Dorf der Legenden von Bernd Frenz
Nr. 70 Die Küste am Horn von Kanda hatte längst vor der beständigen Brise kapitulier...
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Dorf der Legenden von Bernd Frenz
Nr. 70 Die Küste am Horn von Kanda hatte längst vor der beständigen Brise kapituliert, die Tag für Tag landeinwärts zog. Jedes schützenden. Sandkorns beraubt, wurde das Ufer von schroffen, durch Salzwasser zerklüfteten Felsen und faustgroßem Geröll dominiert. Eine karge Landschaft, die bestenfalls Melancholie auszulösen vermochte - doch richtig abweisend wurde es erst dort, wo Menschen lebten. Rund um eine Bucht, an der sich Fischer und Händler angesiedelt hatten, erhob sich ein hoher, mit zahlreichen Kanonen bestückter Erdwall. Die aus den Schießscharten ragenden Geschützrohre wirkten ungefähr so einladend wie die Stachel eines Igels. Um vollends deutlich zu machen, was einem feindlich gesinnten Reisenden blühte, hatten die Dorfbewohner auf mehreren vorgelagerten Hügeln roh gezimmerte Galgen errichtet, an denen Erhängte baumelten. Dem Grad der Verwesung nach zu urteilen, bereits seit einigen Wochen.
WAS BISHER GESCHAH Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Russlands und Chinas werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten … für Jahrhunderte. Als die Eiszeit endet, hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Mutationen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den US-Piloten Matthew Drax, dessen Jet-Staffel beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Beim Absturz wird er von seinen Kameraden getrennt und von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde … Beim Wettlauf zum Kometenkrater, wo laut der ISS-Daten vielfältiges Leben wuchert, haben Matt Drax, Aruula und der Cyborg Aiko Konkurrenz: Der Weltrat (WCA), Nachfolger der US-Regierung unter Präsident Victor Hymes und General Arthur Crow, setzt seine Ziele unerbittlich durch, indem er barbarische Völker unterstützt, die andere Zivilisationen ständig angreifen und so klein halten. Crows Tochter Lynne leitet die WCAExpedition, begleitet von dem irren Professor Dr. Jacob Smythe. Die zweite Fraktion ist eine Rebellengruppe, die gegen die WCA kämpft, die Running Men. Ihr Anführer Mr. Black ist ein Klon des früheren USPräsidenten Schwarzenegger. Matt, Aiko und Aruula machen sich von L.A. aus auf den Weg. Mit einem Eissegler geht es nach Kanada, wo Matt in einer Biosphäre von einem Lava-Drachen entführt wird. Aiko und Aruula folgen der Kreatur mit einem Zeppelin und retten Matt aus der Gewalt eines Volkes, das ihn den Walen im Großen Bärensee opfern wollte. Weiter geht es nach Norden - doch bei Fort McPherson stürzt das Luftschiff ab. Inuit, die eine »Eisfrau« als Gottheit verehren, nehmen sie auf. Die Göttin entpuppt sich als Amber Floyd, eine Wissenschaftlerin, die seit über 500 Jahren in einem Kältetank liegt und nun geweckt wird. Gleichzeitig gelangen die Running Men nach Fort McPherson, verfolgt von einer Mongolenhorde. Gemeinsam stellen sie sich der Gefahr. Es gibt Verluste auf beiden Seiten. Auch Amber stirbt, als ihre Zellen rapide altern. Die beiden Expeditionen schließen sich zusammen, doch Matt geht die Allianz nicht ohne Vorbehalte ein; der Rebellenführer ist ihm suspekt. Das ändert sich, als er Mr. Black näher kennen lernt - und dieser ihm das Leben rettet, als ein überlebender Mongole mit Aruula und der Telepathin Karyaana als Geiseln entkommt. Sie können nur Aruula retten; Karyaana stirbt, nachdem sie herausgefunden hat, dass die Mongolen - die Ostmänner - im Auftrag des Weltrats operieren …
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Matt überließ Aruula den Platz am Bildschirm, auf den das Bild der Bugkamera übertragen wurde. Er musste mit eigenen Augen sehen, was draußen vor sich ging. Zeige- und Mittelfinger tasteten nach dem Entrieglungsknopf für die Dachluke. Zischend klappte der runde Stahldeckel in die Höhe. Licht flutete in den engen, halbdunklen Kommandostand. Über eine schmale Eisenleiter stieg Matt so weit hinauf, dass er den Oberkörper ins Freie zwängen konnte. Kein leichtes Unterfangen angesichts des unebenes Geländes, über das der Panzer gerade hinweg rollte. Mit beiden Händen krallte Matt sich am oberen Rand des Ausstiegs fest, während er die Umgebung absuchte. Im nächsten Moment verwünschte er seine Neugierde. Der Gestank der baumelnden Leichen verpestete derart die Luft, dass er sich einen Ärmel seiner Uniformjacke vors Gesicht presste und durch den Stoff atmete. Es war ein regelrechter Galgenwald, den der Nixon-Panzer mit rasselnden Ketten passierte. Matt zählte zwölf schwarz angelaufene Leichen, die sanft im Takt des Windes schwangen. Dazu kamen zwei Tote, die am Boden lagen, weil entweder Stricke oder Halswirbel der Belastung nicht länger stand gehalten hatten. Von Salz und Sonne gebleichte Knochen schimmerten zwischen einstmals farbenfroher Kleidung hervor, die nur noch aus Blut getränkten Fetzen bestand. Für die tiefen Wunden waren vor allem Kolkraben und Bonta-Vögel verantwortlich, die dicht gedrängt auf den Toten hockten. Erschreckt durch den 4
ungewohnten Lärm, sträubten sie ihr Gefieder und blickten zu dem Panzer auf. Erst als sie sicher sein konnten, dass der Stahlkoloss stur geradeaus fuhr, wandten sie sich wieder ihrer schaurigen Mahlzeit zu. »Kein schöner Anblick, was?«, fragte Mr. Black, der mit Miss Hardy auf dem Dach saß, um die Umgebung im Auge zu behalten. Beide Running Men hatten Tücher vors Gesicht gebunden, um sich gegen Staub und den Verwesungsgeruch zu schützen. »Außer uns scheint keiner an den Toten Anstoß zu nehmen«, sagte Honeybutt Hardy. Mit ausgestrecktem Arm deutete sie auf ein offenes Flügeltor, vor dem Wakuda-Gespanne und beladene Yaks geduldig auf die Überprüfung durch einige Wachposten warteten. Bauern und Händler, die ihre Waren feil halten wollten, erhielten demnach Einlass. Warum also nicht auch ein paar Reisende, die eine Schiffspassage suchten? »Wie geht's weiter?«, drang Aikos Stimme von unten herauf. Der Cyborg, der zur Zeit im Fahrersessel saß, steuerte mit sicherer Hand auf den ausgetretenen Pfad zu, der Richtung Tor führte. Falls sie den Hafen meiden wollten, mussten sie sich langsam für einen Richtungswechsel entscheiden. Matt sah fragend zu Mr. Black hinüber, der nur ein resigniertes Schulterzucken andeutete. Was bleibt uns schon anderes übrig?, wollte der Rebellenführer damit sagen. Auf dem Landweg geht's nicht mehr weiter. Miss Hardy wiederholte die Geste ihres Vorgesetz-
ten, um sich - wie nicht anders zu erwarten - seiner Meinung anzuschließen. Matt ersparte sich ein bestätigendes Nicken. Jeder von ihnen wusste, wie die Lage aussah. Nach wochenlanger Fahrt befanden sie sich am äußersten Punkt des in die Beringstraße ragenden Landzipfels von Alaska. Um das gegenüberliegende Festland zu erreichen, mussten sie den tonnenschweren Transportpanzer zurücklassen und auf ein Schiff umsteigen. Die Stadt Wales, die einst in dieser Gegend gelegen hatte, ließ sich auf den topografischen Aufnahmen der ISS, die Matt bei sich trug, nicht mehr ausmachen. Erdbeben, Flutwellen oder ein Anstieg des Meeresspiegels - niemand kannte die wahre Ursache für ihr Verschwinden. Vielleicht alle drei Katastrophen zusammen. Eine ganze Stadt, einfach von der Landkarte gewischt. Matt fröstelte stets aufs Neue bei dem Gedanken, wie viele Opfer der Kometeneinschlag gefordert hatte. Und je näher sie dem Kratersee kamen, desto deutlicher wurden die Spuren, die noch jetzt, über fünfhundert Jahre später, die geschundene Landschaft prägten. Hier, so nahe am Epizentrum, gab es kaum noch Ruinen oder Fundamente, die auf frühere Siedlungen hinwiesen. Die Spuren des 21. Jahrhunderts waren fast vollständig von der Oberfläche getilgt worden. Die Polverschiebung hatte zudem eine drastische Klimaveränderung ausgelöst. Dort, wo einst klirrende Kälte und Schnee herrschten, sprossen nun
grünes Steppengras, Schlingkraut und Brabeelenbüsche. Die steigenden Temperaturen hatten selbst das Packeis geschmolzen. Die Beringstraße war ein Meer wie jedes andere geworden, das sich mit einfachen Booten befahren und befischen ließ. Eigentlich ein idealer Ort zum Leben, trotzdem gab es kaum größere Ansiedlungen. Seltsam. Was wohl dahinter steckte? Matt blickte zurück zu den Gehängten. Ihr Tod mochte die Antwort auf seine Fragen sein. Leider konnten sie nicht mehr reden, nur noch mahnend im Wind schwingen. Trotzig presste der Pilot seine Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Laut Satellitenkarte befand sich in der hiesigen Bucht der größte Hafen entlang der Beringstraße. Auch wenn es keinem aus der Gruppe gefiel, ihnen blieb gar nichts anderes übrig, als sich von hier aus eine Passage nach Russland zu suchen. Behände schwang Matt die Stiege hinab und sah sich innerhalb des Kommandostandes um. Aiko und Aruula waren ebenfalls dafür, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen, das konnte er ihren entschlossenen Gesichtern ansehen. Was der Fünfte im Bunde dachte, war dagegen nicht mal mit Worten zu erfahren. Merlin Roots saß mit leerem Blick in seinem Schalensessel. Auf Matts Frage hin machte er nur eine wegwerfende Bewegung, als wäre es ihm völlig egal, wohin es die Expedition verschlug. In Gedanken war der ehemalige WCAHistoriker wohl immer noch bei Karyaana, seiner ehemaligen Gefährtin. Ihr 5
Tod hatte ihn nicht nur bis ins Mark erschüttert, sondern auch wortkarg und verschlossen gemacht. Alle hatten gehofft, dass sich sein Zustand im Laufe der Zeit bessern würde, statt dessen war es nur noch schlimmer geworden. Merlin kapselte sich immer weiter ab und vernachlässigte sogar die Körperpflege. Dichte Stoppeln bedeckten seinen früher so penibel geschorenen Schädel. Matt machte sich ernsthaft Sorgen um den Gemütszustand des jungen Mannes. Sobald sie die Ruhe und Abgeschiedenheit einer Unterkunft erreicht hatten, wollte er das Gespräch mit Merlin suchen. Dazu mussten sie aber erst einmal die Torposten passieren. Seufzend wandte sich Matt dem Bildschirm der Bugkamera zu. »Geh lieber etwas vom Gas, bevor du ans Ende der Warteschlange fährst«, mahnte er Aiko. »In dieser Gegend hat man vermutlich noch nie einen Panzer gesehen.« »Geht klar.« Der Cyborg drosselte den kristallgetriebenen Motor und legte die letzten achthundert Meter im Schritttempo zurück. Trotz der geringen Geschwindigkeit jagte der Nixon den wartenden Händlern eine Heidenangst ein. Immer wieder schauten sie nervös über die Schulter und gestikulierten wild in Richtung des heranwalzenden Ungetüms. Matt kletterte über die Stiege nach oben, um ihnen beruhigend zuzuwinken. Eine Panik blieb zum Glück aus, doch Ruhe kehrte erst ein, als Aiko den Motor mit einem leisen Heulen ersterben ließ. Als Geste des guten Willens entriegelte der Cyborg das Seitenschott. Die herbei eilenden Wachen sollten se6
hen, dass der Panzer ein menschliches Transportmittel und kein gefährliches Tier war. *
Vier Wochen zuvor. Die Schlacht war schon entschieden, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Allein das rote Piratenbanner, unter dem die drei Dschunken segelten, raubte den armseligen Fischern den Mut zum Widerstand. Skarangas Lippen spalteten sich zu einein zufriedenen Lächeln, während er vom Quarterdeck aus verfolgte, was an Land vor sich ging. Berbow hatte den Blutzoll, den es beim letzten Überfall zahlen musste, offensichtlich gut überstanden. Im Gegensatz zu vielen anderen Küstendörfern, die nur noch aus verwaisten Hütten und Anlegestellen bestanden, brodelte hier weiterhin das Leben. Seit die Wachen auf dem steinernen Aussichtsturm die gefürchteten Dschunken mit den eckigen Segeln ausgemacht hatten, trieben warnende Glockenschläge die Menschen auf breiter Front ins Landesinnere. Wer konnte, nahm sein Vieh mit, ansonsten rettete jeder nur das, was er auf dem Leibe trug. Und das wichtigste Gut überhaupt - sein Leben. Skaranga fuhr mit der linken Hand unter die rot und blau bestickte Weste, die seinen mit ausgeprägten Muskelpartien besetzten Brustkorb bedeckte. Geschwind stieß er zu der Stelle vor, an der er ein feines Zwicken verspürte. Zwischen der spärlichen Brustbehaarung ertastete er eine Erhebung. Ein
verdammter Blutkäfer, der ihn unbemerkt angezapft hatte! Grollend presste er Daumen und Zeigefinger gegeneinander, bis ein lautes Knacken erklang. »So geht es jedem, der mir lästig wird!« Triumphierend hielt Skaranga die blutigen Überreste in die Höhe und betrachtete sie von allen Seiten, bevor er sie mit einer verächtlichen Geste ins Wasser schnippte. »Alarm! Die Fischer fliehen aufs Meer hinaus!« Apoo, den alle nur den Narren nannten, turnte aufgeregt am Bugspriet herum, während er immer wieder auf die kleinen wendigen Boote deutete, die eilig aus der Bucht heraus ruderten. Immer nah am Ufer bleibend, wollten sie das flache Küstengewässer nutzen, um sich unbeschadet abzusetzen. Ein leises Murren ging durch die Besatzung. Niemand sonst verspürte Lust auf eine Verfolgungsjagd, bei der sie am Ende womöglich auf ein scharfes Riff liefen, das ihnen ein Leck in den Rumpf schlug. Die Fischer von Berbow kannten alle Untiefen vor Ort, außerdem gab es auf ihren kleinen Booten nicht viel zu holen. Höchstens frische Sklaven, aber die ließen sich auch bei anderer Gelegenheit einfangen. »Skaranga! Schnell! Sie entkommen!« Mit seinen an den Oberschenkeln ausgestellten Hosen, einem viel zu weiten Hemd und dem schlecht sitzenden Turban, der ihm laufend über die Augen rutschte, sah Apoo wirklich wie ein Narr aus, der nur zur Unterhaltung der Besatzung diente. Seine zappligen Bewegungen und die schreiend bunten Sachen, die er bei verschiedenen Über-
fällen erbeutet hatte, täuschten jedoch über den wahren Charakter des quirligen Piraten hinweg. Wer ihn näher kannte, wusste, dass es das Jagdfieber war, das ihn nicht still stehen ließ. Apoo wollte töten. Mit dem Schwert zuschlagen und Blut spritzen sehen. Beide Hände fest um einen wehrloses Hals legen, bis sein Opfer das Leben aushauchte. So sah für den Narren die Vorstellung von einem gelungenen Überfall aus. Die übrige Besatzung amüsierte sich, weil er vor Aufregung längst kein Wort mehr heraus bekam und mit hochrotem Kopf herumtanzte wie eine Schankmaid, die zum ersten Mal auf den Tisch gehoben wurde. Johlend feuerten sie ihn an, schwangen Krummsäbel und Enterbeile in der Luft oder hielten sich die Bäuche vor Lachen. Niemand schien mehr daran zu denken, dass sie eine Küstensiedlung angriffen. Skaranga klemmte seine Daumen hinter den Hosenbund und machte dem Schauspiel mit lauten Worten ein Ende: »Klar zum Beidrehen! Bedienungsmannschaften an die Geschütze!« Der Ärger, den er in der Stimme mitklingen ließ, zeigte sofortige Wirkung. Die grölende Meute stob auseinander. So undiszipliniert sich die Mannschaft auch sonst gab; wenn es darauf ankam, kannte jeder seinen Platz. Selbst Apoo war mit wenigen Schritten bei dem Sechspfünder, den er mit zwei weiteren Piraten bediente. Mit verkniffenem Gesicht sah Skaranga auf die Bronzegeschütze hinab, die sich oberhalb der Ruderbänke aneinander reihten. Kanonen. Eine 7
mächtige Waffe. Und das einzig Gute, das er dem Auftauchen der Ostmänner abgewinnen konnte, die die Bruderschaft des blutigen Banners aus ihren angestammten Gewässern entlang der Pazifa-Inseln vertrieben hatten. Unzählige verlustreiche Kämpfe waren notwendig gewesen, um den wendigen Dampfbooten das Geheimnis der überlegenen Bewaffnung zu entreißen. Heiße Schauer liefen über Skarangas Unterarme. Da waren sie wieder, die Erinnerungen, die sich nicht verdrängen ließen! Plötzlich schien die Luft um ihn herum erfüllt von Explosionen, metallischem Klirren und Schmerzensschreien. Eine widerliche Mischung aus Pulverdampf und verbrannter Haut ließ seine Nasenflügel beben, obwohl der Geruch nur in seinen Gedanken existierte. Diese Sinnestäuschung war für Skaranga nichts Neues. Sie befiel ihn stets, wenn er an den Hinterhalt von Bel'bey dachte, bei dem die Piraten drei Dampfboote voller Ostmänner vernichtend geschlagen hatten. Einige der Kanonen, die dabei erbeutet wurden, befanden sich heute an Bord seiner Dschunken. Mit dem schwarzen Pechanstrich, der sie vor Rost schützen sollte, unterschieden sie sich kaum von den Geschützen, die sie inzwischen selbst gegossen hatten. Für die findigen Schmiede der Bruderschaft war es nicht schwer gewesen, die simplen Konstruktionen nachzubauen. Die Arbeit der Folterknechte, die das Geheimnis des Schwarzpulvers ergründen mussten, hatte sich als weitaus zeitraubender erwiesen, doch nach Wochen 8
des ununterbrochenen Schmerzes gab auch der härteste Ostmann klein bei. Selbst Apoo war damals froh gewesen, als er seinen Opfern den Gnadenstoß versetzen durfte. Das hatte es noch nie zuvor gegeben. Lodernde Kohlen. Rot glühendes Eisen. Verbranntes Fleisch. Immer schneller jagten die heißen Wellen durch Skarangas Arme, bis er das Gefühl hatte, die Haut würde ihm Stück für Stück vom Körper gezogen. Schweiß perlte auf seiner Stirn auf. Verdammte Erinnerungen. Erst als die Dschunke unter dem Druck des Heckruders nach Backbord driftete, gelang es ihm, die Schatten der Vergangenheit abzuschütteln. Mit aus dem Wind genommenem Hauptsegel war das Schiff den Gewalten der See für kurze Zeit schutzlos ausgeliefert. Schwerfällig tanzte der Rumpf auf den Wellen, die gischtend an der Bordwand zerschellten. Skaranga glich die Schwankungen instinktiv mit beiden Beinen aus und sah zu den kleinen Booten, die über der Backbordreling sichtbar wurden. Er schirmte die Augen mit der Hand ab, um sie gegen den Einfall der Sonne zu schützen. So konnte er die Fischer auf den Ruderbänken, die sich mit aller Kraft in die Riemen legten, mit bloßem Auge erkennen. Nahe genug, um sie unter Beschuss zu nehmen. »Ungefähr dreihundertfünfzig Bootslängen Entfernung«, schätzte er laut, damit es die Bedienungsmannschaften verstanden. »Fertig machen zum Feuern!«
Apoo und einige andere rissen die Ledertüllen, die die Mündungen vor eindringendem Salzwasser schützten, von den Backbordgeschützen. Die übrigen Piraten machten sich daran, die Sechspfünder auf die richtige Entfernung einzurichten. Unter lautem Ächzen drückten sie die Rohrenden mit stabilen Hebeln in die Höhe, damit passende Holzkeile untergeschoben werden konnten. Die Ausrichtung funktionierte nach einem simplen Prinzip. Je größer der hinten liegende Klotz, desto weiter senkte sich die Mündung herab. Bei waagerechter Lage ließen sich nur noch Ziele treffen, die nicht weiter als hundert Längen entfernt waren. »Dreihundertfünfzig Längen steht«, gellte es nacheinander über Deck, bis auch die letzte Gruppe fertig war. »Ziel anvisieren!«, befahl der Piratenkapitän. Klappernd flogen die Geschützpforten in die Höhe und machten den Sechspfündern Platz, die nach vorne rollten, bis ihre schwarzen Mündungen drohend aus der Bordwand ragten. Der Steuermann korrigierte noch einmal den Kurs, während die Dschunke unter Verwendung des Vorsegels langsam durch die Wellen schnitt. Über die Backbordreling hinweg konnte man die davonziehenden Fischerboote sehen. Brennende Luntenstöcke senkten sich über die mit frischem Pulver gefüllten Zündlöcher. Die Kanoniere warteten nur noch auf den letzten, alles entscheidenden Befehl. Skaranga grinste zufrieden. Seine Männer konnten dringend eine Ziel-
übung gebrauchen. Beide Hände in die Hüften gestemmt, bleckte er angriffslustig die Zähne und brüllte: »Volle Breitseite!« Die letzte Silbe hing noch in der Luft, als der Kanonendonner losbrach. Unter infernalischem Lärm entluden sich nacheinander alle fünf Geschütze. Rotglühende Flammen schlugen aus den Mündungen, gefolgt von dichten Pulverwolken, die das Schiff einnebelten. Der Explosionsdruck schleuderte die Sechspfünder auf ihren Holzkarren zurück, doch starke Sicherungsleinen verhinderten, dass sie über das ganze Deck rollten. Der geballte Rückstoß, der von den Leinen auf die Bordwand übertragen wurde, brachte die Dschunke gehörig ins Schwanken. Selbst Skaranga musste sich an der Brüstung festhalten, während er die Geschossbahnen verfolgte. Jaulend zogen die Eisenkugeln über das Wasser hinweg. Die Distanz zu den Fischerbooten schmolz in der Zeitspanne eines doppelten Fingerschnippens. Zweihundertfünfzig Längen. Dreihundert. Dreihundertünfzig! Schließlich mussten sich die Kanonenkugeln doch der Schwerkraft beugen. Mit zerschmetternder Kraft sausten sie nieder. Skaranga heulte vor Wut auf, als er die Wassersäulen sah, die an den ersten Einschlagpunkten in die Höhe spritzten. Verdammt, zu kurz gezielt! Die Masse der Fischerboote war schon dreißig Längen weiter. Nur zwei halb besetzte Nachzügler, 9
die nicht genug Ruderkraft aufbrachten, lagen noch im Zielgebiet. Die dritte Kugel jagte direkt über einen von ihnen hinweg. Bei gesetztem Segel hätten sie glatt die Takelage des Bootes zerfetzt. So musste sich Skaranga damit begnügen, dass die Ruderer auf den Bänken durchgeschüttelt wurden, als die hinter ihnen einschlagende Kugel hohe Wellen schlug. Die Besatzung des anderen Nachzüglers hatte nicht so viel Glück. Eine der beiden verbliebenen Kugeln hämmerte genau in ihren Bug. Das Splittern der Spanten war bis zur Dschunke zu hören. Die Wucht des Einschlags ließ die Schaluppe so stark erzitterten, dass das Heck kurzzeitig aus den Wellen stieg, nur um gleich darauf wieder zurück in die Fluten zu fallen. Die Besatzung hatte den auf sie einwirkenden Fliehkräften nichts entgegenzusetzen. Hilflos wirbelten die Männer durcheinander, knallten mit den Köpfen zusammen und gingen über Bord. Hilfeschreie gellten über die Wasserfläche, während die Schaluppe bugüber zwischen ihnen versank. Wer nicht schnell genug fort kam, fiel dem Sog des untergehenden Schiffes zum Opfer. Gurgelnd verschwanden sie mit in den Fluten, wurden hinab gerissen in ein kaltes nasses Grab. An Bord der Dschunke wurde der Treffer mit gebührendem Jubel gefeiert. Die Piraten schlugen sich gegenseitig auf die Schultern und ergötzten sich an dem Todeskampf, der sich vor ihren Augen abspielte. Die ausgestreckte Hand eines Ertrinkenden, die noch für kurze Zeit zwischen den Wellen tanzte, 10
löste nur Hohn und Spott bei ihnen aus. Einzig Kapitän Skaranga zog ein missmutiges Gesicht. Dass die meisten Fischer überlebt hatten, sprach nicht gerade für seine Treffsicherheit. Und als ob das nicht schon ärgerlich genüg wäre, besaß der verbliebene Nachzügler auch noch die Frechheit, seine Fahrt zu stoppen, um die im Wasser paddelnden Kameraden an Bord zu nehmen. Glaubten diese Netzschwinger etwa, die Piratendschunke hätte bereits ihr ganzes Pulver verschossen? Es gab nur eine Möglichkeit, den sauren Geschmack, den Skaranga im Mund verspürte, in das süße Aroma des Triumphes zu verwandeln. »Kanonen laden und neu ausrichten!«, übertönte er das allgemeine Geschrei. »Die Kerle versenken wir endgültig in den Wellen!« Einen Moment lang erstarrte die Mannschaft vor Überraschung, dann wurden begeisterte Rufe laut. In Augenblicken wie diesen zeigte sich, warum Skaranga der von allen gewählte und akzeptierte Führer ihrer Flotte war. Weil er es stets aufs Neue verstand, die natürliche Grausamkeit seiner Mannschaft in geregelte Bahnen zu lenken. Mit Feuereifer machten sich die Piraten daran, die Kanonenrohre auszuwischen. Erst nachdem auch der letzte Gluthauch verschwunden war, konnten sie es wagen, eine neue Pulverkartusche in das Geschütz zu stopfen. Ladepfropfen und Eisenkugel folgten - doch ehe sie das Zündloch mit dem Pulverhorn auffüllen konnte, ertönte Geschützdonner. Überrascht wirbelte Skaranga herum.
