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Giganto meldet: Schiffbruch in der Erde 1. Besuch „Das war mal wieder ein Tag“, schnaufte Henri begeistert. Er, seine Schwester, sein jüngerer Bruder und ihre drei Freunde hatten die festliche Einweihung der Brücke von Monton nach Brac miterlebt. Die Brücke war ein Meisterwerk und wirkte in der Sonne wie ein zartes Gespinst. Um so dicker war der Mann, der das Band durchschneiden sollte, um die Brücke dem Verkehr zu übergeben. Ihm war die Schere aus der Hand gefallen. Aber sein enormer Bauch hinderte ihn daran, sich zu bücken. Die Schaulustigen, unter ihnen viele Urlauber, hielten sich die Bäuche vor Lachen. Ein winziges Mädchen, mit einem großen Blumenstrauß im Arm, nahm die Schere und wollte sie ihm zureichen. Aber der arme Dicke hatte in der Verwirrung den Blumenstrauß ergriffen. Henris kleiner Bruder quietschte noch auf dem Rückweg: „Nein, so was ...! Ich wär am liebsten von den Füßen auf die Hände gesprungen! Wie dem Klops die Schere aus den Wurstfingern gerutscht ist und wie er kaum über seinen Bauch gucken konnte!“ Die Jungen und auch Tatjana sahen zu, wie der kleine Micha sich krümmte und die Bewegungen des dicken Mannes nachzuahmen versuchte. Er ächzte fürchterlich, schielte über einen nicht vorhandenen Bauch und tat, als könnte er mit seinen Händen den Erdboden nicht erreichen. „Ziemlich alberne Vorstellung, Micha“, meinte sein großer Bruder Henri. Tatjana, „Tati“ genannt, Michas und Henris Schwester, nur ein Jahr jünger als Henri, die aber erwachsener erschien als beide Brüder zusammen, fügte ein bißchen spöttisch hinzu: „Stimmt! Du mußt dir ein riesiges Kissen vorn unters Hemd stecken. Hinten natürlich auch eines. Aber auch dann wirst du kein Schauspieler. Der dicke Mann hatte nämlich Stielaugen. Die kannst du nicht vortäuschen. Außerdem hast du Patschpfoten, aber keine Wurstfinger.“ Die drei Freunde der Geschwister feixten über Michas beleidigte Miene. Prosper schlug vor, der stämmige Gérard solle den dicken Mann spielen. Er könnte es sicher besser als Micha, weil er einen Fußballkopf und keinen Hals hätte. Doch Marcel, der spindeldürre, flachshaarige Junge mit den großen, runden Brillengläsern, den die anderen wegen seiner Blitzgescheitheit Superhirn nannten, beendete den Ulk. „Laßt die Faxen!“ sagte er. „Kommt jetzt ins Schlößchen, Madame Claire wartet auf uns!“ Das Schlößchen gehörte Superhirns Onkel, der selten da war. Mit seiner Erlaubnis diente es jetzt als Ferienquartier. Madame Claire, eine ebenso freundliche wie rundliche Person, war die Wirtschafterin. Sie empfing die Kinder nie mit Scheite oder Vorhaltungen. Im Gegenteil, stets standen frische Brote, würzige Salate, verschiedene Säfte, Himbeeren auf Eis oder ähnliche leckere Dinge bereit. Michas schwarzer Zwergpudel Loulou zerrte übermütig an der Leine, als würde er den Knochen schon erschnuppern. Denn bei Madame Claire fiel auch stets für seinen Hundemagen etwas ab. An der neuen Brücke hatte die Wohlfahrtspflege eine Tombola veranstaltet. Henri, Tati, Micha, Gérard, Prosper und Superhirn zogen für sich selber nur Nieten. Da hatte Micha den Einfall gehabt, auch für den Pudel ein Los zu kaufen. „Hunde bringen immer Glück!“ behauptete er. ..Besonders Pudel!“ Tatsächlich gab es unter den Gewinnen auch große Keksdosen. Aber Micha gewann für den Hund keine Kekse, sondern eine Taucherbrille. Was sollte der Zwergpudel damit? „Unverschämtheit!“ ärgerte sich Micha. „Loulou ist doch kein Seehund!“ „Ist dir schon mal 'n Seehund mit 'riet Taucherbrille begegnet?“ grinste Gérard. „Könnte ja sein! Vielleicht ein dressierter in eurer Badewanne! Oder im Traum ... !“ Da hatte Micha die Taucherbrille ins Wasser geworfen und wütend geschrien: „Soll sich ein Fisch das Ding aufsetzen!“
Und bei Madame Claire würde Loulou reichlich entschädigt werden ... Schwatzend durchschritten die Freunde den Park. Plötzlich schwieg Superhirn. Er hatte Madame Claire erblickt. Die Wirtschafterin stand vor dem Eingang und fuchtelte mit den Armen. Sie sah nicht so aus, als winke sie zu Wurstsalat, Himbeeren auf Eis oder einer erfrischenden Fruchtsuppe. „Besuch!“ rief sie aufgeregt. Sie rief noch allerlei. Aber wenn Madame Claire aufgeregt war, wurde ihre Stimme schrill, so daß man immer nur einzelne Worte verstand. Prosper machte einen langen Hals. „Be-Be-Besuch ... ?“ stammelte er. „Doch nicht wieder Professor Charivari ... ?“ Unwillkürlich sahen sich alle um, ob nicht irgendwo im Park eine Wölbung oder ein Riß im Boden darauf hinwies, daß Professor Charivaris Erd-Erkundungsschiff Giganto - aus der Tiefe herauf - unter dem Grundstück „gelandet“ war. „Nichts anmerken lassen“, mahnte Superhirn. Tati war blaß geworden. „Wenn's aber nicht unser Freund ist?“ wisperte sie. Sie meinte den Professor, von dem Prosper gesprochen hatte. „Wenn's nun seine getarnten Feinde sind, die uns aushorchen wollen ... ?“ „Ich schlag mich in die Büsche“, murmelte Gérard. Tati ergriff Michas Arm. Sie pfiff den Pudel zurück. Henri atmete schnaufend durch die Nase, als befürchte er einen „ortsfremden“ Geruch im Park, etwa Schwefeldünste. „Na ... ?“ wisperte Prosper. Er schnüffelte ebenfalls. „Nichts!“ brummte Henri. Zögernd näherten sie sich dem Schloßportal. Madame Claire verschwand in der Halle. Sicher würde sie gleich wieder erscheinen - in einer hübscheren Strickjacke oder mit einer anderen Schürze vor dem molligen Bauch. Superhirn sagte leise, aber scharf zu den Freunden: „Ich warne euch! Seht nicht überall Gespenster! Schnüffelt nicht, wo's nichts zum Schnüffeln gibt! Man kann sich schrecklich leicht was einbilden! Meinetwegen haltet eure Nasenlöcher, eure Augen und Ohren offen, aber schließt die Mäuler!“ „Sag das mal unserem Hund“, lachte Tati gereizt. „Du weißt doch: Wenn was Unerklärliches in der Luft liegt, benimmt er sich wie verrückt.“ „Ja, und auch in solchem Fall dreht nicht gleich durch!“ beharrte Superhirn. „Vergeßt nicht: Die Feinde aus der Erd-Zentrale sind keine Fabeltiere. Es sind menschenähnliche Wesen!“ „Um ... um ... um so schlimmer!“ fauchte Prosper. „Eben“, nickte der Junge mit den runden Brillengläsern. „Eben! Das meine ich ja!“ Bedeutungsvoll wiederholte er: „Um so schlimmer ... !“ 2. Geheimnisvolle „Freunde“! „Reifenspuren auf dem Kies!“ rief Micha. In diesem Augenblick kam Madame Claire tatsächlich mit einer frischen neuen Schürze aus der Tür gewirbelt. Eifrig sprach sie weiter: „... und ich dachte ... ich dachte ... ihr hättet den Besuch vielleicht getroffen ... sehr nette Leute! Aber freilich: Die waren ja mit dem Auto hier ... Nun, ihr werdet sie nachher ja sehen ... !“ „Was denn?!“ Prosper griff sich an den Kopf. „Das heißt, der Besuch ist gar nicht hier? Und dann machen Sie solchen Wind?“ „Madame Claire hat angedeutet, daß die Leute wiederkommen“, wies ihn Tati zurecht. „Oder hab ich das falsch verstanden?“ „Sie sagte, wir würden sie nachher sehen“, stellte Superhirn richtig. „Ja!“ rief die Wirtschafterin. „Erst mal rein mit euch! Der Tisch ist gedeckt. Die Überraschung läuft euch nicht weg!“ Der geheimnisvolle Besuch, mit dem sich die gute Madame so wichtig tat, mußte ihr sehr imponiert
haben. „Ich schlage vor, wir waschen uns in aller Ruhe die Hände“, erklärte Tati. „Aber sicher! So 'n dummes Theater! Die hält uns zum Narren mit ihrem Getue“, sagte Gérard. „Was für 'ne Überraschung soll das denn sein? Ganz normaler Besuch! Ha, vielleicht einer von unseren Lehrern mit seiner Frau..'?!“ „Unsere Lehrer fahren keine Autos mit derart weiten Radabständen“, grinste Superhirn. „Micha hat die Spuren im Kies gesehen! Wenn's kein Lastwagen war - und das war's nicht -, muß es eine Staatskarosse gewesen sein!“ „Vielleicht waren es die Eltern“, wandte sich Micha hoffnungsvoll an die Geschwister. „Quatsch!“ erwiderte Henri. „Vater hat einen Citroen. Die Reifenabdrücke hätte ich erkannt!“ „Ich auch!“ bekräftigte die Schwester. „Schluß jetzt!“ murrte Prosper. „Ich hab Hunger. Die einzige Überraschung, auf die ich neugierig bin, ist das Essen!“ „Aber fall nachher nicht aus dem Anzug, wenn's tatsächlich 'ne Bombe ist“, sagte Superhirn leise. An der Hangseite des Schlosses war die Terrasse. Wegen der einzigartigen Aussicht über Hafen, Bucht und See wurde sie der „Balkon des lieben Gottes“ genannt. Hier hatte Madame Claire den Tisch gedeckt. Sie brachte nun eine Terrine mit Fruchtsuppe. Tati folgte mit der Riesenschüssel voller Tomatensalat. Loulou war gleich bei seinem Napf in der Küche geblieben. Superhirn griff nach der knusprigen Weißbrotstange, brach ein Stück davon ab und tunkte es in seinen Suppenteller. „Ahhh...“, seufzte er wohlig. „In der Suppe ist Musik! Möchte wissen, wie viele Sorten Obst Sie dafür verwendet haben!“ Madame Claire, wieder auf dem Sprung, denn der Wurstsalat fehlte noch, drehte sich lachend um: „Das verrat ich nur, wenn du mir beim Kreuzworträtsel hilfst“, sagte sie. „Ich hab da ein kleines Problem, nein, zwei!“ „Schießen Sie los!“ rief Superhirn, eifrig die kühle Fruchtsuppe löffelnd. Er kannte das schon: Im Raten war die Wirtschafterin nicht so „preiswürdig“ wie in Haushalts- und Küchendingen. „Mir fehlt da ein Wort für Flugfrosch, elf Buchstaben. Ein A - mindestens - und ein O sind drin, das weiß ich schon.“ Micha ließ seine Serviette fallen, nachdem er gerade noch „Giganto“ gehaucht hatte. Superhirn warf ihm einen Blick durch die Brillengläser zu. Zum Glück spiegelte sich auf Michas Gesicht jetzt die Erkenntnis, daß Professor Charivaris geheimes Erd-Erkundungsschiff nicht mit einem „Flugfrosch“ zu vergleichen war und daß das Wort „Giganto“ nicht elf, sondern nur sieben Buchstaben umfaßte. Superhirn wirkte wieder ganz gelassen: „Ziemlich schweres Kreuzworträtsel, diesmal, Madame“, lächelte er. „Ich nehme an, es ist die Gattung Rhacaphorus gemeint, der die Arten der sogenannten Flugfrösche angehören. Soviel ich weiß, gibt's die Biester auf der Insel Madagaskar, sie haben Schwimmhäute, mit denen sie auch kurze Flüge machen können, Gleitflüge, versteht sich. Und was ist Ihr zweites Problem?“ „Ein anderes Wort für Druckluft“', antwortete Madame Claire. Prompt sagte Superhirn: „Das ist einfach. Preßluft! Prüfen Sie, ob's stimmt!“ Die Wirtschafterin wollte in die Küche. Doch Superhirns entschiedenes „Hallo, Madame, da wäre noch was!“ hielt sie zurück. Superhirn blinzelte: „Und nun mal raus mit Ihrer Überraschung! Oder ich helfe Ihnen nie wieder bei Ihren Kreuzworträtseln!“ Alle lachten. Denn knifflige Kreuzworträtsel waren Madame Claires schwächste Stelle. „Es wird bald dunkel. Wir möchten nicht mit 'ner freudigen Ungewißheit zu Bett“, grinste Superhirn. „Also, bitte: Wer war Ihr geheimnisvoller Besuch ... und was wollte er?“ Die Geschwister und Prosper und Gérard machten plötzlich Gesichter, als könnte ihnen die Antwort auf diese Frage vielleicht die süße Suppe versalzen.
