinem endgültigen Tod unseres Beistands nicht mehr bedarf. Wir haben keine schlüssigen theologischen Gründe anzunehmen, dass Gebete für Verstorbene diese retten, denn dies würde im Gegenzug bedeuten, dass wir uns an einen wankelmütigen, nicht-liebenden Gott wenden, der sich überdies durch das Hersagen von rituellen Sätzen beeinflussen ließe. Was wir jedoch als Aufgabe vor uns haben, ist die Sorge und der Zuspruch um diejenigen, die trauern. Gerade im Umgang mit Menschen, die um ihren nicht-menschlichen Gefährten trauern, besteht Bedarf an rituellen Formen dieser Trauer. Warum kann nicht ein evangelischer Pastor, ein katholischer oder orthodoxer Priester am Grab eines Tieres zusammen mit den Trauernden stehen und dieses Leid mittragen?
2.3.5 Eine Kirche für Menschen und Tiere Am 18. April 1986 kamen etwa 250 Menschen zusammen, um gemeinsam einen Gottesdienst vor den Werktoren der Frankfurter Firma Hoechst zu feiern. In diesem Gottesdienst sollte der Leiden der Labortiere gedacht werden. Es sollte darauf aufmerksam gemacht werden, was sich hinter den Toren in den Labors an Leid abspielt. Ziel war die Aktivierung der Öffentlichkeit. »Hoechst, 193
erbarme dich!« war das Motto dieses Gottesdienstes und gleichzeitig das thematische Leitmotiv für die Liturgie. Den Beteiligten, voran den Initiatoren, dem evangelischen Pfarrerehepaar Christa und Michael Blanke aus Glauberg in Mittelhessen, war natürlich klar, dass ein solches Vorhaben nicht ohne Konfrontation mit den Betroffenen abgehen könne, die dann auch tatsächlich eintrat. Das Resultat spricht trotz der Konfrontation für sich: Die Tierversuche bei Hoechst wurden insgesamt erheblich eingeschränkt und die Haltungsbedingungen für Labortiere wurden wesentlich verbessert. Der Beginn dieses Dialoges verlief allerdings alles andere als ermutigend. Einige Wochen nach diesem Gottesdienst fand ein Gespräch mit Hoechster Mitarbeitern sowie einigen Pfarrern aus der Umgebung statt. Die Kritik der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war zum Teil so stark emotional gefärbt, dass eine fruchtbare Auseinandersetzung undenkbar erschien. Trotz des eher entmutigenden Anfangs fand ein weiteres Gespräch 1989 statt, eine Fortsetzung des Dialoges. Das Thema selbst war aber ab diesem Zeitpunkt in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Nach dem ersten größeren Tiergottesdienst vor den Toren der Hoechst AG wurde dem Ehepaar Blanke ermöglicht, im Rahmen der evangelischen Fernseharbeit einen Gottesdienst zum Thema »Tier« durchzuführen. Im Juli 1988 fand dieser Gottesdienst statt. Tiere sollten ausdrücklich in die Liturgie integriert werden. Im April greifen dann die ersten Zeitschriften das Thema auf: »Hängebauchschwein im Gottesdienst - erster Tiergottesdienst im ZDF«. Das ganze Projekt wurde zu einem öffentlichen Ereignis und zu einem Politikum. Auf der einen Seite standen die Interessen der Medien. Die Spannbreite der Veröffentlichungen reichte dabei von seriöser Journalistik bis zur Sensationsmache. Auf der anderen Seite stand die Arbeit an den Texten und der Vorbereitung des Gottesdienstes von vornherein im Konfliktfeld massiver wirtschaftlicher und, beeinflusst davon, auch kirchlicher Interessen, wie Michael Blanke erklärt: 194
»Im Lied >Bück dich für den Wurm< müssen wir die Strophen über das Fleischessen und das Pelzkaufen weglassen; von der >EndlösungTier-KZs