Mit großen Augen sah er auf die anderen beiden Dschunken, die seine Kaperfahrt begleiteten. Ihre Kapitäne hatten seine Breitseite offensichtlich für das Startsignal zu einem allgemeinen Angriff gehalten und deshalb ebenfalls das Feuer eröffnet. Dumpfe Schläge hallten vom Hafen wider. Steinstaubwolken markierten die Stellen, an denen einige Gebäude getroffen wurden. »Aufhören, ihr Idioten! Habt ihr denn vergessen, was wir besprochen haben? Das Dorf nützt uns nichts, wenn ihr es dem Erdboden gleich macht!« Wütend riss Skaranga die Arme hoch und winkte hinüber, doch im Eifer des Gefechts wurden seine Zeichen übersehen. Erst als er ein blaues Kreuz auf gelben Grund am Mast auf ziehen ließ, stellten die anderen Dschunken das Feuer ein. Alle laufenden Manöver beenden, bedeutete diese Flagge. Skaranga schlug wütend mit der rechten Faust in die linke Handfläche. Die überlebenden Fischer waren natürlich längst an Bord der zweiten Schaluppe geklettert und außer Reichweite geflohen. Und eine Verfolgungsjagd war die Sache nicht wert, zumal die Sonne bereits von rötlichem Schimmer überzogen wurde. Bald würde es dämmern. Bis dahin sollten sie besser vor Anker liegen. Apoo, der die Enttäuschung seines Kapitäns am besten nachvollziehen konnte, wagte sich als Einziger aufs Quarterdeck. Grinsend schob der Narr den verrutschten Turban zurecht, bevor er sagte: »Was solls? Dafür stehen uns an Land sämtliche Speisekammern of-
fen.« So war er, Apoo, der Narr. Nie lange an das Vergangene denken, immer darauf bedacht, das Beste aus einer Situation zu machen. »Du hast Recht«, gab Skaranga zu. »Also los, Kurs auf die Bucht setzen.« Apoo gab den Befehl lautstark weiter, bis die Dschunke wieder hart am Wind lag. Mit vollen Segeln schnitt der Bug durch die Wellen, die sich gischtend teilten und am Rumpf vorbei rollten. Berbow rückte näher. Ein verlassener Hafen, der den Launen der Piraten schutzlos ausgeliefert war … *
Gegenwart. Fünf mit Hellebarden bewaffnete Männer stoppten in respektvoller Entfernung ab und gruppierten sich zu einem nach hinten abfallenden Halbkreis. Jeder von ihnen trug Helm und Brustharnisch aus Bronze, sowie einen Waffenrock aus übereinander läppenden Lederstreifen. Hosen aus rotem Tuch und feste Stiefel vervollständigten die Uniform. Als zweite Hauptwaffe ragte jedem ein Kurzschwert aus der Rückenscheide; dazu hatten sich die meisten einen scharfen, beidseitig geschliffenen Dolch hinter den Ledergürtel gesteckt. Der Vorderste schien auch der Ranghöchste zu sein. Darauf deutete zumindest der grüne Helmbusch hin, mit dem er sich deutlich von den übrigen Soldaten abhob. Ungewöhnlich waren auch die Augen, die einen leicht mandelförmigen Einschlag besaßen, der im Widerspruch zu seiner hellen Haut stand. 11
Die Männer, die ihn flankierten, wirkten ebenso zusammengewürfelt wie seine Blutlinie. Einer besaß das runde Gesicht eines Inuit, zwei schienen europäische oder kanadische Vorfahren zu haben und der dritte war nur unwesentlich heller als Honeybutt und Merlin. Vermutlich der Nachkomme einer afroamerikanischen Familie, die es einst zu einem Ölkonzern nach Alaska verschlagen hatte. Matt, Aiko und Aruula traten aus dem Ausstieg des Transportpanzers und hielten ihre Hände vom Körper abgespreizt, zum Zeichen, dass sie in friedlicher Absicht kamen. Die Running Men auf dem Dach machten es ihnen nach, nur Merlin war nicht dazu zu bewegen, den Panzer zu verlassen. Schweigen breitete sich aus. Selbst die Händler, die alles aus sicherer Entfernung verfolgten, gaben keinen Laut von sich. Aus den Augenwinkeln konnte Matt erkennen, dass auf einer Erdschanze zwei Kanonen in ihre Richtung gedreht wurden. Nicht gerade ein freundlicher Empfang, aber auch noch kein Grund zur Sorge. So nahe, wie ihnen die Torwache auf den Pelz gerückt war, würde sie im Falle eines Feuerbefehls unweigerlich mit über den Haufen geschossen. Die hiesige Bevölkerung schien eher mit Schiffsattacken als mit einem Angriff über Land zu rechnen. Trotzdem gab es keinen Grund, die Konfrontation auf die leichte Schulter zu nehmen. Niemand wusste, wie die Wachen reagieren würden. Ein falsches Wort mochte schon reichen, um Fremde unter dem 12
Galgen tanzen zu lassen. Matt hielt unwillkürlich den Atem an. Für eine Umkehr war es zu spät. Er musste zusehen, dass sie irgendwie klar kamen. Die Wachsoldaten musterten erst ihn und die übrigen Neuankömmlinge, dann den breiten Transportpanzer mit den aufmontierten Maschinengewehren. Besonders das WCA-Emblem, das auf der Vorderfront prangte, schien ihr Interesse zu wecken. Auf einen Wink des Offiziers hin zog der Inuit einen Stapel gegerbter Lederhäute hervor, die an der linken Seite miteinander vernäht waren. Aufgemalte Symbole zierten die rauen Oberflächen. Der Posten blätterte wie in einem Block hin und her, um die Zeichnungen mit dem Emblem des Nixon zu vergleichen. »Was soll das?«, wunderte sich Mr. Black. Matthew Drax musste ein Schmunzeln unterdrücken. Es kam nicht oft vor, dass der Rebellenführer eine Wissenslücke zugab. »Werfen Sie einen Blick in Richtung Hafen.« Matt deutete mit dem Kinn in Richtung der Mastspitzen, die über den Erdwall aufragten. In der geschützten Bucht lagen vierzehn Boote unterschiedlichster Größe vor Anker. Jedes von ihnen besaß eine Flagge oder zumindest einen Wimpel, der Auskunft über die Heimat gab. Den vielfältigen Farbkombinationen nach zu urteilen, wurde der Hafen von Schiffen aus aller Herren Länder angelaufen. Vielleicht gab es entlang der Küste aber auch nur unzählige Stammesgebiete, die alle über eigene Banner verfügten.
Der Offizier des Wachtrupps legte die Stirn in Falten, als sich Matt und Mr. Black miteinander verständigten. Die englischen Sätze klangen wohl fremd in seinen Ohren. In Situationen wie diesen war es jedoch wichtig, seine Gegenüber zu verstehen. Nach kurzem Zögern setzte er deshalb zu einem wahren Wortschwall an. Die Klangfolgen änderten sich laufend, doch es schien sich stets um denselben Satz zu handeln, den er in verschiedenen Mundarten wiederholte. Matt erkannte einige Brocken Gwich'in, eine Sprache, in der sie sich schon wenige Wochen zuvor hatten verständigen müssen. Aruula, die den Inuit-Dialekt halbwegs beherrschte, wollte bereits zu einer Antwort ansetzen, als der Soldat verlangte: »Sagt mir, Fremde, gehört ihr der räuberischen Bruderschaft des blutigen Banners an?« Matts Augenbrauen zuckten überrascht in die Höhe. Unglaublich! Er hatte jedes Wort verstanden. In dieser Siedlung kannte man tatsächlich die Sprache der europäischen Barbaren! Es musste wohl schon mehrfach Seeleute aus Euree bis hierher verschlagen haben. »Räuberisch? Redest du von Piraten?« Matt gab sich empört. »Mit solch niederträchtigen Kerlen haben wir nichts zu tun. Wir sind friedliche Menschen, die eine Schiffspassage suchen.« Um auch den letzten Zweifel an ihren ehrbaren Absichten auszuräumen, stellte Matthew sich und die übrigen Expeditionsteilnehmer namentlich vor. So etwas schaffte in der Regel Vertrauen.
»Hauptmann Cusak von der Stadtwache Berbow«, gab der Offizier zurück. Dass er eine Möglichkeit zur Verständigung gefunden hatte, schien seinen Argwohn zu besänftigen. Den Blick an Aruulas knapp geschnittene Fellweste geheftet, erkundigte er sich wie beiläufig: »Und welchem Stamm gehört eure Gruppe an?« Die Antwort schien Cusak nicht sonderlich zu interessieren, denn er widmete sich weiter der Aufgabe, Aruula üppige Oberweite mit seinen Augen zu vermessen. Nur der angespannte Zug um seine Mundwinkel ließ ahnen, dass das Desinteresse gespielt war. In Wirklichkeit wollte der gewiefte Offizier ein Netz aus Fragen auswerfen, in dem sich ungebetene Gäste verfangen sollten. Feine Schweißperlen rannen Matts Nacken herunter, während er um die richtigen Worte rang. Was sollte er dem Hauptmann sagen? Dass sie aus Meeraka kamen und unterwegs zum Kratersee waren? Eigentlich gab es keinen Grund, mit der Wahrheit hinter dem Berg zu halten. »Sie gehören zum Stamme der WC A!« Matt zuckte zusammen. Das war nun das Allerletzte, was er Cusak sagen wollte, denn die World Council Agency glänzte normalerweise nicht mit Freundschaften, die sie in der Welt schloss. Zum Glück machte der Inuit, der die Lederhäute durchsucht hatte, keinen verängstigten Eindruck, sondern tippte triumphierend auf eine mit groben Strichen ausgeführte Zeichnung, die einen stilisierten Kometen auf dem Grund einer amerikanischen Flagge zeigte. 13
Cusak bedachte den vorlauten Soldaten, der seine Strategie zunichte gemacht hatte, mit einem bösen Blick, bevor er fragte: »Und? Sind die WCA schon einmal unangenehm aufgefallen?« Der Inuit schüttelte den Kopf. »Darüber liegt nichts vor. Sie haben uns nur ein Mal besucht, ohne sich etwas zu Schulden kommen zu lassen.« Matt entließ etwas Luft aus seinem angespannten Brustkorb. Eine Gegend, in der sich Crows Spießgesellen ausnahmsweise nicht wie die letzte Sau benommen hatten. Fast ein kleines Wunder. »Und was führt eure Gruppe nach Berbow?«, riss ihn Cusak aus den Gedanken. »Eine Reise«, beeilte sich Matt zu erklären. »Wir möchten mit einem Schiff nach Ruland übersetzten.« Cusak zog ein Gesicht, als hätte er gerade eine übelriechende Masse entdeckt, die an seiner Schuhsohle klebte. »Ihr wollt ans jenseitige Ufer?«, fragte er ungläubig. »Da werdet ihr kein Glück haben. Niemand aus Berbow setzt auch nur einen Fuß auf dieses verfluchte Gebiet. Unser Dorf ist der letzte Außenposten der Zivilisation. Dort drüben beginnt die Anderswelt, die von fliegenden Rochen, gefährlichen Sirenen und grausamen Seemonstern beherrscht wird. Jeder, der diese Gewässer kennt, fährt nur an unserer Küste entlang, um den Schrecken der anderen Seite zu entgehen.« Zwei Segel, die am Horizont auftauchten, bestätigen seine Worte. Matt dachte schaudernd an die Galgenhügel, 14
die von See aus nicht zu übersehen waren. Wenn die Besatzungen diesen Anblick dem anderen Ufer vorzogen, konnte es noch heiter für sie werden. Trotzdem, sein Entschluss stand fest. Er musste den Kratersee aufsuchen, um Licht in die geheimnisvollen Daten zu bringen, die er auf der ISS gefunden hatte. »Wir möchten gerne versuchen, einen eurer Fischer zur Überfahrt zu bewegen«, erklärte er höflich. »Außer uns muss ja niemand an Land gehen.« Der Hauptmann zuckte nur mit den Schultern. »Von mir aus. Es ist euer Leben, das ihr verschwendet.« Cusaks Argwohn schien schlagartig erloschen. Offensichtlich traute er keinen Pirat zu, sich unter dem Vorwand einzuschleichen, eine Reise zum Kratersee zu planen. Durch ein Schwenken der Hellebarde signalisierte er den Geschützmannschaften, dass die Situation unter Kontrolle war. Was danach folgte, war reine Routine. Cusak ließ sich die überplante Ladefläche des Transportpanzers zeigen. Angesichts des traurigen Haufens an Transportkisten und Lederbeuteln rümpfte er zwar nur mit der Nase, behielt aber trotzdem einige mit Brabeelensaft gefüllte Tonkaraffen als Wegzoll ein. Danach ließ er den Panzer passieren. Matt, Aiko und Aruula enterten den Nixon und schlossen das Seitenschott. Sie mussten noch warten, bis zwei Wakuda-Gespanne abgefertigt waren, dann ging es endlich weiter. Quietschend setzten sich die Panzerketten in Bewegung. Die Einfahrt war eine echte Heraus-
forderung, denn der Nixon nahm fast die gesamte Torbreite für sich ein. Aiko erwies sich jedoch einmal mehr als sicherer Fahrer, der das klobige Gefährt perfekt beherrschte. Bereits im ersten Anlauf manövrierte er den Koloss durch die offenen Flügeltüren. Danach ging es durch enge Straßen hinab zum Hafen. Unterwegs passierten sie einige ausgebesserte Häuserfronten und zwei kohlrabenschwarze Ruinen, die ein Raub der Flammen geworden waren. Irgendetwas musste, hier in Berbow vorgefallen sein; vor noch nicht allzu langer Zeit. *
Vier Wochen zuvor. Eine trügerisch wirkende Stille hing in der Luft, als die Dschunken in den Hafen einliefen. Plätze und Straßen rings um die natürliche Bucht wirkten wie leer gefegt. Keine Menschenseele war zu sehen. Nirgendwo das kleinste Zeichen von Gegenwehr. Die Bewohner schienen wirklich alle geflohen zu sein. Trotzdem ließ Skaranga Vorsicht walten. Verfrühter Jubel wurde von ihm mit aller Härte unterbunden. »Bleibt gefälligst an den Kanonen!«, wetterte er, als einer aus der Bedienungsmannschaft seinen Platz verlassen wollte. »Vielleicht ist das ein Hinterhalt!« Auf seinen Befehl hin wurden die Segel eingeholt, nur für den Fall, dass man sie mit Brandpfeilen empfangen wollte. Die laufende Fahrt der Dschunken reichte aus, um sich zu splitten und drei verschiedene Anlegeplätze entlang des Halbrundes anzusteuern. Häuser, Kar-
ren und Schuppen rückten immer näher ins Schussfeld der Kanonen. Skaranga ließ die Rohre zusätzlich mit gehackten Bleistücken laden, damit jeder, der sich ihnen in den Weg stellte, förmlich vom Pier gefegt wurde. Doch es blieb weiterhin ruhig. Knirschend schrammte die Bordwand an dem hölzernen Anlegesteg entlang, der parallel zum Ufer verlief. Apoo und zwei weitere Piraten sprangen von Bord, um die Dschunke zu vertäuen. Alles lief glatt, aber gerade das schien den Narren zu stören. »Verdammt!«, rief er aus. »Was ist das für ein Überfall, bei dem ich nicht wenigstens ein paar Schädel einschlagen oder Weiber schänden kann?« »Vermutlich sind deine Wünsche der Grund dafür, dass alle wie die Fleggen davon sind«, gab Skaranga zurück. »Die Menschen in Berbow haben bestimmt gehört, dass Apoo, der Narr wieder zu Spaßen aufgelegt ist.« Gelächter brandete entlang der Steuerbordreling auf. Die Piraten hielt es nicht länger auf den Plätzen. Ungeduldig drängen sie nach vorn. Scharfe Krummsäbel blitzten in der Sonne, während sie sich zum Sturm bereit machten. Das eintönige Leben auf See, begrenzt auf einen Raum, der nicht mehr als acht mal dreißig Schritte maß, hatte sie unruhig und aggressiv werden lassen. Sie dürsteten nach Ablenkung und sehnten sich danach, das schwankende Deck gegen festen Boden einzutauschen. Sie noch länger im Zaum zu halten, würde Unmut heraufbeschwören. Skaranga wusste, wann er die Meute 15
von der Leine lassen musste. »Die Stadt gehört euch«, verkündete er großzügig. »Nur die Luntenstockträger bleiben als Bordwache zurück.« In einer grölenden Woge drängte die bunt gekleidete Bande über die Reling und stürmte mit schweren Schritten auf dem Holzsteg davon. Nur die fünf Kanoniere ließen ihre Schultern hängen, als müssten sie gerade die größte Ungerechtigkeit aller Zeiten ertragen. »Kein Grund zur Trauer«, munterte sie der Kapitän auf, bevor er sich ebenfalls von Bord schwang. »Ich schicke euch bald eine Ablösung.« Seite an Seite mit Apoo sprang er von dem auf Stelzen gebauten Anleger zur Promenade hinab, um den Weg abzukürzen. Grobes Gestein knirschte unter ihren Ledersohlen, als sie federnd aufkamen. Endlich wieder festen Boden unter den Füßen. Skaranga litt unter der gleichen Krankheit wie alle Seeleute. War er an Bord seines Schiffes, verfluchte er stets die Launen des Meeres; befand er sich aber einige Tage an Land, sehnte er sich wieder zurück nach dem gleichmäßigen Takt der Wellen, die an die Bordwand schlugen. Mit weit ausholenden Schritten lief er durch den Hafen, alle Sinne gespannt, weiterhin auf Abwehr bedacht. Seine Besatzung ließ weniger Vorsicht walten. Ausgelassen stürmte sie in die nächstbesten Häuser, um alles Brauchbare an sich zu reißen. Skaranga schritt gerade über den breiten, mit Feldsteinen gepflasterten Weg, der die Bucht wie einen Gürtel umgab, als die ersten Piraten mit Beute auf die Straßen 16
zurückkehrten, Fressalien, Tonkrüge, Federhüte und bunte Kleider an sich gepresst, als ob sie den Plunder nie wieder hergeben wollten. Dabei wurde später sowieso alles auf einen Haufen geworfen und gerecht unter den Besatzungsmitgliedern verteilt. Einige, die in den üblichen Verstecken fündig geworden waren, hielten sogar mit Edelsteinen und Münzen gefüllte Säckchen in Händen. Fischer und Händler hatten auf ihrer überstürzten Flucht einiges von Wert zurückgelassen. Skaranga grinste. Ein schlechter Ruf war das größte Kapital eines Piraten. Schade, dass die Küste von Kanda längst abgegrast war. Für die Bruderschaft vom blutigen Banner gab es hier nicht mehr genügend zu holen. Was sich noch aus Berbow herauspressen ließ, war ebenfalls kaum der Rede wert. Aber das hatten sie auch nicht anders erwartet. Was sie eigentlich hier suchten, war frischer Proviant, Trinkwasser und eine ruhige Nacht im Bett, bevor sie den weiten Weg in die Meera-See antraten, um sich mit neuen Verbündeten zu treffen. Goldene Zeiten standen der Bruderschaft bevor, denn zwischen Groland, Meera-Inseln und Ruland warteten noch viele Häfen auf die erste Begegnung mit ihren Kanonen. »Hierher, Kapitän! Sieh dir das an!« Apoo sprang wie ein angeschossener Ge rul vor einer offenen Schenkentür herum. »Der Wirt hat uns drei dicke Fässer als Abschiedsgeschenk hinterlassen!« Zum blauen Fishmanta'kan. Nur eine verdammte Landtaratze konnte sich so einen Namen einfallen lassen. Der
zweistöckige Bau mit dem großen Schankraum war den Piraten noch von ihrem letzten Überfall in guter Erinnerung. Hier hatte es das beste Ael und die drallsten Schankweiber gegeben. Die Kapitäne der anderen Dschunken schienen das genauso zu sehen, denn sie eilten mit großen Schritten herbei, während ihre Besatzungen bereits innerhalb des Dorfes wüteten. Lautes Krachen hallte durch die Straßen. Die Männer warfen Betten und Truhen aus den Fenstern, entweder aus Übermut oder weil sie nach versteckten Schätzen suchten. Skaranga war es egal. Die Kerle sollten sich ruhig ordentlich austoben. Sobald sie wieder auf See waren, würde er schon für Zucht und Ordnung sorgen. Zusammen mit den anderen Schiffsführern betrat er den Blauen Fishmanta'kan. Hier würden sie bis zum nächsten Morgen ihr Hauptquartier aufschlagen. Der große Schankraum konnte spielend alle drei Besatzungen aufnehmen, und im Obergeschoss gab es bequeme Betten. Die Aelfässer vor der Theke wurden bereits von einer stattlichen Anzahl durstiger Piraten umlagert. Apoos Entdeckung hatte sich schnell herumgesprochen. Statt die Deckel vernünftig zu lösen, hämmerten die Männer mit ihren Säbelgriffen solange darauf ein, bis sie zerbrachen. Dann wurden von allen Seiten tönerne Humpen eingetaucht und mit der dunklen, schaumigen Flüssigkeit gefüllt. Dabei wurde so mancher Tropfen verschüttet, statt in durstige Kehlen zu rinnen. Ärger machte sich breit. Es dauerte nicht lange, bis es zu einer wüsten
Rangelei kam, bei der auch mit blanker Klinge aufeinander eingedroschen wurde. Schreie gellten durch den Raum. Erst spritzte Blut, dann flog ein abgeschlagenes Ohr durch die Luft. Skarangas mandelförmige Augen wurden noch schmaler. Er musste schleunigst eingreifen, bevor noch mehr Unheil geschah. Mit einem mächtigen Satz katapultierte er sich auf die Theke. »Reißt euch zusammen!« brüllte er die versammelte Meute an. »Geht euch nicht gegenseitig an die Kehle, nur weil ihr keine Fischer zum Verdreschen habt! Es ist genug für alle da. Mehr als zwei Humpen pro Mann gibt es nicht! Wir müssen einen klaren Kopf behalten, für den Fall, dass die Dörfler wiederkommen.« Leises Murren wurde unter den Gescholtenen laut, doch diesmal blieb der Kapitän hart. »Skingo«, er deutete auf den Mann, der als Einziger eine blutbefleckte Klinge in Händen hielt, »du füllst deinen Krug und nimmst ihn mit auf den steinernen Wachturm. Von dort aus warnst du uns, falls du etwas Verdächtiges siehst.« Skingo, der drahtige Thaländer mit dem kurzen, bis weit über den Ohren abrasierten Haar machte erst den Eindruck, als wollte er widersprechen. Doch dem Blick seines Kapitäns konnte auch er nicht lange standhalten. Betreten starrte er auf den Krug in seiner Hand, den er ein letztes Mal eintauchte, bevor er schweigend davonschlich. Skarangas Ansprache hatte gefruchtet. Von nun an ging es gesitteter zu. Apoo zweigte sogar drei volle Humpen für die Kapitäne ab, bevor die übrigen 17
Piraten weiter saufen durften. »Gut gemacht«, lobte Piu, der Führer der zweiten Dschunke. Er war noch sehr jung, aber äußerst zuverlässig. Deshalb hatte ihn die Bruderschaft kürzlich befördert. Skaranga winkte lässig ab, während sie sich an einen einzelnen Tisch niederließen. »Unsere Männer sind wie kleine Kinder, die förmlich darum betteln, in die Schranken gewiesen zu werden. Ab und zu muss man ihnen eben den Gefallen tun.« Lachend stießen die Kapitäne ihre Krüge gegeneinander und tranken von dem dunklen, süffigen Gebräu. Skaranga stieß ein wohliges Seufzen aus. »Ahhh. Das ist doch etwas anderes als brakiges Regenwasser.« Seine Kollegen nickten beifällig, doch Piu zeigte sich mal wieder eifriger als alle anderen. »Wir sollten unsere Trinkfässer noch vor Einbruch der Dunkelheit auffüllen«, schlug er vor. »Was wir erst an Bord haben, kann uns niemand mehr abspenstig machen. Außerdem brauchen wir einen Vorrat an Shmaldan, getrockneten Brabeelen, Tofanen und …« »Nur die Ruhe«, unterbrach ihn Skaranga. »Wozu gibt es Fackeln und Talglampen? Die Männer sollen sich erst mal ein wenig austoben. Danach«, er gähnte herzhaft, »ist noch Zeit genug für harte Arbeit.« Seinen Krug in kleinen Schlucken leerend, erzählte er über das geplante Treffen mit den übrigen Schiffen der Bru-.derschaft, bis er merkte, dass ihm die Augenlider schwer wurden. »Verstehe ich nicht«, murmelte er mit 18
schwerer Zunge. »Ist noch nicht mal dunkel draußen.« Den anderen Kapitänen ging es nicht viel besser. Piu hatte seinen Kopf bereits auf den Tisch gebettet. Skaranga langte hinüber, um den faulen Sack wachzurütteln, doch sein Arm war plötzlich schwer wie Blei. Noch ehe er die Bewegung ausführen konnte, sank er selbst vorne über. Erst jetzt, da er die Lider kaum noch offen halten konnte, fiel ihm auf, wie ruhig es im Schankraum geworden war. Er versuchte noch zur Theke hinüber zu sehen, aber selbst dafür fehlte ihm die Kraft. Seine Gedanken erlahmten, noch bevor er sich richtig über die plötzliche Müdigkeit wundern konnte. Stille breitete sich in seinem Kopf aus. Dass ihm der Krug aus der Hand glitt und auf dem Boden zerschellte, hörte er schon nicht mehr. *
Obwohl Iisi die Falltür nur eine Handbreit in die Höhe drückte, quietschte sie laut in den Angeln. Erschrocken lauschte er in die Dunkelheit hinein. »Warte gefälligst«, wisperte es unter ihm. »Es ist noch zu früh.« »Unsinn«, gab der junge Fischer eine Spur zu selbstsicher zurück, bevor er in gedämpften Ton fortfuhr: »Es ist schon eine Ewigkeit kein Gepolter mehr zu hören. Draußen muss längst Nacht sein.« »Trotzdem«, mischte sich eine volltönende, von zu vielen Nächten in verräucherten Räumen dunkel gefärbt
Stimme ein. Das war Nuuk, der Wirt, der mit den anderen Männern auf dem kalten Erdboden ausharrte. »Warum ein unnötiges Risiko eingehen?« »Weil die Piraten wieder aufwachen, wenn wir zu lange warten«, gab Iisi lauter als eigentlich beabsichtigt zurück. Ein vielstimmiges Pssst wies ihn umgehend in die Schranken. Wieder lauschte er in den über ihm liegenden Keller hinein, doch auf der steilen Holzstiege, die vom Schankraum herab zu den Fässern voller Ael, Wein und eingelegten Fischen führte, waren keine Schritte zu hören. Na also, da oben gab es niemanden mehr, der ihnen gefährlich werden konnte. Um das an den Nerven zerrende Gequietsche abzukürzen, stieß er die Luke schwungvoll empor, bis sie einrastete und aufrecht stehen blieb. Dann kletterte Iisi über die Leiter nach oben. Zwei schmale Lichtbahnen, die durch die Ritzen der Schankraumluke drangen, spendeten gerade genug Helligkeit, dass er nirgendwo anstieß, als er zwischen Fässern und Kisten hindurch lavierte. Hinter ihm raschelte Stoff. Die übrigen Männer, die sich in dem geheimen Raum unter dem Vorratskeller verborgen hatten, schlossen sich seinem Vorstoß an. Was blieb ihnen auch anderes übrig? Falls man Iisi erwischte, würden die Piraten hier unten jeden Winkel gründlich absuchen. Spätestens dann mussten sie auch auf die Falltür stoßen. Iisi griff nach demlangen Messer, das hinter seinem Gürtel steckte. Eine geradezu lächerliche Waffe, falls es gegen Säbel und Enterbeile ging, doch dafür