Doch jetzt blinzelte auch die Wirtschafterin. Ihr rundes Näschen zuckte vergnügt. Völlig arglos und fröhlich erwiderte sie: „Ihr verderbt mir die ganze Freude!“ Sie seufzte, als hätte man ihr ein Stück Kuchen weggenommen. „Na, schön. Ich will euch nicht länger auf die Folter spannen. Ihr hättet es ja sowieso bald erfahren, denn in den Ferien geht man ja nicht so früh schlafen, und der Besuch wollte sich auf jeden Fall noch mal melden!“ „Wer?!“ fragten Henri und Micha zugleich. Jetzt platzte Madame Claire endlich mit ihrer Überraschung heraus: Tatis Schulfreundinnen!“ rief sie so begeistert, als habe sie eine großartige Freudenbotschaft zu verkünden. Sie klatschte sogar in die Hände. „Und ihr Bruder Paul aus Michas Klasse! Ihre Eltern haben bei Brac ein großes Ferienhaus gemietet! Dahin sollt ihr eingeladen werden!“ Wenn sie gedacht hatte, das würde die Gefährten von den Stühlen reißen, so hatte sie sich geirrt. Tati und Micha starrten verblüfft. Auch Henri begriff nicht. Gérard blickte mürrisch drein, und Prosper warf den Löffel auf den Teller. „Noch drei Typen?“ rief er. „Dann wären wir neun. Ich will nicht in einen Kegelklub! Auch nicht in ein Landschulheim! Noch dazu unter Aufsicht fremder Eltern!“ „Denkst du - ich?“ murrte Gérard. „Da bleib ich lieber hier und zupfe Unkraut!” Die gute Madame war fassungslos. Abgrundtief enttäuscht stammelte sie: „Ich dachte, ihr würdet euch riesig freuen! Und ... und ... ich könnt euch wirklich überraschen! Die Strandhäuser von Brac sind die schönsten, die es an der Küste gibt! Da habt ihr den herrlichsten, weißen Sand und das blaue Meer direkt vor der Tür!“ „Schon, schon“, sagte Tati rasch. „Nur, welche von meinen Freundinnen sind es? Ich habe mehrere!“ „Ich hab aber keinen Paul in meiner Klasse“, warf Micha lauthals ein. Das Gesicht der Wirtschafterin glättete sich wieder. „Du machst wohl Spaß?“ lachte sie. „Auch wenn dir Paul ganz und gar nicht gelegen käme, du kannst mir nicht weismachen, daß du ihn nicht kennst. Warte!“ Sie verschwand im Inneren des Hauses. Warnend zischte Superhirn: „Die gute Frau ist da einer sonderbaren Sache auf den Leim gegangen. Wir müssen rauskriegen, was das zu bedeuten hat. Und was sie uns auch immer anschleppt - ihr macht das Theater mit, verstanden?“ „Ich habe keine Freundinnen mit einem Bruder, der in Michas Klasse geht“, beharrte Tati. Gérard guckte im Kreis umher. „Wer ist nun eigentlich blöd? Ihr, Madame Claire - oder ich?“ „Da-da-das wollte ich auch fragen“, stotterte Prosper. „Blöd ist, wer nicht begreift, daß mit diesem Überraschungsbesuch etwas noch viel fauler ist, als wir zu Anfang vermuteten!“ sagte Superhirn scharf „Oberfaul, möcht ich meinen!“ Die anderen hatten sich von diesen Worten noch nicht erholt, da erschien Madame Claire wieder auf der Terrasse. Triumphierend schwenkte sie einen roten Gegenstand, offenbar ein Spielzeugauto. „Das hast du Paul mal geschenkt. Er schenkt es dir als Glücksbringer zurück!“ rief sie. „Micha kennt Paul nur bei seinem zweiten Vornamen, er hat sich inzwischen erinnert“, heuchelte Superhirn frischfröhlich drauflos. „Ja, ja“, sagte Micha wie im Traum. Superhirn nahm ihm das Spielzeugauto aus der Hand, betrachtete es mit messerscharfen Blicken durch die runden Brillengläser und rief scheinbar begeistert: „Mensch, Micha! Prima Idee, dir das als Talisman zurückzugeben! So was kittet die Freundschaft!“ Tati starrte ihn schweigend an, als hielte sie ihn trotz all seiner Mahnungen mittlerweile für wahnsinnig. Henri war dagegen sehr aufmerksam. Prosper und Gérard glotzten wie gekochte Fische. „Hübsches Spielzeug - ehrlich!“ fuhr Superhirn munter fort. „Und noch bestens in Ordnung! Aber es gehört nicht neben den Tomatensalat.“ Er bückte sich und stellte es auf den Boden. „Tomatensalat“ war für die Wirtschafterin das Stichwort, die Suppenteller auf ein Küchenwägelchen zu tun. Tati half ihr dabei. Als das Mädchen sich wieder gesetzt hatte und Madame Claire die Gedecke für das Hauptgericht
zurechtrückte, sagte Superhirn: „Ich schätze, wir werden uns doch für den Strand von Brac entscheiden, haha! Obwohl wir dort bestimmt nichts Feineres zu essen kriegen als bei Ihnen. Nur eines hab ich noch nicht begriffen. Oder ich hab's überhört.“ Er machte eine Pause und fragte dann langsam und betont: „Wer hat uns eingeladen? Ich frage, wer war heute hier?“ Madame Claire machte ein bestürztes Gesicht. „Da erzähle ich pausenlos...“ Sie faßte sich an die Stirn. „Ach, ja ... !“ Nun strahlte sie wieder. Tatis Freundinnen und der Bruder Paul waren selber nicht da. Es kam nur der Vater mit einem Fahrer. Sehr liebenswürdige Menschen, auch der Fahrer. Und das silbergraue Auto, ich sage euch - einfach ein Traum! So was kannte ich nur aus dem Fernsehen! Und der Vater von Tatis Freundinnen hat...“ jetzt war's um Tatis Beherrschung geschehen. Sie verschluckte sich. Micha klopfte ihr auf den Rücken. Prosper häufte Tomatensalat auf seinen Teller, obwohl ihm der Appetit längst vergangen war. Gérard biß sich krampfhaft auf die Lippen. Nur Henri wahrte schweigend die Fassung. Superhirn spielte das gespenstische Theater mit scheinbar steigender Laune weiter: „Sie sehen, Madame, wir sind platt! Zwei Männer in einem Klasse-Auto! Der Vater von Tatis Freundinnen und Michas Freund kommt extra her. Wahrscheinlich wollte er vorfühlen, ob wir da sind, wie? Es sollte eine Überraschung sein, und das haben Sie gemerkt! Deshalb haben Sie so lange damit hinterm Berg gehalten na, klar, haha ... !“ Die Gefährten, die Superhirn noch nie so geschwätzig erlebt hatten, saßen - außer Henri - wie vor den Kopf geschlagen. Und nun schoß Superhirn die entscheidende Frage ab: „Hat dieser Vater seinen Namen genannt?“ „Ja“, rief die Wirtschafterin überrumpelt, „wie war der noch ... ? Aber das müßt ihr doch längst wissen!“ Sie blickte auf Micha, der sich bereits vorhin zu seinem angeblichen Freund Paul bekannt hatte. „Moment“, unterbrach Superhirn sie so zwingend, daß die brave Madame keine Zeit hatte, ihre Gedanken zu sammeln. Er ging jetzt aufs Ganze. Dies wollte er wissen: Wer lauerte in der Gegend, um Henri, Tati, Micha, Prosper, Gérard. und ihn an den Strand zu locken? Freund oder Feind, Professor Charivari oder dessen grausiger Gegenspieler, jenes unbekannte Wesen aus dem Inneren der Erde? Rasch nahm Superhirn seinen Notizblock aus der Brusttasche, löste den Stift von der Magnetleiste und zeichnete das Gesicht des Professors - des mächtigen, väterlichen Freundes auf „Sah der Mann vielleicht so aus?” fragte er. Alle hielten den Atem an. Mit wenigen Strichen hatte Superhirn Charivaris Kopf samt Körper bis ungefähr zur Gürtellinie derart geübt skizziert, daß ihn jeder erkennen mußte, der ihn auch nur ein einziges Mal gesehen hatte. Dabei war er selbstverständlich darauf bedacht gewesen, den Mann nicht etwa in einem seiner technischen Spezialanzüge darzustellen. Die Umrisse des Oberkörpers waren angedeutet, aber so, daß sie die Hagerkeit eindeutig verrieten. Selbst das knappe Bild dieser gütigen Persönlichkeit (die die Gefährten zuletzt als GigantoKommandanten gesehen hatten) war so erschreckend, wie der auf Menschenschutz und Menschenwohl eingeschworene Mann auch als lebendige Figur im ersten Moment auf andere wirkte: Der kahle Schädel, der an eine Salatgurke erinnerte... Der fast armlange, strippenförmige, tiefschwarze Kinnbart im sonst glattrasierten, hohlwangigen Gesicht ... Ach, was hieß: im Gesicht! Der Bart war wie ein dünnes Fadenbündel „unter dem Gesicht“ - nämlich am Kinn - gewissermaßen „von Natur aus befestigt“. Er wirkte wie der Seidenschwanz eines fremdartigen Tieres, der sich dorthin „verirrt“ hatte ... Die schmalen Augen waren fast schwarz. Den typischen Fieberglanz, der Charivaris Blicke so zwingend und rätselhaft machte, konnte Superhirn allerdings nicht in seiner Zeichnung ausdrücken. Dafür aber die schwarzen Brauen, die der Eigenartigkeit des Bartes entsprachen ...
Madame Claire starrte verständnislos auf das Blatt. „Woher willst du denn den Vater von Michas und Tatis Mitschülern kennen?“ wunderte sie sich. Doch dann vergaß sie den Anlaß und sah sich Superhirns Skizze genauer an. Angesichts des gurkenförmigen Kahlschädels mit dem schwarzen Strippenbart mußte sie lachen. „Du willst wohl wieder einen deiner Scherze mit mir machen, he?“ Die gute Madame war an Superhirns spaßige Einfälle gewöhnt. Daß es sich hier um grauenhaften Ernst handelte, ahnte sie nicht. „Nein ... !“ Sie lachte noch immer. „So sah der Besuch nicht aus ... Wahrhaftig nicht ... !“ Auch Superhirn lachte, als hätte er die Wirtschafterin nur an der Nase herumführen wollen. Er konnte sich gut verstellen. Nicht aber vor Henri, Tati, Gérard und Prosper. Allenfalls durchschaute ihn Micha nicht, der ja der jüngste war. Und Gérard und Prosper mochten ihm auch gelegentlich auf den Leim gehen. Vor Henri und Tati galt keine „Maskerade“. Besonders vor dem Mädchen nicht. Mädchen - wie Tati - spüren bei annähernd Gleichaltrigen sofort das „Falschspiel“. Aber was alle zumindest ahnten, war, daß Superhirn seine Gründe hatte, sich gerade jetzt so lustig zu stellen. Obwohl sie durch den Test begriffen: Nicht ihr Freund, der Professor Charivari, war mit einem als Fahrer getarnten Labor-Assistenten (unter einer Ausrede) hiergewesen, sondern sein Todfeind, der rätselhafte Herrscher eines unbekannten, innerirdischen Menschenstaates. Superhirn lehnte sich zurück, als hätte er sich ein vergnügen daraus gemacht, Madame Claire zu frotzeln. „Ich wollte Sie auf die Probe stellen“, grinste er freundlich. „Nun sagen Sie mir bitte mal, wie sahen der Besucher und sein Fahrer nun wirklich aus? Fangen wir mit dem Vater von Tatis Freundinnen und Michas Mitschüler Paul an!“ Die Wirtschafterin merkte nicht, welches Entsetzen. die anderen im Bann gehalten hatte (und wachsend hielt). „Nichts einfacher als das!“ rief sie. „Der Vater ist das völlige Gegenteil der Zirkusfigur, die du gezeichnet hast!“ (Sie meinte Superhirns naturgetreue Skizze von Professor Dr. Brutto Charivari.) „Der Vater hatte keine Glatze. So schönes, volles Haar hab ich selten gesehen! Hach, und keine Rede von so einem Gesicht wie bei einem Plattfisch von vorn! Sein herrlicher, breiter Löwenkopf kann sich im Nationaltheater und im Fernsehen zeigen ... zur Freude von Hunderten - ach, was sage ich von Millionen von Zuschauern. Daß er dick ist, spielt keine Rolle. Große Menschen, ich meine Menschen mit großer Seele, ja, die dürfen dick sein, da gilt nur das Vornehme. Und so ein vornehmer Herr ist der Vater. So was merk ich doch! Da kann mir keiner was vortäuschen.” Tati wurde unruhig, aber da traf sie Superhirns eisiger Blick. Um ihre Unbefangenheit nicht zu verlieren, durfte Madame Claire keinerlei Verdacht schöpfen, daß hier etwas nicht in Ordnung war. Ihre letzten, ahnungslosen Worte wiesen eindeutig darauf hin: Der große Freund, Professor Charivari - etwa mit einem Labor-Assistenten als Fahrer - war nicht hiergewesen. Nicht er hatte die fünf jungen und das Mädchen unter den geschilderten Vorwänden einladen wollen! Dafür mußte es jetzt für mehr als wahrscheinlich gelten, daß sein Feind, der teuflische Ragamuffin, den Kindern auf der Spur war, um sie in eine Falle zu locken « Der Zweck lag auf der Hand: Alle, besonders aber Superhirn, sollten über die geheimen, technischen Einrichtungen, Errungenschaften und Pläne (im All, auf dem Grund der Weltmeere und unter der Erde) ausgehorcht werden. Selbst eine noch so kärgliche Bemerkung von Micha konnte für die Gegner von ungeheurer Wichtigkeit sein. Superhirn war mittlerweile in Schweiß gebadet. Doch mit staunenswerter Beherrschung sprach er im Plauderton weiter: Ein feiner Herr, der Vater von Tatis Freundinnen und von Michas Freund Paul ... Klar. Glaub ich. Außerdem können Sie das am besten beurteilen. Dieses Schloß...“, er kicherte, „... dieses Schloß ist ja keine ... - äh ... keine Gangsterbude. Wenn mein Onkel hier ist und wenn er Gäste hat...” „... dann kommen nur so edle und bescheidene Herrschaften wie der Besuch von vorhin!“ vollendete Madame Claire stolz. Sie verschränkte die Hände über dein Bauch. Über die „edlen und bescheidenen Herrschaften“ grinste Gérard, daß seine Mundwinkel fast die Ohrläppchen berührten.
Die anderen dagegen sahen Tati deutlich an, daß ihr nicht im geringsten zum Lachen zumute war: Sie fürchtete, der unbekannte Schreckensmensch und sein Fahrer könnten jeden Augenblick zurückkehren! „Was für Finger hatte' der Mann?“ platzte Prosper allzu direkt heraus. „Was für eine Stimme? Trug er einen Bart? Wenn ja: Was für einen ... ? Welche Farbe ... ?“ „Mensch! Bist du 'n lebender Fragebogen oder 'n Friseur?“ fuhr ihn Henri ärgerlich an. Er fand Prospers Art zu plump, und dann klang die „Bartfrage“ zu sehr nach Quiz. So, als habe die Wirtschafterin in ihrer Antwort zwischen Moses-Bärten, Babylonier-, Assyrer-, Perser-, Griechenund Römer-Barttrachten zu unterscheiden - und schließlich noch die Kaiserbärte, Fischerfräsen, Mogul-Zwirbel, Altprofessoren-Gesichtsfußsäcke und den verschiedenen Schnurrbartarten zu wählen. Doch eines hatte Henri vergessen: Madame Claire war ja eine begeisterte Kreuzworträtsellöserin. Und so sagte sie wie aus der Pistole geschossen: „Gepflegter, sehr dichter und breiter Gelehrtenvollbart! So einen, den man früher Wallebart genannt hätte. Ich hab seinen hellen Glanz bewundert. Goldglanz würde ich das nennen! ja, und die starken, großen, kraftvollen Hände mit den breiten Fingern ... die paßten so recht zu seiner wunderschönen Baßstimme. Er sprach volltönend wie ein Opernsänger.“ Jetzt sprang Tati auf. Ihr Gesicht war vor Entsetzen verzerrt. Charivari war hager, groß, hatte einen lackschwarzen Fadenbart, sehr feine, längliche, fast damenhafte Finger - und seine Stimme war weich, sanft, leise. In dem dicken wallebärtigen „Löwenkopf“ mit den Pranken und der angeblich volltönenden Opernsängerstimme schilderte Madame Claire eine derart gegensätzliche Person, daß man sogar noch nicht mal mehr hoffen konnte, Professor Charivari sei vielleicht verkleidet erschienen ... ! Henri sah Superhirn an. Seine Blicke signalisierten: Flucht! Alles stehen- und liegenlassen. Nur weg von hier, bevor es zu spät ist! Die Wirtschafterin hob die Brauen. „Tati! Was ist denn mit dir? Hat dich was gestochen?“ „N-n-nein“, stammelte das Mädchen. „Der Pudel. Der ... der ist gerade auf die Terrasse gekommen.“ Sie bückte sich rasch, um Loulou zu streicheln. Das Tier erwiderte die Liebkosung nicht mit einem Freudenlaut, einem behaglichen Schniefen wie sonst. Es begann seltsamerweise mörderisch zu knurren. Das klang so ungewohnt, als sei eine Alarmanlage in Tätigkeit. Geistesgegenwärtig griff Superhirn unter den Tisch und riß das Spielzeugauto an sich, das der Unbekannte für Micha dagelassen hatte. Wäre der spindeldürre Junge nicht tatsächlich ein „Superhirn“ gewesen, so hätte er jetzt laut aufgeschrien. Das scheinbare „Spielzeug“ vibrierte in seiner Hand! Ein getarnter Plastiksprengkörper mit eingebauter Zeituhr! Der Pudel mußte das Ding mit der Schnauze angestupst haben - darum sein Knurren! Superhirn täuschte den Arglosen vor. Flink, aber nicht in zu verdächtiger Eile stand er auf. „Loulou gefällt das Ding nicht“, sagte er. Daß er den Satz trotz größter Beherrschung mit einem Schlucken hervorbrachte, machte die anderen nicht stutzig. Superhirn lächelte ja dabei. Im abendlichen Dämmerlicht, besonders gegen die untergehende Sonne, sah auch keiner, daß sein Lächeln eine eisige Fratze war. „Madame Claire kann ja inzwischen das Eis mit den Himbeeren bringen!“ Superhirn lief über die Terrasse, an der Rückfront des Gebäudes entlang. „Hallo!“ schrie Micha. „Wohin mit dem Auto?“ „Ins Gartenhaus' Ich steck´s in deinen Campingbeutel!“ Nun lag Michas Campingbeutel nicht mehr im Gartenhaus, doch Micha wußte nie genau, wo er seine Sachen hatte - und Superhirn hoffte, er würde sich nicht jetzt erinnern. Wohin mit der Bombe ... ? Superhirn rannte jetzt wie ein Wilder. Er rannte auf den großen, alten Brunnen zu, der ein hohes, säulengetragenes Dach hatte, aber keinen unmittelbar aufliegenden Deckel!
