Terra Astra 10
Erde in Finsternis Peter Terrid
Ein allmählich anschwellendes Summen klang aus dem Deckenlautsprecher ...
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Terra Astra 10
Erde in Finsternis Peter Terrid
Ein allmählich anschwellendes Summen klang aus dem Deckenlautsprecher durch den großen Saal. Der kahlköpfige, noch recht junge Mann blinzelte über den Rand seiner Brille zu dem Gerät hinauf, zuckte die Schultern. „Ich hoffe", sagte er halblaut, „daß Ihnen der Rückkopplungs prozeß innerhalb des menschlichen Nervensystems endlich klar ist!" Die Verstärkeranlage nahm seine Worte auf und trug sie durch den bis auf den letzten Platz gefüllten Hörsaal. Ein unterdrücktes Zischen einiger Studenten zeigte, daß manche Hörer den Stoff seiner Vorlesung noch immer nicht begriffen hatten. „Für morgen", fuhr der Dozent fort, „sehen Sie sich bitte den Abschnitt über die Synapsen an! Ich danke Ihnen!" Der Mann nickte kurz, klappte einen Schnellhefter zusammen und verließ gelassen den Saal. „Es wurde langsam Zeit!" brummte Leaish ungehalten und schloß sein Kollegheft. Er drehte den Kopf zu seinem Nachbarn und fragte: „Hast du ihn verstanden?" „Selbstverständlich!" meinte der Gefragte. „Ich verstehe vor allem, daß ich in ein paar Jahren nichts mehr verstehen werde. Wenn mir dann ein Schüler vom Reck fällt und sich ein Bein bricht, kann ich ihm zwar bis ins Detail erzählen, welche Nerven für seine Schmerzen verantwortlich sind, aber helfen 2
können werde ich ihm nicht. Ich glaube fast, daß wir diesen Unfug nur lernen müssen, damit die Herren Dozenten einen Broterwerb haben!" „Psst!" machte Leaish sarkastisch. „Wenn sich deine Erkenntnis herumspricht, bricht im Lehrkörper eine Selbstmordepidemie aus!" Er grinste leicht, packte seine Aktentasche und mischte sich in den Menschenstrom, der zum Ausgang drängte. Auf dem Weg zum Hauptausgang des Universitätsdecks hielt er noch am Schwarzen Brett an und studierte die Anschläge. Es war der übliche Querschnitt durch den studentischen Alltag: Mitarbeiter für Arbeitsgemeinschaften wurden gesucht, durchgefallene Kommilitonen offerierten veraltete Lehrbücher, frustrierte Zeitgenossen suchten Anschluß. Verkaufe mein Skelett, äußerst preisgünstig. Leaish las den Text und grinste diabolisch. „Sieh an!" murmelte er. „Zeitkritische Satiren am Schwarzen Brett! Offenbar ist außer mir noch jemand darauf gestoßen, daß die herrschende Schicht zur Klasse der Wirbellosen zählt!" Er strich das überflüssige m aus dem Text und ging weiter. Etwa einhundert Meter vom Hauptausgang war die Haltestelle der Röhrenbahn. Geduldig wartete Leaish, bis die Bahn heranschoß und auf einer Strecke von nur fünf Metern stoppte. Die Falttüren klappten aus, und Leaish stieg ein. Er fand sofort einen Sitzplatz, lehnte sich in dem Sessel etwas zurück und schloß die Augen - drei doppelstündige Vorlesungen unmittelbar hintereinander waren eine Tortur, selbst für einen guttrainierten Verstand. Leaish Mattingly war siebenundzwanzig Jahre alt und etwas über einhundertsiebzig Zentimeter groß. Sein Körperbau verriet den Sportler - ein breiter, sehr muskulöser Oberkörper und eine auffallend schmale Taille. Sein dunkelblondes Haar wirkte ziemlich schütter - in fünfzehn Jahren spätestens würde er nahezu kahl sein. Um seinen schmallippigen Mund zog sich 3
ein dichter, sorgsam gestutzter Bart. Seine Augen waren braun und nicht ganz in Ordnung - er trug eine modische Brille, die ihm außerordentlich gut zu Gesicht stand. Er studierte Sport und Sprachwissenschaften, wenn auch nicht mit sonderlichem Eifer - allerdings konnte er sich diese Lässigkeit leisten. Sein ungewöhnlich flexibler Verstand erfaßte sehr schnell alles, was mit einem Problem zusammenhing, und stieß zum Kern der Schwierigkeiten vor er verzettelte sich so gut wie nie. Die Röhrenbahn stoppte. Leaish hörte das Klappen der Türen und öffnete die Augen; er war am Ziel seiner Fahrt. Gemächlich stieg er aus und sprang dann auf das Transportband. Zwei Minuten später hatte er den zehn Meter durchmessenden, zentralen Schwerkraftschacht erreicht. „Es geht wieder einmal aufwärts mit mir!" brummte er mit einem grimmigen Lächeln und stieß sich vom Rand des Schachtes ab. Langsam schwebte er hinauf. Leaishs besonderes Kennzeichen war, daß er das Leben zu genießen wußte. Es gab nur wenig, das ihn wirklich verstimmen konnte. Ohne Aufregung, Trubel und eine gewisse Hektik war er einfach nicht lebensfähig. „Stop!" sagte er laut. Eine Automatik peilte ihn an und zog ihn mit Hilfe eines Fesselfeldes aus dem Schacht; sobald seine Füße den stählernen Boden berührten, schaltete der Automat ab. Leaish ging etwa drei Minuten lang geradeaus, bis er eine Metalltür erreicht hatte, auf der mit erosionsbeständiger Farbe geschrieben stand: CII. Mißmutig, weil sich das lästige Zeremoniell täglich mehrmals abspielte, drückte er auf einen Klingelknopf unterhalb der Wechselsprechanlage. Es dauerte einige Sekunden, bis ein scharfes Knacken verriet, daß jemand das Klingeln gehört hatte. 4
„Bitte?" sagte eine helle Mädchenstimme. . „Machst du mir bitte auf, Glynn?" fragte Leaish, der die Sprecherin erkannt hatte. „Selbstverständlich!" gab das Mädchen zurück. „Warte einen Augenblick!" Leaish sah auf die Uhr - es dauerte ziemlich genau vier Minuten, bis sich die Tür öffnete. „Du kommst früh!" sagte das Mädchen und gab ihm einen flüchtigen Kuß. „Ich erwischte die richtige Bahn", erklärte er, während das Transportband sie zum Block zwölf trug. „Das Essen ist bald fertig!" versprach Glynn und öffnete die Tür ihres Zimmers. Der Raum maß etwa vier zu zweieinhalb Meter und war karg möbliert - ein Bett, über dem eine grobkarierte Wolldecke lag, ein harter Stuhl vor einem Schreibtisch, dazu ein flaches Tischchen mit einer weißlackierten Hartfaserplatte, das im Notfall auch als Sitzplatz Verwendung fand. Links neben der Tür war die Waschgelegenheit, auf der rechten Seite der Kleider-schrank, der bis zur Decke reichte. Leaish stellte seine Tasche ab und streckte sich auf dem Bett aus. Das Mädchen zündete zwei Zigaretten an, steckte eine davon zwischen Leaishs Lippen und setzte sich auf die Bettkante. „Ein harter Tag?" erkundigte sie sich, als sie seine Erschöpfung bemerkte. Leaish nickte müde und antwortete: „Ziemlich. Die Doppelstunde Physiologie hat mir fast den Rest gegeben - zwei Stunden ununterbrochener Konzentration." Er lächelte dem Mädchen zu. Glynn war annähernd so groß wie er. Zu starkknochig und massig gebaut, um als Schönheit zu gelten, bestach sie durch den faszinierenden Charme einer selbstbewußten jungen Frau, die zudem den Vorzug hatte, klug zu sein. Auch war sie 5
äußerst fotogen - einige ausgezeichnete Aufnahmen bewiesen es; sie hingen an den Wänden des Zimmers, zusammen mit einigen alten Fotografien Leaishs, auf denen er weder Bart noch Brille trug und nur mit Mühe zu identifizieren war. Seit mehr als zwei Jahren lebten die beiden zusammen auf diesem Zimmer - zwar hatte Leaish eine eigene Unterkunft in der Sektion H, aber er betrat sie nur selten; meist nur, um ungestört und intensiv arbeiten zu können, und das kam recht selten vor. Offiziell war dieses Zusammenleben natürlich verboten, aber darum kümmerten sich die wenigsten - fast jedes vierte Zimmer der Sektion CII, in der ausschließlich Mädchen wohnten, war auf diese Weise doppelt belegt. „Ich bin es leid!" sagte Leaish abrupt und richtete sich auf dem Bett auf. Glynn sah ihn verwundert an und erkundigte sich: „Was stört dich? Meine Anwesenheit?" „An diesen Alpdruck habe ich mich gewöhnt!" gab er bissig zurück. „Nein, ich dachte an die Schlüssel. Nur einer von uns trägt sie jeweils bei sich; der andere ist dann völlig von ihm abhängig!" Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Du kannst ja zu Mister Byrdsgift gehen", meinte sie leichthin, „und ihn um einen Zweitschlüssel bitten." Leaish lachte hart und knurrte: „Wenn der alte Choleriker erfährt, daß ich nach Einbruch der Dunkelperiode noch bei dir bin, wirft er uns hinaus - eigenhändig. Eigentlich hat er recht; schließlich sind die Zimmer ja für eine Person bestimmt. Aber warum können wir nicht zwei nebeneinanderliegende Zimmer belegen?" „Keine Ahnung!" gestand Glynn. Jeweils dreizehn Zimmer, ringförmig um die Gemeinschaftseinrichtungen wie Küche, Bad und Toiletten angeordnet, bildeten einen Block, und je dreizehn Blöcke 6
formierten die Sektion, in denen andersgeschlechtlichen Personen nur beschränkter Zutritt erlaubt war. „Man müßte einmal einen Fachmann fragen, einen Psychologen", überlegte der junge Mann laut, „ob diese Trennung nach Geschlechtern nicht zerrüttend auf die Psyche der Bewohner wirkt!" „Wohl kaum!" bemerkte Glynn angriffslustig. „Eher das Zusammenleben!" Leaish überging den Einwand und fuhr fort: „Ich bin Tutor. Das heißt, daß ich für die Sektionengemeinschaft kulturelle, sportliche und bildende Veranstaltungen durchzuführen habe. Ein Vortrag eines Fachmannes zu diesem Thema wäre eine guter Programmpunkt, nicht wahr?" Das Mädchen hatte seine Bemerkungen für bloße Rhetorik gehalten; jetzt erschrak sie etwas. „Leaish!" sagte sie eindringlich. „Du kannst dir mühelos ausrechnen, daß die Verwaltung dergleichen nicht gerne sieht sie hätte sonst keine getrennten Sektionen eingeführt. Und du weißt ebensogut wie ich, daß sie Veränderungen nicht wünscht. Willst du dir mit Gewalt Schwierigkeiten machen?" „Keineswegs", meinte er gelassen. „Aber ich sehe etwas, das mir nicht gefällt, und ich will und werde diesen Mißstand ändern!" „Bist du übergeschnappt?" fragte sie erregt. „Man wird dir die Tutorenstelle wegnehmen. Wovon willst du dann leben, eh?" „Es wird sich schon etwas finden", antwortete er ungerührt. „Und so leicht wird man mich nicht los - du wirst es sehen!" „Ja, ich werde es sehen!" fauchte sie gereizt. „Ich werde sehen, wie du völlig abgebrannt hier auftauchst und von mir durchgefüttert werden willst! Leaish, nimm Vernunft an!" „Von dem Bisschen, das du hast, brauchst du mir nichts abzugeben. Ich habe selbst genug davon!" Erst als er das Zimmer verlassen hatte, wurde dem Mädchen 7
klar, das sich seine Worte auf das Annehmen von Vernunft bezogen. „Warte, Leaish!" flüsterte sie wütend. „Du wirst Schwierigkeiten bekommen!" Zur Rache mischte sie eine ziemliche Menge Pfeffer und Paprika in sein Abendessen. Leaish wollte sich keine Blöße geben und aß, und erst eine Viertelstunde später hatte er den Brand in seiner Kehle so weit gelöscht, daß er wieder einigermaßen normal sprechen konnte. Der Start der „Operation mixing" bestand in einem vorehelichen Krach - harmlos im Vergleich zu dem, was sie noch erwartete. „Geschlechtertrennung kennt man in der Gesamtgesellschaft nur dort, wo es sich um soziologische Randzonen handelt. Strafanstalten, Krankenhäuser, Kasernen und Klöster sind Beispiele dafür. Diese Kasernierung hat natürlich auch ihre Folgen - das Zusammenleben wird verkrampft, und der unvermeidliche Frustrations- und Libidostau entlädt sich in scheinbar unmotivierten Aggressionshandlungen!" Dr. Beunner unterbrach für Sekunden seinen Vortrag und musterte flüchtig seine Zuhörer, sieben junge Männer. Während er weitersprach und die Vorzüge eines gemischten Zusammenlebens schilderte, beobachtete Leaish aus seiner Ecke heraus die Reaktionen des kleinen Auditoriums. < Vielleicht sind sie brauchbar, überlegte er. Er zweifelte aber. Drei der Zuhörer erregten seine Aufmerksamkeit: Luz, ein bärtiger, mit Modeschmuck behangener junger Mann, Typ des geborenen Fanatikers - einmal auf eine Linie eingeschworen, würde es jedem schwerfallen, ihn umzustimmen -, trotz seiner Leichtgläubigkeit. Hellmuth, ein etwa achtundzwanzigjähriger Mann mit Nietzschebart, der seine unübersehbaren Frustrationen und Kontaktschwierigkeiten mit übertriebenem Sozialrevolutionären Pathos zu kaschieren suchte. Dann Cacama Nonamato. Kaum zwanzig Jahre alt, mit ehemals 8
kantigen, jetzt vom Alkohol aufgeschwemmten Gesichtszügen, der pausenlos bissige Kommentare abgab und damit eine erschreckende Aggressivität offenbarte. „Es wird sich zeigen", murmelte Leaish kaum hörbar, „ob sie brauchbar sind!" „Außerdem hat das mixing noch den Vorteil, daß es allmählich wegführt von den traditionellen Rollenvorstellungen innerhalb der Gesellschaft", erklärte der Wissenschaftler inzwischen. „Könnten Sie das etwas näher erklären?" bat Hellmuth. „Sehen Sie", sagte der Psychologe; er lehnte sich während seines Vertrages im Sitz zurück und schloß die Augen. „Die Gesellschaft hat ganz bestimmte Vorstellungen darüber, wie sich Mädchen verhalten sollen: Sie haben hübsch zu sein, gefühlvoll, meist ein bißchen weltfremd und dümmlich, und sie sollen in nette Kleider, Kinder und starke Männer vernarrt sein. Auf dieses Ideal hin - ich habe es ziemlich kraß dargestellt werden Mädchen erzogen, mit ziemlichem Erfolg bisher. Der Mann aber hat stark zu sein, ein harter Tatmensch. Er hat fleißig zu sein; er weint nie, und nötigenfalls riskiert er für sein entzückendes Weibchen sogar sein Leben. Nach diesem Leitbild wird ein Junge programmiert, und man hat seit Urzeiten versucht, die Differenz zwischen diesen Idealvorstellungen mit dem biologischen Unterschied zwischen den Geschlechtern zu erklären. Das ist natürlich Unfug - eine entsprechend erzogene Frau ist biologisch und psychologisch ebenso fähig, Krieg zu führen, wie ein Mann!" „Vermutlich mit blümchenbeschmückten Waffen!" knurrte Cacama bissig. Lachen kam auf und verebbte wieder, als der Wissenschaftler fortfuhr: „Die Gesellschaft hat diese Verhaltensmuster beibehalten. Sie sind jahrtausendealt, und es wäre schwer, wenn nicht gar 9
unmöglich, sie sehr rasch zu ändern. Aber es ist durchaus möglich, Traditionen, die sich überlebt haben, schrittweise abzubauen - und das mixing ist ein kleiner Beitrag dazu!" Der Psychologe legte das letzte Blatt seines Manuskriptes zur Seite; Leaish stoppte das Bandgerät, das den Vortrag minutiös gespeichert hatte. „Eine einigermaßen fundierte Begründung haben wir jetzt", faßte Hellmuth zusammen. „Es bleibt die Frage, wie wir unsere Kommilitonen davon überzeugen. Und wie wird sich die Verwaltung dazu stellen?" „Dumme Frage!" brummte Cacama ungehalten. „Mixing heißt Umzug; Umzug innerhalb der Sektionen läuft auf zusätzliche Verwaltungsarbeit hinaus. Die Verwaltung wird sich für diese Sonderarbeitslast bedanken - mit Kündigungen!" Und unsere Kommilitonen?" überlegte Luz laut. „Sie haben sich an den jetzigen Zustand gewöhnt", murmelte Leaish nachdenklich. „Außerdem sind sie körperlich und geistig viel zu träge, um zu großen Aktionen bereit zu sein!" »Wie schön, daß sich wenigstens hier ein paar eifrige Geistesheroen gefunden haben!" bemerkte Cacama; seine Zynismen wurden allmählich lästig. Dr. Beunner verabschiedete sich; er hatte noch einen weiteren Vortrag zu halten. Auch Leaish zog sich zurück. Er hatte Luz scharf beobachtet und gesehen, daß der junge Mann Feuer gefangen hatte; es genügte, wenn Luz die Anfangsphase der Aktion leitete und zunächst einmal die Reaktionen und Ansichten der Betroffenen feststellte. Später konnte Leaish noch immer seinen Einfluß und seine ausgezeichneten Beziehungen ins Spiel bringen. Drei Tage später: Leaish saß vor seinem ziemlich verschrammt aussehenden Schreibtisch und brütete über einem Folianten. „Verdammt!" knurrte er. „Jeder kann es, jeder tut - nur ich verstehe es nicht!" 10
„Was, o Gebieter, erregt deinen Unmut?" fragte Glynn mit leichtem Spott. Sie hatte es sich in einem hochlehnigen Sessel bequem gemacht und häkelte - zum Glück keine Babywäsche, wie Leaish mit einem raschen Blick erleichtert feststellte. „Atmen!" sagte Leaish lakonisch. „Ist das ein Befehl?" wollte das Mädchen wissen. „Du weißt, daß mir dein Anblick buchstäblich den Atem nimmt!" Leaish grinste säuerlich und antwortete: „Nein, es ist mein Thema. Ich verstehe nicht, wie man über ein so simples Thema wie das Luftholen tausendseitige Bücher schreiben kann. Vermutlich tun es die werten Wissenschaftler nur, um die Papierindustrie nicht bankrott gehen zulassen!" „Ein kluger Gedanke!" lobte Glynn sarkastisch. „Du solltest ein Buch darüber schreiben!" Leaish lachte laut auf. „Ich werde einmal nachsehen, ob die Post inzwischen eingetroffen ist", sagte das Mädchen. „Vielleicht ist etwas Erfreuliches dabei." „Hoffentlich!" wünschte ihr Freund. „Ein neuer Münzkatalog zum Beispiel!" Leaish sammelte Münzen - mit einer Leidenschaftlichkeit und Intensität, die für drei Examen ausgereicht hätte. Ein Gerücht behauptete, für ein seltenes Einzelstück - also ein sogenanntes Unikat - würde er sogar seine Freundin eintauschen. Bisher war dieser Fall noch nicht eingetreten. Wenige Minuten später kam das Mädchen zurück und händigte Leaish ein Päckchen aus, das er sofort öffnete. „Endlich!" murmelte er zufrieden, als er den Katalog sah. Während er die Aufstellung durchging und erfreut registrierte, daß einzelne Stücke seiner Sammlung beträchtlich im Wert gestiegen waren, überflog das Mädchen ein Flugblatt. „Sieh dir das hier an!" sagte sie schließlich und gab das Blatt weiter. „Anthropologisch-religiöser Arbeitskreis zur Förderung 11
interhumaner Beziehungen!" las Leaish laut vor. Das Flugblatt war in Form eines Offenen Briefes an die Verwaltung abgefaßt, und erst bei den Unterschriften wurde Leaish klar, daß dieses Schreiben von den Zuhörern des Vertrages stammte. „Wer soll das verstehen?" brummte er verzweifelt. Die Verfasser hatten sich alle Mühe gegeben, das Thema nicht tierisch ernst zu behandeln, waren aber in ihrem Übereifer um Lichtjahre über das Ziel hinausgeschossen. Die Argumentation war mehr als kümmerlich und ging am Wesentlichen vorbei, und die Ironie war derart dick aufgetragen, daß für einen Uneingeweihten völlig unklar sein mußte, was die Verfasser eigentlich wollten. „Prachtvoll!" fauchte Leaish. „Wir fangen mit einer vollständigen Pleite an!" „Sie haben es gut gemeint", versuchte das Mädchen einzulenken. „Alle Fehler der Weltgeschichte", meinte Leaish, „wurden von Menschen begangen, die es gut meinten. Als Historiker solltest du das wissen!" „Was willst du jetzt unternehmen?" fragte sie. „Aufgeben?" Er zuckte die Schultern. „Kaum!" sagte er knapp. „Weißt du mehr über diese Flugblatt-Parodie?" „Das Original des Briefes ist schon abgeschickt", berichtete sie. „Je eine Kopie hängt an allen Schwarzen Brettern - auf jedem Block. Und in jedem Briefkasten lag das!"
Sie gab ihm ein schmales Blatt.
„Schon besser!" murmelte Leaish, als er die Überschrift
gelesen hatte. „Studentensiedlung - Strafanstalt oder Kloster?" wiederholte er. Wie die Überschrift war auch der Text - aggressiv und aufreizend, publikumswirksam. Leider forderte er dazu auf, den Offenen Brief zu lesen und zu diskutieren; das Gelächter 12
würde sich noch verstärken. Leaish behielt mit seinen Befürchtungen recht - der Offene Brief stieß auf völliges Unverständnis. Die Verwaltung konterte mit einem geschickt formulierten Antwortbrief, und eine Springflut des Gelächters spülte die Mitglieder des Arbeitskreises auseinander. Der allgemeine Eindruck war, die Verfasser des Flugblattes seien eine Gruppe harmloser Schwachköpfe. Die Bezeichnung Schwachkopf störte Leaish wenig, aber das Beiwort harmlos stachelte seinen Ehrgeiz. Als Leaish den Schwerkraftschacht verließ, fühlte er sich ausgesprochen wohl; eine seiner sportlichen Tutorenveranstal tungen war sehr erfolgreich gewesen, zudem hatte er am Nachmittag eines der unzähligen Zwischenexamina mit gewohntem Glanz bestanden. Laut und erschreckend falsch pfeifend ging er durch die fast menschenleeren Metallkorridore, bis er die Stahltür erreicht hatte. Er öffnete - Glynn hatte ihm ihren Schlüssel überlassen; sie besuchte an seiner Stelle eine Sitzung des mixing-Teams. Leaish sah auf seine Uhr. „Eigentlich müßten sie längst fertig sein!" brummte er. Das Team hatte sich stark verändert - manche waren umgezogen, andere schieden nach ihrem Examen aus. Mühsam, aber erfolgreich, hatte Leaish neue Leute geworben, und erste Erfolge zeichneten sich ab. Als er wenige Meter von der Startstelle des Transbordbandes entfernt war, hörte er Stimmen; er blieb stehen und lauschte. „Wer ist eigentlich dieses Mädchen?" fragte eine Stimme, an der Leaish Cacama erkannte. „Gefällt sie dir?" lautete die Gegenfrage. Leaish trat zurück in einen schattigen Winkel, in dem er nicht erkannt werden konnte. Knapp zwei Meter von ihm entfernt bogen Luz und Cacama, die ziemlich dicke Papierstöße unter dem Arm trugen, um eine Ecke. 13
Leaish sah, wie Luz unverschämt grinste und Cacama leicht rot anlief. „Es gibt Übleres!" brummte der junge Mann. Luz schüttelte leicht den Kopf und antwortete: „Auch eine Einstellung! Aber laß die Finger davon. Das Mädchen gehört zu Leaish!" „Ist das eine Warnung oder eine Empfehlung?" fragte Cacama zurück. „Wenn du es nicht weißt - Leaish Mattingly ist Tutor und mit Abstand der einflußreichste. Ich würde mich nicht mit ihm anlegen; das haben andere vor dir versucht und nicht überstanden!" Cacamas Antwort war nicht mehr zu hören - die Sprecher hatten sich zu weit entfernt. Leaish hatte Mühe, nicht laut zu lachen. „Sieh an!" kicherte er. „Unser zynischer Freund zeigt menschliche Regungen! Pech für ihn - er wird bestenfalls um eine Frustration reicher." Er hatte inzwischen Glynns Zimmer erreicht und trat ein. Das Mädchen saß auf der Bettkante und sortierte Unterschriftenlisten. „Teuerste", sagte Leaish grinsend, „Ihr habt einen neuen Verehrer!" Das Mädchen sah ihn spöttisch an. „Du meinst doch nicht etwa dich? Bis jetzt betrachtest du mich doch nur als deine Haushaltungssklavin!" Leaish überhörte ihre Antwort und berichtete wortgetreu das von ihm belauschte Gespräch. Glynn schüttelte den Kopf. „Darauf komme ich noch einmal zurück. Willst du hören, was es an Neuigkeiten gibt?" „ Selbstverständlich!" brummte Leaish, der es sich in dem großen Sessel bequem machte. „Unsere Unterschriftenaktion ist beendet", berichtete sie. „Von den Männern sind mehr als sechzig Prozent dafür, bei 14
den Mädchen beträgt der Prozentsatz knapp ein Drittel. Das ist zwar nicht gerade viel, aber immerhin ein Anfang." „Und was macht unsere Sammlung von Argumenten für und wider?" Glynn wirkte etwas ratlos. „Beide Parteien befürchten, die Gemeinschaftsküchen würden schmutziger werden. Wir haben keine Erfahrungsberichte, also können wir wenig dagegen ausrichten. Ein weiteres Argument kam von einem Männerblock. Die Herren befürchten, sie könnten in Zukunft keines ihrer alkoholträchtigen Feste mehr feiern - mit Rücksicht auf die weniger trinkfreudigen Mädchen!" „Gegenargumente?" fragte Leaish knapp. „Der einzige Kommentar kam von Cacama", erzählte Glynn; sie schien leicht verärgert. „Er meinte, die Männer hätten nachher wesentlich mehr Grund und Anlaß sich zu betrinken!" Leaish grinste diabolisch; Glynn strafte ihn mit einem verachtungsvollen Blick und fuhr fort: „Anschließend tauchte ein Phantom auf." „Interessant!" murmelte Leaish. „Wie sieht es aus?" „Es ist rund und hört auf den Namen Lockenwickler!" berichtete das Mädchen. „Wie bitte?" fragte Leaish ungläubig. „Die Mädchen sind der Meinung, sie könnten auf gemischten Blocks tagsüber keine Lockenwickler mehr tragen, mit Rücksicht auf ihr Ansehen bei den Männern. Und ohne vernünftige Frisuren wollten sie nicht herumlaufen!" „Heiliger Schwachsinn", ächzte Leaish. „Mädchen, willst du mich veralbern?" „Keineswegs!" sagte sie seufzend. „Das Argument ist tatsächlich gekommen, und wir alle waren buchstäblich sprachlos." „Bis auf Cacama", tippte Leaish ohne Überlegung. „Sehr richtig!" sagte Glynn spitz. „Er sagte, die meisten 15
Mädchen sähen auch ohne Lockenwickler so fürchterlich aus, daß er sich eine Steigerung des Schreckens schwerlich vorstellen könne. Und während er das sagte, grinste er mich an ..." Leaish lachte. „Wenigstens ein ehrlicher Mensch!" Das Kissen zischte wenige Zentimeter an seinem Kopf vorbei. * „Nicht schlecht!" sagte Leaish anerkennend und legte das Blatt auf den Tisch. Die Operation mixing hatte einige Erfolge zu verzeichnen gehabt - zahllose Diskussionen mit Außenstehenden hatten die Zahl der Überzeugten vermehrt, und Unterschriftenlisten wiesen Mehrheiten bis zu achtzig Prozent auf. „Doch", wiederholte Leaish, „der Brief ist ziemlich gut." Er hatte gerade Cacamas Entwurf für einen zweiten Brief an die Verwaltung vorgelesen und wartete nun auf Verbesserungsvorschläge. „Wir werden natürlich zuerst einmal alle beleidigenden oder gar verleumderischen Formulierungen streichen müssen", fuhr er fort. „Dann einige deiner ironischen Schlenker, die mit dem Therhan nichts zu tun haben." Er grinste den jungen Mann an, der etwas enttäuscht dreinsah - vermutlich hatte er mit donnerndem Applaus gerechnet. Dies war immerhin bereits der dritte Entwurf, den er geliefert hatte. „Außerdem sind immer noch einige ziemlich antiquierte Formulierungen drin", setzte er seine Kritik fort. „Auch die werden gestrichen - wir wollen das geistige Potential der Verwaltung nicht überstrapazieren. Ansonsten ist der Brief sehr gut!" Cacama nickte und knurrte:
„Das restliche Prozent meinst du, nicht wahr?"