hatte er die Überraschung auf seiner Seite. Vorsichtig, ohne auch nur ein einziges Knarren zu verursachen, kletterte er auf allen Vieren die Stiege zum Schankraum empor. Erneut versperrte ihm eine Falltür den Weg. Diesmal schlug ihm das Herz bis zum Hals, als er die Luke in die Höhe drückte. Seine geweiteten Pupillen wurden vom Zwielicht geblendet, aber nach einigem Zwinkern konnte er zwei Schuhsohlen erkennen, die direkt vor seiner Nase in die Höhe ragten. Sie gehörten einem mit Pluderhosen und Kopftuch bekleideten Piraten, der reglos auf dem Rücken lag. Hätte sich der Brustkorb nicht in regelmäßigen Abständen gesenkt und gehoben, hätte man den Kerl glatt für tot halten können. Wie aus weiter Ferne wurden nun auch Schnarchgeräusche hörbar. Mutig geworden, zwängte sich Iisi unter der Luke hervor und kroch an den Rand der Theke. Von hier aus hatte er einen guten Blick über den Schankraum, oder besser: Er hätte ihn gehabt, wenn nicht die ganzen Zecher rund um die drei Aelfässer zusammengesunken wären. Die Schlafkräuter, mit denen der Wirt den Trunk versetzt hatte, zeigten eine erstaunlich gute Wirkung. Iisi richtete sich vorsichtig hinter der Theke auf. Nicht ein einziger Pirat war noch wach. Ob in sich zusammengesunken oder lang auf dem Boden ausgestreckt, alle schnauften und schnarchten vor sich hin. Zufrieden kehrte Iisi zur Luke zurück und winkte den anderen. »Kommt 19
schon, die Luft ist rein.« Leises Klirren begleitete die Schritte der Männer, als sie über die Stiege nach oben eilten. Jeder von ihnen hielt ein halbes Dutzend Ketten in Händen, um die Piraten zu fesseln. Nuuk konnte den Zorn, der seinen massigen Körper schüttelte, kaum noch beherrschen. »Damit habt ihr wohl nicht gerechnet, ihr miesen Kanaillen!«, zischte er triumphierend. »Habt wohl gedacht, wir nehmen eure Überfälle ewig hin, so wie das schlechte Wetter, häh? Aber nicht mit uns! Wir haben uns seit dem letzten Mal etwas Feines für euch überlegt.« »Lass die Reden«, rügte Iisi den Wirt. »Wir müssen uns beeilen.« Nuuk hielt tatsächlich inne, kniete nieder und begann einem Piraten die Hände auf den Rücken zu fesseln. Die übrigen Männer - Fischer, Bauern, Händler und Knechte - machten es ihm nach. Nur Iisi eilte Richtung Ausgang, um einen Blick ins Freie zu werfen. Die Sonne war längst untergegangen, trotzdem konnte er hinter einigen Dächern rötlichen Schein ausmachen. Am Rand des Dorfes brannte ein Haus nieder. Vielleicht aus Zerstörungswut, vielleicht aber auch, weil ein schläfriger Pirat seine Talgkerze umgeworfen hatte. Es gab noch ein halbes-Dutzend weiterer Plätze, an denen mit Schlaf kraut versetzte Aelfässer standen; und das schon den ganzen Sommer lang. Alle in Berbow hatten gewusst, dass die Piraten früher oder später wiederkommen würden, denn die übrigen Küstenstädte entlang des Homs von Kanda hatten längst vor den Angriffen der 20
»Donner-Dschunken« kapituliert. Dort waren die Menschen einfach ins Landesinnere gezogen und hatten Häuser und Hafen dem Verfall preisgegeben. Das Klirren der Ketten rückte näher. Nun wurden auch die Schläfer an den Tischen in Eisen gelegt. Nicht mehr lange, und sie konnten draußen zuschlagen. »Wie siehts aus?«, fragte Nuuk, der keine Kette mehr übrig hatte. »Bisher ist alles ruhig.« Iisi wartete, bis auch die anderen heran waren, bevor er mahnte: »Wir müssen damit rechnen, dass einige Piraten die Finger vom Ael gelassen haben. Nuuk, du kümmerst dich am besten um den Glockenturm. Falls ihr Ausguck noch wach ist, darf er den Rest der Bruderschaft nicht warnen.« »Keine Sorge.« Der massige Wirt drückte seine gefalteten Hände durch, bis ein Knacken ertönte. »Wenn der Kerl aufmuckt, dreh ich ihm den Hals um.« »Hauptsache, es geht leise vonstatten«, verlangte Iisi. »Die anderen folgen mir zum Hafen. Wir müssen die Donnerwaffen in die Hände bekommen, damit wir uns in Zukunft gegen die Bruderschaft wehren können.« Obwohl ihn niemand zum Anführer gewählt hatte, stimmten die anderen zu. Sie waren wohl froh, dass einer die Führung übernahm. Mit gezückten Waffen schlüpften sie nacheinander aus der Tür und drückten sich an der Hauswand entlang. Blank polierter Stahl reflektierte im Mondlicht. Lediglich Nuuk gab der massiven Keule, mit der er auch in der Schenke für Ordnung sorgte, den
Vorzug. Den Schatten einiger Gebäude nutzend, eilte Iisi dem Hafen entgegen. Gerade wollte er um die letzte Hausecke spähen, als ihn zwei laute Stimmen zurückzucken ließen. »Hältst du das wirklich für eine gute Idee?«, jammerte einer der beiden Männer, die über die Promenade kamen. »Skaranga wird uns den Kopf abreißen, weil wir unseren Posten verlassen haben.« . Piraten, kein Zweifel. Der zweite stieß einen verächtlichen Laut aus, bevor er antwortete: »Wenn der Käpt'n die versprochene Ablösung geschickt hätte, müssten wir uns auch nicht seinem Befehl widersetzen.« Iisi bedeute den anderen, dass sie Deckung suchen sollten. Er selbst verbarg sich hinter einer vollen Regentonne. Gerade noch rechtzeitig, bevor das Duo in ihre Gasse bog. Die Piraten waren so sehr in ihr Gespräch vertieft, dass sie das im Dunkeln lauernde Unheil gar nicht bemerkten. »Ich bleibe doch nicht die ganze Zeit auf dem Schiff hocken, während sich alle anderen die Hucke vollsaufen«, schimpfte das Großmaul weiter. »Skaranga soll bloß aufpassen. Kein Käpt'n kann es sich erlauben …« Mitten im Satz brach der Mann ab. Das konnte nur bedeuten, dass er etwas bemerkt hatte. Iisi federte aus seinem Versteck hervor. Den rechten Arm angewinkelt, das scharfe Messer fest umklammert, stürzte er auf die Piraten zu, die bereits nach ihren Säbeln griffen. Noch hatten sie keinen Ton hervorge-
bracht, und mit einem schnellen Stich in den Hals sorgte Iisi dafür, das es bei dem Großmaul auch so blieb. Ein warmer, klebriger Strom ergoss sich über seinen Unterarm, während er die Klinge zurück zog, um auch den zweiten Gegner zu attackieren, einen hageren Kerl mit kahl rasiertem Schädel und vorspringender Nase, die dem Schnabel eines Bonta-Vogels ähnelte. Zwei silberne Ringe glänzten in seinen Ohrläppchen. Seine glitzernden Pupillen tanzten in dem verzweifelten Versuch, die Zahl der Gegner auszumachen, in seinen Augenhöhlen. Für den Kahlkopf musste es aussehen, als ob die Nacht selbst lebendig geworden wäre, denn plötzlich drangen von überall Männer auf ihn ein. Sein Mund öffnete sich, doch ehe ihn ein Ton passieren konnte, durchbohrten die Forken einer Mistgabel von hinten seine Lungen. Nahezu lautlos sackte der Pirat in sich zusammen. Nur wenige Schritte neben seinem erstochenen Kumpanen hauchte er sein Leben aus. Iisi wischte sein Messer an den Pluderhosen des Toten ab. »Das war verdammt knapp!«, raunte er. »Wir müssen …« Leise Schritte in der Nebenstraße unterbrachen ihn. Diesmal war es zu spät, um sich zu verstecken. Hastig verteilte sich die Gruppe in der Gasse und machte sich zum Kampf bereit. Unförmige Schemen lösten sich aus der Dunkelheit. War es Freund oder Feind? Als die Gesichter von Cusak und den übrigen Wachsoldaten sichtbar wurden, 21
entspannten sie sich alle wieder. »Jenseits des Hafens ist alles unter Kontrolle«, erklärte der Hauptmann atemlos. »Wie sieht es bei euch aus?« Iisi deutete auf die beiden Toten zu seinen Füßen, die für sich selbst sprachen. Dann berichtete er von den schlafenden Piraten im Blauen Fishmanta'kan. »Gute Arbeit«, lobte Cusak. »Bleibt nur noch der Hafen. Zwei Dschunken sind leer, doch auf der dritten gibt es Wachen. Ihr wisst, was das bedeutet.« »Keine Sorge«, versicherte Iisi. »Die Kanonen übernehmen wir Fischer.« Das kalte Wasser umschloss Iisi wie eine zweite Haut, als er sich, nur mit einem Lendentuch bekleidet, in das natürliche Hafenbecken gleiten ließ. Etwas Glitschiges, Filigranes fasste nach seinen Beinen. Der junge Fischer wusste, dass es Algen waren, die im Uferbereich wuchsen, trotzdem durchzuckten ihn tausend Ängste. Was, wenn sich die Bruderschaft mit dem Bösen verbündet hatte, das sonst nur jenseits des Horizonts auf sie lauerte? Iisi hatte noch nie eines der Ungeheuer gesehen, die in der Anderswelt herrschten, doch er wusste, dass sie mehr als nur Legenden waren. Selbst hartgesottene Seeleute, die weder Sturm noch Flaute fürchteten, bekamen glasige Augen, wenn sie von den Kreaturen des jenseitigen Ufers berichteten. Schiffbrüchige, die dort angespült wurden, sollen sich schon lieber ein Messer in den Leib gestoßen haben, als auch nur einen Schritt an Land zu wagen. In die Hände von Piraten zu fallen galt weithin als milderes Schicksal, als 22
der verbotenen Küste zu nahe zu kommen. Zumindest in jenen Zeiten, da die Bruderschaft noch keine Donnerwaffen besessen hatten. Kanonen, so hießen die Waffen, die aus den Schmieden der Fishmanta'kan stammen sollten und dickste Schutzmauern zum Einsturz brachten. Es gab nur eine Möglichkeit, das Überleben in Berbow zu sichern: Dieses Dorf musste selbst in den Besitz ihrer zerstörerischen Kraft gelangen. Iisi befreite seine Beine aus der Umklammerung der Algen und schwamm mit ruhigen Zügen weiter. Nur kein Geräusch verursachen, hieß die Devise, die von ihm und den Männern an seiner Seite beherzigt wurde. Insgesamt vier Fischer waren es, die lautlos durch das Hafenbecken glitten. Ein Mann mehr als Piraten auf der Dschunke Wache hielten. Das musste reichen. Silberne Reflexe tanzten auf dem Wasser, doch der Mond meinte es gut mit ihnen. Als sie sich dem Schiff näherten, verbarg er sein bleiches Antlitz hinter einige Wolken, sodass ihre Köpfe mit den dunklen Wellen verschmolzen. Einige Talglichter, die an Deck brannten, wiesen den Weg durch die Nacht. Ab und an sahen sie die Silhouetten der Wachen, die auf den Planken hin und her patroillierten. Die letzten zwanzig Körperlängen legten die vier Fischer unter Wasser zurück, um jeder zufälligen Entdeckung zu entgehen, Iisi tauchte, bis er den Schiffsrumpf unter seinen Fingern spürte, ließ sich Handbreit um Handbreit in die Höhe treiben und reckte den Kopf vorsichtig über die Wasseroberflä-
che. Salzige Ströme rannen über sein Gesicht und verbanden sich mit den Wellen, die gegen seine Lippen schlugen. Er zwang sich, in ruhigem Takt durch die Nase zu atmen. Mit klopfendem Herzen lauschte er, was oben los war. Regelmäßige Schritte auf den Planken, leise Gespräche, dann ein kurzes, trockenes Lachen. Die Bordwache ahnte noch nicht, was ihr bevorstand. Ksi überzeugte sich davon, dass auch die anderen drei Wasser tretend an der Bordwand klebten, bevor er seine Hände faltete und an die Lippen presste. Zwei Mal ahmte er das Quaken einer gelben Giftkröte nach, nicht öfter. Er wollte schließlich nicht, dass einer der Piraten Jagd auf den lästigen Ruhestörer machte. Was folgte, war eine Zeit bangen Wartens. Iisi fürchtete schon, dass Cusak und die anderen das Signal nicht gehört hatten, als endlich laute Stimmen vom Kai herüber drangen. An Bord der Dschunke brach Hektik aus. Im Wasser war gut zu hören, wie drei Fußpaare aufgeregt hin und her liefen. Die Fischer zogen Dolche aus den Lendentücher und klemmten die blanken Klingen zwischen ihre Zähne. Dann griffen sie nach den offenen Geschützluken über ihnen und zogen sich am Schiffsrumpf empor. Das leise Plätschern, mit dem das Wasser am Körper entlang zurück ins Meer lief, wurde von dem Tumult auf der Hafenseite übertönt. Iisi schlang den freien Arm um die vorstehende Kanonenmündung, win-
kelte das linke Bein an und schob den Fuß mit in die Luke. Nachdem er festen Halt gefunden hatte, stemmte er sich in die Höhe, bis er über die Reling hinweg sehen konnte. Gerade noch rechtzeitig, um zu beobachten, wie zwei der Piraten eine Kanone abfeuerten. Gehacktes Blei fauchte über Bootssteg und Promenade. »Lasst das!«, schimpfte der dritte in den verhallenden Donner hinein. »Die sind viel zu weit weg! Los, nachladen! Wenn sie übersetzen wollen, werden sie ihr blaues Wunder erleben!« Mit beiden Händen an der Bordwand festgeklammert, verfolgte Iisi atemlos die Ladeprozedur. Jeden Handgriff prägte er sich ein, denn genau so mussten sie es selbst machen, wenn sie die Waffen erst erbeutet hatten. »Wo bleiben unsere Leute?«, fragte einer der Kanoniere, dem wohl langsam dämmerte, dass am Ufer irgendetwas nicht so lief, wie es laufen sollte. Cusak und die anderen veranstalteten aus sicherer Entfernung ein Riesenspektakel. Flüche und Beschimpfungen klangen über das Wasser herüber. Als das abgefeuerte Geschütz fertig geladen nach vorne rollte, war die Zeit zum Handeln gekommen. Iisi schwang sich als erster an Bord. Auf nackten Füßen eilte er über die rauen Planken. Die anderen folgten ihm wie Schatten. Gemeinsam fielen sie über die Piraten her und machten mit einem Schnitt durch ihre Kehlen kurzen Prozess. Als die Bordwache tot an Deck lag, atmete Iisi erleichtert auf. Die Kanonen - jetzt gehörten sie ihnen! Er berührte ehrfürchtig die metallisch kalten Rohre. Für die Menschen am Kap von Kanda 23
brach eine neue Zeit an. Von nun an konnten sie den Piraten die Stirn bieten. *
Gegenwart. Matt wollte seinen Augen nicht trauen, als er die Holztafel sah, die über dem Eingang des Blauen Fishmanta'kan an zwei rostigen Angeln pendelte. Nicht nur, dass man auch hier die Legende von den blutrünstigen Fishmanta'kan kannte - die in Wahrheit die friedliebenden Hydriten waren - das reißerische Motiv, dem das Gasthaus seinen Namen verdankte, bestand aus einem Seemonster mit weit aufgerissenem Maul, das hinter einem gehetzt wirkenden Schwimmer aus den Fluten empor schoss. Abgesehen von den Flossen, mit denen das Untier besetzt war, ähnelte die Szene verteufelt dem Kinoplakat eines bekannten Filmklassikers: JAWS von Steven Spielberg. Mr. Black hatte wenig Sinn für cineastische Betrachtungen. »Dieses Geschmiere kann doch höchstens ein Kleinkind erschrecken«, brummte er, nachdem er vom Panzer gesprungen war. »Mir gibt viel eher zu denken, dass Berbow Kontakt zur WCA hatte. Scheint fast so, als ob Crows Expedition bereits hier durchgekommen ist.« Aiko schwankte unentschlossen mit dem Kopf. »Für mich klang es eher, als ob die Begegnung schon lange Zeit zurücklag.« »Tatsächlich?«, versetzte Mr. Black. »Können Sie mir dann auch erklären, warum die WCA überhaupt eine Expe24
dition zum Kratersee losgeschickt hat, wenn sie diese Gegend doch längst erkundet hat, Mr. Tsuyoshi?« Es fiel dem Rebellenführer immer noch schwer, mit Einsprüchen fertig zu werden. Bei den Running Men waren seine Schlussfolgerungen stets als unumstößliche Tatsachen behandelt worden, doch in Aiko und Matt besaß er zwei gleichwertige Partner, die ihm in vielen Bereichen sogar Wissen voraus hatten. Aiko zeigte wenig Neigung, sich derart abkanzeln zu lassen, doch bevor es zu einem Streit kommen konnte, mischte sich Aruula ein: »Vielleicht waren das Captain Perkins und seine Männer, bevor sie sich auf den Weg nach Nipoo gemacht haben?« In wenigen Worten erzählte sie dem überraschten Mr. Black von den Angriffen auf die japanische Inselkette, hinter denen der Weltrat steckte. Leider beschränkten sich ihre Informationen auf das, was sie in den Erinnerungen General Fudohs gelesen hatte, einem Samurai, der aus Vergeltung die amerikanische Ostküste besetzten wollte. Eins stand aber fest: Hymes & Co. mussten irgendwo im Pazifik ein Hilfsvolk stationiert haben, um auch dort alle aufstrebenden Nationen klein zu halten; so wie es die grausamen Nordmänner in Euree taten. Dafür sprachen auch die genetisch verunstalteten Mongolen, die ihnen in den letzten Wochen das Leben schwer gemacht hatten. Matthew Drax hatte ihnen den nahe liegenden Namen »Ostmänner« gegeben. Ein Ächzen ließ alle herumfahren. Das Geräusch stammte von Merlin
Roots, der sich am Ausstieg festhalten musste, um nicht in die Knie zu gehen. »Letztlich ist es meine Schuld«, flüsterte er. »Der Dreckskerl, der Karyaana umgebracht hat, entstammt dem gleichen unseligen Herrschaftsdenken, das ich in Skandinavien beim Nordmann-Projekt unterstützt habe. Genauso gut hätte ich ihr selbst das Genick brechen können.« Zuerst wusste niemand, wie er auf diese Eröffnung reagieren sollte, dann trat Mr. Black heran und legte Merlin eine Hand auf die Schulter. »Schon gut, Mr. Roots«, tröstete er ihn. »Die Verantwortung tragen andere. Sie waren nur deren Chronist. Aber Sie haben das Unrecht eingesehen und sich gegen die WCA gewendet. Mehr kann niemand von Ihnen verlangen.« »Natürlich kann man das!« Ein entschlossenes Funkeln trat in Merlins tränenumwölkte Augen, während er die Hände zu Fäusten ballte. »Der Terror dieser Mongolenhorde darf nicht ungestraft bleiben. Ich muss den Kampf aufnehmen, bevor noch mehr Unheil geschieht. Sonst wäre Karyaanas Tod umsonst gewesen.« »Keine Sorge«, versuchte Matthew den Zorn des Schwarzen in richtige Bahnen zu kanalisieren. »Am Kratersee wirst du noch genügend Gelegenheit bekommen, dem Weltrat in die Suppe zu spucken.« Merlin nickte still vor sich hin, als ob ein weitreichender Entschluss in ihm heranreifen würde. »Ja, genau.« Er bleckte die Zähne, angriffslustig und zu allem entschlossen. »Die Pläne der Ostmänner durchkreuzen. Das werde ich.
Für Karyaana!« Matt war nicht ganz wohl bei solchen Racheschwüren. Aus dem Wunsch nach Vernichtung erwuchs nur selten etwas Gutes. Auch - oder gerade besonders wenn man glaubte, dass es für eine gerechte Sache sei. Solange es aber dabei half, Merlin aus seiner Lethargie zu befreien, wollte er sich nicht zum Moralisten aufspielen. »Eins verstehe ich nicht«, gestand Mr. Black an dieser Stelle ein. »Tatsächlich?«, fragte Aiko spöttisch. »Das ist ja ganz was Neues.« Blacks Miene versteinerte, besonders als er sah, dass sich sogar Miss Hardy über den unqualifizierten Zwischenruf amüsierte. Innerlich vermerkte er den Programmpunkt Notwendigkeit von Respekt und Hierarchie in einer Widerstandsorganisation für die nächste Schulungsmaßnahme, ging aber sonst nicht weiter auf Aikos Spitze ein. Statt dessen fragte er: »Wie ich vorhin bereits bemerkte: Warum rüsten Hymes und Crow zu einer Expedition, wenn sie schon seit Jahren eine Außenbasis im Pazifik haben? Müssten die nicht längst wissen, was am Kratersee vor sich geht?« Statt einer Antwort schlug Black allgemeine Ratlosigkeit entgegen. Zufrieden stellte er fest, dass selbst der vorlaute Cyborg nicht weiter wusste. »Darüber kann man nur spekulieren«, sagte Matt schließlich. »Vielleicht befinden sich die Ostmänner in langwierigen Kriegen mit anderen Völkern rund um den Kratersee.« Dass Matt in diesem Zusammenhang auch an die Hydriten dachte, die mit ih25
ren eigenen Erkundungen gescheitert waren, behielt er wohlweislich für sich. Zum einen, weil er keinen Pessimismus verbreiten wollte, zum anderen, weil er sich an das Versprechen gebunden fühlte, niemandem von dem friedlichen Seevolk zu erzählen, das schon seit Jahrtausenden am Meeresgrund lebte und sich vor den Menschen verbarg. Ihr Gespräch wurde ohnehin durch neugierige Dorfbewohner gestört, die von allen Seiten näher rückten. Ein Transportmittel wie den Nixon-Panzer hatte noch keiner von ihnen gesehen. Andächtig ließen sie ihre Hände über die stählerne Außenfläche gleiten. Ein hagerer, sehr gepflegt wirkender Mann mit grauem Haar klopfte mehrmals ungeniert gegen die Panzerung, als ob er sie auf Stabilität überprüfen wollte. Zufrieden mit dem Ergebnis, trat er näher und sah von einem zum anderen, um herauszufinden, wer der Anführer der Gruppe sein könnte. Der Einfachheit halber wandte er sich an den Größten von allen, Mr. Black. »Mein Name ist Lurok«, stellte er sich in der Sprache der Euree-Barbaren vor. »Ich bewundere euer Gefährt, das sich ohne Wakudas und Yakks bewegt. Wollt ihr es vielleicht verkaufen?« Aruula übersetzte die Anfrage für Mr. Black, der ja tatsächlich der Besitzer des Panzers war … zumindest war der Nixon unter seinem Kommando aus den Beständen des Weltrats entwendet worden. Während der Rebellenführer mit Aruulas Hilfe versuchte, eine Schiffspassage auszuhandeln - und damit blankes Entsetzen bei Lurok auslöste - setzten 26
sich Matt und Aiko zum nahe gelegenen Hafen ab. Beiden ging ein Thema durch den Kopf, das sie nicht vor fremden Ohren besprechen wollten. »Die hiesigen Legenden von den Dämonen der Anderswelt«, begann Aiko, sobald sie außer Hörweite waren. »Glaubst du, dass die Hydriten damit zu tun haben?« Seit der Cyborg mit Matt und Aruula in Sub'Sisco gewesen war, wusste er um die Existenz der intelligenten Meeresbewohner. »Der Fishmanta'kan auf dem Wirtshausschild deutet zumindest darauf hin«, antwortete Matt. »Die Hydriten haben unter diesem Namen schon öfters Angst und Schrecken verbreitet, um Menschen von bestimmten Plätzen fern zu halten. Was aber nicht ins Bild passt, ist das Gerede über die fliegenden Rochen und all die anderen Dämonen. Da scheint noch wesentlich mehr im Busch zu sein.« »Denkst du an den Mar'os-Kult?« Matt nickte düster. »Wenn wir an die Mar'os-Hydriten geraten, sieht es schlecht für uns aus.« Diese Gruppe hatte dem Jahrtausende langen Frieden abgeschworen und war zur Urform der kriegerischen Fleischfresser zurückgekehrt. Sie erreichten die Uferpromenade, von der sie einen guten Blick über die gesamte Bucht hatten. Ein halbes Dutzend Fischerboote säumte die Anlegestege, aber auch viele größere Schiffe, die hochseetauglich waren. Das imposanteste war ein Dreimaster mit über vierzig Metern Länge, an dem eifrig gehämmert und gesägt wurde. Brandneue Geschützpforten klafften in der Bord-
wand, und das aus gutem Grund. An einem Flaschenzug, der über das Heck hinaus ragte, schwebte bereits ein Kanonenrohr, das seinen Platz an Deck finden sollte. Auch sonst ließ die Betriebsamkeit im Hafen auf einen bevorstehenden Konflikt schließen. Im Hafen stapelten sich ganze Berge von zerlegten Karosserien, Maschinenteilen und Türwandungen. Was zuvor auf einem verwaisten Schrottplatz in Ruland oder Euree abgetragen worden war, galt hier als Rohstoff, aus dem sich lebensnotwendige Dinge schmieden ließen. Bei mehreren Booten war der Bug durch Metallplatten verstärkt worden, was mitunter zu skurrilen Anblicken führte. Den Rumpf eines in der Nähe liegenden Kutters zierte unter anderem der Kühlergrill einer deutschen Nobelkarosse. Der Fischer versuchte gerade, das eingearbeitete sternförmige Zeichen mit einen gewebten Tuch auf Hochglanz zu wienern. Schon seltsam. Vieles hatte sich in den letzten fünfhundert Jahren verändert, manche Rituale waren dagegen gleich geblieben. Matt und Aiko sahen zur Einmündung der Bucht hinüber, die durch eine schwere Eisentrosse blockiert wurde. Zwei Schiffe, die in den Hafen einlaufen wollten, mussten erst draußen vor Anker gehen. Vom Hafen aus setzte ein Ruderboot mit einem Wachkommando über, das an Bord alles durchsuchte. Erst nachdem feststand, dass sich weder Piraten noch Kanonen unter Deck befanden, sank die armdicke Kette ins Wasser und machte den Weg frei.