Er warf das gespenstische „Spielzeug“ in die Tiefe und hörte es - wie ihm schien, nach einer Ewigkeit - drunten im Wasser aufklatschen. Jetzt wollte er zurückjagen. Patsch - prallte er gegen Tati und Micha. Hinter den beiden näherten sich Henri, Prosper und Gérard. Loulou war nicht zu sehen. Verflixt: Der Pudel schien als einziger den richtigen „Riecher“ zu haben ... ! „Was soll denn das mit Michas Campingbeutel...?“ begann Tati. „Ich hab ihn selber in Michas Schrank gehängt.“ „Und wa-wa-warum bist du in die verkehrte Richtung gelaufen?“ wollte Prosper wissen. „Das GaGa-Gartenhaus liegt doch vorm Küchenausgang ... ?“ Nun wurde es Superhirn zu toll. Im Brunnen die getarnte Bombe, deren Sprengkraft keiner kannte - und er sollte mit den anderen ein paar Schritt weiter ein gemütliches Plauderstündchen halten! „Deckung ... !!!“ schrie er. „Los, ins Haus, auf die Terrasse, die Böschung runter! Wir müssen Madame Claire sagen: retten ... !“ Er kam nicht dazu, auszureden. Das einzige, was ihm noch einfiel, war der fieberhafte Befehl: „Hinlegen ... Achtung!” 3. Signale aus dem Brunnen Tati, Henri, Micha, Prosper, Gérard und Superhirn lagen auf dem Kies oder in den Blumenbeeten. Sie hatten begriffen - und sie warteten wie erstarrt auf den Donner der Explosion, auf umherfliegende Steinbrocken und Erdklumpen. Die größte Dummheit, dachte Superhirn noch, die größte Dummheit ist, daß ich den Sprengkörper in die Tiefe geworfen habe! Jetzt kommt die Sprengung von unten herauf und reißt uns in ihren Krater! Doch weder erfolgte ein trommelfellzerschmetterndes Krachen, noch tat sich die Erde auf Lediglich hohle Summtöne, lange und kurze, waren aus dem Brunnenschacht zu hören ... „Die Zündung“' jammerte Micha. „Das ist ein Zündungsgeräusch!“ „Quatsch!“ brummte Gérard. Er hob den Kopf und sah verblüfft, daß Superhirn wieder auf den Beinen war. „Was i-i-ist. . .?“ ächzte Prosper. Er stand auch auf. Gérard klopfte sich den Staub ab. „Ist doch nur 'n gewöhnliches Spielzeug! Hört doch. Es tutet! Gibt's vielleicht nicht ne Menge solcher Dinger mit eingebauten Tuten?“ „Ja“, sagte Superhirn. Er machte eine hastige Handbewegung und lauschte zum Brunnen hin. „Ja!“, wiederholte er. „Tuten in Spielzeugautos gibt es, aber nicht solche, die meinen Namen morsen!“ Jetzt waren auch die anderen wieder auf den Füßen. „Du spinnst!“ rief Tati. „Überhaupt - ein Wahnsinn, Sachen von Fremden anzunehmen. Du hättest das Ding gleich den Hang runterschmeißen sollen. Jeden Tag liest man, was sich Verbrecher alles ausdenken. Neulich wären Leute in Barcelona beinahe mit 'ner Hochzeitstorte hochgegangen, in der 'ne Bombe war. Ein Unbekannter hatte sie geliefert.“ „Schon gut“, unterbrach Henri sie. Es war völlig klar, was die Schwester meinte. Nicht nur Kindern, auch Erwachsenen konnte nicht oft genug eingebleut werden, keine Geschenke und Sendungen zweifel- oder gar rätselhafter Herkunft anzunehmen. Aber der Augenblick war denkbar ungünstig, etwa darüber zu palavern. Wichtiger war jetzt, auf die Summtöne aus dem Brunnen zu lauschen. Das kleine Auto funkte Morsetöne! kurz kurz kurz, kurz kurz lang, kurz lang lang kurz, kurz, kurz lang kurz, kurz kurz kurz kurz, kurz kurz, kurz lang kurz, lang kurz. Und das hieß: Superhirn ... ! „Kein Spielzeugauto!“ stellte der spindeldürre junge entschieden fest. „Ich hätte es mir denken sollen, ich Idiot: Die Feinde des Professors würden uns nichts tun, sie - wollen ja was von uns über
Charivari rauskriegen.“ Er lief auf den Brunnen zu und beugte sich über den Rand. Hohl, aber desto deutlicher drangen die akustischen Zeichen an sein Ohr: „Superhirn, nimm mich in die Hand!“ Auch Prosper verstand den „Notschrei“ des Spielzeugautos. „Wi-wi-wir sind doch nicht im Märchen“, ärgerte er sich. „Mir scheint, ganz im Gegenteil“, wies ihn Tati zurecht. „Ich gehe jetzt mit Micha ins Haus und esse Eis. Laß das Auto, Superhirn! Der Brunnen ist sehr tief, und der Wasserstand ist zu niedrig. So lange Arme hast du nicht.“ Plötzlich hörten sie Madame Claires Stimme vom Eingang des Hauses: „Was macht ihr denn da? Ich such euch auf der Terrasse! Dachte schon, ihr wäret den Hang hinuntergelaufen!“ „Wir kommen!“ erwiderte Tati laut. „Superhirn hat Michas Glücksbringer in den Brunnen geschmissen!“ Bevor die Wirtschafterin noch etwas fragen konnte, nahm sie Micha beim Arm und schob ihn ins Haus. Nach kurzem Zögern folgten Prosper und Gérard. Gérard meinte noch: „Tati hat recht. Heute holen wir das Ding da nicht mehr raus.“ Superhirn und Henri blieben allein am Brunnen. „Glaubst du, das Spielzeugauto ist eine Sendung, eine Botschaft von Professor Charivari?“ fragte Henri. „Ja!“ antwortete der Freund energisch. „Und ich bin jetzt auch überzeugt davon, daß der Besuch vorhin - nicht der getarnte Ragamuffin war, sondern der raffiniert getarnte Professor!“ „Und was macht dich so sicher?“ „Einfach das: Wer uns einen solchen Bären aufbindet mit Vater von Tatis Freundinnen und Michas Freund Paul, also Leuten, die keiner von uns kennt, der rechnet entweder mit unserer Doofheit...“ „... mit sagenhafter Doofheit!“ fiel Henri ein. „Oder damit, daß wir rasch begreifen! Die Verkleidung dieses Vaters leuchtet mir immer mehr ein“, erklärte Superhirn. „Unser Freund, Professor Charivari, hat das ganze Gegenteil aus sich gemacht: dichte Perücke, falscher Wallebart, Körperpolster, um dick zu erscheinen. Mehrere Paar Handschuhe übereinander - ach, da gibt's doch Tricks genug. Den silbergrauen Wagen kann er sich stunden- oder tageweise gemietet haben. Samt Fahrer.“ „Aber die starke Stimme kann sich keiner pumpen, wenn einer von Natur aus 'ne weiche, sanfte Stimme hat“, wandte Henri ein. „Zwar hab ich Charivari schon toben hören, daß die Wände wackelten, aber im Zorn ... Mit Madame Claire wird er doch nicht herumgebrüllt haben!“ „Trotzdem!“ Superhirn spähte in den Brunnen. Er sah nichts, um so weniger, als es inzwischen fast dunkel geworden war. „Das Summen hat aufgehört“, sagte Henri. „Ja. Dann hilft´s nichts. Gehen wir!“ Kaum hatte Superhirn sich abgewendet, als ihm etwas auf den Kopf flog. Aber das war nicht etwa wie ein „Schlag auf die Birne“, sondern eher so was wie eine „weiche Landung“. Superhirn schrie leise auf und griff unwillkürlich schützend mit der einen Hand ins Genick, mit der anderen über die Brille, denn er glaubte im ersten Schreck, es sei eine Eule. Vor einigen Tagen hatte sich nämlich eine in die spärlichen Haare des Gärtners gestürzt. ihm in die Stirn gehackt und Nacken und Halspartie umkrallt. Ein Forstbeamter hatte dazu gesagt: „Kommt vor! Selten zwar, aber es kommt vor. Und so 'ne Vogelkralle in der Halsschlagader - danke schön!” Eine „Eulen-Attacke“ blieb jedoch auch in Monton Ausnahme, wie Superhirn gleich darauf feststellte. Allerdings war die „Kopflandung“ in anderer Weise eine Sensation: Was Superhirn sich wie eine Mütze vorn Kopf nahm, entpuppte sich als das „Spielzeug“ aus dem Brunnen. Henri plumpste vor Lachen rückwärts auf den Kies. Er konnte Superhirns Gesichtsausdruck nicht sehen, doch er ahnte ihn. „Steh auf!“ befahl der Freund hastig. „Das ist nicht zum Wiehern! Das Auto war doch im Brunnen, tief unten, im Wasser!“ „Ja, und?“ Henri stand auf. Er war wieder ernst.
„Das Ding ist durch Fernsteuerung rausgekommen. Und es ist knochentrocken. Nimmt kein Wasser an, muß demnach aus besonderem Stoff sein. Da! Es gibt meinen Fingerspitzen laufend Mitteilungen. Durch Vibration! Durch längeres und kürzeres Zittern. Lang- und Kurzzeichen nach dem Morsesystem!“ Beide standen still. Henri wartete, was Superhirn weiter zu berichten hatte. ,Pas muß eine Nachricht von Professor Charivari sein!“ beharrte Superhirn flüsternd. „Die Meldung lautet: Wir sollen das Auto an eine unübersichtliche Stelle im Park bringen - und alles andere im Inneren der Villa abwarten! - Komm!“ Gefolgt von Henri, zwängte er sich am Brunnen vorbei in die Büsche. Auf einer kleinen Lichtung setzte er das seltsame „Nachrichtengerät“ ab. „Schätze, hier wird nachher ein Fahrzeug in normaler Autogröße stehen. Und wenn ich mich nicht sehr irre, wird es uns zu Charivaris Erdschiff Giganto bringen“, meinte er. „Los, schnell ins Haus!“ Im Laufen fragte Henri: „Wie ist es möglich, daß das Ding dich angesprochen' hat?“ „Es ist 'ne Spezialkonstruktion: Professor Charivari hat alle unsere Persönlichkeitsmerkmale, Alter, Geschlecht, sämtliche Körpermaße, Blutgruppen und so weiter. Auch unsere Stimmporträts und unsere Psychogramme. Alles das, was den Menschen unverwechselbar vom anderen unterscheidet. Genau, wie man bisher auf der ganzen Welt nicht zwei Fingerabdrücke gefunden hat, die einander völlig gleichen, und die deshalb in der Kriminalistik so wichtig geworden sind. Diese Persönlichkeitsmerkmale hat er als „Daten“ in das vermeintliche Spielzeug eingespeichert, und dabei mir den Vorrang gegeben!“ „Damit das Ding dich erkennt und dich ruft'?“ „Micha oder den Pudel hätte es auch rufen können, nur mit weniger Erfolg“, kicherte Superhirn, „Hat der' Apparat deutlich gesagt', daß er vom Professor kommt?“ „Nein. Aber nur Professor Charivari versteht sich auf solche Mittel. Die Ragamuffin-Leute arbeiten nicht mit Technologie, sondern mit Magie. Das ist längst raus. ..“ Im Terrassenzimmer saßen Tati, Prosper, Gérard und Micha um den großen, ovalen Tisch. Loulou kauerte friedlich zu Tatis Füßen. „Ihr kriegt nur zerlaufenes Eis!“ rief die Wirtschafterin. „Lange genug haben wir auf euch gewartet!“ „Macht nichts“, erwiderte Superhirn gemütlich . Dann fragte er so nebenbei: „Wie hieß noch rasch der Vater von Tatis und Michas Bekannten?“ Prompt kam Madame Claires Antwort: „Ivar Raich.“ Sie sprach es etwas im Küstendialekt. „Ja, manchmal merk ich mir solche ausgefallenen Namen gut! Meine Kreuzworträtsel sind eine gute Gedächtnisübung!“ Als sie in die Küche gegangen war, nahm Superhirn den Notizblock aus der Hemdtasche und schrieb: Ivar Raich; dann, alphabetisch: Aachiirrv, und stellte daraus den Namen: Charivari zusammen. Henri berichtete hastig, was sie mit dem „Spielzeugauto” erlebt hatten - und was Superhirn dazu meinte. „Wir sollen hier im Haus auf weitere Anweisungen warten“, schloß er seinen Bericht. ,Also doch vom Professor“, sagte Gérard erleichtert, als Superhirn die Notiz von Hand zu Hand gehen ließ. Fast vergnügt fügte er hinzu: „Na, dann geht's bestimmt wieder rund!“ In diesem Augenblick läutete das Telefon.
4. „Willkommen im Erdschiff Giganto!“ „Halt!“ rief Henri. „Tati geht an den Apparat! Wollte sich der komische Vater nicht noch mal melden?“ Das Mädchen nahm den Hörer. Prosper quetschte sein Ohr, so gut es ging, an das ihre.
„Hier Villa Monton“, sagte Tati schluckend. „Grüß dich, Tati!“ zwitscherte eine helle Stimme. „Hier ist deine Freundin Moni! Wir rufen aus deiner Gegend an. Meine Schwester Tora steht neben mir, Hotelhalle Erdgeschoß! Wir haben uns gigantisch gefreut, als wir zufällig erfuhren, daß ihr da seid. Paul, der kleine Brigant, will Micha sehen!“ Tati ließ den Hörer sinken und starrte Superhirn an. Verständnislos wisperte sie: „Freundin Moni? Schwester Tora, Paul, der kleine Bri ... Brigant?“ Superhirn griff nach dem Hörer. Diesmal lauschte Henri mit. „Hier ist Paul“, erklang jetzt eine Jungenstimme. „Ist Vaters Auto schon da? Es ist nicht der silbergraue Rolls-Royce, sondern unser Zweitwagen. Steigt einfach ein, zieht ein paar Tage zu uns! Unser Ferienhaus ist groß genug! Es ist auch ein Bonbon-Automat für Micha da! Gérard und Prosper kommen natürlich mit, ja? Und Superhirn! Haha - auch der Pudel! Verstanden ... ?“ „Verstanden!“ erwiderte Superhirn. Er bemerkte, daß die Wirtschafterin neugierig an der Tür stand. Schnell sprach er drauflos: „Heute noch? Gut! ja, Madame Claire hat uns vorbereitet! Prima! Wo wartet das Auto? So - unter dem Hang. Gut. Wir kommen sofort den Pfad runter!“ Im Hörer ertönte nun eine tiefe Stimme: „Hier spricht der Vater! Kommt rasch! Unwettergefahr! Alarmstufe l!“ Die Verbindung brach ab, ohne daß es knackte. „Alarmstufe l“, das hieß „höchste Gefahr!“ Geistesgegenwärtig schwindelte Superhirn: „Sie haben nicht zuviel versprochen, Madame. Tolle Einladung! Alles ist vorbereitet! Nicht mal Waschzeug brauchen wir! Na, denn los! Sowie wir in dem Ferienhaus sind, rufen wir Sie an!“ „Aber bestimmt!“ bat die Wirtschafterin bestürzt. Einen so hastigen Aufbruch ihrer Feriengäste hatte sie nicht erwartet. „Ruft ganz bestimmt an, versprecht mir das!“ „Auf Ehre!“ rief Superhirn. „Keine Sorge! Ruhen Sie sich mal ein Weilchen von uns aus.“ Drei Minuten später verharrten die sechs mit dem Pudel auf dem Fußpfad nach Monton. „Mir ist die Sache nicht geheuer“, seufzte Tati. „Freundin Moni... und Tora! Und Paulchen, der Brigant...“ „Mensch, be-be-begreif doch!“ stammelte Prosper erregt. „Moni und Tora, das weist auf Monitor hin! Monitor ist Charivaris geheime Station im All! Auch seine größten Raumschiffe heißen Monitore! Und dann: .. . gigantisch gefreut - und Erdgeschoß? Das bedeutet Erd-Erkundungsschiff Giganto. Mit Paul, der Brigant, klingelt´s noch deutlicher in meinem Ohr. Briganto und Rasanto sind die kleineren Brüder vom Giganto!“ „Und für Micha ist ein Bonbon-Automat da“, sagte Superhirn. „Wo haben wir so viel Spaß mit einem Bonbon-Apparat gehabt, he? In Professor Charivaris Erdschiff Giganto! Das Ferienhaus ist nur ein weiteres Deckwort. Ich wette, der Professor ist mit der Erdrakete hier irgendwo in der Nähe aufgetaucht!“ ,Aber warum rufen uns dann Kinder an?“ zögerte Tati. „Und der Vater!“ fügte Superhirn ruhig hinzu. „Wetten wir? Professor Charivari hat ein Gerät, das seine eigene Stimme in jeden gewünschten Stimmklang übertragen kann! Na, das klären wir schon. Für mich gibt's keinen Zweifel, daß er uns erwartet. Übrigens: Er sprach von Alarmstufe 1'. Das heißt, wir müssen uns beeilen! Das Spielzeugauto gab mir Weisung, es in den Park zu stellen. Bestimmt nicht umsonst! Kommt, wir schleichen zurück!“ Micha verstand das alles nicht. „Meinst du, wir sollen uns alle sechs in ein Spielzeugauto klemmen?“ fragte er Superhirn. „Werden sehen“, war die knappe Antwort. Als sie in weitem Abstand den Brunnen umgangen hatten, hörten sie einen Summton. Dann leuchtete blitzschnell ein Auto auf: das „Spielzeugauto“, jetzt in der Größe eines normalen Wagens. Micha wich zurück. Tati nahm den Pudel auf den Arm. Sonderbarerweise sträubte sich das Tier nicht. „Seid still! Einsteigen!“ wisperte Henri. Sie brauchten die Türen der Limousine nicht zu öffnen. Die sprangen lautlos von selber auf
Superhirn setzte sich mit Henri und dem dünnen Prosper auf die vorderen Sitze. Tati, Micha und Gérard krochen mit dem Pudel nach hinten. Als alle saßen, ertönte eine ausdruckslose Stimme - offenbar aus dem Autoradio: „Anschnallen! Festhalten!“ Die Türen schlossen sich. Schweigend warteten die Insassen, was nun geschehen würde. Kein Parklicht, kein Abblendlicht und kein Scheinwerfer leuchtete auf. Ängstlich brach Micha die Stille: „Ich ... ich bin gespannt, wann´s losgeht ... !“ „Ich spür´s, wir fahren nicht, wir steigen. Wir sind genau über dem Park und gehen jetzt auf Vorwärtskurs“, rief Superhirn. „Seht, da vorn: Die Hafenlichter ... !“ „Was denn? In die Luft gehen wir?“ rief Gérard. „Ich denke, in die Erde! Wenigstens zu Charivaris Erdschiffliegeplatz!“ „Zum Erdschiff!“ echote Micha. „Zum Giganto!“ „Laß dieses komische Auto sofort landen“, forderte Tati. „Superhirn! Hörst du nicht?“ „Erst mal können vor Lachen“, erwiderte der spindeldürre Junge. „Die Lenkvorrichtung ist außer Kraft. Da kann ich drehen, ziehen und drücken, wie ich will. Wir werden ferngesteuert!“ „Ich ... ich ... ich springe raus!“ Prospers Stimme überschlug sich. „Unten ist Wasser. Ich springe. Er machte ein verängstigtes Gesicht. „Dir ist dein Verstand schon davongesprungen!“ unterbrach ihn Henri. „Bist du 'ne Möwe? Wir sausen jetzt in etwa hundert Meter Höhe über die neue Brücke! Wenn du aufs Wasser knallst, bist du weg!“' „Fallgeschwindigkeit 150 km/st!“ bestätigte Superhirn. „Das Wasser würde dich regelrecht totschlagen.“ Er tastete umher. „Die Fenster kann man nicht öffnen. Auch die Türen sind so dicht, als wären sie zugeschweißt.“ „Aber...“ Prosper starrte nach vorn. Das merkwürdige Schwebeauto befand sich direkt im Licht des Mondes, das sich von fern her auf dem Wasser spiegelte. Selbständig hatte das Fahrzeug den Kurs gewechselt. Im grüngelblichen Schimmer, der das Innere schwach erleuchtete, wirkte Prospers Nase noch spitzer als sonst. „Aber wir sind schon über der offenen See ... !“ „Na und? Da kannst du erst recht nicht rausspringen“, meinte Henri. Er wandte sich an Superhirn: „Was glaubst du: Was ist das für eine Kiste, in der wir hocken?“ „Ein Mehrzweck-Leisestrahl-Fahrzeug aus Relaxoplast“, antwortete Superhirn prompt. „Eine Erfindung, die nur von einem einzigen stammen kann: von Professor Charivari. Deshalb: Nur Ruhe! Wir werden nicht im Bauch eines feuerspeienden Drachens ins Reich der Fabel geschleppt.“ Er lachte. „Übrigens hat er das Auto nicht gezaubert, wie Micha vielleicht glaubt. Er ist der Normalwissenschaft nur ein bißchen voraus. Bedeutende Gelehrte knobeln seit langem an der Verwirklichung der Idee: Wie kann man Dinge durch Veränderung und Steuerung der MolekularAbstände verkleinern oder vergrößern?“ „Aber wenn er uns jetzt nicht richtig fernsteuert?“ murmelte Tati, noch immer höchst besorgt. „Ich dachte, ihr seid sicher, daß das Erdschiff Giganto in der Gegend von Brac wartet!“ „Ja, und dabei kurven wir jetzt um einen scheußlichen Felsen!“ rief Prosper. „Und dahinter liegt der Hammer der Sieben Meere.“ Der „Hammer der Sieben Meere“ war das Wrack eines englischen Frachtdampfers. Er war vor Jahren im Sturm gestrandet und steckte wie ein auf der Seite schlafender Riese im Sand. Trotz seines stolzen Namens hatte nun ihn der Hammer getroffen, der unerbittliche Hammer der See, deren donnernde Brandung für alle Ewigkeiten über ihn hinweggehen würde. Jedes Jahr kletterten neue Sprengkommandos unter großer Gefahr an Bord, um wenigstens Teile der teuren Maschine zu bergen. Bisher umsonst. Einer, der angeseilt drei Tage und drei Nächte wie ein Zirkuskünstler im Schiffsbauch hin und her gependelt war, hatte danach in eine Heilanstalt gemußt: Er war buchstäblich verrückt geworden. Auch ihn hatte der Hammer der See getroffen. „Warum fliegen immer nur die Möwen um das Schiff herum?“ flüsterte Micha. „Was gibt's denn für die noch zu holen...“ Er unterbrach sich und fragte entsetzt: „Wir landen doch nicht etwa auf dem Wrack?” „Sieht so aus“, sagte Superhirn wie zu sich selbst. Auch er war jetzt besorgt.
