Das Dorf der Toten Version: v1.0
Llandrinwyth, 1727 Die Zeit der »Zwölften« Owain Glyndwr überwachte die Säuberung des...
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Das Dorf der Toten Version: v1.0
Llandrinwyth, 1727 Die Zeit der »Zwölften« Owain Glyndwr überwachte die Säuberung des Taufsteins mit ei nem Gefühl nie nachlassenden Unbehagens. Der Geistliche war in der Nacht mehrfach schweißnaß aufgewacht, ohne eine Ursache dafür zu finden. Er litt normalerweise nicht unter Störungen die ser Art. Das Kirchenamt in Llandrinwyth bekleidete er nun schon seit über zwanzig Jahren. Eine ausreichende Zeit, um sich hilfreiche Routine anzueignen. Die anstehende Weihnachtsmesse war es demnach also keinesfalls, was ihn aus der Ruhe brachte. Auch je nes zweite Ereignis nicht, zumal er nachts davon noch gar nichts hatte wissen können …
Was bisher geschah Landru entdeckt, daß Lilith sein Ziel an der indisch-nepalesischen Grenze kennt, wo er den Lilienkelch zu finden hofft. Damit sie ihm nicht zuvorkommt, reist er sofort dorthin. Als er in einem der umge benden Dörfer seinen Blutdurst an einem jungen Mädchen löscht, ahnt er nicht, daß er eine Auserwählte tötet … In Sydney taucht ein veränderter Jeff Warner in Codds Büro auf – und gibt dessen Sekretärin, die wie Codd eine Dienerkreatur der Vampire ist, auf mysteriöse Weise ihre Menschlichkeit zurück … Kurz nach der Ankunft in New Delhi tappen Lilith und Duncan in Landrus Falle. Von ihm instruierte Vampire überfallen sie – und tö ten Duncan Luther! In Nepal versucht Landru vergeblich,zum Tempel vorzudringen, wo er den Lilienkelch vermutet. Die Mönche besitzen unirdische Kräfte. Und sie fordern ein neues Opfer für das, welches Landru tö tete. Lilith, die in Fledermausgestalt zu dem Dorf gelangt ist, nimmt die Stelle des Opfers – einer Frau namens Usha – ein und wird in den Tempel gebracht. Dort erfährt sie, daß die Häute der Dorfbewohner für eine »Blutbibel« verwendet werden, in der von Anbeginn der Zeit an die böse Geschichtsschreibung festgehalten wird. Also auch Informationen zum Lilienkelch – und zu Liliths Bestimmung! Ihr Betrug wird entdeckt. Hilflos muß Lilith Ushas Tod mitanse hen. Sie entkommt aus der Gefangenschaft, doch ihr Versuch, das Buch zu erlangen, scheitert; schließlich wird es sogar – scheinbar – durch Feuer vernichtet, während Lilith und Landru gegen Illusionen kämpfen.