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Alles lachte. „Ich habe eine sehr erfreuliche Neuigkeit für uns", verkündete Hellmuth. „Unser Freund Rod will sich um den Posten eines Sektionsvertreters bewerben!" Wie an Fäden gezogen drehten sich die Köpfe der Anwesenden in die Richtung des jungen Mannes, der mit gut gespielter Gelassenheit auf seinem Stuhl saß. „Ich glaube, daß uns seine Wahl sehr weiterhelfen wird!" meinte Leaish. Die Sektionenvertreter, auch Ephoren genannt, wurden jeweils von der Vollversammlung aller Bewohner einer Sektion gewählt; zusammen bildeten sie den Sektionsrat, der die Aufgaben einer Selbstverwaltung wahrnahm - wenn auch mit nur wenigen Befugnissen ausgestattet. „Viel werde ich nicht unternehmen können", machte sich Rod bemerkbar. „Aber es wird bei der Verwaltung vermutlich einen guten Eindruck machen, wenn die Selbstverwaltung hinter unserer Aktion steht!" „Richtig!" meinte Leaish. „Ich schlage vor, Wir wählen ihn zu unserem Vorsitzenden - dann ist die Wirkung noch stärker. Und anschließend sollten wir uns endgültig auf eine Fassung des Briefes einigen!" „Warte einen Augenblick!" rief Leaish dem davonstürmenden Cacama nach. Der junge Mann nickte bestätigend und kam näher. Nach dreistündiger Diskussion war endlich eine Fassung des Briefes akzeptiert worden; mit Cacamas erster Version hatte das endgültige Schreiben nur mehr die Anrede gemeinsam. „Du solltest etwas vorsichtiger sein, mein Freund!" erklärte Leaish, nachdem sich die anderen aus dem Raum entfernt hatten. Cacama sah ihn verblüfft an. „Habe ich etwas falsch gemacht?" forschte er. „Ich weiß es nicht!" gestand Leaish. „Aber ich habe Gerüchte 17
gehört, nach denen der Wortlaut deines ersten Briefentwurfes bei den Prytanen bekannt ist. Du weißt, was das bedeuten kann!" „Und ob!" flüsterte Cacama heiser. Die Prytanen schwebten unsichtbar über allem, was geschah. Polizei, Gericht, Gesetzgeber - sie waren alles in einem. Sie kontrollierten jede Lebensäußerung der Menschen. Wer in ihr Netz geriet, starb oder tauchte wenig später wieder auf - als völlig neuer Mensch, der mit dem Stumpfsinn eines Automaten nachplapperte, was die Regierungszeitung an Wahrheiten zu verkünden beliebte. „Ich werde mich etwas vorsehen", versprach Cacama; Leaish erkannte deutlich, daß der junge Mann sich fürchtete. Er wußte - nicht zu Unrecht. Wie ein unsichtbares Netz lag ein System von Spitzeln und Spionen über den Menschen, und nichts entging den Augen und Ohren der heimlichen Bewacher. Es gab Sektionsprytanen, Deckprytarien, Prytanen für alles und jedes - bis hin zum Obersten Prytaneum, das als Regierung fungierte. Zwei Besonderheiten kennzeichneten dieses System: Niemand kannte die Prytanen. Es gab keine Fotos von ihnen, niemals hielt einer von ihnen eine Rede; sie waren namenlos und unsichtbar. Nur eines glaubte man zu wissen: Es gab Männer, die eines Tages spurlos verschwanden, nie wieder auftauchten, deren Familien es aber wenig später erheblich besser ging - von ihnen orakelte man, sie seien nun Prytanen. Es gab keine Gesetze, nicht ein Verbot - erst beim Verschwinden eines Menschen wußte man, daß er etwas Falsches getan oder gesagt hatte; was dies war, konnte man nur vermuten. Die Menschen wußten lediglich - aus langer, leidvoller Erfahrung -, daß es ratsam war, gewisse Fragen nicht zu stellen. Wie war diese Welt entstanden, wo endete sie? Warum 18
bestand fast alles aus Metall oder Kunststoffen? Woher kam das Licht, die Luft, und warum war die Nahrung in unregelmäßigem Wechsel einmal schlecht, dann wieder vorzüglich? Woher kommen wir? Was ist unsere Geschichte? Fragen dieser Art gab es zu Tausenden - aber niemals erhielt man darauf eine Antwort. Seit langem fragte auch keiner mehr. Warum auch? Das Leben verlief friedlich und gleichmäßig, für Leib und Seele war gesorgt - keiner hatte Lust, sich um Dinge zu kümmern, die ihn nicht unmittelbar betrafen, die zudem gefährlich waren, wenn man sich mit ihnen beschäftigte. Cacama war gegangen, ziemlich erschreckt, wie es schien. Leaish sah nachdenklich auf die gegenüberliegende Wand; ein Leuchtkörper flackerte, erlosch dann. Er wußte, daß in wenigen Minuten ein Robot erscheinen würde und hinter einem Sichtschutz den Schaden beheben würde. „Sollte Cacama ein Spitzel der Prytanen sein?" flüsterte Leaish. „Oder gar Glynn?" Er wußte, daß er zu der Menschengruppe zählte, die besonders stark überwacht wurde. Für junge Menschen, die sich fragend Wissen aneigneten, war es nicht einsichtig, warum nicht auch andere Dinge erforscht oder in Frage gestellt werden sollten. Auch die Prytanen wußten dies, und ihre Überwachung war dementsprechend sorgfältig. Jeder konnte ein Spitzel sein - jeder. Auch er selbst - vielleicht ohne es zu wissen. Ärgerlich schüttelte er den Gedanken ab. Doch er schlief sehr schlecht und unruhig in dieser Nacht. * „Sind Sie bereit?" fragte die Stimme aus dem Lautsprecher. Graydon nickte unwillkürlich, dann sagte er scharf 19
akzentuiert: „Ich bin fertig!" Der junge Mann mit dem dichten, etwas wirren dunklen Haar saß in einer engen Kabine, die nur von den Lichtern einer umfangreichen Instrumentensammlung erhellt wurde - seine Gesichtszüge wirkten fast gespenstisch in dem rötlichen Dämmerlicht. „Ich schalte auf den Automaten um!" ließ sich die Stimme aus dem Lautsprecher hörten. Nach einem leisen Knacken erklang ein hartes Ticken. Graydon sah auf die Uhr, auf der die Sekunden wegtickten. Als der Zeiger den Nullkontakt berührte, ging ein harter Schlag durch die Kabine. Ein rasch ansteigender Schwerkraftdruck preßte den jungen Mann in seinen Sitz, dessen Polsterung aus flüssigem Alkohol bestand; die Flüssigkeit wurde durch komplizierte Leitungen gedrückt und fing so einen erheblichen Teil der Belastung auf. Graydon atmete schwer, mit rotgeränderten Augen starrte er auf die Uhr. Nach exakt dreihundertvierzig Sekunden ließ der Druck schlagartig nach; eine Pumpe sprang mit leisem Klicken an und saugte den Alkohol ab, zurück in einen Vorratstank. Unmittelbar vor Graydons Augen flammte ein Bildschirm auf. Er zeigte lediglich ein Koordinatenkreuz mit drei konzen trischen Ringen um den Schnittpunkt der Achsen, dazu einen stecknadelkopfgroßen Punkt. Graydon wußte nicht, was sich hinter dem Bildschirm verbarg, welche Vorgänge abliefen. Er kannte nur seinen Auftrag: Der Punkt sollte im Innern des engsten Kreises gehalten werden, nach Möglichkeit im genauen Zentrum. Geriet der Punkt über die Umrandung hinaus, so mußte er ihn zurückbringen. Die dazu erforderlichen Griffe und Aktionen kannte er im Schlaf, ihren Sinn begriff er nicht. Graydon sah auf seine Armbanduhr, die ein reißfestes 20
Plastikband am Gelenk hielt. „Zehn Tage!" knurrte er. „Zweihundertvierzig Stunden eingepfercht in diesen Kasten! Der Teufel mag wissen, wozu das gut ist!" Er saß heute zum erstenmal allein in der Kabine. Früher hatte ihn ein Mann begleitet, hager und schweigsam, der mit wenigen eindringlichen Worten erklärt hatte, was wann zu tun sei. „Saturn!" murmelte Graydon. „Was oder wer ist Saturn?" Seine Worte verhallten ohne Echo oder gar Antwort. Er hatte das Wort gelesen, als man ihm eine achtzig Zentimeter durchmessende Bandspule gegeben hatte, die jetzt in einem ungeheuer kompliziert wirkenden Kasten steckte. Durch ein kleines, quadratisches Fenster konnte er sehen, wie das Band langsam, millimeterweise ablief. Er begriff beides nicht. Graydon löste die Gurte, die ihn an den Sitz fesselten; dann lehnte er sich weit zurück. Aus dem Unterteil des Sessels klappte ein Polster hervor und legte sich unter seine Unterschenkel. Er drückte einen Knopf an der Seite der Sessellehne; Sekunden später spürte er, wie sich eine Zigarette zwischen seine gespreizten Finger schob. Er wartete etwas, dann hatte sich die sauerstoffempfindliche Spitze des weißen Stäbchens selbsttätig entzündet. „Analysieren wir einmal die Lage!" sagte er laut, während er den Rauch ausstieß. Selbstgespräche und die Lektüre einiger Bücher würden in den nächsten Tagen seine einzige Möglichkeit sein, die tödliche Langeweile zu vertreiben. Die Bücher steckten in irgendeinem Fach in den Wänden der Kabine. Er schaltete drei weitere Bildschirme ein; sie zeigten eine Zeitskala und darunter eine Linie, die meist gradlinig verlief, gelegentlich aber auch Zacken aufwies. Die Linien stellten - in 21
drei Dimensionen - die Bewegungen dar, die der Punkt des Hauptbildschirms in den nächsten Tagen ausführen würde. „Sehr schön!" stellte Graydon fest. „Nichts zu tun in den nächsten vier Stunden." Er stand auf und holte aus einem Wandfach eine Spritzflasche hervor. Als er wieder bequem saß, drückte er einen Teil der Flüssigkeit in den Mund und schluckte genießerisch. „Wenn ich diesen Zehn-Tage-Test überstehe", überlegte er laut, „wird man mich wohl fest anstellen. Und der eigentliche Job wird dann vermutlich genauso aussehen wie diese Beschäftigung." Er rauchte und trank den Eistee. Sekundenlang verfolgte er den Weg des Zigarettenqualms bis zur Ventilation, die völlig geräuschlos die Atemluft umwälzte, zu den Filtern führte und sie gereinigt wieder in den Kreislauf pumpte. „Wenn meine Überlegungen stimmen", fuhr er fort, „dann braucht man für diesen Job Männer, die den Belastungen tagelanger Einsamkeit gewachsen sind - also Helden, wie ich einer bin!" Er kicherte selbstgefällig. „Die Anforderungen sind also extrem hoch - die Gegenleistungen ebenfalls!" Einmal angestellt, würde er eine geräumige Fünf-ZimmerWohnung bekommen, Anrecht auf einen Sitzplatz in den Röhrenbahnen, besseres Essen - die Vorzüge waren enorm. „Dann aber", flüsterte er, als fürchte er sich, seine Folgerungen laut auszusprechen, „lautet die Frage, was für einen Nutzen diese Kabinenhockerei für die Gemeinschaft hat!" Er machte ein ratloses Gesicht, dachte angestrengt nach. Er fand keine Lösung. „Meinethalben", brummte er schließlich. „Wenn nicht jetzt, werde ich später darauf kommen!" 22
Er zuckte mit den Schultern und zog dann eine Haube herunter, die über dem Kopfteil des Sitzes befestigt war. Graydon stellte die eingebaute Uhr auf drei Stunden ein und zog die Haube über den Kopf. Zahlreiche Nadeln mit fingernagelgroßen Kontaktplättchen an der Spitze wühlten sich durch sein Haar. Graydon schnallte den Helm fest und legte einen Schalter um. Sekunden später war er fest eingeschlafen. Die Kontaktplättchen leiteten äußerst schwache Stromstöße durch seinen Schädel ins Gehirn; sie reizten das Schlaf Zentrum und ließen den Benutzer augenblicklich in den Tiefschlaf versinken. Nach drei Stunden schaltete das Gerät ab; gleichzeitig erklang ein langsam anschwellendes Summen. Graydon erwachte, prüfte mit einem sorgfältigen Blick auf das Instrumentenpult die Lage der Dinge und machte sich dann erfrischt und ausgeruht an die Arbeit. „Warten Sie noch etwas!" ordnete die Lautsprecherstimme an. „Meinetwegen!" knurrte Graydon. Seit zwei Tagen hatte er wieder Kontakt zur Umwelt, wenn auch nur über Mikrophone und Verstärkeranlagen. Volle sechs Tage lang hatte er absolut nichts gehört - abgesehen von seiner eigenen Stimme und den Arbeitsgeräuschen verschiedener Apparaturen. Allein das stetige Ticken der Uhr hatte ihn fast überschnappen lassen, und gegen Ende der Schweigezeit hatte er sich dabei ertappt, wie er in die Luft hineinredete, ohne es selbst wahrzunehmen. „Sie können weitermachen!" befahl der unsichtbare Sprecher. „Und vergessen Sie nicht, sich anzuschnallen!" „Ihr haltet mich wohl für einen Trottel, wie?" gab Graydon aggressiv zurück, er rückte den Helm zurecht, so daß das kleine Mikrophon in der Blende unmittelbar vor seinem Kinn lag. 23
Dann schnellte er mit dem Oberkörper nach vorn und registrierte befriedigt, daß die Gurte ihn zurückwarfen. „Jetzt wird es ernst!" murmelte er. Graydon zerrte den Handschuh der rechten Hand zurecht, legte dann die Finger um den Steuerknüppel. Er warf einen Blick auf die Bildschirme. Der Hauptschirm zeigte den Punkt exakt im Zentrum; auf den drei anderen Geräten kroch das Glühpünktchen langsam auf steile Zacken zu - es würde höllisch schwer werden, die drei Einzelbilder im Kopf zu einer Art verbogenem Korkenzieher zusammenzufassen und diese Kurve mit dem Steuerknüppel nachzuzeichnen. Ein Gongschlag ertönte, und der Punkt brach aus - in einer gewundenen Linie nach rechts oben. Graydon hatte die Bewegung kommen sehen und korrigierte augenblicklich. Der Punkt wanderte zurück, zuckte erneut vom Zentrum weg. Graydon arbeitete verbissen und mit höchster Konzentration; mit aller Kraft und Geschicklichkeit bewegte er den Knüppel und geriet in Schweiß. Erneut wuchs die Schwerkraft, engte ihm die Brust ein; Graydon keuchte. Die Innentemperatur der Kabine stieg langsam an. Ein nervtötendes Heulen kündigte die schwierigste Etappe an. Die Kabine begann zu zittern. Unablässig bewegte Graydon die rechte Hand, versuchte er, den Punkt im Zentrum zu halten; der Lichtfleck zuckte unablässig im innersten Kreis hin und her. Mit der freien Linken wischte der junge Mann sich über die Stirn - der Schweiß, der in dicken, salzigen Tropfen sein Gesicht bedeckte, durfte auf keinen Fall in die Augen kommen. Blindheit für einen Sekundenbruchteil bedeutete das Ende geriet der Punkt in den zweiten Kreis, wurde die Kabine gesprengt. Schweifte er in den dritten Ring ab oder gar darüber 24
hinaus, so geschah nichts - aber auch der Verschluß der Kabine würde sich nicht mehr öffnen; ein langsamer Erstickungstod war die Folge. Er wußte nicht, warum das so war - aber seine Ausbilder hatten es ihm immer wieder eingeschärft, und er hatte keinen Grund, am Wahrheitsgehalt ihrer Worte zu zweifeln. Ein schmetternder Schlag fuhr durch die Kabine, ließ das Metall aufkreischen - dann wurde es abrupt still. Eine schnelle Handbewegung genügte, dann stand der Punkt genau im Schnittpunkt des Fadenkreuzes. „Geschafft!" keuchte Graydon erleichtert; pfeifend sog er die Luft ein, die von der Klimaanlage in die Kabine gepumpt wurde. „Gut gemacht!" lobte der Sprecher. „Schalten Sie um auf Ausschnittvergrößerung!" Er zögerte eine Sekunde lang und setzte dann hinzu: „Bitte!" Graydon grinste leicht, während er sich vorbeugte und einen Kippschalter betätigte; die drei kleinen Schirme erloschen. Der Hauptschirm änderte sich leicht - in der Mitte erschien ein Leuchtfleck, etwa zehnmal so groß wie der Steuerpunkt der Kabine. Graydons Aufgabe bestand nun darin, beides zur Deckung zu bringen. Er konnte sich beliebig viel Zeit dazu lassen - er nahm sich die Freiheit, zunächst genußvoll eine Zigarette zu rauchen, bevor er mit wenigen Bewegungen des Steuerknüppels seine Aufgabe löste. „Ausgezeichnet, Graydon!" sagte der Mann am anderen Ende der Sprechverbindung; die Hochachtung in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Freut mich!" murmelte Graydon undeutlich. Seine Gedanken kreisten um das Computerband. Was bedeutete das Wort Saturn? Ein Deckname für irgendein Geheimprojekt? Oder der Name für das Ziel einer Reise? 25
„Gut möglich", sagte er leise, ohne die Lippen zu bewegen. Er zog aus einer Tasche seines Anzuges ein schmales Notizbuch und einen Faserstift und begann zu rechnen. Vorausgesetzt, die Kraft, die ihn in den Sitz gepreßt hatte, war auf eine Beschleunigung zurückzuführen - wie hoch war dann die erreichte Geschwindigkeit? Er wußte, daß die Gravitationsentzerrer der Röhrenbahnen bis zu zwanzig g jeden Andruck auffingen; er addierte diesen Betrag zu der von ihm roh geschätzten Beschleunigung. „Wie lange wurde beschleunigt?" überlegte er halblaut und kaute auf dem Stift herum. Er suchte auf dem Korkenzieher-Diagramm die Zeiträume heraus, in denen keine Steuerbewegungen erforderlich waren, rechnete, schätzte. Sein Gesicht wurde zu einer weißen Maske, als er das Ergebnis las. „Unmöglich!" flüsterte er erregt. Nach seinen Berechnungen hätte er in den zehn Tagen eine Strecke von über einer Billion Meter zurückgelegt - eine Entfernung, die sein Vorstellungsvermögen überstieg. Solche Distanzen gab es nicht! Er schüttelte energisch den Kopf und grübelte weiter. Warum sah er nur beim jeweils zweiten Öffnen der Kabine vertraute Gesichter? Die Männer, die in diesem Augenblick damit beschäftigt waren, die Verschlüsse der Luke zu öffnen, waren ihm völlig fremd. „Sinnlos!" knurrte er, riß den mit Zahlen beschriebenen Teil des Blockes ab und ließ ihn in den Abfallvernichter fallen. Über ihm ertönte ein scharfes Zischen, dann wurde in der Kabinendecke ein Spalt sichtbar, durch den grelles Licht in das Innere drang. Graydon schloß geblendet die Augen. „Alles in Ordnung?" fragte ein Mann. „Ich fühle mich bestens!" rief Graydon nach oben, wo sich der Spalt zusehends erweiterte, bis ein kreisrundes Loch in der 26
Decke klaffte. „Kommen Sie herauf!" rief der Mann. Graydon stellte sich auf seinen Sitz, dann auf die Oberkante des Sessels; mühsam zog er sich in die Höhe, bis er wieder aufrecht stand. Der Raum sah bis ins Detail genauso aus wie der, den er vor zehn Tagen verlassen hatte; nur die Männer, die ihn umringten und ihn auf die Schulter klopften, waren ihm unbekannt. „Ihr erster Alleineinsatz?" fragte ein sehr hagerer Mann mit kahlem Schädel, auf dem sich das Licht der Lampen spiegelte. Graydon nickte. „Gute Arbeit!" sagte der Mann anerkennend; der schmale Metallstreifen auf der rechten Brust wies ihn als Leiter dieser Abteilung aus. „Möchten Sie irgend etwas haben? Essen, Getränke, Zigaretten?" Dankend nahm Graydon eine Zigarette an; als er versuchte, sie an den Mund zu führen, merkte er, wie sehr ihn die letzten Stunden physisch und psychisch ausgelaugt hatten. Seine Hand zitterte. Der Mann mit dem aufwendigen Rangabzeichen sah Graydons Anstrengungen und lächelte mitfühlend. „Ich kenne Männer, die diesen Job seit zehn und mehr Jahren betreiben, und noch ist keiner hier so ausgestiegen, wie er in die Kabine hineinstieg", sagte er sanft. Er schnippte mit den Fingern; aus dem Hintergrund traten zwei Männer hervor. „Alles, was Sie jetzt brauchen, Graydon", meinte der Hagere, „ist Schlaf - mindestens vierzehn Stunden!" Zu den beiden Männern gewandt, fuhr er fort: „Zeigen Sie ihm sein Zimmer, und geben Sie acht, daß er nicht gestört wird!" Die Männer nickten schweigend und führten Graydon einen Gang entlang; der junge Mann schwankte leicht, und die 27
Männer packten ihn an den Oberarmen. Graydon wußte nicht mehr, was um ihn herum vorging nebelhaft verschwommen nahm er wahr, wie die Männer ihn in ein Zimmer führten, auszogen und zu Bett brachten. Er schlief sehr schlecht in dieser Nacht. In seinen Träumen war ein Abgrund von Billionen Meter Tiefe, in den er abstürzte. Er schrie um Hilfe, schrie ... * „Gute Nachrichten?" erkundigte sich Leaish, als Glynn das Zimmer betrat. Das Mädchen nickte eifrig, ihre langen blonden Haare wirbelten durcheinander. „Mehr als nur gut!" berichtete sie freudig. „Rod wurde nicht nur zum Sektionsvertreter gewählt, man hat ihn auch zum Vorsitzenden des Ephorenkollegiums gemacht!" „Wieso?" fragte Leaish mißtrauisch; er witterte eine Teufelei. „Bradley Vonnegan, der alte Vorsitzende, mußte sein Amt niederlegen", berichtete das Mädchen. „Er schlug Rod als seinen Nachfolger vor, mit der Begründung, es sollten auch einmal jüngere Leute diesen Posten übernehmen!" „Die Sache stinkt!" stellte Leaish fest; Glynn nickte bestätigend. „Bradley kann nach unserer Satzung nur zweimal nacheinander dieses Amt bekleiden - er braucht also, um wieder Vorsitzender zu werden, einen möglichst unfähigen Nachfolger, den er nach kurzer Zeit wieder stürzen kann!" „Und Rod scheint ihm für diesen Zweck der beste Mann!" ergänzte Glynn. „Ich habe übrigens noch andere, weit erfreulichere Neuigkeiten! Der Ephorenrat wird sich hinter unsere Aktion stellen!" Leaish atmete erleichtert auf. „Irgendwann in den nächsten Tagen wird Rod zur Verwaltung gehen und sich für unsere Idee einsetzen!" 28
berichtete Glynn weiter. „Und was hast du in der Zwischenzeit getrieben?" „Telefoniert!" meldete Leaish. „Es haben sich einige interessante Gesichtspunkte ergeben. Einer meiner Nachhilfeschüler will mit einigen seiner Freunde eine Schülerzeitung aufziehen!" „Was, bitte, hat das mit uns zu tun?" fragte Glynn lauernd. Glynn drehte sich zu ihm herum, stützte den Kopf mit der rechten Hand ab und sah ihn mißtrauisch an. „Wir können in dieser Zeitung einen Sonderteil bekommen", erklärte Leaish. „Etwa zehn Seiten, die wir mit Nachrichten aus der Studentensiedlung füllen können!" „Du hast selbstverständlich 'bereits zugesagt, nicht wahr?" fragte das Mädchen. Leaish nickte zögernd. „In einem Monat passiert hier genug, um damit zehn Seiten zu füllen", meinte er. „Außerdem werde ich die Sache natürlich nicht allein anfangen!" „Aha", machte Glynn. „An wen hattest du als Mitarbeiter gedacht?" Leaish zuckte mit den Schultern und meinte ratlos: „Ich weiß es nicht. Vielleicht Cacama. Sein aggressiver Schreibstil ist für diesen Zweck genau das Richtige." Glynn starrte ihren Freund verblüfft an. „Ausgerechnet diesen Widerling?" fragte sie ungläubig. Ihre Gereiztheit schlug in echten Zorn um, als sie Leaishs unverschämtes Grinsen merkte. „Lache nicht so albern!" fauchte sie. „Auch diesen arroganten Flegel hat die gerechte Strafe schon getroffen", erklärte sie mit unverhohlener Schadenfreude. Leaish erschrak etwas. „Wovon sprichst du?" forschte er vorsichtig. „Er hat sich verliebt", kicherte sie. „In dich?" „Unser spitzzüngiger Freund würde vermutlich sagen, so 29
niveaulos sei er nicht!" meinte Glynn. „Nein, die junge Dame heißt Gryt!" „Steckbrief!" forderte Leaish. „Zwanzig Jahre alt", berichtete Glynn. „Etwa einen Kopf größer als du, mit langem, dunklem Haar. Eine recht aparte Figur, fast knabenhaft; sie wohnt im siebten Block. Trotz ihres etwas zu kindlich wirkenden Lächelns kann sie Freunde haben, die mindestens zwei Klassen besser sind als Cacama." „Immerhin", murmelte Leaish grinsend. „Bei der Auswahl seiner Frustrationen beweist er einen ziemlich guten Geschmack." Er stand auf. „Ich werde jetzt den zukünftigen Zeitungsredakteur aufsuchen!" verkündete er. * „Aufwachen, Graydon!" befahl eine harte Stimme. Der junge Mann drehte sich langsam in seinem Bett herum und öffnete die Augen; schlaftrunken blinzelte er den Leiter der Saturn-Abteilung an. „Was, zum Teufel, ist los?" fragte Graydon benommen und richtete sich mühsam auf. „Sondereinsatz!" erklärte der Hagere kalt. „Sie müssen wieder in die Kapsel!" Graydon las die Uhrzeit und das Datum an seinem Armbandchronometer ab und schüttelte den Kopf. „Ich bin erst wieder in vier Tagen an der Reihe!" protestierte er laut. Der Kahlköpfige schüttelte mit leisem Bedauern den Kopf. „Tut mir persönlich sehr leid", erklärte er, „aber der eigentliche Pilot ist ausgefallen und wir haben nur Sie als Ersatzmann. Sie erhalten das doppelte Honorar!" „Auch ein Trost für einen Nervenkranken!" knurrte Graydon 30
und schwang sich aus dem Bett. „Rasieren Sie sich, dann kommen Sie in den Nebenraum!" sagte der Hagere. Der Mann zog sich zurück, nachdem Graydon verärgert genickt hatte. „Erst will ich etwas essen!" erklärte Graydon mit Nachdruck. Wortlos wies der Leiter der Abteilung auf einen gedeckten Tisch. Graydon trat näher und sah sich die Mahlzeit an. Ein monströses Steak, dazu Toast, Rühreier, Kaffee und Orangensaft. „Warum bekomme ich nie etwas anderes zu essen?" erkundigte sich Graydon, der Rühreier nicht ausstehen konnte. „Tradition!" erklärte man ihm. Mißmutig verzehrte Graydon das Frühstück. Dann machte er sich daran, in den unförmigen Anzug zu steigen. „Noch eine halbe Stunde!" erklang es aus einem Lautsprecher. „Pilot Graydon, beeilen Sie sich bitte!" Der junge Mann zog verächtlich die Brauen hoch und kontrollierte dann die Anschlüsse; man hatte ihm gesagt, es sei eventuell lebenswichtig, daß die Dichtungen einwandfrei arretiert waren. „Es kann losgehen!" sagte er laut, als er sämtliche Punkte der Checkliste sorgfältig durchgegangen war. Mit schleppenden Schritten ging er zu der Kaspel hinüber, deren Luk weit offenstand. Nach fünf Minuten saß er angeschnallt auf seinem Sitz und wartete auf den Start. Der Rest war Routine - glaubte er jedenfalls. Für eine Zehntelsekunde stand das Lichtpünktchen in dem Dämmerlicht der Kabine, dann war es wieder verschwunden. Graydon, der gedankenlos die leisen Bewegungen der faustgroßen Ballons verfolgte, die an der Decke der Kapsel herumtrieben, wurde nach vorne geworfen. Klackend verschloß sich der Bajonettverschluß seines 31