Das Schwebemobil umkurvte den gestrandeten Frachter beängstigend tief und nahe. Teile der herausragenden Aufbauten und über den Rumpf hinwegrauschender Brandungsgischt schimmerten im Licht des Mondes. Der dicke, altmodische Schornstein wirkte wie ein dunkler Schlund. „Wir fahren da rein ... !“ ächzte Prosper. „Die Schornsteinhöhle ... sie saugt uns an! Sie saugt uns ins innere ... !“ „Was willst du denn?“ fragte Henri ruhig. „Nimm die Hände vom Gesicht! Du hast dich geirrt. Das Wrack ist nicht unser Ziel gewesen! Wir sind längst wieder auf Gegenkurs! Siehst du die Brücke von Brac? Rechts ist die Bucht und der Hafen von Monton! Nun sausen wir über den Ferienstrand ... über die hohen Tafelfelsen ... Richte dich nach dem Leuchtturm! Da!” „Schaut nur, unser Fahrzeug geht plötzlich runter wie ein Hubschrauber!“ bemerkte Superhirn. „Haha - wir stehen schon, wir sind gelandet! Drei, vier Kilometer von der Küste entfernt! Könnt ihr was erkennen? Ganz öde Gegend, scheint mir!“ Plötzlich leuchtete vor ihnen eine Einfahrt auf: Als hätte der Pförtner einer enormen Tiefgarage gleißendes Licht eingeschaltet. Aber in dieser Gegend gab es keine Tiefgaragen. Es war der Rumpf eines technischen „Ungeheuers“, der eine seiner Luken geöffnet hatte. Eine Lastenrampe schob sich wie die „Zunge“ dieses „Ungeheuers“ heraus, das Auto rollte an und fuhr so sicher darüber hinweg, als sei es „eingefädelt“! Und plötzlich ertönte die freundliche Stimme Professor Charivaris: „Willkommen an Bord meines Erdschiffs Giganto!“ 5. Eisgedanken aus der Tiefe! Die Türen des Autos waren aufgesprungen, doch die Öffnung in der Wand der Erdrakete hatte sich bereits geschlossen. Tati, Micha, Gérard, Superhirn, Prosper und Henri stiegen blinzelnd aus. Die Helligkeit im Lasten-Raum des Giganto blendete sie. Freudig bellend hopste Loulou auf die hagere Gestalt Professor Charivaris zu. Der kahlschädlige Mann mit dem lackschwarzen Fadenbart lächelte. Seine schmalen, etwas schrägen Augen unter den dunklen Brauen glänzten wie gewohnt. Und seine Stimme war weich, fast sanft, als er den Pudel scherzhaft ansprach. Charivari war ähnlich gekleidet, wie ihn alle sechs (samt Hund!) zuletzt gesehen hatten: Er wirkte wie der Trainer eines Sportklubs. Wenigstens auf den ersten Blick. Sah man genauer hin, bemerkte man, daß der scheinbare „Trainingsanzug“ eine raffinierte technische Kombination mit vielen schräg und waagerecht angebrachten Taschen, Leisten, Knöpfen und reißverschlußähnlichen „Zügen“ war. Auch die Ringe an seinen schmalen Händen dienten nicht als Zierde, sondern zum Empfang und zur Ausstrahlung verschiedener Signale. Professor Charivari war seine eigene, wandelnde Befehlszentrale. „So, nun seid ihr in Sicherheit“, sagte er erleichtert. „Ich mußte euch bei der Fernsteuerung ein wenig in die Irre lotsen. Wegen möglicher Verfolger.“ „Und warum haben Sie uns auch vorher an der Nase herumgeführt?“ fragte Tati. “Nicht euch, sondern unsere Feinde“, stellte der Professor richtig. „Habe ich nicht am Telefon etwas von Alarmstufe l erwähnt?“ „Ja, aber das Theater mit dem komischen Besuch! Mit dem Fahrer in der silbergrauen Staatskarosse. Waren Sie wirklich dieser unbekannte Vater'?“ bohrte Tati weiter. Charivari nickte. Superhirn und Henri hätten gern auf der Stelle gewußt, welche direkte Gefahr ihnen drohte. Doch jetzt, da er seine jungen Freunde hier hatte, war der Professor beruhigt. Er antwortete auf Tatis Frage: „Nun, der silbergraue Rolls-Royce gehört mir. Der Fahrer, einer meiner Assistenten, hat ihn bereits wieder nach Lyon gebracht. Tja, und warum ich maskiert zu Madame Claire kam? Ich mußte ihr einen Vorwand liefern, damit sie euch gehen ließ. Deshalb die Komödie.“ Er bestätigte dem ungläubigen Micha wiederholt, daß er wirklich der verkleidete und geschickt maskierte „Vater“ von Tatis angeblichen Schulfreundinnen und dem nicht vorhandenen Freund Paul“ gewesen war. „Klar! Ich habe Stimmveränderungs-Geräte“, lachte er auf Superhirns Frage. „Wenn ich da hineinspreche, kann ich - je nach Druck auf eine Vorwahltaste - für den Empfänger wie eine alte Dame, ein herrischer Brummbaß oder ein kleines Mädchen klingen. Auch als ich mich mit Madame Claire unterhielt, trug ich so ein Ding im falschen Wallebart, allerdings ein kleines - mit nur einer
Fremdstimme'. „Da fällt mir ein: Wir müssen Madame Claire sofort anrufen“, rief Micha. „Ja“, nickte Charivari. „Aber erst mal in den Lift und in die Desinfektions- und Registrierungsschleuse: Alle Persönlichkeitsdaten - und sogar die des Pudels - sind im Giganto eingespeichert. Die Strahlen, die euch abtasten, sowie die übrigen in der Kontrollschleuse verborgenen Meß-Systeme werden also keinen Bord-Alarm auslösen. Danach führte der Professor seine jungen Gäste in den Befehlsraum des Erd-Erkundungsschiffes. „Irre ich mich - oder ist's hier noch schicker geworden?“ rief Tati begeistert. Sie blickte auf die bequemen Sessel und Bänke. Und wieder - wie schon zweimal glaubte sie, in einer Hotelhalle zu sein. „Du irrst dich nicht“, lächelte Charivari. „Das ist der neue Giganto. Der alte liegt zusammen mit den Erdraketen Rasanto und Briganto in meinen Südpolwerften.“ Er zog ein Kästchen aus der Tasche. „Aber wir wollen erst mal mit Madame Claire telefonieren.“ Micha riß die Augen auf. „Das ist ein Telefon?” Charivari lächelte. „Das Neueste aus meinem Charivarium. Es enthält in mikroskopischer Winzigkeit die Telefonnummern sämtlicher Anschlüsse der Erde ... ach, was sage ich: Tausende und Abertausende von Telefonverzeichnissen. Telefonbücher, gewissermaßen, aber so winzige, daß viele von ihnen in einen Stecknadelkopf hineinpassen würden. Dieses drahtlose Fernsprechgerät ist gleichzeitig eine Fernsprechauskunft: Es läßt auf Befragung die gewünschte Nummer in Leuchtschrift erscheinen. Dann tippe ich die Zahlen nacheinander in das Ding hinein - und der Anschluß ist da. Hier, Tati. Versuch mal dein Glück: Ruf Madame Claire in Monton an - die Nummer weißt du ja. Sag ihr, du hättest deine Freundinnen getroffen, das Ferienhaus sei aber doch etwas weiter abgelegen, als ihr gemeint hättet, es wär aber herrlich da - und so weiter, und so weiter. Und ihr würdet euch wieder melden! „Alles funktionierte, wie der Professor gesagt hatte. Madame Claire meldete sich. Sie war noch wach gewesen und hatte, wie sie aufgeregt erklärte, „keine Ruhe gehabt“. Nun aber sei ja alles „in schönster Ordnung”! Auch Superhirn sprach ein paar Worte mit der Wirtschafterin. Er beendete das Gespräch mit der tröstlichen Versicherung, sie würden sich in den nächsten Tagen wieder melden. Prosper stand da mit offenem Mund. „Wie kommen Sie denn in die Telefonleitung von Madame Claire hinein?“ „Nichts einfacher als das. Das kannst du mit jedem Autotelefon machen. Es funkt eine Zentrale an, und das Gespräch wird in die Leitung eingeschleust.“ „Können Sie mit dem Gerät auch Gespräche abhören?“ fragte Henri. „Mit diesem nicht, aber mit einem anderen. Was das Abhören von Anschlüssen betrifft - wie es in der Welt gemacht wird -, so glaube ich: Nichts ist schlimmer zu verurteilen. Es mag Ausnahmen geben ... hm ...” Professor Charivari hatte das Telefonkästchen eingesteckt. Er stand jetzt an der Bogenplatte, die als einziges verriet, daß man in einer Kommandozentrale war. „Sie haben uns immer noch nicht gesagt, warum Sie uns hergeholt haben“, erinnerte Henri. „Und ob wir wieder mitfahren sollen!“ Alle sahen den Professor erwartungsvoll an. Charivari sah kurz auf „Wir fahren ja längst! Wir sind...“, er blickte auf die Platten, „. . . mehr als hundert Kilometer unter der Oberfläche! Wir kreuzen jetzt unter Grönland?“ „Ach, du Donner!“ rief Gérard. „Auf Sie fällt man immer wieder rein!“ Als einziger hatte Superhirn bemerkt, daß der Professor nach Verlassen der Schleuse an den bogenförmigen Tisch gegangen war, um über Mikrofon Befehle an die Maschinen-Automatik zu erteilen. „Wir haben wieder Unmutsgedanken aufgefangen“, erklärte Charivari. „Vom Ragamuffin!“ rief Micha. Der Professor nickte. „Meine Geheimstationen sind als einzige in der Lage, diese Ungutsstrahlen aufzufangen!” „Aber wir wissen nicht, wo die Machtzentrale liegt und wie der Ragamuffin aussieht“, sagte
Superhirn. „Der Chef dieser dunklen Macht, den ich den Ragamuffin nannte“, fuhr Charivari fort, „arbeitet auf jeden Fall nicht mit meinen Mitteln. Sonderbarerweise scheint er auch nicht genau herausgekriegt zu haben, wie die Verhältnisse an der Erdoberfläche und im Weltraum wirklich sind. Er will die Erdbevölkerung durch seine Unmutsgedanken vernichten, ja. Aber warum? Und weshalb stellt er hauptsächlich mir und meinen Mitwissern nach? Meint er, ich sei so etwas wie ein oberster Machthaber der Erde““ Darauf wußte niemand eine Antwort. „Und weshalb haben Sie uns geholt?“ fragte Gérard. „Ich habe euch an Bord dieses sicheren Erdschiffs genommen“, erklärte der Professor, „weil ich fürchtete ' einer von des Ragamuffins VAVAS könnte euch wiederum einen Besuch abstatten. Der Bursche scheint aufs Ganze zu gehen! Das Schlimme ist: Mit all unseren Geräten können wir seine Machtzentrale nicht orten! Er benutzt den Erdmittelpunkt als Reflektor. So nehmen wir an! Denn im Stahlnickelkern selber - kann kein 1,ebewesen sein.“ Er beugte sich über die Befehlsplatte und sprach ins Mikrofon: „Bild-Sprechfunk Raumstation Monitor ... verschlüsselt nach System drei hoch drei. Hier Giganto, der Kommandant. Rufe Sicherheitschef Biggs. Captain Biggs, bitte melden ... !“ Die Geschwister und ihre Freunde hielten den Atem an. Tati saß auf einer Rundbank und drückte den Pudel an sich. in der linken Wand des Giganto, bugwärts gesehen, erschien ein fernsehartiges Bild. Darauf sah man den Sicherheitschef der Weltraumstation, die das Erdschiff betreute und ständig überwachte. Captain Biggs, der lustige Bursche, war den jungen Passagieren kein Unbekannter mehr. „Hier Raumstation Monitor', Captain Biggs“, meldete er sich. „Verstanden. Verschlüsselungs-System drei hoch diel. An Giganto in der Erde, Position X, Kommandant Professor Charivari. Sehen und hören Sie mich? Hier: Empfang deutlich! Sehe, Sie haben unsere jungen Freunde an Bord - und sogar den Pudel.“ Er grinste schwach. Zumindest Superhirn merkte sofort, daß Biggs entsetzliche Sorgen hatte. „Probleme.“ Er versuchte, sich zu beherrschen. „Was Neues vom Ragamuffin?“ fragte der Professor. „Kann man wohl sagen“, erwiderte Biggs. Er grinste. Oder er versuchte es. „Nuuun ... ?“ fragte Professor Charivari gedehnt. „Halten Sie sich fest, Professor“, sagte Biggs. „Der Ragamuffin sendet nicht nur seine gewöhnlichen Ungutsstrahlen. Er schießt mit eiskalten Gedanken!“ Charivari griff an seinen Strippenbart. „Was heißt das? Bitte Näheres!“ „Da gibt's nichts Näheres“, antwortete Captain Biggs. Jedenfalls nicht, wenn man die Wirkung spürt' Auf Weltraumstation Monitor' hat das Gedanken-Empfangsgerät die typischen Ungutsstrahlen verzeichnet. Dazu kam plötzlich Eis. ja! Sie hören recht' Das Gerät überzog sich mit sonderbarem Reif, daß unsere Leute mit den Fingern daran hängenblieben! Aber der Eishauch griff auch auf Männer über, die nicht direkt am Gerät standen. Sie schrien wie die Verrückten, erstens - gepeinigt von den Ungutsstrahlen, zweitens - weil das Eis in seiner ungeheuren Kälte sie regelrecht ,verbrannte'.“ „Warum war das Gerät nicht ausgeschaltet.“ rief Charivari wütend. „Weil wir auf so etwas nicht gefaßt waren“, sagte Biggs. „Aber dann haben es einige mit Bellen zerschlagen. „Das ist doch nicht alles!“ meinte Charivari. „Sie melden mir noch Schlimmeres, wie?“ „Erraten, Boß“, erwiderte Captain Biggs. Wieder verzerrte er das Gesicht. „Unsere neue Unterwasserstation wird beschossen. Mit Gedankenstrahlen, die sich zu Eis verfestigen. General Brain schätzt die Schnelligkeit der Geschosse auf zehnfache Lichtgeschwindigkeit!“ „Unsinn!“ rief der Professor. „Das gibt's nicht! Dann kämen die Geschosse ja eher an, als sie abgegeben worden wären!“ „Beim Ragamuffin scheint's alles zu geben“, erwiderte Biggs. „Sie haben selbst gesagt, er und seine