Matt blickte sorgenvoll übers Meer. Irgendwo dort draußen, verborgen hinter dem Horizont, lag die russische Küste. Was sie dort wohl erwarten mochte? Eine Andersweltf Mutierte Kreaturen, die alles töteten, was ihnen zwischen die Klauen kam? Was es auch war, es würde gewiss nicht ungefährlich werden. Der blonde Fischer, der den Mercedesstern poliert hatte, betrachtete inzwisehen sein Werk. Die Bugverkleidung reflektierte silbern im Sonnenlicht. Zufrieden warf er das Tuch an Deck und schlenderte über den Steg davon. »Comdo!«, rief er schon von weitem im Dialekt der Euree-Barbaren. Offenbar wusste auch ganz genau, wen er da ansprach. Nachrichten verbreiteten sich schnell in einem so kleinen Hafen. »Ich bin Iisi. Seid ihr gekommen, um euch dem Kampf gegen die Piraten anzuschließen?« »Vielleicht«, antwortete Matt ausweichend. »Mein Name ist Maddrax, das hier ist Aiko. Wir haben erst kürzlich von der Bruderschaft des blutigen Banners erfahren. Sind das wirklich so üble Burschen, wie überall erzählt wird?« »Und ob!« Der Fischer, der sich zu ihnen gesellte, als ob sie alte Freunde wären, sprudelte sofort drauflos. »Die miesen Sharx haben praktisch die ganze Küste ausgeplündert, bis uns drei ihrer Dschunken in die Falle gingen. Jetzt, wo wir uns wehren können«, stolz deutete er auf die Kanonen hinter den Erdwällen, »trauen sich die anderen natürlich nicht mehr heran. Unser Sieg hat sich überall in Windeseile herumgesprochen. Handelsschiffe kommen von 27
nah und fern, um in unserem Hafen Schutz zu suchen.« »Dann ist doch alles in bester Ordnung«, sagte Matt, der zwischendurch immer wieder für Aiko übersetzen musste. Die Miene des blonden Fischers büßte ein wenig an Frohsinn ein. »Leider nicht ganz«, gestand er. »Draußen auf See herrschen immer noch die Kanonen der Bruderschaft. Aber damit ist bald Schluss.« Das Lachen kehrte auf sein Gesicht zurück. »Wir drehen jetzt nämlich den Spieß um und stöbern die Piraten in ihren Verstecken auf. Küstenfischer aus ganz Kanda sind eingetroffen, um uns bei der Jagd zu unterstützen. Sogar einige Seeleute aus Ruland schließen sich dem Feldzug an. Sie haben ein starkes Schiff und sind im Kampf erfahren. Zusammen mit ihnen werden wir die Meera-See endgültig sicher machen.« Matt sah zu dem großen Kriegsschiff hinüber, auf das eine weitere Kanone verladen wurde. »Wie kommt es, dass die Ruländer so hilfsbereit sind?«, wollte er wissen. »Weil sich die Bruderschaft inzwischen auch an ihrer Küste breit macht«, erklärte Iisi. »Außerdem wollen sie natürlich das, worauf alle scharf sind.« »Die Kanonen?« Der Fischer nickte. »Erst wollten wir keine herausgeben. Aber dann haben unsere Ältesten überlegt, dass es am besten ist, wenn möglichst viele Schiffe damit ausgerüstet sind. Wenn jedermann solche fürchterlichen Waffen besitzt, wird es niemand mehr wagen, sie gegeneinander einzusetzen.« 28
Matt zog die Nase kraus. Auweia, dachte er, die Vereinssatzung der National Rifle Association hat also doch überlebt. Da sich die hiesigen Politiker aber kaum von einem Fremden würden belehren lassen, behielt er seine Meinung lieber für sich. »Und was verschlägt euch nach Berbow?«, erkundigte sich Iisi neugierig. »Der Wunsch nach Handel oder die Suche nach Abenteuern?« »Eher Zweiteres«, antwortete Matthew. »Wir wollen ans jenseitige Ufer, das ihr Anderswelt nennt.« lisis Reaktion verlief genau wie erwartet. Erst gefror seine fröhliche Miene zu Eis, dann folgte eine Welle puren Entsetzens, das sein Gesicht verzerrte. »Schon gut«, wehrte Matt ab, bevor er sich die üblichen Warnungen anhören musste. »Wir haben schon gehört, dass es dort drüben nur so von Dämonen wimmeln soll.« Iisi strich verlegen durch sein von Salz und Sonne gebleichtes Haar. »Mag sein, dass in unserem Hafen viel Seemannsgarn gesponnen wird«, gab er zu. »Aber in den meisten Legenden, die hier von Mund zu Mund gehen, steckt ein wahrer Kern, das könnt ihr mir glauben.« »Warum erzählst du uns nicht ein wenig mehr davon?«, bat Matthew. »Du siehst aus, als ob du einen kräftigen Bissen vertragen könntest, und wir wollten sowieso eine Kleinigkeit im Blauen Fishmanta'kan zu uns nehmen. Möchtest du uns vielleicht Gesellschaft leisten?« Die Aussicht auf gebratenen Fisch und einen Humpen Ael schien ganz
nach Iisis Geschmack. Dankend nahm er die Einladung an und setzte sein Schwätzchen mit den Fremden fort. Auf dem Weg zum Panzer berichtete er mit leuchtenden Augen, wie er mit einigen Freunden den gefürchteten Skaranga überlistet und an den Galgen gebracht hatte. Am Nixon hatte sich die Menschenmenge größtenteils wieder zerstreut. Nur Lurok, der grauhaarige Händler, redete noch auf Mr. Black ein, der aber nur unwillig abwinkte. Honeybutt und Merlin montierten gerade die Maschinengewehre ab, verstauten sie im Kommandostand und schlossen das Seitenschott hinter sich. »Wie sieht es aus?«, erkundigte sich Aiko. »Schlecht«, brachte Aruula die Situation auf den Punkt. »Bisher ist niemand bereit, sich dem anderen Ufer auch nur auf Sichtweite zu nähern. Vielleicht müssen wir uns doch einen anderen Hafen suchen.« *
Da sich die Arbeiten im Hafen dem Ende zuneigten, war der Schankraum im Blauen Fishmanta'kan gut besucht. Zuerst erschien es unmöglich, sieben zusammenhängende Plätze zu ergattern, aber auf einem der erhöht liegenden Podeste, die sich an der linken Seite des Saals entlang zogen, hatten sie schließlich Glück. Weiß getünchte Rundbögen und halbhohe Geländer, die sie räumlich von dem Parkett abgrenzten, vermittelten ein gemütliches Ambiente. Frischer Bratenduft, Ael und Kiffet-
tenwolken zogen durch den Raum und vermischten sich zu einem prickelnden Aroma, das ihnen das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Zum Glück schien Iisi mit dem Wirt gut bekannt zu sein, denn ihre Gruppe wurde in Rekordzeit mit dampfenden Tellern und überschäumenden Humpen versorgt. Auch sonst erwies sich der kontaktfreudige Fischer als große Hilfe. Nachdem alle gesättigt waren, machte er Matt und Mr. Black mit einer Reihe von Kapitänen bekannt, die regelmäßig auf den Meeren kreuzten. Leider war die Mühe vergebens. Weder durch Geld noch gute Worte ließ sich jemand dazu bewegen, die Fahrt ans gegenüberliegende Ufer zu wagen. »Verdammter Aberglaube«, schimpfte Mr. Black, nachdem sie eine weitere Abfuhr erhalten hatten. »Die würden lieber ihre eigene Mutter im Ozean ertränken, als uns überzusetzen. Es kann doch nicht angehen, dass wir einen ganzen Kontinent durchqueren und dann an einer Meerenge von nicht mal zweihundert Kilometern scheitern. Notfalls müssen wir eben ein Schiff für unsere Zwecke requirieren.« »Wie bitte?« Matt traute seinen Ohren nicht. Bloß gut, dass keiner der umstehenden Seeleute der englischen Sprache mächtig war, sonst hätte man sie vermutlich sofort am nächsten Balken aufgeknüpft. »Wollen Sie ernsthaft vorschlagen, einem der Fischer die Existenzgrundlage zu stehlen? Dann wären wir doch nicht ein Deut besser als die Piraten, die über Berbow hergefallen sind.« Blacks Gesicht wirkte plötzlich wie 29
aus Stein gemeißelt. Der Vorwurf, ein gewöhnlicher Dieb zu sein, traf ihn zutiefst. »Wir stehen im Dienst einer gerechten Sache«, beteuerte er mit rauer Stimme. »Da ist es manchmal unumgänglich, auch fragwürdige Methoden anzuwenden. Wenn ich mich recht entsinne, hat es Ihnen auch nichts ausgemacht, in einem gestohlenen Panzer zu reisen, Commander.« Nun war es an Matt, den Beleidigten zu spielen. »Vorsicht, jetzt vergaloppieren Sie sich«, warnte er den Rebellen. »Es ist ein Riesenunterschied, den Weltrat zu prellen oder ein paar Barbaren, die nicht mal ahnen, um was es bei unserer Auseinandersetzung geht.« Für einige Sekunden standen sich die beiden Männer schweigend gegenüber. Nur die harten Blicke, mit denen sie einander taxierten, zeugte von dem stillen Kampf, der zwischen ihnen tobte. Die Gespräche um sie herum verstummten. Fischer, Händler und Hafenknechte spürten instinktiv, dass sich neben ihnen Ärger zusammenbraute. Obwohl er Matt an Größe und Kraft überlegen war, senkte Mr. Black zuerst den Blick. »Sie haben Recht, Commander«, gestand er ein. »Ich bin wohl übers Ziel hinausgeschossen.« »Schon gut«, lenkte Matt ein. »Die Strapazen der letzten Wochen stecken uns allen in den Knochen. Sie werden schon sehen, wir finden einen Weg übers Meer, auch wenn es etwas länger dauert.« Versöhnlich gestimmt, kehrten sie an ihren Tisch zurück. Schon von weitem konnte Matt sehen, dass sich Aruula die Schläfen massierte. 30
»Probleme?«, erkundigte er sich. Die Barbarin schüttelte tapfer den Kopf. »Es geht schon, nur mein Lauschsinn macht mir noch zu schaffen. Manchmal klingen in meinem Kopf mehrere Stimmen durcheinander, dann höre ich wieder gar nichts mehr.« Typisch Aruula. Immer mit dem Kopf durch die Wand: Nach der langen Zeit, in der ihr telepathisches Talent blockiert gewesen war, wollte sie nun übergangslos an alte Leistungen anknüpfen. »Lass es etwas ruhiger angehen«, bat Matt. »Alles Weitere ergibt sich schon von selbst.« Er hauchte ihr einen schnellen kuss auf die Stirn, worauf sie mit einem dankbaren Nasenstüber antwortete. Beide freuten sich schon auf die gemeinsame Nacht in einem der Gästezimmer. Das war doch etwas anderes, als wochenlang zu sechst in einem engen Panzer aufeinander zu hocken und dabei jegliche Privatsphäre zu verlieren. Der liebevolle Moment wurde jäh gestört, als Iisi sich zu ihnen herüber beugte und raunte: »Der Ruländer dort drüben ist vielleicht eure letzte Hoffnung auf eine Passage.« Mit einer unauffälligen Geste deutete er auf den dunkelblonden Seebären, der gerade zur Tür herein kam. »Capt'n Deerk von der Puutin, dem Dreimaster, der mit unseren Kanonen bestückt wurde. Es heißt, er hätte schon alle Meere dieser Welt befahren. Vielleicht wagt er sich ja auch bis ans Ufer der Anderswelt?« Hinter dem kräftigen Mann mit den ledernen Stulpenstiefeln, der dunklen Tuchhose und dem weit - ausgeschnitte-
nen Hemd, das einen Blick auf seine stark behaarte Brust zuließ, traten drei weitere Seeleute ein, die ihn wie eine Leibgarde flankierten. Allesamt harten Burschen. Die Säbel an ihren Hüften machten deutlich, dass sie jederzeit bereit waren, sich auf ein Scharmützel einzulassen. Selbstsicher sah Deerk in die Runde, bis er einige Plätze nahe des Podestes erspähte, auf dem Matt und seine Freunde saßen. Der Lärmpegel in der Schenke nahm schlagartig ab, als sich die Ruländer ruppig zwischen den dicht besetzten Bänken hindurch drängten. Der Respekt, der ihnen von allen Seiten entgegenschlug, war deutlich zu spüren. Zwei Händler, die an dem ausgespähten Tisch saßen, räumten freiwillig das Feld, obwohl sie ihre Mahlzeit noch nicht beendet hatten. Capt'n Deerk machte keine Anstalten, sie zurückzuhalten, und zeigte sich auch sonst nicht besonders feinfühlig. Vermutlich durfte er das auch nicht, wenn er den Kampf gegen die Piraten anführen sollte. Wie ein nasser Sack ließ er sich auf einen Stuhl fallen und streckt die Füße aus. Sein eher markant als schön zu nennendes Gesicht glänzte vor Schweiß. Er musste kräftig mit angepackt haben, als die Kanonen an Bord der Puutin geladen wurden. Die Männer an seiner Seite machten einen nicht minder erschöpften Eindruck. »Der Kahlkopf ist Ursk, der Steuermann«, berichtete Iisi, der sich einmal mehr als wandelndes Auskunftsbüro erwies. »Daneben mit den schwarzen Locken hockt Grigor, Deerks erster Of-
fizier. Und dann gibt es noch Vasili, den Messerwerfer.« Der Beiname des Letzteren ergab sich aus den beiden gekreuzten Ledergurten, die ihm über Brust und Rücken der ärmellosen Weste liefen. Jeweils sechs schmale, wohl ausbalancierte Wurfklingen steckten in jedem Riemen. Ein geübter Mann konnte damit viel Unheil anrichten. Im Moment fingerte Vasili jedoch in einer aus Sharxleder gefertigten Gürteltasche herum, aus der er ein verschlossenes Glas zog. Matt musste schon genau hinsehen, um die feuerroten Insekten mit den schwarz geringelten Hinterteilen zu erkennen, die in dem engen Gefängnis aufgeregt kreisten. Vorsichtig schnürte Vasili die Lederkappe auf, die als Verschluss diente. Ohne ein Schlupfloch zu lassen, schob er die rechte Hand unter den Lappen, bis seine Finger ins Glas hinein ragten. Anfangs ignorierten ihn die Insekten, doch als er nach ihnen schnippte, wurden sie wütend. Ein leichtes Zucken des Bizeps signalisierte, das sie ihn stachen. Zufrieden zog er die Finger zurück, presste den Lederdeckel fest auf das Glas und schob es zum Nächsten in der Runde weiter. Alle vier, einschließlich Capt'n Deerk, ließen sich auf diese Weise stechen. Danach wanderte das verschlossene Glas wieder in die Gürteltasche. Ehe Matt fragen konnte, was dieses bizarre Ritual zu bedeuten hatte, durchlief die Seeleute eine erstaunliche Veränderung. Die Müdigkeit schien regelrecht von ihnen abzufallen. Eben noch wortkarg und mürrisch, begannen sie 31
miteinander zu schwatzen und zu lachen, als hätten sie schon ein halbes Fass Ael getrunken. Ihre Körper strafften sich. Die Gesten wurden ausschweifend, aber auch fahrig und nervös. »Das Stachelgift muss eine belebende Wirkung haben«, vermutete Aiko, der die Szene ebenfalls mit Interesse verfolgt hatte. Aufputschend wäre wohl das passendere Wort gewesen. Als die Schankmaid kam, waren die Seeleute nicht mal mehr in der Lage, eine Bestellung aufzugeben. »Komm, setz dich zu uns«, forderten sie. »Uns steht der Sinn nach Gesellschaft, nicht nach dem verbrutzelten Zeug, das Nuuk seinen Gästen andreht.« Die schlanke Bedienung in dem langen, keineswegs aufreizenden Kleid dachte gar nicht daran, sich mit der zugedröhnten Männerrunde einzulassen. Doch als sie gehen wollte, um am Nebentisch die Teller abzuräumen, packte Vasili sie am Arm und zog sie unter dem Gelächter seiner Kameraden zu sich auf den Schoß. Prompt kassierte er eine schallende Ohrfeige, die seine linke Gesichtshälfte rötete. »Hoppla, auf einmal doch so stürmisch«, flachste er scheinbar heiter, bog aber gleichzeitig die Handgelenke des Mädchens brutal hinunter. »Wie wäre es mit einem kleinen kuss, bevor du wieder in die Küche eilst?« Die Schankmaid versuchte sich verzweifelt aus der harten Umklammerung zu befreien, doch gegen Vasilis Kräfte kam sie nicht an. Mit zappelnden Beinen musste sie über sich ergehen lassen, dass er ihren Oberkörper hintenüber 32
kippte. Seine Lippen spitzten sich zu einem übertriebenen Kussmund. »Lass mich los, du Scheusal!«, schrie sie erbost, doch es half nichts. Das Gesicht ihres Peinigers rückte näher und näher. Wütend stieß sie Vasili ein Knie in die Rippen. Dass dabei ihre Beine entblößt wurden, störte sie nicht. An die rauen Hafensitten gewohnt, tat sie alles, um sich ihrer Haut zu wehren. Sie wand sich wie eine Schlange, schrie, trat und biss wild um sich. Vasili hörte trotzdem nicht auf, sie zu bedrängen. Er schien keinerlei Schmerzen zu spüren. Nicht mal, als sie ihm die Stirn ins Gesicht rammte. Ein lautes Knacken klang durch den Raum. Vasilis Nasenbein war gebrochen. Zwei dicke Blutströme schossen aus seinen Luftlöchern, aber auch das konnte sein Begehren nicht abkühlen. Im Gegenteil. Nun umfasste er ihre schlanken Handgelenke mit einer Pranke und nestelte mit der frei gewordenen Hand an ihrem Rocksaum herum. In der Schänke verstummten alle Gespräche. Angewidert und erbost starrten die Gäste auf das ungebührliche Benehmen des Messerwerfers, doch niemand wagte einzuschreiten. Nicht mal Nuuk, der von der Theke aus alles verfolgte. Von Capt'n Deerk hatte die Schankmaid auch keine Hilfe zu erwarten; der war viel zu sehr damit beschäftigt, sich die Lachtränen aus dem Gesicht zu wischen. »Zu blöd, um ein Weib zu küssen!«, wieherte er so laut, dass es in der ganzen Schänke zu hören war. »Lässt sich glatt die Nase platt schlagen. Unglaublich!«
Die Art, wie er unruhig auf dem Stuhl hin und her rutschte, ließ ahnen, dass das Insektengift in seinen Adern gerade die volle Wirkung entfaltete. Selbst wenn er gewollt hätte, es wäre ihm wahrscheinlich gar nicht möglich gewesen, einzugreifen. Sekundenlang sah es so aus, als musste die Schankmaid die Nötigung hilflos über sich ergehen lassen, doch dann wurde der Saal von einer strengen Stimme erfüllt: »Lassen Sie sofort die junge Dame los! Dieser ehrlose Auftritt ist unter der Würde eines jeden Mannes!« Mr. Black, dem gute Manieren über alles gingen, war es als Erstem zu bunt geworden. Der athletisch gebaute Rebellenführer erhob sich herausfordernd von seinem Stuhl. In dem verschlissenen Thermoanzug, der durch einen Fellumhang ergänzt wurde, machte er einen äußerst kriegerischen Eindruck. Vasili reagierte sofort. Vielleicht, weil der Messerwerfer nur darauf gewartet hatte, dass sich jemand einmischte. Und wenn er den Meerakaner auch nicht verstand, so erf asste er doch die Bedeutung seiner Worte. In einer schwungvollen Bewegung stieß er die Schankmaid vom Schoß und sprang auf. In seiner Hand blitzte eine schmale Klinge auf. Niemand hatte gesehen, wie sie aus dem Gurt dorthin gekommen war. Ein verdammt flinker Kerl. Mit der Zunge sogar noch schneller als mit dem Wurf dolch. »Was willst du, häh?«, schnauzte er Black an. »Ärger?« Furcht vor dem größeren Gegner schien Vasili nicht zu kennen. Schneller als das menschliche
Auge folgen konnte, wechselte sein Messer zwischen den beiden Händen. »Komm doch her«, forderte er. »Dann steche ich dich ab.« Eine Explosion stanzte ein Loch un die Decke, dass Steinbrocken und Verputz herabrieselten. »Wenn du noch dazu kommst!«, erklang Matts Stimme. Und als Vasilis Blick zu ihm hinüber huschte, starrte er in die noch rauchende Mündung seines Drillers. Matt hoffte, dass die Drohung genügte. Er wollte den Ruländer nicht töten. Doch Vasili schien nicht so einfach aufgeben zu wollen. Er schwenkte die Hand herum, zielte nun auf Matt. »Wenn du glaubst …« Eine schwere Hand, die auf seine Schulter krachte und ihn am Wurf hinderte, unterbrach die Drohung. Capt'n Deerk mischte sich ein. Die bedrohliche Situation schien den Kapitän aus seinem Rausch gerissen zu haben. »Schluss jetzt!«.befahl er. Vasili gab keinen Ton von sich. Sein blutverschmiertes Gesicht und die Zornesader, die über seiner linken Schläfe pochte, sprachen dafür Bände. Alles in ihm schrie nach Kampf, das war nicht zu übersehen. Doch dann, von einer Sekunde auf die andere, sprang ein breites Grinsen auf sein Gesicht. Fast so, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. »Hey, hey, hey«, lachte er. »Was für eine Dröhnung. Heute haben mich gleich zwei Feuerfleggen auf einmal erwischt.« Mit dem Ärmel seines Hemdes wischte er sich das Blut aus dem Gesicht, dann nahm er Platz, als ob nichts gewesen wäre. Er warf der Schankmaid 33
sogar eine glänzende Münze zu, wohl als Entschädigung für seine Grobheiten. Sie pfefferte ihm das Geldstück postwendend an den Kopf, worauf er sich vom Stuhl fallen ließ, um den tödlich Getroffenen zu markieren. Irgendwo im Schankraum begann jemand zu kichern. Damit war der Bann gebrochen. Die allgemeine Anspannung entlud sich in donnerndem Gelächter, das über alle Tische hinweg zog. Nur Matt und seine Gefährten, die inzwischen standen, blickten schweigend auf Deerks Truppe hinab. Die geballte Kampfkraft, die sie damit zur Schau stellten, schien dem Kapitän der Puutin zu imponieren. Leicht schwankend, die Augenlider auf Halbmast, kam er näher und lehnte sich lässig auf die Brüstung, die ihr Podest umgab. »Nur die Ruhe«, mahnte er. »In einer Hafenschänke geht es nun mal etwas rauer zu. Vor allem, wenn eine gefährliche Fahrt bevorsteht. Ihr habt doch sicher davon gehört? Wir stechen morgen in See, um das Piratenproblem zu lösen. Wir sind die Guten!« »Tatsächlich?«, fragte Matt lakonisch, doch das Verhalten der anderen Gäste schien Capt'n Deerk Recht zu geben. Niemand scherte sich noch um die Ruländer, die wieder friedlich am Tisch saßen. Nur die Schankmaid machte von nun an einen großen Bogen um Vasili, der sich Essen und Ael von Nuuk servieren lassen musste. »Wie sieht es mit euch aus?«, hakte Deerk nach, und Aruula übersetzte seine Worte für Black, Merlin, Aiko und Honeybutt. »Ihr scheint ebenfalls 34
erfahrene Kämpfer zu sein, und was eure Waffen angeht - so eine kleine Kanone, wie du sie trägst, habe ich noch nie gesehen. Wollt ihr nicht bei mir anheuern? Ich könnte noch ein paar kräftige Arme brauchen, wenn es gegen die Piraten geht.« Matt und die anderen ließen sich wieder am Tisch nieder. Der Commander griff nach seinem Aelhumpen, nahm einen Schluck und sah zu dem raubeinigen Kapitän, der geduldig auf eine Antwort wartete. »Der Sold, den wir verlangen, wäre dir sicher zu viel«, erklärte er schließlich. Deerk zeigte sich wenig beeindruckt. »Wieso? Was schwebt euch denn vor?« Matt wartete einen Moment, bevor er die Taratze aus dem Sack ließ. »Wir suchen eine Passage ans jenseitige Ufer.« »Ihr wollt in die Anderswelt?« Der Capt'n lachte. »Wenns weiter nichts ist. Sobald die Piraten geschlagen sind, setze ich euch gerne an der Küste ab.« Matt verschluckte sich beinahe an seinem Ael. Was war denn nun los? Kein Entsetzen? Keine Legenden? Kein Gejammer über böse Dämonen? Die Fragen stand ihm so deutlich ins Gesicht geschrieben, dass Deerk antwortete: »Die Fischer und Händler in diesem Kaff sind doch alle … abergläubisch.« Er hatte etwas ganz anderes sagen wollen, es sich aber angesichts eben jener Fischer und Händler im Gasthaus verkniffen. »Dort drüben gibt es nichts Besonderes außer ein paar Piratennestern, die wir ausräuchern werden. Ich bin schon zwei Mal an diesem Teil der Ruland-Küste gelandet und mir ist nie etwas passiert.«
»Stimmt das wirklich?«, fragte Mr. Black misstrauisch, nachdem Aruula übersetzt hatte. »Ja natürlich. Was glaubst du denn, woher wir die Feuerfleggen haben?« Das berauschte Funkeln war längst aus Deerks Pupillen gewichen. Sein glattes, nun fast jungenhaftes Gesicht wirkte offen und ehrlich, als er fortfuhr: »Mein Angebot steht weiterhin: Den gleichen Prisenanteil wie die anderen und eine Fahrt ans gegenüberliegende Ufer. Wir stechen bei Tagesanbruch in See. Wenn ihr bis dahin nicht an Bord seid, geht es ohne euch los.« Er klopfte zum Abschied auf die Brüstung und ging zu seinen Männern zurück. Matt starrte dem seltsamen Vogel eine Weile nach, bevor er Aruula fragte: »Was meinst du? Kann man ihm trauen?« Die Barbarin machte ein betrübtes Gesicht. »Ich habe versucht, seine Gedanken zu erlauschen, aber entweder bin ich noch nicht wieder in Form, oder es liegt an den Feuerfleggen. Ich konnte nur ein heißes Wabern in seinem Kopf erkennen.« »Dieser Deerk ist ein berechnender Kerl, der nur an sich selbst denkt«, warf Mr. Black ein. »Genau deshalb sollten wir auch bei ihm anheuern.« »Verstehe ich nicht«, gestand Aiko. »Aber das liegt doch auf der Hand«, sagte Black süffisant. »Wir sind zu sechst und mit hochmodernen Schusswaffen ausgerüstet. Bis wir auf die Piraten treffen, wird Deerk schön freundlich bleiben, weil er uns für den Kampf braucht. Und falls er danach sein Versprechen nicht einhalten will,
nehmen wir ihm einfach das Boot ab und fahren auf eigene Faust weiter. Oder sieht das jemand anders?« Die anderen nickten zufrieden, und selbst Matt mochte diesmal nicht widersprechen. *
Aiko schraubte gerade das Bordfunkgerät aus der Halterung, als es am Seitenschott rumorte. Zischend klappte die Luke nach außen. Wer konnte das zu dieser späten Stunde sein? Im Hof der Schmiede, in der sie den Panzer geparkt hatten, war es bereits stockdunkel. Hastig griff er nach der Tak 02, eine handliche Maschinenpistole aus der Produktion seines Vaters. Trotz ihres kurzen Laufs war es nicht einfach, die Waffe in dem engen Kommandostand ausrichten, doch es gelang. Über Kimme und Korn visierte er den offenen Einstieg an, ließ die Waffe aber sofort sinken, als Miss Hardy den Kopf zur Tür herein steckte. »Habe ich Sie erschreckt?« Sie machte ein schuldbewusstes Gesicht. »Ich wollte nur fragen, ob Sie vielleicht Hilfe brauchen, Mr. Tsuyoshi.« Aiko schob die Unterlippe vor und sah auf die ausgebauten Teile hinab, die sich fein säuberlich auf dem Boden aneinander reihten. Alles lag genau an seinem Platz, und er war nicht sonderlich scharf darauf, dass ihm jemand die ganze Ordnung durcheinander brachte. »Eigentlich komme ich ganz gut alleine zurecht«, antwortete er, bereute die Worte aber sofort wieder, als er die Enttäuschung auf dem Gesicht der jungen Frau sah. Schnell fügte er hinzu: »Ich 35
würde mich aber freuen, wenn Sie mir etwas Gesellschaft leisten. Alleine ist es ziemlich öde hier drinnen.« Miss Hardys Lächeln entblößte zwei strahlend weiße Zahnreihen. »Gerne«, freute sie sich. »Mir ist auch langweilig, und zum Schlafen ist es noch zu früh.« Obwohl zwei Zentimeter kleiner als Aiko, musste auch sie den Kopf einziehen, um nicht an die stählerne Decke des Kommandostandes zu stoßen. Geschmeidig lavierte sie um die einzelnen Sitze herum, bis sie die Fahrerkonsole erreichte. Als sie sich vorbeugte, um den Verrieglungsknopf zu betätigen, demonstrierte sie eindrucksvoll, woher ihr Spitzname Honighintern stammte. Selbst durch den gepolsterten Thermoanzug zeichneten sich Honeybutts rückwärtige Rundungen angenehm deutlich ab. Aiko hantierte geschäftig mit dem Schraubenzieher herum, während er die zierliche Rebellin aus den Augenwinkeln beobachtete. Irgendwie wurde er aus Honeybutt Hardy nicht richtig schlau. Ihre ruhige, bescheidene Art ließ sie manchmal hilflos erscheinen, doch wenn es hart auf hart ging, hatte sie bisher jedes Mal bewiesen, dass sie zu kämpfen - und noch viel wichtiger: zu überleben verstand. So wie sie Black anhimmelte, hätte Aiko anfangs Stein und Bein geschworen, dass die beiden ein Pärchen wären, doch das Verhältnis zwischen dem Rebellenführer und seiner letzten noch verbliebenen Mitstreiterin, schien eher platonischer Natur zu sein. Würde sich Black sonst ein Quartier mit Merlin Roots teilen, während Hardy ein Einzel36
zimmer bezogen hatte? »So werden Sie den Schlitz nie treffen«, tadelte Honeybutt belustigt. »Sie müssen schon hingucken, wenn Sie den Schraubenzieher ansetzen.« »Wie bitte?« Aiko ließ vor Schreck fast sein Werkzeug fallen. Verdammt, Miss Hardy hatte gesehen, wie er auf ihren Hintern schielte. Wie peinlich. »Immer auf die anstehende Aufgabe konzentrieren und sich nicht ablenken lassen«, dozierte sie mit erhobenen Zeigefinger. Aiko verdrehte die Augen. »Hilfe! Ist das ein Leitsatz der Running Men, den Sie auswendig lernen mussten?« Honeybutt, die sich gerade in einem der Schalensessel niederlassen wollte, hielt mitten in der Bewegung inne. »Ja«, antwortete sie mit großen Ernst. »Ist etwas falsch daran?« Ihre gefurchte Stirn machte deutlich, dass sie sich angegriffen fühlte. Die Running Men waren ihre Familie, auf die sie nichts kommen ließ. Vorsicht, verbale Tretminen! Aiko stieß laut hörbar die Luft aus, um sich etwas Zeit zu verschaffen, während er um die richtigen Worte rang. »Ich will die ganze Rebellenkiste überhaupt nicht heruntermachen«, stellte er klar. »Die Enklave, aus der ich komme, musste auch unter der WCA leiden. Von daher stehen wir auf derselben Seite. Und wenn es darum geht, Lynne Crow eins auszuwischen, bin ich sofort dabei. Mich stört nur die Verbissenheit, mit der die Running Men zu Werke gehen. Man kann die Sache doch auch etwas lockerer handhaben. Das Leben ist viel zu kurz, um es einzig und allein dem
Kampf zu widmen.« Honeybutt sog jedes seiner Worte auf wie ein trockener Schwamm, der mit Feuchtigkeit benetzt wird. Eine Armee widerstreitender Gefühle marschierte über ihr ebenmäßiges Gesicht. Die Aussicht auf Spaß und Lebensfreude gefiel der jungen Frau natürlich, doch am Schluss legte sich ein trauriger Zug um ihre Lippen. »Sie haben gut reden, Mr. Tsuyoshi«, sagte sie leise, »Sie wissen nicht, welches Leben ich in Waashton geführt habe. Ich bin auf der Straße groß geworden. Meine einzige Familie war eine Horde Gleichaltriger, die genauso ums nackte Überleben kämpfen mussten wie ich. Schon als Kind habe ich geflucht, gestohlen, getrunken und …«, sie zögerte, als ob sie nicht genau wusste, wie viel sie preisgeben sollte, bevor sie vollendete: »… gehurt.« Aiko spürte ihre dunklen Augen auf sich ruhen. Honeybutt beobachtete ganz genau, wie er auf dieses Geständnis reagierte. In diesem Moment, in dem zum ersten Mal die Abgründe durchschimmerten, die hinter der zurückhaltenden Fassade schlummern mochten, zuckte er nicht mal mit dem kleinsten Muskel und machte auch nicht den Fehler, weiter in sie zu dringen. Was Honeybutt erzählte, sollte aus freien Stücken kommen. Allein durch sein Schweigen forderte er sie auf, fortzufahren. »Ohne Mr. Black wäre ich dem Elend nie entronnen«, erklärte sie. »Er hat an meine Fähigkeiten geglaubt und mir beigebracht, wie diese Welt wirklich funktioniert. Ohne ihn wusste ich nicht, wie man eine niveauvolle Unter-
haltung führt oder würde Technik für reinste Magie halten.« Sie deutete auf einige Bauteile zu ihren Füßen. »Kamera, Koaxialkabel und Bildschirm«, zählte sie auf. »Geben Sie mir Ihr Werkzeug und ich schraube daraus innerhalb von fünf Minuten ein funktionierendes Überwachungssystem zusammen.« »So eine Kamera lässt sich aber auch zu nichtmilitärischen Zwecken einsetzen«, seufzte Aiko. »Für wissenschaftliche Beobachtungen in der Tierwelt, um ein Theaterstück aufzuzeichnen, oder was weiß ich. Die Running Men sehen alles immer nur aus dem kriegerischen Blickwinkel.« »In Waashton mussten wir unsere knappen Ressourcen …« »Ihr seid aber nicht mehr in der Hauptstadt«, unterbrach der Cyborg ärgerlich. »Die Bedingungen haben sich geändert, aber ihr benehmt euch immer noch, als ob ihr auf Patrouille im feindlichen Sektor wärt.« Als er sah, wie sich Hardys Blick verfinsterte, wedelte Aiko hilflos mit dem Schraubenzieher in der Luft herum. »Sieh mal, ich will dich doch nicht ärgern. Es ist toll, was du mit Blacks Hilfe aus deinem Leben gemacht hast. Da habe ich es bestimmt leichter gehabt. Du solltest auf dieser Reise einfach nur die Augen für offen halten und sehen, was es noch außerhalb eueres Kampfes gibt. Einfach …« »… lockerer werden?« Das Lächeln war auf Hardys Lippen zurückkehrt. Hoffentlich nicht, weil sie sich über seine Stammelei lustig machte. »Ist es das, was Sie meinen, Mr. Tsuyoshi?« Aiko schnipste mit dem Finger. 37
»Genau. Lockerer werden, das ist das Stichwort.« »Und wie soll das gehen?«, fragte sie ganz ernsthaft. »Zuerst mal, indem du mich nicht mehr Mr. Tsuyoshi nennst«, erwiderte er. »Für meine Freunde heiße ich Aiko.« Die Kebellin dachte eine Weile angestrengt nach. Mr. Black, der größten Wert auf Förmlichkeiten legte, würde es sicher nicht gefallen, wenn sie seine Grundsätze plötzlich unterlief. Trotzdem hellten sich ihre Züge auf. »In Ordnung«, entschied sie. »Aber nur, wenn du mich Honeybutt nennst.« »Daran solls nicht scheitern.« Grinsend wandte sich Aiko wieder der Sendeanlage zu. Mit schnellen Drehungen löste er die letzten Schrauben, hob das Gerät aus der Halterung und stellte es zu den anderen Bauteilen, die sie mit auf die Reise nehmen wollten. Zusammen mit den Maschinengewehren und dem Granatwerfer wurde das Gepäck ganz schön schwer, doch wenn auch nur halb so viel an den Legenden der Anderswelt dran war, wie in diesem Dorf erzählt wurde, konnten sie die Sachen sicher noch gut gebrauchen. »Was ist als nächstes dran?«, fragte Honeybutt wissbegierig. »Es fehlt nur noch der Trilithium-Kristall«, antwortete Aiko. »Die Zerstörungskraft eines Panzers ist zu mächtig, als dass wir ihn fahrtüchtig zurücklassen könnten.« Honeybutt nickte verstehend. »Erklärst du mir, wie der Kristall funktioniert?«, fragte sie. »Puhhh!« Aiko rieb sich nachdenk38
lich das Kinn. »Das ist nicht so einfach, wie du dir das vielleicht vorstellst.« »Hey!« Empört stemmte die junge Frau ihre Hände in die Hüften. Von der zurückhaltenden Art, die Aiko so sehr an ihr schätzte, war plötzlich nichts mehr zu spüren. »Bloß weil ich keinen Computer im Kopf habe wie du, heißt das noch lange nicht, dass ich nichts Kompliziertes verstehen kann.« »Das ist kein Computer, das sind neurale Erweiterungen«, stellte der Cyborg beleidigt klar. »Ich bin keine Maschine, sondern ein Mensch, der genauso denkt und fühlt wie du auch.« Honeybutts Wangen erhielten einen dunklen, glänzenden Ton, der an eine polierte Billardkugel erinnert. So sah es also aus, wenn sie errötete. »Das weiß ich doch«, sagte sie weich, ohne seinem Blick auszuweichen. In ihren braunen Augen schimmerte plötzlich etwas Unergründliches, das ihm zuvor nicht aufgefallen war. »Okay.« Er musste sich räuspern, um die Kehle frei zu bekommen. »Zuerst müssen wir die Sicherheitsabdeckung entfernten, dann gilt es, den Kristall unbeschädigt aus der Porzellanfassung zu entfernen.« Gemeinsam krochen sie in den hinteren Teil des Kommandostandes, um die Arbeit auszuführen. Aiko wusste nicht, warum es ausgerechnet in diesem Moment geschah - aber zum ersten Mal, seit er mit Brina durch die nächtlichen Straßen von El'ay geflohen war, spürte er wieder das Bedürfnis, eine Frau, mit der er Seite an Seite kämpfte, an sich zu ziehen und in die Arme zu schließen. Doch er wagte es nicht.
