Rudolf Wolter
ERINNERUNG AN
GOMORRHA Erzählungen über drei Bombennächte in Hamburg
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Rudolf Wolter
ERINNERUNG AN
GOMORRHA Erzählungen über drei Bombennächte in Hamburg (2003)
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littera scripta manet
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. Ausgabe, August 2005 © Rudolf Wolter, 2003 – 2005 © eBOOK-Bibliothek 2005 für diese Ausgabe Der Text dieser eBook-Ausgabe folgt dem Manuskript des Autors. Eine gedruckte Buchausgabe erschien 2003 im Narrandum-Verlag, Hamburg.
Inhalt Vorwort und Einführung Daniel im Feuerofen Das fremde Gefühl Der Fensterplatz Die begrabene Straße Drei Seiten Papier Eine Frage ohne Antwort Eine Mauer um die Stadt Er kann sich gut erinnern Fast hätte sie laut gelacht Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein Kellerratten Nichts für Kinder Schaftstiefel Schlaf gut Sonntagmorgen Wer weiß, wofür es gut ist Wird wieder Kreideschrift Feudeln Deswegen
Vorwort und Einführung Die „He-lücht“ bei Fremdenführungen erzählen in der Deichstraße bei den einzigen erhaltenen Jahrhunderte alten Häusern in Hamburg gern vom großen Brand 842. Nicht weit davon entfernt zeugt die Ruine der Nikolaikirche von dem anderen großen Band 943. Dieser Brand überstieg alles, was Hamburg, was Menschen bis dahin erlebt hatten. In den Tagen vom 24. Juli bis zum 3. August 943 brannte es auf mehr als 25 Quadratkilometern dieser Stadt an der Elbe, die auf ihre Geschichte so stolz ist. Der Schwerpunkt der Militäraktion, die von den Engländern mit britischem Humor „Gomorrha“ genannt wurde, eine Anspielung auf die Städte, auf die es nach der Bibel ihrer Sünde wegen Schwefel und Feuer regnete. Beginnend in der Nacht zum 25. Juli griffen mehr als 3 000 Flugzeuge (Mehrfacheinsätze der Maschinen) die Stadt an. In sieben schweren Angriffen bis zum 3. August, konzentriert aber auf die drei Nächte und drei Tage bis zum 28. Juli, schütteten sie 3 200 Minenbomben, 25 000 Sprengbomben, 3 Millionen Stabbrandbomben, 90 000 andere vor allem mit Phosphor versehene
Brandbomben über der Stadt aus. Über 40 000 Gebäude wurden völlig zerstört oder schwer beschädigt, ebensoviele Menschen überlebten das Inferno nicht. Weit über 35 000 Menschen waren nach diesen Tagen schwer verletzt. Die Taktik der Angreifer war äußerst erfolgreich. Zuerst fielen die Sprengbomben auf die Stadtteile im Zielgebiet, dann folgten die Brandbomben. In den zerstörten Häusern hatte das sich entfachende Feuer genügend Zug. Es entwickelte sich in den in großer Ausdehnung brennenden Stadtvierteln ein Feuersturm von unvorstellbarer Kraft. 000° heiße Flammen rasten wie ein Orkan durch die Straßen. Sie rissen den um ihr Leben rennenden Menschen die Kleider vom Leib, drehten dicke Bäume ab. Löschen konnte niemand, zumal auch das Rohrsystem der Wasserversorgung zerstört war. Die deutsche Abwehr war weitgehend durch den Abwurf kleiner Stanniolstreifen ausgeschaltet, sie blendeten die Steuergeräte der Luftverteidigung. Die Rettungsarbeiten wurden durch folgende Angriffe auch am Tage behindert. Die letzten Angriffe waren aus einem einfachen Grunde weniger erfolgreich: es gab in den getroffenen Stadtbereichen nichts mehr zu zerstören. Das strategische Ziel war einerseits die Ausschaltung der Rüstungsindustrie, die etwa in Hamburg den Bau der U-Boote betrieb, andererseits aber auch die Vernichtung der Wohnbevölkerung und die Demoralisierung der Überlebenden. Beides wurde nicht erreicht. Es wurde weiter gerüstet und in der Bevölkerung wuchs Haß und Durchhaltewille.
Viele sagen, in den schrecklichen Gomorrhatagen wäre Hamburg untergegangen. Aber das ist falsch. Hamburg lebt, und untergegangen ist das alte Hamburg schon mit allem, worauf es stolz sein konnte, im Januar 933. Wer auch immer sich mit der jüngeren Geschichte beschäftigt, wird auf Fragen nach einer Deutung der Ereignisse gestoßen. Jeder Bericht enthält und muß auch Deutung beinhalten. Nur so ist ein Lernen aus der Geschichte möglich und eine Beschäftigung mit der Vergangenheit verantwortlich. Die hier gesammelten Erzählungen sind nach sechs Jahrzehnten eine Erinnerung an das Grauen des Krieges. Sie geben Gefühle und Erlebnisse Getroffener wieder. Wie es häufig bei der Rückbesinnung der Fall ist, sind die geschilderten Ereignisse nicht unbedingt in den Einzelheiten eine fotografische Reminiszenz, aber sie sind im Kern authentisch. So und nicht anders war es, und es war noch viel ärger. Aber vor dem Schrecken der wahren Geschichte verstummen alle Worte.
Daniel im Feuerofen Hörst du, du weißt es vielleicht noch, wie es ist, wenn ein Haus brennt. Erinnerst du dich daran, als im Nachbarhaus der Dachstuhl brannte? Ja, das Haus, in dem unten der Schlachter Svoboda seinen ganz gekachelten Laden hatte, und richtig, hinten im Hof war die Wurstküche, vom Balkon aus konntest du sie sehen, und darin ist ihr kleiner Junge verbrüht worden. Du bist nie gern in diesen Laden gegangen, es grauste dich ein wenig, und der Schlachter hatte ein so rotes Gesicht, lieber hast du bei Gaetjens eingekauft, da gab es denn schon einmal eine Scheibe Wurst für die Kinder. Um die Ecke war der Fisch-Schröder und der Gemüsemann, Feind hieß der, war aber ganz freundlich und schenkte dir schon einmal einen Apfel. Sommer war es und plötzlich schrie alles: „Feuer!“ Wir sind dann alle runter und haben es uns von drüben angesehen, wir standen auf den Trümmerbergen, die waren ja noch nicht abgeräumt. Die Feuerwehr hatte tatsächlich eine so lange Leiter und kam damit bis zum Dach. So ist es, wenn mitten in der Stadt ein Haus brennt.
Aber kannst du dir vorstellen, wie es ist, wenn nicht ein Haus, sondern eine Straße brennt, eine ganze lange Straße, jedes Haus und in all den Straßen ringsum brennt es auch, überall nur Feuer und Flammen und keine Feuerwehr der Welt kann das noch löschen, es gibt gar keine Feuerwehr, die bis hierher kommt. Du siehst nur noch die schwarze Häuserfront und aus den Fenstern blecken die Flammen. Weißt du, daß Flammen wirklich fauchen, heiser fauchen, brüllend fauchen, und es kracht und knallt, es prasselt und donnert. Hinter den dunklen Fensterkreuzen nur rot-gelbes Feuer, keine Gardinen, keine Gesichter, keine Blumen, nur Feuer und dahinter nichts, nur Flammen. Und sie lodern und brennen, wie aus einem Bunsenbrenner kommen dir die Flammen vor, und hier haben Menschen gewohnt, hier haben Kinder mit ihrem Kaufmannsladen gespielt, hier haben Frauen Wäsche geruffelt, geplättet und gemangelt, hier wurden Kartoffeln gekocht und Apfelmus, hier saßen sie beieinander und hörten die Musik aus dem braunen Radiokasten und die Meldungen. Kannst du dir das vorstellen, wenn die ganze Welt, deine ganze Welt nur noch aus Flammen besteht? Und die Hitze brennt auf deinen Wangen, deine Lippen scheinen zu springen durch die Glut, und wohin du siehst, nur noch Feuer. Und in deinen Augen beißt der Rauch und es stinkt nach Qualm. Nein, das kannst du dir nicht vorstellen. In der Sonntagsschule haben sie dir später die Geschichte von Daniel im Feuerofen erzählt. Aus dem Schlaf schrecktest du auf, du konntest den Gedanken nicht ertragen, daß sie Menschen in einen siebenfach angeheizten Ofen werfen,
aber Menschen haben das immer mit Menschen gemacht, haben sie gesengt, verbrannt und gebraten. Eine ganze Stadt, keine Kleinstadt, nicht ein paar tausend Menschen, sondern eine ganze Großstadt, Hunderttausende haben sie in den Feuerofen geworfen, und es endete nicht, wie bei dem Daniel. Da half kein Beten und Jammern, kein Flehen, es war nur Glut und Feuer, überall nur Glut und Feuer. Ich hab sie gesehen hinterher, das, was von ihnen übrig war. Sie kamen nicht unversehrt aus dem Inferno, sie waren schwarz und geschrumpft, seltsam verzerrt, verkohlt und nackt und ihre Haut war braun, ledern und gerissen, ihre Münder waren aufgerissen, die Augen tiefe Höhlen der Hölle, sie haben sie in Reihen auf die Straße gelegt, eine Leiche neben der anderen, damit die Lebenden ihre verbrannte Liebe finden konnten und die Toten ihren Namen wiederbekämen. Eine ganze Straße rauf und runter lagen sie Leib neben Leib, sauber in Linie ausgerichtet, gebacken, gebraten, verbrannt. Ich mußte an ihnen vorübergehen und sie alle anschauen, jeden einzelnen mußte ich ansehen und mit dem Bild meiner Mutter und meines Vaters vergleichen, obwohl dies doch keine Menschen mehr waren, nicht mehr erkennbar als Ebenbild ihres Schöpfers, und der lange Weg entlang der aufgereihten zu Tode Gefolterten war noch schrecklicher als das Gebrüll der Flammen, weil aus jedem gemarterten Körper die Schmerzen mich ansprangen und es in meinen vom Rauch noch brennenden Augen scharf und schärfer biß, aber es kamen keine Tränen, nur eine Müdigkeit, eine unglaubliche Ohnmacht versteinerte mich.
Du kannst es dir nicht vorstellen, niemand kann sich so etwas ausdenken. Du warst zu klein damals, du hast noch in deiner Welt gelebt und da gab es solches Leid und Verbrechen nicht. Ich wollte, ich wäre damals auch ein Kind gewesen und hätte all das nicht wahrnehmen müssen, aber niemand ersparte es mir. In der Schule ist mir einmal ein Tintenklecks auf den Atlas gefallen, und der Diercke war doch so teuer gewesen und ich hab dann mit dem blauen Tintengummi versucht, den Fleck zu tilgen. Es ging, aber das grüne Land verschwand mit dem Fleck und wurde weiß, und die kleinen Kreise der Städte waren verschwunden, ausradiert. Vierzehn war ich damals, in die Schule in der Allee ging ich noch, aber ich habe es behalten und erschrak, als der Führer seine Rede hielt, wie ich so oft erschrocken bin, wenn die heisere Stimme Unglaubliches sagte. Ich wußte seit jenem Fleck in meinem Atlas, was Ausradieren bedeutet, aber ich wußte nicht, wie es erlebt wird. Doch richtig nachdenken konnte ich erst später wieder, damals, in jenen Bombennächten habe ich gar nicht gedacht, nur funktioniert habe ich, ich weiß nicht aus welcher Kraft. Als ich an dieser endlosen Reihe der Geopferten entlangging, brannte es hinter den geschwärzten Häuserfronten immer noch. Es war keiner da, der löschte, es hätte auch keinen Sinn mehr gehabt. Der Staub knirschte zwischen den Zähnen, der Gestank des Rauchs fraß sich bis in die Lungen. Oma und Opa hatte ich noch nicht gefunden, als es mittags wieder Alarm gab, ich wußte gar nicht, auf welchen
Dächern denn noch Sirenen stehen konnten, um dieses furchtbare Geheul über die Stadt zu schreien. Nur die Feddersens hatte ich erkannt, du erinnerst dich, die aus dem dritten Stock, die immer zuerst in den Keller drängten mit Sack und Pack, sie und die drei Kinder, alle so blond wie es dem Führer lieb war, sie wohnten erst seit kurzem über uns, bekamen die Wohnung von den Tietz, die ich kurz danach noch gesehen hab an der Moorweide, als ich zur Arbeit ging, sie hatten zwei Koffer dabei und Frau Tietz drehte sich weg, als ich vorüberging, vielleicht hat sie mich auch nicht gesehen, denn es war noch dämmerig und ich war auf der anderen Straßenseite. Die Feddersen hielt die Kleinste fest im Arm, niemand hatte sich getraut, sie ihr zu entreißen. Das Kind schien immer noch lautlos zu schreien. Ja, du hast völlig recht. Sie dürfen keine Kriege mehr machen. Ich hab es danach gelesen, in dieser Nacht waren es sechshundert Flugzeuge über der Stadt, ich höre noch das dumpfe Gedröhn der Motoren und das erschreckende grollende Donnern der Detonationen. Manchmal möchte ich noch heute mir die Ohren zuhalten. Aber der infernalische Lärm ist in mir drin, ich kann ihn nicht aussperren. Ja, sie nehmen heute weniger Flugzeuge, das ist wahr, aber unten auf der Erde ist es nicht anders als damals. Du hast recht, es darf nicht sein, aber wer soll sie hindern? Der da oben tut’s nicht. Der hat sich lieber kreuzigen lassen. Manchmal denke ich doch, er hat mich an der Hand gehabt, als ich an der Reihe des Grauens vorüberging. Vielleicht war das die Kraft, die ich mir nicht erklären kann.
Wenn du es wieder auf dem Bildschirm blitzen siehst, dann möchte ich nur, daß du an mich denkst, an mich in der brennenden Stadt. Mehr nicht. Denk an die Menschen auf der Erde. Grüß deine Kinder.
Das fremde Gefühl „Ich weiß, du nennst mich jetzt dumm. Aber ich bin noch nicht soweit“, er schüttelte heftig seinen Kopf. Im warmen Licht der Kerze auf dem Küchentisch, es war einmal wieder Stromsperre, schimmerten seine Tränen. Er nahm noch einen Schluck von dem Rotwein aus dem Becher. Die Mutter seines Freundes hatte diese Flasche ausgegraben, als sie mit den anderen Frauen beim Steineklopfen war. Sie waren auf einen Keller gestoßen, in dem noch viele Flaschen unversehrt, nur staubig, in hölzernen Regalen lagerten. Sie gehörten niemandem mehr. Eine der Frauen wußte, daß alle, die hier Zuhause waren, umgekommen wären, die Frauen ’43, der Mann zwei Jahre später an der Oder. Sie haben zwei Flaschen gleich aufgemacht und den Rest geteilt. Drei Flaschen für die Mutter meines Freundes. Bordeaux. Natürlich hätten sie die tauschen können. Der Schwarzmarkt war gleich um die Ecke beim Schulterblatt. Aber sie kam vorhin im Nachthemd in die Küche, die Flasche in der Hand und sagte: „Macht sie euch auf. In eurem Alter muß man auch einmal feiern.“ Dann ging sie gleich wieder raus. „Sie weint
jede Nacht,“ sagte Theo, „sie kommt nicht drüber weg. Sie ist noch nicht einmal vierzig.“ Der Vater seines Freundes war im Kessel von Demiansk gefallen. „Seit drei Jahren weint sie jede Nacht“, sagte er. Lange lastete das Schweigen in der Wohnküche. Dann entkorkten sie die Flasche und schenkten sich den Wein in die Becher. Theo hatte ihm ein Angebot gemacht. Der Tommy suchte Leute mit Englischkenntnissen, ortskundig sollten sie auch sein und unbelastet. Leichte Arbeit am Schreibtisch. Gut bezahlt, Zigaretten, Kaffee, Tee und Schokolade. Auch schon mal Corned-Beef. Es bliebe auch genug Zeit zum Lernen, und das wäre jetzt die Hauptsache. Sie hätten so viel nachzuholen. „Ich bin noch nicht soweit“, sagt er wieder. Er mußte nicht viel erklären. Sein Freund verstand ihn. Er schenkte Rotwein nach. Nicht jeder konnte das einfach abschütteln. Sie waren damals mit ihrer großen Neuigkeit fröhlich und aufgeregt nach Hause gekommen. Wir werden eingezogen als Luftwaffenhelfer für die Flak. Sie verstanden noch nicht, warum die Oma in Tränen ausbrach. „Nun holen sie schon die Kinder “, sagte sie schluchzend. „Sie sind am Ende.“ Vielleicht gehörten solche Tränen auch dazu, wenn jemand Soldat wird. Außerdem war die Todesnachricht ihres Sohnes erst vor vier Monaten gekommen. In einem Gefecht mit Partisanen gefallen, in Jugoslawien. Auf das, was folgen sollte, waren sie nicht vorbereitet. Ausbildung, Schule, Dienst, Schule, das alles war hart, aber zu ertragen. Sie lachten viel, sie tranken auch schon einmal,
sie waren ja nun fast erwachsen und wurden gebraucht. Ihre Flakstellung lag auf einem Sportplatz neben dem Park. Vier schwere Geschütze, die Feuerleiteinrichtung. Barakken mit harten Betten für die Nacht. Immer wieder Übung, Unterricht, Übung, und dazwischen auch schon einmal der Ernstfall. Die Lehrer waren sehr nachsichtig, die Vorgesetzten auch. Sie schauten lächelnd zu, wenn sie in der Sommersonne mit bloßem Oberkörper auf der Wiese nebenan tobten, sich mit einem Schlauch spritzten. Aber immer wieder der Ernst, vor allem nachts. Sie kamen meist nachts. Auch am 24. Juli ’43. Mittags schon Luftgefahr und sogar das Heulen der Sirenen über der Stadt. Abends gegen neun noch einmal. Aber kurz danach wieder Entwarnung. Dann war Mitternacht. Geisterstunde. Wieder Luftgefahr. Das Brummen war bald nicht mehr zu überhören. Sirenenheulen. Es schwoll immer stärker an, dieses gefährliche, bedrohliche Gebrumm in der Luft, es wurde fast gegenständlich, erfüllte alles, auch ihr Inneres. Licht am Himmel über der dunklen Stadt. Schießen. Aber irgend etwas funktionierte nicht bei der Feuerleitung. Sie mußten ohne Entfernungsangaben in die Dunkelheit über sich schießen. Sperrfeuer. Nur Sperrfeuer. Sie taten alles, was sie tausendmal geübt hatten. Sie taten es gut. Als die Rohre ihrer Geschütze glühten, mußten sie aufhören. Es war auch keine Munition mehr da. Ihre Augen sahen es, aber ihr Kopf konnte es nicht fassen. Da drüben, nach Westen zu, brannte die Stadt. Der Nachthimmel war glutrot, die Flammen mußten hundert Meter
hoch schlagen. Es brannte nicht an einer Stelle, eine ganze Seite der Himmelskuppel hinter den Baumwipfeln war flammrot, der Rest des Himmels undurchdringlich dunkel. Sie rochen den Brand. Als gegen drei Uhr die Entwarnung kam, schien das Feuer erst aufzuleben. Wer kommt da raus, dachten sie nur, wer kann da rauskommen. Aber sie mußten in ihrer Stellung bleiben. Ihre Zigaretten waren kleine rote Glühpunkte in der Nacht. Dahinten tobte das Feuer. „Du, Theo, das war kein Spiel mehr “, sagte er zu seinem Freund. Richtig, bis zu dieser Nacht hatten sie ein wenig Krieg gespielt, auch wenn schon Bomben gefallen waren, auch wenn schon Abschüsse vermeldet wurden. Es war ein gutes Gefühl, ernst genommen zu werden. Auch die Lehrer behandelten sie ganz anders, wenn sie zum Unterricht in die Stellung kamen. Und doch wehte über allem ein Hauch von Abenteuer, die Technik faszinierte sie. Konnten sie nicht auch ein wenig stolz auf sich sein? „Weißt du, ich hab sie töten wollen“, sagte er fassungslos über seine eigenen Gefühle. „Das Dröhnen der Flieger, dieses schreckliche Gedröhn, es müssen ja Tausend gewesen sein, dann die Einschläge, du, ich hab sie ehrlich töten wollen, diese Scheiß-Tommys.“ Theo verstand ihn schweigend. Ihre Zigaretten glühten auf. Drüben waberte das Feuer. Immer wieder schlugen Explosionen. Spätzünder. Blindgänger. Theo verstand ihn, deswegen waren sie ja Freunde. Es ist schwer zu ertragen, wenn man anfängt zu hassen. Dieser Haß war auch etwas anderes, als die Wut über einen Lehrer oder einen blöden und eingebildeten Mitschüler,
nicht zu vergleichen mit dem Gefühl, das sie hatten gegenüber denen aus der Zeisestraße, mit denen es schon einmal eine Straßenschlacht gab, eine wüste Keilerei. Dies war etwas anderes, echter, tiefer, fremder. Es war Ohnmacht, Hilflosigkeit, Erbarmen mit denen da hinten. Es widersprach allem, was sie bis dahin gelernt hatten. „Quäle nie ein Tier zum Scherz, denn es fühlt wie du den Schmerz.“ Wenn ein alter Mann in die Straßenbahn steigt, stehst du auf. Das ist doch selbstverständlich, auch wenn du müde bist vom Ausflug an die Elbe. Hilf der alten Frau Kasboom mal tragen, du siehst doch, daß sie zwei schwere Taschen hat. Die Frau hat einen Kinderwagen, hilf ihr die Treppe rauf! Mehr sagten sie nicht in dieser Nacht. Aber bei den weiteren Angriffen am nächsten und übernächsten Tag, als sich der Himmel im Süden rot färbte, sahen sie sich immer wieder einmal wissend an. In der vierten Nacht der Angriffswellen, als der ganze Osten der Stadt in Flammen stand, weinte er an seinem Geschütz, nicht aus Müdigkeit, nicht wegen der Anstrengung, sondern allein wegen dieses aufwallenden Gefühls. Theo strich ihm im Vorbeihasten über den Rücken. Er sagte nichts. Er sagte nicht: „Wir kriegen sie“ oder etwas ähnliches. Er wußte, daß Haß weh tut. Sie arbeiteten verbissen an ihren Geschützen, bis nichts mehr ging. Sie konnten sicherlich nicht viel ausrichten, aber es war alles, was sie dazu tun konnten. In den auf das Grauen folgenden Wochen sammelte er besessen zu den Bildern, die sie in sich aufnahmen, wenn sie durch die zerstörte Stadt gingen, durch die Ruinen, durch
die Trümmerwüste vor allem hinter dem Berliner Tor, vorbei an den Kolonnen der Frauen, die ihre wenige erhaltene Habe aus dem Schutt bargen, vorbei an spät geborgenen Toten, die Nachrichten und Gerüchte. Vierzigtausend Tote, fünfzigtausend Tote. Sie sagen gar nicht, wie viele es wirklich sind, sie wollen es geheim halten. Es ist nicht gut für die Moral. Gierig hob er auf, was die Leute sagten. Er biß die Zähne zusammen, sein Gesicht wurde hart. Als er dieses Gerede an Theo weitergab, sagte sein Freund nur: „Unsere Moral ist schon längst im Eimer.“ Aber er wollte es nicht hören. „Wir zahlen es ihnen heim“, dachte er, wenn er wieder an seinem Geschütz stand und gegen den Terror anschoß. Monate später begegnete er mit seinem Freund einer Gruppe Kriegsgefangener in der Holstenstraße. Sie trugen fremde Uniformen. „Das sind englische Flieger“, sagte Theo. „Wohl abgeschossen.“ Abrupt, wie von einer zupackenden Hand erfaßt, blieb er stehen, schaute starr der staubigen Gruppe nach, die von Soldaten begleitet wurde. Als sie vorüber waren, stieß er Theo an. „Du, die sehen ja aus wie wir.“ Sie sprachen nie wieder darüber. Das mußte er mit sich selbst ausmachen. Aber jetzt beim Engländer arbeiten, das konnte er noch nicht. Später vielleicht. Später wollte er vielleicht auch einmal über die Towerbridge fahren, an Big Ben vorbei, in einem ihrer roten Doppeldecker. Später.