Dunkelmänner seien eine besondere Art Menschen mit für uns nicht faßbaren Fähigkeiten, die sie im Lauf der Zeit entwickelt haben.“ „Moment., Biggs, ich notiere...“ Charivari beugte sich über eine Kontaktplatte auf dem Befehlstisch. Augenblicks erschien die „Notiz“ in Leuchtschrift neben dem Bildschirm in der Wand: „23 Uhr Giganto-Bordzeit: Sicherheitschef Captain Biggs von Raumstation Monitor meldet Zerstörung dortiger Gedanken-Empfangsanlage. Captain Biggs gibt sodann Meldung von General Brain GP durch: Neue Unterwasserstadt ebenfalls unter Beschuß: zu Eis erstarrte Gedankenstrahlen“' „Notieren Sie ferner“, ertönte Biggs düstere Stimme, während er noch immer auf dem Bildschirm zu sehen war, daß der Chef der Unterwasserstadt, General Brain, die Durchschlagskraft der erstarrten Eisgedanken für vernichtend hält.“ Wieder beugte sich Charivari über die Platte., und auch die zusätzliche Notiz erschien in Leuchtschrift in der Wand. Dann befahl er Biggs: „Rufen Sie Südpolwerft. Erd-Erkundungsschiffe Brisanto und Rasanto einsatzklar machen. Gemeinsame Rettungsaktion für bedrohte Unterseestation , Melde mich wieder. Ende!“ Captain Biggs' Gesicht verschwamm. Charivari strich sich den lackschwarzen Bart. Er – wie auch die jugendliche Besatzung - blickte auf die Leuchtschriftnotizen. „Eisgedankenstrahlen“, brach Superhirn das Schweigen. „Das ist neu!“ „Kann man wohl sagen“, meinte Henri. „Ich ha-ha-hab ja mal was von Eisbeuteln gehört, die einem auf den Kopf gelegt werden, wenn man krank ist. Aber von Eis im Kopf hat mir meine Oma nichts erzählt“, ließ Prosper sich hören. „Bleib uns mit deiner Oma vom Hals!“ sagte Tati ärgerlich und drohte ihm mit dem Finger. Gérard guckte so ausdruckslos, als habe wenigstens schon er ein paar Eiswürfel im Gehirn. „Also, was ich da von Eis lese“, maulte Micha, „gefällt mir nicht. Schokoladeneis wär mir lieber!“ „Was ist das für eine neue Unterseestation GP?“ erkundigte sich Superhirn. Der Professor war sichtlich noch dabei, die Schreckensmeldungen zu „verdauen“. jetzt wandte er den Kopf „Damit ist meine geheime subarktische Station gemeint. General Brain ist ihr oberster SicherheitsIngenieur, Gewöhnlich nennen wir die Station Gigantopol, weil sie unterm arktischen Treibeis am Nordpol liegt. Es handelt sich nicht um einen kleinen Stützpunkt, sondern um ein Riesenwerk, dessen Rundbasis einen Durchmesser von 15 Kilometern hat. Diese Unterseestadt liegt - so müßt ihr euch das vorstellen - in einer gewaltigen Luftblase.“ „Und was stellt das Werk her?“ staunte Henri. „Nichts. Es ist eine Erfindungsindustrie. Dort werden Berufe weiterentwickelt - wenn ich mich so ausdrücken darf. Neue Forschungsziele werden geschaffen, zum Beispiel im Bereich der Lichtwissenschaft und der Kunststoffe.“ „Und gerade auf diese Unterseestadt hat's der Ragamuffin abgesehen?“ rief Superhirn. „Scheint so“, murmelte der Professor. Er trat an die Bogenplatte und beobachtete die Laufziffern, den augenblicklichen Erdausschnitt und andere Kontrollzeichen. Der Widerschein der vielen Lämpchen ließ seinen Kahlschädel bald gelblich, grünlich, bläulich oder rötlich erscheinen. Es war ein unheimlicher Anblick. „Wir sind immer noch auf Wartekurs unter der Grönlandspitze“, sagte er. „Hier werden wir uns mit den beiden anderen Erdraketen zum unterirdischen Marsch' auf das Werk Gigantopol vereinigen, um General Brain zu Hilfe zu kommen. Ich rufe jetzt wieder Biggs. Und ihr schlaft ein paar Stunden! Eure Kammern sind im Obergeschoß!“ Schweigend verließen die sechs mit dem Hund den Kommandoraum. Der Professor wollte offensichtlich allein sein. Übrigens war die junge Besatzung samt Pudel „hundemüde“. Wie so ein Erdschiff eingerichtet war, wußten sie ja schon. Der neue Giganto war nur viel größer. In drei Fahrstühlen sausten sie nach oben: Superhirn mit Henri, Gérard mit Prosper - und Tati mit Micha und Loulou. Als sie sich auf dem Gang des Wohntraktes wiedertrafen, lachte Gérard: „Na, Tati? Wann schreist du
wieder: Wie im Hotel!'?“ „Wenn ich glücklich zurück in Monton bin, bei Madame Claire“, erwiderte das Mädchen. „Ist ja alles herrlich hier - aber wenn ich an die letzten Meldungen denke, dann hab ich Eis in der Nase.“ „Suchen wir uns erst mal die Kammern aus“, sagte Superhirn. „Ha! Da. Auf einer der Türen ist ein Sichtzeichen Hund'! Schätze, diese Kammer hat nicht nur Bad und Dusche und so weiter, sondern auch ein Hunde-Klo!“ Also blieb für Tati und Micha mit Loulou keine andere Wahl. Gérard und Prosper zogen in die nächste Kammer und Henri und Superhirn in die übernächste. In den Schränken fand man Pyjamas in allen Größen, in den blitzblanken Badezimmern komplettes, neues Waschzeug. „Ich wundere mich, daß Micha nicht in die Bordkantine zum Bonbon-Automaten gelaufen ist“, gähnte Henri, als er in seiner Wandkoje lag. Superhirn nahm bedächtig die große Brille ab, legte sie aufs Abstelltischchen und streckte sich ebenfalls aus. „Micha wird wohl genausowenig Appetit haben wie wir4alle“, meinte er. „Daß diese Eisgedankenstrahl-Sache schlimmer ist, als alles, was wir bisher erlebt haben, merkt doch auch der jüngste!“ „Ich laß mich überraschen!“ Henri gähnte wie ein Flußpferd. „Diese Meldungen waren übrigens reichlich unklar. Na, dann: Schlaf gut!“ Superhirn antwortete schon nicht mehr. Er hatte viel zuviel nachgedacht. Doch gerade, als Henri das gemütliche „Schlaf gut!“ murmelte, empfing Professor Charivari unten im Kommandoraum eine Schreckensnachricht von Captain Biggs. Eine Meldung, die die schlimmsten Befürchtungen weit, weit übertrafen ...
6. Wer ist General Brain? Bordzeit: 8.20 Uhr. Tati und Micha hatten schon geduscht, ihre Sachen durch die Blitz-, Wasch- und Trockenanlage im Badezimmer gezogen und sich angekleidet. Micha hielt es nicht länger in der Giganto-Kabine aus. Er ging in die Befehlszentrale hinunter, zuerst aber in die automatische Küche. Ihn lockte der BonbonAutomat. Tati ordnete ihr Haar im Spiegel. Plötzlich surrte das Kabinentelefon. Das Mädchen lief zum Apparat, nahm den Hörer ab und meldete sich. Am anderen Ende war Micha. Er war sehr aufgeregt. „Sprich deutlicher!“ rief Tati. „Was ist los ... ?“ „Der Professor ... !“ drang Michas überschnappende Stimme an ihr Ohr. „Er liegt im Befehlsraum wie tot! Erst hab ich gedacht, er schläft.“ „Wir kommen runter“, unterbrach ihn Tati hastig. „Ich hole die anderen!“ Auf den Tasten wählte sie nacheinander Gästekammer 2 und 3. Gérard und Prosper lagen noch in ihren Kojen. Superhirn und Henri aber waren schon angezogen. „Wir kommen sofort!“ sagte Superhirn zu Tati. Tati nahm den Pudel und trat auf den Gang. Ihr Bruder und der spindeldürre junge mit der großen Brille kamen eben aus ihrer Kammer. Ohne auf Gérard und Prosper zu warten, sausten die drei samt Hund im Lift nach unten. Aus der Bordküche bog Micha in den Vorraum, der einer Hotelhalle glich. Micha hatte eine durchsichtige Tüte voller Bonbons in der Hand. Doch in seiner Verstörtheit war er noch nicht dazugekommen, sich eines zu nehmen. ..Was ist mit dem Professor?“ fragte Superhirn. Er wartete die Antwort nicht ab und stürmte allen
voran in die Kommandozentrale. Abgesehen von der roten Leuchtschrift verrieten die schimmernden Wände des gewaltigen Erdschiffs nicht, daß - oder ob - hier etwas geschehen war. Das schicke, praktische Mobiliar stand auf seinem Platz. Der bogenförmige Befehlstisch mit der Signalplatte erhöhte den Eindruck von Sicherheit und Perfektion. Professor Charivari stand nicht über die Platte gebeugt, er saß auch nicht auf dem gleitbaren Sessel dahinter. Vielmehr lag er seltsam verkrümmt und wie leblos auf einer der Polsterbänke. Sein fadendünner Kinnbart, nach oben gestülpt, war ihm wie eine schwarze Schlange über das Gesicht gerutscht. Tati hielt ihr Ohr an seine Lippen. „Er ist ohnmächtig“, flüsterte sie. Gleich verbesserte sie sich: „Er liegt im Erschöpfungsschlaf Wahrscheinlich hat er die ganze Nacht gewacht!“ Henri trat an die Bogenplatte. Anhand der Ziffern, Erdausschnitts- und Erdoberflächen-Angaben konnte er Position und Kurs des Giganto ablesen. „Hundertfünfzig Kilometer unter Grönland...“, meldete er. „Wir fahren schleifenförmigen WarteKurs. Äußerste Punkte: Labrador-See/Davis-Straße, West-Grönland - und DänemarkStraße/Grönland-See, Ost-Grönländische Küste ... nordnordöstlich von Island.“ Superhirn studierte die rote Leuchtschrift an der Wand, die „Lichtnotizen“ nach den eingegangenen Meldungen vom Sicherheitschef der überwachenden geheimen Raumstation Monitor. Die älteren Lichtnotizen hatten sich verkleinert, um neueren Platz zu machen. Superhirn stieß einen leisen Schreckensruf aus. „Was ist?“ fragten Henri und Tati fast gleichzeitig. Auch sie starrten auf die Wand. „Sieht nicht gut aus“, murmelte Superhirn. „Lest mal, was da steht: Erdschiff Rasanto nicht einsatzfähig. Schaden an den Saugdüsen... Und weiter: Erdschiff Brisanto nicht einsatzfähig. Defekt im Maschinenraum. Und wie's der Teufel will, da: Älterer Giganto zur Überholung im Dock. Maschine in sämtliche Einzelteile zerlegt. „Und was bedeutet das?“ fragte Micha besorgt. „Daß wir der geheimen Nordpol-Unterseestadt Gigantopol nicht zu Hilfe kommen können“, schluckte Henri. „Wenigstens nicht mit vereinten Kräften!“ „Nicht, wie beabsichtigt, mit drei Erdschiffen“, fügte Superhirn deutlichkeitshalber hinzu. „Aber dann...“, Tati war völlig entgeistert, II ... dann ist die U-Stadt Gigantopol verloren!“ Superhirn entdeckte eine weitere Lichtnotiz. Er ergänzte den Kurztext: „Captain Biggs meldet: Empfange verwirrende Nachrichten. Sicherheits-Ingenieur General Brain funkt wachsende Zerstörung der U-Stadt Gigantopol zu uns ins All. ..“ Superhirn rieb sich die Stirn. „General Brain gibt Einzelheiten über das Ausmaß der Katastrophe an, widerruft aber manches. Seht: Kraftwerk U-Stadt Gigantopol hat Total-Ausfall! Dann: Teil-Ausfall! Später: Doch, Total-Ausfall! Eine Zeile tiefer: Unbekannte Macht der Erde - Ragamuffin - nimmt Beschuß mit Eisgedankenstrahlen wieder auf! Alle drei Schutzglocken der U-Stadt zusammengestürzt!' Er bleibt aber auch dabei nicht: Äußere Schutzglocke intakt!“ „Mensch!“ rief Henri. „Und zwischendrin steht: ,General Brain meldet: Wir sind am Ende. Leute in UStadt Gigantopol drehen durch. Beide Schutzhüllen und Haupthüllen fallen zusammen. Wasser stürzt in die Wohntrakte. Straßen nicht mehr passierbar'!“ Als Tati, Henri, Micha und Superhirn die Wand noch anstarrten, erschien wieder eine Lichtnotiz. Offenbar war der Funkempfang jetzt mit der Leuchtschreibe-Vorrichtung in der Wand automatisch gekoppelt. „Hier Biggs, Raumstation Monitor. General Brain meldet aus U-Stadt Gigantopol: Wir sind Herr der Lage! Bekämpfen Schäden mit eigenen Mitteln!` „Einen solchen Salat habe ich noch niemals fressen müssen“, murmelte Superhirn. In diesem Augenblick kamen Gérard und Prosper in den Befehlsraum. Beide machten große Augen. „Was steht ihr denn da wie ausgestopft?“ fragte Gérard.