Noch nicht. *
Mit den ersten Strahlen des neuen Morgens ging die Gruppe an Bord der Puutin, wo sie zu ihrer Überraschung Hauptmann Cusak und seine Männer trafen, die ebenfalls die Fahrt begleiteten. Die Hafenwache sollte die Seeleute an den Kanonen ausbilden und gleichzeitig wohl auch verhindern, dass sich Capt'n Deerk mit den neuen Waffen absetzte, bevor die Bruderschaft des blutigen Banners vernichtend geschlagen war. Bronzehelm und Brustharnisch hatten die Soldaten zu Hause gelassen. Auf See waren schwere Rüstungen lebensgefährlich, denn bei einem unfreiwilligen Bad riss ihr Gewicht selbst geübte Schwimmer in die Tiefe. Stattdessen trugen die Männer nun grüne Mützen und Hemden, deren Färb ton an frischen Tang erinnerte. Cusaks und Matthews Gefolgsleute nickten einander freundlich zu, als sie sich an Deck begegneten. Da beide Gruppen fremd an Bord waren, spürten sie sofort ein Gefühl der Verbundenheit. Die Besatzung der Puutin bereitete den Passagieren ebenfalls einen herzlichen Empfang. Der Vorfall in der Schänke hatte sich bis zum Kombüsenjungen herumgesprochen, doch von Feindseligkeit war deshalb nichts zu spüren. Im Gegenteil. Jeder wollte die Männer und Frauen sehen, die Vasili zur Räson gebracht hatten. Besonderes Interesse erregten dabei die Gewehre und Driller, die Matt und seine Freunde
trugen. Es dauerte nicht lange, bis ein Probeschuss gefordert wurde, doch Capt'n Deerk, der die Treppe vom Quarterdeck herab stieg, scheuchte seine Männer wieder an die Arbeit. »Schön, dass ihr uns doch noch begleiten wollt«, freute er sich. »Dafür erhaltet ihr auch das schönste Quartier an Bord. Fragt den Hauptmann, er ist ebenfalls dort untergebracht.« Cusak schnaufte verächtlich. »Ein feuchter Lagerraum ohne Sonnenlicht, in dem es nach Meerestieren stinkt. Wenn das die bester Kammer ist, möchte ich nicht wissen, wie Ihr hausen müsst, Herr Kapitän.« Deerks Lächeln verbreiterte sich zu einem schalkhaften Grinsen. »Gut, es nicht ganz so luxuriös wie meine Kabine«, gestand er ein, »aber ich bin ja auch der Capt'n. Meine Mannschaft ist nicht anders untergebracht als die Passagiere, davon könnt ihr euch gerne überzeugen. Und was den Geruch angeht, so ist er vielleicht besser zu ertragen, wenn ihr erfahrt, dass er aus der Speisekammer stammt. Und nun macht es euch erst mal bequem. Vasili und Grigor zeigen euch den Weg.« Deerk war ein kleiner Aufschneider, dem man nicht ernsthaft übel nehmen konnte, dass er seine beengten Räume wie den Schlafsaal eines orientalischen Palastes anpries. Trotzdem verstand er sich auf das Wichtigste, was einen Schiffskapitän auszeichnete: auf Menschenführung. Das zeigte sich daran, dass er die angeheuerten Kämpfer gleich zu Beginn mit Vasili konfrontierte, mit dem sie die nächsten Tage auskommen mussten, ob er ihnen nun 39
sympathisch war oder nicht. Matt hätte den Kotzbrocken fast nicht wiedererkannt, wenn da nicht die überkreuz laufenden Messergurte gewesen wären. Das Gesicht des Grapschers wurde von einer blau angelaufenen Nase und zwei dicken Veilchen geziert. Ein Andenken an den Kopfstoß der Schankmaid, doch Vasili schien den Schmerz gar nicht zu spüren. »Da seid ihr ja«, grüßte er, als ob sie alte Freunde wären. »Dann kann es ja endlich losgehen.« Zusammen mit Grigor, der sich von der wortkargen Seite zeigte, ging es durch den achternen Niedergang unter Deck. Mit den schweren Rucksäcken, die alle auf dem Rücken trugen, war es gar nicht so einfach, die steile Treppe hinab zu kommen, doch da sie sich gegenseitig unterstützten, verlief alles reibungslos. Sie passierten die Ruderbänke, auf denen sich ein Schachbrett aus Lichtund Schattenquadraten abzeichnete, weil die Sonne durch das Holzgeflecht fiel, das die Hauptluke abdeckte. Eine Etage tiefer gab es nur noch Tranfunzeln, die kleine Lichtinseln in den stockdunklen Gängen schufen. Von Salz, Feuchtigkeit und Fisch geprägter Muff schlug ihnen entgegen, aber das war für einen Segler dieses Alters normal. Vasili musste sich wieder einen Stich der Feuerfleggen gegönnt haben, denn er redete pausenlos auf seine Begleiter ein. Er erklärte, wie sie vom aktuellen Standort aus zur Kombüse, Pulverkammer und Kapitänskajüte kamen, oder beschrieb den Weg ins Unterdeck, wo Frischwasserfässer, Ersatzsegel und 40
Tauwerk lagerten. Die Informationen kamen so schnell und reichhaltig, dass sie kein Mensch auf Anhieb behalten konnte, deshalb versuchte Matt es auch gar nicht erst. Vorläufig reichte es ihm, sich den Weg zum Schlafplatz und zurück zu merken. Nachdem sie tief in den Achterbereich vorgedrungen waren, gelangten sie in einen großen, fast leeren Raum, an dessen Längsseite sich zwei große Truhen und zahlreiche Netzhaufen aneinander reihten. »Wenn erst mal die Hängematten aufgespannt sind, sieht es gleich viel gemütlicher aus«, verkündete Vasili, der das gleiche Talent zum Gebrauchtwagenhändler besaß wie sein Kapitän. »Die Kisten haben Vorhängeschlösser, darin könnt ihr euer persönliches Eigentum verstauen. Außerdem lasse ich einige Talgkerzen bringen, damit ihr Licht habt.« Matt zog während des Vortrages die Nase kraus, wie ein Tier, das eine Witterung aufnimmt. Cusak hatte Recht gehabt. In diesem Bereich des Schiffes roch es wesentlich strenger als in den Gängen, die sie unterwegs passiert hatten. »Das sind die Hummer«, erklärte Vasili auf Anfrage. Nach einem kurzen Seitenblick zu Grigor, der nur mit den Schulten zuckte, bot der Messerwerfer an: »Kommt mit, dann seht ihr, was ich meine.« Er führte Matt und die anderen in eine Kammer, die sich dem Schlafsaal anschloss. Sobald die Tür aufschwang, schlug ihnen ein scharfer Geruch entgegen, der von Salz und Verwesung ge-
prägt wurde. Ausgangspunkt dafür waren fünf Emaillewannen, die irgendwie die letzten fünfhundert Jahre überstanden hatten, obwohl sich der weiße Schmelzglasüberzug bereits in großen Stücken vom Zinkuntergrund löste. Im Schein des Tranlichts erwachte das darin schwappende Wasser zu leise klapperndem Leben. Ein Gewimmel aus hornigen roten Glieder brodelte explosionsartig in die Höhe, scheiterte jedoch an einer rostigen Lage Maschendraht, die ein Überquellen verhinderte. Erst auf den zweiten Blick identifizierte Matt die vielarmigen Masse als mutierte Krabben, denen jeweils eine einzelne, ungewöhnlich lange Schere aus dem Maul ragte. Einen angewiderten Laut von sich gebend, sah er zu Vasili auf, der beim Anblick der zusammengepferchten Tiere nur mit der Zunge schnalzte. »Eine echte Delikatesse«, versicherte er. »Besonders wenn einem nach mehreren Tagen auf See Shmaldan und Trockenfisch zum Hals raushängen.« Dass diese Delikatesse in unmittelbarer Nähe der Passagiere gelagert wurde, schien Vasili als besonderen Vertrauensbeweis zu betrachten. Die Geruchsbelästigung, die für Matt und die anderen im Vordergrund stand, roch er dagegen nicht. Etwas Gutes musste eine gebrochene Nase ja haben. Mr. Black sorgte dafür, dass die Tür zur Nebenkammer wieder möglichst schnell geschlossen wurde. Nachdem die Gruppe ihr schweres Gepäck in den abschließbaren Truhen verstaut hatte, kehrte sie an Deck zurück, um die Vorbereitungen zum Auslaufen zu unter-
stützen. Um den Hafen zu verlassen, mussten die Ruderbänke besetzt werden. Aiko und Mr. Black erwarben sich bei dieser Gelegenheit die Hochachtung der gesamten Besatzung, weil sie zu zweit einen Riemen übernahmen, der sonst von vier Männern bedient wurde. Mit seinen künstlichen Armen war der Cyborg natürlich allen anderen an Ausdauer überlegen, doch Mr. Black hielt kräftig mit, bis die Puutin weit genug vor der Küste lag, um den ablandigen Wind zu nutzen. Zehn Schiffe nahmen die Fahrt mit vollen Segeln auf, die meisten von ihnen nur einmastige Kutter, wie Iisis Fischerboot, doch insgesamt eine ansehnliche Flotte, die den Piraten den Garaus machen konnte. *
Drei Tage später, auf hoher See. Über Nacht hatte der Wind aufgefrischt und das kristallblaue Meer in einen grauen Sud verwandelt, der wütend gegen die Bordwand schlug. Der verstärkte Wellengang ließ das Deck schwanken. Nicht genug, um echten Seeleuten ein Stirnrunzeln zu entlocken, doch es reichte, um viele Passagiere blass um die Nase werden zu lassen. Als Matt aus dem Niedergang trat, krallte sich Hauptmann Cusak gerade mit beiden Händen an der Reling fest und starrte angestrengt auf die See hinaus. Falls er gerade versuchte, sich auf einen festen Punkt zu konzentrieren, hatte er schlechte Karten. So weit das Auge reichte, waren sie 41
von der grauen See umgeben. Weit und breit war kein Land in Sicht, nur ein knappes Dutzend Segel, die sich am östlichen Horizont abzeichneten. Ihr Köder, der die Piraten anlocken sollte. »Alles in Ordnung?«, fragte Matt, als er neben den Hauptmann trat. »Geht schon«, antwortete Cusak tapfer. »Das verdammte Warten macht mir mehr zu schaffen als der Seegang. Mir wäre wohler, wenn die Dschunken endlich angreifen würden.« Nachdenklich blickte Matt zu den Kuttern hinüber, die so furchtbar weit entfernt schienen. Wie wohl Iisi und den anderen Fischern zumute war? Sie gingen ein großes persönliches Risiko ein, um die Bruderschaft aus ihrem Versteck zu locken. Andererseits hatten sie diese Strategie selbst vorgeschlagen. Capt'n Deerk ging davon aus, dass die mongolischen Piraten einen Unterschlupf an der Küste der Anderswelt besaßen. Ursprünglich wollte er dort so lange kreuzen, bis sie die Dschunken an ihrem Liegeplatz aufgestöbert hatten, aber bei diesem Vorgehen wäre die Puutin auf sich allein gestellt gewesen. Alle übrigen Besatzungen hatten sich unwiderruflich geweigert, auch nur auf Sichtweite an das verrufene Ufer heran zu segeln. So blieb nur noch die Falle auf offener See, die gehörige Risiken barg. Insbesondere bei rauer Witterung, wie sie zur Zeit herrschte. Falls die Dschunken den Köder schneller erreichten als die Puutin und die Velbi - ein Zweimaster von den Meera-Inseln -, war es um die Fischer geschehen. Dunkle Vorahnungen gruben sich in Matts Gehirnwindungen, 42
Bilder von brennenden und sinkenden Schiffen. Lautes Rauschen erfüllte seine Ohren. Er spürte deutlich, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Verdammter Seegang. Die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst, krallte er sich neben Cusak in die Reling. »Wenigstens bin ich nicht der Einzige, dem übel wird«, bemerkte der Hauptmann, doch seine Schadenfreude währte nicht lange. Sekunden später stieß er ein ungläubiges Schnauben aus. Seine Hand tastete nach den Wanten, die sich bis zur Spitze des Großmastes spannten. Er krallte sich in die aus Pflanzensträngen geflochtenen Taue, als wollten ihm die Knie den Dienst versagen. »Das gibt es nicht!« Mehr brachte er nicht heraus, bis seine freie Hand nach vorne stieß. »Da! Ein Fishmanta'kan!« Matt folgte der angegebenen Richtung, vermochte aber nicht mehr als ein paar Wellen zu sehen, die schäumend in sich zusammenfielen. »Bist du sicher?«, fragte er. Cusak ließ die Hand sinken. »Ich weiß nicht«, antwortete er verunsichert. »Jetzt ist nichts mehr zu sehen. Vielleicht sind auch nur meine Nerven überreizt.« Matt klopfte dem Nebenmann beruhigend auf die Schulter, während er das Meer weiter mit Blicken absuchte. Was er im Augenblick am wenigsten gebrauchen konnte, war eine Scheinattacke besorgter Hydriten, die die Menschen von irgendeiner Gefahr fernhalten wollten. Ein Delfiin von zwei Metern Länge stieg in elegantem Bogen aus dem Wasser. Sein zerfurchter, von Wucherungen und knotigen Geschwülsten besetzter
Leib glitzerte kurz in der Luft, bevor er mit dem hornbesetzten Schädel voran abtauchte und wieder in der Tiefe verschwand. Das war es also, was Cusak gesehen hatte. Erleichtert lachte der Hauptmann auf. »Bloß gut, dass das keiner meiner Männer mitbekommen hat. Die würden mich nie wieder ernst nehmen.« »Keine Sorge«, versicherte Matt. »Ich halte dicht.« Während die beiden Männer weiter nach dem harmlosen Meeressäuger Ausschau hielten, gingen die wichtigen Beobachtungen völlig an ihnen vorbei. Zum Glück gab es einen Ausguck, der trotz des Wellengangs im Mastkorb ausharrte. »Fischerboote melden vier Mal rot!«, rief er plötzlich herab. »Alle Mann an Deck! Vier Mal rot!« Matt reckte den Hals, um nach den Kuttern zu sehen, war aber nicht sicher, ob er wirklich Farbtupfer an ihren Masten erkennen konnte. Vier Mal rot bedeutete, dass vier Masten einen roten Wimpel aufgezogen hatten, weil entsprechend viele Dschunken an ihrem östlichen Horizont aufgetaucht waren. Vier Dschunken! Die gesamte verbliebene Flotte der Bruderschaft. Eine riesige Chance, aber auch eine große Gefahr. Was nun folgte, war ein Wettlauf mit der Zeit. Capt'n Deerk stand schon am Quarterdeck und brüllte seine Befehle: »Ab in die Wanten, Jungs, und alle Segel setzen!« Matt und Cusak mussten zur Seite springen, um den herbei eilenden Seeleuten nicht im Wege zu stehen. Barfuß
sprangen sie in die Wanten und kletterten mit affenartiger Geschwindigkeit hinauf. Aiko folgte kurze Zeit später, blieb aber an der Reling stehen und blickte übers Meer hinaus. Mit seinen Augenimplantaten, die sämtliche Rezeptoren verstärkten, konnte er besser sehen als jeder Seemann im Mastkorb, »Vier rote Wimpel«, bestätigte er. Jeder der Männer spürte die seltsame Erregung in sich aufsteigen, die jedem Kampf voranging. In diesem Fall war es eine Art Jagdfieber. Sie mussten die bedrohten Fischer rechtzeitig erreichen und beschützen. Die Ausgangslage dafür schien denkbar günstig. Der Wind blies aus West, besser konnte es nicht kommen. Und da bisher nur Besan- und Vormasten aufgetakelt waren, standen ihnen noch gewaltige Reserven zur Verfügung. Sämtliche Seeleute kletterten in den Toppsgasten herum, um das Großsegel zu lösen. Nur Capt'n Deerk und Ursk, der Steuermann standen noch an Deck. Aruula, Honeybutt, Mr. Black und Merlin kamen gerade aus dem Niedergang hervor, gefolgt von den Männer der Hafenwache. Jeder hatte seine Waffen dabei, um im Nahkampf gegen die Piraten bestehen zu können. Matt fasste nach dem Driller in seiner Beintasche. Nachdem er von den Running Men in Fort McPherson ein weiteres Magazin erhalten hatte, standen ihm noch gut sechzig Schuss zur Verfügung. Nicht genug, um damit verschwenderisch umzugehen, aber wenn es hart auf hart ging, würde er sie einsetzen. Aiko überprüfte seine Tak 02, für die es hier nirgendwo passende Patronen 43
gab. Für ihn war erst recht Sparsamkeit angesagt, deshalb stand der Wahlhebel auf Einzelfeuer. Mr. Black hielt ein Sturmgewehr in Händen. Merlin und Honeybutt teilten sich die verbliebenen Driller. Nur Aruula vertraute einzig und alleine auf ihr Schwert. Da die Gruppe keinen der Laser benutzen wollte, um unnötiges Aufsehen zu vermeiden, blieb für die Barbarin auch keine Schusswaffe übrig. Matt spielte allerdings mit dem Gedanken, die Maschinengewehre aus dem Panzer in Stellung zu bringen. Bevor er aber einen entsprechenden Vorschlag machen konnte, musste er warten, bis Capt'n Deerk sein Gespräch mit dem Kapitän der Velbi beendet hatte. »Es geht los, Nahar!«, rief Deerk zu dem längsseits gegangenen Zweimaster hinüber. »Setzt jeden Fetzen Segel, den ihr habt, und bleibt in unserem Kielwasser. Wir fegen die Piraten von der-See, ehe sie überhaupt wissen, mit wem sie es zu tun haben.« Von der Velbi hallte begeisterte Zustimmung herüber. Danach kümmerte sich Deerk wieder um sein eigenes Schiff. »Maddrax!«, rief er mit lauter Stimme. »Solange meine Leute ausgelastet sind, brauche ich Ihre Hilfe!« Kein Problem, signalisiert der Pilot mit einem Handzeichen. »Nehmen Sie drei kräftige Männer und schaffen Sie zwei Wannen voller Hummer an Deck!« »Wie bitte?« Matt wusste, dass man die Befehle eines Kapitäns normalerweise nicht in Frage stellte, aber diese Anweisung erschien ihm völlig unsinnig. Darum rief er: »Wozu soll das gut 44
sein?« Capt'n Deerk verschränkte beide Hände hinter dem Rücken als Zeichen, dass er nicht in der Stimmung für irgendwelche Diskussionen war. Trotzdem blieb er freundlich, als er antwortete: »Eine kleine Geheimwaffe, die den Piraten ordentlich Kopfschmerzen bereiten wird. Glauben Sie mir, ich weiß, was ich tue.« Matthew schaute sich zu den Fischerbooten um, deren Segel nicht größer als ein Daumennagel wirkten. Bis es zur Schlacht kam, hatten sie die Wannen drei Mal hoch und runter geschleppt. Sein in die Runde gehender Blick streifte Aiko, Merlin und Mr. Black. Er erklärte den beiden Meerakanern, was Deerk verlangte. Zu viert gingen sie unter Deck, um einen Befehl auszuführen, den sie nicht verstanden. Schon zu allen Zeiten hatten Soldaten das im Nachhinein bereut. Ihnen sollte es nicht besser gehen. *
Beim Versuch, die Wanne den steilen Niedergang hinauf zu stemmen, geriet sie in eine gefährliche Schieflage. Prompt schwappte ein Teil des Brackwassers heraus, mitten in Aikos entsetztes Gesicht. Klappernde Hummerscheren bedachten das Missgeschick mit höhnischem Beifall, während der Cyborg den Kopf hin und her warf, um die dreckige Brühe abzuschütteln. »Igitt, schmeckt das eklig«, fluchte er, ohne die Wanne auch nur einen Millimeter absacken zu lassen. Seine künstlichen Arme, die äußerlich wie ganz
normale Gliedmaßen aussahen, funktionierten so exakt wie immer. »Sollen wir absetzen?«, fragte Matt, dem schon übel wurde, wenn er sich den Geschmack des stinkenden Hummerwassers nur vorstellte. »Nichts da«, beschied ihm Aiko, »jetzt ist es eh egal. Hoch mit dem Teil.« Keuchend legten sie die letzten Stufen zurück. Auch für den Cyborg war der Transport eine Tortur, denn abgesehen von seinen mechanischen Armen und diversen Gehirnimplantaten war er ein ganz normaler Mensch, der schwitzte und blutete wie jeder andere auch. Matt beschleunige das Tempo, obwohl er rückwärts ging. Sie wollten die Wanne neben dem Großmast abstellen, wo sie keinem den Weg versperrte, doch schon nach wenigen Schritten verhielt Aiko mitten im Schritt. Auf seinem Gesicht zeichnete sich Unverständnis ab. »Shit!«, fluchte er. Verwundert blickte Matt über die Schulter. Zuerst sah er nur, dass die VeZ-bi mehrere Schiffslängen zurückgefallen war, weil sie weniger Segelfläche besaß als der Dreimaster. Erst danach bemerkte er, das Aruula, Honeybutt und die Hafenwache von der Besatzung der Puutin umzingelt wurden. Ihre Hände waren auf den Rücken gefesselt. Blanker, scharf geschliffener Stahl lag an ihren Kehlen. »Tut nichts Unüberlegtes!«, klang es vom Quarterdeck herüber. »Sonst sterben eure Freundinnen!« Einen brennenden Luntenstock in der
Rechten, stand Capt'n Deerk an der Reling zum Quarterdeck. Seine freie Hand ruhte auf einer zweipfündigen Drehbasse die auf Matt und Aiko gerichtet war. Diese Waffe stammte nicht aus dem Hafendepot, so viel stand fest. Das konnte eigentlich nur eins bedeuten: Deerk gehörte zu denen, die längst Kanonen besaßen. Zu den Piraten. »Stellt die Wanne schön vorsichtig ab«, befahl er. »Die eiserne Maid an meiner Seite ist mit Bleitrauben geladen. Wenn ich sie abfeuere, reißt es euch das Fleisch von den Knochen.« Matt und Aiko taten, was von ihnen verlangt wurde. Sie hatten gar keine andere Wahl. Nur wenige Schritte entfernt tauchten nun auch Merlin und Mr. Black aus dem Dunkel des Niedergangs auf. Sobald sie die Situation erfassten, ließ Black die Wanne fallen und langte nach dem Sturmgewehr über seiner Schulter. Ein stählerner Blitz, der neben ihm in die Tür fuhr, ließ den Rebellen mitten in der Bewegung erstarren. Auf seiner Wange bildete sich ein blutiger Strich, der schnell an den Rändern zerlief. Das Wurfmesser, das zitternd im Holz steckte, hatte ihn dort gestreift. »Vorsicht, Großmaul«, warnte Vasili, der sich mit einer Hand in den Wanten hielt, während in der anderen schon wieder scharfer Stahl glitzerte. »Das nächste Mal treffe ich ins Schwarze.« Diese Worte musste Aruula nicht einmal übersetzen, damit Black sie verstand. Angesicht der Geiseln, der Schrotladung und des Messerwerfers blieb Matt 45
und den anderen gar nichts anderes übrig, als die Waffen niederzulegen und sich den blanken Säbeln der anstürmenden Seeleute zu ergeben. Mit allem hatten sie gerechnet, aber nicht damit, dass Deerk im Augenblick des Angriffs die Fronten wechselte. Welche Verbindung mochte es zwischen den mandeläugigen Piraten aus der Pazifa-See und den Ruländern geben? »Sie haben den Menschen in Berbow versprochen, die Bruderschaft des roten Banners zu bekämpfen!«, warf Matt dem verräterischen Kapitän vor. Deerk verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen, und hob die Hände in einer entschuldigenden Geste. »Was soll ich machen, ich bin nun mal ein notorischer, auf seinen Vorteil bedachter Lügner. Deshalb habe ich schon Anfang des Sommers einen Pakt mit der Bruderschaft geschlossen. Sie soll mir helfen, die Meera-Inseln auszuplündern. Da ist viel zu holen, denn Rulands Salzund Erzminen brauchen Sklaven für den Abbau. Und die Besitztümer, die es nebenbei zu erbeuten gibt, sind auch nicht zu verachten. - Leider«, plötzlich bekam Deerks Stimme einen wütenden Unterton, »haben uns die schlauen Fischer von Berbow einen Strich durch die Rechnung gemacht. Das Letzte, was wir nämlich gebrauchen können, sind Häfen, die mit Kanonen ausgerüstet werden. Darum fegen wir das Dorf von der Seekarte, sobald die siegreich heimkehrende Flotte in den Hafen eingelassen wird.« Lachend trat Deerk an eine der Wannen und begann das schützende Drahtgeflecht zu lösen. 46
Matthew konnte sehen, dass Aiko neben ihm die Muskeln spannte. Der japanischstämmige Amerikaner, der noch mit der Schmach der Niederlage haderte, stand kurz davor, sich auf den Kapitän zu stürzen. »Nicht«, presste Matt zwischen den Zähnen hervor. Kampfsportler hin oder her, nicht mal Jackie Chan und Jet Li im Doppelpack hätten es geschafft, eine ganze Piratenmannschaft auszuschalten, ohne das Leben der Geiseln zu gefährden. Zum Glück behielt Aikos Vernunft am Ende die Oberhand. Knirschend sprang ein Ende des Drahtverhaus in die Höhe. Die entstandene Lücke war nicht viel größer als eine Handbreite, trotzdem arbeitete sich sofort ein Hummer darunter hervor. Capt'n Deerk streifte sich einen aus feinen Kettengliedern geschmiedeten Handschuh über die Rechte, bevor er das vorwitzige Tier hinter dem Kopf packte und triumphierend in die Höhe hob. Zwei unterarmlange Scherenglieder schnappten auf und zu, ohne ihn zu verletzten. »Dressierte Scherenparasiten«, stellte Deerk das unheimliche Tier mit den schwarz hervorquellenden Augen vor, dessen in knotige Glieder unterteilter Schwanz aufgeregt umher pendelte. »Gewöhnt euch schon mal an ihren Anblick, sie werden euch von nun an begleiten, bis ihr als Minensklaven verkauft werdet.« Der Gliederschwanz schoss in die Höhe und schlängelte sich mehrmals um Deerks Unterarm. Wie ein emsiger Specht klopfte die Spitze über den Ket-
tenhandschuh hinweg, doch erst als sie auf bloße Haut stieß, fuhr ein spitzer Stachel aus, der sich tief ins Fleisch bohrte. So schmerzhaft der Vorgang auch aussah, Deerk verzog keine Miene. Gelassen wartete er die weiteren Geschehnisse ab. Zuerst sah es so aus, als ob sich der Stachel dauerhaft in ihn verankern wollte, doch dann federte der Gliederschwanz überstürzt zurück und gab das Handgelenk frei. »Das Gift der Feuerfleggen ist unverträglich für sie«, lachte Deerk. »Wir sind darauf gekommen, als wir sahen, dass sich befallene Yakks freiwillig in Fleggenschwärme stürzten, nur um die Parasiten wieder loszuwerden.« Den Scherenhummer am ausgestreckten Arm haltend, trat der Kapitän drohend näher. Merlin, der ihm am nächsten stand, wollte vor der klappernden Maulschere zurückweichen, doch zwei Seeleute, die an seinen Armen hingen, vereitelten jeden Widerstand. Deerk umrundete die drei mit schnellen Schritten und presste das Tier ohne Vorwarnung in Merlins Nacken. Sechs kurze, kräftige Chitinbeine klammerten sich von hinten um Hals und Schultern, während der Gliederschwanz unter die Uniform glitt und sich zielsicher in der Wirbelsäule verankerte. Merlin wollte vor Schmerz aufschreien, doch die scharfe Maulschere, die von beiden Seiten gegen seinen Hals drückte, raubte ihm den Atem. Ausgestattet mit zwei zusätzlichen Gelenken, passte sie sich der Halsform so weit an, dass die Spitzen unter dem Kinn nur drei Fingerbreit auseinander ragten. »Ganz ruhig«, beschwichtigte Deerk