Der Fensterplatz Er rückte das Koppel zurecht und zupfte an seiner Uniformjacke. Ohne Frage: die Uniform spannte sich leicht über seinem doch erkennbaren Bauch. Dennoch war er stolz auf diese braune Uniform, stolz auf seine Kragenspiegel und die Auszeichnungen. Er zog den Binder fest. In den letzten Monaten hatte er sich etwas gehen lassen, das mußte sich ändern. Aber warum sollte nicht wenigstens er versuchen, zu leben? Mit einem mal sah er sich wieder an dem blanken Holztisch in der Vereinsstube von Johannsen sitzen, schaumiges Holstenbier in großen Krügen, die roten Fahnen an der Wand, die doch die deutsche Geschichte nicht verleugneten, in ihnen erkannte er das Schwarz-Weiß-Rot, schwarz das Hakenkreuz auf weißen Grund und rot — nun ja, er war damals nur ein kleiner Kommis gewesen bis auch er auf der Straße lag und stempeln gehen durfte, da war ihm die rote Fahne gerade recht. Ihm schmeckte das Bier unter den Kameraden wie Hoffnung, und es war ja auch aufwärts gegangen, mit Deutschland, mit der Partei, mit ihm, mit seiner Familie, es war immer aufwärts gegangen, genau, wie es
der Führer versprochen hatte. Gewiß, die Angst würgte ihn an jenem denkwürdigen 30. Juni, neun Jahre war das nun her, neun Jahre nur. Aber er hatte auch das überlebt, und nach schwierigen Monaten stand seiner Karriere nichts im Weg. Er hatte überlebt, er und seine Frau. Sie war in Husum bei der NS-Frauenschaft sicher untergebracht, die alliierten Terrorflieger würden sich schon nicht an der grauen Stadt am Meer vergreifen. Außerdem kannte sie Dithmarscher Bauern und schickte Schinken und Wurst. Nur seine drei Söhne hatten es nicht geschafft. Zum Fortbestand und Überleben des Volkes hatte er nun nichts mehr beizutragen. Aber war das seine Schuld? Der Jüngste fiel im ersten Winterkrieg 94 an der Ostfront und starb im Königsberger Lazarett an seinen Erfrierungen in beiden Beinen. Er saß an seinem Bett, als das Herz aufhörte zu schlagen, und er war ihm, der schon immer ein bißchen weich war, böse, denn dies war kein Heldentod, sondern ein Aushauchen des Lebens unter Tränen gewesen. Die Anzeige im Völkischen bekam er trotzdem. Der Älteste hatte mehr dafür getan. Sein Hauptmann lobte ihn in höchsten Tönen für alles, was er vor Starajarussa für seine Kameraden gewagt hatte. Und seit Januar hatte er nichts mehr von Heinz aus dem Kessel von Stalingrad gehört. Er machte sich keine Hoffnung mehr. Die 6. Armee war abgeschrieben. Deswegen wollte er leben, nichts als überleben, und er schüttete das Bier in sich hinein und die Teller bordeten über, wenn er sich auffüllte. Um keinen Preis wollte er an die Front, er wurde hier gebraucht — obwohl …
Auf dem Weg zum Altonaer Bahnhof fühlte er sich nicht mehr so sicher. Die letzten Tage waren schlimm gewesen, schrecklich, eine Katastrophe. Diese fortwährenden Angriffe, fast keine Pause, er kam aus dem Keller gar nicht mehr heraus, und sein Hamburg, seine schöne Stadt, auf die er so stolz war, was blieb von ihr noch übrig? Ausgebrannte Häuserfronten hielten leere Fensteraugen in den Himmel, einsam und sinnlos ragten Schornsteine auf, denen die Häuser verloren gegangen waren, er stieg über Trümmerberge, denn die Straßenbahn fuhr noch nicht wieder, die Oberleitungen liefen auf dem Pflaster ins Leere, Trümmerberge häuften sich zu beiden Seiten der Straßen, Gesteinsbrocken, Mauerwerk lag verstreut auf der Fahrbahn, es wäre auch mit dem Auto der Partei kein Durchkommen gewesen, dazwischen waren Hausrat, Herde und gerettete Matratzen verstreut, ein samtrotes Kanapee schien aberwitzig zum Sitzen einzuladen. Im Eimsbüttel mußte er Umwege machen, weil ganze Straßenzüge einfach verschlungen waren von der Hölle der letzten vier Tage. Immer wieder klopfte er seine Uniform ab, der Staub knirschte zwischen seinen Zähnen und über allem lag der Gestank von Feuer, Rauch und Tod. Im murmelnden, rufenden, schreienden Menschengewühl auf dem Bahnsteig stellte er seinen Lederkoffer ab und rieb mit seinem Taschentuch über seine Langschäfter bis sie wieder glänzten. Die Züge nach Norden fuhren noch. Im Abteil angekommen, es hatte ihn als einen der ersten an die Tür getrieben, wuchtete er seinen Koffer ins Gepäcknetz und wollte sich
gerade setzen, so froh zu leben, überlebt zu haben, da stand urplötzlich die Frau mit dem Kopftuch vor ihm, ihre Kinder klammerten sich ängstlich und verzweifelt an ihrem für diese Jahreszeit viel zu dicken Mantel fest, und ehe er sich’s versah, klatschte ihre Hand in seinem Gesicht, und er hörte ihr schrilles, keifendes „Raus hier!“ Eine große Müdigkeit überfiel ihn, er konnte sich nicht wehren, er zog nur seinen Koffer wieder herunter und wandte sich um. Er verbrachte den ersten Teil der Fahrt auf dem Flur, erst hinter Elmshorn drängte sich die NSV-Schwester durch die geschüttelten Flüchtlinge und wies ihn an, mit ihr zu kommen, sie hatte einen Platz für ihn im Dienstabteil. Mühselig quetschte er sich und seinen kostbaren Koffer durch die stehenden und auf ihrem Gepäck sitzenden Frauen und Kinder. Er fiel auf die Bank und schloß die Augen gegen die Wellen der sprachlosen Scham. Willenlos hatte sie sich in den letzten Tagen treiben lassen. Nur eines war wichtig: Karl und Karin durften nicht auch noch verloren gehen. Am liebsten hätte sie die beiden an die Leine genommen, genau wie ihre Kinder es im Spiel taten, wenn Karl das Pferd und Karin den Kutscher machte. Sie wurde mit allen anderen aus dem Keller gespült nach dem Ende des ersten Alarms, der alte Fietschen hatte es mit knochenbrechender Mühe geschafft, die Tür aufzubekommen, sie ließ sich mitreißen über die Berge von Schutt, durch die Flammen auf beiden Seiten, sie wurde mitgenommen in den Hochbunker bei dem nächsten Alarm und kam über Tage kaum noch ans Tageslicht. Aber da draußen war auch
weder Tag noch Licht, es blieb Nacht, dichter Qualm verhüllte die Sonne. Sie hatte nur noch ihre Beiden und deren kleine Rucksäcke und den Pappkoffer, auf dem sie saßen. Alles andere war futsch, verbrannt, verraucht, zerdeppert. Es war ihr leid um das neue Schlafzimmer, das sie nur über Beziehungen hatte organisieren können, denn man braucht alle Möbel für die Bombenopfer. In den neuen Betten würde sie nun nie mit Rudi schlafen, sie wollten es einweihen bei seinem nächsten Fronturlaub, er hatte es ihr versprochen in seinem letzten Brief. Wo blieb er nur? Hätte er nicht an ihre Seite gehört in dieser Zeit? Jetzt brauchten die Kinder einen Vater. Jetzt. Sie hatte sich immer an seiner Brust so sicher gefühlt, als könne ihr niemand etwas anhaben. Statt dessen lag er vor Leningrad im Schützengraben und konnte nicht weg. Aber gegen die Engländer hätten auch seine Arme sie nicht schützen können. Es war alles egal, nur Karl und Karin nicht. Als alles vorbei zu sein schien, ließ sie sich zu den Dienststellen lenken, die quengelnden Kinder immer im Schlepptau, sie bekamen Erbsensuppe und einmal sogar Gulasch, sie jubelten über Schokolade und Brause, auch wenn sie dauernd ihren Spielsachen nachweinten, der Ritterburg und dem Teddy Jonathan (Karin, willst du ihn nicht lieber Siegfried nennen? Aber Karin konnte Siegfried nicht ausstehen, im Nachbarhaus gab es einen, der beim Abbaggern im Völkerball immer so hart warf.) Sie stopfte die Bescheinigungen und Gutscheine in die Tasche ihres Wintermantels, zum Glück hatte sie beim Alarm wenigstens den gegriffen
und nicht den dünnen Sommermantel. Sie beantwortete artig alle Fragen und gab fast gleichgültig all ihre Verluste an, nur den Verlust ihrer jungen Jahre nicht, die konnte ihr sowieso keiner zurückgeben. Sie wurde mitgenommen mit ihren Kindern im Strom der Evakuierten, und als sie durch die zertrümmerten Straßen hinter den anderen herstolperte, erzählte sie den nörgelnden Kleinen müde von Wäldern und Weiden, von Buttermilch und frischen Brot. Auf dem Dorf hätten sie sicher eine Schule für Karin und einen Ränzel und eine Tafel würde es auch wieder geben. Auf dem Weg durch Altona begann sie sich zu wundern, als ob sie gerade erwachte. Wieviel Himmel es plötzlich über der Stadt gab! Ihr war das nie klar geworden. Aber jetzt, da die Straßenfluchten zu Schuttbergen zusammengefallen waren, als sich nur schwarze Häuserfronten, absurde Treppenhäuser nach oben reckten, und durch die Fensterhöhlen blauer Himmel leuchtete, da erkannte sie mit einem Male den Himmel über Hamburg. Bewußter hob sie ihre Füße, faßte die warmen, schwitzigen Hände ihrer Kinder fester. Ab und zu überholten sie in der Flut des Menschenstromes die Langsameren. Sie erkannte, daß alles zum Bahnhof Altona strebte. Ob es den noch gab? Oder ob sie wieder umkehren mußten? Sie zerrte ungeduldig an den Kindern. Am Bahnsteig kamen sie ganz dicht an der fauchenden Lokomotive vorbei. Karl war fasziniert und wollte nicht weiterlaufen. Aber sie riß ihn rücksichtslos mit sich. Der Geruch von Dampf und Rauch, den sie sonst immer so gern gemocht hatte, weil er auf Reisen wies, die sie noch mit Rudi
machen wollte, diesmal verursachte er ihr Übelkeit, er erinnerte zu stark an den beißenden, stinkenden Qualm, den sie zwischen den Angriffen in ihre Nase bekam und der sie mit Panik erfüllt hatte. Im Gedrängel der Menschen zeigte sie keine Scheu, auch ihre Ellenbogen zu gebrauchen, und sie schob ihre Kinder in den wartenden Zug, schubste sie durch den engen Gang, riß die nächste Abteiltür auf und stieß sie hinein. Aber da stand groß dieser Goldfasan, ächzte seinen Koffer ins Netz über dem Platz am Fenster. Schon zwischen den Trümmern in der Bergstraße hatte Karl geprammelt, er wolle aber am Fenster sitzen. Immer wieder fing er damit an. Ohne Bedenken schlug sie zu. Mitten ins rasierte, schweißglänzende Gesicht. Als es klatschte und ihre Handfläche brannte, erschrak sie, schrie beinah auf, spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoß, doch der Goldfasan drehte sich um, griff nach seinem Koffer und drängte an ihr und an ihren Kindern vorbei durch die Abteiltür in den Flur, wo er von den sich vorbeischiebenden Leuten mitgerissen wurde. Sie ließ sich, immer noch erschrocken, auf den Platz am Fenster fallen und nahm Karl auf den Schoß. Ihr Herz schlug bis zum Hals, aber sie hatte dies geschafft und sie würde alles schaffen, auch ohne Rudi.
Die begrabene Straße Sie haben diese Straße noch nicht asphaltiert, damit die Wagen sanfter und leiser rollen. Hier waren sie noch, die alten Pflastersteine, mit deren ausgekratzten Rillen sich Kippel-Kappel spielen ließ, dieses vergessene Spiel mit dem an beiden Enden angespitzten Holzpflock, der dann durch die Luft geschleudert wurde und dann … Er konnte sich an die genauen Spielregeln nicht mehr erinnern, so sehr er sich auch bemühte. Er wußte nur, sie hatten es damals oft gespielt, damals, als zu beiden Seiten der Straßen noch die steinigen Hügel der Trümmer lagen und es so viel unverstellten Himmel über der Stadt gab. Lange hatte er gebraucht, bevor er diese Straße wieder aufsuchte, fast fünfzig Jahre war es her. Fünfzig Jahre, die sein Leben ausmachten, seine Frauen, seine Kinder, seinen Beruf. Und nun stand er wieder hier, in dieser Straße, in der seine früheste Kindheitserinnerung wie ein ungewisser Duft in der Luft hing, den aber nur er wahrnehmen konnte, und von dem der junge Mann mit Zopf und Rucksack, der da drüben aus der alten Haustür kam, nichts wußte.
Langsam überquerte er die Fahrbahn, und mit seiner Schuhspitze streichelte er liebevoll einen der Wackersteine, die ihm so vertraut schienen, als wären sie mit ihm verwandt. Es schaute die Häuserfronten der Straße verwundert an. Alles alte Mietshäuser aus Wilhelminischer Zeit, reich ausgeschmückte Fenstersimse, hier und dort steinernes Blattwerk und grimmig ausschauende Köpfe, hier und dort ein Löwengesicht, damals gab man noch Geld aus für den unnützen Zierat. Das konnte doch nicht angehen, alle diese alten Häuserfronten schienen unversehrt zu sein. Aber seine Erinnerung war doch ganz anders. Als sie durch die Haustür kamen, barfuß, nur mit einem Nachthemd bekleidet, war alles nur Feuer, nur brandrotes Gewaber, nur Flammen, und dann waren da dunkle Schatten, große Autos, die durch den Flammenstrom rasten. War die Wirklichkeit gefälscht oder seine Erinnerung? Konnte er sich und seinen Gedanken angesichts der ganz anderen Realität, die er hier vor Augen hatte, trauen? Erst zwei Tage später wagte er es wieder, den Spuren der Erinnerung nachzugehen. Inzwischen hatte er für sage und schreibe vierzig Mark einen alten Stadtplan gekauft und konnte die Bilder seiner Kindheit bestätigen: Vor fünfzig Jahren war die Straße viel länger gewesen. Dort, wo sie damals wohnten, war nun ein Park angelegt, zwei große Verkehrsadern durchschnitten das Grün, waren über die alte, verbrannte Straße gelegt, wie man auch eine Leiche bedeckt mit einem Tuch der Ehrfurcht und Scham.
Gleich nach dem Studium der Karte fuhr er wieder in die alte Straße seiner ersten Bilder. Er stand auf einer Rasenfläche, die wohl sonst den Hunden gehört, sah die Bäume ringsum, ja, es waren junge Bäume, schnell wachsenden Ahorn hatte man genommen, als könne man nicht hurtig genug das Leichentuch ausbreiten. Hier etwa, hundert Meter von dem letzten Haus entfernt, hier müßte ihr Haus gestanden haben. Hierunter lagen wohl noch die Trümmer der Grundmauern und Keller. Er schaute hoch in den grauen städtischen Himmel. Dritter Stock, dort hatten sie gewohnt. Plötzlich hatte er sie wieder vor Augen, die zersprungenen Fensterscheiben, und die Türen des Schlafzimmerschrankes, sie waren nach innen gedrückt und brannten, brannten mit kleinen züngelnden Flammen. Er hörte die panische Stimme der Mutter nicht, sein Gedächtnis hatte sie nicht gespeichert, sie muß panisch gewesen sein, verrückt vor Angst. Nur das bedrängende Gefühl der Hektik war da, ließ sein Herz schneller schlagen nach fünfzig Jahren noch, in denen so vieles geschehen war. Er kannte diese Panik, erinnerte sich daran, wie er mit seinen beiden Ältesten einmal in einer Steilwand geklettert war und mit einem Male sich der Gefahr bewußt wurde, als sein Fuß ausrutschte. Er hatte seine Kinder bedenkenlos riskiert, nur damit sie einmal den Kitzel der Angst erlebten, und sein brüllender Schrei ließ die Kinder ängstlich zusammenfahren und er vergaß nie, wie sie plötzlich folgsam wie nie seinen Anweisungen folgten, sich eng an den Abhang
schmiegten und vorsichtig Fuß vor Fuß setzten, fraglos auf ihn sahen, um nur nichts falsch zu machen. Was mag in seiner Mutter vorgegangen sein in jener Nacht, in der sie sich nicht warnen ließ von den Sirenen, die einen neuen Luftangriff über der Stadt ausriefen. Hatten sie es nicht Nacht um Nacht zuvor auch getan und dann war nichts passiert, gar nichts oder doch nur wenig. Sollte sie ihren Kindern nicht den Schlaf gönnen, die unschuldigen Träume in der Geborgenheit ihres Bettes? Es ist wahrhaftig kein Vergnügen, mit zwei kleinen Kindern, hastig angezogen, durch die nachtkalten Straßen zu laufen, sie in den fechtkühlen Bunkerräumen auf harte Bänke zu setzen, und ihre pausenlosen Fragen zu beantworten, ihr Quängeln und Weinen zu ertragen. Aber sie hatte die Verantwortung, sie war die Mutter. Und sie war doch nur eine junge Frau in den besten Jahren, die noch etwas vom Leben erwartete und nun allein mit zwei Kindern durch einen sich ständig wiederholenden Terror gejagt wurde. Seine Mutter … Ein ungewisses Bild drängte sich auf, ein Treppenhaus, dunkel, und es waren Berge von Glasscherben auf dem marmorgleichen Boden, unten vor der Haustür, hinter der es rot von Feuer war. Und sie mußten über die Scherben laufen, barfuß wie sie waren, und sie liefen barfuß über die Glasscherben, und sie schnitten sich nicht. Später verglich er das mit einem mittelalterlichen Gottesurteil. Sie liefen barfuß über Glasscherben und schnitten sich nicht. Jetzt mußte er den Weg nachgehen, den Weg, den seine Mutter in jener Nacht des 24. Juli 943, gelaufen sein mag
mit ihren beiden Kindern an der Hand, panisch und wie gejagt. Er sah wieder die Flammen und die dunklen Schatten der großen Autos. Das war die Kirche, gar nicht weit entfernt von dem Park, unter dem seine Straße lag. Die Apostelkirche, roter Backstein, leider sehr verändert, nachdem sie viele Jahre später einmal gebrannt hatte. Den großen halligen Kirchenraum gab es nicht mehr, der ihm damals so angenehm kühl erschienen war, kühl und halbdunkel, erfüllt von Hunderten leiser Stimmen. Er konnte den riesigen Raum riechen, jetzt, fünfzig Jahre danach, hier, mitten auf der Straße vor den roten Ziegelsteinen der Kirchenwand, umtost vom Verkehr eines dicht besiedelten Stadtteiles, umhüllt vom Gestank der Busse und Autos, deren Insassen nichts wußten von dem, was für ihn gleichzeitig war. Oft war ihm dieser Duft durch den Kopf gegangen, wenn er fremde Kirchen besuchte, er war unverlierbar in ihm gespeichert, seit dieser Nacht damals war Kirche Schutz für ihn, kühle dämmrige Obhut. Und er roch noch mehr, er sog den Duft von Milch und Schwarzbrot ein. Es hatte Jahre gegeben, in denen er für sein Leben gern Milchsuppe aß mit hineingebrocktem Schwarzbrot, nur dieser Erinnerung wegen. Das hatten sie damals in der Kirche bekommen, Milch und Schwarzbrot. Lange danach wußte seine Mutter nicht mehr davon, und sie konnte sich auch nicht darauf besinnen, daß er in dieser Nacht des 24. Juli in die Hosen machen durfte, ganz einfach so in die Hosen machen. Wo hatten sie nur das Zeug hergehabt, sie waren doch im Nachthemd aus der Wohnung geflohen? Hatte seine Mutter nicht nur die
Kinder hinter sich hergezogen durch die brennenden Straßen, sondern auch noch Koffer oder Rucksack getragen? Sein Gedächtnis hatte davon nichts aufbewahrt. Nur dies: er durfte in die Hosen machen am 24. Juli 943, obwohl er doch schon drei Jahre alt war. Das Datum hatte er später seiner Erinnerung eingefügt, Kinder leben ohne Tag und Stunde, die Sommer sind ewig lang und gehen nie zu Ende. Er blieb lange stehen vor dieser Kirchenmauer. Er lehnte sich an sie und sah auf den ungerührt vorbeiströmenden Verkehr. Sie werden wieder Krieg machen, so als hätten sie nichts gelernt. Und wieder werden Mütter ihre Kinder in panischer Angst hinter sich her zerren durch verzehrendes Feuer. Und, ohne es zu wollen, betete er, daß auch sie kühle Kirchen finden mögen mitten in den Flammenmeeren.
Drei Seiten Papier Müde ließ sie sich auf den Mauerstumpf fallen. Sie trug die drei Seiten Papier in der Hand und blätterte mit einem Finger gedankenlos von Seite zu Seite. Daß so wenige Blätter so schwer sein können. Kein Wunder eigentlich, diese Schreibmaschinenseiten waren ihre ganze Welt, ihr ganzer Hausstand. Ihre halb geschlossenen Augen erfaßten die Worte: 1 Sofa 240,– RM. Das war’s, auf diesem Sofa hätte sie jetzt gern ihre Beine hochgelegt. Sie hätte sich vielleicht vorher noch auf 1 Gasherd 25,– RM mit 1 Kessel 2,80 RM Wasser gekocht und in der 1 Kaffeemühle 6,80 RM Bohnen gemahlen und mit div. Siebe, Filter, Backformen, Backhaube, Bratrost 20,– RM eine Tasse Kaffee gekocht, sie hätte bestimmt eine Tasse aus den 2 Kaffeegeschirre 63,50 RM genommen, wahrscheinlich die vom Indisch Blau. Und sie hätte sich ein Fußbad gemacht mit — wo hatte sie nur die Eimer angegeben? Da stand nur
1 Wanne 8,– RM und 1 Ruffel 4,– RM, aber kein einziger Eimer. Div. Besen, Bürsten usw. 18,– RM hatte sie auch aufgelistet, aber nicht einen Eimer. Würde sie nun im Frieden nicht mehr feudeln können? Und was wollte sie Fritz an sein Bett stellen, wenn er von einer Gefolgschaftsfeier betrunken nach Hause kam? Wenn doch nur wieder Frieden wäre! Doch was würde das für Friede sein? Kein deutscher Friede, bestimmt nicht. Was hatte Fritz vor drei Monaten von der Ostfront geschrieben? „Es muß alles gut gehen,“ meinte er, „gebe Gott, daß es uns zu Hause nicht so gehen wird, wie den Menschen hier durch mich und meine Kameraden. Wenn wir hier so fortfahren, wird man uns kennen und fürchten wie den Gott sei bei uns.“ Vorher erzählte er in seiner Feldpost: „Wir müssen nach festgelegten Normen Arbeitskräfte und Vieh kassieren. Der eine Mann des lettischen Militärs brachte die aufgebrachten Menschen und Tiere zur Straße. Wir anderen drei raubten das nächste Gehöft aus.“ Diese Sätze mußte sie mehrfach lesen, um sie glauben zu können. Aber so stand es da, warum sollte sie dem Vater ihrer Kinder nicht glauben, und so war es schließlich unkontrolliert bei ihr angekommen. Ihr Fritz, der so warme und zärtliche Hände hatte, in keinem Brief vergaß, seinen Kindern Tüschis zu geben, er plünderte Gehöfte aus. Was sollte das für ein Frieden werden? Den Engländern war doch auch nicht zu trauen, sie werfen auf bewohnte Städte Bomben — was wollten sie in Friedenszeiten mit den Überlebenden machen?
Sie schaute gegen die Sonne auf die hölzerne Baracke. Die Behörden waren schnell. Irgendwo mußten die Bombenopfer ja ihre Verluste melden. Für alles braucht man einen Stempel, sogar für das, was gar nicht mehr da ist. Die Organisation war nicht so schlecht. Die sehr freundliche Frau an dem alten Schreibtisch, er sah aus, als wäre er irgendwo aus den Flammen geborgen worden, hatte sich herabgelassen, die Einleitung für die Meldung des Totalschadens der Familie des Buchhalters und Kaufmanns Fritz Neubert zu formulieren. „Da die Ehefrau des z. Zt. im Osteinsatz befindlichen Unterzeichnenden ihre beiden Kleinkinder aus den sofort vom Einsturz bedrohten und in Brand gesetzten Wohngebäude retten mußte, konnte nichts vom Eigentum geborgen werden. Die Wohnung bestand aus einem Wohnzimmer, einem Eßzimmer, einem Kinderzimmer, einer Küche, einem Badezimmer, einer Speisekammer, einer Toilette und einem Flur. Sie ist total ausgebrannt. Darum werden zum Schadenersatz folgende Gegenstände angemeldet, wobei zu berücksichtigen ist, daß sich diese zum größten Teil in neuwertigem Zustande befanden, da die Ehe erst 938 geschlossen wurde.“ Den Inhalt der Hausapotheke, 6 Reichsmark, hatte sie angegeben, aber die Speisekammer tauchte nicht auf. Was sollte sie auch angeben: Schinken aus Schwarzschlachtung in Eiderstedt, Speck und Schweinewürste aus den Paketen ihres Mannes in Litauen, die tatsächlich durchgekommen waren? Weg mit Schaden. Hauptsache, sie hatte die Kinder heil aus dieser Katastrophe gerettet, auch ohne
1 Kindertisch 20,– RM, 1 Kinderstuhl 6,– RM, 2 w. Holzbetten mit Auflegem. (Kinderz.) 240,– RM, 1 Stahlkinderbett 60,– RM, 1 w. Kinderschrank 40,– RM, 1 Laufgitter 12,– RM, 3 Kindermäntel 86,– RM, 2 Kinderhüte 13,– RM, div. Kindermützen 11,50 RM, 11 Kinderkleider 130,– RM, 3 Kinderanzüge 70,– RM, div. Kinderbl. 18,– RM, div. Kinderschuhe 45,– RM — sie waren barfuß aus dem Haus gerannt. Nur schnell in den Keller, die Gardinen und Vorhänge im Schlafzimmer brannten schon. Sie hatte einfach darauf vertraut, daß auch diesmal nach den Vorwarnungen nichts passieren würde. Aber dann brach der Himmel auf und es regnete Feuer wie über Sodom. Sie erinnerte sich an ihren strengen Pfarrer, der im Konfirmandenunterricht vor den errötenden Mädchen glänzende Augen bekam, wenn er die Verfehlungen der Menschen in Sodom beschreiben durfte. Seine Frau sah sehr zerknittert und gebraucht aus. Sie buk den Mädchen immer Kekse, und es schien, als täten sie ihr leid, für die Jungengruppen machte sie das nicht, denen greinte sie nur immer nach, sie sollten sich nächstes Mal die Schuhe ordentlich abputzen.