„Und wa-wa-was macht der Professor ... ?“ stotterte Prosper. „Ist ihm schlecht ... ?“ Wie aufs Stichwort richtete sich Charivari langsam auf. Er lächelte schwach. „Schlecht nicht. Ich glaube, ich hab geschlafen wie ein Murmeltier...“ Er blickte zur Wand - und war sofort hellwach. Plötzlich stand er in seiner ganzen Länge da. „Herr der Lage...?“ wiederholte er verblüfft. „General Brain will Herr der Lage sein und die Schäden in der U-Stadt mit eigenen Mitteln bekämpfen?“ Er lief zur Bogenplatte, tippte ein paar Kontakte, zog das Mikrofon heran und rief die Raumstation „Monitor“, Sicherheitschef Captain Biggs. Biggs erschien wieder auf dem Wandbildschirm. „... keine Falschmeldung, Professor“, erfuhr die Giganto-Besatzung. „Diese Meldung ging tatsächlich hier ein. Wollen Sie sich nicht direkt mit General Brain in Verbindung setzen?“ „Nein“, sagte Charivari entschieden. „Aus dem, was ich bisher gehört habe, muß ich schließen: Der Ragamuffin ist mit all seinen innerirdischen Truppen - oder wie man's nennen soll - zum Großangriff übergegangen. Er spielt mit U-Stadt Gigantopol wie eine Riesenkatze mit einer ganz, ganz kleinen Maus!“ „Hm. Könnte sein“, erwiderte Biggs. „Vielmehr: Sieht so aus, als hätten Sie recht! Was wollen Sie tun?“ „Mich auf Warteschleife halten. Ich brauche meine Erdschiffe Rasanto und Brisanto! Denke, sie werden bald startklar sein. Habe befohlen, Schäden so schnell wie möglich zu beheben!“ „Hm. Ich werde mit Erdschiff-Werften in Kontakt bleiben“, sagte Captain Biggs. „Ich drücke Ihnen sämtliche Daumen, die ich habe, daß der Ragamuffin Ihren Giganto nicht ortet...“ Professor Charivari gab neue Daten an: Er verlegte den Wartekurs auf dreihundert Meter Erdtiefe in die Gegend von Thule, Nordwest-Grönland. „So“, sagte er. „Nun wollen wir frühstücken. Hat keinen Zweck, sich selber verrückt zu machen, auch wenn man notgedrungen auf der Stelle treten muß...“ In der Bordkantine, deren Wandautomatik mehr und Besseres bot als das modernste Hotel der Welt, hob sich die Stimmung ein wenig. Trotzdem gab es nur ein Thema: Die gefährdete geheime Nordpol-Unterwasserstadt Gigantopol mit Sicherheits-Ingenieur General Brain und seinen dreihundert Männern. „Ihr wißt ja“, sagte Professor Charivari, „das unbekannte Wesen, das wir Ragamuffin genannt haben, verfügt über Kräfte, die sich unserer Erfahrung (und damit auch unserer Technik) entziehen. Ich glaubte, seine Unguts-Strahlen längst abgeblockt zu haben, und nun - ihr habt´s gehört - setzt er sie mit zusätzlicher Eisgedankenkälte in geradezu mörderischer Ballung ein. Die Eisgedanken-Schußkanäle sollen meterweite Durchmesser haben. Dafür schwanken Brain s Angaben, wie Biggs mir sagte.“ „Wie ist die U-Stadt Gigantopol geschützt?“ fragte Superhirn. „Gigantopol steht auf einem Rund-Fundament“, erklärte der Professor. „Auf diesem Fundament unter Wasser - erheben sich drei enorme, halbkugelförmige Blasen, die das leergepumpte und mit Luft versorgte Innere umschließen: erstens die Hauptkuppel, sodann die beiden Schutzkuppeln 2 und 1. Alle Kuppeln bestehen aus spezieller Gallerte, einer besonderen, von uns entwickelten Panzermasse, die zwar federt, aber von keiner Schuß- oder Sprengkraft beschädigt werden kann. Selbst U-Boote mit Atom-Torpedos können die Hüllen nicht durchbrechen. Ebensowenig wie die stärksten Wasserminen!“ „Aber der Ragamuffin, der im Erdinnern hockt...“ Prosper würgte an seinem gebackenen Schinken, „... der Ragamuffin hat Gigantopols Schutzhüllen d-d-durchstoßen ...“ Charivari stand jäh auf. „,Ich muß in den Befehlsraum“, sagte er knapp. Superhirn, Gérard, Prosper und die Geschwister folgten ihm. Sie sahen, daß der Professor eine Leuchtkarte des Nordpolgebiets in der rechten Wand hatte erscheinen lassen. Rechts, etwas unterhalb des Nordpols, blinkte ein grüner Punkt. „Station Gigantopol“, erklärte Charivari. „Position: 88 Grad nördlicher Breite, 89 Grad östlicher Länge. Die Unterseestadt liegt - in einem Gebiet, das von Forschungsreisenden bisher wenig erkundet
worden ist. Sie hat mehrere Frühwarn-Geräte, die sie auf Außenkursen umkreisen und Annäherungen von Gegenständen (und Strahlen) rechtzeitig melden. Die Frühwarngeräte machen es möglich, Schiffe und sogar auch Flugzeuge zum Ausweichen zu zwingen, und zwar durch Vortäuschung von Unterwasserturbulenzen und durch Armaturen-Beeinflussungen.“ Er trat an den Befehlstisch und rief seine Geheimstation im Weltall. In der anderen Wand erschien das Bild von Biggs. „Die beiden Hilfs-Erdschiffe startklar?“ fragte Charivari. Jm Gegenteil!“ erwiderte Captain Biggs. „Durch geforderte Übereilung hat es weitere Pannen gegeben. Brisanto und Rasanto vor übermorgen keinesfalls einsatzfähig!“ Charivari strich sich nervös den Strippenbart. „Und was meldet Brain aus Gigantopol?“ „Nichts“, sagte Biggs düster. „Absolut nichts!“ „Stellen Sie Querverbindung über mehrere Satelliten her!“ befahl der Professor heiser. Doch der Giganto erreichte die U-Stadt Gigantopol nicht mehr. Weder auf indirektem noch auf direktem Funkweg. Biggs meldete sich wieder aus dem Weltall: „Schätze, Gigantopol ist vernichtet. Machen wir uns nichts vor, Professor. Geben wir General Brain und seine Männer verloren!“ Da rief der Professor Charivari so verzweifelt, wie ihn die jungen und das Mädchen noch nie erlebt hatten: „Wie kann ich meine Leute aufgeben? Wie kann ich General Brain aufgeben? General Brain ist Superhirns Vater ... !“
7. Schiffbruch in der Erde Keiner im Befehlsraum glaubte, recht gehört zu haben. Am wenigsten Superhirn! Sein Vater ... Sein Vater, der Franzose war - der sich seit eineinhalb Jahren zu Forschungszwecken in Amerika aufhielt, von Zeit zu Zeit auf Urlaub kam (den seine Firma nur befristet freigegeben hatte), dieser Mann sollte „General“ sein und unter fremdem Namen die Geheimstation Professor Charivaris leiten „Es stimmt“, sagte Charivari müde. Normalerweise hätte er über die verständnislosen Gesichter seiner jungen Freunde gelächelt. Doch die entsetzliche Lage bewirkte das Gegenteil. Kaum hörbar, mit reuevoll schwankender Stimme, erklärte er: „... Brain ist englisch - und heißt: Gehirn. General Brain ist unsere Bezeichnung für das Oberste Gehirn. .. nämlich das der U-Stadt Gigantopol...“ Er ächzte und fuhr fort: „Als ich Superhirn kennengelernt hatte, begann ich, mich für seinen Vater zu interessieren. Das lag nahe. Ich dachte, wenn der Sohn so überaus gescheit ist, braucht es sein Vater nicht minder zu sein. Also setzte ich mich mit ihm in Verbindung, und - um es kurz zu machen: Es kam zu einer geheimen Zusammenarbeit. Niemand, weiß, wer General Brain in Wirklichkeit ist. Aber daß es für Gigantopol keinen tüchtigeren Sicherheits-Ingenieur geben konnte, war von Anfang an jedem klar.“ „Wa-wa-was machen wir nun?“ stammelte Prosper. „,Das wollte ich euch fragen“, erwiderte Charivari. „Was mich betrifft, so nehme ich den Kampf gegen den Ragamuffin allein mit Erdschiff Giganto auf Ebenso führe ich die Rettungsaktion für General Brain und seine Männer ohne Verstärkung durch. Auf die Erdschiffe Rasanto und Brisanto kann ich nicht warten, und ob die ganze Sache schon verloren ist, kann selbst Biggs nicht mit absoluter Sicherheit wissen.“ Superhirn nickte. Er hatte sich völlig gefaßt. Es war ihm auch nur recht, daß der Professor nach wie vor von General Brain sprach - und nicht von Superhirns Vater. Es kam jetzt mehr denn je darauf an, einen klaren Kopf zu behalten. „Ich bringe euch zurück nach Monton und nehme dann Kurs auf Gigantopol“, sagte Charivari. Aber da erhob sich ein Sturm der Entrüstung unter der jugendlichen Besatzung. Sogar der Pudel jaulte auf - obwohl er doch nichts verstand! „Ich bleibe an Bord!“ rief Superhirn „Wir auch ... !“ schrie Tati. „Freunde läßt man nicht im Stich. Jetzt hab ich erst recht keine Angst
mehr! Wer zurück will, ist ein Schuft` „Ja, ein Schuft ... !“ echote Micha gellend. „Klar!“ bekräftigte Gérard. „Wär doch ge-ge-gelacht, wenn wir den Professor jetzt im Stich ließen!“ schnaufte Prosper. Henri klopfte Superhirn auf die Schulter: „Wenn unser Professor Schiffe bauen kann, die durch die Erde flutschen - dann wird er auch mit dem Ragamuffin fertig. Und was heißt gefährlich? Zählt man die jährlichen Verkehrsunfälle zusammen, so begreift man: Oben ist man auch nicht gerade sicher!“ Superhirn nickte wieder schweigend. Charivari trat an die Befehlsplatte und rief die Raumstation Monitor. Er verständigte sich mit Captain Biggs: „Nehme Kurs auf Gigantopol, Position Nordpolar-Meer - heißt auch Nördliches Eismeer - UStadt 88 Grad nördlicher Breite, 89 Grad östlicher Länge. Unterbrechen Sie jeden Funkkontakt mit mir. Warten Sie auf Wiederaufnahme durch mich!“ „Halt!“ rief der ferne Biggs. „Eben wird mir ein Zettel gereicht. Neueste Meldungen. Um Himmels willen, Professor! Der Boß aus der Erde ... dieser Ragamuffin, schießt jetzt ganze Fächer eisiger Gedankenstrahlen!“ „Woraus schließt man das?“ „Wir haben über Satelliten einen Funkspruch aufgefangen: Das amerikanische Atom-U-Boot Barracuda hat bei Kap Barrow einen Streifschuß abgekriegt - nicht ortbares Geschoß, heißt es. Der Kommandant erhielt bereits Befehl, sich aus der Polarkreis-Zone zurückzuziehen, und zwar durch die Beringstraße, die Beringsee, in Richtung auf Dutch Harbor, Aleuten-Inseln!“ „Noch was?“ „Azorengebiet meldet M. S. Molino - ein Spanier - Treibeis!“ Charivari strich sich heftig den Strippenbart: „Kap Barrow ... und Azorengebiet! Mehr als sechstausend Kilometer Differenz. He, Biggs! Meinen Sie, daß es sich um richtiges Eis handelt?“ „Unser Ozeanologen- und Meteorologen-Team auf Monitor wertet die Meldungen aus“, erwiderte der Captain. „Aber nach den ersten Geschehnissen auf Gigantopol - und nach Beschuß unserer Gedanken-Empfangsanlage war unserem Krisenstab klar: Der Ragamuffin-Staat in der Erde schießt selber keinesfalls mit Eis. Nur seine Gedankenströme sind eisig kalt und gewaltig. Durch die Erde sausen sie sicherlich als unsichtbare Geschoß-Säulen, falls sie einer in der Erde überhaupt beobachten wollte, das heißt natürlich: könnte!“ „Ist mir klar. Weiter!“ forderte Charivari ungeduldig. „Nur im Zusammenhang mit Luft, Luftfeuchtigkeit und Wasser bilden diese Gedankenströme Eis“, fuhr Biggs fort. „Da wir in unserer Weltraumstation Luft mit dem nötigen Feuchtigkeitsgehalt haben, kriegten wir unseren Teil über die Gedanken-Empfangsanlage mit. Seit die zertrümmert ist, kann uns der Ragamuffin nicht mehr schaden. Schließlich sind wir im Weltraum - und nicht auf dem Meeresgrund, wie der arme Brain.“ „Schon gut“, unterbrach Charivari. „Das alles dachte ich mir längst. Falls weitere Funkmeldungen von Seeschiffen kommen, stellen Sie die Texte mit Standorten und Uhrzeiten zusammen. Geben Sie mir die Liste später durch. Ende!“ Der Professor schaltete den großen Fahrtenschreiber des Giganto ein: Das war ein schwach schimmernder „Lichtball“, durch den man hindurchgreifen konnte. Er stellte die Erde dar. An der Oberfläche zeichneten sich die Erdteile ab. Ein rotes Pünktchen markierte den Giganto, seinen Standort im Erdinneren - und seinen Kurs. „Wir gehen auf fünfhundert Meter Tiefe“, erläuterte Charivari. Alle sahen, wie das rötliche Pünktchen sich in rasender Fahrt auf den Nordpol zubewegte. Das heißt: Dieses Pünktchen war gar nicht schnell, es gab einem nur die Vorstellung davon, in welch irrsinnigem Tempo der Giganto durch die Erde „sauste“. Micha blickte auf die riesige, leuchtende Wandkarte: „Wie viele Pole gibt's denn eigentlich?“ fragte er. „Ich kenne nur den Südpol und den Nordpol. Hier lese ich aber was vom Geographischen Nordpol, vom Magnetischen Nordpol, vom Kälte-Pol und vom Unzugänglichkeits-Pol!“
Superhirn half dem Kleinen: „Der Geographische Nordpol ist der nördlichste Schnittpunkt der Umdrehungsachse, also der Zipfel auf der Mitte der Eismeer-Mütze, die die Erde auf dem Kopf trägt. Der Magnetische Nordpol liegt ungefähr nördlich von Resolute, Kanada. In der Kompaßtechnik muß man diese Abweichung berechnen! Der Kälte-Pol hat mit dem Nordpol und mit dem Nordpolar-Meer eigentlich nichts zu tun: Du siehst, er ist auf Land verzeichnet, in Sibirien. Dort findest du die kälteste Stadt der Erde: Werchojansk.“ „Und was bedeutet Unzugänglichkeitspol'?“ fragte Micha. „Der liegt ein hübsches Stück vom eigentlichen Nordpol entfernt, grob gesagt: Richtung Alaska. Unzugänglichkeitspol hat nichts zu bedeuten. Eine Bezeichnung aus der Zeit, als man da mit Schlittenhunden nicht vorankam.“ Superhirn wollte noch etwas sagen, aber da gab es einen mörderischen Ruck, der die gesamte Besatzung zu Boden warf Über alle Lautsprecher meldete eine künstliche Stimme aus der Betriebszentrale des Giganto: „Außentemperatur 118 Grad minus ... Außentemperatur 200 Grad minus ... Außentemperatur 202 Grad minus...“ Der Professor raffte sich auf, warf sich förmlich über die Bogenplatte und programmierte Kursänderung. Loulou winselte jammervoll. Die junge Besatzung hockte auf dem Boden und beobachtete wie gebannt den Fahrtenschreiber. Der rötliche Lichtpunkt, der den Giganto darstellte, stand - und bewegte sich dann ganz langsam rückwärts. Über Mikrofon fragte Charivari hastig die Außentemperaturen ab. Die künstliche Stimme nannte laufend „steigende“ Werte, über Null und höher, immer höher, bis sie für das Erdinnere und den Giganto normal waren. Der Professor atmete auf Superhirn, Tati, Henri, Prosper, Gérard und Micha rappelten sich hoch. Micha bestürmte Charivari mit Fragen. ,Per Ragamuffin hat uns einen seiner Eisgedanken-Schüsse vor den Bug gesetzt“, erklärte Charivari. „Getroffen hat er uns nicht. Was dann passiert wäre, weiß ich nicht. Mir machten schwankende Werte - die ich hier auf der Bogenplatte ablas - bereits Kopfschmerzen. Aber der plötzliche Kältesturz hat mich glatt überrumpelt.“ „Aber warum der Ruck, wenn uns kein Kältestrahl getroffen hat?“ wollte Henri wissen. „Die Saugdüsen sind gleichzeitig Fühler`, sagte Charivari. „Kältegrade von über 200 minus nehmen sie nicht an!“ Er überlegte: „Trockeneis, also Kohlensäure-Schnee, hat 118 Grad minus. Bei 273,16 Grad minus liegt der absolute Nullpunkt. Wenn der absolute Nullpunkt erreicht ist, bewegt sich nichts mehr. Nichts, nichts, nichts ... kein Atom. Dann gibt's auch keine Flüssigkeiten und keine Gase mehr...“ „Sie überlegen, ob der Ragamuffin Gedankenstrahlen von solcher Kälte abschießen kann?“ fragte Superhirn. Seine Stimme klang gepreßt. Bevor der Professor antworten konnte, meldete sich wieder die Maschinenstimme aus der Betriebszentrale: „Leck im Schiff! Giganto-Backbordwand-Außenhaut ... Leck im Schiff...“ Diesmal stand der Professor selber, als sei er zu Eis erstarrt. Leck im Schiff ... ???“ Das bedeutete für den Giganto in dieser Tiefe-Schiffbruch in der Erde... Charivari gab entsprechende Meldung an Raumstation Monitor. Aber wer konnte dem Giganto jetzt noch helfen? 8. Suche nach verschollener U-Stadt Während die Giganto-Besatzung noch dabei war, ihre entsetzliche Lage zu begreifen, spielten sich nicht minder schreckerregende Zwischenfälle an der Erdoberfläche ab. Beim Anflug auf Island wurde dem Postflugzeug, das von Kopenhagen kam und auf die Minute genau, nämlich 11.23 Uhr, die Funkverbindung mit der Küstenstation 2 S b aufnahm, von unten her - aus der