Helmes; wie Polypenarme schössen aus den Lehnen des Sessels Gurte hervor, schlangen sich um seinen Körper und fesselten ihn an den Sitz. „Meteoritenalarm!" sagte eine helle Mädchenstimme. „Meteoritenalarm!" Der Schwarm der Ballons an der Decke teilte sich; von unsichtbaren Kräften getrieben, sausten die Farbkugeln auf die Seitenwände der Kapsel zu. Zwei der Ballons setzten sich fest, platzten mit einem leisen Knall; die Reste blieben wie festgeleimt an der Wand haften, während die anderen Ballons langsam wieder zur Decke zurücksegelten. „Teufel auch!" knurrte Graydon verblüfft. „Was hat das zu bedeuten?" Er sah auf seinen Zeitplan; nach seiner Schätzung mußte er eigentlich wieder Kontakt mit der Station haben. Graydon beugte sich vor und stöpselte die Funkverbindung ein. „Hier Pilot Graydon!" sagte er laut. „Station bitte melden!" „Was gibt es, Graydon?" fragte die Station zurück. „Genau das wollte ich eigentlich Sie fragen?" konterte der junge Mann; er gab eine kurze Schilderung der letzten Minuten und fragte dann: „Was soll ich tun?" Sein Gegenüber in der Station schwieg sekundenlang und erklärte schließlich: „Warten Sie ab! Ich muß erst neue Instruktionen einholen!" Graydon wartete mehr als zehn Minuten, dann meldete sich die Station wieder. „Warum stoppen Sie nicht das monotone Geschwätz dieses Mädchens?" fragte der Pilot, als er an den Atemgeräuschen merkte, daß die Leitung am anderen Ende wieder besetzt war. „Das müssen Sie schon selbst tun, Graydon!" antwortete eine kühle Baßstimme. „Rechts neben der automatischen Uhr müßte eigentlich eine Lampe aufgeleuchtet sein, richtig?" „Völlig!" kommentierte der Pilot. 32
„Wenn Sie den Schalter unmittelbar darunter betätigen, wird das Band gestoppt!" erklärte der Sprecher. „Und jetzt sehen Sie bitte auf das Anzeigegerät, unter dem „Oxygen“ geschrieben steht! Was zeigt es an?" Graydon las die Anzeige ata und verkündete: „Einhundertzweiundachtzig! Hat das etwas zu bedeuten?" Er erhielt keine Antwort; nur ein Stimmengewirr klang aus den Kopfhörern. Graydon strengte sich an, wenigstens einen Teil der Unterhaltung mitzubekommen. „Das reicht in keinem Fall, Sir! Er wird ersticken!" „Reizende Aussichten!" brummte Graydon ungläubig. „Und wenn er den größten Teil der Zeit verschläft?" fragte die Baßstimme. „Er braucht noch vierunddreißig Stunden", erklärte jemand mit Nachdruck. „Und er hat nur noch für dreißig Stunden Sauerstoff, den Reservetank im Anzug eingeschlossen. Selbst wenn er ein Scheintot-Präparat nimmt, reicht die Menge nicht!" „Wieviel fehlt?" fragte der Baß hart. „Zehn Minuten!" lautete die lakonische Antwort. „Graydon!" meldete sich die Station wieder. „Hören Sie uns?" „Sie ahnen nicht, wie gut!" sagte Graydon aggressiv. „Ich nehme an, Sie wollen mir berichten, daß mir bald buchstäblich die Luft wegbleiben wird!" „Verdammt!" knurrte der Sprecher. „Der Kanal war die ganze Zeit über offen!" „Sehr richtig!" kommentierte Graydon wuterfüllt. „Was haben Sie mir vorzuschlagen? " „Nichts!" lautete die Antwort. „Ist das alles?" fragte Graydon krächzend; seine Stimmbänder versagten sekundenlang den Dienst. „So leid es uns tut, Graydon", erklang es in den Kopfhörern, „aber wir sehen keine Möglichkeit, Sie zu retten - zumindest nicht jetzt! Aber bleiben Sie auf Kurs - vielleicht fällt uns doch 33
noch ein Ausweg ein!" Der junge Mann lachte bitter auf. „Ein reichlich schwacher Trost!" meinte er grimmig. Mit einem Ruck riß er den Stecker aus der Buchse; die Verbindung war getrennt. „Warum soll ich eigentlich Kurs halten?" fragte er sich laut. „Wem nützt es etwas?" Er studierte kurz die Pläne und stellte zufrieden fest, daß in den nächsten Stunden keine Arbeit anfallen würde. Dann löste er die Gurte, die ihn noch immer an seinen Sitz fesselten, und überlegte, was er für sich selbst tun könne - er fand keinen Ansatzpunkt einer möglichen Lösung. Angst beschlich ihn, als er sich langsam darüber klar wurde, daß er völlig hilflos und ohnmächtig war - es gab nichts, das zur Verbesserung seiner Lage beitragen konnte. Er konnte nur warten, bis das unvermeidlich erscheinende Ende eintrat. Er stand auf und ging einige Schritte weit zur Kaffeemaschine. „Es muß doch irgendeinen Ausweg geben!" murmelte er, während er den mörderisch starken Kaffee trank und dazu eine Zigarette rauchte. Einen kurzen Augenblick lang sah er auf die Glut an der Spitze der Zigarette und schüttelte den Kopf. „Kaum mehr Sauerstoff", meinte er sarkastisch, „aber die Luft mit Qualm verpesten!" Wütend warf er die halbgerauchte Zigarette auf den Boden und trat die Glut mit dem Absatz aus. Plötzlich stockte die Bewegung. Unmittelbar neben seinem Fuß hatte er einen völlig verwaschenen Buchstaben entdeckt, den man - offensichtlich vor langer Zeit - auf das Metall gemalt hatte. Er kniete nieder und versuchte, die Schrift zu entziffern. CARGO las er mit einiger Mühe. Die Buchstaben standen auf einer Platte, die sich von den 34
anderen Metallflächen des Bodens dadurch unterschied, daß sie nicht vernietet, sondern durch vier Schrauben mit dem Boden verbunden war. Schrauben! Das konnte einen Ausweg bedeuten. Graydon leerte die Kaffeetasse in einem Zug und stellte sie achtlos beiseite; dann ging er um seinen Sitz herum und kniete wieder nieder. Unter der eigentlichen Sitzfläche befand sich ein wohlbestückter Werkzeugkasten, mit dem sich kleinere Reparaturen an den Anzeigen und am Anzug vornehmen ließen. Nach wenigen Sekunden hatte er einen passenden Schraubenschlüssel gefunden und machte sich daran, die Schrauben an den Ecken der Platte zu lösen. Er wußte nicht, wann sie festgezogen worden waren, aber es mußte vor einiger Zeit geschehen sein; die Feuchtigkeit der Atemluft hatte die Verbindungen rosten lassen - nur die Oberfläche der Schrauben zeigten einen metallischen Glanz dort, wo die Reinigungsrobots gearbeitet und poliert hatten. Nach zehn Minuten schweißtreibender Arbeit hatte er eine der Verbindungen gelöst, eine Stunde später hielt er vier jeweils zehn Zentimeter lange Schrauben in der Hand. Aus dem Werkzeugkasten holte er sich einen langen Schraubenzieher und klemmte ihn in den schmalen Spalt, der die beschriftete Platte von den anderen trennte. Mit aller Kraft drückte er auf den Griff; ächzend hob sich das Metall um wenige Millimeter. Dann löste sich ein Gemisch aus Dreck und Rost. Scheppernd schlug die Platte zurück und gab den Blick frei in ein quadratisches Loch, finster und von einem Übelkeit erregenden Modergeruch erfüllt. Graydon besorgte sich einen starken Handscheinwerfer und leuchtete in die Öffnung hinein; er stieß einen leisen Pfiff aus. Das Loch war etwas mehr als einen Meter tief; ein Skelett hockte in der Vertiefung und bleckte ihn mit weißen Zähnen 35
an. Graydon fröstelte bei dem Gedanken, daß er unter Umständen bald einen ähnlichen Anblick bieten würde. Dann sah er das Buch. Es lag mitten im Lichtschein seines Scheinwerfers; ein dünner Band, staubbedeckt und arg verwittert aussehend. Graydon legte sich flach auf den Boden und reichte mit dem Arm in das Loch hinab. Unwillkürlich zuckte er zurück, als er versehentlich einen Knochen in der Hand hielt, der unter der Berührung lautlos zu Staub zerfiel. Behutsam tastete er sich an das Buch heran, ergriff es vorsichtig und zog es ebenso sorgsam in die Höhe. „Sieh an!" murmelte er, während er die Blätter mit spitzen Fingern bewegte; das Papier war alt und brüchig. „Ein Tagebuch offensichtlich!" Er stutzte, dann verzog sich sein Gesicht zu einem triumphierenden Grinsen. Kaum zu entziffern wegen der fürchterlichen Handschrift des Verfassers, aber immer noch deutlich bei genauem Hinsehen las er das Wort Saturn. Er legte das Buch beiseite, schob die Platte wieder über das Loch und ließ sich auf seinem Sitz nieder. Ein grünes Licht war auf dem Armaturenbrett aufgeflammt; die Station versuchte offenbar, sich mit ihm in Verbindung zu setzen. „Hier Graydon!" sagte der junge Mann laut, nachdem er den Kontakt hergestellt hatte. „Mann!" kam die Antwort. „Wo haben Sie so lange gesteckt?" „Bei Ihrer Frau!" bemerkte Graydon bissig. „Ich bin Junggeselle!" erklärte der Sprecher lachend. „Immerhin, Sie scheinen noch nicht durchgedreht zu haben!" „Machen Sie es kurz!" forderte Graydon ungeduldig. „Was 36
gibt es Neues? Werde ich bald im Dunklen sitzen oder in die Luft fliegen?" „Mitnichten!" quäkte es aus dem Lautsprecher. „Hören Sie! Sie sind doch in diesem Fall Ersatzmann, nicht wahr!" „Stimmt!" konterte Graydon. „Und nichts freut mich mehr, als die Aussicht, sozusagen ersatzweise sterben zu dürfen!" „Pech für Sie!" meinte der anonyme Sprecher gemütlich. In Graydon keimte Wut auf; gereizt fauchte er in sein Mikrophon: „Was wollen Sie?" „Welchen Anzug tragen Sie?" fragte der anonyme Sprecher. ' „Jedenfalls keinen Smoking!" brüllte Graydon wütend; die nervliche Belastung dieses Gespräches wurde langsam unerträglich. „Selbstverständlich meinen Anzug!" „Wunderbar!" meinte der Sprecher. „Dann müßte nämlich im Schrank noch der Anzug des eigentlichen Piloten hängen zusammen mit einem Sauerstofftank, der für zehn Stunden ausreicht!" Graydon wartete keine Sekunde länger; er sprang auf, stolperte fast über das Mikrophonkabel und riß die Tür zu dem Wandfach auf, in dem die Anzüge hingen. Er stieß einen leisen Freudenschrei aus, als er das weißschim mernde Gewebe sah und den massiven Tank auf dem Rücken des Anzuges - das Manometer zeigte auf einhundert: Der Tank war randvoll. „Sie haben völlig recht!" bestätigte er der Station, sobald er sich wieder gesetzt hatte. „Ich nehme an, damit sind alle Schwierigkeiten behoben?" „Wir hoffen es für Sie, Graydon!" antwortete die Station trocken. „Ende!" „Ende!" wiederholte der junge Mann mechanisch; der leise Summton, der bei jeder Funkverbindung zu hören war, verstummte - nur die Statik prasselte und krachte in den Lautsprechern. 37
Graydon zündete sich eine Zigarette an - diesmal mit gutem Gewissen - und begann zu lesen. * Verärgert warf Leaish den Hörer auf die Gabel des Telefons; Glynn sah ihn verwundert an. „Ärger?" erkundigte sie sich vorsichtig. Leaish nickte finster und antwortete: „Cacarna rief gerade an! Es ist genau das eingetroffen, was ich befürchtete - jnan will Rod unter irgendeinem Vorwand absetzen!" „Gerücht oder Tatsache?" wollte das Mädchen wissen. „Bisher nur ein Gerücht!" erklärte Leaish. „Cacama kommt gerade von Kathy's Inn, unserem Stammlokal. Er hat dort ein paar Gesprächsfetzen mitbekommen, die eigentlich nicht für ihn bestimmt waren - er hat den Eindruck, es stecke etwas hinter dem Gerede!" „Was willst du mehr?" meinte Glynn gleichmütig. „Eine vorzügliche Gelegenheit, die Wirksamkeit eurer Zeitung zu erproben!" Leaish zuckte die Schultern und brummte: „Bis die erste Ausgabe druckreif ist, werden noch mindestens zwei Wochen vergehen - die Ephorensitzung, auf der Rod gestürzt werden soll, ist aber in elf Tagen!" „Du kannst ihm also nicht helfen!" stellte Glynn fest. „Irrtum!" sagte er mit Nachdruck. „Ein Flugblatt läßt sich innerhalb weniger Stunden schreiben, abziehen und verteilen. Und genau das werde ich tun!" Er verließ den Flur, in dem sich das Gemeinschaftstelefon befand, ging zurück in Glynns Zimmer und setzte sich an den Schreibtisch. Eine halbe Minute später kratzte ein Fasernschreiber über ein Blatt Papier. Leaish hatte seinen Flugblattentwurf gerade beendet, als 38
Cacama das Zimmer betrat; er sah das Blatt auf dem Schreibtisch und grinste verständnisvoll. „Ein Flugblatt?" fragte er lakonisch; Leaish nickte stumm und gab ihm das Papier. Als Cacama zwei Minuten später das Blatt sinken ließ, machte er ein etwas ratloses Gesicht. „Was hast du daran auszusetzen?" forschte Leaish. „Es ist zweifellos ausgezeichnet", meinte Cacama nach einigem Zögern, „als Besinnungsaufsatz zum Thema Selbstverwaltung, aber als Flugblatt?" Er machte eine kurze Pause. „Was du erreichen willst", sagte er endlich, „ist die Verhinderung von Rods Sturz! Vor allem, weil er mit sehr unsauberen Mitteln betrieben wird! Um diese Umtriebe zu stoppen, brauchst du eine Öffentlichkeit, die bereit ist, sich in die Angelegenheit einzuschalten. Richtig?" „Stimmt!" bestätigte Leaish. „Ein größeres Auditorium erreichst du aber nur, wenn du Namen nennst!" erläuterte Cacama. „Die Drahtzieher dieser Aktion müssen genannt und auch als Schuldige bezeichnet werden - die Menge braucht einen Kopf, den sie rollen sehen kann!" Leaish machte sich sofort daran, einen neuen Text zu verfassen. Als er das letzte Wort geschrieben hatte, gab er das Blatt an Cacama weiter. Der junge Mann las und grinste verwegen. „Ausgezeichnet!" lobte er. „Es dürfte in der Siedlung einigen Spektakel geben, wenn das Ding veröffentlicht wird!" „Aus deinem Munde", meinte Leaish ironisch, „ist mir dies Lob besonders viel wert!" Darauf wußte auch Cacama keine Antwort. Das Flugblatt, abgezogen und verteilt am nächsten Tag, wirkte wie eine Bombe; auf jedem Flur standen kleinere Menschenansammlungen und diskutierten die Angelegenheit. 39
Das allgemeine Gerede verstärkte sich noch, als einen Tag darauf ein zweites Flugblatt erschien - diesmal von der Gruppe, die Rod stürzen wollte. Leaish lachte sich halbtot, als er den Text studierte - selten hatte er ein dümmeres Elaborat gelesen. Jetzt erwartete er mit Spannung den Tag der Ephorensitzung. „Donnerwetter!" staunte Cacama, als er zusammen mit Glynn und Leaish den Sitzungssaal betrat. Mehr als hundert Zuschauer hatten sich eingefunden, um den Spektakel mitzuerleben. „Das dürfte unserem zweiten Pamphlet zuzuschreiben sein!" vermutete Glynn. Drei Stunden, bevor die Sitzung begann, hatten sie ein weiteres Flugblatt verteilt; der Wirksamkeit wegen waren die Blätter vor den Zimmertüren abgelegt worden. Die Vorderseite enthielt einen Artikel von Leaish, der die Argumente des Gegenflugblattes widerlegte; auf der Rückseite war eine Glosse von Cacama zu finden. Schallendes Gelächter kam auf, als Axal Oiseau den Versammlungsraum betrat - er sollte den Mißtrauensantrag stellen, der Rods Sturz bedeutete; seine Karikatur war Cacama besonders gut gelungen. „Ruhe im Saal!" schrie Rod, um das Stimmengewirr zu übertönen. Langsam verebbte der Lärm im Sitzungssaal, und Rod eröffnete die Sitzung. Sobald er geendet hatte, stand Leaish auf und sagte: „Antrag zur Satzung: Alle Diskussionen sind grundsätzlich öffentlich, Abstimmungen haben so zu erfolgen, daß man erkennt, wer wie gestimmt hat!" Er wußte, daß die Intriganten-Clique die Absicht gehabt hatte, Rods Absetzung unter Ausschluß der Öffentlichkeit zu behandeln; er grinste triumphierend, als er den Applaus hörte, der seine letzten Worte begleitete. 40
„Ich bitte um eine Abstimmung per Handzeichen!" meinte Rod, der seine Genugtuung nur schwer verbergen konnte. „Wer stimmt für den Antrag?" Bradley Vonnegan, der auf Rods Posten spekulierte, warf Leaish einen mörderischen Blick zu, musterte flüchtig das Publikum und hob zögernd die rechte Hand. „Antrag einstimmig angenommen!" verkündete Rod. „Ich bin gespannt, wie es weitergeht!" flüsterte Glynn in Leaishs Ohr. „Rod hat von den zehn Ephoren sieben gegen sich!" „Abwarten!" murmelte Leaish. „Einen Teilerfolg hat er bereits für sich verbuchen können!" Getreu den Direktiven, die Axal von Bradley bekommen hatte, stellte er dann den Antrag, dem Vorsitzenden das Mißtrauen auszusprechen - das gellende Protestpfeifen des Publikums nahm er nicht wahr; auch nicht, daß neben ihm Bradley sich an die Stirn faßte und auf seinem Sitz förmlich zusammenschrumpfte. „Bei dieser Stimmung des Publikums kommt der Antrag garantiert nicht durch!" prophezeite Cacama fröhlich. „Bradley hätte seine Marionetten besser vorbereiten sollen. Das war sein erster taktischer Fehler!" In der anschließenden Diskussion entpuppten sich die Vorwürfe gegen Rods Amtsführung als ein Gemisch aus Klatsch, falschen Informationen und einer beträchtlichen Menge persönlicher Niedertracht. Das Publikum merkte recht bald, was für ein Spiel geplant war und bedachte Bradley und seine Gefolgsleute mit ohrenbetäubendem Protest. Der Antrag wurde abgelehnt. „Geschafft!" murmelte Leaish. Er lehnte sich zurück, zündete sich eine Zigarette an; der Rest der Sitzung schien nicht sonderlich interessant zu werden. „Aufgepaßt!" zischte Glynn und stieß ihn mit dem Ellbogen an. 41
Bradley hatte sich von seinem Sitz erhoben und verkündete laut: „Man hat mir vorgeworfen, ich wolle wieder Vorsitzender werden - deshalb beabsichtige ich, Rod zu stürzen. Das ist nicht wahr!" Aus dem Publikum klang ihm höhnisches Lachen entgegen. „Um diese Frage endgültig zu klären, trete ich hiermit von meinem Posten als stellvertretender Vorsitzender zurück. Außerdem rückt mein Examen näher, und ich habe die Zeit bald nicht mehr, meinen Pflichten nachzugehen!" Leaish wurde unruhig; diese Verhaltensweise sah Bradley überhaupt nicht ähnlich. „Ich bin gespannt, was er plant!" knurrte er in Glynns Ohr. Rod nahm die Abdankung zur Kenntnis und schlug einen der beiden Männer, denen er vertrauen konnte, als Nachfolger vor. Sein Kandidat wurde nicht gewählt. Leaish knirschte mit den Zähnen, als er Bradleys Taktik durchschaute: Von Bradleys Anhängern war keiner bereit, zu kandidieren, und Rods Vorschläge wurden abgelehnt. „Dieser Satan!" fauchte Leaish, als er sah, wie Rod erbleichte und unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte. Hinter ihm erklang Cacamas spöttisches Kichern. „Unter diesen Umständen", erklärte Rod leise, „stelle ich meinen Posten zur Verfügung! Wer kandidiert für die Nachfolge?" Das Publikum war still geworden. „Ich schlage Bradley vor!" sagte Axal Oiseau zögernd. Zwei Minuten später war Bradley wieder Vorsitzender; sein Stellvertreter hieß Axal. „Verdammt!" knirschte Leaish wütend. „Er hat uns genasführt!" „Abwarten!" meinte Cacama kichernd; er drückte Leaish einen Stoß Blätter in die Hand. „Verteile das bitte!" Leaish machte sich an die Arbeit. 42
Erst als er sich wieder setzte, fand er Zeit, den Text zu lesen Cacama verteilte gerade die letzten Exemplare an die verblüfft aussehenden Ephoren. Gelächter kam auf und verstärkte sich; Leaish hockte auf seinem Platz und schnappte verzweifelt nach Luft. „Das ist der beste Spaß seit Jahren!" keuchte er. Cacamas Flugblatt trug den Titel: „Wie wird man Vorsitzender der Ephoren?", und verpackt in beißende Sarkasmen schilderte es exakt den Verlauf der Sitzung. Die einzigen, die nicht in den Lachorkan einstimmten, waren Bradley und seine Gefolgsleute. „Ich glaube, wir wissen jetzt genug!" sagte jemand; als sich der Sprecher nach vorn schob, erkannte Leaish seinen Tutorenkollegen Haycon Sumerset. Schwer, massig stand er vor den eingeschüchterten Ephoren; dann brüllte er: „Glaubt einer von euch noch ernsthaft, daß er das Vertrauen seiner Wähler besitzt?" „Bravo!" erklang es aus dem Hintergrund. „Kann sich der Ephorenrat nicht selbst absetzen?" fragte eine zarte Mädchenstimme. „Egdyth!" staunte Leaish. Das Mädchen lebte auf Glynns Etage und war noch nie in irgendeiner Weise hervorgetreten. „Das geht leider nicht!" erklärte Rod. „Vielleicht ist aber dieser Antrag einwandfrei!" brüllte Haycon weiter. „Ich beantrage, daß dieser widerlichen Schmierenkomödie endlich ein Ende gesetzt wird! Diese Bemerkung ist wörtlich ins Protokoll zu übernehmen!" Er drehte sich sekundenlang herum, um den Beifall der Zuschauer mit einem grimmigen Lächeln entgegenzunehmen. „Mein Antrag lautet: Alle Ephoren treten freiwillig von ihren Ämtern zurück!" fuhr er fort. „So bald wie möglich sind neue Konvente einzuberufen, auf denen entschieden wird, ob sich 43
jeder Vertreter dieses Gremiums einwandfrei verhalten hat! Bis zu diesem Zeitpunkt werden die Amtsgeschäfte von den alten Ephoren kommissarisch weitergeführt!" „Abstimmung!" sagte der neue Verhandlungsleiter Bradley finster. „Gegenstimmen, keine; Enthaltungen, keine - der Antrag ist einstimmig angenommen!" Ohne es zu merken, war er wieder in seinen alten Fehler verfallen und hatte die Fragen so schnell gestellt, daß niemand rechtzeitig reagieren konnte - das Publikum lachte laut auf, als es bemerkte, daß sich dieser heimtückische Trick diesmal nicht für ihn bezahlt machte. „Geschafft!" brummte Leaish. „Dieses letzte Flugblatt hat alles gerettet!" Er wollte sich zu Cacama umdrehen und ihm gratulierend die Hand schütteln, doch der permanent unrasiert herumlaufende junge Mann schüttelte den Kopf. „Die Formulierung ist zwar von mir", meinte er lächelnd, „die Idee aber stammt von Glynn." „Woher wußtest du ... ?" fragte Leaish ungläubig. Glynn sah ihn spitzbübisch an und warf den Kopf in den Nacken. „Ein kluges Mädchen weiß derlei einfach!" meinte sie spöttisch. „Verdammte Emanzipation!" knurrte Leaish; aus den Augenwinkeln heraus sah er, wie Bradley näher kam. „Meinen Glückwunsch!" sagte der kommissarische Vorsitzende anerkennend. „Mit diesem Ergebnis hatte ich nicht gerechnet! Wir sehen uns später, in Kathys Inn, ja?" Leaish nickte, während Cacama ungläubig dem davoneilenden Bradley nachstarrte. „Wie, bitte, darf ich denn das verstehen?" staunte er. „Ich denke, ihr seid Gegner?" „Stimmt!" antwortete Leaish. „Wenn es um Politik - auch in diesem sehr kleinen Rahmen - geht, vertreten wir meist sehr 44
gegensätzliche Standpunkte. Aber müssen wir uns deswegen auch privat den Schädel einschlagen?" „Mitnichten!" brummte Cacama. „Gelobt seien die positiven zwischenmenschlichen Beziehungen!" „Da du gerade davon redest", wollte Glynn wissen, „wie gestaltet sich dein Verhältnis zu Gryt?" Cacama lief rot an. „Sehr positiv!" sagte er mit unüberhörbarem Spott. „Ich glühe förmlich vor Leidenschaft, und sie bleibt kühl wie ein Supraleiter - zusammen ergibt das ein überaus freundliches Gesprächsklima!" „Kommt!" bestimmte Leaish plötzlich. „Gehen wir!" Der Rest des Publikums, der noch in unzählige, erbitterte Diskussionen verwickelt war, sah den drei Menschen erstaunt nach, als sie wie Aufziehpuppen auf ein leuchtendrot lackiertes Fahrzeug zugingen und einstiegen. Stumme Blicke wurden getauscht - man wußte, wie dieser Vorfall zu deuten war. Offensichtlich hatten es die Prytanen für nötig befunden, Leaish, Glynn und Cacama zu einer Unterredung einzuladen. * „Sie wissen vermutlich, warum wir Sie hergebeten haben!" sagte der Prytane liebenswürdig. Ein hochgewachsener, ziemlich beleibter Mann saß hinter dem Schreibtisch und musterte seine „Besucher" durch eine verspiegelte Brille; der gepflegte Schnurrbart zeichnete eine dunkle Linie auf seinem ungesund blassen Gesicht. Die Lippen waren fast farblos, sehr schmal und zu einem starren Lächeln verzerrt. „Vermutlich, um mit dir Kaffee zu trinken!" sagte Cacama aggressiv. Der Prytane schien weder den sarkastischen Tonfall der 45
Antwort wahrzunehmen, noch die bodenlose Frechheit, ihn zu duzen. „Sie haben gemeinschaftlich in den Lauf der studentischen Selbstverwaltung eingegriffen. Wer gab Ihnen das Recht dazu?" „Wie bitte?" fragte Leaish ungläubig. „Wenn in unserer Selbstverwaltung Cliquenbildung und Günstlingswirtschaft einreißt - wer hat dann das Recht, einzugreifen, wenn nicht wir?" „Sind Sie die Studentenschaft?" fragte der Prytane gleichmütig. „Keineswegs!" antwortete Leaish. „Aber nicht wir drei haben das Ephorenkollegium zum Rücktritt gezwungen, sondern die Öffentlichkeit tat dies, die Betroffenen also!" „Deren Verhalten Sie aber beeinflußt haben!" setzte der Bebrillte den Satz fort. „Mitnichten!" konterte Leaish. „Wir haben lediglich unsere Meinung zum Ausdruck gebracht. Ob man sich unserer Auffassung anschließt oder sie verwirft, ist nicht unsere Sache!" Der Mann hinter dem Schreibtisch zeigte keinerlei erkennbare Reaktion. „Nun", meinte er ruhig. „Lassen wir diesen Aspekt fallen. Beabsichtigen Sie, Ihre Tätigkeit fortzusetzen?" „Selbstverständlich!" erklärte Cacama. „Wir werden sogar Sonderausgaben unserer Zeitung herausgeben - für Blinde, Taube und Analphabeten!" Glynn lachte laut auf, Leaish konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Der Prytane sah Cacama einige Sekunden lang aufmerksam an. „Können Sie sich eigentlich vorstellen, was Ihre Initiative für Folgen haben kann?" fragte der Bebrillte kalt. „Diese ganze Gemeinschaft ist ein hochempfindlicher Automatismus, der bislang reibungslos lief. Jede noch so kleine Veränderung im 46