Die Frau schüttelte sich und erhob sich schwerfällig. Mit langsamen, mühseligen Schritten ging sie über die freigeräumte Fahrbahn zwischen den Ruinen und Trümmerbergen die Straße entlang. Ihre klobigen Soldatenstiefel, die sie zugeteilt bekommen hatte, klackten laut in der Stille der Stadt. Aus den leeren Fensterhöhlen blendete die Sonne. Sie kam an dem ausgebrannten Kino vorbei, in dem sie damals ihren Fritz kennengelernt hatte. Sie dachte an die Wut ihrer Mutter, als sie guter Hoffnung war. Aber wie hätte sie anders eine schnelle Trauung durchsetzen sollen? Außerdem war Fritz sehr flott damals, den Hut immer ganz schräg auf dem Kopf, Glacéhandschuhe und den weißen Schal so verwegen um den Hals geschlungen. Und hatte sie nicht recht gehabt? Fritz liebte Kinder, darum war der Junge auch gleich hinterher gekommen, nur eineinhalb Jahre waren sie auseinander. Das Mädchen fast fünf, der Junge dreieinhalb. Und sie war jetzt neunundzwanzig Jahre alt. Sie erinnerte sich an die Frau von dreißig Jahren von Balzac. Mit Frankreich haben sie dann auch Krieg gemacht. Fritz hatte Arbeit, sie bekamen die neue Wohnung. Wie gerne ging sie mit Fritz in das Haus Vaterland, er trank immer Moselwein, sie bestellte sich den süßen Samos. Sie konnte sich nicht sattsehen an dem Varieté. Alles das war nun versunken unter Trümmern wie Atlantis in der See. Unwillkürlich knitterte ihre Hand die drei Seiten zusammen. Sie blieb stehen und faltete die Blätter sorgfältig zusammen und schob sie in ihre Manteltasche. Das schwor sie sich: diese Papiere würde sie aufheben, sie würde sie nie aus der Hand geben. Daran wollte
sie sich immer erinnern, auch wenn Fritz heil nach Hause kam: Meine Wohnung, mein Zuhause. Drei Seiten war die Liste lang. Ja, es ging ihnen gut, nur Fritz schien etwas zu ahnen. Schon Wochen vorher meinte er, diesmal gäbe es Krieg. Seine Geschäftspartner in London hätten so komische Andeutungen gemacht. Und sie sollte doch einmal darüber nachdenken, warum ihr Vater mit seinem Dampfer ohne Ladung zu übernehmen vorzeitig aus Rio gekommen wäre. Und sie war sich da ganz sicher: Als es losging mit Polen, in der gleichen Nacht, da hatte Fritz sie umarmt, und sie zeugten den Jungen. Ein Kind gegen den Krieg, sagte Fritz im Mai, aber da hatte er schon die Einberufung in seiner Brieftasche. Nun mußte sie sich beeilen. Ihre Mutter konnte nicht länger auf die Kinder aufpassen. Außerdem: jetzt griffen die Terrorflieger ja auch schon tagsüber an, und es graute ihr davor, in einem Bunker zu sitzen ohne ihre Kinder. Fast hätte sie begonnen zu laufen.
Eine Frage ohne Antwort Um diese Zeit gehören die Kinder ins Bett. Kinder brauchen den Schlaf vor Mitternacht und auch um Mitternacht. Kinder gehören zur Geisterstunde nicht in den Keller, auch wenn sie den Luftschutzraum gemütlich eingerichtet haben, sogar mit einem Teppich. Der kam von den Geists, er hatte sicherlich einen neuen von der Westfront mitgebracht. Schließlich war er Offizier, und was soll es, wenn man die Teppiche doppelt legt! Bilder hatten sie auch an die Wand geklebt, auch wenn’s nur alte Titelseiten der „Wehrmacht“ waren, die er wohl sorgsam bei seinem letzten Heimaturlaub ausgeschnitten hatte. Alles Soldaten, Kämpfer und Panzer. Plötzlich hingen sie an der Wand auf dem rauhen Putz und auf der Holzverschalung. Doch was half es. Hier sind sie wenigstens sicher. Draußen ist die Hölle los. So war es noch nie. Es kracht, als tobten zwölf Gewitter gleichzeitig. Und pausenlos ist das Schießen zu hören. Die Flak paßt auf. Jetzt liegen sie hier auf der Holzbank und die Augen fallen ihnen fast zu. Rose, das ist bald vorbei, gleich gehen wir wieder hoch und du kannst in deine Heia. Dann träumst
du wieder von der Prinzessin. Der Kohlenklau kann ihr nichts tun. Glaub mir, das geht wieder schnell vorüber. Du brauchst keine Angst zu haben, hier kommen sie nicht rein. Aber sie schrickt bei jedem Krachen zusammen und wimmert leise vor sich hin. Aber wie gut, daß ich sie sofort aus dem Bett gerissen hab, ohne Rücksicht auf ihren Schlaf. Irgendwie hatte ich es bei diesem Alarm im Gefühl. Das war nicht wie immer, auch wenn ich Rose eben angelogen habe. Das Schlimme ist, man hört ja gar nicht mehr hin. Schon mittags, zum Griesbrei mit Apfelmus gab’s Alarm und dann war gar nichts. Als ich sie endlich los war, der Streit im Schlafzimmer war verstummt, den Bleyle-Rock hatte ich endlich fertig, den großen Saum rausgelassen und dann neu umgenäht, alles mit der Hand, eine Maschine wollte Joachim mir kaufen, wenn der Krieg endlich vorbei wäre und man wieder Nähmaschinen machte. Vielleicht bekäme ich sogar eine echte Singer aus England, wie Mutti sie hat und pfleglich hütet, wenn wir wieder Freunde sind, wir Deutschen und sie. Gerade hatte ich mir ein Glas Mosel eingeschenkt, den Joachim mir mitgebracht hatte aus Dänemark. Die haben da alles, komisch, sogar Wein von der Mosel, dabei ist das doch ein deutscher Fluß. Ich wollte den ersten Schluck aufatmend nehmen, hatte das Glas schon in der Hand, da ging’s los. Schon wieder Sirenen — Alarm und ich betete nur, sie würden nicht aufwachen und das Geplärr ginge von vorne los. Aber sie wurden nicht wach, ihre Träume hielten sie fest. Nur die Große drehte sich einmal
kurz um, als ich vorsichtig die Tür öffnete. Und dann kam wieder Entwarnung. Nichts war’s gewesen. Aber dieser Alarm machte mir Angst. Vor Schreck bebend schmiß ich die Buddenbrooks auf den Rauchtisch und sprang auf. Die Jahresuhr von Großvater zeigte mit ihren dünnen goldenen Zeigern auf kurz nach Mitternacht. Es wurde eigentlich Zeit, daß ich auch ins Bett kam. Sie sind morgens immer so früh hoch und außerdem mußte ich um zehn bei Kellermanns in der Firma sein, die mich für’s Büro haben wollten, und das ist immer noch besser als in der Fabrik. Aber die Familie des alten Konsuls faszinierte mich, sie waren alle viel lebendiger, als die düsteren Gestalten aus dem Volk ohne Raum, auch wenn das von Grimm war. Ich hatte die Zeit völlig verschwitzt, aber hellwach und wie in Panik riß ich die Kinder hoch, half ihnen, mit zittrigen Fingern in das Zeug des Vortages, Rose trug mit einem Male Jochens Pullover, aber jetzt war alles gleich, Hauptsache runter in den Luftschutzkeller. Und da sind wir nun. Immer noch. Es nimmt kein Ende. Wir sitzen, hocken im trüben Kerzenschein, es könnte Advent sein, wenn nur nicht dieser Lärm wäre, die Stimmen, das Schluchzen und Weinen, das donnernde Grollen der Bomben. Wie es draußen wohl aussieht? Die Erde schüttelt sich bei den Einschlägen, die immer dichter kommen. Niemand wagt sich hinaus, auch der Luftschutzwart nicht, der sonst immer wissen will, was da oben los ist. Aber er geht nur durch die Reihen und redet leise auf uns ein. Aber so nötig haben wir das gar nicht, nur die Kinder und die
Franzosen. Aber Französisch kann er nicht, darum geht er gar nicht nach vorn, wo sie immer lauter jammern und durcheinander schreien. Er nickt mit dem Kopf zu ihnen rüber und sagt, sie seien feige, eben Franzosen. Aber warum sollen sie nicht schreien. Freiwillig sind sie nicht hier. Ich denke, sie wären lieber in Paris oder in der Provence und der Bretagne. Dort ist jetzt Ruhe, dort fallen keine Bomben und schießt keine Flak. Ich sehe so ein Lavendelfeld richtig vor mir, wie auf der Postkarte von Opa. Die Bienen summen, der Blütenduft weht im warmen Sommerwind zu mir. Ein schneidender Krach, ein grollendes Poltern zerstört meine Vision. Das Haus über uns? Unser Haus? Meine Wohnung? Der Donner nimmt kein Ende. Beißender Rauch läßt die Augen tränen. Jochen reibt mit seinen kleinen, dicken Fäusten in seinem Gesicht, Rose weint lauter. Immer mehr wird der Qualm. Es ist, als ob, wie im Sommer häufig, der Ofen gar nicht zieht, weil die Sonne auf dem Schornstein steht, dann rennen die Kinder immer aus der Küche, ich reiße die Balkontür auf und die Fenster, um Durchzug zu machen. Aber hier im Keller können wir nichts aufmachen. Der Luftschutzwart, dem die Kinder auf der Straße albern immer wieder Hühnchen hinterher rufen, weil er so ähnlich heißt, er steigt auf die Bank und greift an die Decke. Es wird immer heißer, sagt er, und es ist wirklich warm geworden, nichts ist mehr da von der Kellerkühle, die im Hochsommer so angenehm ist wie das Treppenhaus. Mir läuft der Schweiß in die Augen, zu dem Rauch noch dazu. Rose reißt sich den dünnen Pullover
über den Kopf. Der Träger ihres Hemdchens ist abgerissen. Immer mehr erhitzt sich die Luft. Kerzen verlöschen. Die Luft scheint knapp zu werden. Über uns muß ein wahres Höllenfeuer toben. Wir sollen hier gebacken werden, wie Brote in der Röhre fühlen wir uns. Rose und Jochen schreien wie die Laibe bei der Pechmarie: Hol uns hier raus! Hol uns hier raus! Mit metallen klackenden Stiefeln rennt ein Schutzmann an uns vorbei. Wo mag der nur jetzt her kommen? Ich hab ihn nicht wahrgenommen, als wir in den Bunker stürmten, auch unter den Folgenden war er nicht zu sehen. Er eilt an uns vorüber, sein Gesicht ist krebsrot, so als sei er wütend oder verzweifelt. Irgendwer ruft, der Notausgang ginge nicht mehr, alle Planken stünden dort in hellen Flammen. Der Schutzmann kommt zurück. Mit erstaunlich ruhiger Stimme befiehlt er, wir sollten uns fertig machen, wir müßten hier raus. Das hatte ich auch schon gedacht. Die Krause macht es mir vor, sie schlingt sich den dicken Wollmantel um den Kopf. Ich wühle hastig aus meinem Rucksack die Wolldekke und die Handtücher heraus und werfe sie den Kleinen über den Kopf. Ich selbst nehme Joachims Badehandtuch, das gute, noch Vorkriegsware. Ich weiß nicht, wie wir es schaffen, auch noch unsere Gepäckstücke an uns zu reißen, da drängen schon alle zur Tür. Gott bewahre, ich werde es nie vergessen, wenn ich und die Kinder dies hier überleben. Das Haus über uns ist weg, einfach weg ist es. Weg. Es brennt nur noch lichterloh das
Erdgeschoß. Wir strömen auf die Straße. Die zuckenden Flammen scheinen nach uns zu greifen, krampfhaft presse ich die Hände der Kinder. Sie fühlen keinen Schmerz. Ich glaube, sie spüren, was das hier ist, Todesgefahr. Sie pressen sich so eng an meine Beine, daß ich kaum noch Schritte machen kann. Aber ich muß laufen, ich muß mit ihnen rennen. Der Schutzmann läuft an unserer Marschsäule auf und ab. Bleibt in der Mitte der Straße, ruft er fortwährend, in der Mitte bleiben! Hier brauste an anderen Tagen der Verkehr. Wie die Schafe gehorchen wir. Die fauchenden Flammen strecken sich vergebens nach uns, nur ihre Glut brennt auf unseren Wangen, in unseren Augen. Im prasselnden und krachenden Lärm des Brandes ringsum war es mir noch gar nicht aufgefallen: Das Donnern der explodierenden Bomben ist nicht mehr da, es wird auch nicht mehr geschossen. Jetzt fliehen wir vor der Feuersbrunst. Überall brennt es lichterloh lodernd. Allmählich erkenne ich, wohin der Schutzmann uns lenkt. Wir laufen auf den U-Bahnhof zu. Auf der Treppe hinunter stürze ich beinahe und hätte die Kinder mitgerissen. Der Bahnsteig ist schwarz von Menschen. Wir drängeln uns weiter in seine Mitte oder werden von hinten geschoben. Hier ist die Luft deutlich kühler und reiner. Es riecht sogar nach U-Bahn. Dieser unverwechselbare Geruch blüht in meiner Nase auf wie ein Parfüm. Rose und Jochen hokken sich sprachlos auf die Steine. Ihr Weinen ist verstummt, sie sind verstummt. Wie ein Gespenst umklammert sie der überstandene Schrecken. Nach einer langen stillen Zeit im
Getümmel der Leute stößt Rose mich an. Mit geröteten Augen voller Tränen flüstert sie heiser: „Du, ob der liebe Gott das weiß?“ Ich kann ihr nicht antworten. Ich werde es niemals können.
Eine Mauer um die Stadt Er überlegte es sich. Die alte Zeiss Ikon hatte er dabei. Er liebte diese Blasebalgkamera, obwohl er sich liebend gerne 938 eine Leica gekauft hätte. Aber dann wurde Gerda geboren, und es mußte ein Kinderwagen gekauft werden, eine Wiege, Windeln und Luren, Flaschen und Wickelschrank — Karin bestand darauf. Schließlich ging es ihnen jetzt wieder besser, seit er wieder Arbeit hatte. Ja, es stimmte schon, er hatte erst sehr spät wieder Anschluß bekommen an seine Kommilitonen. Die hatten eben nicht in ihren Zeugnissen sechs Jahre bei Dr. Rosenbaum dokumentiert. Was galt es schon, daß Rosenbaum ehemals eine gute Adresse war, wenn eine Kanzlei für die kniffeligsten Fälle gesucht wurde. Sechs Jahre bei Rosenbaum? Sind sie etwa auch …? Nein, alles in Ordnung? Tut uns trotzdem leid, wir haben nichts frei. Karin hatte, weiß Gott, oft genug den schwarzen Anzug aufgebügelt. Aber den Flecken von sechs Jahren Rosenbaum konnte sie auch nicht aus den Oberhemden kochen, ruffeln und bügeln. Bei Weiß hatte es dann endlich geklappt. Nur Handelsrecht, ziemlich langweilig, aber es ging
ja allenthalben aufwärts, und er kannte sich auch im schwedischen Recht aus, das war eine Empfehlung. Wenigstens konnte er bei Dr. Weiß „Guten Morgen“ sagen, wenn er in die Kanzlei kam, auch wenn das Führerbild im Flur hing. Er hätte sich noch in Paris eine Leica kaufen können, aber dann kam das Telegramm von Karin. Drei Wochen war es ihm hinterher geschickt worden, von Witebsk nach Frankreich und quer durch dieses schöne Land. Flieger sind eben beweglich. Ein Wunder, daß es ihn gefunden hatte. Er selbst hatte nach den furchtbaren Nachrichten keine Verbindung zu Karin aufnehmen können. Einfach keine Antwort. „Komm sofort. Sind ausgebombt. Bin mit Gerda in Wesselburen.“ Er hatte das Telegramm noch in der Brusttasche seiner Uniform. Immer wieder hatte er es in dem ratternden Zug gelesen, bei jedem der langen Halts auf freier Strecke und überfüllten Bahnhöfen hatte er es aufgefaltet. War nicht leicht mit dem Urlaub, aber er kannte den Sonderführer und eine Flasche Henessy tat das Ihre. „Eigentlich brauchen wir jeden Mann, wir müssen immer wieder Leute an die Ostfront abstellen. Aber nun gut, eine Woche. Sie waren ja lange nicht mehr im Reich. Wissen Sie eigentlich, wo man Seide bekommt, ich meine echte Seide?“ Er wußte es und stand schon am Abend mit seinem Urlaubsschein am Gard du Nord. Und nach endlosen drei Tagen fand er sich vor dem Hof des Marschbauern. Links die Scheune, rechts ein etwas zerfallenes Altenteil. Und aus der regenverwaschenen Tür rannte Karin auf ihn zu. Es war eine lange Umarmung,
gefüllt von der Sehnsucht und Angst fast eines Jahres. „Wo ist Gerda?“ fragte er, als er wieder zu Atem gekommen war. „Sie liegt drinnen. Sie hat eine Gehirnerschütterung.“ „Jetzt noch?“ Immerhin war es fast vier Wochen her. „Nein, nicht davon. Sie ist auf die Tenne gefallen, sie haben auf dem Heuboden gespielt. Aber es geht ihr schon besser. Weißt du, sie kennt es noch nicht, so auf dem Bauernhof.“ Auf der Rückreise nach zwei wilden und heißen Tagen, die dann doch nach Frieden rochen und schmeckten und Urlaub, nach den kargen Erzählungen aus dem Grauen durch Karin, wollte er es sich nicht nehmen lassen. Sie konnte und mochte nicht über das Erlebte und Erlittene reden. Sie trank diese kurze Zeit mit ihm wie eine Verdurstende in sich hinein. Sie wollte sich nicht erinnern, sie wollte leben. Das Feuerinferno lag hinter ihr und sie verschloß es in ein steinernes Verlies. Er wechselte in Hamburg den Zug und besuchte die zerschlagene Stadt. Schon vor dem Hauptbahnhof bedrängte ihn die Frage: Wer soll das jemals wieder aufbauen? Ist das ein Alptraum oder Wirklichkeit? Wo sollten die Titanen herkommen, die all diese Trümmer beseitigten und Neues entstehen ließen aus der Asche, zu der andere Titanen diese Stadt zerbröselt hatten. Den Rest des Weges machte er zu Fuß. Er kannte seine Stadt, war jede ihrer großen Straßen wohl hundertmal gelaufen, aber nun befand er sich in einer völlig anderen Welt. Nichts hatte er auf seinem Marsch durch die bizarre Ruinenwelt wiedererkannt. Und nun stand er hier, vor seiner Gothenstraße, seiner Straße. Aber es war nicht mehr seine Straße.
Er wollte die Reste seines Hauses sehen. Aber er sah nur sinnlose Rückwände von ehemals ansehnlichen Häusern, leere Fensterhöhlen, durch die der blaue Himmel leuchtete, er roch nur Brand und Staub, dort hinten links, das war die früher nicht sichtbare Brandmauer des Nachbarhauses, und davor, dort, wo sie im dritten Stock gewohnt hatten, da war nichts, einfach nichts, soweit er sehen konnte, ein Loch war da, mehr nicht. Aber er konnte nicht weit sehen. Sie fangen schon an mit dem Wiederaufbau, dachte er, denn eine mannshohe Mauer versperrte ihm die Sicht, grob, mit behauenen Steinen aus den Trümmern und wenig Mörtel aufgeschichtet, verwehrte sie den Zutritt. An einem hölzernen Pfahl prangte böse ein Schild. Sperrgebiet, war sauber darauf gemalt, mit einem dicken schwarzen S, und darunter stand, für alle als eine bedrohliche Mahnung zu verstehen: Betreten nur mit schriftlicher polizeilicher Genehmigung erlaubt. Und ein freundlicher Mensch half dem Erkennen der Ratlosen nach mit dem wiedergefundenen und geretteten und hier nun angenagelten Straßenschild Gothenstraße. War doch etwas dran an den Gerüchten auf den Bahnsteigen und in den Zügen, hier lägen noch die Leichenberge. Aber die Ämter bestritten das. Aber das stimmte: Man hatte noch nicht alle Luftschutzkeller geöffnet. Doch Überlebende gäbe es nicht mehr. Wer hier lebend rausgekommen war, den hatten sie evakuiert. Wenn das Kind hineingefallen ist, wird der Brunnen zugedeckt. Er dachte an seine kleine Gerda. Sie hatte ihn schon wieder zur Bahn bringen können, und hatte mit wilden Schlenkerbewegungen ihrer braunen
Arme gewunken, bis der Zug um die Kurve verschwand. Er spürte, wie ein Lächeln um seinen Mund spielte bei diesem Gedanken, aber dann brannten die Tränen hinter seinen Augen, und unversehens schluchzte er auf. Die Tränen liefen haltlos über seine Wangen, als er sich nach Steinen umsah. Die konnte er nehmen, und den da. Dann aber erschrak er über das, was er tat. Verstohlen sah er die Straße hinunter, nach beiden Seiten. Aber hier ging keiner mehr. In diesem Stadtteil gingen nur noch die Toten. Er schichtete die Steine zu einem kleinen, wackeligen Haufen auf. Er stellte sich darauf. Gegen wen hatten sie wohl diese brüchige Mauer errichtet? Wollten sie ihre Schandtaten verbergen? Seit er im Osten gewesen war, war er vorsichtig bei Frage nach der Schuld. Am Rande des Flugplatzes hatte er sie unter einem Ginsterbusch entdeckt, Katjuschka oder wie immer sie hieß. Das Kopftuch um ihre blonden Haare, der Rock bis zu Hals hochgeschlagen, die Beine widersinnig verdreht und das Gesicht voller Blut. Die dicken schwarzen Brummer schienen vorsichtig auf der fahlen Haut zu laufen. „Russische Weiber,“ sagte sein Kamerad verächtlich, „sieh zu, daß du die Maschine wieder in Gang kriegst.“ So was kommt von so was, pflegte seine Mutter zu sagen, wenn er mit einem Dreier nach Haus kam. Oder hatten sie diesen Schutzwall gebaut, um den Ausgang der Toten in die Reste der Stadt zu den Lebenden zu verhindern? Er konnte nicht sagen, ob die wandelnden Gestalten, die er auf seinem Weg hierher getroffen hatte, wirklich lebten. Wenn Leiden Leben ist, dann
war es vielleicht so. Jetzt, jetzt konnte er die Straße einsehen, seine Straße. Auf dem Kopfsteinpflaster lag immer noch Schutt. Wie ein Dieb sah er noch einmal nach allen Seiten und griff nach seiner Kamera. Dieses Bild wollte er ihnen stehlen. Vom Nachbarhaus links stand nur noch das Erdgeschoß. Natürlich ausgebrannt, wie auch die Überbleibsel auf der anderen Straßenseite. Dort, im Erdgeschoß lachte immer das süße Fräulein mit den blonden Zöpfen. Sie trug eine schwarze Brille und erkannte ihn im Sommer, wenn das Fenster ihrer Kammer offen stand, am Schritt. Er hatte ihr eines Sonntags eine Rose vom Fischmarkt mitgebracht, ohne daß Karin davon wußte. Sie sog immer wieder mit tiefen Atemzügen von dem Duft der Blume und streichelte die weichen Blütenblätter. Ob ihre Zärtlichkeit auch verbrannt war? Er spürte nun ganz intensiv den Gestank einer gestorbenen Stadt, klappte seine Zeiss Ikon zusammen, nicht ohne den Film weitergekurbelt zu haben, und drehte sich abrupt um. Mit schnellen Schritten, als wollte er vor etwas Schlimmen weglaufen, schritt er zum Hauptbahnhof zurück. Eine Kugel des Tieffliegers über Holland blieb in der Kamera stecken. Die andere nicht.
Er kann sich gut erinnern Er kann sich gut erinnern. Die modernen Fassaden, Beton, Backstein, Chrom und Glas können ihn nicht täuschen. Die neuen Häuser sind nichts anderes als der Schorf auf einer Wunde. Schorf: die Filiale der Haspa, Schorf: der christliche Buchladen, Schorf: die Zweigstelle der Krankenkasse. Er sieht die Narben dieser Stadt, er sieht sie unter den Schnellstraßen und in den Häuserzeilen. Manchmal können es auch andere erkennen, jüngere, die nichts mehr wissen von dem vergangenen Inferno, sie sehen auch die einstöckigen kleinen Läden, den Bäcker da, den Klavierladen — das sind noch offene Wunden in dieser Stadt, Wunden, die nicht heilen wollen, auch nach über fünfzig Jahren nicht. Unter dem Buchladen mit der frommen Lektüre war einmal das Kino, rostiges Scherengitter und dahinter nichts, nur ein paar zerschlagene Mauern, wirre Steine auf gegossenem Fundament, darunter die Kellerhöhlen, zwei davon bewohnt, mit weißen Gardinen verhüllte Fensteraugen, die anderen nur dunkel drohende, leere Augenhöhlen. Und daneben, dort, wo sie jetzt sauber Geld bewegen auf grünen Teppichen,
da lachte sein Zeitungsmann, einbeinig, immer freundlich, immer gesprächig, er, einarmig in seiner kleinen Bretterbude voller Süßigkeiten, doch duftend nach frisch gedruckten Zeitungen, durchdringend und scharf, und wenn die Linie 30 oder die 27 klingelte und die dunklen Gestalten ausspie, dann verbarg sich das kleine Fenster hinter Mänteln und gebeugten Köpfen. Das war Leben, Leben nach dem Inferno. Was zählten die Trümmerberge, die sinnentleerten hohlen Mauerreste, da und dort noch mit Tapeten beklebt, wohnliche Wärme in den kalten Wind haltend, diese Schuttgebirge, hoch bis zum zweiten Stock, so daß man von ihren Gipfeln in unerreichbare Fenster schauen konnte in den wenigen Häusern, die überlebt hatten, diese schrundige Landschaft unter dem mit leuchtenden Lupinen bestickten Tuch, die aber als Blumen für die Mutter nicht dienen konnten, weil die Blattläuse sie erobert hatten — was zählte das. Das Leben geht weiter. Was für eine beleidigende Phrase, eine von denen, die sich immer so leicht einstellen, wenn wir des Grauens nicht mehr mächtig werden! Billige Wörter, drei Dutzend für einen Groschen. Das Leben geht nicht weiter, für die nicht unter den Trümmern, für die nicht, um deretwillen die Zerstörung ein Segen war. Der sehende Dichter lebt nicht weiter, den sie wie einen tollen Hund erschlugen, und er hatte doch nur einen Füller als Waffe. Der kleine Junge lebt nicht weiter, dessen zarten Kopf sie an der Mauerecke zertrümmerten. Und er wußte nicht, wie ihm geschah. Als sie ihn hochhoben und herumschleuderten, lachte er noch.