See heraus - die rechte Tragfläche abgerissen. Die Maschine (Kommandant Flugkapitän Sumar) schrammte ab. Er, sein Copilot und der Posthalter - die einzigen, die sich an Bord befanden - konnten von einem Fischereifahrzeug gerettet werden. Etwa zur gleichen Zeit, nach der Weltzeituhr drei Stunden früher, traf gänzlich unvermutet den 29.353-Tonner „Emperor“ auf dem Atlantik - Richtung New York, von Liverpool, Großbritannien, kommend - ein Schlag, wie ihn die Seeleute noch nie erlebt hatten: Die „Emperor“, Baujahr 1938, Passagierschiff der Luxusklasse, gehörte einer Größenordnung an, die man ehemals zu den sogenannten „Ozeanriesen“ zählte. König Georg VI. hatte das Schiff getauft, da er zu jener Zeit selbst ein „Emperor“, ein Kaiser, nämlich der von Indien, war. Doch die wechselvolle Geschichte des so stolzen weißgoldenen Schwans war nicht glücklich verlaufen. Ein Brand im Frisiersalon hatte Schlagzeilen gemacht, wegen eines Ruderschadens mußten sämtliche Fahrgäste einmal auf hoher See ausgebootet und von anderen Schiffen übernommen werden, zuletzt war die „alte Tante“ nicht mehr gefragt, und nun befand sie sich auf dem Weg nach den USA, um dort verschrottet zu werden. Chefingenieur Wilson hatte sich eben einen Becher Tee bringen lassen ... Eine trübe Reise, dachte er. Im ruhigen Gleichklang liefen die Maschinen ... Das Leben pulsierte noch im Bauch des Kastens. Oben aber war alles tot. Rauchsalons, Theater, Kino, Turnräume, Küchen, Konditorei und Bäckerei, Spiel-Zimmer für Kinder, Speisesäle, Schwimmbad, Ballsaal, Bars, Büchereien, Schreibzimmer, Bäder und Schönheitssalons und die vielen Fahrstühle ... wer brauchte das jetzt noch? Mit grimmigem Humor dachte Chefingenieur Wilson eben daran, daß man im Jahr 1953 das gesamte Schiff extra noch einmal umgebaut und alles, aber auch alles feuersicher gemacht hatte. Aus Holz bestanden lediglich noch die fest angebrachten Klaviere und ... die Fleischklötze im Küchentrakt ... Plötzlich hörte Wilson ein fremdes, dumpfes Geräusch. Ein Gegenstand von der Größe eines Tennisballes sauste schräg nach oben, riß bewegliche und unbewegliche Maschinenteile aus Lagern und Fugen und durchbrach die Einstiegsplattform und den C-Deck-Boden etwa zwischen Foyer und Fahrstuhlschacht, bugwärts zum Anrichte-Raum hin. Keine Zeit, die Art des Geschosses festzustellen. Die herumwirbelnden Teile verursachten immer schwereren Schaden. Ein furchtbarer, unregelmäßig auftretender metallischer Mißton verriet zudem Wellenbruch. Ohne Befehl von der Kommandobrücke abzuwarten, lief Wilson zum Pult und drückte: „Alle Maschinen stopp!“ Sein zweiter Ingenieur, Tovey, kam eilig heran: „Wasser im Schiff, Sir!“ meldete er total verstört. „Unterden Hecktanks muß was geborsten sein. Ich...“ Wilson winkte ab. Er telefonierte mit dem Kapitän. Was sich dabei herausstellte, ließ ihn immer größere Augen machen. Die sonderbare Kugel hatte schräg aufwärts drei Viertel des „Ozeanriesen“ durchschossen, hatte mithin F-Deck, E-Deck, D-Deck, C-Deck, B-Deck, A-Deck, Hauptdeck, Oberdeck, Promenadendeck, Sonnendeck, Funktionsaufbauten und den vorderen Schornstein glatt durchschlagen - und die Spitze des Radarmasts weggerissen. Noch während des Telefonats erfolgte der zweite „Treffer“, diesmal eine Art Blattschuß, der das ganze Schiff erschütterte. Der Kapitän brach das Gespräch ab. Statt dessen meldete sich der Zweite Brückenoffizier: „Mensch, Wilson!“ rief er heiser. „Der ganze Bug ist weg! Vom Flaggenstock bis zum vorderen Ladegeschirr! Wir werden kalte Füße kriegen. . „Leck im Schiff!“ Droben, auf dem Atlantik, wurden die Rettungsboote klargemacht. Die angeschlagene „Emperor“ funkte Notrufe. Vom Erdschiff Giganto, fünfhundert Kilometer unter der Oberfläche im erdrückenden Gestein, konnte man keine Rettungsboote aussetzen. Jeder Notruf wäre sinnlos gewesen. Die beiden anderen Erdschiffe waren ja nicht einsatzbereit. Und welche Hilfe konnte die Raumstation Monitor der Giganto-Besatzung bringen.. .? „Es hat uns also doch erwischt!“ murmelte Professor Charivari. Er bediente sämtliche Kontrollplättchen mit geradezu grotesker Schnelligkeit: „Aber es ist nichts zerbrochen. Kein
Aggregat, kein Gerät, keine einzige der Tausende von Anlagen in den Wänden zeigt Ausfall an.“ „Ich verstehe nur nicht“, sagte Superhirn ganz ruhig, „warum es keinen Vor- und keinen Hauptalarm gegeben hat. In solchen Fällen leuchten doch alle Giganto-Räume in greller Signalfarbe! Außerdem kreischen Sirenen, rasseln Klingeln und so weiter ... Dann ist doch der Teufel los!“ ..Hm!“ Der Professor ließ kein Auge und keinen Finger von der Befehlsplatte: „Ich erkläre mir das so“, erwiderte er. „Der Eisgedanken-Strom lag vor uns wie eine Barriere, also wie ein Riegel. Gleichzeitig muß uns seitlich ein kurzer, einzelner Gedankenstoß getroffen haben. Das hat die AlarmAutomatik verwirrt. So meldete die Maschinenstimme dann erst den Grund für einen Alarm, der gar nicht gegeben worden war.“ Tati, Gérard, Prosper und Micha starrten auf die Backbordwand. „Man sieht nichts von dem Leck“, hauchte Tati. Gérard war gelblich-blaß, als hätte man sein Gesicht in einen besonderen Puder getaucht. Er schwieg. „Wenn der Giganto aufbricht, was kommt denn dann hier rein?“ krächzte Micha. „Laß den Professor mit Fragen in Ruhe, er hat zu tun!“ mahnte Henri. Auch er war ruhig. Plötzlich stand Prosper mitten im Raum. Er drehte sich um wie ein Kreisel: „Ich...“ stammelte er, „ich will hier raus, will hier raus, will hier raus...“ Und auf einmal begann er wie ein Wilder zu schreien: „Ich will raus! Laßt mich raus!“ Henri trat auf ihn zu und versetzte ihm einen gezielten Kinnhaken. Prosper stürzte rücklings zu Boden. Dann hockte er sich auf, hielt die Hände vors Gesicht und wimmerte nur noch. „Richtig“, murmelte Superhirn, der jetzt neben Charivari stand. „In der Raumfahrt wird das auch empfohlen - bloß die wenigsten wissen es: Wenn einer plötzlich durchdreht, ist er außer Gefecht zu setzen. Natürlich mit harmlosen Mittelchen, Beruhigungsspritze, und so.“ Nun, Henris „Boxhieb-Beruhigungsspritze“ wirkte Wunder. Prosper erholte sich zusehends. „Entschuldigt, bitte“, kam es über seine Lippen. Inzwischen hatte Professor Charivari einen Entschluß gefaßt: „Wir setzen ein Arbeitsboot aus“, sagte er. „Wie...?“ Tati machte einen langen Hals. „Arbeitsboot ...?“ Sie stellte sich ein altes Ruderboot voller Schraubenschlüssel, Farbtöpfe, Kabel und Lattenstücke vor, wie sie's im Hafen von Monton gesehen hatte. „Das Ding ist genauso technisch übermodern wie der Giganto selber, nur viel kleiner“, lächelte Charivari schwach. „So. Ich gehe jetzt langsam bis auf fünfzig Meter hoch. Vielleicht gelingt es mir, den Meeresboden zu erreichen. Dann wäre die Arbeit ganz einfach.“ Es herrschte Schweigen, als sei kein Mensch (und kein Pudel) im Kommandoraum. Nicht mal der Hund tat einen Muckser. Plötzlich färbten sich die Wände schwefelgelb. Die Alarmsirene setzte ein. Sie heulte und kreischte wie ein ganzer Käfig fremdartiger Riesenvögel. Gleichzeitig rasselte und klingelte es überall wie besessen. Dann tönte die Automatenstimme aus der Betriebszentrale: „Leck verbreitert sich ... Leck verbreitert sich ...“ Charivari stellte Alarmanlage und Stimm-Automatik ab. „Sechsundfünfzig Meter unter der Erdoberfläche. Besser als nichts. Der Druck ist wenigstens nicht mehr so stark wie weiter unten! Los, Superhirn, wir sausen im Lift zum Geräteraum. Ich habe alle Reserve-Energie dazu benutzt, um rings um den Giganto einen abgekühlten Hohlraum zu schaffen. Eine Art Werkstatt-Garage, die ich mit Luft füllte. Das muß genügen, um das Leck zu finden und abzudichten.“ Er gab Henri ein paar Anweisungen, fand auch noch zuversichtliche Worte für die anderen - und stürzte mit Superhirn zum Fahrstuhl. Vom Geräteraum aus hatten sich Charivari und Superhirn im kleinen, torpedoähnlichen Arbeitsschiff Mini-Gig durch verschiedene Schleusen nach außen geschoben. Der Mini-Gig wirkte im Vergleich zum Erdschiff Giganto fast wie eine Hornisse. Doch das
Arbeitsschiff besaß eine Bugkanzel, durch deren Spezialkunstglas-Panzerhaube beide Insassen gute Sicht hatten. Tatsächlich umfing den stehenden Giganto jetzt ein Hohlraum. Charivari, der hinter Superhirn saß, ließ seinen Stabscheinwerfer aufleuchten. Diese Lampe hatte die Lichtstärke eines Leuchtturms. Gespenstisch ragte neben dem winzigen Mini-Boot die Wand des „schlafenden“ Giganto-Ungeheuers. „Da! Das Leck!“ rief Charivari. Er fuhr mit dem Mini-Gig eine scharfe Kurve und pirschte sich von unten wieder an die hohe und mächtige Erdschiffswand heran. Superhirn saß mit dem eingebauten Schweißgerät bereit. Der „Zick-Zack-Kratzer“ in der Giganto-Außenhaut wirkte wie eine Todeswarnung, die eine unbekannte Macht mit einem Riesen-Daumennagel geritzt hatte. Nach den Weisungen Charivaris bediente Superhirn das Schweißgerät. Bläulich, gelblich, rötlich zuckte es durch eine nie vorher erlebte Nacht. Superhirn tastete sich mit dem Schweißstrahl immer höher, dorthin, wo die Ausläufer des Kratzers noch schwarz zu sehen waren. „So“, sagte der Professor. „Geschafft! Wir müssen zurück. Der künstliche Werkstatt-Hohlraum wird nicht lange halten!“ Und wirklich: Charivari und Superhirn waren kaum wieder in der Befehlszentrale eingetroffen (wo sie mit Begeisterungsgeschrei und freudigem Gebell begrüßt wurden), da zeigte ein Blick auf die Bogenplatte den Zusammenbruch der eben noch vorhandenen „Garage“. Wenigstens gab es aber keinen Alarm mehr. Nach Abfragen aller Geräte setzte Charivari das Erdschiff in Bewegung: Tiefe: dreihundert Kilometer, Kurs: neuerlich auf die zerstörte U-Stadt Gigantopol. ..Wie kommt es, daß der Giganto, der doch die enormsten Drücke und Hitzegrade aushalten kann, durch Eiseskälte verletzbar ist?“ fragte Henri. „Das Erdschiff ist für jede Temperatur gebaut“, erklärte der Professor. „Wenn aber so extreme Hitze- und Kältegrade gleichzeitig auf den Rumpf einwirken, bilden sich mechanische Spannungen. Solche Spannungskräfte ... hm, derart ungleicher Art - die können der Giganto-Außenhaut schon was antun.“ Er blickte auf: „Superhirn, geh mit den anderen in die Bordkantine. Henri behalte ich hier. Er kann später essen.“ Um 23 Uhr Giganto-Bordzeit, nahe der Position 88 Grad nördlicher Breite, 89 Grad östlicher Länge, tauchte das Erdschiff aus dem Meeresboden auf Die U-Stadt Gigantopol war verschwunden. Charivari ließ ein anderes Beiboot ausfahren, ein kleines Giganto-Unterseeboot. Mit dem suchte er in Abständen - vierundzwanzig Stunden lang den Meeresboden ab, weit unter den oben treibenden Eisschollen des Polarmeeres. Vergeblich. Die Giganto-Besatzung war so entmutigt und erschöpft, daß kaum einer Kraft oder Lust hatte, zu sprechen. Selbst Superhirn war am Ende. „Legt euch erst mal hin und schlaft. Dann sehen wir weiter!“ sagte Charivari. Die Jungen und das Mädchen wußten nicht, wie lange sie wie bewußtlos in ihren Kojen gelegen hatten. Als Tati - trotz der Dusche noch schwankend auf den Beinen - blinzelnd nach unten fuhr, sah sie die seitliche Klapptür geöffnet: Sie diente gleichzeitig als Treppe ins Freie. Tati sah den Professor unten auf festem Land auf einem Stein sitzen. Die Sonne schien. Frische Luft drang ihr entgegen. Sie hörte muntere Vogelschreie. Kurz entschlossen flitzte sie ebenfalls hinunter. „Hallo, Professor! Wo sind wir?“ ,Auf einer unbewohnten Insel bei den Lofoten, Nord-Norwegen“, erwiderte Charivari. „Bist du so gut und weckst die anderen? He, und jeder soll sich einen Becher Kakao oder Tee mitbringen. Für mich bitte einen starken Tee!“ Als alle auf Steinen und Stubben um Charivari herumsaßen und ihre Getränke schlürften, sagte Prosper: „Wenn man in den Himmel guckt oder auf das Meer, mit den Inseln - und auf die Berge an der Küste -, dann möchte man meinen, alles wär nur ein schlimmer Traum gewesen!“
Gérard nickte: Er blinzelte in den blauen, wolkenlosen Himmel und drehte sich zu den fernen Bergkuppen um, deren Eisgipfel in der Sonne hellviolett, zartgelb, bläulich und rötlich schimmerten. „Hier möchte ich mal zelten“, murmelte Henri. ..Ich auch!“ rief Micha. Tati nickte. Sie beobachtete den Pudel, der ahnungslos-lustig herumsprang. Nur Superhirn schwieg. Genau wie der Professor war er jetzt wieder ganz bei der Sache. Charivari hatte ein Feld-Pult aufgeklappt vor sich, und zwar mit befestigter Schreibauflage, damit sie der Wind nicht davonwirbeln konnte. Er nestelte an einem Apparat, den er wie ein Fernglas um den Hals trug. „Ich bin so weit aus der Gefahrenzone rausgegangen und hier aufgetaucht, um Meldungen von der Weltraumstation Monitor einzuholen“, erklärte er. „In der Erde, vom Giganto aus, hab ich das aus Sicherheitsgründen vermieden.“ „Und Sie werden Biggs auch sagen ... daß ... daß Gigantopol mit ... mit General Brain und seinen Leuten ver-ver-verschollen ist?“ druckste Prosper kläglich. Alle schwiegen. Superhirn machte sich nichts vor. Da die Nordpolar-Eismütze kein Festland war (wie die Antarktis um den Südpol herum), sondern allenfalls eine Kappe mit Riesenlöchern - aber ohne festen Halt, driftete sie. Die mehr oder weniger großen Eisschollen oder Eisfelder wanderten gemächlich um den Pol herum. Wenn der Ragamuffin also die Station zersprengt hatte, war es möglich, daß die eingeeiste Besatzung Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte um den Pol kreiste, bis sie eines fernen, fernen Tages vielleicht durch eine Strömung in den Atlantik getrieben werden würde. Dort, im wärmeren Wasser, würde sie auftauen. Zu spät ... Krächzend meldete sich in Charivaris kleinem Gerät die Stimme Captain Biggs: „Hallo, Professor! Hatten Sie schon verloren geglaubt. Alles okay?“ Charivari gab einen kurzen, präzisen Bericht, vor allem darüber, daß die U-Stadt Gigantopol verschwunden war. „Kann nicht sein“, tönte es aus dem Kästchen. „General Brain, Gigantopol, meldet sich laufend. Allerdings - und das ist rätselhaft: Er meldet sich über Normalfunk, unverschlüsselt! Jeder Fischdampfer, jedes Flugzeug, ja, jeder Amateurfunker bis nach Frankfurt am Main kann seine Notrufe empfangen!“ Superhirn und Henri waren aufgesprungen. Tati kam vor Verblüffung nur langsam hoch. Schließlich standen auch Gérard. und Prosper. Und als Micha die Nachricht so recht begriffen hatte, rannte er mit dem Pudel um die Wette: „Hurra ... ! Gigantopol ist gerettet! Superhirns Vater lebt!“ „Still!“ mahnte Tati. „Jubeln können wir längst noch nicht.“ „Nie erklären Sie sich, daß U-Stadt nicht mehr auf alter Position ist?“ fragte Professor Charivari. „Unser Krisenstab meint, eine Eisgedanken-Strahlensalve hat die angeschlagene Station versetzt. Gigantopol muß jetzt weiter südöstlich stehen. Der Ausfall aller Geheimfunk-Anlagen ist durch Beschuß verständlich. Blieb also nur der Normalfunk. Letzte Nachricht, vor genau zwanzig Minuten, zwölf Sekunden, kam allerdings sehr schwach und verstümmelt. Wir verstanden nicht, ob es heißen sollte: Können uns nicht länger halten oder: Können uns ... länger halten! Zwischen den ersten und den letzten Worten war eine Störung!“ Charivari notierte alle Positionsangaben, die General Brain durchgegeben hatte, ebenso die Funktexte - ob verstümmelt oder nicht. „Was für Nachrichten liegen sonst noch vor?“ fragte er ungeduldig. Biggs' Stimme drang jetzt etwas klarer aus dem Kästchen: „Jede Menge, Professor! Jede Menge! Der Ragamuffin sollte Präsident des Olympischen Komitees werden. Oder Fußballtrainer!“ „Verschonen Sie mich mit Dummheiten!“ rief Charivari. „Ehrlich! Er hält die ganze Welt in Atem, wie nicht einmal ein Spiel um die Weltmeisterschaft! Wenn ich von dem ein Autogramm kriegen könnte. . . „ ..Schluß!“ unterbrach der Professor. Ruhiger fügte er hinzu: „Der Ragamuffin scheint mir eher ein Schachspieler zu sein. Besser: ein Pokerspieler. Was sagten Sie da von der ganzen Welt'?“ „Ich gebe Einzelheiten“, kam Biggs ,Antwort. Biggs meldete zunächst den rätselhaften Unfall des Postflugzeugs Kopenhagen-Island. Dann den