herablassend, »der Kleine will nur von deinem Rückenmark naschen. Versuch nicht, ihn zu lösen, sonst trennt er dir den Kopf ab.« Auf einen Wink hin wurde Merlin losgelassen. Dicke Schweißperlen glitzerten auf der schwarzen Stirn des Historikers, der nicht mal die kleinste Bewegung wagte. Mit dem Parasiten im Nacken bot Merlin einen grotesken Anblick, insbesondere wegen der behaarten Fühler, die wie Antennen über seinen Kopf hinaus ragten. Deerk hielt schon den nächsten Hummer in der Hand, der sich in Mr. Black Nacken festsetzten sollte. Der Anblick des abstoßenden Viehs löste bei dem besonnenen Rebellenführer jähes Entsetzen aus. Mit einem wütenden Aufschrei schüttelte er seine beiden Bewacher wie lästige Insekten ab und hämmerte einem dritten, der mit dem Säbel ausholte, die Faust unters Kinn. In das Knacken des Kiefers mischte sich der Schrei zweier Frauen. Er stammte von Aruula und Honeybutt, die nur noch einen Luftröhrenschnitt vom Tod entfernt waren. »Reißen Sie sich zusammen, Black!«, schrie Matt wütend. »Wir müssen uns fügen, anders geht es im Moment nicht.« Der durchtrainierte Hüne blieb zum Glück stehen, bevor Vasili ihm den Rücken perforieren konnte. Blacks Brustkorb zitterte vor mühsam unterdrücktem Zorn, doch er hielt sich unter Kontrolle, während Deerk den Parasiten in seinen Nacken festsetzte. Danach ging alles ganz schnell. 47
Matt, Aiko und die anderen wurden der gleichen Prozedur unterzogen, bis jeder von ihnen ein lebendes Scherenhalsband trug. Capt'n Deerk und seine Besatzung schienen sich der Wirkung ihrer Tiere sehr sicher zu sein, denn sie hielten es nicht für nötig, die Gefangenen danach noch zu fesseln oder zu bewachen. Im Gegenteil. Man ließ sie unbeachtet zusammen stehen, mit dem Hinweis, dass es bald etwas für sie zu tun gäbe. Matt spürte ein unangenehmes Kribbeln im Rückrat, genau dort, wo der Stachel steckte, ansonsten konnte er keine negativen Auswirkungen des Stiches ausmachen. Noch nicht, jedenfalls. Auf Dauer musste es einfach schädlich sein, wenn einem Menschen Lebenskraft absaugt wurde. »Wir müssen die Viecher loswerden«, forderte er leise, »bevor wir einen Weg suchen, die Fischer zu warnen.« »Leichter gesagt als getan«, antwortete Aiko. »Der Druck der Scheren erhöht sich schon, wenn ich mir nur die Nase kratze.« Beunruhigt sahen sie aufs Meer hinaus. Die Segel der Fischerboote waren auf Handtellergröße angewachsen. Noch glaubten sie, die Puutin wolle ihnen zur Hilfe eilen, aber das würde sich bestimmt bald ändern. Doch dann war es zu spät. Dann saßen sie in der Falle. Eingekesselt zwischen den Dschunken und dem Dreimaster. »Wir müssen der Velbi ein Signal geben«, schlug Merlin Roots vor. »Das ist unsere einzige Chance.« Auf dem Zweimaster, der ihnen im Kielwasser folgte, hatte man noch nicht 48
mitbekommen, was auf dem tief liegenden Mitteldeck der Puutin vor sich ging. Doch was sollte eine Warnung schon groß bringen? Mit ihren Kanonen war die Puutin allen anderen Schiffen der Flotte überlegen. Capt'n Deerk schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein. Umringt von der übrigen Besatzung, untersuchte er die erbeuteten Schusswaffen, von denen er sich eine Stärkung der Feuerkraft erhoffte. Nacheinander nahm er die Driller, die Tak 02 und Blacks Sturmgewehr in die Hand und betrachtete sie von allen Seiten, ohne die Funktionsweise wirklich zu durchschauen. Vergeblich drückte er immer wieder auf den Abzug des Drillers, doch der erwartete Schuss blieb aus. Fluchend warf Deerk die Waffe zu Boden, weil er sie für defekt hielt. Als er mit den Gewehren ebenfalls kein Glück hatte, dämmerte ihm jedoch allmählich, das er etwas falsch machte, ohne darauf zu kommen, dass die Sicherungshebel einen praktischen Nutzen besaßen. Er kannte sich zwar mit primitiven Kanonen aus, der Umgang mit hochmodernen Handfeuerwaffen erforderte aber mehr Übung. »Maddrax!«, brüllte Deerk wütend. »Komm her und zeig mir, wie eure Waffen funktionieren!« »Tu es nicht«, bat Merlin, als der Commander wirklich gehen wollte. »Deerk wird die Gewehre gegen Unschuldige einsetzen!« Matt wollte etwas antworten, brachte aber kein Wort hervor. Mühsam sammelte er etwas Speichel im Mund, um
die Stimmbänder anzufeuchten. Das Schlucken fiel ihm schwer. Es fühlte sich an, als ob ein stachliger Ball in seiner Kehle feststecken würde, doch nach einiger Anstrengung gelang es ihm endlich, sich zu räuspern. »Ich fürchte, uns bleibt im Augenblick keine Wahl«, sprach er aus, was sonst alle dachten. »Niemanden ist damit gedient, wenn wir unser Leben wegwerfen.« »Feigling«, keuchte Merlin. Der Vorwurf schmerzte den Commander, doch war es wirklich Feigheit, wenn man dem ureigenen Überlebenstrieb folgte und sich in eine aussichtslose Situation fügte? Matt und Aruula waren schon einmal in Sklaverei geraten und hatten lange genug überlebt, um die Freiheit wieder zu erlangen. Warum sollte das nicht auch ein zweites Mal gelingen? Merlin fehlten entsprechende Erfahrungen, aus denen er Hoffnung und Kraft schöpfen konnte. Ein irres Glitzern in seinen Augen zeigte, dass er die Situation nicht länger ertrug. Karyaanas Tod hatte ihn labil gemacht, und nun, da der Druck zu groß wurde, brannten die Sicherungen endgültig durch. »Ich halt es nicht länger aus«, keuchte er gereizt. »Diese Dreckskerle sind doch nicht besser als die Ostmänner, die Karyaana getötet haben. Und vor denen soll ich zu Kreuze kriechen? Niemals!« Ehe ihn jemand daran hindern konnte, packte Merlin die vorstehenden Scherenspitzen seines Parasiten und versuchte sie mit einem kräftigen Ruck auseinander zu ziehen. Vergeblich. Der
Kraft des Tieres hatte er nichts entgegenzusetzen. Alles was Merlin mit der Attacke erreichte, war, dass die Scherenspitzen am vorderen Gelenk nach innen klappten, und zwar schneller als er die Hände fortziehen konnte. Zwei schwarze Fingerkuppen segelten durch die Luft, gefolgt von einem roten Schauer. Schreiend ballte Merlin die verletzte Hand zur Faust, um die Blutung zu stillen. Aiko sammelte die abgetrennten Glieder von den Planken auf und zog ein Fläschchen Regenerationsgel aus der Beintasche. »Zeig deine Wunden vor«, forderte er Merlin auf. »Wenn wir uns beeilen, kriegen wir das schon wieder hin.« Der WCA-Historiker ignorierte das Hilfsangebot. Blind vor Zorn stürzte er auf Deerk und seine Männer zu. Unterwegs klaubte er eine hölzerne Flaschenzugrolle auf, die er drohend über den Kopf wirbelte. Die Piraten beobachteten den Sturmlauf mit gelangweiltem Interesse, ohne auch nur ansatzweise in Verteidigungsstellung zu gehen. Nicht mal Vasili griff zu einem Messer; spätestens das hätte Merlin stutzig machen müssen. Der Einzige aus der Besatzung, der sich rührte, war Grigor, der erste Offizier. Mit einer lässigen Bewegung langte er nach der silbernen Kette um seinen Hals und fischte eine kleine Metallpfeife aus dem Dickicht der wallenden Brustbehaarung hervor. Das Mundstück zwischen die Lippen geklemmt, deutete er auf den Parasiten in Merlins Nacken und stieß einen kurzen, hellen Pfiff aus. 49
Im gleichen Moment schnappte die Maulschere zusammen. Bevor die scharfen Hornschneiden mit lautem Knall aufeinander trafen, hinterließen sie eine blutige Schneise durch Muskeln, Sehnen und Halswirbel, mit der sie den Kopf vom Torso trennten. Matt hatte während seiner Stationierung in Deutschland von einer Legende gehört, in der ein geköpfter Piratenkapitän noch an fünfzehn Besatzungsmitgliedern vorbeigegangen sein sollte, bevor er fiel. Merlin Roots schaffte nicht mal einen zweiten Schritt. Mitten im Lauf wich alle Kraft aus seinem Körper. Wie ein nasser Sack schlug er lang hin. Direkt neben seinen abgetrennten Kopf, der auf dem abschüssigen Deck weiter rollte, bis ihn die Reling vor dem Sturz ins Meer bewahrte. Eine schnell anwachsende rote Pfütze breitete sich zwischen den Schulterblättern des Toten aus. In ihr zappelte der Scherenparasit, so hilflos wie eine auf den Rücken gedrehte Schildkröte. Er musste Schmerzen leiden, denn eine der Hornschneiden war durch den Aufprall zerbrochen. Laute gab das Tier jedoch nicht von sich. Nur das obligatorische Geklapper, das plötzlich seltsam spröde klang. Ein Pirat nahm den Hummer auf und schleuderte ihn mit einer weit ausholenden Bewegung über Bord. Verletzt war der Parasit nicht mehr von Nutzen. Capt'n Deerk schaute kopfschüttelnd auf die überlebenden Gefangenen, die vor Schreck wie erstarrt standen. Merlin Roots war tot. Ein Mann mit 50
Grundsätzen, der sich vom Unrecht abgewandt hatte, um die barbarische Welt, in der sie lebten, ein wenig besser zu machen. Seine edlen Motive hatten ihm kein Glück gebracht. Erst war seine Gefährtin ermordet worden, nun hatte es ihn selbst mitten aus dem Leben gerissen. »Ich habe euch doch gewarnt, oder nicht?«, fragte Deerk in einem Tonfall, in dem Väter normalerweise mit ihren unartigen Kindern sprechen. »Die Parasiten sind dressiert. Sie töten euch jederzeit, wenn wir es wollen. Flucht oder Widerstand ist also zwecklos.« »Kutter noch achthundert Schiffslängen entfernt«, unterbrach der Ausguck den zynischen Vortrag. »Vier Dschunken nähern sich ihnen von Osten.« Seufzend stieg Deerk zum Quarterdeck empor und sah zu den Fischerbooten, die inzwischen deutlich voneinander zu unterscheiden waren. Zufrieden lehnte er sich auf die Brüstung und sah übers Mitteldeck hinaus. »Maddrax!«, befahl ermit kalter Stimme. »Du und deine Freunde, ihr werft den Toten über Bord und wischt das Blut von Deck. Und keine Aufsässigkeit mehr! Es ist nicht gut fürs Geschäft, wenn zu viele Sklaven den Kopf verlieren.« In Matts Adern brodelte es vor Zorn. Die Kaltschnäuzigkeit, die Deerk an den Tag legte, war wirklich kaum noch zu überbieten. Am liebsten hätte er den Piraten mit bloßen Fäusten zur Rechenschaft gezogen, doch Merlins Tod machte nur zu deutlich, wie hilflos sie waren. Ein kurzer Pfiff genügte, um den Nächsten aus ihrer Mitte zu töten.
Widerstrebend machte sich Matt mit Mr. Black daran, Merlin ein Grab in der aufgewühlten See zu bereiten. Während sie den Leichnam an Händen und Füßen zur Reling trugen, wusste der Commander nicht, was ihm mehr Übelkeit bereitete: die grässliche Halswunde, oder dass Merlins Tod lediglich ein Teil der Piratentaktik gewesen war. Einer der Gefangenen sollte ruhig den Kampf suchen, damit die anderen mit eigenen Augen sehen konnten, was ihnen bei Aufruhr blühte. Nach dem Kalkül der Piraten wurde die Lust auf Widerstand so am schnellsten gebrochen. Matt schwor, dass sie sich getäuscht haben sollten. *
Gefesselt und geknebelt wurden die restlichen Gefangenen rund um den Großmast drapiert, damit sie das jämmerliche Scheitern der Piratenjagd nicht verpassten. Nur bei den Vieren, die bereits durch die Hummer kontrolliert wurden, konnte man auf Fesseln verzichten. In Sachen seemännische Fähigkeiten standen die Männer der Puutin anderen Schiffsbesatzungen in nichts nach. Auf Capt'n Deerks Befehl hin refften sie die Größmastsegel, damit die Velbi zu ihnen auf schließen konnte. Der Zweimaster zog prompt gleich und näherte sich bis auf Rufweite. Deerk versicherte sich noch einmal, dass die Steuerbordbatterie feuerbereit war, bevor er an die Quarterdeckreling trat und seinem Kollegen zuwinkte.
»Ist alles in Ordnung bei euch?«, schallte es von der Velbi herüber. »Vorhin sah es so aus, als wäre ein Mann über Bord gegangen!« Die Worte wirkten auf merkwürdige Weise verzerrt, da Kapitän Nahar in eine große, trichterförmige Muschel sprach, die seine Stimme verstärkte. Capt'n Deerk verließ sich dagegen völlig auf das Volumen seines Brustkorbes. »Bei uns ist alles klar!«, gab er fröhlich zurück. »Ihr scheint mir aber Probleme zu haben. Sieht fast so aus, als ob die Velbi leck geschlagen ist.« Auf dem Zweimaster ertönte undeutliches Stimmengewirr. Der verwirrte Kapitän beriet sich mit seinen Offizieren, bevor er antwortete: »Von einem Wassereinbruch ist mir nichts bekannt! Seid Ihr sicher mit Eurer Beobachtung?« »Verdammt sicher!«, bestätigte Deerk, der seinen Kanonieren ein Handzeichen gab. »Seht noch einmal genau hin.« Das Klappern der nach oben springenden Geschützpforten untermalte seine Worte. Blitzschnell rollten die feuerbereiten Kanonen auf den Holzkarren nach vorn. Die abwärts geneigten Mündungen visierten den gegnerischen Rumpf unterhalb der Wasserlinie an. Auf diese Entfernung ließ sich die Velbi überhaupt nicht verfehlen. Nur noch ein einziger Befehl trennte den Zweimaster von dem vernichtenden Schlag. Capt'n Deerk zögerte nicht, ihn zu geben. »Feuer!« Ohrenbetäubender Donner rollte über das Meer, als alle sechs Kanonen 51
gleichzeitig Feuer und Blei spuckten. Die Velbi erzitterte wie unter dem Faustschlag eines Riesen, als der Rumpf von den Kugeln durchlöchert wurde. Sekundenlang behinderte grauer Pulverdampf die Sicht, doch als sich die Wolken verflüchtigten, wurde das wahre Ausmaß der Treffer sichtbar. Ein fünfzehn Meter langer, fast durchgehender Spalt klaffte in der Bordwand. Zersplitterte Spanten ragten wie scharfe Zähne aus den schäumenden Wasserwirbeln, die gurgelnd im Inneren des Schiffes verschwanden. Die Velbi verlor umgehend an Fahrt. Unter den eindringenden Fluten neigten sich Rumpf und Masten nach Backbord. Das Deck wurde so abschüssig, dass selbst erfahrene Seeleute den Halt verloren. Schreiend schlitterten sie über die Planken hinweg. Für die meisten endete die Rutschpartie, als sie gegen die Reling krachten. Andere jagten mit Schwung darüber hinweg und verschwanden in den schäumenden Fluten. An Bord der Puutin wurden die Treffer unter lauten Hurra-Rufen gefeiert. Nur Ursk, der Steuermann gönnte sich keinen Freudentanz. Mit sicherer Hand hielt er das Schiff auf Kurs, während der getroffene Kontrahent zurück blieb. Das war auch gut so, denn die einstürzenden Wassermassen zogen die Velbi unbarmherzig in die Tiefe. Der Zweimaster krängte bereits so weit nach Backbord, dass die Wellenkronen an die Reling stießen. Wer sich nicht die Knochen gebrochen hatte, suchte sein Heil in einem Sprung über Bord, hinein in die schäumende See, die aussah, als würde sie 52
kochen. Mit lautem Knarren sackte der Rumpf weiter ab, bis auch Wanten und Segel ins Wasser tauchten. Ein mit einer Fellweste bekleideter Matrose schoss aus der dunklen Tiefe herauf und hielt sich strampelnd an der Oberfläche. Blind vor Angst warf er sich gegen die tobenden Wellen, nur darum bemüht, schnellstens Abstand zwischen sich und die Velbi zu bringen. Mit dem Mut der Verzweiflung kämpfte er gegen den Sog des untergehenden Schiffes an, der unbarmherzig an ihm zerrte. Der Seemann war ein guter Schwimmer. Drei Mal gelang es ihm, mit dem Kopf aus den Fluten zu tauchen und nach Luft zu schnappten. Dann blieb er verschwunden. Seinen Kameraden ging es nicht besser. Immer mehr von ihnen konnten dem Sog nicht länger widerstehen. Am Ende wurden sie alle in das nasse Grab gezogen, so wie die Mastspitzen ihres Schiffes, die bis zuletzt aus dem Wasser ragten. Matt schloss die Augen, als die Velbi endgültig von der Oberfläche verschwand. Und mit ihr all seine Hoffnungen, dass sich das Schicksal noch zu ihren Gunsten wenden möge. Die Piraten machten sich johlend daran, die abgefeuerten Geschützrohre auszuwischen und neu zu laden. In weniger als drei Minuten waren sie erneut feuerbereit, doch es dauerte wesentlich länger, bis die Kutter in Reichweite kamen. Den Fischern, die fest mit Hilfe gerechnet hatten, musste beim Anblick der sinkenden Velbi das Herz stehen geblieben sein; und das war natürlich genau
der Plan, den Capt'n Deerk verfolgte. Den Gegner so zu schockieren, dass er gelähmt vor Angst war. Nur so fielen ihm die Kutter weitgehend kampflos in die Hände. Um den Druck noch zu erhöhen, ließ Deerk das Tuch aufziehen, mit dem Merlins Blut aufgewischt worden war. Wie ein brutales Versprechen flatterte es an der Spitze des Großmasts - das blutrote Banner der Bruderschaft. Lautes Wehklagen hallte von den Kuttern herüber, als die Fischer das ganze Ausmaß des Verrats erkannten. Einige von ihnen suchten ihr Heil in der Flucht, doch Ursk machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Ohne einen entsprechenden Befehl abzuwarten, drehte er bei und nahm so den Wind aus den Segeln der Puutin. Capt'n Deerk war längst zum vordersten Steuerbordgeschütz geeilt, um es höchstpersönlich auf die Fliehenden auszurichten. Der Luntenstock senkte sich, die Kanone erbebte. Jaulend schlug die Kugel in die Bordwand des vorderen Kutters ein. Holzsplitter stoben auseinander. Zum Glück lag der Treffer weit über der Wasserlinie, sodass der Besatzung die Möglichkeit zur Kapitulation blieb. Inzwischen waren auch die wendigen Dschunken heran, die wie ein Wirbelwind unter die Fischerflotte fuhren und den Kampf Mann gegen Mann suchten. Barfüßige Asiaten in bunter Tracht enterten die Kutter mit tollkühnen Sprüngen und ließen ihre Krummsäbel durch die Luft pfeifen. Die meisten Fischer waren so verängstigt, dass sie vor den Angreifern auf die Knie sanken und
ums nackte Leben bettelten. Nur einige Unverzagte wie Iisi leisteten erbitterten Widerstand. Dafür schlug man ihn mit der flachen Klingenseite grün und blau, bis er sich nicht mehr regte. Ernsthaft verletzt wurde aber niemand; schließlich sollten die Gefangenen auf dem Sklavenmarkt einen guten Preis erbringen. Capt'n Deerk zeigte sich mit dem Schlachtverlauf mehr als zufrieden. Er ließ die restlichen Segel reffen und zog längsseits vor die dümpelnden Kutter. »Hallo, Poo-Tong«, grüßte er den Führer der Dschunken. »Wie ich sehe, hast du schon gute Arbeit geleistet.« »Sei gegrüßt, Capt'n Deerk«, klang es etwas säuerlich zurück. »Warum versenkst du unsere Beute, statt sie zu erobern?« Der Ruländer lachte, als ob er die Frage nicht Ernst nehmen würde, trotzdem antwortete er: »Die Besatzung der Meera-Insel war ohne jeden Wert für uns. Es sind die Fischerboote, die uns den Weg in den Hafen ebnen werden. In Berbow wartet mehr Beute auf uns, als unsere Laderäume fassen können. Sklaven und Kanonen in Hülle und Fülle.« Poo-Tong gab sich mit der Erklärung augenscheinlich zufrieden, denn er lenkte das Gespräch auf die Gefangenen, die auf der geräumigen Puutin untergebracht werden sollten. Gleichzeitig ließ er die führungslosen Kutter aneinander binden, um sie in Schlepptau zu nehmen. Capt'n Deerks Männer warfen gerade das Fallreep aus, um die neuen Sklaven an Bord zu nehmen, als Matt von heftigem Brechreiz erfasst wurde. Merlins 53
Tod und die rücksichtslose Versenkung der Velbi, die er hilflos mit ansehen musste, waren ihm wohl doch stärker an die Nieren gegangen, als er zuerst gedacht hatte. Die Kiefer fest aufeinander gepresst, stand er auf und taumelte mit unsicheren Schritten übers Deck, um sich nicht vor den Füßen seiner Freunde zu übergeben. »Hey, wo willst du hin?«, herrschte ihn Vasili an, der nicht weit entfernt stand. »Scher dich gefälligst zurück auf deinen Platz!« Matt nahm den Befahl gar nicht richtig wahr. In seinen Ohren rauschte es wie in einer Steingrotte bei Sturmflut. Gleichzeitig verschwamm das Deck vor seinen Augen, als würde er durch Milchglas schauen. Die Beine versagten ihm den Dienst, sodass er ins Stolpern geriet und auf die Knie fiel. Zuerst dachte er, die Beklemmungen stammten von dem Würgegriff des Parasiten, doch das Gegenteil war der Fall: Das Tier in seinem Nacken begann unkontrolliert zu zappeln und stieß sich mit den haarigen Beinen ab. Durch Matts Rückrat zuckte ein stechender Schmerz, der rasch einem Gefühl der Erleichterung wich, als der davonschlängelnde Gliederschwanz aus dem Kragen der Pilotenkombination schlüpfte. »He, was ist denn hier los?« Vasili schien ebenso überrascht wie Matt. »Zurück an deinen Platz, du Drecksvieh!« Den Scherenparasiten hielt nichts mehr bei seinem Opfer. Er fiel auf die Planken und krabbelte davon. Ein schmales Wurfmesser, das sich durch 54
seinen knotigen Hinterleib bohrte, nagelte ihn jedoch an Deck fest. Vergeblich versuchte das Tier eine neue Richtung einzuschlagen. Alles was ihm blieb, war im Kreis herumzulaufen, wodurch sich die Wunde vergrößerte. Vasili wollte gerade ein weiteres Messer werfen, als das Hinterteil so hart in die Höhe flog, dass die durchbohrte Stelle über den schmalen Griff hinweg rutschte. Kaum befreit, sauste der Hummer auf seinen Peiniger zu, der erschrocken zurücksprang, um der zuklappenden Schere zu entgehen. Vasili war schnell, aber in diesem Fall nicht schnell genug. Ratschend fuhren die Hornschneiden durch seine Ferse, aus der sofort Blut hervorschoss. Auf einem Bein hüpfend, ergriff Vasili die Flucht. Schreiend schlug er einen Haken nach dem anderen, um der klappernden Schere zu entkommen. Nur einigen beherzten Kameraden, die mit gezückten Säbeln zur Hilfe eilten, hatte er zu verdanken, dass ihm größere Amputationen erspart blieben. Die Schläge, die auf den Hummer niederprasselten, zertrümmerten den Schalenpanzer. Am Ende blieb nur eine zuckende Fleisch- und Chitinmasse übrig, von der keine Gefahr mehr drohte. »Du Hohlschädel«, herrschte Deerk den Messerwerfer an. »Wieso benutzt du nicht die Hummerpfeife? Es ist deine eigene Schuld, wenn du gebissen wirst!« »Ich kann doch nichts dafür«, jammerte Vasili wie, ein kleines Kind, während er die Blutung mit der bloßen Hand zu stoppen suchte. Die Schmerzen, die durch seinen Fußballen pulsier-
ten, waren so schlimm, dass er den Oberkörper rhythmisch vor und zurück wiegte. »Das blöde Biest hat sich aus Maddrax' Nacken gelöst. Da stimmt was nicht.« Überrascht schaute Deerk auf seinen Gefangenen, der immer noch zu schwach war, um aufzustehen. Mit hartem Griff packte er Matts blonden Schopf und riss ihm den Kopf in den Nacken. »Vasili hat ausnahmsweise Recht«, knurrte er laut. »Was ist los mit dir, Maddrax? Hast du dich heimlich von Feuerfleggen stechen lassen?« Mit einer verächtlichen Geste ließ er wieder von dem Gefangenen ab. »Ist auch egal«, sagte er kalt. »Du bist sowieso zu gefährlich, um dich am Leben zu lassen.« *
Zwei kräftige Ruländer mit gezücktem Säbel ließen Matt keine Sekunde aus dem Auge, während die Fischer an Bord stiegen. Als sie sahen, dass ihre Hafenwache ebenfalls geschlagen war, verließ sie endgültig der Mut. Teilnahmslos reihten sie sich vor den Hummer-Wannen auf, um einen der Parasiten zu empfangen, die ihnen jede Möglichkeit zur Flucht nahmen. Einzig Iisi zwinkerte Matt verschwörerisch zu, als ob er noch an eine Rettung glauben würde. Sein blau geschlagenes Gesicht brachte sogar ein Lächeln zustande, als er rief: »Siehst du, an unseren Legenden ist doch was dran! Eine Anderswelt, in der Feuerfleggen und Scherenparasiten leben, birgt sicher noch viel größere Gefahren!«
Ein Hieb mit der flachen Säbelklinge ließ den Fischer verstummen, doch seine Worte hallten noch lange in Matts Gedächtnis nach. Behielt Iisi am Ende tatsächlich Recht? War die Expedition zum Kratersee ein Selbstmordunternehmen, das zwangsläufig scheitern musste? Nachdenklich sah er zu Poo-Tong hinüber, der im Kreise seiner Leibwächter das Fallreep bestieg. Wie die meisten Männer der Bruderschaft trug er weit geschnittene, bunte Seidenkleider und einen geflochtenen Zopf, der bis weit zwischen die Schulterblätter reichte. Seine aufgedunsenen Wangen zeugten vom guten Leben, doch der federnde Gang bewies, dass er noch so gut zu kämpfen wusste wie in jüngeren Jahren. »Wie ich sehe, ist auch bei dir an Bord alles gesund und munter«, begrüßte er Deerk. Die Blessuren, die Vasili davongetragen hatte, schien er zu übersehen, oder sie interessierten ihn schlichtweg nicht. »Es ist alles nach Plan gelaufen«, freute sich Capt'n Deerk. »Die Dummköpfe in Berbow haben es mir aber auch sehr einfach gemacht. Ich musste nur erzählen, dass ich die Bruderschaft jagen und zur Strecke bringen will, und schon sind sie mir gefolgt wie Taratzen Flötenspieler.« Zufrieden verfolgte Poo-Tong, wie die Fischer mit Hilfe der Scherenparasiten ihrer Freiheit beraubt wurden. Seinem aufmerksamen Blick entging aber auch nicht der gefesselte Mann, dem das Scherenhalsband fehlte. Sein Zeigefinger stach in Matts Richtung. »Was ist 55