Die Tempelanlage fällt in sich zusammen, Landru wird unter den Trümmern begraben. Während er sich mühsam befreit, flieht Lilith zurück nach Australien. Dort überrascht Beth sie mit einem ungewöhnlichen Gast: Jeff Warner, der kein Mensch mehr zu sein scheint. Er eröffnet Lilith, daß das Haus ihr frühes Erwachen akzeptiert hätte und Helfer für sie rekrutiert – ehemalige Dienerkreaturen denen durch Äpfel aus dem Garten des Hauses ihr Menschsein zurückgegeben wurde. Und noch ein »alter Bekannter« treibt sich in Sydney herum: Leroy Harps, ehemaliger Pornoproduzent und einer von Liliths ersten »Blutspendern«. Er ist zur reißenden Bestie geworden – aber nicht durch ihre Schuld, sondern weil Hora, Sippenoberhaupt der Syd ney-Vampire, ihn zum »Sklaven ohne Auftrag« machte, kurz bevor er von Lilith vernichtet wurde. Harps’ erstes Opfer war Trish, eines seiner Sex-Mädchen. Nun kommen deren Vater und Schwester nach Sydney – in Begleitung ei nes Mediums, der alten Carlotta. Sie spürt Harps tatsächlich auf, nicht ahnend, welche Gefahr er darstellt. Den Mord an Trishs Vater kann Lilith nicht mehr verhindern, doch Leroy Harps wird erlöst – durch einen der mysteriösen Äpfel. Auch Virgil Codd macht Bekanntschaft mit einer dieser Früchte: Warner gibt ihm seine menschliche Existenz zurück. Als Lilith ein letztes Mal auf Warner trifft, teilt dieser ihr mit, wo die Spur des Lilienkelches damals endete: In Llandrinwyth, einem kleinen Dorf im Südwesten Englands …
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter eines Menschen und einer Vampirin, dazu ge zeugt, eine geheimnisvolle Bestimmung zu erfüllen. 98 Jahre lag sie in einem Haus in Sydney, doch sie ist zu früh erwacht – die Zeit ist noch nicht reif. Sie muß gegen die Vampire kämpfen, die in ihr einen Bastard sehen, bis sich ihre Bestimmung erfüllt. Dabei hilft ihr ein Kleid, das seine Form beliebig ändern kann – ein Symbiont. Jeff Warner – der Detective war einer jahrhundertealten Serie von Genickbruch-Morden auf der Spur. Als er Polizeichef Virgil Codd darüber informierte, wurde er von diesem – einer Dienerkreatur der Vampire – in den Garten des Hauses geschickt, wo Lilith erwachte und schon etliche Menschen spurlos verschollen sind. Auch Warner verschwand, tauchte aber wieder auf. Doch nun dient er offenbar dem Haus. Beth MacKinsey – Journalistin. Bei ihr fanden Lilith und ihr Mit streiter Duncan Luther Unterschlupf. Von Warner bekam Beth die »Genickbruch-Liste« zugeschickt. Mittlerweile kennt sie Liliths wah re Identität – und hat sich, gleichgeschlechtlich veranlagt, in die Halbvampirin verliebt. Landru – Mächtigster der alten Vampire, Mörder von Liliths Va ter. Seit 267 Jahren jagt er dem verlorenen Lilienkelch nach, dem Un heiligtum der Vampire, ohne den es keinen Nachwuchs geben kann. Landru scheint irgendeine Schuld auf sich geladen zu haben – wel che, ist noch unklar.
In früher Morgenstunde dieses ersten der »Zwölften« hatte ein tem peramentvolles, schon bei der Geburt blondgelocktes Mädchen das Licht der Welt erblickt. In einem kleinen Ort wie Llandrinwyth kein alltägliches Ereignis, weshalb Owain Glyndwr gemeinsam mit dem Vater auch spontan entschieden hatte, die Taufe dieses neuen Er denbürgers in die Abendmesse einzubinden. Die Mutter lag natürlich noch im Kindsbett, und Owain Glyndwr war darauf gefaßt, ihr – früher noch vielleicht als diesem siebten ih rer Kinder die Taufe – die Sterbesakramente abnehmen zu müssen. Als er dem Haus gegen Mittag seinen Besuch abgestattet hatte, war die Frau nicht ansprechbar