Ablauf der gesellschaftlichen Prozesse kann diese Konstruktion zum Einsturz bringen!" „Soll das heißen, daß alles auf ewig so bleibt, wie es heute ist?" fragte Leaish erschüttert. „Keinerlei Änderungen?" „Sie sagen es, junger Mann!" antwortete der Mann hinter dem Schreibtisch freundlich. „Lassen Sie sich einmal auf Ihren Geisteszustand untersuchen!" brüllte Cacama plötzlich. „Alles in der Natur verändert sich. Alles ist im Fluß. Und Sie wollen dieses künstliche Perpetuum mobile der Gesellschaft bis in alle Ewigkeit unverändert laufen lassen? Das ist schierer Wahnsinn!" Der Prytane nahm den Ausbruch des jungen Mannes ungerührt zur Kenntnis. „Sind Sie der gleichen Meinung wie Ihr Freund?" fragte er dann, zu Glynn und Leaish gewandt. „Ja!" sagte Leaish ohne zu zögern; Glynn nickte bestätigend. „Wir werden sehen", meinte der Bebrillte mit einem Lächeln, das nichts Gutes andeutete, „ob sich Ihre Ansichten nicht ändern werden! Gehen Sie bitte durch diese Tür dort!" Mit einer Handbewegung deutete er die Richtung an, während er mit der anderen Hand unter die Platte des Schreibtisches faßte und dort offensichtlich einen Schalter betätigte. „Ein Herr wird Sie dort in Empfang nehmen und zu Ihren Quartieren geleiten. Da Sie vermutlich über gut funktionierende Hirne verfügen, kann ich mir wohl den Hinweis sparen, daß Fluchtversuche sinnlos sind!" Lautlos öffnete sich eine Tür in der scheinbar glatten Wandfläche; ein hochgewachsener Mann wurde sichtbar, der die drei Studenten kalt betrachtete. Die Strahlwaffe in seiner rechten Hand war, wie Leaish sofort bemerkte, nicht gesichert. Langsam standen die drei Gefangenen auf und gingen auf die Öffnung zu. Ein scheinbar endlos langer, hellerleuchteter 47
Korridor wurde sichtbar. Bevor Cacama als Letzter den Gang betrat, drehte er sich noch einmal zu dem Prytanen um. „Was halten Sie, als Unbeteiligter", fragte er ausdruckslos, „eigentlich von der Intelligenz?" Er wartete keine Reaktion ab und ging rasch vorwärts; hinter ihm schob sich die stählerne Tür wieder in ihre alte Position. Wortlos marschierte die Gruppe durch den leicht gekrümmten Gang. Leaish beobachtete fortdauernd die Wände, aber er konnte kein Anzeichen dafür erkennen, daß sich hinter den mattglänzenden Metallwänden weitere Räume befanden. Wenn hier Eingänge waren, mußte sie ebenso gut getarnt sein wie der Beginn des Korridors. „Halt!" sagte der Wächter unvermittelt. Die drei Menschen vor ihm stoppten ihre Bewegung und verharrten in gespannter Aufmerksamkeit. Glynn begann leise zu weinen. Der Bewaffnete zog eine flache Metallschachtel aus der Tasche und drückte einen Knopf. Ein Teil der Wand wich zurück und gab den Blick frei auf einen fensterlosen Raum. „Herein mit Ihnen!" kommandierte der Wärter. Mit dem Lauf seiner Waffe schob er Cacama vorwärts; der junge Mann stolperte in den Raum, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Ein weiterer Knopfdruck - die Öffnung schloß sich wieder. „Weiter“ lautete der Befehl. Nach zwanzig Schritten - Leaish zählte vorsorglich mit befahl der Mann einen weiteren Stop. Der Lauf des Lasers wies auf Leaish. „Jetzt Sie!" „Nein!" schrie Glynn auf und warf sich schluchzend an den Hals ihres Freundes. Sie weinte hemmungslos. Der junge Mann war völlig überrascht - er kannte das Mädchen anders. 48
„Benimm dich!" fauchte er wütend. Als Glynn dann noch unter Tränen wimmerte, sie wolle lieber sterben als sich jetzt von Leaish zu trennen, riß auch bei dem jungen Mann die Geduld. Er stieß das Mädchen von sich und schlug ihr kraftvoll ins Gesicht. Das Mädchen prallte zurück und griff an ihre Wange, auf der sich die Finger des jungen Mannes rot abzeichneten, und ging in die Zelle. Glynn sah, wie der Stahl sich hinter ihm schloß, dann schrie sie unterdrückt auf und brach zusammen. „Weiber!" murmelte der Wärter verächtlich. Er ging um das Mädchen herum, umklammerte mit der Linken ihre Handgelenke und schleifte Glynn über den Boden, bis zur nächsten Zelle. Am Eingang ließ er Glynn los und öffnete die Tür. Er schob den Sender in die Tasche, hängte sich die Waffe über die Schulter und faßte unter Glynns Achseln. Ächzend zerrte er das Mädchen in den sparsam möblierten Raum. Als er den Oberkörper des Mädchens auf das Bett legte, rutschte der Gurt seines Lasers über seine Schultern. Scheppernd fiel die Waffe auf den Boden, wenige Zentimeter von Glynns Füßen. Der Wärter, der gerade ihre Beine auf das Bett schieben wollte, ließ das Mädchen los und bückte sich nach seiner Waffe. Eine Zehntelsekunde später krachte eines von Glynns wohlgeformten Knien mit Macht gegen seinen kantigen Unterkiefer. Der Mann flog zurück. Im Fallen schlug sein Hinterkopf gegen das Waschbecken; mit einem dumpfen Geräusch fiel der Mann auf den Boden und blieb liegen. Aus seiner Wunde am Kopf sickerte Blut. Hastig war Glynn aufgestanden und hatte den Laser an sich genommen; den Zeigefinger am Abzug näherte sie sich vorsichtig dem Liegenden, kniete neben ihm nieder und zog 49
ihm den Sender aus der Tasche. Sie stieß einen leisen Freudenschrei aus, als sie das Gerät in der Hand hielt. Die Bedeutung der beiden Knöpfe war leicht zu erkennen - grün hieß Öffnen, und rot würde vermutlich das Gegenteil bedeuten. Sie trat auf den Gang, betätigte den Sender und beobachtete lächelnd das Schließen der Tür. Dann ging sie den Weg zurück, den sie entlanggeschleift worden war. „Nun zu dir, Leaish Mattingly!" murmelte sie entschlossen. „Du?" fragte ihr Freund verblüfft, als er sie auf der Schwelle entdeckte. Sie ging auf ihn zu und holte aus; Sekunden später konnte sie den Abdruck ihrer schmalen Hand in Leaishs Gesicht bewundern. Verfluchte Emanzipation!" murmelte Leaish, während er die getroffene Stelle betastete. „Einen Schlag hat das Weib..." „Niemand anderes!" fauchte Glynn. „Vorwärts!" kommandierte das Mädchen; der junge Mann nickte zustimmend und folgte ihr gehorsam. Minuten später war auch Cacama befreit. „Und was beginnen wir nun?" meinte er und sah das Paar fragend an. „Weiß einer von euch, wie man aus diesem Fuchsbau herauskommt? Und was wird man mit uns veranstalten, wenn man uns wieder einfängt?" „Lebendig bekommen die mich nicht!" murmelte Leaish. „Schöne Helden!" zischte Glynn verächtlich. „Los, mir nach!" Sie gingen zurück in Glynns Zelle, wo noch immer der Wärter bewußtlos am Boden lag. „Er hat ungefähr die gleiche Figur wie du, Leaish!" sagte Glynn energisch. „Zieh seine Uniform an! Dann wirst du Cacama und mich abführen. Wenn jemand fragt - du bist hier neu, und heute ist dein erster Arbeitstag! Nun mach schon!" 50
Während Leaish folgsam den Bewußtlosen entkleidete und in dessen Uniform schlüpfte, überprüfte Cacama die Wände der Zelle. „Keine erkennbaren Beobachtungsgeräte!" meldete er zufrieden. „Und gegen die Tür kann unser Freund meinethalben stundenlang hämmern - sie ist viel zu dick, als daß man ihn auf dem Gang hören könnte!" „Ausgezeichnet!" kommentierte Leaish; die Uniform paßt, als sei sie für ihn maßgeschneidert worden. „Wohin jetzt?" fragte Cacama ratlos, als sie wenige Minuten später wieder auf dem Gang standen. „Wir wissen nicht einmal, wo wir überhaupt sind!" „Nach links führt der Gang zum Zimmer des Prytanen", sagte Glynn entschlossen. „Wir werden also nach rechts gehen!" Leaish setzte ein energisches Gesicht auf und trieb Glynn und Cacama vor sich her. Einige Minuten lang schritten sie den Korridor entlang, bis sie eine Kreuzung erreichten. „Großes Preisrätsel!" knurrte Cacama. „Wohin jetzt?" Lächelnd deutete Glynn auf eine Tafel. „Wie nett von unseren Freunden!" meinte Glynn grinsend. „Ein Wegweiser!" Sie deutete auf eine Tafel. Aufmerksam studierte Cacama den Plan und versuchte, sich alle Einzelheiten einzuprägen. Leaish wußte, daß sein Freund ein ausgezeichnetes Gedächtnis hatte; er hoffte, daß es auch jetzt zuverlässig arbeitete. „Wir müssen nach rechts weitergehen!" erklärte Cacama nach zwei Minuten. „Es sind übrigens sämtliche Posten eingezeichnet." „Wie viele sind es bis zum Ausgang?" forschte Glynn besorgt. „Einer!" verkündete Cacama heiter. „Direkt am Portal. Vermutlich ein betagter Herr, der den Pförtner spielt." „Hoffentlich hast du recht!" meinte Leaish. „Vorwärts!" 51
Er ging hinter seinen Freunden; von Zeit zu Zeit drehte er den Kopf nach hinten, um eventuelle Verfolger rechtzeitig zu erkennen. Bis jetzt schien der Ausbruchsversuch noch nicht bemerkt worden zu sein. Ohne einem Menschen zu begegnen, marschierten sie den Weg entlang. Endlich hatten sie den Ausgang erreicht. Ein halbkreisförmiger Raum lag am Ende des Ganges. Dutzende von ähnlichen Korridoren mündeten hier, und im geometrischen Schnittpunkt der Geraden war eine Öffnung zu sehen - der Eingang in die Sektion der Prytanen. Rechts neben der Öffnung saß in einem verspiegelten Verschlag ein Mann. „Teuflisch!" kommandierte Leaish wütend. „Es kann sein, daß wir noch nicht bemerkt sind. Ebensogut kann der Pförtner auf uns gewartet haben!" Cacama nickte bestätigend und deutete zur Decke hinauf. Erschrocken erkannte Glynn über der Mündung eines jeden Ganges einen festmontierten Laser; der Schnittpunkt der Strahlenbahnen lag vermutlich genau am Eingang. „Hier kommen wir nie heraus!" flüsterte Leaish heiser. „Jedenfalls nicht lebend!" Glynn deutete auf den kugelförmigen Leuchtkörper, der den Raum erhellte. Der strahlende Glasball hing, ohne erkennbare Befestigung, mitten im Raum. „Zerschießen!" befahl Glynn lakonisch. Leaish zuckte mit den Schultern, legte die Waffe an und zog den Abzug durch. Ein grellroter Stahl aus kohärentem, gebündelten Licht stach für eine Hundertstelsekunde durch den Raum, zerschmetterte die Leuchtkugel; als die Scherben klingelnd auf den Metallboden prallten, lag der Raum bereits in tiefer Dunkelheit. „Jetzt los!" zischte Glynn. Die drei rannten auf das helle Rechteck zu, das die Freiheit versprach. Eine Gestalt erschien in der Öffnung - der Wärter hatte seinen 52
Verschlag verlassen und ging den Flüchtenden entgegen. „Tut mir leid, alter Herr!" knurrte Cacama und hechtete vorwärts. Er fing seinen Sturz mit den Händen auf und rollte weiter, genau vor die Füße des Wärters. Ein Griff - der Mann schwankte und fiel. Sofort war Cacama über ihm und schnürte ihm die Luft ab. Sekundenlang schlug der Mann um sich, dann wurde er reglos. Als Cacama sich hastig aufrichtete, entdeckte er im Rahmen der Tür eine weitere Gestalt. Ohne zu überlegen warf sich der junge Mann vorwärts. Der neue Mann schien etwas gewitzter zu sein als der Pförtner; blitzschnell sprang er zur Seite. Cacama rutschte über den blanken Metallboden, bis sein Schädel gegen eine Wand prallte. Cacama stöhnte unterdrückt auf; schillernde Feuerräder tanzten vor seinen Augen. Dennoch registrierte er dumpf, wie hinter ihm Leaish sich auf den Fremden stürzte. Mühsam richtete Cacama sich auf. Aus den Geräuschen schloß er, daß sich Leaish mit seinem Gegner auf dem Boden herumwälzte. Für einige Sekunden gerieten die Kontrahenten in das Lichtfenster des Tores; Glynn schrie erschrocken auf. „Graydon!" * Ich werde sterben. Bald. Hier, in dem stählernen Zwischenraum, der das Cockpit vom Laderaum trennt. Das Metall ist viel zu dick, als daß ich mich bemerkbar machen könnte, und offensichtlich ist es meinem Freund, der mich hier versteckte, nicht gelungen, den Auftrag für diesen Flug zu bekommen. Niemand wird mich hier finden 53
ich werde hier sterben. Das mag sich für den, der diese Notizen - hoffentlich - eines Tages finden wird, sehr schlimm anhören. Doch ist der Tod so ziemlich das einzige, für das man sich nicht anzustrengen braucht. Zwar ist es nicht sehr schön, in dieser stählernen Gruft zu ersticken, doch was ist heutzutage schon schön? Lassen wir diese Gedanken. Mein Name ist - obwohl es keine Rolle spielt - Stephen Murdoch, ich bin zweiunddreißig Jahre alt und von Beruf Soziologe und Futurologe - ich beschäftige mich mit der menschlichen Gesellschaft und ihrer Zukunft. Oder sollte ich sagen, mit der unmenschlichen Gesellschaft und ihrer Zukunftslosigkeit? Es ist der grausigste, mörderischste Witz, den ich kenne, daß die Menschheit Jahrzehnte geglaubt hat, der Mensch würde sich selbst mit Feuer und Schwert, Atombomben und Giftgasen ausrotten. Arme Narren! Der Mensch hat sich ausgerottet, indem er gut und bequem lebte - zu gut und bequem. Es wird aussterben, weil er mit der Natur herumgepfuscht hat. Die erste Katastrophe ereignete sich vor mehr als fünfzig Jahren: Ein Chemiekonzern leitete versehentlich seine Abwässer in einen großen Strom; Millionen von Fischen trieben wenige Stunden nach diesem Mißgeschick mit weißen Bäuchen an der Wasseroberfläche. Mehr als einhundert Meeresfarmen wurden verseucht und verödeten. Die Hungersnot im Delta kostete mehr als eine Million Menschen das Leben; ganze Industriezweige brachen infolge des Mangels an Arbeitskräften zusammen. Das Karussell des Elends aber drehte sich weiter. Eine weltweite Wirtschaftskrise stürzte Milliarden in Not - es dauerte zehn Jahre, bis die Auswirkungen des „Versehens" 54
verklungen waren. Hatte man daraus gelernt? Man glaubte, die richtigen Schlüsse gezogen zu haben. Du lebst heute, hieß die Parole, von einer gigantischen Propagandamaschinerie ins Hirn der Massen getrommelt. Und wahrlich, man verfuhr danach. Jeder strebte nach Wohlstand, nach Bequemlichkeit, Freude, Genuß. Es wurde gearbeitet und verdient, verkauft und noch mehr verdient. Aber im Taumel des Überflusses übersah man das schleichende Ende. Obwohl es sich bemerkbar machte. Stahlwerke kühlten das weißglühende Metall mit dem Wasser der Flüsse und heizten es auf - allmählich starb jedes Leben in den Strömen. Stinkende Kloaken wälzten sich schmutzigbraun durch die Länder, verströmten den Unrat der Zivilisation in die Meere, das letzte, größte Nahrungsreservoir. Atomkraftwerke verstreuten ihren radioaktiven Abfall und verseuchten allmählich die Erde. Mutationen traten auf - erst selten, dann häufiger. Ich sah das Gesicht meiner jüngeren Schwester, als man ihr nach langem Zögern - den Leichnam ihres ersten Kindes zeigte. Es war ohne Hirn geboren - Mutation. Sie starb wenig später - Verzweiflung. Aber Kraftwerke lieferten Energie, billige Energie. Und von dieser Energie lebte die Menschheit, denn die billige Energie war Voraussetzung für den allgemeinen Wohlstand. Automobile, tonnenschwer, Wunderwerke an nutzloser Kompliziertheit und Luxus, krochen über teure Wege und pumpten tonnenweise Gift in die Atmosphäre. In einem Land von ungefähr sechzig Millionen Einwohnern kostete dieser Luxus soviel wie ein kleiner Krieg. Makaber genug - auch die Menschenverluste bewegten sich in ähnlichen Dimensionen. Und sie stiegen an. Vor allem die Industrie, die erst die preiswerte Herstellung 55
aller möglichen Dinge ermöglichte, schwängerte die Luft mit Gift. Natürlich blieb dies nicht ohne Folgen - Menschen starben. Aber es waren die alten Menschen, die dahingerafft wurden; Kinder und junge Leute paßten sich an. Selbstverständlich brauchte man Nahrung für jeden; doch Nahrung ist gefährdet, durch Insekten, die sie fressen, Bakterien, die sie vernichten. Auch dagegen fand man die Waffen. Kilotonnen von Bakteriziden und Insektiziden wurden über die Ernten versprüht. Diese Maßnahme hatte drei Effekte: Einmal gab es mehr Nahrung für die Menschen; die Konzentration der Giftstoffe war noch zu gering, um gefährlich zu sein - zumindest nicht lebensgefährlich. Aber die Insekten starben allmählich aus - und damit alle Lebewesen, deren Ernährung auf Insekten basiert. Vor zwanzig Jahren vermutlich starb der letzte Schmetterling; vor fünf Jahren wurde das unwiderruflich letzte Vogelei von einem unvorsichtigen Forscher zerquetscht. Der Regen, der dank der aufgeheizten Flüsse und Meere üppiger denn je strömte, spülte den chemischen Tod in die Flüsse, die Meere. Das Plankton nahm das Gift auf, ohne daran zu sterben, sammelte es. In den kleinen Fischen, die das Plankton fraßen, nahm die Konzentration zu. Der Fisch im Kochtopf mußte bereits chemisch behandelt werden, wollte man nicht die ganze Familie ausrotten. Kein Insekt mehr bestäubte die Pflanzen - das konnte aber der Mensch noch durch ausgeklügelte Technik. Aber die Wälder, die Lungen der Welt, sie siechten dahin. Ganze Landstriche wurden zu Wüsteneien, waren für die Menschheit unwiderbringlich verloren. Stürme und Winde trugen den feinkörnigen Sand in die höchsten Schichten der Erdatmosphäre, wo er sich mit dem Staub der Industrieabgase zu dichten Schleiern verband. Die 56
Folgen konnte jeder einigermaßen intelligente Schüler ausrechnen. Das kultivierbare, anbaufähige Land schwand dahin; auf dem übriggebliebenen Land mußten höhere Erträge erzielt werden das hieß stärkere Düngung - und verstärktes Sprühen von Chemikalien. Die dichten Wolken filterten das Sonnenlicht - die Erde kühlte ab. Also heizte man die Flüsse und Meere weiter auf. So dies Wahnsinn ist, hat es doch Methode. Als es den Mächtigen der Erde endlich dämmerte, war es bereits zu spät. Doch man fand einen Ausweg. Ein Satellit oder eine Raumstation mit einem Orbit von rund 36 000 Kilometern Radius - von der Erdoberfläche aus gemessen - hat eine Umlauf zeit von exakt 24 Stunden. Er scheint über einem Punkt der Erde stillzustehen - obwohl er mit einer Geschwindigkeit durch den Raum rast, die um eine Zehnerpotenz größer ist als die des Schalles. In diesen Tagesorbit schoß man nun Raumstationen; kugelförmige Gebilde mit einem Durchmesser von einhundert Metern. Untereinander durch lange Röhren verbunden, bildeten sie ein schimmernde Perlenkette über dem Äquator, dann einen perfekten Kreis. Darüber, im gleichen Abstand, den die Kugeln untereinander haben - ein zweiter, dritter Kreis. Neue Kanäle verbanden die Stationen der einzelnen Kreise untereinander. Jetzt spannt sich ein silbriges Netz um die Erde, bestehend aus miteinander verbundenen Metallperlen. 32 043 Stück eine über jedem Schnittpunkt eines Längen- mit einem Breitengrad. Jeweils einer der beiden Polkappen jeder Station, jede fünfundzwanzig Meter hoch, beherbergt die Versorgungseinrichtungen für die Einwohner - Atomreaktoren, Dynamos und Wasseraufbereitungsanlagen, hydroponische Gärten, Klimaanlagen. Das ökologische System ist von einzigartiger Perfektion, kein Gramm Materie geht verloren. 57
Katalysatoren spalten das Kohlendioxyd, Pumpen verteilen den gereinigten Sauerstoff wieder in der Kugel. Alles, was an Abfallprodukten entsteht - unter diesen Begriff fallen selbst Leichen -, wird zerlegt, sortiert und zu neuen Produkten wieder zusammengesetzt. Verbraucht wird nur Energie. Die Kuppeln auf den gegenüberliegenden Seiten sehen fast genauso aus - jedes Gerät ist doppelt, dreifach vorhanden und kann zudem jederzeit nachgebaut werden. An diesen Kuppeln legen auch die Versorgungsraketen an. Sie schleppen Rohstoffe heran; Erze aus dem Asteroidengürtel, Wasserstoff aus dem unerschöpflichen Vorrat der Jupiteratmosphäre. Fleisch und Gemüse vom Mars - dort wurden gigantische Farmen unter schützenden Kunststoffkuppeln angelegt. Sie aber sind Luxus - fallen sie aus, sind die Raumstationen immer noch autark. Neun Milliarden Menschen können die Stationen aufnehmen, ernähren und bekleiden. Sie leben mit künstlicher Schwerkraft im perfektesten Automaten, den Menschenhirne bis heute ersannen. Die Erde hat eine Bevölkerung von achtzehn Milliarden. Die Hälfte muß zurückbleiben - auf der Erde, die ausgeplündert, geschändet, verwüstet weiter durch das All rotieren wird. Übriggeblieben sind die Greise, die nichts mehr zu leisten vermögen, die Kranken und Schwachen; Verbrecher und die Sklaven der Kolonien; die Armen, die sich die Fahrt zu den Raumhäfen nicht leisten konnten - alle jene, die am Rande der menschlichen Gesellschaft leben. Und die Verrückten, die Propheten, deren Mahnungen man überhörte, das fleischgewordene schlechte Gewissen der Mächtigen. Zu diesen Verrückten gehöre auch ich. Ich werde mich nicht ändern. Denn mit der gleichen Präzision, mit der die Servomechanismen des stählernen Netzes arbeiten, wird sich 58
der endgültige Abstieg der Menschheit vollziehen. Jeder, der sich etwas mit den Gesetzen und Regeln der Soziologie beschäftigt hat, kann es sich ausmalen. Die Mächtigen und Reichen - was meist auf das gleiche hinausläuft - Werden auch in den Raumstationen den Ton angeben. Sie werden ihre Schuld nicht tilgen - sie werden sie vergessen machen. Verschwinden wird die Kenntnis von der Erde, der blauschimmernden Perle des Sonnensystems, die sich jetzt unter endlosen Wolkenfeldern einer Eiszeit entgegenwälzt. Notgedrungen wird man die Gesellschaft in den Silberkugeln streng durchorganisieren müssen - jede Eigeninitiative unterdrückend. Aber das fein abgestimmte Räderwerk dieser Gesellschaft wird sich immer langsamer drehen - bis es endlich zum Stillstand kommt. Unwiderruflich. * „Unwiderruflich!" wiederholte Graydon flüsternd. Er hatte zunächst die wenigen handbeschriebenen Blätter gelesen, die zwischen Deckel und Schmutztitel des Buches lagen; die Schrift war ziemlich klein, zierlich, mit schwungvollen Schnörkeln. Nur mit Mühe konnte er manche Wörter entziffern - zu sehr hatte sich die Schreibschrift gewandelt, seit der Todgeweihte seine Eintragungen machte. „Graydon!" tönte es aus den Ohrhörern. „Hören Sie uns? Melden Sie sich!" „Tut mir leid!" brummte der junge Mann undeutlich. „Ich bin eingenickt! „Nehmen Sie sich etwas zusammen!" fauchte sein Gesprächs partner. „In zehn Minuten ist Ihr Einsatz beendet. Achten Sie auf die Anzeigen!" „Wird gemacht!" erklärte Graydon brummig; er griff nach dem Schaltknüppel und korrigierte die Lage des Lichtpunktes auf dem Zentralbildschirm. Auf seinen Knien lag das 59
zugeklappte Buch. Er mußte es verstecken. Ein hastiger, dennoch sorgfältiger Blick auf die Armaturen zeigte ihm, daß er kaum Zeit finden würde, seinen Fund vor der Besatzung der Station zu verbergen. . Sekundenlang ließ er den Steuerknüppel los, griff an die Verschlüsse seines Anzuges und zerrte sie auf. „Passen Sie auf, Graydon!" dröhnte es in seinen Ohren. „Sie brechen aus!" „Schon gut!" brüllte er zurück, während er schnell den Fehler korrigierte. „Und haltet gefälligst den vorlauten Mund. Das hier ist mein Job!" Er unterbrach die Verbindung. Die nächsten Minuten waren eine Strapaze besonderer Art. Während er gleichzeitig die Steuerung bediente und mit beiden Händen seinen Anzug öffnete, kam er immer wieder vom Kurs ab. Dann aber hatte er es geschafft - das Buch steckte wohlverwahrt in der Innentasche seines Jacketts, der Anzug war vorschriftsmäßig geschlossen und die Lichtzeichen waren exakt zur Deckung gebracht. Als das ovale Lämpchen vor ihm ein beruhigendes Grün ausstrahlte, atmete er erleichtert auf. Wenig später hörte er, wie sich jemand an der Kapsel zu schaffen machte. Besorgt sah er sich in seiner Kabine um. Von seiner Aktivität waren keine Spuren zu sehen. „Sie sind ein ziemlicher Flegel, junger Mann!" sagte eine Stimme in dem Lichtkreis, der beim Öffnen der Kapsel erschien. „Aber Sie haben Ihren Auftrag erstklassig erledigt!" „Wollen Sie mehr?" fragte Graydon gereizt zurück; er versuchte, sein Aufregung zu verbergen. Wenn jemand das Buch fand... Mit gespielter Gelassenheit stieg er aus der Kapsel; oben nahm ihn der Leiter der Station in Empfang - ein beleibter, stark schwitzender Mann, der auf Graydon zuging und ihm die 60