mit dem dort?« »Nichts Besonderes«, wiegelte Deerk ab. »Aus irgendeinem Grund mögen ihn die Hummer nicht. Vielleicht hat er sich von einer Feuerflegge stechen lassen. Er wird über die Planke gehen, dann haben wir keine Scherereien mit ihm.« Poo-Tongs von Natur aus schmale Augen verengten sich um eine weiter Nuance. »Du bist wirklich sehr großzügig mit dem Leben unserer Sklaven, Capt'n.« »Man sollte eben nie am falschen Ende sparen.« Der Ruländer grinste. »Nach diesem erfolgreichen Coup haben sich unsere Männer außerdem ein wenig Unterhaltung verdient.« Ohne weitere Zeit zu verlieren, hob er die Hand, drehte sich für alle sichtbar im Kreis und rief: »Es ist wieder so weit! Der Gang über die Planke steht an!« Spontaner Applaus brandete auf, wurde von den Dschunken aufgenommen und kehrte von dort als vielfaches Echo zurück. Zwei Piraten schleppten eine lange Holzlatte heran, die sie mit dem vorderen Ende über die Backbordreling schoben. Nachdem die Stimmung derart aufgeheizt war, konnte sich Poo-Tong gar nicht mehr gegen den Tod des Gefangenen aussprechen. Mit einer lässigen Geste überließ er Capt'n Deerk das Feld. Der Ruländer ließ eine alte Autofelge holen, die bisher als Sitzgelegenheit gedient hatte. Mit einem langen Strick band man sie an Matts Füßen fest. Danach drückte man ihm die Felge in die Hände, damit er sie selbst zur Planke trug. Aruula schrie auf, als sie begriff, was 56
ihrem Gefährten bevorstand, doch das Scherenhalsband und einige Piraten hinderten sie daran, ihm zur Hilfe zu eilen. »Bleib ganz ruhig«, forderte Matt sie auf. Angesichts des drohenden Endes war alle Benommenheit von ihm gewichen. Sein Verstand arbeitete messerscharf, als er fortfuhr: »So schnell bringt mich nichts um, Aruula, das weißt du doch. Ich lasse dich nicht allein. Das verspreche ich dir.« Er sprach diese Worte auf Englisch und legte alle Zuversicht hinein, zu der er fähig war, um zu verhindern, dass sich die Barbarin zu einer Tat hinreißen ließ, die auch ihr Leben kosten würde. Erhobenen Hauptes schritt Matt übers Deck, als gäbe es nichts zu befürchten. Seine Haltung zeigte Wirkung. Aruula beruhigte sich, obwohl sie jeden seiner Schritte weiter ängstlich verfolgte. Während die Piraten ihn mit spöttischen Worten bedachten, blieb der Commander äußerlich völlig ruhig. Nur seine unter der Felge verborgenen Finger zupften hektisch an den Knoten, die das Gewicht mit der Fußfessel verbanden. Wegen dem Strick, der um seine Füße lief, konnte er nur kleine Schritte machen, aber das kam ihm zugute. Trödeln konnte er jedoch nicht, dafür sorgten die blanken Säbelspitzen, mit denen man ihn voran trieb. An der Reling angekommen, wurde er von Ursk und Grigor unter den Achseln gepackt und in die Höhe gestemmt. Die Planke war nur zehn Zentimeter breit, trotzdem fand Matt mit den Armeestiefeln genügend Halt, um einige Schritte weit hinaus zu balancieren. »Spring schon, du Memme!«, brüll-
ten die ersten Piraten, obwohl er sich bei dieser Entfernung eher den Kopf am Rumpf aufgeschlagen hätte als zu ertrinken. Mühsam hielt er das Gleichgewicht, während seine Fingerspitzen ein ums andere Mal an dem festgezurrten Knoten scheiterten. Verdammt, das ging nicht so einfach, wie er gehofft hatte! »Los! Los! Geh schon weiter, du feiger Monkee!« Eine Säbelspitze stach in seine Hüfte. Um dem stärker werdenden Druck auszuweichen, musste er der vibrierenden Planke folgen. Der raue Hanf scheuerte ihm die Haut von den Fingerkuppen, trotzdem zupfte er weiter. Irgendwann musste sich die Schlaufe doch lösen. »Monkee! Monkee! Monkee!«, gellte es von allen Seiten. Die Piraten auf den Dschunken nahmen den Ruf auf, obwohl sie den Gang über die Planke vermutlich gar nicht kannten. Matt versuchte alle äußeren Einflüsse auszublenden, während er endlich den ersten Knoten löste. Doch da waren noch zwei andere, die wesentlich komplizierter angelegt waren. Ich lasse mich von dem Gewicht bis zum Kiel in die Tiefe ziehen, überlegte er. Bis dahin müssen die Knoten gelöst sein. Und während alle auf dieser Seite ins Wasser starren, tauche ich an Steuerbord auf und verberge mich unter dem Heck. Das Pläneschmieden half, die Nervosität abzubauen. Mit ruhigen Fingern lockerte er auch den zweiten Knoten. Er wollte gerade daran gehen, das Seilende aus der Schlaufe zu ziehen, als das Brett unter seinen Füßen zu schwanken begann. Verdammt! Ursk und Grigor sprangen auf dem hinteren Ende der
Planke herum, um ihn aus der Balance zu bringen. Matt federte einen Teil der Bewegung mit den Knien ab, konnte sich aber nicht gleichzeitig auf seine Fingerübungen konzentrieren. »Spring! Spring! Spring!«, forderte die grölende Meute. Fieberhaft zog Matt das Seil auseinander. Nur noch ein Knoten, dann hatte er es geschafft! Verzweifelt verlagerte er den Oberkörper vor und zurück, um das Gleichgewicht zu halten, als plötzlich ein Schatten durch die Luft wischte. Zu spät begriff er, dass sich ein Pirat an einem Tau zu ihm herab schwang. Er versuchte noch auszuweichen, doch es war zu spät. Der Pirat fegte ihn mit einem Tritt von der. Planke. Der harte Stoß schleuderte Matt die Felge aus den Händen. Mensch und Gewicht schlugen nebeneinander auf das Wasser. Matt versuchte noch, die Felge zu packen, doch sie sank schneller als er in die Tiefe. Ehe er richtig begriff, wie ihm geschah, zerrte sie ihn hinab in die Tiefe. Während der Rumpf der Puutin an ihm vorüber zog, rollte Matt sich zusammen, bis er den Strick erreichte, der an seinen Füßen zerrte. Nur noch ein Knoten, hämmerte es durch seine Gehirnbahnen. Das muss doch zu schaffen sein! Verzweifelt packte er das Seil und zog es Hand um Hand näher zu sich heran. Doch jede Sekunde, die er brauchte, um überhaupt an die Felge zu gelangen, entfernte er sich weiter von der rettenden Oberfläche. Unter der zunehmenden Tiefe begannen seine Ohren 57
zu schmerzen. Um ein Platzen der Trommelfelle zu verhindern, musste Matt einen Druckausgleich schaffen. Hastig presste er die Nasenflügel mit zwei Fingern zusammen und begann sich zu schnauzen. Der Schmerz ließ augenblicklich nach, doch um welchen Preis! Sein Atem wurde ihm knapp, und die Felge pendelte noch immer weit unter ihm. Er konnte es nicht mehr schaffen. Das war das Ende. Ihm blieb nur noch, den Reflex zum Atemholen so lange wie möglich hinauszuzögern. Spätestens als seine Gedanken zu Aruula abschweiften, wurde ihm klar, dass er längst kapituliert hatte. Matt schämte sich dafür, dass er Aruula in der Gefangenschaft dieser Mistkerle zurückließ. Während seine Gedanken sich verwirrten, schienen auch Matts Empfindungen verrückt zu spielen. Plötzlich fühlte er sich auf merkwürdige Weise erleichtert, als ob das Gewicht an seinen Füßen verschwunden wäre. Er glaubte Berührungen an seinen Seiten und den Armen zu spüren. Waren das die ersten Auswirkungen des Sauerstoffmangels? Oder nahmen ihn die himmlischen Heerscharen in Empfang, um ihn in eine Welt jenseits der irdischen zu führen? Wohl eher letzteres, denn vor ihm tauchte eine milchigweiße Blase auf, die entfernte Ähnlichkeit mit einer Schäfchenwolke hatte. Das irre Kichern, das über Matts Lippen drang, löste einen Blasenvorhang aus, der zur Oberfläche stieg. Halt aus, gleich hast du es geschafft! 58
Die Stimme, die ihn anfeuerte, klang seltsam fremd - und gleichzeitig sehr vertraut. Die große Blase rückte näher und näher. An der Unterseite bildete sich jetzt eine runde Öffnung. Matt stieg aufwärts. Jemand schien ihn von unten in die Blase zu bugsieren. Buchstäblich in letzter Sekunde; seine brennenden Lungenflügel hielten es nicht länger aus. Er musste Atem holen. Jetzt, sofort! Und tatsächlich - füllten sich seine Lungen mit Luft! Keuchend fand er sich in einer Sauerstoffblase wieder, die ihn wie ein schützender Kokon umgab. Sein Brustkorb hob und senkte sich wie der Blasebalg einer Schmiede. Erst als sich die Atemfrequenz wieder halbwegs normalisiert hatte, nahm er seine Umwelt bewusst wahr. Die hauchdünne Hülle, die ihn umgab, hatte einen Durchmesser von gut fünf Metern. Der Zugang war wieder geschlossen. An der Unterseite befanden sich mehrere mit Wasser gefüllte Hautlappen, die ein Aufsteigen verhinderten und wohl auch sonst für die nötige Stabilität sorgten. Das Material fühlte sich wie Latex an, obwohl es vermutlich bionetischen Ursprungs war. Nach diesen Erkenntnissen war Matt nicht mehr sonderlich überrascht, als er zwei Hydriten entdeckte, die von außen zu ihm hereinschauten. Ihre schuppigen, von Quastenflossen besetzten Köpfe wirkten Furcht erregend, doch Matt wusste, dass sich unter der schuppigen Oberfläche friedvolle Wesen verbargen, die den Menschen einige Tausend Jahre
an Evolution voraus hatten. Beide Fischwesen kommunizierten miteinander, ohne Matt direkt anzusprechen. »Der Mensch hat sicher Angst«, vermutete der Linke. »Sieh nur, wie er zittert. Oder ist ihm vielleicht kalt?« »Ich weiß nicht«, antwortete sein Begleiter, der einen gelb leuchtenden Flossenkamm trug. »Wenn nur einer der Alten hier wäre, der die menschliche Sprache beherrscht. Dann könnten wir uns mit ihm verständigen.« »Das ist nicht nötig«, antwortete Matthew, indem er mühsam die klackenden Hydriten-Laute formulierte. »Euer Dialekt ist mir geläufig.« Nur zwei kurze Sätze, doch die Meeresbewohner zuckten zurück, als hätte er nach ihnen geschlagen. Ungläubiges Staunen spiegelte sich in ihren schwarzen Augen wider. »Wie kann das sein?«, fragten sie sich gegenseitig. Sicher waren sie nie zuvor einem Menschen begegnet, der sich in ihrem Idiom verständigen konnte, und sie hatten wohl auch noch von keinem gehört, außer vielleicht … Neugierig tauchten sie wieder näher. »Bist du etwa …«, begann der Linke. »… der Kiemenmensch aus Hykton …«, vollendete der Rechte. »… der kürzlich auch in Sub'Sisco war?«, führte ein Dritter weiter, der von unten hinzustieß, den Satz weiter. Oje, Tick, Trick und Track auf hydritisch. Das konnte ja heiter werden. Matt verkniff sich ein Grinsen, denn schließlich hatten ihm die Jungs das Leben gerettet. Oder besser gesagt, die beiden Jungs und das Mädchen, wie die Brust-
wölbungen des Neuzugangs erkennen ließen. Die drei jugendlichen Hydriten stellten sich ihm als Hog'tar, Bin'log und Xop'tul vor, die aus Torkur, einer Unterwasserstadt in der Beringstraße stammten. »Ich bin tatsächlich Maddrax, der einige Zeit in Hykton gelebt hat«, bestätige der Commander im Gegenzug. »Quart'ol, einer eurer Wissenschaftler, hatte seinen Geist einige Zeit auf mich übertragen. Seitdem sind die hydritischen Sprachmuster in meinem Gedächtnis verankert.« Angesichts dieser Nachricht gerieten die Hydriten förmlich aus dem Häuschen. Ihre Flossenkämme leuchteten in verschiedenen Farben auf, während sie Matt geradezu mit Fragen nach seinen neuesten Erlebnissen überschütteten. Einmal mehr bekam er den Eindruck, dass er für das Meeresvolk zu einer Art Legendengestalt geworden war, deren Abenteuer interessiert verfolgt wurden. Während er das Interesse an seiner Person abzublocken versuchte, sammelten sich vor der Luftblase weitere Gestalten, die bisher alles aus sicherer Entfernung verfolgt hatten. Matt zählte insgesamt zehn Hydriten und einen grauen, mit Wucherungen überzogenen Delfiin, der in einigem Abstand seine Runden zog. Cusak hatte also wirklich einen Hydriten gesehen. Der Delfiin war danach vermutlich nur durch die Wellen gesprungen, um sie zu täuschen. »Wie kommt es, dass ihr rechtzeitig zur Stelle wart, noch dazu mit einer Luftblase?«, brachte Matt eine Frage 59
vor, die ihm auf den Lippen brannte. Sein Erstaunen machte die Gruppe sichtlich stolz. Hog'tar, der sich zum Wortführer aufschwang, erklärte, dass sie auf einer biologischen Exkursion waren, die sich mit der hohen Mutationsrate bei Delfiinen befasste, die von Zeit zu Zeit aus dem Posedis einwanderten. Als sie die vielen Schiffe an der Oberfläche bemerkten, hatten sie aus reiner Abenteuerlust beschlossen, den Menschen eine Weile zu folgen, um zu sehen, was es mit den aufeinander zustrebenden Flotten auf sich hatte. Der Untergang der Velbi war ein regelrechter Schock für sie gewesen, vor allem, weil sie trotz aller Bemühungen niemanden lebend aus dem gesunkenen Wrack bergen konnten. Angesichts dieses Fiaskos hatten sie daher beschlossen, für ähnliche Fälle vorzusorgen. »Als es wieder Kanonendonner gab, haben wir eine bionetische Nottransporthülle mit Luft geflutet«, erklärte Hog'tar stolz. »Damit haben wir uns unter den Schiffen platziert, für den Fall, dass noch ein weiteres untergeht. Statt dessen bist plötzlich du ins Wasser gestürzt, mit einem Gewicht an den Beinen, das dich am Schwimmen hinderte. Da haben wir den Strick durchtrennt und dich hierher gebracht.« »Ich verdanke euch allen mein Leben«, sagte Matt. »Ohne euer beherztes Handeln wäre ich ertrunken.« Auf Hog'tars Zügen spiegelte sich Erleichterung wider. »Ich hatte schon Sorge, was der Hohe Rat von Torkur zu unserem Eingreifen sagen würde«, meinte er. »Nun bin ich froh, dass wir das Risiko eingegangen sind.« 60
Matt wusste, dass die Kontaktaufnahme zu Menschen strengen Regeln unterworfen war. »Wenn es Probleme geben sollte, werde ich gern euer Fürsprecher sein«, machte er Hog'tar zusätzlich Mut. »Sag uns, Maddrax«, mischte sich Xop'tul ein, »was an der Oberfläche vorgeht. Warum mussten so viele Menschen sterben?« Matt schwieg betroffen. Da war er wieder, der Grund, aus dem sich die Hydriten seit Anbeginn der Zeit in den Tiefen der Ozeane verbargen. Weil der Mensch eben nicht nur des Menschen größter Feind war, sondern auch der aller anderen Spezis, die seinen Weg kreuzten. Was sollte er tun? Diesen jungen Fischwesen bestätigen, was ihnen die Alten und Weisen Zyklus für Zyklus predigten? Dass die Lungenatmer von Natur aus unfähig zu einer friedlichen Existenz waren? Seine quälenden Zweifel waren dem Piloten wohl deutlich anzusehen, denn die Hydriten rückten erschrocken zusammen, als ob sie plötzlich fürchteten, was er ihnen erzählen könnte. Matt sah sie sich an, diese zwischen ein Meter vierzig und ein Meter fünfzig großen Wesen mit humanoiden Körperbau, der sich in erster Linie durch die breiten Flossenhände und - fuße vom Menschen unterschied. Ihre platten, geschuppten Gesichter mochten auf unvorbereitete Gemüter abstoßend wirken, doch Matt sah längst ihre natürliche Schönheit. Dieses Volk zu belügen, dem er schon mehr als ein Leben verdankte,
schien ihm undenkbar. Und so räusperte er seine Kehle frei, um zu erklären, was es mit Capt'n Deerk und der Bruderschaft des blutigen Banners auf sich hatte. Während er seine Stimmbänder mit den klackenden Lauten strapazierte, ließ er seinen Blick über die zehn im Wasser schwebenden Körper gleiten, die sich nur mit kurzen, ganz instinktiven Flossenschlägen im Gleichgewicht hielten. Jeder von ihnen, ob männlich oder weiblich, trug neben Lendenschurz und Armreifen einen kurzen silbernen Stab an der Hüfte. Matt hatte ihn schon oft gesehen. Es handelte sich um eine Art Elektroschocker, mit dem sich Sharx' und andere gefährliche Tiere auf Distanz halten ließen. Noch während er von Capt'n Deerks Verrat erzählte, reifte ein Plan in ihm heran, wie er Aruula und die Anderen aus den Klauen der Piraten befreien könnte. Doch würden ihn die Hydriten unterstützen? Ihn, einen fast Fremden, von dem sie nur Legenden aus Sub'Sisco und Hykton wussten? »Scherenparasiten?«, unterbrach Xop'tul, als er von dem Akt der Versklavung berichtete. »Klingt ganz nach den roten Maulscherern, die ich während einer Landexpedition gesehen habe. Gefährliche Tiere, aber uns lassen sie zum Glück in Ruhe. Forscher haben herausgefunden, dass unsere Gehirnschwingungen für ihre Symbiose ungeeignet sind.« »Das könnte erklären, warum der Parasit von mir abgelassen hat«, vermutete Matt. »Quart'ols Gedächtnisengramme aktivieren sich automatisch in Gegen-
wart von Hydriten. Anfangs ist das mit Stoffwechselproblemen verbunden, darum war mir an Bord auch so übel.« Einige Hydriten aus der Gruppe drängten ihn, weiter zu berichten, doch Xop'tul widersprach den neugierigen Artgenossen. »Wenn sich an Bord der Puutin wirklich Sklaven befinden, dürfen wir nicht tatenlos zusehen«, forderte sie. »Wir müssen sofort den Hohen Rat in Torkur benachrichtigen, damit er eine Entscheidung fällt. Ich denke, es ist an der Zeit, dass die schrecklichen Fishmanta'kan den Piraten eine Lektion erteilen.« »Sehr richtig«, stimmte Matt zu. »Doch wir haben keine Zeit, um erst eine Genehmigung einzuholen. In jeder Phase, die verstreicht, kann einer meiner Freunde den Parasiten zum Opfer fallen. Wir müssen sofort zuschlagen, bevor es zu spät ist!« Auf den Gesichtern der Hydriten zeichnete sich Entsetzen ab, als hätte er gerade etwas absolut Ungehöriges von ihnen verlangt. Aufgeregt stoben sie auseinander, denn sie brauchten Platz für die ausholenden Gesten, mit denen sie ihrer Empörung Luft machten. Nur Xop'tul blieb an ihrem Platz und sah Matt tief in die Augen. Ihre Brüste bebten, als sie beschwörend klackte: »An die Oberfläche gehen und uns zu erkennen geben? Es tut mir Leid, Maddrax, aber dazu ist unsere Gruppe nicht befugt. Wir können dir nicht helfen …« *
Gut sechzig Männer und Frauen 61
drängten sich in dem düsteren, nur durch einige Talgkerzen erhellten Lagerraum. Wer bei den Kämpfen verletzt worden war, durfte in einer der wenigen Hängematten liegen, die anderen hockten auf dem Boden und haderten zumeist mit ihrem Schicksal. Lediglich Aruula schien gutes Mutes zu sein. »Ihr werdet es sehen«, flüsterte sie zum wiederholten Mal. »Maddrax befreit uns. Er findet einen Weg.« Die meisten, die ihre Worte hörten, schüttelten nur mitleidig den Kopf. Eine Reaktion, die sie nicht gelten ließ. »Er hat mir versprochen, dass er zurückkommt. Vorhin an Deck, kurz bevor er …«, sie stockte einen Moment, »… abgetaucht ist.« Wer den feuchten Film über ihren Pupillen sah, der wusste, dass Aruula vor allem zu sich selbst sprach, um immer wieder zu hören, was sie gerne glauben wollte. »Commander Drax ist ertrunken«, versuchte Mr. Black sie mit der Wahrheit zu konfrontieren. »Auch wenn es Ihnen schwer fällt, seinen Tod zu akzeptieren, Sie müssen sich damit abfinden. Es ist wichtig, unser ganzen Denken und Handeln auf eine mögliche Flucht zu konzentrieren. Verstehen Sie?« »Nein!« Angriffslustig reckte die Barbarin das Kinn in die Höhe. Einen Moment lang sah es wirklich so aus, als ob sie mit bloßen Händen auf Black losgehen wollte, doch dann beließ sie es bei einem geschnauften: »Niemand hat die Leiche gesehen. Solange Maddrax nur verschwunden ist, kann er auch noch leben.« 62
Black stieß einen überraschten Laut aus. »Also wirklich, Miss Aruula. Der Commander ist mit einem Gewicht an den Füßen ins Meer gestoßen worden und nicht wieder aufgetaucht - wie viele Beweise brauchen Sie noch, um …« »Aber die Hoffnung sollte man doch nie aufgeben«, mischte sich Honeybutt ein, die einfach nicht mit ansehen konnte, wie Aruula bei Blacks Worten immer mehr in sich zusammensackte. Diesmal blieb dem Rebellenführer beinahe die Luft weg. »Miss Hardy«, keuchte er. »Von Ihnen hätte ich nun wirklich etwas mehr Logik erwartet. Hat sich denn bei unseren Einsätzen nicht immer wieder bewiesen, dass rationale Analysen in Krisenzeiten der beste Weg sind, um …« »Schnauze, Black, aber sofort!« Aiko, der bisher geschwiegen hatte, sah wütend zu dem Hünen auf. »Merken Sie denn nicht, dass Ihre hohlen Phrasen derzeit nicht gefragt sind?« »Hohle Phrasen?«, echote der Rebellenführer. »Ich denke lediglich an unser aller Zukunft!« Black ballte seine Hände unbewusst zu Fäusten, doch er ließ sie auf seinen mächtigen Oberschenkeln ruhen. »Für ihre Pläne ist in den nächsten Tagen noch genügend Zeit«, beschied ihm Aiko in einem kalten Ton, von dem er selbst nicht gewusst hatte, dass er dazu fähig war. »Im Moment trauert hier jeder so, wie er es für richtig hält, und es ist ein Zeichen von Anstand, wenn man solche Unterschiede gegenseitig achtet. Ich für meinen Teil respektiere sogar, dass rationales Denken Ihre Art der Trauerbewältigung ist, aber
ich lasse nicht zu, dass Sie dabei einer guten Freundin weh tun!« An diesem Vorwurf hatte Black kräftig zu kauen. Wortlos schaute er in die Runde, in der Hoffnung, dass jemand eine andere Meinung vertrat, erntete aber nur Schweigen. Aiko entspannte sich wieder und brachte sogar ein aufmunterndes Zwinkern in Aruulas Richtung zustande. »Und wenn ich ganz ehrlich bin«, fügte er hinzu, »glaube ich auch nicht, dass Matt tot ist. Der Kerl ist schon mehr als einmal in der Versenkung verschwunden und bisher immer wieder aufgetaucht.« Aruula schenkte ihm ein dankbares Lächeln, dass nur von Honeybutts glänzenden Augen überstrahlt wurde, mit denen sie den Cyborg ansah. Aiko streichelte tröstend über ihre Schulter. Honeybutt nutzte die Gelegenheit, um näher an ihn heranzurücken. Die gegenseitige Körperwärme, die sie sich spendeten, war angenehm in diesem feuchten Loch. »Es wird alles wieder gut«, versprach Aiko, einfach weil es das war, was Honeybutt jetzt hören wollte. Danach schwiegen beide wieder und hingen ihren eigenen Gedanken nach. *
Die bionetische Luftblase stieg in gleichmäßigem Tempo auf, bis sie in zwei Metern Tiefe zum Stillstand kam. Sobald sie ihre Position stabilisiert hatte, öffnete sich der kreisrunde Schließmuskel an der Unterseite. Matt schlüpfte hindurch und legte die ver-
bliebene Strecke mit kräftigen Schwimmstößen zurück. Seine Füße waren nackt. Die Stiefel hatte er an den Schnürsenkeln aneinander gebunden und sich um den Nacken gehängt. Lautlos tauchte auf, schöpfte Atem und hielt sich mit paddelnden Bewegungen an der Oberfläche. Rundum lag die nächtliche See. Die silberne Mondscheibe verbarg sich hinter der Wolkendecke; nur ihr Schemen erhellte schwach die Boote, die auf den Wellen dümpelten. In diesem Zwielicht wirkten die erleuchteten Fenster der Kapitänskajüte wie ein Fanal, das sich als flackernder Lichtblitz auf dem Wasser widerspiegelte. Die Segel hingen schlaff von den Toppsgasten. Derzeit herrschte Flaute, wodurch die Annäherung für Matt erleichtert wurde. Eine Heckwache ließ sich nicht an der Reling ausmachen, trotzdem schwamm Matthew äußerst vorsichtig auf die dümpelnde Puutin zu. Im Schatten des Ruderblattes verharrte er einen Moment und lauschte in die Höhe. Von Deck war nicht das geringste Geräusch zu hören. Hier auf hoher See rechneten die Piraten natürlich nicht mit einem Überfall. Vermutlich gab es nur eine Ruderwache, die auf den nächtlichen Kurs achtete. Matt nutzte die eisernen Verbindungen zwischen Ruder und Rumpf, um in die Höhe zu klettern. An der überhängenden Heckgalerie suchten seine Finger solange Halt, bis er sich in die Höhe schwingen konnte. Hinter den Glasscheiben wurden zwei ins Gespräch vertieften Männer sichtbar. Durch ein angelehntes Fenster hörte er Capt'n De63
erks Stimme. »Diese Waffe mag vielleicht unscheinbar wirken, Poo-Tong«, verkündete der Rüländer gerade, »aber sie ist um ein Vielfaches gefährlicher als Säbel oder Wurfmesser! Gleich morgen werde ich die Fremden foltern lassen, bis sie uns ihre Funktion verraten. Das wird die Besatzungen unterhalten und uns großen Nutzen bringen.« »Mag sein«, antwortete Poo-Tong sichtlich gelangweilt. »Hauptsache, die beiden Weiber bleiben unverletzt. Die sollen nämlich mich ein wenig unterhalten, bevor sie einen guten Preis auf dem Sklavenmarkt erzielen.« »Keine schlechte Idee«, stimmte Capt'n Deerk zu, bevor er ein gehässiges Lachen folgen ließ. »Vasili kann die beiden hübschen Bellits gleich mal herholen.« Matt, der inzwischen mit beiden Füßen auf dem Absatz stand, wartete keine Sekunde länger. Blitzschnell stieß er das angelehnte Fenster auf und sprang in die Kajüte. In seiner Rechten funkelte der Schockstab, den ihm die Hydriten überlassen hatten. Deerk und Poo-Tong saßen an einem breiten Tisch und tranken Wein aus silbernen Kelchen. Der Schreck, einem tot Geglaubten gegenüber zu stehen, ließ ihre Bewegungen zu Eis gefrieren. »Du?«, keuchten sie wie aus einem Munde. Zu mehr waren sie nicht fähig. Matt machte sich nicht die Mühe, ihre einsilbige Frage zu beantworten. Mit drei Schritten durcheilte er die Kabine und ließ den Silberstab in seiner Hand auf einen Meter anwachsen. Deerk löste sich als Erster aus seiner 64