gewesen. Das Fieber hatte gelbe Stockfle cken in ihr ohnehin verhärmtes Gesicht gemalt, und der schwüle Glanz ihrer Augen verriet, daß sie ahnte, wie es um sie bestellt war. Der Geistliche schluckte einen Kloß hinunter, der ihn – bei aller »Routine« – in solchen Momenten immer noch überkam. Aber er war sicher, daß auch dies letztlich nicht der Grund des klammen Unbehagens war, das ihn während der Nacht gepeinigt hatte. »Wir sind fertig«, riß ihn eine Stimme aus den trüben Gedanken. Sie gehörte einer der Dorffrauen, die er zu Vorbereitungsarbeiten der geplanten Festlichkeit verpflichtet hatte. »Können wir jetzt ge hen?« Owain Glyndwr nickte, ohne sich – wie es sonst seine Art war – genau zu vergewissern, ob auch alles seinen Vorstellungen ent sprach. Mit einer Geste der Linken entließ er die Helferinnen nach Hause, während seine Rechte den Saum der Robe entlangfuhr, als läge dort eine Erklärung für die außergewöhnliche Stimmung, die ihn befallen hatte. Er wartete, bis die Frauen ihr Werkzeug zusammengerafft und das Kirchenschiff verlassen hatten. Dann wandte er sich selbst dem Aus
gang des Gotteshauses zu. Es verkörperte spätgotische Schlichtheit und besaß nicht annähernd den Prunk der großen Kathedralen wie Bangor oder Llandaff. Owain Glyndwr bedauerte dies jedoch nicht wirklich. Er war zu frieden mit seiner Gemeinde, die im ganzen – diesen neuen Erden bürger mitgerechnet – nun gerade 769 Seelen zählte. Er bedauerte auch nicht, als gottesfürchtiger Mann denselben Namen zu tragen wie einer der letzten großen walisischen Helden und Nachfahren der Fürsten Llewellyn. Als er jetzt vor die Tür trat, roch die Luft, die sich schwer von den geröllbedeckten Hügeln ins fruchtbare Tal senkte, nach baldigem Schnee. Der Himmel war wolkenverhangen und von bleierner Fär bung. Kälte trieb weiße Fahnen von Owain Glyndwrs Lippen. Sie verflüchtigten sich wie arme Seelen, die aus den Körpern von Ster benden hoffnungsvoll in die Obhut des Allmächtigen zurückkehrten … Obwohl erst später Nachmittag, dunkelte es bereits. In einigen Fenstern der geduckten Häuser brannte Licht. Aus Schornsteinen quoll Rauch, dessen typischen Geruch Owain Glyndwr liebte. Er sog den Atem tief durch die Nase ein, die sich dabei blähte wie die Nüs tern eines Pferdes, und strich versonnen über sein dickliches Ge sicht. Unerklärlich spät registrierte er die Versammlung mehrerer Dorf bewohner vor Clough Corwens zweistöckigem Haus. Es hatte den Anschein, als wäre ein hitziger Streit entbrannt. Owain Glyndwr kehrte in die Pfarrkirche zurück und holte sich einen wärmenden Mantel aus dem privaten Gemach. Wohlge schützt gegen den scharfen Wind, der winters unaufhörlich über die schroffen Bergzacken von Snowdonia hetzte, lenkte er seinen fülli gen Körper die Straße hinunter. Die Leute sahen ihn nahen und hiel
ten – immer noch erregt, nun aber abwartend – inne. »Worüber ereifert ihr euch?« richtete Owain Glyndwr dieselbe Stimme an sie, die sie von der Kanzel kannten. Erst jetzt gewahrte er das rassige Pferd, das an einen Querbalken vor Clough Corwens Haus gezurrt war. Sowohl die schwarze Stute als auch der aufwen dig gearbeitete, mit Seitentaschen versehene Sattel schlossen es von alleine aus, daß das Tier jemandem aus dem Ort gehörte. »Corwen hat einen Gast?« warf der Geistliche deshalb noch leicht erstaunt hinterher. Sofort brandete wieder das Geraune los. Erst Owain Glyndwrs hochgereckter Arm schuf Ruhe. »Seid ihr von Sinnen, euch am Tage des Herrn so in Rage zu plärren? Ich frage also noch einmal: Was ist der Anlaß? Hat es etwas mit dem Ankömmling zu tun?