Untergang des alten Fahrgastschiffs „Emperor“ mit den durchgefunkten Begleitumständen. Besatzung sei gerettet. Eifrig machte Charivari sich Notizen. „Gestern, 20 Uhr Mitteleuropäischer Zeit, meldeten Amsterdam, Kopenhagen, Hamburg, Oslo und Rom: Holländische, dänische, deutsche, norwegische und italienische Schiffe aller Art hätten seltsame Notrufe empfangen“, berichtete Biggs. „Übereinstimmend war man aber der Meinung, diese Nachrichten kämen von einem unbekannten Forschungsschiff im Nordpolarmeer. Auf eine geheime UStadt, wie Gigantopol, ist keiner gekommen!“ „Gut. Weiter!“ „Auf folgenden Flugrouten empfingen Fahrgast- und Frachtflugzeuge ebensolche verwirrende Signale Gigantopols: die planmäßige Maschine Moskau-Kopenhagen-New York. Die Maschine FrankfurtLondon-Seattle, USA. Letztere streift die Südküste Grönlands. Dann: die Maschine Damaskus-RomNew York. Und viele andere. Ich weise besonders auf die Fahrgastmaschine Frankfurt-AnchorageAlaska-Tokio hin, die über den Nordpol fliegt. Auf der Nordpolroute bemerkte Flugkapitän Brower Wolkenbänke über dem Polarmeer - zu dieser Zeit völlig ungewöhnlich. Er gab diese Beobachtung an alle Bodenstationen weiter.“ „So. Das übrige kann ich mir vorstellen“, sagte Charivari. „Eben nicht“, schallte Biggs Stimme aus dem Kästchen. „Um 7 Uhr Osteuropäischer Zeit benutzte die sowjetische Regierung in Moskau den heißen Telefondraht nach Washington. Zu dieser Zeit lag der Präsident der USA im Bett. Wir hörten das Ergebnis des Gesprächs über normale WeltRundfunkstationen: Man einigte sich auf ungeklärte Naturereignisse.“ „Und?“ fragte Charivari ungeduldig. „Kanadische Wetterstationen, wie solche in Alaska, auf Nowala-Semlja - überhaupt um das gesamte Nordpolarmeer herum, hatten ihre Regierungen längst beraten und gewarnt. Was da seit gestern morgen bereits abgebaut und verlassen wird, ist sagenhaft! Kanadische Wetterflugzeuge vom Typ Scout, die modernsten, die es gibt, meldeten, daß militärische Beobachtungs-Stützpunkte in verblüffender Anzahl geräumt werden. Aber die militärischen Einheiten der Anliegernationen haben auch versucht, der Naturerscheinung auf den Grund zu kommen: Ihrer Majestät Schiff, die Korvette Mercury, unter Lieutenant-Commander Jenkins, traf sich in der Dänemarkstraße mit der amerikanischen Fregatte Jefferson unter dem Kommandanten Ross. Beide verständigten sich angesichts der jahreszeitlich rätselhaften Eiswolken, daß sie die Verantwortung für die Besatzung nicht länger übernehmen könnten. Sie drehten ab. Ebenso zog sich der russische Eisbrecher Eugen Onegin unter Admiral Bulow zurück. Dieselbe Begründung. Im Sommer gibt es keine Wolkenbänke, keinen Nebel und keine zusätzlichen Vereisungen im Nordpolar-Raum. Da herrscht immer schönstes Wetter. Die teilweisen Wintereinbrüche lassen Uneingeweihte eine Polarkatastrophe befürchten.“ „Um so besser, wenn sich alles aus der Gegend zurückzieht“, meinte der Professor. „Ich kann die versprengte Stadt Gigantopol ohne lästige Geheimhaltungs-Maßnahmen suchen. Wir gehen an Bord, Biggs. Wir starten dicht unter dem Meeresboden bei Einschaltung aller Ortungsgeräte. Jede FunkVorsicht wird außer acht gelassen.“ Charivari ging nun ran wie der Teufel. Nur eine Stunde später hatte der Giganto Kontakt mit Gigantopol, 150 Kilometer südöstlich der ehemaligen Position. Zum Jubel der jugendlichen Besatzung meldete sich Superhirns Vater, General Brain, und sogar auf Bildschirm. „Endlich!“ grinste er erschöpft. „Aber doch schnellstmöglich, denn eben erst haben wir die BildTon-Anlage provisorisch in Betrieb genommen.“ Der Giganto wurde durch die Schleusen der versetzten und angeschlagenen U-Stadt gelotst. Die Klappe ging auf, Superhirn sauste über die Treppe seinem Vater in die Arme. General Brain, wie er von den Männern (auch vom Professor und von Superhirns Freunden) weiterhin genannt werden mußte, wirkte wie eine etwas ältere „Ausgabe“ des spindeldürren Jungen. Mit seinen fünf leitenden Mitarbeitern, dem Professor und der jugendlichen Giganto-Besatzung ging
er zur Berichterstattung erst einmal in sein Behelfsbüro. Loulou hatte dort zwar nichts zu suchen, aber er durfte trotzdem mit. Einer der U-Stadt-Ingenieure breitete eine große Karte aus, und General Brain begann zu erläutern: „Hier sehen Sie den Querschnitt der halbkugelförmigen U-Stadt Gigantopol auf dem RundFundament. Genau in der Mitte des Bodentellers erfolgte der erste Einschlag aus dem Inneren der Erde. Er ging senkrecht hoch, und zwar durch den Hohltrakt, in dem sich übereinander lediglich Plattformen befinden - und durchschlug die Gallerte-Masse der Hauptkuppel sowie die beiden Schutzkuppeln im Scheitelpunkt.“ „Moment“, unterbrach Charivari. „Wie sah das aus? Ich meine, was hat man beobachtet? Was registrierten die Frühwarngeräte?“ „Unsere Lichtblitzmesser hatten verschiedentlich aufgeleuchtet, ohne daß meine Männer die Ursache dafür feststellen konnten“, erwiderte Brain. Der Professor unterbrach ihn, um ihm und seinen Assistenten die früheren und letzten Erfahrungen und Vermutungen über Wesen und Fähigkeiten des Ragamuffin mitzuteilen. „Im Inneren der Erde kann der Bursche keine festen Eisgeschosse erzeugen“, sagte er, „sonst hätte es an der Oberfläche Aufstülpungen und Erschütterungen geben müssen. Mit keinem Wort hat Biggs erwähnt, daß irgendwo Erd- oder Seebeben vermerkt worden wären. Es handelt sich um eisige Gedankenstrahlen. die das Erdinnere ohne jegliche Erschütterung durchrast haben. Erst unmittelbar unter der relativ kalten Erdoberfläche, erst recht aber in Verbindung mit Luft, Wasser und natürlichem Eis, sind die eisigen Gedankenströme zu festen Eissäulen erstarrt. Die Nebenströme zu Eislanzen und die Rand-Stromstöße zu festen Eis-Kugeln oder Eis-Eiern.“ „Jetzt verstehe ich!“ rief Brain. „Assistent-Ingenieur Miller hat beobachtet, wie die Fundament-Mitte plötzlich von einer Eis-Scheibe von etwa einem Meter Durchmesser bedeckt war. Diese Scheibe wuchs nach kurzer Verzögerung blitzschnell zu jener festen Säule, die dann die drei Gallerte-Kuppeln durchbrach! Der Raggamuffin-Eisgedankenstrom hat also das Fundament unsichtbar durchsaust - und ist erst mit der Luftfeuchtigkeit zu einer kompakten Ramme geworden!“ Charivari nickte. „Und bei dem Hieb dieser jetzt zu fast stahlhartem Eis gewordenen Säule - von unten nach oben - ist Ihre U-Stadt ins Wanken geraten.“ „Der Hohltrakt mit den übereinanderliegenden Plattformen enthält Gärten, Autoparkplätze, Konferenzräume, Bibliotheken, Turnhallen, Freizeitgelände, Schwimmbäder und dergleichen“, warf ein Assistent ein. „Daß die stahlharte Eissäule gerade da hindurch nach oben sauste, war unser Glück. Es hat enormen Sachschaden gegeben, viele Verletzte - aber keinen Toten. Wäre das Geschoß durch die Hochhäuser mit ihren Labors, Entwicklungstrakten, Büros und Studios (oder durch die vielen Kraftwerke) gesaust - na, dann danke schön!“ „Trotzdem sind die durchschlagenen Plattformen mit allem, was darauf war, wie Granatsplitter kreuz und quer durch die U-Stadt geflogen“, stellte General Brain richtig. „Weshalb wären sonst die Funkstationen ausgefallen? Und warum hätte die Stadt samt Fundament plötzlich Seitenneigung bekommen? Ich verstehe das auf einmal ganz genau: Nachdrängende Gedankenströme geringerer Stärke haben uns dann erwischt, als das Fundament teilweise über Meeresgrund war, und als sich zwischen Fundament und Meeresboden bereits Wasser befand! Da entwickelten sich die Ströme schon unter dem Fundament zu festem Eis, zu Kompaktgeschossen.“ „Deshalb die Versetzung aus der vorigen Position in die jetzige“, ergänzte Charivari. „Aber nun zu Ihren Funksprüchen, General Brain. Wie erklären Sie die Widersprüchlichkeiten, die wir in den fortwährenden Meldungen feststellten?“ „Hm. Ich setzte sofort die Nachricht an Raumstation Monitor ab: U-Stadt Gigantopol gesprengt, Wasser-Einbruch! Als nämlich die Eissäule die drei Schutzkuppeln, die uns innerhalb des Eismeers schützen, durchstoßen hatte, rauschte von oben wie verrückt das Seewasser ein. Kein schönes Gefühl - auf dem Grund des Meeres! Die U-Stadt Gigantopol schwankte immer heftiger. Die Wassermassen vernichteten die Hauptfunkstation, dann die Hilfsstationen. Mit Not-Geräten versuchten wir, den Funkverkehr aufrechtzuerhalten, aber da gab es Pannen. Und schließlich erwischte einer meiner Leute den offenbar völlig verwirrten, dritten Funker, der mit einem selbstgebastelten Gerät
unverschlüsselte Notrufe sendete. Das war, als sich die Fachleute längst bemühten, den verschlüsselten Funk-Hauptverkehr wiederherzustellen!“ Er verbesserte sich: „Ich meine, als ihnen das schon beinahe gelungen war!“ Professor Charivari strich sich über den schwarzen Bart: „Paßt alles ins Bild“, meinte er. „Wie haben Sie dann schließlich die Lecks in den Kuppeln doch noch abgedichtet?“ Jetzt lachte General Brain. „Ich? Gar nicht! Die Lecks in der Hauptkuppel und in den Schutzkuppeln lagen im Zenit! Das war günstig - und das hat der Ragamuffin wohl nicht bedacht! Die Kuppeln sackten etwas zusammen und schlossen von selbst die Lecks! Ein Stück der Eissäule blieb hängen und bildete einen regelrechten Pfropfen!“ Jetzt lachten sogar Superhirn, Prosper, Gérard und die drei Geschwister. Charivari zeigte nur die Andeutung eines Lächelns. „Ich denke mir, hier hat sich sonst noch allerlei abgespielt” , meinte er. „Der zur Eissäule gewordene, breite Gedankenstrom aus der Erde, die ... hm ... rasende Ramme, die die Kuppel zerbrach, wird doch sicher Eissplitter zurückgelassen haben...“ General Brain blickte ihn von der Seite an: „Sie meinen, diese Splitter waren ... strahlenverseucht? Da haben Sie recht! Wer ihnen zu nahe kam, fing an zu toben. Es hat Schlägereien gegeben. Die Leute folgten meinen Weisungen nicht mehr. Erst, als ich die Eisstücke löschen ließ...“ „Danke“, schnitt ihm Charivari das Wort ab. „Völlig klarer Fall! Der Ragamuffin hat seinen Eisgedanken-Strahlen die schon bekannten Unguts-Strahlen beigemischt. Das erstarrte Eis konservierte diese Boshaftigkeitswellen eine Weile und übertrug sie auf die Gehirne. Na, ich kann mir denken, daß es auf dem gesunkenen Schiff Emperor auch zu unerfreulichen Szenen gekommen ist.“ Er fügte hinzu: „Unser lieber Ragamuffin hat eine ganze Reihe kleinerer Eisgedanken-Ströme und Stöße abgeschossen und sie in Zickzack-Winkeln hochgeschickt.“ Plötzlich fiel ihm etwas ein: „Wer der Ragamuffin ist - und wo sich seine innerirdische Machtzentrale befindet - wissen wir nicht. Ohne Zweifel ist jedoch erwiesen, daß er mir und meinen Mitwissern nachstellt, und daß er und seine Leute Menschen sind. Menschen, die nicht mit technischen Mitteln, sondern mit enormer Willensenergie arbeiten. Sie können zum Beispiel ihre Körpergröße verändern und sich verkapselt selbsttätig in die Erde hinein- und aus der Erde herausschießen.“ „Einer ist uns mal als Schachfigur begegnet“, warf Superhirn ein. „Es muß einen Zusammenhang zwischen der Eisgedanken-Idee und der U-Stadt Gigantopol geben“, überlegte der Professor. „Ich dachte gleich anfangs daran: Könnte ein geheimes MaterialZubringerschiff so einen verkapselten Vava - einen veränderlichen Spion - an Bord gehabt haben?“ General Brain und seine Männer tauschten Blicke. Endlich sagte der Sicherheits-Ingenieur: „Wahrhaftig! Nach Ankunft des letzten Zubringerschiffs entdeckten wir im Gigantopol-Fundament ein Loch, etwa wie eine Pistolenschuß-Öffnung. Wir haben den Schußkanal ausgelotet, sind aber nicht auf Grund gestoßen. Daraufhin haben wir starke Platten darübergeschweißt.“ „Dann wäre auch das geklärt“, meinte Charivari. „So. Ich werde dafür sorgen, daß Sie Instandsetzungshilfe bekommen- und daß die U-Stadt Gigantopol wieder ihre alte Position bezieht... Hm. Dieser Ragamuffin-Spion hat schlau erkannt, daß eisige Unguts-Strahlen in Luft-, Wasser- und Eiszonen fest werden und harte Geschosse bilden! Na, da wird ihn der Ragamuffin aber zum OberVava befördern müssen.“ Nach eingehender Besichtigung der Hauptschadenstellen drängte Professor Charivari zum Aufbruch. Hier war keine Zeit zum Feiern. Es galt jetzt, die Arbeit an den anderen Erdschiffen voranzutreiben und schleunigst eine großangelegte Aktion für ein stärkeres Gigantopol in die Wege zu leiten. Superhirn verabschiedete sich von seinem Vater. Tati, Henri, Gérard, Prosper und Micha gelang es, so zu tun, als wüßten sie nicht, wer der Sicherheits-Ingenieur in Wirklichkeit war. Nur der Pudel benahm sich merkwürdig. Er kniff dem sogenannten „General“ in die Hose und versuchte, ihn zum Giganto-Parkplatz zu zerren. Er winselte, als wollte er sagen: Du gehörst doch zu uns! Und hätte er die Zusammenhänge begreifen und
aussprechen können, so hätte er gerufen: Wer du bist, wissen wir alle längst! So aber machte er nur wuff, waff, wau, wau ...
Ende