Das Leben geht weiter. Die Davongekommenen arrangieren sich. Sie arrangieren sich zwischen Trümmern und Bretterbuden. Sie kaufen sich Zeitungen und Süßigkeiten, wenn sie aus der 30 oder 27 steigen, um ihre Keller aufzusuchen oder ihre Zimmer in den überfüllten Wohnungen, hoffentlich briet die alte Frau nicht wieder Heringe, immer nur Heringe, wer hält das schon aus! Sie haben es geschafft und sind mit Vergessen beschäftigt, nach vorne denken, nur keinen Schritt zurück. Das Feuer ist gelöscht, sie werden auch noch die Trümmer abtragen. Nur ihre Schuld — sie trauen sich gar nicht heran, um sie abzutragen. Die Schuld liegt unter diesen ausgeglühten Ziegelbergen, unter diesen Ruinen. Sie ist so gut vergraben, kein Auge kann sie erkennen, sie ist so fern, so klein, versteckt im Dunkel der Keller. Wenn jemand in diese feuchten Verließe hineinruft, dann kommt zuweilen ein Echo zurück, schwach und wimmernd, eine Kinderstimme. So winzig ist Schuld. Aber die Erwachsenen haben sie nie gehört. Sie rufen nicht in leere, schwarze Kellerfenster hinein, das tun nur Kinder. Diese kleine zitternde Stimme, sie hatte nur geschlafen in ihm. Dann hörte er sie wieder, unentrinnbar gellte sie in seinen Ohren. Das war in jenem Sommer, als er seinen Kindern verbieten mußte, auf dem Rasen zu spielen, wie es das Recht aller Kinder dieser Welt ist. Sie sahen ihn an, so ratlos, so ängstlich, so unsicher. Warum dürfen wir nicht raus und auf dem Rasen spielen, die Sonne scheint, und es ist so heiß, bald wird es regnen, weiche, warme Tropfen auf unsere Haut. Tschernobyl ist ein fremdes Wort, und Strahlen —
ist Strahlen nicht schön? Kinderaugen strahlen, die Sonne lacht und strahlt, der Weihnachtsbaum strahlt, was soll schon dabei sein? Bickbeeren und Pfifferlinge — Sommerfreude und Herbstgenuß, warum dürfen wir das nicht mehr essen? Die Geschichte des Königs Midas half ihnen nicht viel. Zu Gold wurde alles, worauf er seine Hände legte, und schmählich mußte er darben bis in seinen Tod. Aber wir wollen doch gar nicht so viel, nur zwei Löffel Rührei mit Pilzen und eine Handvoll blauer Beeren! Er konnte es ihnen damals nicht erklären, aber die Stimme, sie schnitt in sein Trommelfell. Es half ihm selbst auch nicht die Erzählung vom Turmbau zu Babel, und sie werden doch alles tun, was sie tun können, es hält sie niemand auf, mag ihre Sprache auch noch so verwirrt sein. Er beschleunigte seine Schritte. An der Elbe, als unter den dunklen Wolken und der grellen Herbstsonne das Wasser wie geschmolzenes Gold und Blei an den Kai schlug, glitzernd, flimmernd, träge und doch zackig zerrissen, da fiel ihm die andere Geschichte ein, und da war er auch, der Regenbogen, ein in den Himmel gestellter Viertelkreis, blaßbunt und breit. Hier, genau hier und weiter dahinten hatte er gestanden, sich klammernd an den nassen Mantel der Mutter, die den Fischer anbettelte auf dem Ewer, der immer nur seinen Kopf schüttelte, und sie wollte doch nur ein paar Reste, die Köpfe vielleicht, man kann eine Suppe darauf kochen, die Kinder brauchen auch Fisch, das war gut gegen die englische Krankheit und er wußte nur, daß Fischsuppe immer noch besser schmeckte als Lebertran, eklig und ölig
auf dem großen Löffel. Nicht aufhören soll hinfort Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter. Nie wieder sollte die Flut der grellen kleinen Stimmen die Menschen ertränken, was immer sie auch tun … Was immer sie auch tun — und sie tun alles, was sie tun können. Sie stopfen sich Finger in die Ohren und tun, wonach ihnen der Sinn steht. Sie brauchen keinen zürnenden Schöpfer, der die Fluten aus der Höhe und der Tiefe ruft, sie können auch das noch selbst erledigen. Während er hinauf zum Regenbogen sah und hinunter auf das schmatzende Wasser, konnte er sich hineindenken in den Davongekommenen, der aus seiner Arche tritt, hinaus in die Verwüstung, aber lebendig, gerettet, wider Erwarten bewahrt und aufbewahrt. Jetzt hier an den Wassern der Elbe kann er verstehen, warum der Davongekommene niederfällt auf seine Knie, warum er ein sorgsames Opfer bereitet. Seine Kinder haben es geschafft. Sie leben, sie lachen, sie weinen. Sie streicheln und werden gestreichelt. Sie arbeiten und feiern. Warum hast du mich eine Arche vollenden lassen? Waren diese Granitblöcke, auf denen er stand, nicht jetzt, in diesem Augenblick, sein Altar, und der Rauch seiner Zigarette, die er in der hohlen Hand hielt, sein Opfer? Es sollen nicht aufhören Sommer und Winter, Saat und Ernte … Ein Frösteln schüttelte ihn durch; war es der winternahe Wind, war es seine Angst, die ihn schaudern machte, als er diese Worte aussprach: Es sollen nicht aufhören … Sieben mal siebzig mal ist die Maßzahl der Vergebung, er hatte oft daran gedacht, wenn er die Bonbonpapierreste aus
dem Kinderzimmer sammelte und schmutzige Unterhosen und Apfelgriepsche vom Teppich. Aber waren die Menschen nicht längst über diese 490 hinausgewachsen, und immer noch drehte sich ungerührt dieser Ball durch das All — nein, so ungerührt nun doch nicht, denn in Australien müssen sie sich vor der Sonne bedecken, und in Japan leiden und sterben die Arbeiter, die nicht schnell genug waren in der Atomfabrik. War es ihm nicht durch den Kopf geschossen, als die Erde in diesem letzten Jahr des Jahrhunderts wieder und wieder bebte; sie bäume sich auf gegen den Wahnsinn ihrer Bewohner? Für eine winzige Sekunde hatte er einen Fingerzeig gesehen, einen drohenden erhobenen Finger, und dann hatte er diesen Gedanken wieder verjagt, weil er der wachenden Vernunft nicht standhielt. Die Bewegungen der Erdschollen haben nun einmal nichts mit verlorener Unschuld zu tun. Es hätte sonst die Erde sich schütteln müssen unter Sobibor und Dachau, unter Auswitz und Bergen-Belsen … Wie lange noch gilt diese Zusage; wenn er es nur wüßte, um seine Kinder zu warnen, es sollen nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht … Das war ihm gewiß, so sicher und fest wie der Granit unter seinen Füßen, die Nacht war heraufgekommen und der Morgen ferner denn je. Und diese Nacht wird kälter und unwirtlicher sein als alle Nächte dieser Welt und länger auch. Wieder schauerte es durch seinen Körper. Die kleinen Stimmen gellten in seinen Ohren. O Gott, sagte er, als er sich vom Wasser umwandte, o Gott …
Fast hätte sie laut gelacht Fast hätte sie laut gelacht, aber ihr Lachen in dem sonderbar gedämpften Stimmengewirr wäre bitter gewesen, und niemandem hier von all den Gestrandeten war zum Lachen zumute. Außerdem fürchtete sie sich, auch ein zerquältes Lachen hätte die anderen in dem halligen hohen Kirchenraum erschreckt. Und Schrecken hatte es genug gegeben in der letzten Stunde. So verzogen sich nur ihre Mundwinkel ein wenig, so daß ihre kleine Tochter unter ihren stillen Tränen lächelte. Das Gesicht ihrer Mutter schien ihr Mut zu machen. Sie waren durch die Hölle gegangen, nein, gelaufen, nein, gerannt, und es hatte um sie herum mehr Feuer gewabert als auf allen alten Bildern, die sie je von der Hölle in den frommen Büchern gefunden hatte. Das konnte sich auch kein Mensch ausdenken, nur machen konnten sie es, sie konnten ihnen diese Hölle bereiten. Aber nun war Ruhe in dem Dämmerlicht unter den hohen Bögen der Decke, und sie saßen an die rote Backsteinwand gelehnt auf den angenehm kühlen Steinen des Bodens. Eine beruhigende Stimme verkündete, es gäbe Magermilch
und Brot am Altar, die NSV wäre da. Ein Soldat neben ihrer kleinen Gruppe erhob sich sofort und stakste storchenhaft und unsicher durch die Menge der anderen, die hier wie sie in engen Gruppen beieinander hockten, nach vorn. Seine Mütze hatte er in seiner Faust, immerhin war dies eine Kirche. Woher hatte es wohl den hierher an die Heimatfront verschlagen? Ob er es sich an der Front erträumt hatte, hier in diesen Schlamassel zu geraten? Vielleicht war es draußen im Felde ruhiger. Habt ihr Hunger, fragte sie ihre Beiden, möchtet ihr etwas trinken? Beide schüttelten den Kopf. Der Junge schlief schon beinahe wieder. Kinder mit drei Jahren sollten die Nächte durchschlafen können. Sein Kopf war auf die Seite gefallen. Im Schlaf entspannte sich sein Gesicht nicht, es erschien ernst. Ob vor seinen müden Augen die Bilder tanzten von Flammen, Glassplittern und dunklen, eilenden Schatten? Fast hätte sie gelacht. Sie drückte in ihrer Manteltasche den Schlüssel in ihren schwitzenden Händen. Ordnungswidrig hatte sie abgeschlossen, sie erinnerte sich genau, sie hatte ihre Wohnungstür abgeschlossen, obwohl die Vorhänge und der Schrank im Schlafzimmer schon brannten. Sie ließ die Flammen und ihre Möbel und Portieren allein in der neuen Wohnung. Sie schloß sie sozusagen hinter sich weg, wie sie es getan hatte, wenn ihre Eltern sich stritten, damals, vor fünf Jahren, damals, als ihr Vater noch nicht in Dänemark auf seinem Vorpostenboot war, damals, als es noch keine Flieger gab, die nachts kamen und alles verbrannten.
Wird man eines Tages wieder von Friedenszeiten reden wie von diesen Jahren? Sie dachte jetzt schon wie ihre Mutter, die nie ihre tollen Jahre vor dem großen Krieg vergessen konnte. Ob dies auch einmal ein großer Krieg wird? Sie kannte auch noch das blitzartig aufbrechende Gefühl an der Tür, als sie den Schlüssel umdrehte, und daß sie dachte, das war’s denn. Aber dann griff sie wieder nach ihren Kindern, nach ihren kleinen heißen Händen und riß sie die Treppen hinunter, hinunter auf die Straße, die aber voller Flammen war, sie riß sie über die Berge von Scherben, die Scheiben der Eingangstür waren zersprungen, nun find einmal einen Glaser, dachte sie noch, und sie spürte die Hitze, die ihr aus dem reißenden Strom der Flammen entgegenschlug. Sie sah sich sitzen, letzten Sonntag, ja, fast eine Woche war es her, an der von Mutter geliehenen Nähmaschine saß sie, und die gute alte Singer, sie schaffte sogar diesen dicken Stoff, den Vater aus Dänemark geschickt hatte, sie ratterte die letzte Naht an den Übergardinen für das Wohnzimmer. Endlich konnten die alten Holzrahmen mit der Verdunklung aus Rollopapier weg, und ihre neue Wohnung war fertig, ihre neue Wohnung, die erste eigene Wohnung ihres Lebens. Endlich wohnte sie mit Rudi und den Kindern nicht mehr zur Untermiete, sie konnte nun in ihrer Küche, in ihrer eigenen Küche, schalten und walten, wie sie wollte, sie mußte keiner Vermieterin mehr zulächeln, obwohl sie doch lieber die Zunge rausgestreckt hätte. Nicht wieder den Kindern ein Pscht zurufen, wenn sie schrien, nie wieder ihre Tochter festhalten, wenn sie über den langen Flur
rennen wollte, weil Fünfjährige sich eben austoben wollen. Eine eigene Wohnung und drei Zimmer sogar. Mutter hatte den Samos angebrochen, als sie die Wohnung zugewiesen bekamen, die Flasche von Onkel Herbert, und der Wein lief ölig im Glas herunter. Sie mußten nicht einmal viel machen in der Wohnung, die Cohns waren wohl sehr saubere Leute gewesen. Sogar das Klobecken wirkte wie geleckt und der Handstein hatte nur eine kleine Stelle in der Emaille. Sie drückte den Schlüssel in ihrer Manteltasche. Einen Wintermantel mitten im Sommer, aber er paßte nicht mehr in den Rucksack, und so hatte sie wenigstens einen Wintermantel, keine eigene Wohnung mehr, aber einen Wintermantel aus englischem Stoff. Und die Engländer zertöpperten ihre Wohnung. Der Angriff wollte nicht enden. Immer noch die Donnerschläge, manchmal meinte sie, den Boden beben zu spüren, immer noch keine Entwarnung. Wie lange ging das nun schon? Sie konnte die kleinen Zeiger ihrer Uhr am Handgelenk im Dämmerlicht nicht erkennen. Und Rudi war so stolz gewesen, ihr diese besonders kleine Uhr schenken zu können, Schweizer Uhrwerk sagte er immer wieder, Schweizer Werk. Hinter den schmalen hohen Glasfenstern der Kirche war es dunkel, sonderbarerweise. Das Feuer toste wohl nur am unteren Ende der Grädenerstraße. Das stimmte, auf den letzten fünfhundert Metern ihres Fluchtweges hatten sie die Flammen hinter sich gelassen. Wären die anderen hastenden dunklen Gestalten nicht gewesen, sie hätte ihrer Uta die nächtlichen Straßen zu einem Erlebnis machen wollen.
Der Mond ist aufgegangen … Aber es gab keine Sterne, nur die grellen Feuerbälle und die glasigen Lichtfinger der Flak. Und der Geruch von Feuer, das Grummeln und Donnern der Einschläge, manche so nahe, als wäre es neben ihr. Warum war sie mit ihren Kindern nur nicht in den Luftschutzraum gegangen? Was würde Rudi sagen, wenn sie ihm das alles schrieb? Nein, sie würde nicht schreiben, sie würde ein Telegramm aufgeben. Aber morgen war Sonntag. Also am Montag. Doch sie würde es erzählen müssen, wenn er wieder Urlaub hatte. Schon Uta wird es erzählen wollen. Die Große schlief nun auch. Sie war so tapfer neben ihr hergelaufen, kein Jammern, kein Klagen, nur ein großer Schrecken in den Augen. Seit fast drei Wochen hatte es zwar ein paar Alarme gegeben, aber es war doch nie etwas passiert, und die Kinder sollten doch schlafen, wie es sich für Kinder gehört. Außerdem war es so schön in der neuen Wohnung, in der alles seinen Platz gefunden hatte. Sogar die Kisten vom Umzug hatte sie mit der Schottschen Karre von Kohlen-Schmidt zu Frau Rasmus gebracht. Alles war in Ordnung, die erste Wäsche hing noch auf dem Boden. Oh Gott, die ganze Bettwäsche! Nein, auf dem Boden hing sie wohl doch nicht mehr. Wenn schon das Schlafzimmer in der dritten Etage brannte, dann würde es keinen Wäscheboden mehr geben. Oh Gott, hatte sie gedacht, oh Gott. Wie passend! Sie hätte es sich nicht träumen lassen, so schnell bei der neuen Wohnung in die Kirche zu kommen. Irgendwer hatte durch das Feuer die Parole gerufen, laut genug über allem Brechen und
Knattern, in die Apostelkirche, in die Apostelkirche! Und es war sogar Sonntag. Da wird aber um zehn kein Gottesdienst sein … Fast hätte sie wieder gelacht. Bitter. Aber die Große war wieder wach. Sie hatte Durst. Ob sie den Werner schlafen lassen konnte? Vorsichtig und leise stand sie auf. Ihre Glieder und Knochen waren ganz steif. Irgendwie hatte sie die ganze Zeit wie verkrampft still gesessen. Der Soldat war vor einiger Zeit zurückgekommen, einen braunen Becher in der einen Hand und in der anderen Scheiben Schwarzbrot. Seine Mütze hatte er unter den Arm geklemmt. Komm, flüsterte sie, obwohl in dem großen Raum ein Lärm in der Luft stand, wie auf einem überfüllten Bahnhof. Uta räppelte sich hoch. Zusammen suchten sie sich mit den Füßen tastend einen Weg zum Altarraum. Überall lagerten Menschen, standen Gepäckstücke, Rucksäcke, Koffer. Einer hatte eine Kuckucksuhr gerettet. Uta hat noch nie einen Altar gesehen, dachte sie. Ob sie wohl weiß, was das ist? Eine Schwester vom roten Kreuz stand auf den Stufen und verteilte aus einem Kübel Milch. Eine andere schnitt auf dem Altar Brotlaibe. Als sie sich umdrehte und ihr und der kleinen Uta irgendwie feierlich drei Scheiben Brot in die Hand drückte, mußte sie an eine Zeit denken, die lange zurücklag. Diesmal lachte sie schrill und laut auf. Uta erschrak. Alle anderen vor den Altarstufen starrten sie an. Plötzlich war eine große Stille um sie herum wie eine Glocke, und in diese Stille hinein sagte sie noch, für alle drumherum hörbar: Christi Leib, für dich gebrochen. Die Schwester sah
sie ernst an, zeigte nickend auf die Milch verteilende Mitschwester und sagte tonlos: Christi Blut, für dich vergossen. Sie hatten sich verstanden. Niemand hatte es gemerkt. Sie suchte sich, die Metallbecher mühsam gerade haltend, den Weg zurück, zurück zu ihrem hoffentlich noch schlafenden Werner.
Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein Mühsam drehte sich die alte Frau auf die Seite. Liegen, immer nur liegen, war sie nicht früher stets auf den Beinen gewesen? Nun setz dich doch einmal hin, nun spring doch nicht immer gleich auf! Gönn dir doch auch einmal Ruhe! sagten die anderen. Bei den Familienfeiern, wenn fast alle gegangen waren, dann war sie es, die die überfüllten Tische abdeckte, das Geschirr und die Gläser spülte, die Reste versorgte, man kann das doch nicht liegen lassen, wenn man dann morgens ins Wohnzimmer kommt, und die vollen Aschenbecher, das stinkt doch. Ihr Leben lang war sie immer in Bewegung gewesen, vier Kinder halten eine Mutter schon in Trab, und es gab damals noch nicht all diese feinen Maschinen, zum Waschen, zum Spülen, zum Staubsaugen. Der große Wäschetopf auf dem Herd, er war wahnsinnig schwer, die ganze Küche war voller Dampf, und dann das Ruffeln, die Fingerknöchel waren noch Tage danach gerötet; was war der Waschtag für ein Umstand damals, die Kinder mußten Milchreis essen, der wurde ins Bett gestellt, und man war froh, daß man das hatte, Milchreis, auch wenn die
Kinder ein Gesicht zogen. Nicht einmal einen Kühlschrank hatten sie, die Butter wurde im feuchten Leinensack auf den Balkon in den Schatten gehängt, damit sie nicht weglief. Alle Glieder schmerzten. Sie wird den Arzt wieder um eine Spritze bitten. Was war es nur, daß sie so leiden mußte? Warum gerade sie? Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, dachte sie, ich hab dir doch nichts getan, meine Kinder sind etwas geworden, trotz allem, ich habe doch niemandem weh tun wollen, warum tust du mir weh? Es wird wieder warm werden heute, auch wenn ein kühler Luftzug vom offenen Fenster über ihr Gesicht strich. Die Vögel veranstalteten ein Konzert in den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne. Sie scheint über Gute und Böse, dachte sie, sie macht keinen Unterschied, und die Amsel sang aus vollem Halse. Eigentlich bin ich undankbar, dachte sie zum lauten Lied der Amsel. Wenn ich es recht bedenke, wenn ich es recht bedenke … Ich hätte mir nicht träumen lassen, nie hätte ich mir es träumen lassen, daß ich diese Sonne heute noch sehe, und diesen Vogelgesang höre, heute noch. Sie sah sich wieder sitzen in der Wohnküche auf dem Wachstuchsofa, sie hörte wieder die Stimme des Radiosprechers: Bomberverbände im Anflug auf … Im Flur standen die Rucksäkke der Kinder, bereit für den Alarm, die Kleinen lagen mit den Stiefeln im Bett, das Zubinden dauerte sonst zu lange, und man konnte doch die Stiefel nicht zurücklassen, war schwer genug gewesen, noch Kinderschuhe aufzutreiben, sie sah sich sitzen auf dem Wachstuchsofa, sie spürte ihre
Müdigkeit von damals, ihre Angst und Verzweiflung zur Stimme des Ansagers, diese Nacht, die nächste Nacht, und wieder und wieder … Der Tiefbunker wurde getroffen, die Türen flogen heraus, sie mußte zum Bergen wieder ’runter, nachdem sie die Kinder ’raufgebracht hatte, 57 Leichen gruben sie aus, eine lange Reihe sind 57 Tote, und ihre Kinder lagen oben im Bett und schliefen. Er hat doch die Hand über uns gehalten, dachte sie. Da war doch eine Hand gewesen, die sie beschützte, auch wenn sie sich damals alleingelassen fühlte. Wenn man so mittendrin ist, dann will man es immer nicht glauben, aber da ist doch jemand, der uns sieht und begleitet. Als dann die Nachricht kam, gefallen in einem Waldgebiet in Polen, nachdem er sich besonders hervorgetan hat im Gefecht, an der Rollbahn haben sie ihn begraben, und sie sollte nun die vier durchbringen, vier Kinder, und sie war doch auch erst dreißig, eine junge Frau noch, die tanzen möchte, die für ihr Leben gern tanzte, und nun sollte sie mit vier Kindern allein … Auf dem Rangierbahnhof Kohlen klauen, und dann kamen sie mit Hunden, zwei Monate auf Bewährung gab es, der Richter lächelte, er wußte, daß sie wieder gehen würde, und dann das Hamstern, der Obstbauer, der ihr die Äpfel hinterher warf, Äpfel, Äpfel, und die Scham, wie eine Bettlerin sie aufzusammeln, aber sie hatte es geschafft, sie hat ihre Kinder durchgebracht. Da muß doch jemand gewesen sein, der seine Hand darüber hält. Ich will nicht klagen wie ein altes Weib, dachte sie, ich will nicht klagen. So ein langes Leben, da war schon auch
Sonne gewesen in diesem langen Leben. Wer hatte ihr denn den Kurt in den Weg gestellt auf dem Busbahnhof? Er lachte sie an, sie hätte es nie gedacht, daß jemand sie noch einmal anlächeln würde, und dann zog er zu ihr, und sie konnten nach Spanien reisen, nach Portugal. Die langen Wellen des Atlantik, der weite Strand, es muß doch einen Schöpfer geben, der sich diese schöne Welt ausgedacht hat! Wie glücklich waren sie gewesen auf dem Balkon ihres Zimmers mit dem Rotwein und dem herrlich weißen Brot, und der Himmel war voller Sterne, unzählig viele Sterne, wie ein silbern durchwebter samtener Teppich war dieser Himmel, so etwas hatte sie noch nie gesehen, nicht einmal geahnt hatte sie, daß es so etwas gibt. Damals hatte sie gebetet, Danke! hat sie gebetet, Danke! Als der Kurt dann den Unfall hatte, betrunken natürlich, und es kam heraus, daß da noch eine andere war, und er zog zu der anderen, da hatte sie gemeint, das Leben wäre zu Ende, vorbei wäre alles. Da war auch wieder die Klage in ihrem Mund: Warum ich, warum muß gerade mir so etwas passieren. Wie ein störrischen Kind stand sie vor ihrem Gott. Es gibt dich gar nicht, schrie sie, es gibt dich nicht, du kannst so etwas nicht zulassen. Was hab’ ich dir denn getan! Aber dann waren da die Kinder, die ihre Schule machten, die Lehre, das Studium, und alle haben es geschafft, auch wenn es Umwege gab, auch wenn sich die Älteste viel Zeit ließ und immer diese Männergeschichten hatte, auch sie hat es geschafft, es war eine große Feier zu ihrem Diplom,
und der Professor hatte sie beglückwünscht, sie, die Mutter und nicht die Tochter, die doch das Diplom nun endlich gemacht hatte. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. Sie konnte nichts anfangen zuerst mit diesem Spruch, der ihr Taufspruch war. Ihre Mutter hatte diesen Spruch auf die Rückseite des braunen Fotos geschrieben, auf dem sie mit ihrer Tochter zu sehen war, das lange weiße Taufkleid ist auch mit verbrannt damals, nur die beiden älteren hatten es noch tragen können, dieses Foto hatte als einziges aus ihrer Kindheit den Krieg überstanden. Mutter wollte mir immer die Alben noch geben nach der Hochzeit, aber dann kam der große Angriff und alles war weg, zu spät … Damals, bei diesem Fest zum Diplom der Ältesten, da fiel ihr dieser Spruch wieder ein. Und da sah sie es vor sich, wie ein durchsichtiger Mantel erschien es ihr, wie eine Glocke über ihr, dieser Schutz und Schirm des Vaters im Himmel, richtig erwählt kam sie sich vor, stark und stolz fühlte sie sich, wie so ein richtiges Kind Gottes. Er wird mir eine Spritze geben, und dann werden die Schmerzen aufhören, dachte sie. Heute wollte die Kleinste kommen und sie wollte ihre Kinder mitbringen. Dann wird es wieder hoch hergehen hier in dem engen Zimmer. Die Kleine hat es schwer mit ihren Kindern, auch sie muß es nun allein schaffen, weil er auf und davon ist wie ein Vogel. Sie muß aufpassen, daß sie nicht verbittert. Sie wirkt immer so genervt und müde. Vielleicht kann ich es ihr sagen. Sie muß nur mal mein Leben durchdenken. Nicht weil ich so
großartig bin. Ich hätte es auch nicht allein geschafft. Aber weil da jemand ist, der uns mitträgt, jemand, der uns gerufen hat, und der uns nicht vergißt. Es kommt nur darauf an, wie wir unser Leben ansehen, mit welchen Augen. Da ist schon etwas dran, daß wir dankbar sein sollen. Nichts ist selbstverständlich, gar nichts. Sie hatte es oft gedacht, vor allem bei Reisen ging es ihr durch den Kopf: Irgendwo startet das Auto, das mich überfahren wird. Sie hörte es richtig, wie der Motor angelassen wurde, irgendwo. Und dann kam sie doch heil an. Das war diese Glocke über ihr, das war wie ein Vater, der sagt: Tu meinem Kind nichts an! Das ist mein Kind! Wenn ich einmal vor ihm stehe, dachte sie, und sie hatte keine Angst davor, dann werde ich ihn fragen, warum er mich durch diese dunklen Täler geführt hat, gewiß werde ich ihn fragen. Ich werde ihm schon sagen, daß ich gerne häufiger getanzt hätte, als ich jung war. Ich werde ihn auch fragen, warum das Altwerden so weh tun muß. Aber ich werde ihm auch Danke! sagen. Danke, daß du mich hast durchkommen lassen, daß du mich so hast durchkommen lassen. Ich werde ihm sagen, daß ich ihm nicht böse bin. Er hat mir nicht versprochen, daß alles ganz einfach und leicht gehen wird. Er hat mir nur gesagt, daß er mich nicht verläßt. Und das hat er auch nicht. Er hat mich immer begleitet, eigentlich war er immer da, auch in den dunkelsten Zeiten, auch wenn ich ihn nicht gemerkt habe. Sie fühlte sich, als läge sie in einer großen warmen Hand.