Überraschung. Den Weinkelch fallen lassen und nach Blacks Sturmgewehr auf dem Tisch zu greifen war eine Bewegung. Er packte die Flinte an Lauf und Kolben, um sie schützend vor sich zu halten, weil er wohl einen weit ausholenden Hieb wie mit einem Säbel erwartete. Ein Fehler, denn der Schockstab war keine Schlagwaffe. Matt führte ihn wie einen Degen. Das rechte Bein zu einem Ausfall vorgestreckt, zielte er auf Deerks Brustkorb und stach zu. Ein silbernes Glitzern zuckte über den Tisch, allerdings ohne den Piraten zu erreichen. Capt'n Deerk lachte schon triumphierend auf, als sich plötzlich eine blauweiße Flamme aus der Spitze löste und die verbliebene Entfernung blitzartig überbrückte. Ein Keuchen entrang sich Deerks Lungen, als der Energiestoß in seinen Solarplexus schlug. Das Sturmgewehr polterte auf den Tisch, doch der Piratenschädel hinterließ ein weitaus dunkleres Geräusch, als er hintendrein schlug. Matt fuhr herum, um Poo-Tong zu attackieren, doch noch in der Drehung erkannte er, dass der Asiate nicht mehr auf seinem Stuhl saß. Unversehens schraubte er sich links von Matt in die Höhe und riss sein Schwert aus der Holzscheide. Die Klinge kreuzte den Weg des Meterstabs. Ein scharfes Brennen fuhr durch Matts Unterarm, als ihm die Waffe aus der Hand geprellt wurde. Verdammt, er hatte den Asiaten unterschätzt! Fluchend stolperte Matt zurück, gerade noch rechtzeitig, um dem Schlag auszuweichen, der seiner Kehle galt. Poo-Tong folgte ihm mit traumwandle-
rischer Sicherheit, ohne die Klinge abzusetzen. Matts Rechte ertastete eine Holzlehne, die er packte und nach vorn warf. Klappernd ging der Stuhl zwischen ihnen zu Boden, doch Poo-Tong setzte mit einem kurzen Sprung darüber hinweg, ohne die Klinge auch nur eine Sekunde sinken zu lassen. Unversehens zuckte der scharfe Stahl vor, schlitzte aber nur Matts Uniform auf, da er bereits zur Seite wich. Auch dieses Manöver brachte keine Verschnaufpause. Die Schwertspitze folgte ihm wie der Suchkopf einer Cruise Missile. Ein kaltes Feuer glänzte in PooTongs Augen, während er auf Matt eindrang. Den Weinpokal, der ihn treffen sollte, wischte er mit einer ärgerlichen Bewegung zur Seite. Da stolperte Matt über die Stiefel, die ihm von den Schultern rutschen, und musste plötzlich um seine Balance kämpfen. Gleichzeitig erklang ein lautes Fauchen von der Fensterseite her, wie um den Todesstoß zu untermalen. Es lenkte aber auch Poo-Tong ab, dessen Augen sich unnatürlich weiteten. Vermutlich, weil das aggressive Geräusch von zwei furchteinflößenden Fischmonstern stammte, die durch das offene Fenster in die Kajüte eindrangen. Der kurze Moment des Zögern reichte Matt, um dem Stich durch eine Körperdrehung zu entgehen. Er nutzte die Gelegenheit, um mit dem Arm auszuholen - und die Linke so schwungvoll wie schmerzhaft in Poo-Tongs Gesicht krachen zu lassen. Der Erfolg war im wahrsten Sinne
des Wortes umwerfend. So drahtig und geschickt der Pirat auch im Angriff sein mochte, einstecken gehörte nicht zu seinen Qualitäten. Ein einziger Treffer auf sein Kinn genügte, um ihn ins Land der Träume zu schicken. Matt wischte sich über die schweißnasse Stirn und sah zu Hog'tar und Xop'tul hinüber, die mit ihren Schockstäben nervös nach allen Seiten sicherten. Ihr Fauchen, das für Poo-Tong so furchterregend geklungen hatte, war in Wirklichkeit ein ängstlicher Laut gewesen. Sie waren über den Kampf mindestens ebenso erschrocken wie der Pirat über ihr Aussehen. »Vielen Dank«, keuchte Matt, noch ganz außer Atem. »Ohne euch wäre es wohl endgültig aus gewesen.« Gerade weil sie keinerlei Erfahrung mit Gewalt hatten, rechnete er ihnen umso höher an, dass sie sich doch noch entschieden hatten, ihm beizustehen. Die Hydriten nickten nur schweigend, als wären sie nicht sicher, ob sie sein Lob annehmen konnten. Matt klaubte inzwischen seinen Driller vom Tisch. Er überprüfte das Magazin, ließ es wieder einrasten und steckte die Waffe in die Beintasche seiner Kampfhose. Danach hob er den Schockstab auf, der über die Planken davongerollt war. Um sicher zu stellen, dass PooTong keinen Ärger mehr machte, verpasste ihm Matt einen Energiestoß, der jeden Menschen für gut eine Stunde paralysierte. Danach öffnete er die Kajütentür und spähte vorsichtig in den dahinter liegenden, mäßig beleuchteten Gang, in dem sich weder eine Wache noch ein betrun65
kener Seemann blicken ließ. Ein Deck tiefer lagen die leeren Frachträume, in denen die Sklaven untergebracht sein mussten. Wenn sie es unbemerkt bis dorthin schafften, waren sie aus dem Gröbsten raus. Matt holte noch einmal tief Luft, bevor er hinaus schlüpfte. Hog'tar und Xop'tul folgten ihm wie Schatten. Gemeinsam erreichten sie den Niedergang, der in die Tiefe führte. Leises Schnarchen ließ darauf hoffen, dass die meisten Piraten längst von Alk und Müdigkeit übermannt worden waren. Trotzdem wichen sie den Geräuschquellen so weit wie möglich aus. Nur ein Mal mussten sie eine Unterkunft passieren, in der Schlafende in ihren Hängematten schaukelten. »Dort vorne«, flüsterte Matt, »um die nächste Ecke!« Den Schockstab fest umklammert, tastete er sich weiter, bis ihn ein Schattenriss, der sich auf dem Gangboden abzeichnete, verharren ließ. Vor dem behelfsmäßigem Kerker gab es eine Wache! Matt nutzte die großen Griffmulden, die für Flossenhände ausgelegt waren, um den Stab auf höchste Intensität zu schalten. Alle Sinne angespannt, sprang er um die Ecke und schaltete den überraschten Posten durch einen über fünf Meter geschleuderten Blitz aus. Der getroffene Pirat schwankte einige Male in seinen Stulpenstiefeln vor und zurück, bevor er vornüber kippte. Genau in Matts Arme, der ihn auffing, bevor der Aufprall das Deck erzittern ließ. »Wartet lieber hier«, empfahl er den beiden Hydriten, bevor er den Türriegel zurückschob und in den dahinter liegen66
den Raum schlüpfte. Die Sklaven, die sich dort aufhielten, blickten überrascht auf. Matt legte den Zeigefinger auf die Lippen, um zu signalisieren, dass sie sich still verhalten sollten. Lediglich Aruula konnte einen Laut der Freude nicht unterdrücken, was durchaus verständlich war. »Ich hab gewusst, dass du lebst«, flüsterte sie aufgeregt. »Außer Aiko und mir wollte niemand an deine Rückkehr glauben.« Die Zahnreihen des Cyborgs glitzerten im Dunkeln, als er die Lippen zu einem Grinsen verzog. »War doch klar«, sagte er leichthin. »Gefesselt und mit einem Gewicht an den Füßen im Meer versenkt - das packt doch jeder.« Matt deutete ein scherzhaften Boxhieb in Aikos Richtung an, bevor er sich neben Aruula niederließ und sie zärtlich in die Arme schloss. Zumindest so weit, wie es der elende Parasit zuließ, der ihren Hals umklammerte. »Ich sorge dafür, dass diese Schmarotzer verschwinden«, versprach er, nicht nur Aruula, sondern auch allen anderen, die neugierig näher rückten. »Aber es geht erst einmal nur in Zweiergruppen. Aiko und Aruula kommen als erste mit mir nach draußen.« Er wandte sich an die Running Men, wiederholte seine Worte auf Englisch und fügte hinzu: »Mr. Black, Sie und Miss Hardy sind als nächstes dran.« Die beiden nickten. Aiko deutete auf die Waffe in Matts Händen, während sie auf zur Tür gingen. »Bedeutet der Schockstab das, was ich vermute?« »Ja«, gab Matt zurück. »Deshalb
macht ihr beiden auch den Anfang.« Aiko und Aruula verzogen keine Miene, als sie die im Gang wartenden Hydriten sahen. Beide waren in die Existenz des Unterwasservolkes eingeweiht. Matt stellte die vier einander vor. »Wissen Hog'tar und Xop'tul sicher, wie sie uns von den Parasiten befreien können?«, erkundigte sich Aruula. »Mit Bestimmtheit erst, wenn wir es versucht haben«, gestand Matt ein. »Dann lass es uns sofort durchziehen«, schlug Aiko vor. »Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Die Hummer schienen zu bemerken, dass etwas- nicht stimmte, denn ihre Scheren zogen sich enger zusammen. Aiko und Aruula mussten um Atem ringen, während die Hydriten hinter sie traten. Im nächsten Augenblick aktivierten Hog'tar und Xop'tul ihre Schockstäbe, die auf höchste Intensität eingestellt waren. Blauweiße Flammen schlugen den Parasiten in den Rücken. Einen bangen Augenblick lang glaubte Matt, die Scheren würden sich schließen, doch dann erschlafften die Tiere und kippten nach hinten weg. Nur der mehrgliedrige Hinterleib klebte noch unter der Kleidung fest, doch mit einem schnellen Ruck ließ sich der Stachel lösen. Nachdem die Parasiten reglos am Boden lagen, rollten Aiko und Aruula mit den Schulterblättern und rieben sich den Nacken. »Tut das gut, endlich wieder frei zu atmen«, seufzte Aruula. Matt atmete ebenfalls auf. Also ließen sich auf diese Weise die Gefangenen wirklich befreien. Zuvor mussten
jedoch Hog'tar und Xop'tul verschwinden, damit ihre Existenz nicht enthüllt wurde. Nachdem die beiden in einem Nebengang verschwunden waren, holte Aruula als nächstes Honeybutt und Mr. Black nach draußen. Matt und Aiko lahmten die Parasiten durch gezielte Schockstöße. »Saubere Arbeit«, lobte Mr. Black. »Wie sind sie an diese Blitzdinger herangekommen?« »Ein kleines Geheimnis, das ich vorläufig nicht lüften darf«, antwortete Matt vage und fuhr, bevor Black nachhaken konnte, fort: »Übernehmen Sie bitte mit Aruula und Miss Hardy die Befreiung der anderen Sklaven? Aiko und ich holen derweil unsere Waffen aus der Kapitänskajüte.« Mr. Black zeigte sich einverstanden. Mit den drei Schockstäben würde die Aktion nicht lange dauern. Matt tauchte mit Aiko in den Nebengang, wo Hog'tar und Xop'tul auf sie warteten. Erst dort zog er seinen Driller aus der Beintasche. Der Weg zurück ins Heck verlief auch ohne Komplikationen. Vor dem offenen Fenster hieß es Abschied nehmen, doch Matt hatte noch ein weiteres Anliegen. Er kramte in einer seiner Taschen herum, bis er eine der wetterfesten Folien fand, auf die sie die Satellitenkarten aus der ISS gedruckt hatten. Es war die radiologische Karte mit einer farblichen Darstellung der CFStrahlungswerte. »Ich habe noch eine letzte Bitte an euch«, wandte er sich an Hog'tar und Xop'tul. »Durch Verbündete wissen wir, dass der Weltrat eine eigene Kra67
tersee-Expedition ausgeschickt hat. Das wird unsere Mission noch schwieriger machen, als sie ohnehin schon ist. Wir könnten Unterstützung gebrauchen. Ist es euch möglich, Kontakt mit dem Wissenschaftler Quart'ol aufzunehmen?« »Das ist kein Problem«, sagte Hog'tar. »Torkur besitzt über die Transportröhren eine direkte Verbindung mit dem Allatis. Was sollen wir Quart'ol ausrichten?« »Sagt ihm, er soll Dave McKenzie in der Community London aufsuchen und mit ihm zum Kratersee aufbrechen. Wir treffen uns an einem markanten Punkt, und zwar … hier.« Er deutete auf eine leuchtende Stelle der radiologischen Aufnahme. »Den Strahlenwerten nach zu urteilen gibt es da eine besonders hohe Konzentration an Kristallen, die wir uns auf jeden Fall ansehen sollten. Es wäre gut, wenn Quart'ol und Dave mit Waffen und weiterem Material dort hinkommen könnten. Die Ergebnisse, die uns am See erwarten, werden sicher für alle Menschen und Hydriten von großem Interesse sein.« Hog'tar umschloss die zusammengerollte Folie mit seiner Flossenhand und verstaute sie in einer Innentasche des Lendentuchs. »Wir werden deine Bitte ausrichten«, versicherte er. »Außerdem warten wir mit den anderen im Wasser, für den Fall, das ihr noch Hilfe braucht.« Matthew bedankte sich und versprach, die an Bord verbliebenen Schockstäbe nach Gebrauch ins Meer zu werfen. Er wusste, dass die pazifistischen Hydriten nicht zuließen, dass ihre Technik in andere Hände geriet. 68
Nachdem sich alle mit Handschlag voneinander verabschiedet hatten, verschwanden die Hydriten durchs Fenster. Um keinen Lärm zu verursachen, rutschten sie am Ruderblatt hinab. Matt verfolgte noch, wie sie im Meer verschwanden, bevor er mit Aiko die restlichen Driller, das Sturmgewehr und die Tak 02 vom Tisch nahm. »Jetzt können die Piraten ihr blaues Wunder erleben«, triumphierte der Cyborg. Vermutlich bereute er diese forschen Worte rasch wieder, denn kaum lag die Kajütentür hinter ihnen, erklangen ein Deck tiefer gellende Schreie. Es waren Alarmrufe, mit denen ein Ausbruchsversuch gemeldet wurde, gefolgt von hartem Wummern, das wie gedämpfter Kanonendonner klang. »Verdammt«, zischte Matt. »Jetzt geht es hart auf hart.« *
Die Befreiung von den Parasiten ging schnell voran. Der Gang füllte sich zusehends, und obwohl Mr. Black immer wieder zur Ruhe aufforderte, stieg der Geräuschpegel unweigerlich an. Die Gefahr der Entdeckung wuchs von Minute zu Minute, bis Black schließlich seinen Schockstab an Iisi übergab, um lieber jetzt als zu spät für eine Konfrontation mit den Piraten vorzusorgen. Er drang in den Frachtraum vor, in dem immer noch die Kiste mit den Waffen des Nixon-Panzers stand: zwei Maschinengewehre und der tragbare Granatwerfer. Der Rebellenführer brauchte nur einen Patronengurt einzulegen und den Ladehebel durchzuzie-
hen, um eines der MGs feuerbereit zu machen. Obwohl er schon unter der Last ächzte, hängte er sich auch noch den Granatwerfer um und schteppte beides nach draußen. Als er die Waffen neben Miss Hardy abstellte, fiel ihm auf, dass sich die Zahl der umherstehenden Menschen nicht vergrößert zu haben schien. Als wären einige von ihnen bereits aufgebrochen, anstatt zu warten. Er ging die versammelten Männer durch und kam schließlich darauf, wer fehlte. Ein flaues Gefühl machte sich in seinem Magen breit. Er holte sich Aruula als Übersetzerin und fragte Iisi: »Wo sind Cusak und die anderen Wachen geblieben?« Der Fischer zuckte nur mit den Schultern. »Keine Ahnung, ich bin hier vollauf beschäftigt.« Aruula und Honeybutt wussten ebenfalls nichts über den Verbleib der Gesuchten, worauf sich Mr. Black entschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Das schwere Maschinengewehr mit beiden Händen vor dem Brustkorb haltend, marschierte er los. Als er durch die erste offene Tür in die Mannschaftsunterkünfte der Puutin blickte, blieb ihm fast das Herz stehen. Zwischen den schwingenden Hängematten huschten tatsächlich Cusak und seine Mannen herum, um sich mit den Waffen der Schlafenden einzudecken. Black bedeutete dem Hauptmann mit einer energischen Geste, zum Rückzug zu blasen, doch eigentlich hatten die Soldaten bereits, was sie brauchten. Cusak duckte sich gerade tief genug, um unter einer Hängematte hindurch zu
schlüpfen, als über ihm ein lautes Schnarchen abrupt endete. Der Hauptmann stand sofort still, um nicht durch Sohlen- oder Plankenknarren aufzufallen, doch die anderen bemerkten in der allgemeinen Unruhe die Gefahr nicht. Da schreckte der Pirat auch schon in die Höhe, rieb sich die verschlafenen Augen und starrte auf die fremden Gestalten. »Alarm«, brüllte er. »Die Sklaven brechen aus!« Ehe er noch mehr Lärm machen konnte, rammte ihn Cusak von unten unsanft aus der Matte. Danach ging alles sehr schnell. Die Wachleute rannten, mit Säbeln und Messern bewaffnet, aus dem Raum, während immer Piraten hochfuhren. Einige tasteten nach den Pfeifen, die sie alle um den Hals trugen, und bliesen hinein. Der Zweck war eindeutig: die Sklaven mittels der Hummer zu töten. Glücklicherweise trug keiner von Cusaks Männern mehr eine der lebenden Halsfesseln. Mr. Black visierte den nächstbesten Piraten an und zog den Abzug des MGs durch. Ratternd löste sich eine Salve. Hämmernde Mündungsblitze beleuchteten den schummrigen Raum wie ein Stroboskop. Der Pirat wurde von den Einschlägen zurückgeworfen. Black beließ es bei dem einen Feuerstoß. Die Wirkung verschreckte die meisten Piraten so sehr, dass sie eingeschüchtert und unschlüssig in ihren Hängematten sitzen blieben. »Wagt nicht, uns zu folgen!«, rief Black noch, bevor er die Tür zuwarf. »Sonst seid ihr alle dran!« Erst danach fiel ihm ein, dass die Piraten seine 69
Worte gar nicht verstehen konnten. Aber es war anzunehmen, dass sie zumindest ihren Sinn verstanden. Hastig schloss er zu Cusaks Wachen auf. Von der entgegengesetzten Seite rückten weitere Piraten näher. Die Soldaten stellte sich dem Ansturm tapfer entgegen, konnten aber nicht verhindern, dass einige Dressurpfeifen losschrillten - gefolgt von lautem Schmatzen und hartem Poltern aus der Gegenrichtung. Kein Zweifel, da rollten Köpfe. »Aus dem Weg!«, brüllte Black und richtete das Maschinengewehr nach vorne aus. Cusak und seine Männer wichen sofort zur Seite. Mr. Black feuerte eine neue Salve. Der Bleihagel fällte die erste Reihe der anstürmenden Piraten wie eine Sense. Doch von hinten drängten immer mehr heran. Der Running Man erreichte den Gang, in dem die befreiten Sklaven entsetzt auf zwei Freunde hinab sahen, die kopflos am Boden lagen. Miss Hardy kniete nur wenige Meter entfernt und machte den Granatwerfer feuerbereit. »Wie viele haben noch Viecher im Nacken?« rief Black ihr zu. Honeybutt sah auf. »Keiner mehr. Diese beiden«, sie wies auf die Toten, »waren die Letzten.« »Okay.« Black verschaffte sich rasch einen Überblick. »Wir arbeiten uns an Deck vor. Miss Hardy übernimmt die Führung, ich decke den Rückzug!« Aruula übersetzte seine Worte. Die Fischer drängten eilig in Richtung Aufgang, während Black weitere Angreifer, die mit gezückter Klinge heran stürm70
ten, niedermähte. Wer stattdessen floh, wurde mit knapp hinter den Fersen einschlagenden Kugeln belohnt … Diese Sprache verstanden sogar diese wilden Kerle. Kurz bevor Black den anderen an Deck folgte, legte er einen neuen Patronengurt in das MG ein. Als er ins Freie trat, atmete er tief die frische Nachtluft ein. Hier waren sie erst einmal außer Gefahr. Nachfolgende Piraten mussten durch das Nadelöhr des Einstiegs und waren somit eine leichte Beute der Kugeln. Mr. Black rollte die Schultern, um die Verspannung seiner Brustmuskulatur zu lösen, und legte den Kopf in den Nacken. Und sah einen Schatten über sich in den Wanten, der sich vor der Scheibe des Mondes abzeichnete! Black reagierte sofort. Eine Schusssalve löste sich aus dem schweren Maschinengewehr. Ein röchelnder Schrei ertönte. Und ein glitzernder Silberfunken wirbelte unkontrolliert durch die Luft. Es war einer von Vasilis Wurfdolchen, auf direktem Weg in die Tiefe. Gefolgt von dem Piraten. Der Messerwerfer hatte ihm dort oben aufgelauert, hatte eiskalt abgewartet, dass Black sich zu den anderen gesellte. Aber er konnte seinen Rachedurst nicht stillen. Das hässliche Geräusch, mit dem Vasili aufprallte, war weithin zu hören. Genauso wie das leise Stöhnen vom Ruder her! Blacks Kopf flog herum. Ursk, der Steuermann, gab noch nicht auf. Einen brennenden Luntenstock in der Hand, rannte er auf die Drehbasse
zu, die mit traubeneigroßen Bleikugeln gefüllt war. Black riss das MG herum und jagte eine weitere Salve aus dem Lauf. Hämmernd fraßen sich die Einschusslöcher an der Quarterdeckbrüstung hinauf, doch kurz bevor die gerade Linie an dem Steuermann enden konnte, war nur noch ein Klicken zu hören. Der Patronengurt hatte sein Ende erreicht. Black hatte sein Pulver verschossen. Triumphierend richtete Ursk die Drehbasse auf den blonden Hünen, der plötzlich wie erstarrt schien. Der Luntenstock senkte sich, doch bevor er das Zündloch erreichen konnte, zerplatzte die Lafette, auf der die Kanone ruhte. Das schwere Rohr stürzte aufs Deck hinab, wo es ein tiefes Loch in die Planken schlug. »Die Flossen hoch!«, klang die Stimme von Matthew Drax über das Deck. Seinen Driller im Anschlag, zielte er weiter auf Ursk, der immer noch verdattert auf die nutzlos gewordene Lafette starrte. Als der Steuermann die Arme langsam gen Himmel streckte, war auch der Widerstand der anderen Piraten gebrochen. Hinzu kam, dass weder Capt'n Deerk, noch Poo-Tong sich während des Kampfes hatten blicken lassen. Ohne Führung fehlte es den Burschen an einer vernünftigen Strategie. Einer wagte sich, einen weißen Stofffetzen schwenkend, aus dem Niedergang. Dann hören die Menschen an Deck die Säbel und Messer der Piraten zu Boden klirren, und Sekunden später kam die Meute mit erhobenen Händen aus dem Bauch des Schiffes hervor. Die Fischer fesselten die überleben-
den Piraten. An Bord der Puutin war somit alles im Lot. Was blieb, waren die vier wendigen Dschunken, auf denen bei dem Schusslärm das Leben erwacht war. Die Flaute machte Segelmanöver unmöglich; dafür tauchten Ruder ins Wasser, die die Dschunken in Angriffsposition brachten. »Wir müssen die Kanonen besetzen«, rief Aiko, »bevor sie uns zusammenschießen!« »Das übernehmen wir«, versprach Cusak. »Bringt die Puutin zwei Strich backbord, sonst schießen wir die Fischerboote zusammen, die zwischen uns sind.« Aiko und einige Fischer besetzten die Bänke auf dem Ruderdeck, während Matt das Steuer übernahm und Mr. Black den Granatwerfer schulterte. Erster Kanonendonner von den Dschunken leitete die Auseinandersetzung ein. Die Breitseite schien erst zu kurz gehalten, denn vor dem Bug der Puutin stiegen Wassersäulen auf. Dann wurde die Reling durchbrochen, gleich darauf knickte der Vormast ein. Takelage und Toppsgasten krachten aufs Deck und begruben einige unvorsichtige Fischer unter sich, während die obere Masthälfte splitternd ins Meer krachte. »Legt euch in die Riemen!«, rief Aiko und zog sein Ruder kraftvoll an sich heran. Das Schiff wendete auf engsten Raum, bis die vorbei gleitende Dschunke längsseits lag. »Fertigmachen zum Feuern«, kam Cusaks Befehl. »Und … Feuer!« Sobald die Rohre aus den offenen Geschützpforten lugten, entluden sie sich auch 71
schon in einer wohlgezielten Breitseite, die das gegnerische Deck leer räumte. Freudengeheul klang auf der Puutin auf, das mit lautem Wutgeschrei von den verbliebenen Dschunken beantwortet wurde. Darauf vertrauend, dass die Backbordbatterie erst wieder nachgeladen werden musste, setzten die drei verbliebenen Piratehschiffe einen Rammkurs und hielten direkt auf die Puutin zu. Sie hatten die Rechnung ohne Mr. Black gemacht. Der Running Man entsicherte den Granatwerfer, nahm sorgfältig Maß und feuerte dicht hintereinander zwei Geschosse ab. Die erste Granate riss ein Loch ins Quarterdeck der ersten Dschunke und setzte sie in Brand. Die Seeleute auf dem zweiten Schiff hatten noch weniger Glück: Ein Volltreffer der Pulverkammer sprengte das Schiff in einer gewaltigen Explosion auseinander. Damit war auch der Widerstandswille der letzten Mannschaft gebrochen. Im Schein der brennenden Schwesterschiffe streckte sie die Waffen und half den Überlebenden der drei Wracks an Bord. Auf Seiten der Fischer herrschte dagegen grenzenlose Freude. Die gefürchteten Piraten waren tatsächlich geschlagen. Matt nutzte den allgemeinen Siegestaumel, um die Schockstäbe zurück ins Meer zu werfen. Von den Hydriten ließ sich keiner an der Oberfläche sehen. Vielleicht hatten sie sich angesichts der Gewalt in die Tiefe zurückgezogen. Trotzdem war sich Matt sicher, dass sie ihr Eigentum
wiederfinden würden. Epilog
Der steinige Strand unterschied sich nicht wesentlich von anderen Küsten dieser Welt, und doch spürte Matt ein kaltes Rieseln über seinen Rücken laufen, als Iisi das Beiboot an Land setzte. Vor ihnen lag der nördlichste Zipfel Rulands, die Landmasse, die den Kratersee einrahmte wie ein verkrüppelter Arm. Die fünf Gefährten - Matthew Drax, Aruula, Aiko, Mr. Black und Honeybutt Hardy - winkten einen letzten Gruß zu den Männern hinüber, die in Sichtweite das Deck der Puutin bevölkerten. Nicht mehr lange, dann würden sie die Segel setzten und nach Berbow zurückkehren, um Capt'n Deerk, Poo-Tong und die Überlebenden der Bruderschaft der Justiz zu übergeben. Ab sofort waren Matt und seine Freunde wieder auf sich allein gestellt. Drei Männer und zwei Frauen, deren Rucksäcke vollgestopft waren mit Verpflegung, Ausrüstung und den Resten modernster Technik aus dem NixonPanzer, die ein Leben in einer Welt ermöglichen sollten, in der Feuerfleggen und Scherenparasiten vermutlich noch das harmloseste Problem waren. Mr. Black, der das schwere Funkgerät aus dem Transportpanzer trug, nahm als erster sein Gepäck auf. Die anderen folgten seinem Beispiel. Und dann ging es los, hinein in eine neue, unbekannte Welt voller Gefahren …
ENDE 72
Ausblick: Die Menschenfalle von Claudia Kern Matthew Drax und seine Begleiter sind in Ruland angelangt. Nun ist es - geografisch gesehen - nicht mehr allzu weit bis zum Ufer des Kratersees, den der Komet Christopher-Floyd vor über fünfhundert Jahren in die asiatische Landmasse grub. In Wahrheit aber haben die fünf Menschen den schwersten Teil ihrer Reise noch vor sich. Denn sie betreten ein Land voller Wunder… und namenloser Schrecken. Eine andere Expedition unter der Leitung von Lynne Crow und Professor Dr. Smythe muss diese Erfahrung, die Matt & Co. noch bevorsteht, jetzt schon machen. Denn sie sind bereits in einem Gebiet angekommen, wo die Strahlung der grünen Kristalle bizarre Blüten getrieben hat …
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