Hand schüttelte. „Gut gemacht!" sagte er leise. „Und noch etwas..." Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. „Lassen Sie sich durch das arrogante Getue der Leute hier nicht beeinflussen! Ich habe selbst jahrelang in so einer Kapsel gehockt - ich weiß, wie strapaziös dieser Job ist. Und geht etwas schief, müssen immer Sie draufzahlen. Sie werden müde sein und hungrig", fuhr er lauter fort. „In den nächsten vierzehn Tagen gibt es hier nichts zu tun für Sie. Sie können also beruhigt nach Hause gehen!" Graydon bedankte sich. In einem Vorraum entledigte er sich des unbequemen Anzuges, dann wusch und rasierte er sich. Zehn Minuten später saß er bereits in der Röhrenbahn und genoß die bewundernden Blicke kleiner Jungen, die neidvoll seine Uniform betrachteten. Wenig später hatte er auch sein Zimmer erreicht, das in der gleichen Siedlung lag, in der auch seine Schwester Glynn wohnte. Vorsichtshalber schloß er die Zimmertür hinter sich ab, bevor er sich umzog und in einem Sessel Platz nahm. Er zündete sich eine Zigarette an und las aufmerksam weiter. * Unwiderruflich. Ich muß gestehen, daß es mich mit einer gewissen Niedertracht freut, daß auch derjenige, der eines fernen Tages dieses Buch finden wird, nichts mehr daran ändern wird. Oder doch? Es gibt mehr als ein Beispiel dafür, daß ein einzelner den Lauf der Weltgeschichte äußerst stark veränderte. Vielleicht aber die Chance ist praktisch gleich Null - ist dies auch hier möglich. Es sei versucht. Dies ist eine der Zubringerraketen, die den Verkehr zwischen 61
der wüsten und den Raumstationen versieht. Wird sie auf einer der Stationen vollgetankt, ist sie auch für interplanetarische Flüge geeignet - zum Beispiel zur Saturn-Station. Es ist die letzte Rakete, die von der Erde abhob. Ich kann mich noch genau der Bilder erinnern, die die letzten Starts begleiteten. Tausende von Menschen belagerten das Startfeld, vor Gier nach einem der letzten, lebensrettenden Plätze fast wahnsinnig. Zu Hunderten endeten sie in den elektrisch geladenen Zäunen, die das Flugfeld hermetisch abriegelten. Hinter dem Todesstreifen: die Wachsoldaten, denen man vorgegaukelt hatte, man würde sie noch abholen, retten. Wie Hagelkörner in ein Getreidefeld "hämmerten die Blitze ihrer fabrikneuen Laser in die Menge, rissen tiefe Gassen, die sich augenblicklich wieder füllten. Mit Menschen, denen die nackte Verzweiflung ins Gesicht geschrieben war. Sie schrien nicht. Sie schwiegen auch dann noch, als die Rakete donnernd abhob. Einen rotleuchtenden Feuerschweif hinter sich her ziehend. Schimmernd im Lichte eines der sehr seltenen sonnigen Tage, von der metallischen Schönheit, die typisch ist für die technischen Wunderwerke menschlichen Geistes. Hinter sich lassend den menschlichen Abraum einer zum Fetisch erhobenen technizistischen Amoral. Auch ich schwieg. Ich stand abseits und sah zu, mit der frostigen Verstandeskälte, die stets dann auftritt, wenn das Gefühl unter der Überlastung zusammenbricht und aussetzt, wenn das Hirn sich weigert, die Realität zu akzeptieren - mit offenen Augen und Ohren,, aber psychisch taub und blind. In der nächsten Nacht versteckte mich ein Freund in einem, der beiden Schiffe, die noch in den irdischen Hangars warteten. Er wollte mich retten - wie man sieht, vergeblich. Ich nahm dieses Buch nicht ohne Absicht mit auf meine verzweifelte Flucht. Es ist ein Handbuch der interplaneta 62
rischen Navigation, aus dem der Finder zumindest die gröbsten Angaben über die Erde und das Sonnensystem entnehmen kann. Er wird, so hoffe ich, begreifen, was es mit Begriffen wie Erde, Mond, Raum und Planet auf sich hat. Außerdem, und das ist für mich das Wichtigste, enthält das Buch eine vollständige Rißzeichnung einer der Stahlkugeln, in denen die Menschheit ihrem Ende entgegendämmern wird. Ich kann selbstverständlich nicht abschätzen, wie lange es dauern wird, bis man meinen Leichnam und das Buch finden wird. Vielleicht nie. Aber ich hoffe, es wird eines fernen Tages gefunden. Erst wenn man keine Hoffnung mehr hat, weiß man, wieviel sie für den Menschen bedeutet - alles. * Drei Tage und Nächte blieb Graydon in seinem Zimmer; er verließ es nur, um zu essen. Er studierte das Handbuch, bis er es fast auswendig hersagen konnte. Und er begriff, was sich um ihn herum abspielte. Anschließend schlief er achtzehn Stunden lang wie betäubt. Als er wieder aufstand, wußte er genau, was zu tun war. Er wusch und rasierte sich, frühstückte in Ruhe, dann ging er ans Telefon und wählte die Nummer, unter der seine Schwester zu erreichen war. Er wartete, bis jemand den Hörer abhob und sagte: „Wäre es Ihnen möglich, Teuerste, meine liebreizende Schwester Glynn an ihrem entzückenden Blondhaar zum Apparat zu schleifen?" „Was?" fragte eine erschrockene Mädchenstimme. „Wissen Sie das noch nicht?" „Selbstredend!" gab Graydon zurück. „Vor allem, da ich nicht die leiseste Ahnung habe, wovon Sie überhaupt reden!" 63
„Ihre Schwester und deren Verlobter sind vor etwa zwei Stunden von den Prytanen festgenommen worden!" „Grund!" fragte Graydon lakonisch; er wurde wider Willen etwas bleich. Während das unbekannte Mädchen mit weinerlicher Stimme eine umständliche Schilderung der jüngsten Ereignisse abgab, überlegte Graydon bereits die Methode seines Vorgehens. Anschließend ging er in sein Zimmer und zog die Pilotenuniform an, die ihn als Privilegierten erster Klasse auswies. Niemand würde ihm lästige Fragen stellen, wenn er sich in Sperrbezirken bewegte. Wenige Minuten später saß er in der Röhrenbahn, die er an einer selten benutzten Bedarfshaltestelle wieder verließ. Etwa eine halbe Stunde lang schritt er durch menschenleere Gänge, bis er vor einer angerosteten Metalltür stand. „Viel Glück!" wünschte er sich selbst, dann bewegte er den Drehriegel. Ächzend bewegte sich das Metall bis zum Anschlag, dann wuchtete Graydon keuchend das Schott auf. Es schwang nach innen, in einen völlig finsteren Raum. Der junge Mann tastete die Wand neben dem Eingang ab. Klick. Ein Schalter bewegte sich, und wenige Sekunden später war der Raum in gleißendes Licht gebadet. Als erstes versperrte Graydon den Eingang für andere Neugierige, dann sah er sich kurz um und nickte zufrieden. „Hier bin ich richtig!" murmelte er. Zielsicher ging er an die Arbeit. Als er zwei Stunden später das Schott wieder hinter sich schloß, grinste er vergnügt. Sein Plan lief bislang mit der Perfektion eines Uhrwerks ab. Fröhlich pfeifend ging er den Weg, den er gekommen war, wieder zurück bis zur Haltestelle der Röhrenbahn, die wenig später heranschoß und hart bremste, als der Fahrer den 64
einzelnen Fahrgast in der Privilegiertenuniform wahrnahm. Nach einer Fahrt von acht Minuten stieg er wieder aus, ohne sich um die teils ängstlichen, teils grimmigen Blicke zu kümmern, mit der ihn die anderen Fahrgäste bedachten. Zielsicher ging er auf das Portal zu, über dem in mächtigen Schriftzeichen das Wort geschrieben stand: Prytaneum. Mißtrauisch kniff Graydon die Augen zusammen, als er im Rechteck des Eingangs kein Licht wahrnahm. Sicherheits halber zog er seine Waffe und entsicherte sie, dann ging er langsam auf das Portal zu. Als er auf der Schwelle stand, wurde ihm schlagartig klar, warum dieser Raum verdunkelt war. Er hörte das erregte Keuchen zweier Menschen, einen dumpfen Fall, dann ein Röcheln, das rasch erstarb. Mit angespannter Aufmerksamkeit trat er einen Schritt vor. Ein Schemen huschte auf ihn zu. Blitzschnell trat Graydon zur Seite und ließ den Angreifer gegen die Wand prallen. Er wollte grinsen über das gequälte Stöhnen des lädierten Gegners, als ihm ein wuchtiger Hieb in die Magengrube den Atem nahm. Instinktiv ließ er sich vornüber fallen, auf den neuen Gegner, der unter der Wucht des Aufpralls schwankte und ebenfalls zu Boden ging. Die wenigen Sekundenbruchteile genügten für den hervorragend trainierten Piloten, um ihm die Handlungsfreiheit zurückzugeben. Er setzte eine Beinschere an, die sein Widersacher mit verblüffender Schnelligkeit aufbrach, um sei nerseits zum Angriff vorzugehen. Eine Hahdkante krachte auf Graydons Kinngrube. Obwohl er fast glaubte, seine Kinnlade sei völlig zersplittert, zog er das Knie an und trat durch. Die Wucht seines Angriffs ließ ihn ein Stück über den glatten Metallboden rutschen; sein Kopf geriet in das Feld des durch das offene Portal ins Innere fallenden Lichtes. 65
„Graydon!" Der junge Mann erkannte die Stimme seiner Schwester, war aber geistesgegenwärtig genug, sich sofort weiterzurollen. Der Fausthieb, der ihn mit Sicherheit außer Gefecht gesetzt hätte, traf nur seinen linken Arm. „Hör auf, meinen Bruder zu verprügeln!" schrie Glynn erregt. „Leaish!" „Immer diese Rücksichtnahme gegenüber der Verwandt schaft!" knurrte ihr Freund, während er sich leise ächzend aufrichtete. Er reichte die Hand hinab und half Graydon auf die Beine. Im Hintergrund stand Cacama, der unterdrückt fluchend seinen Kopf betastete, auf dem eine Beule immer stärker anschwoll. „Los!" bestimmte Glynn. „Weg von hier!" Graydon zerrte Leaish aus dem Dunkel auf den Vorplatz des Prytaneums; dort schien man von der Auseinandersetzung im Innern nichts bemerkt zu haben. „In spätestens fünf Minuten ist hier der Teufel los!" sagte Cacama, der von Glynn vorwärtsgestoßen wurde. „Er hat recht!" stimmte Leaish zu. „Aber wohin jetzt?" „Das laßt meine Sorge sein!" erklärte Graydon bestimmt. „Tut so, als würdet ihr von Leaish irgendwohin abgeführt. Ich bin nur zufällig auf euch gestoßen und begleite euch! Verstanden!" „Nein!" sagte Cacama und ging langsam auf die Haltestelle zu. * Die Gruppe stieg in die Bahn ein und nahm Platz - Cacama und Glynn auf einer Sitzbank, hinter ihnen saßen Leaish und Graydon, die Läufe ihrer Waffen auf die Köpfe ihrer Vordermänner gerichtet. In der Zeit zwischen drei Aufenthalten bekamen die beiden Gefangenen mehr als hundert Zigaretten und zwei Dutzend 66
Kaugummi- und Schokoladenstreifen zugesteckt - die Sympathien der Fahrgäste lagen eindeutig bei den Gefangenen. „Ich wünsche Ihnen und Ihrer Frau alles Glück!" wünschte eine junge Frau beim Aussteigen flüsternd. Leaish hatte die Worte nicht gehört, registrierte aber erstaunt, wie Cacama erbleichte und Glynns Gesichtsmuskeln sich verkrampften. Als die Bahn an der nächsten Station hielt, hatte Leaish alle Mühe, seine Beherrschung nicht zu verlieren. Eine schwere Aktentasche unter den Arm geklemmt, stieg ein Mädchen ein. Gryt. Während seine Gedanken durcheinanderwirbelten, stand er automatenhaft auf und ging auf das Mädchen zu. Sie erkannte ihn und lächelte freundlich.. „Sie sind festgenommen!" erklärte Leaish rauh; die Mündung seines Lasers zeigte auf ihre Stirn. „Beim geringsten Widerstand schieße ich!" Gryt öffnete den Mund, um zu protestieren, als sie aber den mörderischen Blick in den Augen des jungen Mannes sah, erbleichte sie. Mit einem maskenhaft verzogenen Gesicht führte Leaish das zitternde Mädchen zur Sitzbank, auf der Glynn und Cacama zusammenrückten, um Platz zu machen. Cacama ergriff ihre Hand. Mit der Linken verdeckte er die Bewegungen seines rechten Zeigefingers auf dem Handteller des Mädchens. R-u-h-e b-e-w-a-h-r-e-n-! malte er auf die Innenfläche ihrer Hand. Bleich und verängstigt saß das Mädchen auf der Bank, bis Graydon aufstand und den Haltknopf betätigte, der dem Fahrer signalisierte, daß ein Fahrgast an einer nicht planmäßigen Station auszusteigen wünschte. „Vorwärts!" kommandierte Leaish rauh. Er wußte nicht, wo er sich augenblicklich befand, und für Sekunden keimte Mißtrauen in ihm auf. Es war nicht selten, daß engste Familienangehörige sich gegenseitig an die 67
Prytanen verrieten und auslieferten. Sollte Graydon ... ? Als die Röhrenbahn verschwunden war, verzog Graydon das Gesicht zu einem triumphierenden Grinsen. „Geschafft!" sagte er zufrieden. „Los, hier entlang!" „Was habt ihr mit mir vor?" fragte Gryt zaghaft. „Wo sind wir überhaupt?" „Das wüßte ich auch gern!" meinte Leaish interessiert. „Aber diese Frage ist jetzt zweitrangig. Was fangen wir mit Gryt an?" „Erschießen!" schlug Cacama freundlich lächelnd vor und hatte die Genugtuung, das Mädchen noch stärker erbleichen zu sehen. Sie stand kurz vor einer Ohnmacht. „Gryt!" sagte Graydon ernst. „Es ist ein verfluchter Zufall, daß du uns über den Weg gelaufen bist, aber das läßt sich jetzt nicht mehr ändern. Wir können dich hier zurücklassen." Er sah kurz auf seine Uhr. „Aber dann werden dich die Prytanen hier finden. Sie sind jetzt bereits garantiert alarmiert. Was sie mit dir anstellen werden, kannst du dir ungefähr ausmalen, oder?" Das Mädchen nickte hastig. „Du kannst auch mit uns kommen. Ich weiß nicht, was uns genau erwartet. Im schlimmsten Falle ist es lebensgefährlich, dafür aber mit Sicherheit abwechslungsreicher! Entscheide dich rasch, wir haben nicht mehr viel Zeit!" Das Mädchen schluckte, warf einen raschen Blick auf Cacama, der verlegen grinste, und nickte. „Ich begleite euch!" flüsterte sie heiser. „Dann los!" befahl Graydon rasch. Sie rannten den Korridor entlang. Hundert Meter vor dem Stahlschott schraken sie zusammen. Hinter ihnen ertönte ein schrilles Kreischen. „Die Prytanen!" schrie Leaish. „Weiter!" Cacama riß Graydon den Laser aus der Hand und rannte ein 68
Stück den Gang zurück. „Beeilt euch!" brüllte er, während er den Laser entsicherte. „Komm zurück!" rief Glynn. „Das ist Wahnsinn!" Cacama fuhr herum, richtete die Waffe auf eine Stelle des Bodens und schoß. Einen Meter vor den vier Flüchtenden zuckte der Strahl auf den Boden und brachte das Metall zum Schmelzen. Erhitzte Luft stieg auf und trieb die Menschen zurück, weg von der Stelle, die Cacama mit rasendem Feuer belegte. Metallspritzer sprühten durch die Luft und brannte Löcher in die Kleidung. „Es hat keinen Sinn!" murmelte Leaish bleich. „Wir können ihn nicht zurückhalten!" Sie hetzten weiter, der Rettung zu, die nur Graydon kannte. „Ergeben Sie sich!" schrie der Lautsprecher durch den Gang. „Wir garantieren Ihnen, daß Sie gerecht behandelt werden!" „Gerechtigkeit ist Ansichtssache!" knurrte Cacama mit wilder Entschlossenheit. Durch die flimmernde Luft über dem schmelzenden Metall sah er, wie seine Freunde ihre Flucht fortsetzten; mit einem grimmigen Lächeln drehte er sich wieder herum. „Nun zu euch!" brummte er. Er zielte auf die Decke des Ganges und zog den Abzugshebel bis zum Anschlag durch. Der rote Feuerstrahl stach auf das Metall, ließ es förmlich aufkochen. Mit unnatürlicher Ruhe zog Cacama den Strahl von rechts nach links, quer über den Gang, bis er sicher sein konnte, daß der Stahl weich genug war. Dann zog er die oberen Ecken des Ganges mit dem Laser nach; Schmelzbäche krochen über die Wände, und dichter, ätzender Qualm wallte auf. „Ergeben Sie sich!" forderte die Stimme aus dem Megaphon noch einmal auf. „Wir garantieren Ihnen Ihr Leben!" In krassem Gegensatz zu den edlen Worten des Sprechers standen die Schüsse, die durch den Gang zuckten. 69
Noch waren die Schützen zu weit entfernt, um den jungen Mann direkt beschießen zu können - sie beschränkten sich darauf, den leicht gekrümmten Korridor an einer Wand unter Feuer zu nehmen und den Glutstreifen allmählich vorwärtszuschieben. Die trockene Hitze nahm Cacama allmählich den Atem. Spritzer trafen ihn und hinterließen große Brandblasen, die rasch anschwollen. Dann hatte Cacama sein Ziel erreicht. Begleitet von aufstäubenden Funkenkaskaden krachte die Decke herunter; eine große, quer über den Gang reichende Metallplatte mit tropfenden Rändern neigte sich herunter. Cacama hielt den Atem an und trat einige Schritte zurück, dann seufzte er erleichtert auf. An der ihm zugewandten Seite der Platte war die Schmelznaht nicht stark genug; die Platte hing schräg im Gang und riegelte ihn ab. Das würde die Prytanen und ihre Schergen für einige Zeit beschäftigen. „Hoffentlich sind sie noch nicht weg!" wünschte Cacama inbrünstig, während er in die Richtung lief, in der seine Freunde verschwunden waren. Den feurigen Graben, den er mit seinem Laser gezogen hatte, überwand er mit einem gewagten Hechtsprung. Als er jenseits des Glutstreifens landete und abrollte, schrie er schmerzerfüllt auf; die Brandblasen waren aufgesprungen, und das nackte Fleisch trat zutage. Hastig richtete sich der junge Mann auf und rannte weiter; das Schott stand offen. Cacama stürmte in den Raum. Er unterdrückte den Impuls, weiterzulaufen, und verriegelte zunächst das Tor, bevor er tiefer in das System von Zimmern und Gängen eindrang. Aus einer Richtung erklang ein rasch lauter werdendes Heulen. In diese Richtung lief er, so schnell er konnte. „Wartet!" schrie er mit höchster Stimmkraft, als er vor sieh 70
eine Tür sah, die sich vor seinen Augen langsam schloß. „Wartet!" Die Tür schwang zurück; Leaish stand in der Öffnung, seinen Laser mißtrauisch auf die näher kommende Gestalt gerichtet. „Cacama!" schrie er freudig und ließ den Freund vorbei; klickend fiel hinter ihnen die Tür ins Schloß. „Es kann losgehen!" rief Glynn. „Okay!" antwortete Graydon. „Legt auch auf die Sitze, und schnallt euch fest!" Rasch, aber behutsam trugen Glynn und Leaish den wimmernden Cacama zu einer der nach hinten gekippten Sitze. „Cacama ist ziemlich schwer verletzt!" meldete Gryt nach oben. „Macht nichts!" kommandierte Graydon. „Wir haben keine Zeit, uns um ihn zu kümmern! Jedenfalls nicht jetzt!" Das Heulen schwoll an und übertönte jedes Geräusch. Der Raum zitterte und dröhnte vom Arbeitsgeräusch unbekannter Maschinen. Zehn Minuten lang hielt das akustische Inferno an, dann breitete sich schlagartig Stille aus. Ein Knacken war zu hören, dann Schritte. Graydon kam eine Leiter hinabgestiegen und strahlte seine Freunde an. „Wir haben es geschafft!" sagte er erschöpft aber glücklich. „Einstweilen!" * „Jetzt wißt ihr alles!" Leicht heiser beendete Graydon seinen mehrstündigen Vortrag. „Darf ich rekapitulieren", sagte Leaish nachdenklich. „Wir befinden uns jetzt in einem Raumschiff, das Kurs nimmt auf die Erde - .gleichgültig, was das ist. Richtig?" „Genau!" bestätigte Graydon. „Oder nicht ganz. Wir sind zur Zeit in einem Parkorbit - allerdings einige zehntausend Kilometer von den Prytanen entfernt! 71
In den Bauplänen entdeckte ich, daß zu unserer Kugel auch ein Versorgungsschiff gehört, das aber in der Konstruktion sehr stark von allen Typen abwich, die ich bisher kennengelernt hatte. In früheren Zeiten hat es vermutlich zur Beobachtung der Erde gedient!" „Aber", wandte Cacama ein, der in zahlreichen Bandagen steckte und von Gryt gefüttert wurde, „wenn, wie du sagtest, die Erde völlig verwüstet ist, wo willst du dann hin?" „Zur Erde!" antwortete Graydon gleichmütig. „Ich nehme an, daß sich dort inzwischen einiges geändert hat." „Aus welchen Quellen schöpfst du diese Kenntnis?" forschte Glynn skeptisch. „Ganz einfach!" dozierte Graydon. „Ich nahm mir, als ich von eurer Verhaftung erfuhr, die Freiheit, in Cacamas Zimmer einzudringen. Dort habe ich das Buch mit Hilfe von Cacamas archäologischen Apparaturen einer Altersbestimmung unterzogen. Das Material ist mehr als fünftausend Jahre alt!" „Ich fürchte, ihr freut euch zu früh!" bemerkte Gryt ernst. „Die Erde wird, fürchte ich, noch ärger und unwirtlicher aussehen als vor fünftausend Jahren!" „Das müßte sich eigentlich feststellen lassen!" knurrte Cacama. „Hat das Schiff eigentlich keine Fenster?" Graydon schüttelte den Kopf und antwortete: „Eigentlich ja, aber die Bullaugen wurden später von außen verschalt. Vermutlich wollte man die Piloten ihrer Erinnerungen an die Erde berauben!" „Kann man die Blenden nicht entfernen?" erkundigte sich Gryt. „Ich kann es versuchen!" meinte Graydon und erhob sich. Er fand einen intakten Raumanzug Und zwängte sich hinein. Nach einer sorgfältigen Prüfung aller Versorgungssysteme des Anzuges stapfte er eine Leiter hinab. Sie führte zu einer Mannschleuse, deren Innenschott er aufzog. Er nahm sich viel Zeit, die Tür im Innern der Schleuse zu 72
verriegeln, dann betätigte er den Schalter, der das Pumpensystem in Gang setzte. Begleitet von einem leisen Zischen wurde die Atemluft aus der engen Schleuse gesaugt und in Hochdruckbehälter gepreßt. Graydon sah auf sein Kombiinstrument, das in das Handgelenk des Anzuges fest montiert war - der Luftdruck nahm beständig ab. Als die Konzentration der Luftmoleküle die Grenze von einem zehntausendstel Torr unterschritt, setzten die Pumpen aus, und ein grünes Licht flammte inmitten des äußeren Schottes auf. Gelassen entriegelte Graydon die Tür und zog sie nach innen auf. Minutenlang stand er schweigend in der entstandenen Öffnung und blickte auf das Bild, das sich seinen Augen darbot. Eine undurchdringliche Schwärze, durchbrochen von gleißenden Lichtpunkten; links unter ihm eine große Scheibe, weiß, von blauen und grünen Flecken durchbrochen. Graydon schauderte. Der Blick in die begrifflich nicht faßbare Unendlichkeit nahm ihm fast den Atem. Er überwand seine panische Angst und verließ die Schleuse; aus dem Handbuch hatte er erfahren, wie er sich außerhalb eines Schiffes zu bewegen hatte. Er hakte die Rettungsleine ein und setzte die Magnetschuhe auf die Außenwand. Neues erschreckte ihn. Der grünweiße Halbkreis in der Ferne. Und dazwischen, mit bloßem Auge kaum zu entdecken, die filigrane Struktur des stählernen Netzes, das die Erde umschloß. Er ging einige Schritte weiter auf der Rundung des Schiffskörpers entlang, auf die Stelle zu, an der nach seinen Überlegungen der Deckel über dem Bullauge des Passagierraumes lag. „Kannst du etwas sehen, Graydon?" fragte Leaish übr die Funkverbindung. 73
Unwillkürlich nickte Graydon und antwortete gepreßt: „Ja, aber ich kann es nicht beschreiben. Wir haben verlernt, derartige Dinge in Worte zu fassen. Aber es ist schön - in gewisser Weise!" „Wir können deine Schritte hören!" meldete Leaish aufgeregt. „Du bist nur noch wenige Meter von dem Fenster entfernt! Mehr nach links!" „Verstanden!" gab Graydon zurück und bewegte sich vorwärts. Nach seinen Überlegungen mußte die Verschalung jenseits seines Gesichtsfeldes liegen, auf der anderen Seite des Schiffes, dessen Gestalt er deutlich wahrnahm. Eine schlanke Röhre, die sich allmählich verdickte und an der Spitze sich rasch verjüngte. Von der nadelspitzen Bugpartie bis zum Ende des Rumpfes reichte die deltaförmige Tragfläche, an den Seiten senkrecht hochgeklappt wie bei einem Papierflugzeug. Zwei Schritte. Graydon schrie auf und hielt die Hände vor die Sichtblende seines Anzuges. Eine fast schmerzhafte Helligkeit stach auf ihn herab. „Was ist?" fragte Leaish besorgt. Langsam nahm Graydon die Hände herunter. „Eine riesige Scheibe aus Feuer!" berichtete Graydon stockend. „Unerträglich hell!" Er sah auf das Kombiinstrument und erschrak. „Die Außentemperatur des Anzuges steigt beängstigend!" meldete er hastig. „Leaish, du sitzt im Cockpit?" „Richtig!" „Strecke die Füße aus, bis sie die Pedale berühren!" ordnete Graydon an. „Dann suchst du den künstlichen Horizont!" „Gefunden!" „Jetzt drückst du den großen Knopf mitten auf dem Schaltknüppel herunter und trittst das rechte Pedal leicht 74
herunter. Warte auf mein Kommando!" „Verstanden!" meldete Leaish. „Was dann?" „Jetzt!" befahl Graydon. Er sah, wie aus kleinen Düsen lange, rote Flammenspeere schössen; ziemlich rasch drehte sich das Schiff um seine Längsachse. „Jetzt mit dem linken Pedal gegensteuern, bis der künstliche Horizont wieder stimmt!" ordnete Graydon an. Leaish erwies sich als ziemlich geschickt; in dreißig Sekunden hatte er das Schiff in seiner neuen Lage stabilisiert. Das noch verdeckte Fenster zeigte auf die Erde. Graydon machte einige Schritte, dann hatte er das Bullauge erreicht; mit einem Schraubenschlüssel löste er die Verbindungen zwischen Außenhülle und dem Beschlag. Da das künstliche Schwerkraftfeld auch die Hülle beeinflußte, gestaltete sich diese Arbeit ziemlich einfach, sobald er erst einmal das Sollbruchventil geöffnet, das einen hauchdünnen Luftfilm zwischen Schraube und der Verschlußplatte schuf. Ohne dieses Luftpolster hätten die Metalle durch die natürlichen Adhäsionskräfte geschweißt aufeinandergesessen. Nach wenigen Minuten hatte er sämtliche Schrauben herausgedreht; er holte aus und trat mit der metallbeschlagenen Kante des Stiefels gegen den Rand der Verschlußplatte; sie rutschte einige Meter weit und blieb dann liegen. „Phantastisch!" erklang Glynns Stimme aus dem Helmlautsprecher. ,. Meinst du die Aussicht oder meine Arbeit?" erkundigte sich Graydon, obwohl er sich die Antwort ausrechnen konnte. „Selbstverständlich deinen Einsatz!" kommentierte Cacama bissig. „Niemand sonst hätte es geschafft, ein Fenster zu öffnen!" Graydon grinste leicht und ging mit schleppenden Schritten den Weg zurück bis zur Schleuse. Die Schleuse war geschlossen. 75