Kellerratten Haar und Bart waren grau, fast weiß. Sein Gang glich dem alter Männer, leicht vornüber geneigt und steif erscheinend. Aber er war einer der eifrigsten, rastlos griff er bei allem zu, er stand bereit, wenn es den anderen zu eklig und mühselig wurde. Sie gewöhnten sich daran, bei solchen Aufgaben den Kopf in seine Richtung zu wenden und ihm zuzunikken, und er kam jedesmal ohne Zögern heran. Viele hatten sich Tücher um den Mund gebunden, er nicht. Viele trugen trotz der Hitze Handschuhe. Er nicht. Er faßte an, mit bloßen Händen. Als er an der ameisengleich schuftenden Kolonne der Häftlinge aus dem KZ vorüberging, auf dem Weg zur nächsten Ruine, zum nächsten Keller, sah er nicht weg wie die meisten, sondern verzögerte seinen Schritt, sah ihnen ins Gesicht, wenn sie aufblickten, aber sie schauten selten hoch. Er murmelte unverständlich etwas vor sich hin, es klang seinem Nachbarn wie eine Entschuldigung. Dann schlurfte er weiter, mit den anderen in die nächste Ruine, zur nächsten Kellertür.
Irgendwer mußte diese Arbeit machen. Unter der Erde, unter den Trümmern lagen noch so viele Menschen, die jemand vermißte. Aber sie waren längst namenlos geworden, wurden auch von niemandem erkannt, denn außer dem Leichenbergungstrupp kam niemand über die Trümmerberge durch diese Straße. Einmal trafen sie auf eine kläglich schreiende Katze, wer weiß, in welchem Winkel sie hatte überleben können, als der Tod alles Menschliche fraß. „Paß auf,“ sagte einer der Jungen, in kurzen Hosen, zu denen seine Mütze von der Flak nicht recht passen wollte, und er stieß einen blonden Brillenträger in die Seite, der wohl schon viele Bücher gelesen hatte, „sonst holt sie dich noch. Wir sind jetzt die Kellerratten.“ Es war nicht leicht, in die Keller zu gelangen. Viele Türen waren verbeult und verzogen, Schutt mußte mühsam beiseite geräumt werden, oftmals jedoch gab es keinen anderen Weg in die verschütteten Räume als durch die Kellerdecke oder die Wände, die erst einem Vorschlaghammer nachgaben. Weder die sommerliche Hitze, noch der Staub, noch der Gestank schienen dem alten Mann etwas anhaben zu können. Mitleidig fragte einer der Arbeiter, ob es ihm nicht zu viel werde, aber er schüttelte nur den Kopf und sagte heiser: „Ich war in Verdun dabei.“ Mehr nicht. Er wich auch nicht zurück, wenn jetzt, noch Tage nach dem Inferno, erwärmte Luft aus den geöffneten Türen und Löchern strömte und mit ihr der furchtbare Todesgeruch sich in den Nasenflügeln breit machte. Die aufgebrochenen Räume waren in ihrer Dunkelheit selten feucht und kellerig.
Eher glichen sie Backröhren mit ihrer heißen und trockenen Luft. Die Keller sahen aus, als hätten betrunkene Titanen in ihnen gehaust, Matratzen, Decken, Tücher, Töpfe, Blechdosen, zersprungene und unversehrte Gläser Eingemachtes waren wirr zerstreut zwischen Trümmern und Mauerwerk, Betten fanden sich, Stühle, und vor allem Eimer, Eimer. Öfen waren aus der Wand gerissen, Leitungen ragten sinnlos ins Freie. Zwischen dem zerschlagenen Hausrat fanden sie häufig nur atemlose Leere, aber viel zu oft auch gräuliche Asche mit weißlichem Gebein, manchmal auch Stoffetzen und Knöpfe als Zeichen der für immer verstummten Menschen. Schlimm wurde es jeweils dann, wenn das Feuer seine Arbeit noch nicht ganz verrichtet hatte. Der staubig-graue leitende Angestellte in seinem dunklen Anzug brüstete sich mit seiner Kenntnis der umlaufenden Fachausdrücke. „Eine BB“, bemerkte er, oder auch: „Nur Bombenbrandschrumpfleichen“, bei anderer Gelegenheit hieß es kurz: „Eine Aschleiche“. Was das war, sagten die Worte nicht. Stark verkrümmte, hart erstarrte, gebeugte Leiber, oft in der Haltung, als würden sie das letzte Duell mit dem Tod ausgefochten haben, kaum noch ließen diese Leichen, von gläserner, schwarzbrauner Haut bedeckt, die Menschen erahnen, sie waren tatsächlich geschrumpft, klein geworden. Einige Körper hatten ihr Fett als eine teerschwarze, dicke und klebrige Masse um sich herum auf den Boden auslaufen lassen. Hin und wieder betraten sie einen Kellerraum, in dem das Sterben ganz unvermutet und plötzlich die Menschen
erfaßt hatte. Sie saßen nun regungslos vom Tod ereilt auf den Stühlen, einigen war das Kopfhaar angesengt, es waren Mütter dabei, die ohnmächtig ihre Kinder an sich preßten, einer war das tote Kleine hilflos aus dem Arm gerutscht. Viele hatten sich wie gegen den Schrecken Tücher und Decken über den Kopf gezogen, hin und wieder trug eine Leiche den vergeblichen Stahlhelm. Gespenstisch erschraken die bergenden Männer vor den Gasmasken mit ihren großen Gläsern, hinter denen keine Augen mehr standen. Die Überlebenden sammelten die Überreste des Lebens ein, schafften sie hinaus, dorthin wo einmal die Straße war, und wo sie eine schuttfreie Stelle fanden, reihten sie die Toten in peinlicher Ordnung auf. Andere würden kommen und sie hier wegschaffen. Ohlsdorf ist der größte Friedhof Europas, sagen die Hamburger stolz. In einer der geöffneten Grabkammern erschraken die Bergenden zu Tode. Sie waren noch erleichtert gewesen, als sich die scheinbar unversehrte Tür mit einem einfachen Brecheisen öffnen ließ. Nur die völlig sauber abgebrannte Farbe ließ das nackte Metall der Tür matt im trüben Licht der Sonne aufleuchten. Knarschend bewegte sich die Luftschutztür in ihren Angeln. Heiße Luft schlug ihnen entgegen, wie sie aus einem Backofen kommt, wenn das Brot gar ist. Da erkannten sie, daß sie die Pforte zur Hölle geöffnet hatten. In der frischen Luft erglühten die kleinen schwarzen Hügel der einzelnen Leichen, begannen mit wachsenden Flammen zu brennen, brannten bald lichterloh. Schaudernd schauten die Männer zu, wie die Toten zu Asche wurden.
In den Gesichtern der fassungslosen Männer zogen Tränen eine helle Bahn durch den Staub. Das Knistern des Feuers mischte sich mit ihrem Schluchzen. Sie verharrten regungslos wie in Andacht und schauten den züngelnden Flammen zu. Der Grauhaarige stand unbewegt in der ersten Reihe. Erst viele Keller weiter erstaunte der alte Mann seine mitschuftenden Kameraden. „Das ist mein Haus“, sagte er vor der sinnentleert allein stehen gebliebenen Tür, eine schöne, mit Schnitzereien versehene Haustür war es, nur leicht angekohlt. Ihr schnörkeliger steinerner Rahmen war unversehrt, eine geschwärzte Schöne mit nackten Busen schaute lächelnd von oben herab auf die Schar der unrasierten, staubigen und erschöpften Männer. Das Haus, zu dem sie einmal Zugang gewährte, war zu einem aufgetürmten Haufen von Steinen und Geröll zusammengefallen. Zwei noch kräftige Männer brachen die Tür auf. Sie trafen auf den gewohnten, ekelerregenden Geruch gebratenen und verbrannten Fleisches und den süßfaulen Hauch der Zersetzung, es bot sich ihnen das bekannte Bild. Verteilt im Raum, was von den Menschen geblieben war, in der Nähe der Tür zuerst nur wenige Häufchen mit Knochen, Enden von Ärmeln und Hosen, kaum erkennbare Reste menschlichen Lebens, weiter hinten saßen die Toten ordentlich auf Stühlen und Bänken, nur einige waren herabgerutscht, lagen verkrümmt auf dem Boden. Ohne ein Zeichen der Rührung drang der Bärtige mit den anderen vor bis in den letzten Winkel des Kellers. Seine Augen flogen über die Toten dahin wie die der anderen, so als schätzten sie nur die bevorstehende Arbeit ab.
Der Junge mit den kurzen Hosen ging an den Leichen vorbei, stieg über sie hinweg zu der Tür ganz hinten im Luftschutzraum. Weil sie verschlossen war, öffnete er sie mit dem bereitgehaltenen Brecheisen. Das hier gut erhaltene Holz splitterte, die Tür sprang knallend auf. Dem jungen Mann entfuhr ein überraschter Ausruf: Er stand vor säuberlich eingeräumten Regalen voll mit Gläsern Erdbeermarmelade, Kirschmarmelade, Stachelbeeren, Pflaumen, eingemachten Birnen, Apfelmus, Dosen auf denen Rindfleisch geschrieben war oder Schweinefleisch, sauber mit Tinte auf weiße Etiketten gemalt, eine randvolle Kartoffelkiste hatte man unter das Regal geschoben, Flaschen mit Weißwein und Kirschgeist reihten sich aneinander, Kohlkopf lag neben Kohlkopf, Schmalzkruke stand bei Schmalzkruke. Der alte Mann trat neben den jungen, und plötzlich hörten sie alle ein polterndes, meckerndes, schüttelndes Gelächter. Vor lauter Lachen hielt sich der Alte den Bauch, die Lachwellen liefen durch den Raum, erfüllten die stickige Luft, sie wollten nicht enden, aber niemand der Anwesenden nahm sie auf. Sie blieben seltsam und befremdend allein, hallten hohl in diesen Keller, brachen sich an den nackten Wänden und strömten in den sommerlichen Abend hinaus. Es war der Junge mit der dicken Brille, der sicher schon viel gelesen hatte, der die Trauer des Grauhaarigen aufnahm, neben ihn trat und ihn stumm umarmte.
Nichts für Kinder Oma durfte er nicht sehen, als sie endlich, nach qualvollen drei Wochen gestorben war. Die Tür zu ihrem Schlafzimmer blieb geschlossen. Das ist nichts für Kinder, sagten sie. Tote und Kinder, das paßt nicht zusammen. Eigentlich freute er sich, weil er den leichten Geruch nach Mottenpulver, abgestandener Luft und alten Menschen in diesem dämmerigen Hinterzimmer noch nie gemocht hatte. Dabei war er schon lange kein Kind mehr. Zumindest nicht, seit er sich nach der HJ mit dem Fähnleinführer geschlagen hatte, direkt vor der Polizeikaserne, er hätte nie geglaubt, diesen muskulösen Klotz überzukriegen, als er ihn so vor sich sah in der Boxerhaltung. Aber dann sprang er ihn an, rang mit ihm, und der große Held fiel, er saß obenauf und es dauerte nur zwei, drei Faustschläge mitten ins Gesicht, die ihn ziemliche Überwindung kosteten, da packte ihn jedoch irgendeine Frau am Kragen und riß ihn weg, und sein Gegner erhob sich mit Tränen in den Augen und Blut unter der Nase. Zum Glück ging er nicht in Uniform, sonst wäre es noch peinlich geworden,
nicht für seinen Vorgesetzten, sondern für ihn. Das alles geschah nur, weil er hatte zusehen müssen, wie der lange Schönboom nach sechs Platzrunden mit dem vollen Rucksack totenbleich zusammengebrochen war, kalten Schweiß auf der Stirn. Wegen Verspätung war das, damit er lernt, sich zu beeilen. Sagte dieser Fähnleinführer. Das mußte er ihm heimzahlen, auch wenn der dünne Schönboom nicht gerade sein Freund war. Er hielt nichts von der roten Fahne, die ihm bei einem Besuch einmal von der Bohnenstange gezeigt wurden, und auch nichts von den Lederbänden, auf deren Rücken „Das Kapital“ in Goldbuchstaben geschrieben war. Er sagte nur: „Mensch, pack das weg, wenn das jemand sieht“, denn haben durfte man so etwas bestimmt nicht. Wer fast dreizehn Jahre alt ist und seinem Fähnleinführer eins reinhaut, der ist schon ziemlich groß. Nein, er war kein Kind mehr. Er hätte in dieser Nacht auch kein Kind mehr sein dürfen. Zuerst saßen sie dichtgedrängt auf den Holzbänken im Keller, die Frauen mit den Kopftüchern, die alten Leute, die immerfort die Köpfe schüttelten, als wollten sie alles verneinen, die Kinder, müde und verschlafen, maulend und jaulend. Dann hörte das Krachen gar nicht mehr auf, schon bei den ersten Schlägen war das Licht verloschen, ängstliche Mütter entzündeten trübe Kerzen, der Donner der Explosionen kam näher und näher, die Erde bebte, der Zementboden schien ihnen gegen die Füße zu schlagen, der Keller schwamm auf sturmgepeitschten Wellen. Aber er hielt. Dann wurde es wärmer, heißer und heißer in dem Raum. Zu den Einschlägen der
Bomben erhob sich schrilles Geschrei, grelles, nicht endendes Weinen, lautes Klagen, Jammern. Ein Mann löschte die Kerzen. Die Luft wurde knapp. Überall machte nun Rauch das Atmen schwer, biß in die Augen, ließ einen keuchen und husten. „Hier geht’s nicht mehr“, rief einer. Andere hatten schon geschrien, sie wollten raus hier. Männer stürmten zur Tür. Aber die war verzogen, ließ sich nicht öffnen, nicht einmal die Riegel bewegten sich. Hinten im Keller schlugen andere die Wand zum Nebenkeller auf. Durch ein ausgezacktes Mauerloch krochen sie einer nach dem anderen hinaus, die erschrockenen Kinder wurden von weinenden Müttern durchgereicht, von Helfenden dahinter in Empfang genommen. Eine alte Frau, es hätte seine Oma sein können, mit weißem Haar, das zu einem Knoten gebunden war, zerrte einen Mann zurück, der sich vordrängeln wollte. „Erst die Kinder, du feiges Schwein, dann die Frauen und die Alten und dann kommst du noch lange nicht!“ Sie sagte das ganz ruhig, mit sehr deutlicher Stimme. Der Flüchtende verkroch sich. Durch den Keller des Nachbarhauses kamen sie ins Freie. Aber das Freie lag im Inneren eines Vulkans. Ringsum dunkle Häuserfronten und hinter den Fenstern eine brausende Glut, wie aus einer Esse schlugen rasende Flammen aus ihnen heraus. Es war nur in der Mitte der Straße auszuhalten. Die Hitze brannte auf den Haut. Er glaubte Feuer zu fangen und begann zu laufen. Zuerst mit den anderen Rennenden, dann bog er seitlich ab, meinte, dort lodere der Brand weniger hoch. Er wußte schon lange nicht mehr, durch welche
Straße, in welche Gegend ihn seine flitzenden Füße trugen, er stürmte und flog so schnell er konnte, wollte raus aus diesem Chaos, es hinter sich lassen, aber es begleitete ihn, blieb nicht zurück. Als seine Lungen zu zerreißen schienen, als sein Herz ihm aus der Brust springen wollte, als es schwarz wurde vor seinen Augen, bremste er seine jagenden Schritte ab. Er konnte nicht mehr. In seinen Schenkeln und Waden brannte es nun von innen heraus. Mit seinen langsameren Schritten, er durfte nicht stehen bleiben, nur nicht stehen bleiben, um alles in der Welt nicht anhalten, kamen auch seine Gedanken zurück. Zuvor hatte der panische Schrecken alles überdeckt. Wo war seine Mutter? Er hatte seine Mutter verloren. Irgendwo dahinten bei dem Bunker war das Band zwischen ihnen zerrissen. Sie hatte es ihm immer wieder flehentlich eingeschärft: wir dürfen uns nicht verlieren! Jetzt war es doch passiert. Ob sie auch rausgekommen war? Nicht einmal das wußte er. Er hatte sich einfach nicht mehr nach ihr umgesehen, und der Strom der wie von Sinnen Wegrennenden hatte ihn davon gerissen. Seine bisher nach drinnen gerichteten Augen erwachten wieder zum Leben. Da sah er, was kein Kind sehen sollte. Niemand hielt ihm die Augen zu, niemand nahm ihn bergend in den Arm. Sein Blick erfaßte die Mutter, nackt auf dem Pflaster ausgestreckt, wie im Sprung ereilt, urplötzlich in der glühenden Luft erstarrt und zu Boden gefallen, da lag sie, in wächserner Blässe wie eine der Schaufensterpuppen, wenn neu dekoriert wurde, er hatte das einmal beobachtet, als er noch klein war, die lebendigen Männer zwischen den nackten Frauen
trugen leinerne Säcke um ihre Füße, und sie lachten beim Ankleiden der großen Puppen. Da war sie hingestreckt, ihr Gesicht schien verbrannt zu sein, es war das einzig rötliche an ihr, und um sie herum drei kleine nackte Kinderkörper, ebenfalls seltsam verzerrt, wie hingeworfen, verstreut. Er konnte es nicht lassen und schämte sich dafür: er starrte auf die nackten Brüste der Toten, machte sogar einen Schritt nach vorn um alles erkennen zu können und sah zum erstenmal in seinem Leben das dunkle Dreieck über dem Geschlecht einer Frau. Im gleichen Augenblick haßte er sich. Die Kinderleichen ekelten ihn, die Bomben, das Feuer, er selbst, der Gaffer. Würgend stieg es in seinem Hals hoch, brannte säuerlich, schon wandte er sich um, nur nicht auf diese Frau, nur nicht auf diese Kinder, und erbrach sich in stoßenden Wellen. Dann rannte er weiter. Er kletterte über einen dicken Baum, den der Feuersturm im Stamm kurz über der Wurzel abgedreht hatte. Er trat auf etwas Dunkles, Weiches. Er glitschte aus, fiel hin, rappelte sich aber schnell wieder auf. Das war ein Mensch gewesen. Ein schwarzer, nackter Schädel verriet es. Am Fuße der Mauer zu einem Vorgarten lagen andere Tote, keiner hier nackt, sie lagen in Mänteln und Jacken, in Hosen und Röcken, nur ein Helm war abseits gerollt, sie schienen unversehrt, doch bewegungslos auf die Töne aus der Erde zu lauschen. Sie reihten sich wie in einer langen namenlosen Prozession hintereinander auf, jeder hatte Platz genug, sich lang auszustrecken. Er blieb nicht bei ihnen. Weiter. Weiter.
Vorbei ging es an wabernden Flammen, irgend ein Hausrat verbrannte mitten auf der Straße zu Asche. Aus dem Eingang zu einem lichterloh und fauchend brennenden Haus winkte ihm ein Mann in Uniform zu. Der war sicher SS. „Hier sind noch Leute“, schrie er. Obwohl er sich lieber umgedreht hätte und weggelaufen wäre, folgte er dem Soldaten. Über brennende Taschen und Koffer ging es eine kleine Treppe hinab. Wie ein Berserker rüttelte der SSMann an der Eisentür, bückte sich nach den Mauerbrocken, riß die Kellertür endlich ganz auf. Ein kleiner Junge stürzte ihnen zuerst entgegen. Er schrie fortwährend: „Ich will nicht brennen, ich will nicht brennen!“ Kaum hatte der Uniformierte ihn am Arm gepackt und aus dem Eingang gerissen, da schrie der Kleine eine andere Litanei: „Meine Mama dahinten, meine Mama brennt, meine Mama brennt.“ Überall war beißender Rauch. Sie tappten sich weiter vor. Ein Einbeiniger mit einer Krücke stützte sich bleischwer auf seine Schulter. Er führte ihn hinaus und kehrte sofort wieder um. Der SS-Mann gab ihm eine Decke. In einer Balge hatte er sie naß gemacht. „Wickel dich ein!“ Mehrfach machte er den Weg von den hinteren Räumen des Bunkers nach vorn. Die Decke war schnell knochentrocken, im Vorbeigehen tauchte er sie wieder kurz in das schmutzige Wasser der Balge. Zu den letzten Kellerräumen konnten sie nicht vordringen. Der Mann schrie ihm zu: „Raus jetzt, raus!“ Als er auf der Straße stand, zu beiden Seiten die flammenwerfenden Häuserfronten, war er erwachsen. Er wußte es.
Schaftstiefel Aufatmend ließ sie sich am Wegrand ins Gras fallen. Tief sog sie den würzigen Duft der jungen Fichten und des Grases in ihre Lungen. Es roch nach Freiheit und Urlaub und unter allem lag der morgendlich feuchte Geruch der Erde wie ein Basso continuo. Leise wisperten die Blätter im sanften Sommerwind. Zum ersten Mal nach drei Wochen oder länger, zum ersten Mal war sie befreit von ihren klammernden Kindern. Und was waren das für drei Wochen! Erst in den Erzählungen der anderen Leute im Zug, auf dem Lastwagen, erst aus dem Schwatzen der Frauen, die sie im Dorf traf, erkannte sie, welcher Hölle sie entronnen war, sie mit ihren zwei Gören. Sie sprachen entsetzt von dem Feuersturm, es hieß, hunderttausend Tote hätte es gegeben, oder fünfzigtausend, ihr war es gleich, sie konnte sich nicht einmal hundert Tote vorstellen. Sie hörte, Hamm und Hammerbrook gäbe es nicht mehr, ganze Stadtteile wären für immer ausgelöscht. Eine dicke Hummel zog ihre Kreise über dem Kraut am Wegrain. Sie schaute dem pelzigen Tier zu. Ein schönes
Geräusch! Sie hörte jetzt auch die Vogelstimmen. In jener Nacht hätte sie nicht geglaubt, jemals wieder diesen Gesang zu hören. Die Leute erzählen viel, wenn der Tag lang ist, sie kannte nur ihre eigenen Erlebnisse, und das reichte ihr. Ihr schauderte bei dem Gedanken an das Feuer in der Straße, an die atemlose Jagd mit den Kindern an der Hand, die gar nicht wußten, wie ihnen geschah, dieses fürchterliche Brummen der Flieger, die krachenden Explosionen, das laute Prasseln der Flammen, ihr reichte die lange Zeit im Bunker, der Boden bebte, als wollte er aufbrechen und sie alle verschlingen. Es genügte ihr, als sie am Mittag danach vor ihrem Haus stand, vor den Resten ihres Hauses, einer ausgebrannten Fassade, vor immer noch rauchenden Trümmern. Weg ihre Wohnung, weg das Wohnzimmer, das Schlafzimmer, das Kinderzimmer, alles einfach weg, weggeblasen, weggepustet. Warum hatte sie nur noch die Treppe gemacht? Das hätte sie sich sparen können, sie hätte lieber einen Tee trinken sollen. Sie wußte keine Antwort, als ihr Kleiner sie immerzu fragte, wo denn sein Bett sei. Da kam auch schon der nächste Alarm, der nächste Angriff, und sie rannte mit den Kindern wieder in den Bunker. Diesmal trafen sie weiter zur Elbe hin. Jetzt war sie entronnen, lag hier am Ochsenweg. Dieser Feldweg führte quer durch Dithmarschen, hin nach Hamburg. Hier hatten vor Jahrhunderten die Bauern aus dem reichen Eiderstedt ihr Vieh getrieben. Wenigstens Milch hatte sie hier für die Kinder, und die Engländer werden auf das platte Land keine Bomben werfen. Katjuscha paßte auf die
Kinder auf. Sie wollte im Garten Unkraut hacken. Da stören die Kinder nicht. Katjuscha war eine dicke und freundliche Russin. Alle nannten sie fast liebevoll so; wie sie wirklich hieß, wußte niemand. Du mußt nett zu ihnen sein, dann sind sie auch gut, sagte die Bäuerin. Nicht so wie die auf dem Bramhof. Dort haben sie wieder zehn Fremdarbeiter verscharrt. Das bringt doch nichts. Wie sollen die etwas leisten, wenn sie nichts zu fressen kriegen. Katjuscha, hilf mir mal bei dem Bottich hier. Katjuscha konnte kein Deutsch, aber sie wußte, was in der Landwirtschaft zu tun ist, und sie war anstellig. Deswegen mußte sie doch in der Kammer beim Stall essen, es könnte ja immer jemand von der Partei oder der Polizei kommen. Man weiß nie, was denen einfällt. Sie blinzelte in die Sonne, weitete sich in dem warmen Schein aus, griff in ihre Schürzentasche, nein, es war nicht ihre Schürze, ihre war Asche in Hamburg, diese scheußliche geblümte gehörte der Bäuerin. Der Brief knisterte. Sie zog ihn hervor und wunderte sich, daß er so schnell seinen Weg gefunden hatte, aus Litauen bis hierher, und dazwischen lag der Untergang Hamburgs. Das muß man ihnen lassen, organisieren können sie. Bei der Adresse auf dem Umschlag, der alten Adresse, die nun in Rauch aufgegangen war, hatte jemand geschrieben: geändert in bei Petersen, Altona, Wielandstr. 40. Sie hatte die Anschrift ihrer Eltern angegeben, damit man sie finden könne. Das Blatt war schon reichlich zerknittert, so oft hatte sie es seit gestern in der Hand gehabt und gelesen. Am 24. 7. 943 hatte er diesen Brief geschrieben, genau an dem Tag, als sein Zuhause in Trümmer ging.
„Liebe Ria! Ich bin heute in Lasdien glücklich angekommen. Montag geht’s 30 Kilometer weiter südlich nach Leipalingis — meinem Amtsbezirk. Er liegt an der jetzigen deutschen Grenze, früher polnischen Grenze im Südwesten Litauens. Von meinen Kameraden in Lasdien gut empfangen, bin ich für die beiden Tage bei einem Tischler untergekommen und gestern abend mit Rühreier, Milch und Speck fürstlich bewirtet worden. Etwas peinlich, weil diese Leute bestimmt nicht fürstlich leben und wochentags sicher nur Kartoffeln mit Milch usw. essen. Das Gegenteil vom Essen, das Sch… nämlich ist hier natürlich frei weg ländlich sittlich. Ich bin jetzt neugierig, wie ich in meinem Amtsbezirk unterkomme. Wahrscheinlich gut, da ich mich ja gut in die hiesigen Verhältnisse zu schicken weiß. In Leipalingis gibt es nur eine deutsche Familie und wie ich höre eine Anzahl deutsch sprechender Litauer. Ich werde sonst dort der einzige Deutsche sein. Meine Aufgabe wird nicht leicht werden, denn ich muß möglichst viel herausholen. Darum ist ja nach dem Sauckel-Besuch der Führungsstab so gut wie aufgelöst worden, um die restlichen noch freistehenden Amtsbezirke zu besetzen. Außerdem werden wir einige unserer Leute nach anderswohin in Rußland abgeben müssen. Mit der Post wird es jetzt natürlich sehr schlecht werden, denn hier in der Gegend gibt es keine Bahn, und der Wagen des Amtsbezirksvorstehers kommt nur × in der Woche nach Lasdien, dann geht’s von dort aus mit dem Autobus weiter nach Olita. Was Du noch nach Kauen geschickt hast, wird
mir noch geliefert. Mit Zeitungen und Zeitschriften kannst Du mich jetzt reichlich versorgen. Hier gibt’s wenig Papier. Eben höre ich, daß ich vielleicht noch heute weiter nach Leipalingis fahren kann. Der Kreischef soll Benzin pumpen, dann brauche ich nicht mit dem Panjewagen weiterfahren. Du hörst also noch von mir. Es wird aber eine Zeitlang dauern. Daran mußt Du künftig immer denken, wenn Du eine Zeitlang nichts von mir hörst. Hier stecke ich ganz weit j. w. d. Für heute nun Schluß. Sei vielmals gegrüßt und geküßt und den Kindern viele Tüschis Euer Vati Dein Rudi Grüße die Omas von mir. Ich habe übrigens jetzt eine tadellose Uniform bekommen mit einem Paar Schaftstiefel zum Verlieben. Auch ein Trost. Schade, daß Du mich nicht sehen kannst.“ Sie las die kargen Worte wieder und wieder. Hauptsache ein Lebenszeichen. Viele bekamen in diesen Tagen nur einen Brief vom Offizier oder vom Amt. Wenn überhaupt. Manche schon monatelang gar nichts. Auch ein Trost. Langschäfter. Keine Wohnung mehr, aber neue Stiefel zur Uniform. Wie schön. Sie lachte etwas bitter und setzte sich auf. Nun mußte sie bald zurück und nach den Kindern sehen. Es ist blöd, wenn man als Evakuierte auch noch dumm auffällt. Schlimm genug, daß der Kleine das zum Trocknen ausgelegte Kartoffelmehl für Schnee hielt und durch die Luft wirbelte.
Ob er ihr Telegramm schon bekommen hatte? An den Amtsbezirk Leipalingis, Arbeitsamt Nebenstelle Lasdien Litauen hatte sie es von Neumünster aus geschickt. All diese so fremdem Namen. Es klang so, als gehörte ihr Rudi da nicht hin. In einem Telegramm kann man nicht viel schreiben. Nur dies stand da: TOTALSCHADEN OMA NEUSS KARIN ROLFI RIA SIND IN HANERAU SOFORT KOMMEN. Die letzten beiden Worte hätte sie sich schenken können, aber sie wollte einfach allen, die das Telegramm auf seinem Weg lasen, in die Ohren schreien, was sich gehörte. Eigentlich. Wo sollte ein Mann und Vater denn sonst sein, wenn man seine Familie mit Bomben bewarf? Totalschaden, aber Soldatenstiefel und eine neue Uniform. Wieder lachte sie bitter, als sie in den sandigen Fahrspuren auf dem Ochsenweg zurück ins Dorf ging. Sie horchte bei ihren langsamen, noch zögernden Schritten in sich hinein, welchen Namen sie diesem Weg geben sollte. War es ein Heimweg? Nein. Sie ging nicht nach Hause. Zuhause, das war etwas anderes, und wenn die Bäuerin und Katjuscha noch so nett waren. Sie ging zu ihren Kindern. Hier konnte sie nicht bleiben. Sie mußte unbedingt versuchen, wieder nach Hamburg zu kommen. Vielleicht konnte sie bei ihrer Mutter unterkommen, die war nicht ausgebombt. Das Haus stand noch nach all den schrecklichen vier Tagen. Was soll ein Werbefachmann auf dem Dorf, später, wenn dieser Krieg vorbei ist, und er mußte einmal vorübergehen, es war doch jetzt schon kaum noch etwas übrig. Mit diesen Gedanken setzte sie ihre Füße fester.
Es gab ein Morgen. Und wenn er die Schaftstiefel mitbrächte, sie würde sie sofort in den Ascheimer werfen, auch wenn er hinfort barfuß laufen müßte.
Schlaf gut Er konnte kaum die Tasse halten. Der Bohnenkaffee platschte in einem großen Schwall auf den Tisch und bildete auf der bestickten Decke einen großen feuchten braunen Fleck. Seine Hand zitterte, es war nicht ein normales leichtes Beben, die unbeherrschbaren Ausschläge glichen fast einem Hin-und-her-Fuchteln. Die Kinder starrten den jungen Mann fasziniert an. So etwas hatten sie noch nicht gesehen. Seltsamerweise hatte das Schütteln nur die Hand erfaßt, der Körper des jungen Polizisten blieb unbewegt. Warum sagt Oma gar nichts, wenn der Mann Flecken auf die Tischdekke macht? Oma schimpfte nicht. Sie schenkte ihm Kaffee nach als wäre nichts passiert, sie holte aus der Schublade der Anrichte eine Schachtel Zigaretten, hielt sie dem Mann hin, der mit fahriger Bewegung zugreifen wollte. Aber es gelang ihm nicht, die kleine Zigarette zu fassen. Oma half ihm. Sie zündete auch ein Streichholz an und gab ihm Feuer. Niemand sagte etwas. Der junge Mann rauchte hastig. Die Zigarette zitterte mit seiner Hand. Asche fiel auf das
Tischtuch, als er den Aschenbecher erreichen wollte. Oma sagte nichts. Seit einem Jahr wohnte der Schutzmann bei Oma. Er hatte Heinrichs Zimmer bekommen, das kleine, nach hinten raus. Heinrich kam nicht wieder. Onkel Heinrich war nach London geflogen und dort abgeschossen worden. Oma weinte viel und stellte Heinrichs Foto in einem breiten schwarzen Holzrahmen auf den Phantasieschrank. Jeden Sonnabend kamen neue Blumen in die kleine Vase neben dem Bild. Manchmal durften die Kinder Blumen für Onkel Heinrich pflücken. Der Untermieter zeigte den Kindern seine Pistole und beim Wienern seiner Stiefel durften sie ihm helfen. Er pfiff dabei all die schönen Lieder, die sie aus der Schule kannten. Niemand konnte so schöne Grimassen schneiden wie er. Er war gar kein richtiger Schupo, meinten die Kinder. Er war viel zu freundlich dafür und hieß August. Und nun saß er im Wohnzimmer bei Oma und zitterte. Dann fielen die Worte wie vereinzelte Brocken aus seinem Mund. „Feuer … Feuer … ü…überall war Feuer … es reg… regnete Feuer. Ich konnte mich nicht halten, es … es hat mich um…umgerissen. Ich bin an eine Mauer gekrochen, hab mich ganz klein gemacht … Mit dem R…Rücken zu den Fla…Flammen war es am be…be…besten … Fr…Frau Sch…Schuster, Menschen brennen, können sie sich das v… vor…vorstellen?“ Oma stand auf. „Geht in die Küche“, sagte sie. „Spielt in der Küche oder auf dem Balkon. Das hier ist nichts für
euch.“ Viel lieber wären sie runter gegangen, aber Oma ließ sie nicht. Es konnte jederzeit wieder Alarm sein. Sie führte die Kinder über den Flur in die Küche und machte die Balkontür weit auf. Der Himmel war schwarzgrau verhangen, als ob ein Gewitter käme. Aber es war Rauch. Oma nahm Gläser aus dem Küchenschrank und machte ihnen am Wasserhahn verdünnten Himbeersaft. Schade eigentlich. August zitterte so lustig, und sie hatten noch nie einen stotternden Schutzmann gesehen. Aber er war ja auch kein richtiger. Oma zog die Küchentür hinter sich zu und ging wieder zu ihm nach vorn. Geduldig hörte sie ihm zu und setzte sich aus seinem Gestotter einzelne Szenen zusammen. Er mußte reden, er mußte los werden, was seine Seele nicht fassen konnte. August Schneider war im Hamm gewesen. Er hatte alles miterlebt, den Angriff, den Feuersturm, das große Sterben. Als Schutzraumordner hatte er die Verantwortung. Und was das hieß, wußte er aus den vergangenen Tagen, als Hamburgs Westen brannte. Wohl 200 Leute waren auf ihn angewiesen. Aber er hatte nichts, um ihnen zu helfen. Und das war das Schlimmste. Zusehen müssen. Nichts tun können. Menschen durch die Hitze flüchten sehen, wie sie um ihr Leben laufen, durch den Sturm, der Latten, Bretter, Platten mit sich reißt, Funken wirbelt, sie nicht zurückhalten können, wenn sie kopflos in die tobenden Flammen zurückrennen. Nur von 20 wußte er, daß sie überlebt hatten, vier Kinder, fünfzehn Frauen und er. Seine Verantwortung. Nur vier der Kinder.
Im Schutzraum warteten sie zuerst noch ganz ruhig ab, was da oben tobte. Bei den Einschlägen der Sprengbomben zuckten die Menschen zusammen. Je näher es donnerte, desto hysterischer reagierten einige. Er mußte sie beruhigen. Bei einem ganz fürchterlichen Schlag erlosch das elektrische Licht. Das Dunkel wirkte bedrohlich. Sturmlaternen und Petroleumlampen wurden angezündet. Ihr dämmeriges Licht beleuchtete bleiche Gesichter. Er mußte hinaus, suchte sich einige Männer zum Löschen heraus. Das Haus über ihnen war von einer Phosphorbrandbombe getroffen worden. Vom dritten Stock an fraß sich der Brand durch das Haus. Sie kamen nicht weit. Im Hochparterre endete ihr Weg. Eine Sprengbombe schlug ein, Gesteinsbrocken und Balken kamen herunter, das Treppenhaus drohte einzustürzen. Sie flohen über brennende Koffer und Taschen auf der Kellertreppe zurück in den Schutzraum. Qualm und Dreck drang mit ihnen hinein und trübte die stauberfüllte Luft noch dichter. Immer mehr Leute schrien, sie wollten hier raus, es wäre hier nicht mehr auszuhalten. Bei einem neuen Einschlag schleuderten die Schornsteinklappen und Zwischentüren durch den Raum. Er machte einen Versuch durch die Eingangstür. Aber das Treppenhaus brannte lichterloh. Es gab kein Entkommen zu dieser Seite. Sie versuchten unter seiner Anleitung, durch die Brandmauer zum Nebenkeller zu gelangen. Der Nebenkeller brannte. Er stopfte das geschlagene Loch mit einer Decke zu. Auf der anderen Seite erreichten sie im Nachbarhaus die Kellertür zum Hof. Als sie geöffnet wurde, schlugen ihnen die Flammen mit mächtigem Druck
entgegen. Sie drückten mit mehreren Männern die Tür zu, einer versteifte sie mit einer Bank. Trotzdem mußten sie hinaus. Hier würden sie bald ersticken. Er gab seine Anweisungen: Decken und Mäntel nehmen, über den Kopf ziehen und immer zwei Erwachsene und ein Kind raus hier, wenn wir die Tür wieder aufmachen. Er sagte ihnen nicht, durch welche Höllenfeuer sie mußten. Jetzt begannen viele zu schreien, aber er hatte ihnen nichts anderes zu bieten. Hier sterben oder da draußen. Das war ihre Wahl. „Ich ha…hatte mir einen L…Lappen in der K…Klo… Kloschüssel naßgemacht,“ sagte er, „stellen Sie sich vor, in einer Klo…Kloschüssel.“ Der Invalide, der von seiner weinenden Frau gestützt wurde, brach vor der Tür zusammen. Sie trugen ihn hinaus. Später mußten sie ihn draußen liegen lassen, als sie durch die Flammen rannten. Sie versuchten zum Park zu kommen. Mehrere Straßen waren zu einer Feuerschleuse geworden. Sie mußten umkehren. Am Kanal tauchten die Fliehenden ihre Decken in das Wasser. Aber sie trockneten schnell wieder aus, seinen Nachbarn wurden sie im Sturm vom Leibe gerissen. Ihre Kleidung fing dann Feuer und flammte auf. Sie blieben zurück. An der Mauer zum Hof einer Schlosserei machten sie Halt. Ihre Gruppe kniete sich hin, den Rücken zum Feuer. Die Augen brannten ihnen, sie konnten aus ihren trockenen Kehlen nicht einmal mehr schreien. So verharrten sie stundenlang. Gegen Morgen erst konnten sie diesen Platz verlassen. Diejenigen, die das nicht aushielten, fanden sie verbrannt auf der Straße.
Sie haben ihn nach Hause geschickt. Sein Schock machte einen weiteren Einsatz unmöglich. So konnten sie ihn nicht gebrauchen. Er sollte sich morgen wieder melden. Als er verstummt war, nahm sie ihm vorsichtig die letzte Zigarette ihrer Schachtel aus der Hand, drückte sie im Aschenbecher aus, umarmte ihn, half ihm aufstehen und führte ihn wie einen Blinden über den Flur in sein Zimmer. Sie schlug sein Bett auf, er ließ sich darauf fallen. Sie zog ihm die Stiefel von den Füßen, öffnete seine dreckige, angesengte Uniform, zog sie ihm aus. Er ließ es willenlos geschehen. Er schämte sich nicht, als sie ihm aus der Unterwäsche half. Sein Kopf lag bleich auf dem Kissen, die Augen geschlossen. Sie legte sanft das Daunenbett über ihn und verließ das Zimmer. Als sie leise die Tür schloß, flüsterte sie: „Schlaf gut, mein Junge, schlaf gut.“
Sonntagmorgen Sonntagmorgen in der Stadt. Er hatte sie immer geliebt, die befreiende Stille, die fast menschenleeren Straßen, da drüben läuft der kleine Pimpf, zupft an seiner Uniform, er wird zu spät zum Dienst kommen. Seine eiligen Schritte hallen laut. Die alte Frau, die schwer an der prall gefüllten Ledertasche trägt, sie wird auf dem Weg zu ihren Kindern sein. Hier und da steht ein Fenster offen, das Bettzeug liegt zum Lüften auf dem Fensterbrett. Die Sonnenstrahlen spielen mit dem Spiegel vor dem Friseurladen. Das Paar, das über den Vorplatz geht, der Bäuchige mit der Schiffermütze und seine pustende Frau, eilt mit gefüllten Körben vom Fischmarkt nach Hause. Dies war stets seine Zeit gewesen, bald würde das volle Geläut seiner Kirche den Sonntag und den Gottesdienst über die Stadt ausrufen. Gewiß, es folgten nie viele Gläubige dem Locken der Glocken. Aber war es nicht Abraham gewesen, der mit seinem Gott um die verdammte Stadt rang, und er einigte sich mit seinem Gott auf zehn Gerechte in Sodom, und etwas mehr als zehn waren eigentlich jedesmal zusammengekommen. Judenmärchen. Aber
um diese Geschichte war es ihm leid. Außerdem hatte sich merklich die Einstellung zur Kirche geändert, seit Krieg war, sogar von der Partei kamen sie bei besonderen Gelegenheiten. Besonders bei Beerdigungen. Aber dies ist nicht so ein Sonntagmorgen im August. Die Glocken werden heute nicht läuten. Es wird auch keinen Gottesdienst geben an diesem Morgen. Der Turm, in dem die Glocken hingen, war zusammengefallen. Das Kirchenschiff gleicht einem Topf ohne Deckel, die Außenwände ragen mit leerem Finstern in den Himmel. Die Bänke sind restlos verbrannt. Nur der steinerne Altar ist stehengeblieben und mit ihm das eiserne Kreuz, zu dem er betend so oft aufgeschaut hatte. Aber Gott wird das nicht sehen. Der Himmel ist rauchverhangen fast schwarz, kein Sonnenstrahl und Himmelsblau dringt durch. An einigen Stellen im Stadtteil brennt es immer noch. Sie hatten kein Wasser zum Löschen in der Nacht, sie konnten nur noch das kostbare Abendmahlsgeschirr retten und die Paramente, die von den Frauenkreisen nach dem großen Krieg gestickt worden waren. Er ist müde, unglaublich, nie gefühlt, erschöpft und entmutigt. Er möchte nicht wissen, wie er aussieht. Bestimmt nicht sonntäglich, sondern rußgeschwärzt, staubbedeckt, seine Hände sind rissig und schmutzig, seine Schuhe verschrammt und dreckig. Er war mit dem alten Bauer, dem Veteran von ’4/8, seinem Küster seit mehr als zwanzig Jahren, durch das stürmende Feuer gelaufen, sie hatten versucht, so viele, wie es ihren schwachen Kräften möglich war, in die Keller zu bringen und später sie da
wieder rauszuholen, als alles vorbei war, nur das tobende Feuer nicht. Die Türen waren glühend heiß. Davon stammten die Brandblasen an seinen Fingern. Auch die dazukommenden Helfer vom Selbstschutz wußten nicht, wo sie mit dem Löschen anfangen sollten. Das hatten sie bei den Schulungen im RLB nicht gelernt, wie man ohne Wasser das Feuer bekämpft, wenn ganze Straßen brennen, wenn weiter und weiter Spreng- und Minenbomben detonieren. Die Hinterhöfe waren Feuerkessel, die engen Straßen Feuerschleusen. Mehrmals flohen sie beide für eine kurze Zeit in Luftschutzräume. Sie mühten sich, in der wilden Hitze schweißbedeckt, Bewußtlose aus den Selbstschutzräumen zu tragen, über den weichen Asphalt. Einmal waren sie fast erschlagen worden, als vor ihnen zwei Häuserfronten herunterkamen. Im Eingang des ausgebrannten Kinos stießen sie auf eine Gruppe von Kinderleichen. Sie lagen da, als hätten sie auf eine Kindervorstellung gewartet. Er schüttelte sich unwillkürlich. Diese Bilder werden ihn sein Leben lang begleiten. Mit trägen Schritten geht er über die zersprungenen und zerschlagenen Fliesen des Kirchenschiffes in Richtung Altar. Er bemüht sich zwischen all den Mauerbrocken, den verkohlten Balken, den absurd verbogenen Eisenträgern, den früheren Mittelgang einzuhalten. Hin und wieder erkennt er Reste des roten Teppichs, der die Gemeinde so viel Geld gekostet hatte, damals, 935. Wer wieder Arbeit hatte, sollte etwas geben. Und sie gaben. Damals. Röte schießt ihm ins Gesicht. In der Nacht zum Sonntag pflegte er seine
Predigt zu schreiben, seine Frau sagte immer, er solle sich früher hinsetzen in diesen unsicheren Zeiten, er wüßte ja nicht, ob es nicht doch einmal wieder Alarm gäbe. Und letzte Nacht gab es Alarm. Er hatte keine Predigt, sie wäre auch in der Sakristei mit allem anderen verbrannt, wo er sie stets zu deponieren pflegte, wenn er das Amen geschrieben hatte. Zum Glück war Helga mit dem Weißgerber, dem Grünhöker, gleich heute früh aus der Stadt gefahren zu ihrer Schwester in Tornesch. Dort wird es nicht so schlimm sein. Weißgerber hat immer noch den alten Hanomag, der war so alt, fuhr nur noch mit sanfter Überredung, daß sie ihn nicht beschlagnahmt hatten, denn die nötigen Worte kannte nur der Grünhöker selbst. Außerdem war er immer für die Partei gefahren, wenn irgendwo ein Aufmarsch war. Er geht den geraden Weg nach vorn zum Altar. Einen Talar hat er übrigens auch nicht mehr. Den neuen hatte er in den Schrank der Sakristei gehängt, und dort war nichts übriggeblieben, den alten im Pastorat, im Schlafzimmerschrank, aber von dem standen auch nur noch die Außenwände. Nicht einmal eine Bibel hat er gerettet. Ohne daß er es will, werden seine Schritte immer langsamer. Der alte Bauer steht in dem Spitzbogen, der einmal der Eingang zur Sakristei war. Er sieht aus wie ein Kohlenträger. Er schaut von dem Gegenstand auf, den er in seinen Fingern hält. „Hüt hest nix to preestern, dor kümmt nüms inne Kark!“ ruft er heiser. Recht hat er, heute kommt keiner zur Kirche, die Menschen haben andere Sorgen. Der Gottesdienst fällt aus. „Kiek mol, wat ick funnen hew.“ Bauer hält etwas silbernes
hoch. Er geht zu ihm und da erkennt er es. Ein Umhängekreuz. Schweres Silber, das XP tief eingraviert über dem fein ziselierter Korpus des Schmerzensmannes. Das Feuer hat ihm nichts anhaben können. Das ist das Amtskreuz des Propstes gewesen, der als Offizier bei Langemarck schon 94 geblieben war. Er hatte sich freiwillig gemeldet. Seine Witwe brachte nach ’8 das Kreuz ins Pastorat und schenkte es der Gemeinde. Sie wollte es nicht gegen Brot oder Steckrüben eintauschen. Es hat ihm nichts genützt, meinte sie bitter. Es wird mir auch nicht helfen. Wenige Jahre später erlag sie der Schwindsucht. Er nimmt das Kreuz aus den Händen Bauers und geht von ihm, so als wäre es ein normaler Sonntag, den Weg zum Altar. Vor dem steinernen Tisch bleibt er stehen. Mit rascher, unwilliger Bewegung wischt er über die beschmutzte Fläche, rakt den Mörtel, die Trümmer, die Asche hinunter. Er schaut auf das große Kreuz aus Eisen, das in den kahlen Mauern der Apsis hängengeblieben ist. Von dort sieht er auf das Kruzifix in seiner Hand. Die hagere und magere Gestalt des Gekreuzigten rührt etwas in ihm an. Er sieht die Kinderleichen vor dem Kino, die Verbrannten und Erschlagenen auf den Straßen, die Erstickten in den Luftschutzräumen der letzten Nacht. Sie alle ziehen in langer Prozession an seinen Augen vorüber. „Hüt kümmt nüms“, ruft Bauer noch einmal. „Dann bleibt der Klingelbeutel eben leer“, antwortet er, aber seine Gedanken sind bei dem Kreuz in seiner Hand. Ohne daß er es will, er will es wirklich nicht, nicht an diesem Tag, nicht nach dieser Nacht, formt sich ein Gebet in ihm. „Vergib uns unsere
Schuld,“ fleht er wortlos, „wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Wie in einem endlosen Reigen kreisen diese Worte in seinem Kopf: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. Als er sich abrupt umdreht und das geröllgefüllte menschenleere Kirchenschiff vor sich sieht, weiß er, daß er nicht allein ist. Er meint nicht den alten Bauer, der sich müde hat auf einen Mauerbrocken fallen lassen und eine Pfeife aus seiner Tasche kramt. „Du willst doch wohl nicht in der Kirche rauchen“, meint er scherzend, und Bauer steckt maulend enttäuscht die Pfeife wieder zurück. Nein, er meint nicht den Küster. Er meint den Schmerzensmann. Auf dem Weg zum ausgebrannten Kirchenportal fehlen ihm noch nicht einmal die brausenden Orgelklänge.