Graydon fand fast augenblicklich eine Erklärung: bei der Drehung des Schiffes war das Tor zugeschlagen und eingerastet. Auf einem Schiff ohne künstliche Schwerkraft wäre dies nicht passiert, dachte er grimmig. „Könnte mir bitte jemand öffnen, ja?" fragte er höflich an. „Wollen wir ihn hereinlassen?" wollte Cacama heiter wissen. „Herein mit ihm!" schrien die anderen im Chor; Graydon lachte leise. Wenige Minuten später stand Graydon wieder bei den anderen und zündete sich bedächtig eine Zigarette an. Er grinste hämisch, als er Cacama sah, der vergeblich versuchte, mit seinen dick bandagierten Händen ein Pflaster zu entfernen, das ihm irgendjemand über den Mund geklebt hatte. Wahrscheinlich hatte er Gryt wieder einmal zu sehr geärgert. „Die Erde ist also noch da, wo sie war!" stellte Leaish geistreich fest. „Es fragt sich nur, ob wir dort unten überhaupt leben können!" „Wasser ist ausreichend vorhanden, wenn auch meist als Eis!" konstatierte Glynn, die sich nicht von dem Fenster losreißen konnte. „Luft ebenfalls, und dort wo es grün schimmert, wird vermutlich pflanzliches Leben existieren. Wahrscheinlich gibt es auch Tiere!" „Gut möglich!" gab Graydon zu. „Jedenfalls können wir dort leben!" „Und wenn es auch noch Menschen gibt?" fragte Cacama; Gryt hatte sich wieder erbarmt und seine Meinungsfreiheit wiederhergestellt. „Wilde, zottelige Kerle mit fiesen Manieren?" „Unerträglicher als du werden sie keinesfalls sein!" fauchte Gryt zärtlich. „Aber auch nicht so schön!" konterte Cacama ungerührt; Sekunden später war er wieder verpflastert. „Wo sollen wir landen?" wiederholte Graydon eine Frage, die in den letzten Tagen selbst durch stundenlange Diskussionen 76
nicht hatte entschieden werden können. Das Schiff kreiste immer noch über der Erde, in einem stabilen Orbit von achtzig Kilometern Höhe über der Erdoberfläche. In den vergangenen vier Tagen hatten sie fast jeden Winkel des Planeten überflogen und beobachtet. „Wir müssen tiefer gehen!" meinte Leaish mit Nachdruck. „Aus dieser Höhe werden wir nie feststellen können, wo es auf der Erde noch menschliches Leben gibt - wenn überhaupt!" „Wie oft muß ich es noch erklären!" seufzte Graydon leise auf. „Im Orbit verbrauchen wir keinen Treibstoff. Gehen wir aber tiefer, müssen wir den Luftwiederstand überwinden! Und dieses Boot ist für lange Erkundungsflüge nicht gedacht - die Treibstoffreserven sind begrenzt!" „Wissen wir!" unterbrach ihn Cacama. „Und da unsere Sauerstoffvorräte auch nicht ewig ausreichen, werden wir uns ziemlich bald entscheiden müssen!" „Ich bleibe bei meinem Vorschlag. Landen wir auf dem drittgrößten Kontinent!" Graydon sah sich fragend um; Glynn und Leaish zuckten ratlos die Schultern. Gryt schloß sich mit einem Nicken Cacamas Vorschlag an. „Meinethalben!" murmelte Graydon und setzte sich vor die Steuerung. Ein kurzes Feuern aus den Düsen an den Tragflächen bewirkte, daß sich das Schiff senkrecht zu seiner bisherigen Umlaufbahn bewegte; der Kreis, den das Schiff um die Erde beschrieb, verschob sich entlang den Längengraden. Graydon wartete, bis die Flugbahn den vorbestimmten Landeplatz erreicht hatte, dann stoppte er die Bewegung, indem er mit Hilfe der Steuerdüsen einen Schub in Gegenrichtung erzeugte, der den Eigenimpuls des Schiffes neutralisierte. „Könntest du uns vielleicht erklären", bat Glynn ihren Bruder, 77
„welche Manöver du jetzt ausführst? Vielleicht sind wir einmal darauf angewiesen, daß nicht nur du das Schiff lenken kannst!" Graydon erläuterte kurz, was er in den letzten Minuten getan hatte. „Unsere Flugbahn", dozierte er, „verläuft jetzt so, daß wir alle neunzig Minuten der Länge nach über das Gebiet fliegen, das Cacama als Landeplatz vorgeschlagen hat!" „Und wie geht es jetzt weiter?" wollte Leaish wissen. „Ich werde mit Hilfe des Bordkomputers berechnen, wann ich die Hauptdüse zünden muß, damit wir genau über dem Landegebiet zum Stillstand kommen. Anders gesagt, ich werde unseren Bremsweg ermitteln!" „Intelligent!" kommentierte Leaish. „Wenn wir zum Stillstand kommen, sausen wir wie ein Stein in die Tiefe und schaffen einen ziemlich großen Krater!" „Irrtum!" belehrte ihn Graydon. „Erstens würden wir nicht erst beim Stillstand fallen, sondern sobald unsere Geschwindigkeit sich auch nur um eine Winzigkeit ändert. Zweitens würden wir keinen Krater bohren, sondern vorher durch die Reibungshitze beim Eintritt in die Atmosphäre verglühen. Und drittens werden wir nicht fallen!" „Wieso das?" erkundigte sich Gryt. „Im gleichen Maße, in dem unsere Geschwindigkeit abnimmt", erklärte Graydon geduldig, „wird ein Automat ein Antigravitationsfeld aufbauen, das die Wirkung der Erdanziehungskräfte kompensiert. Sobald wir stillstehen - von der Erde aus betrachtet - werde ich dieses Feld geringfügig abbauen, so daß wir sanft wie ein Wattebausch abwärts sinken werden! Verstanden?" Leaish nickte, während Graydon hinüberging zum Bordcomputer und die Aufgabenstellung programmierte. Auf der Projektion der Erdoberfläche suchte er den Landeplatz aus und bestimmte ihn, indem er einen Magnetstift auf den Mittelpunkt des Zielgebietes setzte. Das Rechengehirn verstand 78
die Anweisung und spie wenig später eine schmale Plastikkarte aus. Bevor Graydon die Hand ausstrecken konnte, hatte Leaish bereits die Karte aus dem Ausgabekorb genommen. Er musterte die rote Kunststofffläche neugierig und schüttelte den Kopf. „Ein paar rechteckige Löcher!" meinte er ratlos. „Nicht mehr. Kannst du diese Informationen entschlüsseln, Graydon?" „Ich nicht", meinte der gelassen. „Aber der Autopilot wird es können! Gib her!" Er nahm die Karte aus Leaishs Hand und schob sie in einen schmalen Spalt, über dem lediglich das Wort Eingabe stand. Sekundenbruchteile später flammte auf dem Instrumentenbrett vor dem Pilotensitz ein orangefarbenes Licht auf. „Fertig!" murmelte Graydon selbstgefällig. „Ich muß nur noch den Autopiloten aktivieren. Er wird uns dann sicher landen!" Eine Handbewegung reichte aus, um ihn von jeder weiteren Verantwortung für den Fortgang der Expedition zu entbinden. Graydon grinste und zündete sich eine Zigarette an. Sein Vergnügen schwand etwas, als Cacama betont auffällig seine Zigarettenschachtel hervorholte und den anderen anbot. Der junge Mann hatte sich von seinen Verletzungen rasch erholt; nur am linken Oberarm trug er noch einen dicken Plasmaverband. Das Medikament, mit dem der Stoff des Verbandes getränkt war, wirkte schmerzstillend und beschleunigte die Erneuerungsfähigkeiten der Haut. Kleinere Wunden verheilten meist schon nach wenigen Stunden - wie einige kahle Stellen auf Cacamas Kopf deutlich bewiesen, über die sich der junge Mann ständig ärgerte. „Der Automat scheint einwandfrei zu arbeiten!" meldete Gryt. Gryt stand vor dem Bullauge und sah hinunter auf die Erde, die sich immer langsamer zu drehen schien; sie entdeckte 79
ausgedehnte Wasserflächen, die das Licht der Sonne zurückwarfen und sie leicht blendeten, weite Gebiete, die unter einer dicken Eisschicht lagen, und auch Landstriche, die grün waren und Lebensmöglichkeiten versprachen. Und sie sah auch die runden Schatten auf riesigen Wolkenfeldern - Abbild des Schreckens, dem sie vor wenigen Tagen erst entronnen waren. Schaudernd zog sie den Schal enger um die Schultern; ein dunkelrotes Wolltuch, das sie selbst gestrickt hatte und fast immer bei sich trug. „Du tust mir leid, Mädchen!" sagte Cacama plötzlich; die Bewegung war ihm nicht entgangen. „Warum?" fragte Gryt überrascht zurück. „Ich denke an die roten Strümpfe", spöttelte Cacama. „An das rote Kleid, die Weste, an all die schönen Dinge, die du aus der gleichen Wolle gestrickt hast. Nur der Schal ist dir geblieben, und auch der wird nicht ewig halten. Wirst du ohne ihn überhaupt leben können?" „Vermutlich!" konterte das Mädchen spitz. „Immerhin hast du offensichtlich dein Großhirn in der Schublade liegengelassen, und du lebst auch!" Cacama nahm diesen Treffer gelassen hin, während Gryt einen Blick aus dem Fenster warf. „Wir stehen still!" verkündete sie laut. „Prachtvoll!" meinte Graydon und ging hinüber zum Sitz des Piloten; umständlich schnallte er sich fest. Er bemühte sich, das Schiff so zu drehen, daß die Spitze senkrecht auf den Erdboden zeigte. Dann schaltete er das Feld ab, das die Schwerkraft aufhob. „Fallen wir jetzt?" fragte Gryt, die seine Bewegungen aufmerksam beobachtet hatte. „Ich merke nichts davon!" „Die Erde ist ziemlich groß", belehrte sie Graydon sanft, „und das Schiff reichlich klein. Erst wenn wir näherkommen, wirst du bemerken, wie der Erdboden sich rasch nähert!" 80
Leaish entdeckte plötzlich, daß sein Puls wesentlich schneller ging; während er sich mit leicht bebenden Händen eine Zigarette anzündete, musterte er unauffällig seine Gefährten. Sie waren bleich, und ihre Hände beschäftigten sich mit Knöpfen, Schnallen und anderen Dingen, die keinen Sinn ergaben. „Was wird geschehen", fragte Glynn in die beklemmende Stille, „wenn wir keine Menschen auf der Erde finden?" „Wir werden jedenfalls leben können", tröstete sie Leaish. „Nötigenfalls vegetarisch!" Nachdenklich musterte er Cacama, der gleichmütig in seinem Sitz hockte und eine Zigarette rauchte; ihm war der eindeutige Blickwinkel zwischen Gryt und Graydon keineswegs entgangen, und er befürchtete, der junge Mann könnte sich zu irgendeiner Gewalthandlung hinreißen lassen. Der junge Mann fing den Blick auf und deutete ihn richtig; er grinste spöttisch. „Des Weisen Zierde ist die Mäßigung und die Selbstbeherrschung!" flüsterte er so leise, daß nur Leaish ihn verstand. „Dreissig Kilometer Höhe!" verkündete Graydon; er hatte den Wert von der Anzeige des Bordradars abgelesen. „Ich glaube, wir sollten unseren Fall etwas bremsen!" Cacama zog fragend die Brauen hoch. „Die Atmosphäre wird jetzt zunehmend dichter", erklärte der Pilot. „Wenn wir weiter mit dem gleichen Tempo fallen, wird die Reibungshitze zu groß!" Er verschob den Regler, der das Schwerkraftfeld steuerte, auf den Wert fünfzig - die Hälfte der Erdanziehungskraft wurde dadurch neutralisiert. Der Geschwindigkeitsanzeiger verriet ihm, daß die Fallgeschwindigkeit weiterhin erhöhte - die Dichte der Atmosphäre war noch nicht groß genug, das Schiff abzubremsen. Gryt, die noch immer aus dem Fenster blickte, bemerkte 81
interessiert, daß die Mindestgröße abnahm, die ein Objekt haben mußte, um mit bloßem Auge erkannt zu werden. Gebirgszüge, ebenfalls vom Eis bedeckt, tauchten inmitten der vergletscherten Flächen auf; im Blaugrün der Meere wurden kleinere Inseln sichtbar, und sie konnte bereits zwischen dichtem Urwald und der fast baumlosen Savanne unterscheiden. „Graydon!" rief sie plötzlich. „Komm bitte ans Fenster!" Mit dem Zeigefinger deutete sie auf den Ausschnitt der Erdoberfläche, den das Fenster zeigte. „Sieh dorthin!" Neugierig und etwas erschreckt musterte Graydon den engen Sektor, den der Zeigefinger des Mädchens andeutete; dann erhellte ein Lächeln sein Gesicht. „Ich glaube, wir haben es tatsächlich geschafft!" sagte er freudig erregt. „Einzelheiten!" knurrte Cacama, der zu faul war, aufzustehen und selbst nachzusehen. „Gryt hat dort unten etwas Glänzendes gesehen", erzählte Graydon strahlend. „Etwas, das Licht sehr stark reflektiert. Mit anderen Worten - Metall!" „Das heißt...", begann Glynn aufatmend. „ ... daß es dort unten Leben gibt!" freute sich Leaish. „Menschen!" „Der zuverlässigste Gradmesser für den Stand einer Zivilisation ist der Anfall an Abfall!" kommentierte Cacama ungerührt. „Und die Erde war einmal sehr zivilisiert. Außerdem gibt es nichtrostende Stähle, die das Licht prächtig zurückwerfen!" Die Zweifel, die für Sekunden in den anderen aufkeimten, verschwanden ebenso rasch wieder. „Elender Pessimist!" schimpfte Gryt. „Willst du uns die Freude verderben?" „Wer nicht mehr hofft", erklärte der junge Mann philosophisch, „kennt keine Enttäuschungen mehr! Er kann 82
sich also doppelt freuen, geschieht einmal etwas Angenehmes!" Graydon spähte unausgesetzt aus dem Fenster. „Es handelt sich nicht um Schrott, wie Cacama befürchtet, sondern um eine wohlgeordnete Ansammlung von Häusern, sprich: um eine Stadt!" erklärte er. Leaish pfiff leise durch die Zähne. „Eine Stadt?" wiederholte er ungläubig. „Völlig isoliert?" „Stimmt!" bestätigte Gryt. „In der ganzen Ebene ist nur diese eine Stadt zu finden!" Sie konnte bereits Einzelheiten ausmachen - Straßenzüge und eine ringförmige Stadtmauer. „Das kann nicht stimmen!" protestierte Cacama. „Überlegt einmal, welche Kenntnisse der Bau eines Hauses voraussetzt Metallbearbeitung, Zementherstellung, Grundlagenkenntnisse der Physik und Chemie, Tausende von Dingen, wie sie nur eine hochstehende Kultur kennt. Und das alles soll sich auf dieses winzige Fleckchen der Erdoberfläche konzentrieren und sonst nirgendwo vorkommen? Unmöglich!" Graydon hatte inzwischen wieder in seinem Sitz Platz genommen. Er betätigte das Höhenruder und die zugehörigen Stabilisierungsdüsen, um die Maschine in die Horizontale zu bringen, dann ließ er die Haupttriebwerke feuern. Erst als das Schiff in dreitausend Metern Höhe über der Stadt schwebte, drehte er sich zu seinen Freunden herum. „Nun, Gryt", fragte er neugierig, „was kannst du sehen?" „Die Stadt hat zweifellos Einwohner!" berichtete das Mädchen ruhig. „In den Straßen bewegt sich etwas, und auch auf den Gebieten rings um die Stadt sind Menschen. Und ..." Sie stockte und schüttelte ratlos den Kopf. „Rede, Mädchen!" knurrte Leaish unruhig. „Was gibt es, das dich so verblüfft?" „Eine große Fläche", sagte Gryt undeutlich. „Eine sehr große Fläche. Schiffe stehen darauf, die unserem sehr ähnlich sehen!" „Das muß ich sehen!" rief Graydon erregt und sprang von 83
seinem Sitz auf; er drängte das Mädchen vom Bullauge weg und starrte angespannt nach unten. „Tatsächlich!" murmelte er nach einigen Sekunden verblüfft. „Die Stadt hat einen Raumhafen!" „Famos!" knurrte Cacama. „Das kann vieles bedeuten. Einmal, daß sich die Prytanen auch hier festgesetzt haben, was bedeutet, daß wir schnellstens verschwinden müssen. Es kann auch sein, daß sich an dieser Stelle der Rest der ehemaligen Erdbevölkerung gesammelt hat - vor allem die Intelligenz. Da sie vermutlich wissen werden, woher wir kommen, wird man uns schwerlich mit Freudenchören begrüßen." „Ausserirdische!" murmelte Graydon, der den Begriff aus dem Buch kannte, das er gefunden hatte. „Vielleicht!" spann Cacama den Faden weiter. „Wir werden herrliche Testobjekte für sie sein!" Er grinste diabolisch und fuhr fort: „Glynn wird sich auf einem Seziertisch sicher vorzüglich ausnehmen!" Leaish zermaterte sich das Hirn, um eine positive Alternative zu Cacamas Prognosen zu finden. „Er könnte recht haben!" sagte er resignierend. „Wir sollten uns absetzen, glaube ich!" „Nein!" widersprach Cacama plötzlich. „Mir ist etwas eingefallen!" „Oho!" machte Leaish, der allmählich begriff, warum der junge Mann ständig mit Sarkasmen um sich warf es war die einzige Möglichkeit, sich von den Dingen nicht förmlich überrollen zu lassen. „Auch das kommt vor!" grinste Cacama. „Hätten die Wesen in der Stadt irgendwelche feindliche Absichten, wären wir längst abgeschossen. Wir hängen jedenfalls lange genug als Zielscheibe über ihnen!" „Das hätte dir auch etwas früher einfallen können!" zischte Gryt, sichtlich erleichtert. „Der bleiche Teint steht dir so gut!" konterte Cacama. 84
„Deshalb!" „Ich nehme an", mischte sich Graydon ein, „die Mehrheit der Passagiere bevorzugt eine rasche Landung!" Er wartete keine Antwort ab, sondern setzte sich wieder; ein Handgriff genügte, um das Antischwerkraftfeld um ein Zehntel zu verringern. Mit einer Beschleunigung von knapp einem Meter pro Sekundenquadrat sank das Schiff tiefer; computergesteuerte Treibsätze sorgten dafür, daß der unterschiedliche Widerstand der Luft an den Tragflächen und der Spitze ausgeglichen wurde. „Verdammt!" knurrte Graydon, nachdem er das Schiff so gesteuert hatte, daß es genau über dem Raumhafen der Stadt niederging. „Wie landet man diesen Kasten?" Er suchte auf dem Armaturenbrett den Schalter, der die Landestützen ausfahren lassen sollte. Die Anzahl der Knöpfe, Schalter und Hebel war erschreckend groß - falls der Bordkornputer je ausfallen sollte, konnte das Schiff auch von Hand bedient werden, allerdings von zwei Piloten. Er seufzte erleichtert auf, als er endlich den richtigen Schaltknopf gefunden hatte. Erschütterungsfrei setzte das Schiff auf dem Betonplatz auf; erst als er die irdische Schwerkraft wieder voll auf den Schiffskörper einwirken ließ, ging ein leiser Ruck durch den Schiffsleib, und die Hydraulik der Landestützen ächzte vernehmlich. „Geschafft!" verkündete er stolz. „Prachtvoll!" bemerkte Glynn. „Was machen wir jetzt? Bleiben wir im Schiff?" „Seien wir höflich!" schlug Leaish vor. „Steigen wir aus und gehen wir dem Empfangskomitee entgegen!" Während sich die anderen den Gang zur Mannschleuse entlangbewegten, bemerkte Leaish, wie Cacama einen der beiden Laser aufnahm, sekundenlang nachdenklich betrachtete 85
und wieder zurücklegte. „Es hätte wenig Sinn", erklärte der junge Mann, als er Leaishs fragenden Blick bemerkte, „mit zwei Handwaffen gegen die Einwohnerschaft einer Stadt vorzugehen!" „Außerdem wirkt es unfreundlich", ergänzte Leaish, während er den anderen nachfolgte. Sie kletterten eine schmale Leiter hinab und standen dann auf dem gelbweißen Beton, der unter einem wolkenfreien Himmel lag und glänzte. Die Luft war heiß und trocken, und die Augen der fünf Menschen hatten Mühe, sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Etwa einen Kilometer von der Gruppe entfernt ragte ein Turm in die flimmernde Luft; aus dem Schatten eines Gebäudes unmittelbar neben dem Kontrollturm löste sich ein Fahrzeug, das mit hoher Geschwindigkeit heranschoß. „Übrigens, Cacama!" begann Leaish. „Ja?" „Es wäre nett und zudem vorteilhaft, könntest du dein loses Mundwerk für einige Zeit pensionieren!" „Ich weiß", seufzte Cacama. „Es ist das Schicksal aller großen Männer, verkannt zu werden!" „Ein Los", bemerkte Gryt, „das sie mit den Narren teilen!" Cacama schwieg, nickte aber anerkennend. Auf einem Polster aus Antischwerkraft jagte es auf die Gruppe zu, bremste, und kam unmittelbar vor den Ausgestiegenen zum Halten. Vier Männer sprangen hastig aus der offenen Schale, Uniformierte, mit gefährlich blinkenden Waffen. Sie stürmten auf Leaish zu, rissen ihm die Hände auf den Rücken und legten ihm Handschellen an. Leaish war von diesem plötzlichen Überfall so verblüfft, daß er keinen Widerstand leistete. Ein weiterer Uniformträger, offensichtlich ein Offizier, stieg umständlich aus. 86
„Ich hoffe, Sie hatten keine ernsten Schwierigkeiten mit dieser Kreatur!" sagte der Mann liebenswürdig, wobei er Leaish mit einem grimmigen Blick bedachte. Glynn wollte zunächst aufbrausen, besann sich dann und antwortete mit der gleichen Liebenswürdigkeit: „Wir hatten sowenig Schwierigkeiten mit ihm, daß ich Sie bitten muß, ihn wieder zu befreien!" Nach einem raschen Seitenblick auf Leaish setzte sie hinzu: „Er ist nämlich mein Verlobter!" „Pardon!" sagte der Offizier und verbeugte sich entschuldi gend; so entging ihm der seltsame Ausdruck auf Leaishs Gesicht. Eine energische Handbewegung seinerseits genügte, um Leaish wieder in Freiheit zu setzen. „Empfangen Sie alle Gäste so aufmerksam?" fragte dieser verärgert und rieb sich die Handgelenke. „Im allgemeinen nicht", meinte der Offizier freundlich. „Aber wir reagieren etwas allergisch, wenn wir diese Uniform sehen. Sie sind aus einer der Raumstationen geflohen?" Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. „Stimmt!" antwortete Graydon knapp. „Was haben Sie mit uns vor?" „Das müssen Sie selbst wissen!" meinte der Offizier. „Wenn Sie wollen, können Sie zunächst essen oder sich etwas ausruhen. Anschließend wäre ein Besuch beim Archonten sehr empfehlenswert. Er brennt darauf, die letzten Neuigkeiten aus den Stationen zu hören!" „Es wird uns eine Ehre sein", antwortete Leaish, „dem Herrn unsere Aufwartung zu machen!" „Nehmen Sie bitte Platz!" bat Francis Reegan, der Archont, freundlich. Der Herr der Stadt, mit mehr als zwanzigtausend Einwohnern, erwies sich als ein erstaunlich junger, energischer Mann; knapp dreißig Jahre alt, schlank und hochgewachsen. 87
Unter dem sehr sorgfältig zurechtgestutzten Schnurrbart blitzten bemerkenswert weiße, regelmäßige Zähne. „Danke!" sagte Leaish stellvertretend für die Gruppe und setzte sich. Sie hatten gegessen und gebadet und fühlten sich dementsprechend erfrischt; Leaish hatte, um kein unliebsames Aufsehen zu erregen, aus den umfangreichen Magazinen der Magistratur der Stadt neue Kleidung ausgeliehen. „Erzählen Sie mir bitte die näheren Umstände Ihres ... sagen wir unerwarteten Besuches!" forderte der Archont auf. Leaish gab einen kurzen, dennoch präzisen Bericht ihrer Flucht; während er sprach, blätterte Reegan in umfangreichen Akten, las einige Schriftstücke und schrieb kurze Kommentare an den Rand der Seiten. Erst als Leaish seinen Vortrag beendet hatte, sah der Archont wieder auf. „Schade!" meinte er bedauernd. „Sie konnten leider keine Kenntnisse sammeln, die wir nicht schon hätten. Mit einer Ausnahme allerdings!" Sein Blick heftete sich auf Graydon. „Ich hoffe, Sie haben das Buch mitgebracht!" sagte er halblaut und gespannt. „Selbstverständlich!" knurrte Graydon. Der Archont lächelte. „Das Buch wird uns endlich Aufschluß geben über die Zeit vor fünftausend Jahren", sagte er. „Wir hätten ebenfalls einige Fragen!" ließ sich Leaish vernehmen. „Nur zu!" ermunterte ihn Reegan. „Das ist schließlich eine meiner Aufgaben, Neuankömmlinge zu informieren!" „Sie sind ziemlich jung für ein solches Amt!" stellte Glynn fest und sah den Archonten neugierig an. Der Mann lachte unterdrückt auf und antwortete: „Man merkt, aus welchem Machtbereich Sie kommen! Dabei ist die Lösung einfach. Die Grundsatzentscheidungen, die ich gelegentlich zu treffen habe, zeigen ihre Auswirkungen erst in 88
einigen Jahren, manchmal sogar erst in Jahrzehnten. Wer hat unter den Folgen einer falschen Politik dann zu leiden? Wir, die jüngeren! Greise haben keine Zukunft mehr, aber wir sind daran interessiert, uns unsere Zukunft nicht zu vernageln. Ein kluger Mann sagte einmal sehr treffend, daß jeder Politiker behaupte, nur das Glück der kommenden Generation im Auge zu haben. Wann, zum Teufel, fragte der Weise, erscheint endlich diese Generation? Wir verfahren etwas anders - jede Generation kümmert sich um ihre eigene Zukunft und räumt den Platz, sobald die Nachfolger sich melden. Das läuft darauf hinaus, daß alle fünf bis zehn Jahre die Regierung ziemlich einschneidend geändert wird. Außerdem - wann hat sich das Weltbild eines Ihrer Prytanen geformt, aus welcher Zeit stammen die Prinzipien, nach denen er handelt und entscheidet? Vor dreißig bis vierzig Jahren, meist sogar noch früher; er trifft aber Entscheidungen, deren Auswirkungen sich erst zwanzig oder mehr Jahre später in vollem Umfange zeigen. Tote kann man nur anklagen, aber nicht zur Rechenschaft ziehen. Mich wohl!" „Völlig neue Perspektiven tun sich uns auf", murmelte Leaish. „Und wie wird man Archont? Vom Vorgänger ernannt, durch eine unwesentliche Zahl von Meuchelmorden oder durch Abstammung vom Gründer der Stadt?" „Die Stadt hat keinen Gründer!" belehrte der Archont ihn sanft. „Sehr originell!" brummte Cacarna sarkastisch. „Vermutlich gibt es hier einen Baum, von dem man fertige Städte abpflücken kann!" Der Archont lachte unterdrückt und meinte: „Ganz so einfach ging es nicht! Ich hätte wohl besser gesagt, daß wir die Erbauer der Stadt nicht kennen. Wir wissen nicht einmal, wann sie entstanden ist. Wir haben sie schlicht 89
gefunden!" „Gefunden?" wiederholte Leaish ungläubig. „Genau das!" bestätigte der Herr der Stadt. „Die ersten Menschen, die von den Raumstationen flüchteten - das war vor etwa zweitausend Jahren - fanden die Stadt, völlig verlassen, aber intakt. Die Steine, aus denen die Gebäude bestanden, sind mit einer uns unbekannten Schutzschicht überzogen, die sie immun gegen Witterungseinflüsse macht." Er lächelte bitter. „Von dem, was bei der großen Flucht in den Raum noch an Häusern und Gebäuden übrig war, ist heute nur noch Staub vorhanden. Die Menschen, die damals mit brennenden Augen und geballten Fäusten den startenden Schiffen nachstarrten, starben binnen zweier Jahrhunderte aus. Alle Einwohner der Stadt sind direkte Abkömmlinge von Flüchtlingen aus den Raumstationen. Diese Tatsache hat eine sehr bedeutsame Konsequenz: Alle Menschen in der Stadt stammen von hochintelligenten und moralisch integeren Eltern ab; die Verzweifelten, die aus den Stationen flüchteten, zählten in jedem Fall zur Elite. Das bedeutet natürlich nicht, daß die Stadt nur von Genies bevölkert wird, aber man hat gelernt, aus der Vergangenheit Rückschlüsse zu ziehen. Die Fehler unserer Urahnen, die zur völligen Vernichtung der Menschheit hätten führen können, werden wir keineswegs wiederholen!" „Hoffen wir es!" wünschte Graydon leise. „Wie sieht unser zukünftiges Leben aus?" Der Archont zuckte mit den Schultern und erwiderte: „Das müssen Sie selbst wissen! Sie können hier tun und lassen, was Ihnen gefällt! Wenn Sie etwas brauchen, nehmen Sie es sich. Sie werden in meinem Vorzimmer genau erklärt bekommen, wo Sie sich was abholen können!" „Was geschieht", wollte Cacama wissen, „wenn wir uns nur der Unproduktivität, dem Müßiggang ergeben?" 90
Reegan lächelte ironisch. „Sie können es versuchen", meinte er halblaut. „Man wird Sie nicht daran hindern. Aber nach einiger Zeit werden Sie völlig freiwillig arbeiten. Länger als ein Jahr hat bisher niemand die reine Faulenzerei ausgehalten. Sie werden sich wundern, wieviel Spaß die Arbeit für die Gemeinschaft macht, wenn man durch nichts anderes als den eigenen, freien Willen dazu getrieben wird!" „Teufel auch!" murrte Cacama. „Unter diesen Umständen gehe ich wieder zurück!" Niemand nahm seine Worte ernst, am wenigsten er selbst. „Was haben Sie eigentlich mit den Schiffen vor?" wollte Graydon wissen. Der Archont seufzte leise. „Darüber streiten wir uns schon lange!" meinte er nachdenklich. „Wissen Sie eigentlich, wie viele Menschen noch in den künstlichen Satelliten leben?" „Neun Milliarden!" schätzte Leaish. Der Archont lachte bitter auf. „Nicht einmal mehr eine Million!" sagte er grimmig. „Alle anderen sind im Laufe der Zeit gestorben, degeneriert. Wir planen seit Jahren, diese letzten Menschen aus ihren perfekten Käfigen zu befreien - dazu stehen die Schiffe bereit!" „Und warum starten Sie nicht, bevor es endgültig zu spät ist?" wollte Graydon wissen. „Wir müßten die Satelliten stürmen", erklärte Reegan. „Das kann aber dazu führen, daß wir eine der Stationen ungewollt leckschießen. Damit hätten wir dann das letzte Leben in den Kugeln vernichtet! Außerdem können wir nicht schlagartig eine Million Menschen in unser System integrieren - es liefe darauf hinaus, jenes tödliche Spiel zu wiederholen, daß die Menschheit schon einmal an den Rand der Selbstvernichtung gebracht hat." Er schloß minutenlang nachdenklich die Augen und sagte 91
dann sehr ernst: „Wahrscheinlich wäre es sogar die dritte Katastrophe dieser Art!" „Worauf stützt sich diese Vermutung?" forschte Glynn. „Die Stadt ist alt, uralt. Selbst mit unseren modernen Hilfmitteln haben wir das genaue Alter nicht feststellen können. Aber einiges konnten wir immerhin in Erfahrung bringen: Es ist mit fast hundertprozentiger Sicherheit die einzige Stadt ihrer Art. Sie war jahrzehntausende lang unter riesigen Sanddünen begraben. Und wir haben festgestellt, daß bereits mehrere Male ein großer Teil der Erdoberfläche von dicken Eispanzern bedeckt war. Das alles sind zwar keine Beweise für meine Theorie, aber wir konnten bis jetzt keine bessere Erklärungsmöglichkeit finden!" Unwillkürlich sah Reegan auf seine Uhr. Leaish hatte die Bewegung registriert und lächelte amüsiert. „Ich glaube, wir sollten Sie nicht länger aufhalten!" sagte er höflich und stand auf. „Sehen Sie sich zunächst einmal in der Stadt um!" empfahl der Archont. „Es ist zwar sehr einfach, mit der Freiheit zu leben; das Problem liegt darin, sie verantwortungsbewußt zu nutzen!" Es gelang ihnen verblüffend schnell, sich in die Gemeinschaft der Stadtbewohner einzufügen. Glynn trieb es sehr rasch in die Schulen der Stadt; sie studierte den Grundgedanken der verantwortungsbewußten Freiheit in allen Auswirkungen auf das tägliche Leben der Menschen. Dann machte sie sich daran, eine Gruppe von Kindern zu betreuen und zu unterrichten. Wie sie verblüfft feststellte, lernte sie dabei fast noch mehr als die Kinder. Leaish, der um seine sportliche Kondition bangte, beteiligte sich an vielen der zahlreichen Wettkämpfe und registrierte 92
überrascht, daß seine Leistungen nur wenig über dem allgemeinen Durchschnitt seiner Altersklasse lagen. Gryt hatte sich einer der Gruppen angeschlossen, die neue wissenschaftliche Erkenntnisse und deren praktische Anwendung bis in die kleinste Einzelheit durchdachten, um jede auch nur denkbare Gefährdung der Gemeinschaft schon im Entstehen zu bekämpfen. Auch Cacama hatte eine Beschäftigung gefunden, die seinem Naturell entsprach; mit einigen anderen trieb er sich in den Gebieten rund um die Stadt herum und jagte, um den Frischfleischbedarf der Stadtbewohner zu decken. Die Arbeit, so sauer sie auch sein mochte, machte Spaß; abends, wenn sie in dem Haus zusammensaßen, das ihnen zur Verfügung gestellt worden war, fühlten sie sich zwar ziemlich zerschlagen und müde - aber diese Gefühle wurden unterdrückt von der Genugtuung, die ein Mensch verspürt, wenn er ein selbst gestecktes Ziel erreicht hat. Langsam erkannten sie auch, auf welch merkwürdigen Grundlagen dieses kleine Staatswesen beruhte - auf einer Kombination von grenzenloser Diktatur und völliger Anarchie. Jeder einzelne Bewohner gab - wenn auch nur theoretisch alle Rechte und Freiheiten vorbehaltslos zugunsten der Gemeinschaft auf; eine umfassendere Diktatur war nicht denkbar. Weil aber jeder dies tat, erhielt er auf dem Umweg über die Gemeinschaft seine uneingeschränkte Freiheit zurück niemand brauchte Befehlen zu gehorchen, denn keiner hätte es gewagt, einem Mitbewohner etwas zu befehlen. Dieser absurde Kreislauf hatte - war er einmal in Gang gesetzt worden - seltsame Folgen: Die ewige Faustformel der Herrscher, daß Gemeinnutz vor Eigennutz gehe, wurde hinfällig; der beliebte Rechtfertigungsgrund der Prytanen für jede Willkür verschwand. 93
Denn dadurch, daß jeder nur das Glück der Allgemeinheit im Auge hatte und die Gemeinschaft folgerichtig - sie setzte sich ja aus den Einzelwesen zusammen - nur das Wohlergehen des Individuums anstrebte, wurde Eigennutz zwangsläufig identisch. Was einer für den Nachbarn tat, bekam er augenblicks als Bumerang zurück - und mit erhöhter Durchschlagskraft. Wurden die Menschen alten Typs von der Geißel des Leistungsprinzip zum kollektiven Selbstmord getrieben, hieß die Triebfeder dieser Stadt „soziale Gewissen". Staunend erkannten die Flüchtlinge, daß dieses System funktionierte. Es setzte allerdings drei Dinge voraus: Das Einverständnis aller Beteiligten, eine entsprechende Erziehung der Kinder und die totale Isolation des Staatsgebildes. Ohne den Allgemeinwillen zum System war es undenkbar; die Kindererziehung machte nur geringe Schwierigkeiten - es gab einfach keinen kalten Egoisten, der ihnen als schlechtes Leitbild hätte dienen können. Aber über den Dächern der Stadt schwebten als kaum sichtbare, aber stets gegenwärtige Gefahr die Raumstationen. Vor allem Graydon, der sich sehr rasch mit dem Archonten angefreundet hatte, beschäftigte sich unausgesetzt mit diesem Problem; monatelang durchforschte er die Raumschiffe, die der Stadt zur Verfügung standen, und überlegte fieberhaft, ob es nicht doch einen Weg gäbe, der lautlosen Drohung durch die Stationen ein Ende zu setzen. „Das klingt recht gut!" bekannte Reegan, nachdem Graydon seinen Plan vorgetragen hatte; aus der Versammlung kam ein beifälliges Murmeln. Fast eintausend Menschen hatten sich im größten Saal der Stadt versammelt, um über die Geschicke der Gemeinschaft zu beraten; der Rest der Bevölkerung war anderweitig beschäftigt, in dem sicheren Vertrauen, daß die Versammlung nichts 94
beschließen würde, das der Gemeinschaft schaden würde. Einer aus der Menge stand auf und fragte laut: „Kann der Plan scheitern?" Graydon, dem die Frage galt, nickte. „Es wäre zwar recht unwahrscheinlich, aber nicht auszuschließen!" „Was werden die Prytanen in diesem Fall Unternehmen?" wollte ein anderer wissen. Reegan antwortete an Graydons Stelle. „Sie werden zweifellos ausreichende Informationen erhalten, daß sich auf der Erde etwas tut. Mit einer Wahrscheinlichkeit von etwas mehr als fünfundsiebzig Prozent werden die Prytanen innerhalb der darauffolgenden zehn Jahre einen Angriff versuchen - mit dem Ziel, die Stadt zu zerstören und ihr Herrschaftssystem auf die Erde zu verlagern!" „Können wir einen solchen Angriff abwehren?"
„Das kommt auf die Mittel an, die wir bereit sind,
einzusetzen!" erklärte Graydon. „Wie sehen diese Maßnahmen aus?" Die Fragen kamen scharf und pausenlos. „Wir können die Prytanen zurückschlagen", zählte Graydon auf. „Die Wahrscheinlichkeit für einen Sieg Unserer Seite beträgt zwanzig Prozent! Unternehmen wir vorher einen präventiven Angriff, beläuft sich unser Risiko auf nur fünf Prozent!" „Wie sähe dieser Angriff aus?" „Hinfliegen", berichtete Graydon kalt. „Ein Leck in die Stationen schießen und wieder zurückkehren. Gelingt der Angriff, werden die Bewohner der Stationen in Minuten, höchstens Stunden sterben." Einige Gesichter in der Menge verfinsterten sich.
Graydon lächelte und fuhr fort:
„Ebenso gering ist übrigens die Aussicht, in der Stadt eine
ausreichende Zahl von Leuten zu finden, die dieses 95
Unternehmen mitmachen!" „Und was geschieht, wenn wir gar nichts unternehmen?" „Aussterben der Stationsbevölkerung innerhalb von dreißig Jahren!" erklärte Reegan ruhig. „Sicherheit: dreiundneunzig Prozent!" „So schnell?" fragte jemand ungläubig. Reegan nickte und erwiderte grimmig: „Der ökologische Kreislauf innerhalb der Stationen läßt sich nur mit einem bestimmten Minimum an arbeitsfähigen Bewohnern aufrechterhalten. Sobald die Kopfzahl unter achthunderttausend sinkt, können lebenswichtige Aggregate nicht mehr gewartet werden. Versagt eines dieser Aggregate, bricht die Versorgung der Bevölkerung an einer Stelle zusammen. Weitere Maschinen werden aussetzen, und innerhalb weniger Monate sind die Stationen menschenleer!" Graydon nahm den Faden auf und fuhr fort: „Die Ursache für diese unaufhaltsame Entwicklung ist recht einfach! Dadurch, daß die Prytanen keinerlei Veränderungen erlauben, verharrt das System in einem immer gleichen Zustand. Die Menschen haben keine Zukunft zu erwarten, jedenfalls nichts Neues. Hinzu kommt der permanente Alpdruck der Prytanen-Diktatur. Das läßt die Geburtenrate weit unter die Sterbequote sinken!" „Mit anderen Worten", faßte ein Mitglied der Versammlung die Ausführungen von Reegan und Graydon zusammen, „wenn wir nicht bald handeln, sind wir mitschuldig am Aussterben der Stationsbevölkerung! Wie aber sieht es aus, wenn Graydons Plan aufgeht? Was fangen wir mit den Menschen auf den Stationen an?" „Genau das ist die entscheidende Frage!" bekannte Reegan nachdenklich. „Wir können keinesfalls in kurzer Frist alle Stationen räumen lassen. Das ist technisch undurchführbar! Außerdem können wir nicht eine Million Menschen schlagartig in unser System einfügen!" 96
„Wir haben nicht einmal genügend Platz für sie!" warf jemand ein. „Wir könnten bestenfalls noch fünftausend Zuwanderer unterbringen, mehr nicht!" „Falsch!" korrigierte Graydon trocken. „Wir haben vor einigen Stunden zufällig eine unterirdische Fabrik gefunden der Eingang war bislang zugeweht und unter einem Rasen versteckt. Die Maschinen der Anlage sind intakt, und sie produzieren alles, was man zum Bau neuer Häuser benötigt! Wohnraum können wir also zur Verfügung stellen!" faßte Graydon zusammen. „Desgleichen Nahrungsmittel und Ähnliches. Wir haben daher folgenden Vorschlag ausgearbeitet: Gelingt unser Handstreich, holen wir zunächst zehntausend Menschen aus den Kugeln und siedeln sie hier an. Sobald sie sich in unser System voll eingelebt haben, holen wir die nächsten fünfzehntausend. Die Hälfte der Stadtbewohner wird dann aus Flüchtlingen bestehen - die andere Hälfte hat die Aufgabe, sie so gut wie möglich umzuerziehen. Alle zusammen haben die Aufgabe, die Voraussetzungen für den nächsten Schub zu schaffen. Diese Planung müßte eigentlich zu verwirklichen sein!" Minutenlang herrschte Schweigen in dem Raum; man sah es der Versammlung an, daß jeder so gut wie möglich den Plan durchdachte und auf seine Konsequenzen für die Gemeinschaft prüfte. „Der Plan ist gut und realisierbar!" sagte eine ältere Frau. „Er setzt aber voraus, daß wir den Handstreich wagen. Gelingt er, ist alles gut. Aber er kann auch scheitern, und dann stehen wir vor der Alternative entweder uns selbst abschlachten zu lassen - oder aber die Gefangenen in den Kugeln auszurotten. Wollen wir das riskieren?" „Ganz davon abgesehen, daß sich beide Lösungen nicht mit unserem Lebensprinzip vereinbaren lassen!" stimmte ein junger Mann zu. 97
In die letzten Reihen der Versammelten ging eine Bewegung; höflich machten einige junge Leute einem Greis Platz, der sich langsam durch die Menge schob, bis er einen Platz erreicht hatte, von dem aus er überall zu hören war. „So sehr ich deine Auffassung auch billige, Celia", sagte der Alte mit einer erstaunlich kraftvollen Stimme; er war einer der nicht seltenen Städter, der jeden einzelnen Bewohner kannte. „Sie hat einen kleinen Schönheitsfehler!" Er grüßte Reegan und Graydon mit einem freundlichen Nicken und fuhr fort: „Selbstverständlich können wir die Kugelmenschen nicht ausrotten. Aber ebensowenig können wir sie weiterhin in Unfreiheit ihrem sicheren Ende entgegenleben lassen. Wo auch nur ein Mensch unterdrückt wird, ist keiner mehr wirklich frei. Wenn wir aus Sorge über unser Wohlergehen untätig dem Aussterben der Bewohner der Silberkugeln zusehen, können wir unsere Gemeinschaft aufkündigen. Dann nämlich ist unser Lebensprinzip von uns selbst in Frage gestellt oder sogar verletzt worden!" Die Frau nickte nach einigem Überlegen. „Du hast recht!" bekannte sie ruhig und ohne Verlegenheit; ein Teil des Auditoriums nickte zustimmend. „Hat noch irgend jemand einen Einwand?" fragte Reegan in die Stille. Niemand meldete sich; die Bevölkerung der Stadt hatte sich entschlossen, die Tyrannei in den Raumkugeln zu brechen. * „Aufgeregt?" fragte Graydon seinen Kopiloten; Cacama schüttelte den Kopf. Der Countdown für die große Transportrakete lief bereits seit einer Stunde planmäßig; das Schiff war vor fast einem Jahrhundert auf dem Raumhafen gelandet und nicht wieder 98
gestartet. Dennoch arbeiteten alle Systeme einwandfrei. Unter ihnen, nur durch einen kurzen, sehr engen Gang erreichbar, befanden sich die fünfhundert Menschen, die bereit waren, den Handstreich zu wagen. Sie waren nach Kondition, Reaktionsvermögen und Besonnenheit ausgewählt worden Alter und Geschlecht waren keine maßgebenden Kriterien. „Sie können starten!" meldete sich der Leiter des Kontrollturmes. „Viel Glück!" „Wir werden es brauchen können!" knurrte Cacama. Graydon zuckte die Schultern, während er mit einem Handgriff das Schiff dem Zugriff der irdischen Schwerkraft entzog. Ein sekundenlanges Feuern des Haupttriebwerkes genügte, um das keulenförmige Raumschiff mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit in die Höhe zu jagen. Noch während die mattsilberne Stahlkonstruktion die verschiedenen Schichten der Erdatmosphäre durchstieß, sorgte Graydon dafür, daß die spinnenhaft schlanken Landestützen wieder eingefahren wurden. Sobald das Schiff, das den passenden Namen Phalanx trug, den freien Raum erreicht hatte, verringerte Graydon die Geschwindigkeit, so daß das Schiff nurmehr langsam dem stählernen Netz der Raumstationen entgegenschwebte. Graydon steuerte nach den Kursdaten, die im Bordcomputer des Schiffes verankert waren, mit dem er vor knapp drei Monaten geflohen war. Als die Phalanx sich allmählich den Gefängnissen im All näherte, überkam ihn ein leises Frösteln. „Heimweh?" erkundigte sich Cacama spöttisch, als er Graydons Schaudern entdeckte. „Wohl kaum!" gab der Angesprochene zurück. Cacama grinste diabolisch. „Wenn ich daran denke, daß ich unter Umständen bald wieder meinen verehrten Herren Professoren ins prüfende Auge 99
blicken muß", meinte er nachdenklich, „wird mir fast übel!" „Waren Sie so unerträglich?" fragte Graydon interessiert. „Gräßlich!" versicherte Cacama mit Nachdruck. „Einer von ihnen hatte die Liebenswürdigkeit, nach dem Ende der Zwischenexamen mich und drei andere Kandidaten zu einer Flasche Sekt einzuladen." „Das hört sich aber ausgesprochen gut an!" meinte Graydon verwundert. „Eben!" brummte Cacama grimmig. „Ich schwamm förmlich in Glückseligkeit. Als die Flasche leer war, erklärte er uns mit der gleichen Freundlichkeit, daß wir alle vier durchgefallen seien!" Graydon lachte laut auf. „Dieser Scherz ist so niederträchtig", kicherte er, „daß er von dir stammen könnte!" Cacama zog ein finsteres Gesicht und schwieg verärgert. Die Phalanx benötigte knapp zwei Stunden, um die Raumstationen zu erreichen; sorgfältig glich Graydon den Kurs an, dann schwebte das Schiff wenige hundert Meter von der Schleuse entfernt, von der aus nach den Unterlagen der Stadt die Zubringerraketen starteten. „Ich bin gespannt, ob unsere Berechnungen stimmen", murmelte Graydon, die Schleuse aufmerksam beobachtend. Seine Hoffnungen wurden nicht enttäuscht; nach zwanzig Minuten des Wartens sah er, wie die mächtigen Außenwände der Schleuse langsam aufklappten. Im grellen Licht der Innenbeleuchtung wurde ein Raumschiff sichtbar, das der Phalanx verblüffend ähnlich sah. „Freunde!" rief Graydon über die Bordkommunikation. „Es geht los!" „Es wurde Zeit!" erklang die Stimme von Leaish aus den Kopfhörern. „Hier unten breitet sich allmählich eine erschreckende Langweile aus. Ich habe noch nie soviele Männer gleichzeitig 100
beim Reinigen der Fingernägel gesehen!" Graydon lächelte flüchtig. Aus den dickwandigen Fenstern des Cockpits spähend, erkannte er, wie sich das fremde Schiff Meter um Meter aus der Schleuse schob, abdriftete und dann die Triebwerke zündete. Eine Zehntelsekunde bevor die ersten Flammenstrahlen aus dem Heck des Prytanen-Schiffes schlugen, stieß Cacama seinen Freund an; er hatte den Funksprechverkehr zwischen dem unbekannten Piloten und der Station überwacht und auf das entsprechende Kommando gewartet. Augenblicklich ließ Graydon die Triebwerke der Phalanx ebenfalls mit Vollschub arbeiten; zusätzlich eingebaute Antischwerkraftanlagen sorgten dafür, daß von der Beschleunigung nichts zu spüren war. „Wir sind etwas zu schnell!" bemerkte Cacama, aus dem Fenster starrend; das fremde Schiff war einige Sekundenbruchteile früher gestartet und hatte einen Vorsprung von mehreren hundert Kilometern, die von der Phalanx rasch aufgeholt wurden. Graydon drosselte den Schub um eine Winzigkeit und führte eine Kursänderung durch; nach einer Viertelstunde raste die Phalanx in einem Abstand von zwanzig Metern neben dem fremden Schiff her. „So einfach ist das!" murmelte Graydon in Anerkennung der unbekannten Erbauer seines Schiffes, als er den Autopiloten aktivierte. Der Automat hatte die Aufgabe, bis zur Erteilung eines gegenteiligen Befehls die Phalanx immer in der gleichen Position zu halten - jeweils bezogen auf die Koordinaten des anderen Raumfahrzeuges. Mit einem zufriedenen Lächeln befreite er sich von den Kopfhörern und löste die Verschlüsse der Gurte, die ihn an seinen Sitz fesselten. Während Cacama weiterhin den 101
Funkverkehr überwachte, kletterte Graydon mühsam in den umgebauten Laderaum hinab, wo die Mannschaft dem Einsatz entgegenfieberte. * Sie warteten vier Tage lang. Sechsundneunzig Stunden, in denen sich die Zeit zu dehnen schien wie hochvisköses Öl; nach zwölf Stunden gingen den fünfhundert Menschen die Witze aus, wenig später interessierte sich auch niemand mehr für die abenteuerlichen Geschichten, die einige zum besten gaben. Der Vorrat an Sedativa und Psychopharmaka nahm rapide ab. „Es wird Zeit, daß etwas passiert!" murmelte Graydon, dem die erzwungene Ruhe weniger strapaziös erschien als den anderen. „Es wird etwas passieren!" prophezeite Cacama, während er erleichtert die Kopfhörer abstreifte. „Ich jedenfalls bin einsatzbereit!" „Bist du sicher?" wollte Graydon wissen. Sein Gegenüber nickte entschlossen. „Der arme Kerl in der Blechbüchse" - er deutete mit der Hand auf das Prytanen-Schiff, das bewegungslos neben ihnen im Raum zu hängen schien - „ist seit acht Stunden völlig von der Umwelt abgeschnitten. Die Radiostrahlung aus der Atmosphäre des Jupiter legt den Funkverkehr über größere Entfernungen vollkommen still!" „Meinethalben kannst du losgehen!" brummte Graydon zufrieden. Gelangweilt sah er zu, wie Cacama sich in einen der weißen Raumanzüge zwängte und die Aggregate sorgfältig checkte; jede noch so unwichtig erscheinende Funktion wurde kurz überprüft. 102
„Fertig!" sagte Cacama halblaut, als er die Kontrollen beendet hatte; der Helm mit dem großen, halbverspiegelten Sichtglas hing noch auf seinem Rücken. Entschlossen stülpte er ihn über seinen Kopf und arretierte die Verschlüsse. „Kannst du mich gut verstehen?" Graydon hörte die Frage über seine Kopfhörer und nickte heftig. Die Frequenz, auf der sie sprachen, lag in einem anderen Wellenbereich als dem von dem unbekannten Pilot benutzten; er hätte sie verstehen können, wenn er sein Funkgerät entsprechend eingestellt hätte - das aber war ihm, wie Graydon genau wußte, strengstens verboten. „Viel Glück!" wünschte Graydon, während Cacama bereits ächzend den engen Kanal passierte, der Cockpit und Lagerraum verband. Eine Salve von schrillen Begeisterungspfiffen empfing den jungen Mann, als er den Lagerraum erreicht hatte, aber auch an bissigen Kommentaren war kein Mangel. Ohne sich um das Aufsehen zu kümmern, das er erregte, schritt Cacama schleppend durch den großen Raum, bis er das Schott der Mannschleuse entdeckt hatte. Durch das große Metalltor wurde der Raum be- und entladen. Routiniert öffnete Cacama die innere Schleusentür, schloß sie sorgfältig hinter sich und ließ die Luft absaugen; als wenige Minuten später die äußere Tür aufschwang, sah er vor sich die fremde Zubringerrakete im Licht der sehr weit entfernten Sonne blinken. „Kannst du noch etwas näher heran?" fragte Cacama in das Mikrophon seines Helmes. Graydons Antwort bestand in einem zustimmenden Brummen. Während die Phalanx sich Meter um Meter an das fremde Schiff heranschob, überprüfte Cacama noch einmal seine Waffe; der Laser war entsichert und geladen. 103
Selbstverständlich war die Waffe raumfest. „Genug!" meldete Cacama, und die Bewegung der Phalanx stoppte abrupt. Der Abstand zwischen den beiden Raumfahrzeugen betrug nur noch Wenige Meter, die der junge Mann mit einem kraftvollen Sprung überwand; mit einem harten Klacken hefteten sich seine Magnetschuhe an die Außenhülle des fremden Schiffes. „Ich bin drüben!" berichtete er über die Bordkommunikation. Die metallenen Sohlen seiner Stiefel schleiften über die Außenhaut des Schiffes, als er sich meterweise zur Ladeschleuse des fremden Schiffes vorwärtsschob. Er hoffte sehnsüchtig, daß der Pilot die Geräusche nicht bemerkte. „Gefunden!" meldete er kurz, als er das Luk erreicht hatte. Vorsichtig machte er sich daran, das Schott zu entriegeln; als er den letzten Verschluß geöffnet hatte, schwang die große Metallplatte mit Wucht auf. Die Luft aus dem Innern der Schleusenkammer strömte schlagartig ins Vakuum, verfestigte sich in Sekundenbruchteilchen zu einer weißen Wolke aus Gas und trieb dann rasch ab. Gelassen stapfte Cacama in den Raum und zog das Schott wieder zu; er suchte einige Minuten, dann hatte er den entsprechenden Regler gefunden - zischend strömte neue Atemluft in den Raum. „Ich bin drinnen!" berichtete er, nachdem er das Innenschott entriegelt und geöffnet hatte. „Ich glaube, wir sollten unseren Funkverkehr jetzt einstellen!" „Einverstanden!" kam Graydons Stimme zurück. „Wenn etwas Unvorhergesehenes passiert, meldest du dich wieder!" Wortlos stellte Cacama sein Gerät um; es empfing und sendete jetzt auf der Frequenz, die auch der fremde Pilot benutzte, um mit den Stationen zu sprechen. Der Lagerraum des Schiffes war bis zur Decke mit zahlreichen Kisten angefüllt; flüchtig las Cacama einige 104