Wer weiß, wofür es gut ist Die Blicke der Frauen auf ihrer grünen Wolldecke galten nicht seinem nun wieder muskulösen und sonnengebräunten Oberkörper. Sie bewunderten auch nicht den Vater, der sich liebevoll um seine Kinder kümmerte, die vom Elbwasser tropfende Uta sorgsam mit dem weichen Badetuch abrieb, sie auf die Stirn küßte und ihr dann, als sie sich mit ihrem Handtuch bedeckt, neben ihn legte, mit leiser Stimme aus der „Familie Pfäffling“ vorlas, ab und zu den Blick von den Seiten des Buches hob, um nach Rudolf zu sehen, der immer noch in den glatten, weichen Wellen der Elbe spielte. Sein Junge drehte sich, so schnell es ihm möglich war, um seine eigene Achse, die Hand flach auf dem dunklen Wasser und freute sich an den glitzernden Tropfen, die im Rund um ihn aufsprangen. Die Mütter da drüben schauten abwechselnd mißtrauisch immer wieder zu ihm hinüber, vergaßen dabei fast, ihre eigenen Kinder aus den mitgebrachten Töpfen zu füttern, besonders die große Blonde mit dem Knoten schien sich über ihn aufzuregen. Er kannte ihre Gedanken. Ein ausgewachsener Mann spielt nicht mit kleinen Kindern,
erst recht gehört ein gesunder Mann nicht hierher an den Strand der Elbe bei Kattwyk. Ein gesunder Mann gehört an die Front. Aber was sollte er machen? Johanne hatte Tagschicht bei der Post, die Nachbarin, die immer freundliche Frau Gerling, war nach Rom gereist, wo der Rest ihres Mannes im Lazarett lag, ein Tanzlehrer ohne Beine, wie geht das, er war so amputiert zwar rechtzeitig der Wüste entkommen, hatte vor den Amerikanern den Weg über das Mittelmeer und durch Sizilien gefunden, und nun wollte sie ihn nach Bayern holen, vielleicht konnten sie dort etwas für ihn tun. Während er von dem verträumten Frieder las, den Uta so sehr liebte, kämpfte er mit dem Bild eines Tanzlehrers, der beinlos in einem Rollstuhl am Rande der Tanzfläche unter festlich strahlenden Kronleuchtern den jungen, sich drehenden Paaren seine Befehle zurief. „Eins, zwei, drei, Wiegeschritt …“ Er war auch entkommen. Nicht der versengenden Sonne Afrikas, sondern den wirbelnden, beißenden Schneestürmen der Steppe Rußlands. Hätte es seinen Hauptmann nicht gegeben, der ihn seiner zwei Kinder wegen auf dem vereisten Flugfeld in die Maschine schob, deren Motoren schon brüllten, obwohl so ein Oberschenkeldurchschuß doch keine Sache war, nur eine weißliche Narbe leuchtete auf seinem Bein, aber er war noch rausgekommen, wie er nach Wochen im Lazarett hörte, als einer der letzten. Der Hauptmann war in Stalingrad geblieben, hatte weiter große russische Kräfte gebunden, wie sie es in der Zeitung lasen.
Seine vier Kinder hatten nun keinen Vater mehr, der mit ihnen zum Baden gehen konnte. Die schier unerschöpflichen Horden der Steppe hatten ihn und alle seine Kameraden verschlungen. Wie schön war es für ihn selbst dagegen in der Normandie gewesen, wohin sie ihn danach schickten. Doch jetzt war er auf Urlaub, Heimaturlaub. Es würde noch etwas dauern, bis er die fehlenden und so bitter entbehrten Röhren aufgetrieben hatte, die sie für die Funkgeräte dort unten unbedingt brauchten. Der Oberst meinte, so wie er zur rechten Zeit dem Kessel entschlüpft wäre, sei er der richtige, um solche Ersatzteile zu organisieren. Wen die Vorsehung liebe, dem schlage sie nichts aus. Nun lagerte er hier am Elbstrand und badete mit seinen Kindern. Fünf Tage später lag der Sand dieses Ufers so entfernt wie der Südpol. Im Schreien, Jammern und Wimmern der rasenden Menge, in der Kakophonie der stürzenden Häuserfronten, der andauernden Explosionen, des brüllenden Feuersturms erfaßten seine gereizten Augen ein seltsames Bild: Die Duckdalben im Fleet, auf denen an anderen Tagen die Möwen saßen, die alle aussehen, als ob sie Emma hießen, diese dicken Eichenpfahlbündel brannten wie Kerzen! Die Hitze war unerträglich. An der nächsten Straßenecke schon kamen sie nicht weiter. Der Feuersturm sprühte Funken, fauchte gierig, riß Balken und Mauerwerk mit sich. Zurück, zurück zum Wasser! Einige sprangen in den Fleet, um sich zu retten. Er hetzte mit den anderen weiter. Ohne es wirklich wahrzunehmen, tief in sich aufzunehmen, rannten sie an Menschen vorüber, deren Kleidung sich in
der Hitze entflammt hatte. Niemand warf ihnen eine Dekke über, versuchte die Flammen zu ersticken. Jeder war um sich selbst bemüht, die umgeschlungenen, angefeuchteten Decken trockneten sowieso in der glutvollen Luft schnell aus. Sie passierten Menschen, die erstarrt auf dem Pflaster lagen, nackt, mit schrecklich verzerrten Gesichtern, wie im Schrei erstorben. Vor dem Rundbunker staute sich die panisch drängelnde Menge. Fast alle schrien irgend etwas. Unglaublich, aber wahr: einige Männer versuchten mit brachialer Gewalt weiter nach vorn zu kommen, an die rettende Tür. Die von ihnen beiseite gepflügten Frauen kreischten in Angst und Wut. Der Plankenzaun rund um den Platz brannte lichterloh und warf seine Hitze auf das tobende Menschenknäuel. Er nahm alle Kraft aus seinen gereizten und gepeinigten Lungen, brüllte mit mächtiger Stimme über alles Geschrei: „Die Kinder, laßt verdammt noch mal die Kinder vor!“ Und er packte das nächststehende, ein kleines heulendes Mädchen mit schwarzen Zöpfen und einer Tolle, riß es von der Hand seiner Mutter, wuchtete es hoch, hielt es mit ausgestreckten Armen über die Köpfe der Kämpfenden, donnerte: „Greift zu, reicht sie durch!“ Tatsächlich flogen einzelne Arme hoch, griffen nach dem greinenden Bündel, schoben es nach vorn, dem Bunkereingang entgegen. Das nächste Kind. Ein zeternder Junge, kaum drei Jahre alt, dessen kleine Hände eine Babyflasche umklammernd und nicht loslassend festhielten, wanderte über die schiebende, quetschende Menge, von Arm zu Arm weitergereicht. Das
nächste. Allmählich hatten einige begriffen, obwohl es doch eigentlich in diesem Fegefeuer nichts zu verstehen gab, und sie nahmen diese Aufgabe an. Kind um Kind wurde durch die Tür in den Bunker gerettet. Er ließ sich von den besinnungslos schubsenden Menschen an den Rand der Menge spülen und eilte zur Wasserseite hinter dem Turm. Über eine steinerne Treppe zum Fleet stieg er kurz zum Wasser hinunter, klammerte sich an die Kante des kleinen Kais, tauchte ins Wasser, kam wieder hoch, als das Naß seine Kleider angenehm kühlend durchdrungen hatte. Er rannte weiter. Bei der Flakstellung im Park, dessen Bäume brannten, er hatte noch nie einen Park mit brennenden Bäumen gesehen, wurde ihm schwindelig. Zupackende Fäuste rissen ihn in einen Unterstand. Als er sich erschöpft an die Mauer lehnte, ging ihm so einiges durch den Kopf. Johanne mit den Kindern bei Schneverdingen in der Heide, sie schliefen wohl und bekamen von dantischen Inferno nichts mit. Nein, Dante beschrieb nicht dieses hier. Seine Schilderung glich an dieser Hölle gemessen einer Landverschickung. Er sah sie unter rotgewürfelten Deckbetten, Rudolf sanft nuckelnd mit dem Daumen im Mund. Er erinnerte sich an den kühlen Elbstrom bei Kattwyk, an die mißtrauisch und neidisch gaffenden Frauen. Die Sommersonne tat so wohl auf der Haut. Er sah sich auf der endlosen weißen Weite des Flugfeldes im Eissturm, den durchgebluteten Verband um den Schenkel, aber das Blut war verdeckt von dem feinen pulverigen Schnee, den der schneidende Wind vor sich hertrieb. Er hörte die Stimme seiner Mutter, die kopfwiegend sagte:
„Wer weiß, wofür alles gut ist.“ Wofür war es gut? Er glaubte an keinen Plan da oben. Dies hier hatte keiner da oben geplant. Welche Vorsehung sollte gewollt haben, was keine menschliche Phantasie ersinnen kann? Dies war schierer menschlicher Wahnsinn. Da waren plötzlich die Worte in seinem Kopf: Wehe, wenn sie losgelassen … Wehe, wenn sie losgelassen … Und er schaute mit einem Mal in die Augen des kleinen Jungen, der sich ängstlich an seine Babyflasche klammerte, er schaute so klagend auf ihn herunter, als er hoch über dem Köpfen festgehalten wurde, immer weiter und weiter von seiner Mama entfernt. Wer weiß, wofür es gut ist. Er würde diese Frage nie beantworten können. Vielleicht ist ja auch ein Tanzlehrer ohne Beine für etwas gut.
Wird wieder Erst als ein Sonnenstrahl die goldenen Buchstaben über dem Eingang des Lokals aufblitzen ließ, erkannte sie, wo sie war. Das war die Promenade ihrer Stadt, der Jungfernstieg. Links von ihr lag, verschämt unter Holz versteckt, die Binnenalster. Dahinter die Bögen der Lombardsbrücke. Die Flieger hatten sie damit nicht täuschen können. Sie haben ihr Ziel gefunden. Mit tödlicher Sicherheit. Sie stolperte weiter über die Reste von Schutt, die auf der Straße verblieben waren. Sie wollte zum Baumwall, Karla hatte aus einem zerstörten Marine-Depot Butter und Fleisch organisiert und wollte damit nicht durch die ganze Stadt. Wie gern war sie hier mit ihr spazieren gegangen. Und noch lieber mit Bernhard. Da drüben der Herr mit Hut und Paletot, und sie mit ihrem keckem Hütchen und im grünen Kostüm, Arm in Arm die beiden, was wollten die auf dem Jungfernstieg, der einstigen Prachtstraße, der von ihrer Pracht nichts geblieben war, eine heruntergekommene Schöne. Die beiden schienen tatsächlich zu bummeln, als hätte es die letzten Tage nicht gegeben. Wie
der Lehrer Lämpel, nachdem das Pulver in der Pfeife explodiert war, ja genau so sah der Jungfernstieg jetzt aus. Die Hausecke, die ihre glänzenden Buchstaben zur Alster hin hielt, beherbergte auch kein Lokal mehr. Die Fenster waren ausgebrannt, der Eingang mit seinem Bogen führte zu dem Haufen wirrer Balken, Träger und Trümmer im Inneren des Hauses. Nur die Ecke des Hauses war stehengeblieben nach den Angriffen mit dem Eingang und den vier große Scheiben des Restaurants, zu jeder Seite vier große Scheiben. Als Kind hatte sie schon immer staunend auf die weiß gedeckten Tische dahinter geschaut, die Ober im Frack, die vornehmen Herren und Damen, die mit geschickten Händen ihre Bestecke führten, miteinander plauderten, auf die Alster und die flanierenden Passanten blickten. Wenn sie einmal groß wäre, dann wollte sie da auch sitzen, sich von den schwarzen Herren bedienen lassen, mit ihrem Liebsten plaudern, auf die Alster und die schlendernden Menschen sehen, die Alsterschiffe. Das wäre doch etwas. Bernhard hatte Verständnis für ihren Wunsch. Wenn er sein Gehalt bekam, jeden Ultimo, gingen sie essen. Dort, hinter der jetzt so toten, hohlen Fassade, war es auch, als er mitten im Monat mit ihr ausgehen wollte, sie wußte gar nicht, ob das Geld reichen würde, aber vielleicht konnte sie ja anschreiben lassen in den nächsten zwei Wochen. Beflissene Kellner nahmen ihnen die Mäntel ab und führten sie zu einem der weiß eingedeckten Tische am Fenster. Bernhard entschied sich für die Ochsenbrust mit Meerrettichsoße, sie wählte den Heilbutt. Sollte es doch ruhig teuer
sein, irgendwie wußte sie, daß dies ein besonderer Anlaß war, etwas, das sehr lange vorhalten mußte. Als die freundlichen Kellner aufgetragen hatten, die feine Hochzeitssuppe dampfte vor ihnen, da zog er den Brief aus seinem Jackett, dieses amtliche Schreiben, das ihn ihr nehmen sollte. Polen, Dänemark, Frankreich, Griechenland und Rußland, er war überall dabei und sie mit den Kindern allein. Sie hatte nie einen Seemann heiraten wollen, der immerzu fort ist, wie sie es bei ihrem Vater erlebte. Bernhard war Ingenieur bei den Flugzeugen, aber das Ergebnis war nun das gleiche. Sie blieb mit den Kindern allein, genau wie ihre Mutter. An jenem Nachmittag schaute er ihr ins Gesicht, und sie sah, daß seine Unterlippe zitterte. Er wollte nicht zur Luftwaffe, er wollte bei ihr bleiben, bei den Kindern, aber sie ließen ihn nicht. Du schaffst es schon, sagte er, du schaffst es. Er hob sein Weinglas und prostete ihr zu. Spielte Weinen oder Lächeln um seinen Mund? In ihren Augen stiegen Tränen auf. An diese Worte erinnerte sie sich, als sie ihre Kinder umarmte, beide, auf jeder Seite eines, und eines wuchs da in ihrem Leib. Er konnte sich auf sie verlassen, er sollte es immer können. Sie schüttelte sich. Es war so schlimm gewesen im Bunker, als draußen die Erde aufzubrechen schien, als der Boden schwankte, es über ihrem Kopf so fürchterlich polterte, und es war stockdunkel, andere Kinder schrien, ihre nicht. Sie wollte stark sein, und sie war es auch. Ihre Kinder spürten es. Es waren kaum Gefühle in ihr bei der Flucht durch die Flammen, sie empfand überhaupt nichts außer
diesem peitschenden Willen, durchzukommen, sie mit ihren Kindern, nur diese Worte trieben sie an. Sie hätte sich nicht träumen lassen, mit ihren Kindern an Toten vorüberzueilen, ohne irgend ein Gefühl in sich. Später erst, in Flottbek, als Tante Gertraud den Kaffee aufgebrüht hatte und die Kinder auf dem Wachstuchsofa schliefen, zugedeckt mit rot gewürfelten dicken Kopfkissen, da kamen die Bilder wieder: Am großen Brunnen der nackte Mann, hingestreckt wie im Hechtsprung ereilt, völlig nackt, nur der Stahlhelm saß noch auf seinem Kopf fest, unverletzt sein praller Körper, weiter, neben der abgebrannten Baracke der Luftwaffe die geschrumpften schwärzlichen Leiber der Verbrannten, in der Bahrenfelder Straße die Frau, die auf dem Rücken lag, die Augen blicklos zum roten Himmel gerichtet, neben ihr zwei Kinder, älter als die ihren, sie lagen neben ihr, aber so als gäbe es keine Verbindung mehr zwischen ihnen. Sie sah die grauen Leute im Schutt hinter den Fassaden, die versuchten, Verschüttete zu bergen und die Steine Hand für Hand abtrugen in verzweifelter Hast, teilnahmslos eilte sie an blutig verschmierten, gräßlich schmutzigen Verletzten vorüber, die darauf warteten, auf offener Straße verbunden zu werden. Niemand hielt sie an auf dem langen Weg. Sie hatte ihre Kinder und ihren schon leicht vorgewölbten Bauch. Hin und wieder mußte sie mit ihren erschöpften Kleinen Rast machen, immer mitten auf der Straße, damit nicht herabstürzende Trümmerteile sie träfen, oder am Rande der Geröllberge, von denen keine Gefahr mehr drohte. Ihr Rücken schmerzte unter dem scheuernden Tornister,
ihre Arme schienen länger und länger zu werden, die Koffer schwerer und schwerer. Sie hatte keine Kraft, die Kinderaugen vor den Alptraumbildern zu schützen. Sie schaute zum Himmel. Vielleicht gibt es wieder ein Gewitter wie gestern. Schwarze Wolken lagen über der Alster, nur hier und da ein wenig Blau und ein Sonnenstrahl. Weiter stieg sie über die Trümmer. Karla wartete. Butter hatten ihre Kinder schon lange nicht mehr gehabt. Tante Gertraud würde sie jetzt vielleicht im Garten spielen lassen. Sie hatte so viele Ausgebombte aufgenommen, daß ihr früher so großzügiges Haus in Flottbek eng geworden war. Aber wo sollten die Leute auch hin, die im Bombenterror alles verloren hatten. Gertraud stand zu ihrer Sache, das mußte sie ihr lassen. Sie hatte immer zuerst die Fahnen rausgehängt, steckte im Salon die Nadeln auf der Karte immer weiter vor, redete vom Schicksalskampf unseres Volkes. Nun schlug das Schicksal zurück, und ihr Haus quoll über von den Menschen, die den Schicksalskampf verloren hatten. Als sie an der Gartenpforte stand, sie mit den beiden Kindern, dem großen Tornister, den beiden Koffern, da zögerte ihre Tante nicht, obwohl doch schon drei Familien im ersten Stock wohnten, im Salon und Rauchzimmer unten auch schon fremde Frauen und Kinder. Komm rein, mehr sagte sie nicht. Obwohl sie es eilig hatte, blieb sie einen Augenblick stehen und sah zurück. Sie wollte dieses Bild in sich aufnehmen. Das war eine untergegangene Welt. Das würde niemand wiedererstehen lassen können, es war so verloren wie
all die vielen Menschen. Sie sah den Ober mit dem dunklen Schnurrbart vor sich, der so mitfühlend schaute, als sie Bernhards Hand ergriff und über der dampfenden Suppe fest drückte. Er ahnte wohl, was das für ein Brief war, den sie in ihrer Faust zerknüllte. Viele bekamen jetzt solche Briefe. An diesen Ort würde sie nur zurückkehren können, wenn sie tief in sich hineinschaute. Nur da drinnen gab es noch das blitzende Silberbesteck, das dünne Porzellan der Teller, den feinen Batist der Servietten, das mattierte Leuchten der Lampen an der Wand. Sie riß sich los. Plötzlich mußte sie an eine Geschichte aus der Sonntagsschule denken, zu der sie regelmäßig von ihrer Mutter geschickt wurde. Die Namen hatte sie nicht behalten. Aber es war eine Frau, die zur Salzsäule erstarrte, weil sie es nicht lassen konnte, zurückzuschauen. Das hatte auch etwas mit einer zerstörten Stadt zu tun. Sie drehte sich um und schritt fester aus. Der alte Mann, der Mühe hatte, sein Fahrrad über die Mauerbrocken zu schieben, blickte ihr dankbar in die Augen, als sie ihm half. Er nahm eine Hand vom Lenker, wies mit seinem Arm in ausholender Geste über die ganze Breite des Boulevards und sagte: Wird wieder, junge Frau, wird wieder.
Kreideschrift Sein Schritt war langsam. Tock … Klack. Tock … Klack. Tock … Klack. Mit drei Beinen läuft man keineswegs schneller als mit zweien. Tock … Klack. Eines haben sie ihm bei Welikije Luki genommen. Jetzt macht er einen riesigen Spreizschritt, einen Fuß tief in Rußland, den anderen in Barmbek-Basch. Man kann Menschen auch stückweise beerdigen. Aber wenigstens haben sie den Rest von ihm mitgenommen, als sie sich Hals über Kopf zurückzogen. Und dann haben sie ihm in Allenstein zwei neue Beine verpaßt. Aber die waren nur Ersatz, wie es so viel Ersatz gab, heutzutage. Er mochte auch keinen Muckefuck. So richtige Bohnen, die man in der Mühle erst klein machen muß, das war schon etwas anderes, auch wenn er sich als Kind immer das Fleisch am Oberschenkel zwischen der Kaffeemühle und dem Hocker kniff, wenn er sie zwischen seinen Beinen hielt. Aber sie haben ihm das gequälte Bein einfach abgenommen. Dieses Gefühl würde er nie mehr haben, nie mehr? Es gibt Leute, die jucken sich die fehlende Hand.
Tock … Klack. Weit war es nicht mehr, nur noch diese Straße runter. Der Straße erging es so wie ihm. Wesentliches fehlte. Die Häuser zum Beispiel. Hier und da stand nur noch ein Stumpf der Grundmauer, da drüben waren noch die zugemauerten Kellerfenster, Luftschutz, Luftschutz war wichtig, und da gab es noch den Eingang zu Hansens Kolonialwarenladen, aber der alte Hansen verkaufte auch nichts mehr, von ihm mußte er früher immer den Bohnenkaffee holen und für fünf Pfennig Dauerlutscher erlaubte Oma ihm auch. Was hatten sie ihn bewundert, wenn er mit seinem einen Arm die Bonbongläser sicher griff und den Schnobkram in die kleinen Tüten füllte. Sein anderer Arm lag in Belgien. Auch so einer. Ein Krüppel. Aber das wagten sie nicht zu sagen. In diesen Trümmerbergen gab es nun nichts mehr zu verkaufen. Das hier, diese chaotische Ansammlung von Trägern, Trümmern, Balken war der Gemüsemann. Für einen Groschen Sauerkraut, aus dem Faß in Pergamentpapier, das war ziemlich viel, hielt den ganzen Nachmittag. Sie hatten wohl noch versucht, ihre Einrichtung zu retten. Eine verkohlte Standuhr mit krumm verbogenem Perpendikel, logischerweise nicht mehr durch Glas vor dem Staub geschützt, obwohl es doch jetzt nötiger war als je, denn er spürte den Mörtel zwischen den Zähnen, eine Anrichte aus Mahagoni auch fast ganz heruntergebrannt, ein eichenes Doppelbett, in das sich keiner mehr legen konnte, standen mitten auf den Straßenbahnschienen. Er machte einen Bogen um den Haufen Vergangenheit.
Tock … Klack. Jetzt wurde es schwierig. Die Trümmer hatten sich lawinenartig auf Bürgersteige und Fahrbahn ergossen. Er suchte sich seinen Weg zwischen den Gesteinsbrocken, einmal konnte er die Barriere nur überwinden, indem er sich hinsetzte und kroch. Aber er mußte sein Ziel erreichen. Tock … Klack. Tock … Klack. Da um die Ecke. Hier war die Apotheke. Der Apotheker ging nach Südamerika, hieß es. Der neue war weniger nett. Er band seinen Schäferhund immer an die Laterne vor seinem Laden und trug Langschäfter. Durch sein Gesicht zogen sich weißliche Narben, als wäre es einmal in Scherben gefallen, sie wurden knallrot, wenn er sich aufregte. Er regte sich oft auf, wenn sie neben seinem Schaufenster mit dem Ball an die Wand schossen und sein Köter bellte wie verrückt. Er hatte immer ein wenig Angst vor diesem Raubtier gehabt und wechselte auf die Straßenseite, mußte er um die Ecke. Ob seine Narben wohl auch leuchteten, als sein Geschäft zusammenbrach? Er war der Blockwart des Luftschutzes gewesen, hatte vielleicht zusehen dürfen, wie alles zu Schutt wurde. Jetzt stand er auf seinen drei Beinen vor seiner Straße. Hier war er groß geworden, hier hatte er gespielt mit Klaus Müller und Manfred Boldt, dessen Vater Friseur war und der immer so roch, als käme er direkt aus dem Laden seines Vaters. Er hatte es geahnt, schon als der Zug von Osten langsam, fast im Schrittempo in die Stadt rollte. Die Kameraden hatten ihm einen Fensterplatz freigemacht, und sie schauten wie fassungslos aus den rußigen Scheiben. Das war einmal Billbrook, Tiefstaak, Hamm, Hammerbrook, Berliner Tor
gewesen. Weiter Himmel über einer Steinwüste. Aufragende Ruinen, absurde Fassaden, hinter den nichts mehr war, halbierte Fabrikgebäude und Bürobauten, einsam und sinnentleert ragende Schornsteine, dazwischen eine wellige Landschaft von Trümmern, Stahlträger wie Galgen, kaum waren noch Straßen zu erkennen. Wer mochte hier überlebt haben? In ihrem schaukelnden, leise ratternden Waggonabteil war es still geworden. Der Kamerad ihm gegenüber hatte seine Pfeife aus dem Mund genommen und nahm bis zum Hauptbahnhof keinen Zug mehr. Verschämt sah er, daß er unter seinem schmutzig weißen Kopfverband, aus dem verbliebenen einen Auge weinte. Die Tränen verfingen sich auf seinen unrasierten Wangen. Ihm schlug das Herz bis zum Hals. Er empfand eine Angst, die er an der Front nie gefühlt hatte. Jetzt, heute ging es um alles. Nicht da draußen in der russischen Steppe. Hier stand alles auf dem Spiel, was ihm überhaupt noch etwas wert war. Der Zug fuhr ihm nicht schnell genug. Mach, mach, dachte er, fahr zu. Und er hatte diesen langen Weg bis hierher geschafft. Tock … Klack. Tock … Klack. Er stand in seiner Straße. Nur war es keine Straße mehr. Auch Barmbek-Basch war dem Tommy nicht zu gering gewesen. Nur noch Trümmer, hier und da eine Mauer des Erdgeschosses, ein Eingang ins Nichts. Er konnte es nicht verhindern. Er übergab sich, beugte sich vor, zitterte, würgte und kotzte mitten in den Dreck. Der säuerliche Geschmack widerte ihn an, aber er paßte hierher. Seiner Straße war es ergangen wie ihm. Mit seinem Bein hatte er sie verteidigt, wenn er seinen
Führern noch glauben durfte, die es ihm schon in Rahlstedt in der Kaserne so einpaukten. Hätte er sein Bein nicht in Welikije Luki gelassen, dann wäre er jetzt gerannt. So gab es nur ein immer schnelleres Stakkato seines Tock … Klack. Tock … Klack. Tock … Klack. Bebend stand er vor seinem Haus. Sie hatten gewußt, daß er hierher kommen würde, als erstes hierher. Bis zum ersten Stock war die Mauer stehengeblieben. Das war die Tür zum Schlachter. Dahinter stand auch noch die weiß gekachelte Wand des Ladens. Und neben der Tür hatte eine wacklige Hand mit Kreide geschrieben, er dachte noch blitzartig, wo hatten sie nur die Kreide her, und er las mit zitternden Lippen sein Urteil. Klara und Anke bei Hofmann, Werner und Mutter tot. Jetzt war es an ihm, zu weinen. Er ließ sich auf das Pflaster fallen, merkte nicht, wie der Sturz seine Knochen quälte und heulte hemmungslos all seinen Schmerz hinaus. Sein Junge, sein Junge, sein Junge tot. Er sah, wie er mit ihm Drachen steigen ließ im Stadtpark auf der großen Wiese, er sah, wie er mit ihm badete, ihm die ersten Schwimmzüge beibrachte, er hörte ihn rufen, lauter und lauter rief er nach ihm. Die Stimme wollte nicht verstummen, sie traf ihn wie peitschende Schläge, sein Körper wand und schüttelte sich unter diesem hilflosen Schreien, und er wußte, es würde ihm immer in den Ohren gellen, sein ganzes beschissenes Leben lang. Er sehnte sich mit jeder Faser seines gebeutelten Leibes nach Klaras weicher und tröstender Umarmung. Wenigstens sie hatte es geschafft, sie und die Kleine, bei
Hofmanns in Dahme. Nicht zum Urlaub an der Ostsee. Sondern voll des Schreckens und der Trauer in ein wenig Sicherheit. Er schleuderte die Krücken von sich. Hätten sie ihm nicht das andere Bein auch noch nehmen können, als Opfer für den kleinen Werner, der noch alles vor sich hatte? Er hätte seine Augen, seine Arme auch noch dahingegeben für das unbeschwerte Lachen des kleinen Jungen aus Barmbek. Ein richtiger Barmbeker Butsche wird er, sagten sie lächelnd, und nun ist er nie mehr geworden als ein Barmbeker Butsche. Schmerzhaft kam ihm zu Bewußtsein, wie er mit ihm gescholten hatte, als er sich mit den Rüpeln aus dem Torweg geprügelt hatte. Man schlägt sich nicht. Aber man tötet Kinder. Eine lange Zeit war vergangen. Eine Frau mit Kopftuch in einem schäbigen Mantel schob mit ihrem über das Geröll schaukelnden Kinderwagen an ihm vorbei. Sie blieb stehen, sah ihn stumm an, blickte sich suchend um, dann ließ sie ihren Wagen los, bückte sich, hob seine Krücken auf, streckte sie ihm hin. „Ihre Leute“, fragte sie und wies auf die Kreideschrift an der Mauer. Er nickte. Sie zeigte auf den Stumpf seines Beines und sagte leise: „Sie sehen’s doch: unser Vater will, daß Sie leben.“ Dann schob sie weiter. Er hatte bitter lachen wollen über den sonderbaren Vater, der zuschaut, wenn Kinder sterben, aber der Haß blieb ihm im Halse stecken. Klara wird das Schreien auch hören, und Anke braucht ihn. Er mußte nach Dahme. Er mußte einen Weg finden, je schneller, desto besser.