Aufschriften. Nahrungsmittel, Sauerstoff, Wasser, Bücher und Filmspulen die Tauschwaren, die am Zielort der Reise gegen flüssigem Schwerwasserstoff gewechselt wurden. Der junge Mann benötigte fast eine Stunde, bis er sich durch die Kisten und Behälter bis zur Decke durchgewühlt hatte; er grinste leicht, als er über sich das Gegenstück zu jener Platte entdeckte, unter der Graydon damals das Buch gefunden hatte. „Hoffentlich fällt mir kein Skelett auf den Kopf!" murmelte er grimmig, bevor er den Schraubverbindungen zu Leibe rückte. Sein Helmfunkgerät hatte er vorsichtshalber abgestellt, damit der Pilot nicht durch einen unglücklichen Zufall sein Keuchen und Ächzen hörte und mißtrauisch wurde. Nach einer halben Stunde hatte er es geschafft; die letzte Schraube löste sich, und die schwere Metallplatte krachte herunter und verschwand unter lautem Scheppern irgendwo zwischen den Kisten. Cacama legte eine kurze Pause ein, um seine Atmung zu beruhigen, dann schaltete er sein Funkgerät ein. „Calhoun!" sagte er scharf in das Mikrophon. „Melden Sie sich! Calhoun!" Nach einigen Sekunden wiederholte er den Anruf mit verstärkter Stimmkraft. „Was, zum Teufel, ist los!" meldete sich der Pilot verwirrt. Cacama ließ ihm keine Zeit zum Nachdenken, sondern kommandierte schnell: „Ihre bisherigen Befehle sind aufgehoben! Ausnahmezustand! Greifen Sie unter Ihren Sitz, holen Sie das Werkzeug heraus! Hinter dem Sitz ist eine viereckige Metallplatte, die nicht angenietet, sondern angeschraubt ist. Lösen Sie die Verbindungen und ziehen Sie die Platte hoch! Wiederholen Sie!" Der Pilot war zwar sehr überrascht, eine Stimme zu hören, 105
obwohl er glaubte, in dieser Zeit überhaupt keinen Funkkontakt bekommen zu können, aber der unerbittliche Drill war stärker. Er kämpfte seine Neugierde nieder und wiederholte getreulich Cacamas Anweisungen. „Ich melde mich wieder, sobald Sie mit Ihrer Arbeit fertig sind!" sagte Cacama hastig, bevor der Pilot eine Frage stellen konnte. „Ende!" „Ende", wiederholte sein Gesprächspartner automatisch. Sofort schaltete Cacama seinen Sender auf die Frequenz der Phalanx um. „Bisher läuft alles nach Plan!" berichtete er zufrieden. „Fein!" antwortete Graydon. „Wie reagiert der Pilot?" „Er ist zwar ziemlich überrascht, aber er gehorcht aufs Wort!" meldete Cacama. Während er sprach, hielt er den Strahl seiner Handlampe ständig auf die Metallplatte gerichtet; aufmerksam beobachtete er, wie in einer der Ecken ein rundes Loch entstand, das sich rasch vertiefte - der Pilot war dabei, eine der Schrauben herauszudrehen. „Bis später!" verabschiedete sich Cacama und veränderte die Frequenz seines Empfängers; deutlich hörte er die unterdrückten Flüche des Piloten. Als sich über Cacama eine vierte Öffnung zeigte, schaltete er rasch den Handscheinwerfer aus und griff nach seinem Laser, dann aktivierte er nacheinander seinen Helmsender und das Antischwerkraftfeld des Anzuges. Sobald sich über ihm ein schmaler Spalt zeigte, durch den das Licht des Cockpits fiel, stieß er sich sacht von der Kiste ab, auf der er stand; langsam schwebte er höher, den Lauf des Lasers dorthin gerichtet, wo er das Gesicht des Piloten zu sehen erwartete. Der Pilot hatte ein Werkzeug in den Spalt geschoben und wuchtete die Platte hoch; als sich die Verbindung aus Staub und allen möglichen anderen Substanzen löste, die die Metalle 106
wie Leim auseinanderhielt, flog die Platte ruckartig zur Seite. Cacama reagierte sofort. Er schnellte in die Höhe, stieß kurz mit dem Laser gegen die Seitenwand und änderte so die Bahn; als er, schräg aus der Öffnung segelnd, mit den Füßen auf gleicher Höhe mit dem Boden des Cockpits war, schaltete er mit der Linken blitzschnell den Antischwerkraftgenerator aus. Er kam neben dem Loch zu stehen und zielte mit seiner Waffe auf den Kopf des Piloten; die Vorsicht war überflüssig, denn der Mann, der ihm gegenüberstand, war wie paralysiert vor Überraschung, Angst und Erschrecken. Das Gesicht des Mannes wurde so weiß wie Cacamas Anzug, er schluckte krampfhaft und schnappte nach Luft. „Bevor Sie umfallen", meinte Cacama freundlich, nachdem er den Helm seines Anzuges zurückgeschlagen hatte. „Ich bin keineswegs der galaktische Klabautermann. Dies ist ein ganz normaler Überfall!" Mit automatenhaft wirkenden Bewegungen zündete der Pilot eine Zigarette an; seine Gesichtsfarbe normalisierte sich langsam. „Wer sind Sie?" fragte er schließlich mit unsicherer Stimme. „Das zu erklären, wird einige Zeit kosten, die wir nicht haben!" erklärte Cacama gelassen. „Es wird das Beste sein, wenn Sie sich wieder setzen und mich in Ruhe arbeiten lassen!" Calhoun nickte gedankenlos und ließ sich in seinen Sessel fallen, während Cacama den Computer stoppte und das Datenband gegen ein anderes austauschte. Dann stellte er das Funkgerät um. „Operation Termite gelungen!" meldete er kurz. „Ich habe mich bis zum Cockpit durchgefressen. Der Rückflug ist bereits programmiert. Kein Widerstand!" „Derlei höre ich gern!" antwortete Graydon aufatmend. „Hoffentlich gelingt unser Plan ebenso gut!" 107
„Ich nehme es an", meinte Cacama zuversichtlich; während er sprach, beobachtete er unausgesetzt Calhoun, der gleichmütig rauchte. „Auf der Erde werden wir uns später mit unseren Heldentaten brüsten können! Bis dann!" Ohne Graydons Antwort abzuwarten, schaltete er den Sender aus. „Hätten Sie die Güte", sagte der Pilot höflich, „mir zu erklären, was sie überhaupt hier zu suchen haben?" „Das", meinte Cacama mit einem bitteren Lächeln, „frage ich mich manchmal auch!" Dann setzte er sich auf den freien Sitz neben dem Piloten, zündete sich umständlich eine Zigarette an und begann zu erklären. Als das gekaperte Schiff - von Cacama inzwischen Lethe getauft - auf dem Raumhafen der Stadt niederging, wartete hinter einer Absperrung nahezu die halbe Stadt gespannt auf Nachrichten. „Hier werden Sie in Zukunft Ihr Leben verbringen!" meinte Cacama nach einem Blick aus einem der von ihm geöffneten Bullaugen. „Recht nett!" sagte Calhoun anerkennend; während des Rückfluges hatte er allmählich erkannt, unter welchen Umständen er bislang gelebt hatte. Er grinste Cacama verwegen an. „Sind alle Bewohner der Stadt von Ihrem Schlage?" fragte er spöttisch. Cacama lächelte verzerrt und antwortete: „Glücklicherweise nicht." Während die beiden Männer in Ruhe das Schiff verließen, näherte sich vom Platzrand ein Gleiter, der fast gleichzeitig mit ihnen am Ende der Ausstiegsleiter anlangte. Bevor Reegan, der hinter dem Steuer des Fahrzeuges saß, etwas unternehmen konnte, war Gryt bereits aus dem Beifahrersitz gesprungen und auf Cacama zugerannt. 108
»Wie geht es Graydon?" fragte sie aufgeregt. „Ist er gesund?" „Nach den letzten Nachrichten geht es ihm ausgezeichnet!" antwortete Cacama; seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das wie eingefroren wirkte. „Und gesund ist er auch, wenn man davon absieht, daß er angeblich ununterbrochen an dich denkt!" „Die Tatsache, daß Sie noch fähig sind, Ihrem fanatischen Weiberhaß Ausdruck zu geben", meinte Reegan, der unbemerkt näher gekommen war, „verrät mir, daß es nicht sehr schlimm sein kann!" „In zwei Tagen werden wir Bescheid wissen!" brummte Cacama; er schüttelte dem Archonten freundschaftlich die Hand. „Graydon hält seinen Kurs planmäßig - die Störungen durch die Einwirkung der Jupiterschwerkraft waren nicht so schlimm, wie wir geglaubt haben. Die anderen Schiffe folgen exakt mit Tagesabstand; die Funkverbindungen stehen! Was will man mehr?" Reegan stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, dann machte er eine Kopfbewegung in Richtung auf Cacamas unfreiwilligen Reisebegleiter. „Ihr Gefangener?" fragte er lakonisch. Cacama nickte und antwortete, ohne Calhoun anzusehen: „Er fliegt die Route seit etwas mehr als zwei Jahren, natürlich ohne wirklich zu wissen, was er tat. Überdurchschnittlich intelligent, von schneller Auffassungsgabe und gedanklich sehr flexibel - ein Zuwachs zur Bevölkerung, wie wir ihn uns nur wünschen können." „Wenn unsere ambulante Giftspritze derlei sagt", meinte Reegan freundlich und reichte Calhoun die Hand, „werden Sie uns hochwillkommen sein." Während Reegan und Calhoun die üblichen Begrüßungsfloskeln austauschten, ging Cacama zum Gleiter hinüber, in dem Glynn saß und eine gespielte Gleichgültigkeit zur Schau stellte. 109
„Beste Grüße von der Fliege", knurrte Cacama, während er sich neben ihr in den Sitz fallen ließ. „Sie sehnt sich nach deinem Netz!" Glynn lächelte nachsichtig; sie kannte inzwischen seine Art Nachrichten zu interpretieren. „Glaubst du, daß der Plan Erfolg hat?" fragte sie zögernd. „Er muß!" knurrte Cacama entschlossen. Nervös trommelte Reegan mit den Fingerspitzen herum und starrte auf die große Wanduhr, deren Zeiger zeitlupen-haft über das Zifferblatt zu kriechen schienen. Nur vier Menschen hielten sich im Funkraum des Raumhafentowers auf - Gryt, Glynn, Cacama und der Archont, der wie ein Automat eine Zigarette nach der anderen ansteckte, sie aber nach wenigen Zügen wieder ausdrückte. Da die Stadtbewohner das Laster des Rauchens nicht hatten ausrotten können, waren sie auf einen kleinen Betrug verfallen: Der angebliche Tabak enthielt lediglich geringe Mengen von Nikotin, sonst bestand er aus feingeschnittenen Kunststoff, der sich während des Verbrennungsprozesses in harmlose Gase zerlegte. „Verdammt!" knurrte Reegan gereizt. „Wann meldet er sich endlich?" Nach ihren Vorberechnungen mußte Graydon und seine Mannschaft bereits seit einer Stunde in den Hangars der Saturn-Station liegen; die unterirdische Anlage befand sich auf Titan, einem der Saturnmonde, und belieferte die Raumkugeln mit dem Flüssigwasserstoff, den die Fusionsreaktoren verbrauchten. „Erde, bitte melden!" erklang plötzlich eine Stimme aus einem Deckenlautsprecher. „Wir hören euch!" rief Reegan in das Mikrophon, das er aufgeregt umklammerte. „Die Verständigung ist gut!" Die Sendungen aus der Funkkabine der Phalanx wurden über einen Richtstrahl einem Schiff überspielt, das ziem110
lich genau einen Flugtag von Titan entfernt im Raum schwebte. Dort wurden die Signale aufgefangen, verstärkt und an ein zweites Schiff in gleicher Entfernung weitergegeben. Über eine Kette von Raumschiffen erreichten die Funksprüche dann den Empfänger in der Stadt - allerdings mit einer Zeitdifferenz von fast achtzig Minuten. Soviel Zeit brauchten die lichtschnellen Funkwellen, um die Entfernung zwischen Erde und Saturn zu überbrücken. „Reden Sie schon, Mann!" brüllte Reegan in das Mikrophon. „Hat es ein Unglück gegeben?" Ein kompliziertes System von Leitungen und Lautsprechern trugen seine Worte bis in die entferntesten Straßen der Stadt. „Nur nicht aufregen!" meinte der Pilot des Relaisschiffes. „Warten Sie einen Augenblick, dann spiele ich Ihnen das Band vor. Originalton Titan!" Vermischt mit dem Prasseln, Pfeifen und Winseln der Statik, aber deutlich und klar verständlich erklang die Stimme von Leaish aus dem Lautsprecher: „Hier Station Titan! Ich hoffe, daß man mich in der Stadt hören kann. Die Station Titan ist fest in unserer Hand!" - Er kicherte unterdrückt. - „Die Leute in der Station waren so verblüfft, als aus dem Laderaum plötzlich Bewaffnete hervorstürmten, daß sie sich sofort ergaben. Nur an einer Stelle kam Widerstand auf, der aber schnell gebrochen werden konnte. Tote gab es nicht, nur einen Verwundeten - Graydon bekam einen Streifschuß ab!" Cacama hörte mit unbewegtem Gesicht zu; ihm entging nicht, daß Gryt abrupt erbleichte. „Die Verletzung ist allerdings ungefährlich - er macht bereits wieder dumme Witze darüber. Wir werden weiter planmäßig vorgehen - die Relaisschiffe werden die Station anfliegen und die Bewohner zur Erde transportieren. Wir haben ein paar Filme vorgeführt, und die Mehrheit ist bereits überzeugt, daß es sich auf der Erde besser leben läßt. 111
Ich hoffe, daß eure Aktionen ähnlich erfolgreich sein werden. In zehn Tagen werden wir es wissen. Viel Glück!" Es knackte hart im Lautsprecher, dann meldete sich der Pilot des Relaisschiffes wieder. „Sie haben es gehört!" sagte er mit deutlich hörbarer Zufriedenheit. „Auf Titan ist der Handstreich geglückt!" „Gut gemacht!" lobte Reegan mit einem erleichterten Seufzen, dann änderte er die Sendefrequenz. „Acheron, bitte melden!" Der Funker am anderen Ende der Funkverbindung reagierte sofort. „Wir haben mitgehört, Archont!" sagte eine leicht heisere Männerstimme. „Hier läuft das Programm ebenfalls zügig." Insgesamt fünftausend Menschen waren mit allen verfügbaren Schiffen gestartet, um die Bewegungsfreiheit der Prytanen einzuschränken - sie hatten den Auftrag, alle Kugeln rings um den noch bewohnten Sektor zu besetzen und sämtliche dort noch vorhandenen Schiffe zur Erde zu bringen. Der Rest sollte die Verbindungsgänge zwischen den Kugeln blockieren, den von den Prytanen beherrschten Sektor hermetisch abriegeln. „Ich höre gerade", berichtete der Funker der Acheron, „daß die Aktion abgeschlossen ist. Ich glaube, jetzt kommt Ihr Auftritt, Reegan!" Reegan schaltete ab und holte tief Luft; seine Kiefermuskeln traten stärker hervor. Wieder änderte er die Frequenz des Funkgerätes - diesmal stellte er den Sender auf die Wellenlänge der offiziellen Prytanen-Sender ein. „Calhoun!" brüllte es aus den Lautsprechern, sobald der Archont sein Gerät eingepegelt hatte. „Calhoun! Melden Sie sich endlich!" „Ich fürchte", begann Reegan fast heiter, „Sie werden Ihren Piloten so bald nicht wiedersehen!" Man konnte aus dem Lautsprecher hören, wie jemand nach 112
Luft schnappte. „Wer spricht da?" fragte der Stationsfunker erstickt. „Das ist für Sie uninteressant!" meinte der Archont schroff. „Sorgen Sie augenblicklich dafür, daß mit dem Obersten Prytaneum Kontakt aufgenommen wird. Ich wünsche einen der Herren zu sprechen!" Der Funker wagte noch einen schwachen Versuch des Protestes, wurde aber von Reegans barschen Worten so beeindruckt, daß er Reegan weiterverband. „Wer sind Sie?" fragte wenige Minuten später eine metallisch klingende Stimme. „Was wollen Sie?" „Wer ich bin, ist uninteressant!" antwortete der Archont kühl. „Was ich will, werde ich Ihnen sehr bald erzählen. Zuvor eine Information - ich spreche von der Erde aus!" Sein anonymer Gesprächspartner zeigte sich unbeeindruckt. „Diese Angabe können wir überprüfen!" meinte der Prytane gelassen. „Gesetzt den Fall, Ihre Behauptung ist zutreffend was haben Sie mir noch mitzuteilen?" Wider seinen Willen nickte Reegan anerkennend; der Prytane beherrschte sich souverän. „Ich nehme an, daß Sie wissen, wo Sie sich jetzt befinden?" vermutete der Archont. „Falls Sie sich auf die Raumstationen beziehen", erwiderte der Prytane, „weiß ich wahrscheinlich mehr als Sie!" „Dann werden Sie auch wissen, daß nur noch ein sehr geringer Teil der Kugeln bewohnt wird. Unsere Männer haben jeden Gang, der aus diesem Sektor hinausführt, blockiert. Die Station auf Titan wurde von uns erobert. Sie können sich vorstellen, was diese Nachrichten enthalten!" „Ein Ultimatum also!" stellte der Prytane fest, offensichtlich ungerührt. „Wie lauten Ihre Bedingungen?" „Sie lassen unsere Leute in die Kugeln und übergeben ihnen sämtliche Ämter und Machtpositionen. Die Bewohner werden nach und nach evakuiert und zur Erde gebracht. In dieser Zeit 113
erhalten Sie von uns den Kernbrennstoff von Titan geliefert. Sobald die Stationen verlassen sind, werden sie demontiert, gesprengt oder anderweitig entfernt!" „Bedenkzeit?" fragte der Prytane ruhig. „Eine Stunde!" erwiderte Reegan brutal. Als der Prytane sich nach etwas mehr als fünfzig Minuten wieder meldete, hatte seine Stimme an Gelassenheit und Kühle nichts verloren. „Ich habe vor zwei Minuten angeordnet, Ihre Männer hereinzulassen und keinen Widerstand zu leisten!" „Die Kapitulation scheint Ihnen recht leichtgefallen zu sein!" meinte Reegan irritiert; er hatte mit Drohungen, Kompromiß vorschlägen und Ähnlichem gerechnet. „Ich habe Ihren Angriff vorhergesehen", erklärte der Prytane gleichmütig. „Ihre Stadt kenne ich seit einigen Jahren, und es war leicht, auszurechnen, wie Sie reagieren würden. Ein Blutbad in den Stationen hätte mir keinen Vorteil verschafft, erst recht nicht ein Ausfall der Energieversorgung wenn es mir keinen Schaden bringt, kann ich es mir erlauben, großzügig zu sein." „Wofür haben Sie dann Bedenkzeit gebraucht?" wollte der Archont wissen. „Ich habe mir gestattet, einige Vorbereitungen zu treffen", antwortete der Prytane. „Zur Begrüßung Ihrer Leute sozusagen! Bevor wir diese Unterhaltung beenden, wüßte ich doch recht gern, wem ich dieses abrupte Ende meiner Karriere verdanke!" Als der Archont seinen Namen nannte, erklang lautes Gelächter aus dem Lautsprecher. „Sie werden es nicht glauben", meinte der Prytane mit hörbarer Erheiterung, „aber Ihr Urahne, der zur Erde flüchtete, hatte einen Bruder - und ich bin ein Nachfahre dieses Herren. Ausgerechnet ein entfernter Verwandter muß mich stürzen!" Er lachte noch einmal, dann schaltete er sein Gerät ab. 114
Reegan schüttelte verwundert den Kopf. „Ich möchte wissen, was der Mann plant!" murmelte er mißtrauisch. Während die Stadtbewohner in die Kugeln eindrangen, deren Bewohner sie mit sichtlicher Skepsis und Zurückhaltung empfingen, gab Reegan die Siegesnachricht über die Relaiskette weiter. Dann erfuhr er von der Acheron, daß sich von einer der Kugeln mehrere Schiffe trennten, die unbeirrt Kurs auf die Erde nahmen. „Wir konnten nichts gegen sie unternehmen!" berichtete der Pilot. „Die Schiffe sind leider völlig unbewaffnet. Sie sind einfach an uns vorbeigeflogen. Wie ich außerdem erfahren habe, hat man bis jetzt noch nicht einen einzigen Prytanen gefangen. Es sieht so aus, als hätten sie sich alle mitsamt ihren Familien abgesetzt!" „Welchen Kurs fliegen sie?" fragte Reegan aufgeregt. „Nach unseren Berechnungen werden sie wahrscheinlich sehr weit von der Stadt entfernt landen wollen!" gab der Pilot zurück. Reegan überlegte kurz, dann entschied er: „Wir lassen sie in Ruhe! Schließlich können wir sie nicht vorsorglich ermorden! Und es sind zu wenige, als daß sie uns gefährlich werden könnten!" Nachdem er die Verbindung unterbrochen hatte, drehte er sich um und sah die Menschen im Funkraum strahlend an. „Ich glaube, daß wir endlich das Erbe der Vergangenheit überwunden haben. Die Zeit, in der die Menschheit ihre Existenz selbst gefährdete, ist endgültig vorbei!" Womit er sich fundamental irrte. Die Prytanen samt ihren Angehörigen landeten tatsächlich auf der Erde, fast genau auf der Stelle, die der Stadt auf dem Erdball gegenüberlag. Sie demontierten die Schiffe und bauten aus den Einzelteilen eine eigene Stadt, deren Bevölkerung 115
rasch zunahm. Noch schneller aber kletterten die Einwohnerzahlen in der Stadt, täglich landeten Schiffe und entluden ihre menschliche Fracht - Flüchtlinge aus den Kugeln, die zum erstenmal in ihrem Leben einen Horizont sahen. Als nach zwei Wochen die Phalanx mit einem Teil der Bewohner der Titanstation auf dem Raumhafen der Stadt aufsetzte, bereiteten die Bewohner den Besatzungsmitgliedern einen triumphalen Empfang. Oben, an den Fenstern des Kontrollturmes, stand Cacama und beobachtete mit einem Fernglas, wie Glynn Leaish begrüßte und Gryt begeistert Graydon umarmte. Sein Gesicht wirkte förmlich eingefroren, als er den Feldstecher beiseite legte und den Turm verließ. Da ihn niemand vermißte, fiel es nicht auf, daß er die Stadt verließ und in der weiten Savanne verschwand. Epilog: In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung erließ das Königreich Preußen eine Verordnung, die es den Arbeitgebern des Rheinlandes verbot, ihren Dienstboten öfter als dreimal in der Woche Rheinlachs als Hauptmahlzeit vorzusetzen. Die Dienstboten freuten sich, denn der Lachs war im Rhein so zahlreich, daß er mit Abstand der billigste Lieferant für tierisches Eiweiß war. Etwa zur gleichen Zeit importierte ein Jagdfanatiker ein Dutzend Kaninchen nach Australien, um auch dort seiner Leidenschaft frönen zu können. Da es auf dem Kontinent keine natürlichen Feinde des Nagers gab, vermehrten sich die anfangs unter strengen Naturschutz gestellten - Tiere so rasch und gründlich, daß wenige Jahrzehnte später ihre Zahl die Einhundert-Millionen-Grenze erreichte. Weder Gift noch 116
Fallen, weder staatlich subventionierte Treibjagden noch importierte, aber weniger fruchtbare Raubtiere vermochten der bepelzten Sintflut zu wehren. Auch kostspielige Drahtzäune - oft mehrere hundert Kilometer lang - erwiesen sich als wirkungslos; die Kaninchen überstiegen die Hindernisse über die Leichen ihrer Artgenossen oder unterwühlten sie. Erst in der Neuzeit fand man ein Hilfsmittel - man infizierte die Tiere mit einem todbringenden Virus, der die Kaninchen rasend dezimierte; dann aber wurden die Raubtiere, die dank des schier unerschöpflichen Vorrats an Kaninchenfleisch ebenfalls an Kopfzahl rapide zugenommen hatten, zur Gefahr, Als das Beutetier Kaninchen verschwand, begannen sie den Bestand an Nutztieren - hauptsächlich Schafen - beängstigend zu dezimieren. Während in Europa ein Kaninchenfeind gedankenlos den Virus ausbreitete und fast den gesamten Kaninchenbestand ausrottete, überlegten die Australier bereits, wie sie sich des neuen Feindes erwehren sollten. Diesmal fanden sie kein Hilfsmittel. In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung überstieg in einem Staat Europas die Menge des jährlich als Gas oder als mikroskopisch feiner Staub in die Atmosphäre abgeleiteten Giftes die Grenze von zehn Millionen Tonnen. Schwefeldioxyd - in wässriger Lösung als schweflige Säure bekannt - und andere Giftstoffe zerfraßen Madonnenfiguren, die fast ein Jahrtausend unbeschädigt überstanden hatten, in wenigen Jahrzehnten zu unförmigen Steinklumpen. Es war zwar allgemein bekannt, daß Lungenbläschen etwas empfindlicher sind als Granitmadonnen, aber man zog daraus keine Schlüsse - vielleicht; weil Lungenbläschen im allgemeinen nicht zu sehen sind. In der zweiten Hälfte des einundzwanzigsten Jahrhunderts 117
christlicher Zeitrechnung entdeckte ein Team von Archäologen in der Mitte der Sandwüste Nordafrikas eine Stadt. Nur durch einen glücklichen Zufall wurden die Gebäude unter den endlosen Dünen der zentralen Sahara gefunden. Die Sterne, aus denen die Häuser gebaut worden waren, waren - so stellten die Wissenschaftler fest - mit einer Schicht überzogen, die resistent gegen fast jeden chemischen Stoff war. Während man mit Hilfe modernster Computer die Schrift und Sprache der ehemaligen Stadtbewohner zu entziffern versuchte, schwebten bereits die ersten Raumstationen über der Erde. Die großen Kugeln sollten als Laboratorien für Astronomen und andere Gelehrte dienen; außerdem galten sie als letzte Zuflucht der Regierung im Falle eines weltweiten Atomkrieges. Als die Archäologen endlich die Schrift enträtselt hatten, war die Zahl der Kugeln bereits dreistellig. Ein allmählich anschwellendes Summen klang aus dem Deckenlautsprecher durch den großen Saal. Der kahlköpfige, noch recht junge Mann ... ENDE Lesen Sie nächste Woche:
Planet der Zweikämpfe von Mack Reynolds Sie entfliehen dem Terror der stählernen Welt -und landen im Chaos TERRA ASTRA Nr. 11 im Zeitschriften- und Bahnhofs buchhandel erhältlich. Preis DM 1,-. 118