Feudeln Ich bin kein Mädchen, das sich in Torwegen und Treppenhäusern rumdrückt, auch wenn meine Mutter so sagt. Gesagt hat. Warum haben wir uns nur so sehr gestritten! Gewiß, ich hätte die Küche feudeln sollen und einholen, aber ich wollte die Zeit nutzen, die paar Tage Urlaub vom Pflichtjahr in Siek, weil mir der Deckel der schweren Brauttruhe, in der sie die Bettwäsche aufbewahrten, auf die Hand geknallt war. Das mußte ich untersuchen lassen, ob nichts gebrochen wäre, am Abend war die Hand wenigstens dick angeschwollen, und am Morgen ließen sie mich nach Hause fahren, der Landarzt war eingezogen worden, da waren die Leute in der Stadt besser dran. Außerdem war Sommer, sonniges und heißes Wetter, ich dachte mehr an Ausflüge und ans Baden, als an die Hausarbeit in dem großen und dunklen Bauernhaus, immer nur fegen, wischen, Hühner füttern, Kinder anziehen und ausziehen, Kartoffeln schälen und Gemüse putzen. Ich wollte auch Emil wiedersehen, der mir fast jede Woche eine Karte geschrieben hat, und immer so anzüglich,
und die Briefträgerin las alles und zeigte die Karten der Bäuerin bevor ich sie bekam, und der Schnösel von Jungbauer versuchte dann auch sein Glück, die Backpfeife wird er so schnell nicht vergessen, ganz rot war seine Wange und alle fragten ihn, ob er Zahnschmerzen hätte, aber Emil sieht wirklich gut aus und lacht so lustig. Ich weiß nicht, wo er ist. Irgendwo auf oder unter den Trümmern. Ich weiß gar nichts mehr. Hätte ich das geahnt, ich hätte mich nicht gegen seine Hand in meinem Schlüpfer gewehrt. Ich konnte doch nicht voraussehen, daß die alte Ziege Schubert aus ihrer Tür kommt und uns unter der Treppe erwischt. Mir war sofort klar, daß sie gleich zu Mutter rennt und ihr brühwarm alles erzählt. Darum gab’s ja diesen Krach. Es wäre ein Skandal, diese Schande, ich wüßte doch wie die Nachbarn redeten, ob ich mich denn nicht schämte, mit hochgeschobenem Rock im Treppenhaus, und ich könnte ihr wirklich mal zur Hand gehen, da sie doch mit ihrem Herzen zu tun hätte, und diese Migräne, und dann die Fliesen in der Küche, wie sehen die bloß aus, sie hätte es mir schon beim Frühstück gesagt, und die Fenster müßten geputzt werden, sie könnte das nicht machen, ihr würde immer schwindelig, das wüßte ich doch auch. Statt dessen drückte ich mich im Treppenhaus und den Torwegen mit den Kerlen herum, was sie nur machen solle, so allein mit mir und der Vater an der Front, man müsse sich ja schämen. Mama, ich wollte, du könntest mir noch einmal die Leviten lesen. Wenigstens deine Stimme hören.
Am Sonntag wollte Emil mit mir in den Sachsenwald. Eine Woche Urlaub bekäme er, und ich mußte schon Montag wieder nach Siek, denn meiner Hand war nichts mehr anzumerken. Wir könnten in der Bille baden, er wisse eine schöne Stelle, da wäre man fast allein. Emil, wo bist du? Der erste Alarm war ganz harmlos. Er unterbrach uns mitten im Streit. Sollten wir in den Keller gehen? Die schweren Koffer die Treppe runterschleppen und dann nach einer Stunde alles wieder hoch wuchten? Mutter mußte auch die Bettwäsche, die sie gewaschen hatte, wieder einpacken und all das andere, es wird ja muffig im Koffer, wenn man es nicht mal rausnimmt und lüftet. Kaum waren die Sirenen verstummt, da hörten wir das Schießen der Flak. Bomber brummen. Explosionen. Wurde es diesmal ernst? Wir waren uns noch nicht klar darüber, da brüllte der Luftschutzwart schon durch das Treppenhaus, wir sollten machen, daß wir in den Keller kämen. Also doch: 2 Koffer, die große Tasche über die Schulter und runter. Mutter hinterher. Sie schimpfte nicht mehr. Sie sagte gar nichts mehr, auch nicht unten im Keller, aber da waren ja auch die anderen Leute dabei. Zuletzt hatte ich sie angeschrien, ich wäre schon fast erwachsen, siebzehn Jahre immerhin, und sie solle sich nicht so anstellen. Irgendwie war das nicht richtig von mir. Du sollst Vater und Mutter … Aber Papa hat auch immer mehr Verständnis gehabt. Ein Junge soll sich die Hörner abstoßen, sagte er immer, aber was macht ein Mädchen, das keine Hörner hat? Laß sie, wer weiß, wie lange sie das noch kann, so jung wird sie nicht wieder …
Auf der Treppe pöbelte der Luftschutzwart noch hinter uns her, wir wären wieder die letzten, die ganze Hausgemeinschaft säße schon unten. Wir setzten uns auf die Hokker in unserem Kellerabteil. Die Räume waren klein, es gingen immer nur fünf oder sechs Leute in einen Verschlag. Und bei uns natürlich die Schubert. Sie sah triumphierend zu mir hinüber, aber ich tat ihr nicht den Gefallen, rot zu werden. Mutter sagte nichts. Aber sie wurde rot. Der alte Schubert kaute an seinem Priem. Von der linken Backe in die rechte. Und dann kamen die Schläge. Alles schaute zur Betondecke hoch und zu den Balken im Gang, die dort die Decke abstützten. Die Schubert bibberte vor Angst. Ich gönnte es ihr. Ich wußte nicht, daß es so schlimm kommen würde, niemand wußte es. Die Gespräche in den anderen Kellern verstummten allmählich. Alles horchte auf die Einschläge. Dann ging das Licht aus. Der Keller schwankte, es war, als wollte er sich aus dem Boden heben. Ob unser Haus das überstand? Von der Tür her plötzlich eine laute befehlende Stimme: Feuer! Die Männer raustreten! Schnell! Neben uns hat’s eingeschlagen, oben brennt’s! Männer trampeln durch den Gang. Bei uns riecht es plötzlich nach Cognac. Bestimmt die Schubert, die sich einen Schluck genehmigt. Wieder das dumpfe Donnern. Wenn die Tür geöffnet wird, auch das Gebrumm der Flieger und das Schießen der Flak. Die Stimme von der Tür: Frauen raus! In die Wohnungen! Alle Frauen raus zum Schutz gegen den Funkenflug. Ich will aufspringen. Mama drückt mich zurück auf die Bank. Kein Wort, nur ihre feste Hand. Sie will nicht, daß
ich mitkomme. Dann bin ich allein hier. Ich will die Kerze anzünden, eine Stimme schreit: Licht aus! Sauerstoff! Die Kellerfenster haben sie zugemauert. Ich bin in der Falle. Dann kommt ein Riesenschlag. Ohne Zweifel, das war unser Haus. Ein schreckliches Poltern, Krachen, Dröhnen. Mama! Mama da oben. Ich will raus hier, auch nach oben, aber die Tür läßt sich nicht öffnen, die anderen erdrücken mich fast. Wir müssen warten. Ich drängle gegen an, bin wieder in unserem Keller. Irgendwie hab ich das Gefühl, es werde immer wärmer. Zugleich aber friert mich. Lange nichts. Dann knarscht und quietscht die Tür. Raus hier! Alles raus, gleich kommt das Haus runter! Die Luft hinter der Tür ist glühend heiß, kaum bin ich auf der Straße, umwirbeln mich Funken und verbranntes Papier. Um mich rum brennt alles. Der Himmel ist rot von Feuer. Der Funkenregen tut weh. Sie brüllen: Weiter, weiter. Aus jedem Fenster in unserem Haus schlagen wilde Flammen. Ruß und Rauch schneiden in die Augen. Irgend jemand drückt mir eine nasse Wolldecke in die Hand. Einwickeln, schreit er. Ein Mann mit Helm. Wir fangen an zu rennen. Das Holzlager am Ende der Straße steht in hellen Flammen. Da müssen wir vorbei. Ich denke, ich verschmore. In diesem Augenblick habe ich gar nicht mehr an Mama gedacht. Nur noch ans Rauskommen hier. Ich versuchte einzig, mit den anderen mitzukommen. Nicht zurückbleiben in diesem Höllenfeuer. Neben uns stürzten immer wieder prasselnd Mauern ein. Balken flogen uns um die Ohren. Eine Frau drei Leute
vor mir wurde von einem Gesimsteil getroffen, rums, sie brach zusammen und blieb liegen. Weder ich noch ein anderer half ihr auf. Jeder für sich. Ich ging plötzlich wie auf einer Gummimatte. Der Asphalt wurde weich, weiter hinten schien er zu brennen, oder es war Holz. Wir rannten an Leuten vorüber, die mitten auf der Straße ihr Wohnzimmer aufgebaut hatten, sie standen rund herum und weinten. Das Wohnzimmer brannte. Vor dem Hochbunker drängelten sich alle zusammen. Neben uns aus unserem Keller auch eine Traube Fremdarbeiter, alles Frauen. Er sei voll, hieß es. Und die Fremdarbeiterinnen kämen sowieso nicht in den Bunker. Aber dann machten sie doch die Tür auf und ließen uns rein. Die kreischenden Fremdarbeiterinnen mußten draußen bleiben. In diesem Augenblick war mir das egal. Auf den dreistöckigen Holzbetten lagen sie eng wie die Heringe beieinander. Das Licht einer Taschenlampe leuchtete grell über ihre bleichen Gesichter hinweg. Wir mußten im Gang kampieren. Die Luft war unglaublich warm, dumpf, stickig und staubig, ich meinte zu ersticken. Ich schmiegte mich ganz unten an den kühleren Boden und holte tief Luft in die Lungen. Nach Stunden war es vorbei, lange nach der Entwarnung, die wir auch gehört hatten, aber wir sollten hier bleiben, draußen würden wir umkommen, hieß es. Jetzt erst kam meine Mutter zu mir. Sie war tot, sicher war sie tot. Aus dem Haus war keiner mehr rausgekommen. Und ich wollte sie fragen, ob ich mit Emil in den Sachsenwald dürfte. Sie stand vor meinen brennenden, geschwollenen
Augen, die ich nicht einmal reiben konnte, um sie zu vertreiben. Sie wird nie wieder so richtig vor mir stehen. Ein Messer schnitt in meine Brust. Aber es hätte doch keinen Sinn gehabt, die Küche zu feudeln.
Deswegen Ich war nicht unbedingt dafür. Zuerst ja. Es war immer sehr nett beim BDM. Wir haben so schöne Sachen gebastelt, Mama hat sich über den gestickten Wandteppich sehr gefreut, und den Aschenbecher konnte Papa auch gebrauchen, trotz Hakenkreuz in der Mitte. Macht nichts, sagte er, da asch ich drauf. Vater war Kapitän und arbeitslos. Er rauchte die billigen Stumpen und wartete auf bessere Zeiten. Er träumte noch vom Kaiser. Damals wäre das nicht passiert, sagte er immer. Die Sozis mochte er nicht, aber die Proleten auch nicht. So nannte er die Bewegung. Aber er ließ mich dahingehen. Nur erzählen durfte ich ihm nichts davon. Marianne und Gerda, wo die nur abgeblieben sind, ich hab sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Ja, es hat mir Spaß gemacht, die lustigen Abende, was haben wir gelacht. Ich hab mir auch das Buch gekauft, und versucht es zu lesen. Aber ich bin nicht durchgekommen, obwohl ich wollte. Dann war dieser Ball, damals, im Februar. Er war sehr flott, der schwarze Smoking. Ein kecker kleiner Schnurrbart, sein frisches Lachen, und niemand drehte mich so leicht
und beschwingt beim Walzer wie er, ich dachte, ich würde fliegen. Er wollte mich unbedingt nach Hause bringen, unbedingt, aber als er vor meiner Haustür mir seine Adresse geben sollte, da wurde er plötzlich ernst und sagte gar nichts mehr. Ich bohrte hartnäckig nach, so einen kann man sich nicht entgehen lassen, aber er schüttelte nur den Kopf und seine Augen waren ganz traurig. „Besser, du weißt nichts. Nach dem 30. ist es wirklich besser, du weißt nichts. Ich bin Jude.“ Sagt er so einfach. „Ich bin Jude.“ Dreht sich um und geht. Ich seh ihm noch nach, als er um die Ecke beim Fischhöker verschwindet. Kein Blick zurück. „Ich bin Jude.“ Von da an hatte ich keinen Spaß mehr an den deutschen Mädels. Ich bin nie wieder hingegangen, und Vaters Aschenbecher fiel mir beim Abwaschen aus der Hand. Wie lange ist das her. Vor dem Bahnhof in Blankenese mußte ich daran denken. Da hatten sie die roten Fahnen mit dem Hakenkreuz nicht eingezogen, sie hingen unter dem schwarzen Himmel matt herunter. Die dunkle Wolke lastete immer noch auf Hamburg. Ab und zu kam die Sonne durch, ein schüchterner Strahl, die weißen Häuser leuchteten auf. Ich kam mir vor wie im Himmel. Heile Häuser, keine Trümmer, grüne Bäume, Blumen in den engen Gärten, eine andere Welt. Der Tommy hat ihnen nichts getan. Ich konnte nicht verstehen, warum er ihnen nichts getan hat, schon auf dem Lastwagen, als wir über die Elbchaussee kamen, begann ich mich zu wundern, es war, als hätte jemand seine Hand über diese Villen gehalten.
Aber dann fragte die Frau mich, ob ich denn wüßte, wohin ich mit den beiden Kleinen wollte. Sie stand an der weiß lackierten Gartenpforte vor ihrem Lotsenhäuschen und sah uns an, daß wir Flüchtlinge waren. War auch nicht schwer. Ich mit dem schweren Rucksack, die beiden Kleinen mit ihren vollgestopften Ranzen, dreckig, rußig, wir sahen aus wie Flüchtlinge. An der Wand gegenüber der Haustür das Bild eines Kriegsschiffes in schwerer, grüner See, mit der kaiserlichen Flagge, ganz groß die alte Fahne. Ich fühlte mich gleich zu Hause, dachte an Papa, der nun in Norwegen war. Letzte Woche war noch ein Paket von ihm angekommen, auch futsch, alles futsch. Dann hockten wir in der Küche, schöne Fliesen über dem Herd, die Messingstange blitzte. Die Frau in ihrer gestärkten weißen Schürze, wie heißt sie doch gleich, sie hat es gesagt, verflixt, ich weiß gar nicht, wie sie heißt, an der Tür stand es doch, Petersen oder Ketelsen, schenkt Kaffee nach. Bohnenkaffee. Die Kleinen sind gleich in den Garten gestürmt. Hoffentlich reißt der Armin keine Blumen ab, er pflückt so gern Blumen. Ich will nicht dumm auffallen, sie ist so nett. „Sie wollen uns kaputtmachen“, sagt sie. „Churchill will uns kaputtmachen.“ Und mir kamen die Tränen, ich konnte nichts dagegen tun. Sie liefen einfach runter. Ich bin eine Heulsuse. Aber gestern konnte ich nicht mehr. In dieser friedlichen Küche, den Kaffee dampfend vor mir, die Kinder im Garten, da konnte ich nicht mehr. Ich hab ihr alles erzählt. Nachher muß ich sie fragen, ob ich ihr helfen kann. Sie ist so nett. Es kam einfach alles raus aus mir.
Abends hat sie mich ins Bett gebracht und die Kinder auch. Jetzt schlafen sie noch. Sie hat sie zusammen auf ein Feldbett gelegt. Ich hab davon gar nichts mitbekommen. Die Bettwäsche riecht gut. Da steht mein Rucksack. Das ist alles. Waren es eigentlich sechs oder acht Angriffe? Alarm war öfter. Zuerst wollte ich nicht in den Keller. Aber ich bekam es mit der Angst. Die Flak schoß so heftig, und die Flieger mit ihrem Dröhnen, sie waren überall. Ich hab sie dann aus dem Bett gerissen, und es hat drei Stunden gedauert in dem Keller, der immer wieder bebte. Am liebsten hätte ich mich über sie geworfen, aber das hätte auch nichts genützt. Manchmal hatte ich das Gefühl, der Keller würde hochgehoben. Ich spüre das noch im Bauch. Das Haus über uns muß ziemlich geschwankt haben. Morgens hab ich dann den Riß gesehen, der ging durch die Tapete. Komisch, die Fenster waren heil geblieben, obwohl die Sprengbombe drüben reingegangen war. Als ich die beiden hingelegt hatte, bin ich auf dem Balkon gegangen. Der Himmel war feuerrot. Bis zu uns hoch wirbelte der Sturm die Rußflocken und brennenden Papierfetzen. Meine Augen brannte. Drüben standen sie auf der Straße und weinten. Ich wollte das Radio anmachen, aber es gab ja keinen Strom. Ich hab mich hingelegt und an Christian gedacht. Ob er weiß, was hier los ist? Am Morgen bin ich mit den Kindern rausgegangen, ich konnte sie ja nicht einsperren. Einmal Richtung Landwehr. Aber es war viel abgesperrt. In der Wandsbeker Chaussee
fing es an. Donnernd fuhren Lastwagen an uns vorbei, voll mit Leuten. Sie sahen alle aus, als ob sie viel mitgemacht hätten. Es gab wohl keine Züge mehr. Die Sirenen heulten wieder Voralarm. Ich packte die Kinder und rannte mit ihnen nach Hause. Verrückte Idee, mit ihnen rauszugehen. Ich hatte grade die Milchsuppe fertig, da gab es Alarm. In den Keller gehe ich nicht wieder. Wenn unser Haus darauf runtergeht, dann sitze ich mit den Kindern in der Falle. Ich muß in den Bunker nach drüben. Ich reiße sie durchs Treppenhaus, runter und rüber. Diesmal ist das dumpfe Dröhnen von draußen noch viel schlimmer. Die Kinder weinen vor Angst. Sie haben heute morgen so viele Ruinen gesehen, zu viele weinende und verzweifelte Menschen. Verrückte Idee, mit ihnen rauszugehen. Drei Stunden waren wir in dem Bunker, bis Entwarnung kam, drei Stunden an einem Sonntagnachmittag mit den Kindern im dunklen Bunker, mit seiner dumpfen Luft, der Strom war wieder weg. Kinder brauchen viel frische Luft, sagte die Ärztin neulich. Sie wollte mich zu einer Verschickung überreden. In der Nacht neuer Alarm, wieder riß ich die Kinder aus ihren Träumen. Hanna hatte sich bloßgestrampelt. Sie träumte sicher schlecht. Gegen eins war alles vorbei. Am Montagmorgen mußte ich einholen. Ich brauchte Milch und Butter, Brot war auch nicht mehr da. In Vaters Kiste war nur Schmalz. Hartmanns Laden stand noch. Eine lange Schlange stand an. Gerade als ich an der Reihe war, gab es wieder Alarm. Ich mußte mit den Kindern in den anderen Bunker am Erlenkamp, auch wenn der nicht so
gut war, denn er ragte ein ganzes Stück aus der Erde. Zum Glück dauerte es nur eine halbe Stunde, und für die Splitter der Flak reichte er sicher. Wieder zum Kaufmann, ich kam gleich ran, und mit der Milch und der Butter und dem Brot dann schnell nach Hause, falls es wieder Alarm gäbe. Sie haben ja noch nicht genug. Ich wollte noch saubermachen, aber da gab es Alarm. Der Tommy will nicht, daß ich saubermache. Abends zog ich die Kinder gar nicht mehr aus, ich legte sie angezogen ins Bett, und dann ging es prompt auch wieder los in der Nacht. Auf dem Weg über die Straße zum Bunker flogen die Bomber ganz dicht über uns hin, als stürzten sie sich auf unsere Häuser, die Flak schoß wie wild. Als wir nach drei Stunden endlich oben waren, hatten die Kinder rote Augen von dem Qualm. Sie weinten beide, ich konnte sie kaum beruhigen, aber der Feuerschein über der Stadt war auch zu unheimlich. Sie hatten Angst und ich konnte nichts dagegen tun. Ich legte sie wieder hin, angezogen, und blieb bei ihnen, bis ihr Schlaf doch stärker war. Das war noch nicht alles. Am Dienstag ging es richtig los in unserer Straße. Mitten in der Nacht Alarm. Diesmal wurde es ernst. Mehrere Häuser brannten. Zuerst mußten die Männer raus zum Löschen, dann holten sie uns Frauen. Ich mochte die Kinder nicht allein lassen, aber die schlaksige Susanne versprach aufzupassen. Außerdem ließ der Luftschutzkerl mir keine Wahl. Unser Haus brannte auch. Die Männer löschten so gut sie konnten im Dach. Ich ging in meine Wohnung, ich weiß nicht warum, keiner hinderte
mich, und ich nahm die Gardinen ab, so richtig mit Trittleiter und so, legte sie sorgfältig zusammen, stapelte sie auf dem Wohnzimmertisch. Und dann packte ich Vaters alte Aktentasche mit meinem Silber voll. Am Ende standen zwei große Koffer, die Aktentasche und Christians alter Affe im Flur. Die sollte der Tommy nicht kriegen. Auf dem Dachboden hatten die Männer Erfolg gehabt. Ich sollte wieder rüber in den Bunker. Als ich mit den Koffern im Treppenhaus war und loswollte, sagte einer der Männer mit Helm zu mir: „Mädchen, die darfst’ doch nicht mit reinnehmen, die laß man ruhig stehen.“ Drüben im Bunker kämpfte ich mich zu meinen Kindern durch. Susanne war noch da. Aber sie kümmerte sich jetzt um eine Frau, die ganz rußig, verschrammt und drekkig auf der unteren Liege stöhnte. Immer wieder schrie sie: „Das Feuer kommt, das Feuer kommt, ich muß weg hier, das Feuer kommt!“ Meine Kinder starrten sie mit aufgerissenen Augen an. Als sie mich erblickten, fielen sie mir um den Hals und weinten. Ich konnte sie kaum von mir lösen. In dieser Nacht kamen wir noch einmal zurück in unsere Wohnung. Alle Fenster und die Verdunkelung waren hin. Wie schon an den beiden Tagen vorher wurde es gar nicht mehr hell. Eine dichte Rauchdecke lag über der Stadt. Mittags hörte ich, Frauen und Kinder sollten aus der Stadt. Lastwagen stünden beim Landwehrbahnhof. Aber ich wollte nicht. Ich wußte auch nicht, wohin mit den Kindern. Christian sollte uns finden können. Jetzt war doch alles bald zu Ende. Sie konnten nicht weitermachen. Es war doch schon
fast alles kaputt. Ich blieb, aber ich hatte ein schlechtes Gewissen, als wir wieder in den Bunker mußten. Gestern, Donnerstag, ja, Donnerstag war’s schon, da hat es dann uns erwischt. Ich durfte wieder nichts mitnehmen, nur die Aktentasche mit dem Silber hab ich mir doch gegriffen. Die hab ich später im Bunker gelassen, als wir so schnell raus mußten. Die Kinder waren wichtiger. Armin quengelte und wollte wissen, ob sein Bett noch steht, aber es stand nichts mehr. Als wir vor dem Bunker standen, war das Haus bis auf die Grundmauern runtergebrannt. Auch sein Bett. Ich muß gleich aufstehen. Wie spät ist es? Halb sieben. Armin dreht sich schon wieder um. Er wacht bestimmt bald auf. Sonderbar, wie leer alles in mir ist. Nicht einmal Wut ist da. Nicht auf die Engländer, nicht auf die Partei, auf den dicken Marschall. Alles im Eimer, und ich bin noch nicht einmal wütend. Das Silber wird weg sein. Wir mußten so schnell raus. Erstickungsgefahr, schrien sie. Ich will auch nicht zurück. Nicht ohne meine Kinder, und erst recht nicht mit ihnen. Sie ist so nett, aber trotzdem nicht. Unten klappt eine Tür. Vielleicht steht sie nun auf. Ihr Mann ist gar kein Lotse, er hatte eine Schokoladenfabrik in Lübeck, aber die ist schon lange weg. Er hat sich aufgehängt, als sein Sohn gefallen ist. Der Einzige. Und sie ist trotzdem so nett. Oder deswegen.