« Dafydd Gwilym, sonst ein besonnener Mann, rief mit zornrotem Gesicht: »Gut, daß Ihr kommt, Pfarrer – gut, daß Ihr kommt, wirk lich! Geht nur hinein zu Clough, diesem uneinsichtigen Narren, und sagt ihm, daß wir solchen ›Gast‹ hier nicht schätzen!« Owain Glyndwr staunte. Er wollte gerade »Warum denn bloß nicht, ihr Leute?« rufen, als sich die Tür von Corwens Gaststube öff nete, und eine schneidend helle Stimme erklärte: »Danke für die zahlreichen Huldigungen, aber ich denke, ich brauche keine Steig bügelhalter …!« Owain Glyndwrs Augen ruckten nach rechts – und unvermittelt empfand er eine Kälte, gegen die kein noch so warmgefütterter Mantel schützen konnte. Ein flüchtiger Blick genügte, um ihn den Aufruhr unter den Männern und Frauen, denen sich immer mehr Dorfbewohner anschlossen, verstehen zu lassen. Von irgendwoher hörte er es tuscheln: »Der Hund, an dem sie vor beiritt, begann erst zu jaulen, dann fiel er zu Boden, zuckte und er brach sich, ehe er tot liegenblieb!« Und eine andere Stimme wußte
zu berichten: »Eine meiner Kühe wurde wahnsinnig, als ich sie vor ihr über die Straße trieb. Ich mußte sie sofort schlachten. Aber ihr Fleisch ist vergiftet. Ich werde den Kadaver verbrennen müssen!« Von überall her tönte das böse Flüstern. Owain Glyndwr starrte immer noch sprachlos auf die verführeri sche Frauengestalt. Sie war mit herausfordernd in die Hüften ge stemmten Fäusten vor die Tür getreten und warf dabei wild-amü sierte Blicke in die Runde. Als sie Owain Glyndwr entdeckte, zogen sich die Winkel ihres sündigen Mundes verächtlich nach unten. »Von dir«, fauchte sie kehlig, denn sie hatte das Gewand seines Standes auch unter dem Mantel erkannt, »würde ich mir allerdings die Bügel gern halten las sen, Priesterchen! Du könntest mir auch gleich noch die Stiefel sau berlecken! Sie sind etwas staubig vom langen Ritt …« Ein Aufschrei der Entrüstung ging durch die Menge, und Owain Glyndwr selbst krümmte sich unter unsichtbarer Knute. Die Haut seines Gesichts brannte plötzlich wie Feuer, und das Atmen fiel ihm unsagbar schwer. Unbeeindruckt stieg die Frau, deren fremdartige, aufreizende Klei dung hie und da auch offene Begierde in Männerblicken weckte, die Steinstufen herab. Ihre Augen waren – bizarr für einen Menschen – gelb, ohne daß ihre Schönheit daran krankte. Niemand wagte es, den geäußerten Abscheu als Angriff zu deuten und darauf zu reagieren. Alle Versammelten stierten nur gebannt auf die überquellende Weiblichkeit, die sich unter einem karminro ten, kostbaren Stoff abzeichnete. Die Fremde schien sich ihrer Wir kung voll bewußt. Mit lasziver Eleganz bestieg sie ihre Stute, nein, sie verschmolz regelrecht damit, als wären sie in Wirklichkeit eine Einheit, die kurzzeitig auseinandergerissen worden war. Owain Glyndwr begriff, noch während er unbeholfen auf die
fremde Reiterin zustolperte, daß es dieser Vorfall war, der ihn be reits eine Nacht zuvor in verstörenden Ahnungen heimgesucht und gepeinigt hatte. Als schließlich der Sattel dicht vor seinen Augen auftauchte, wäre er vor Scham am liebsten im Erdboden versunken. Er wußte, was nun folgen würde. Aber alle Versuche, sich dagegen zu stemmen, scheiterten unter dem unbarmherzigen Blick der flammend rothaari gen Frau. Sie hielt ihn, selbst als er den Kopf beugte, unentrinnbar gefangen. Wieder stöhnte die Menge auf. Dieses Mal in einem anderen, von Unglauben getragenen Ton. Eine unersetzliche Saite in Owain Glyndwr zerriß. Er faßte selbst nicht, was er tat. Sein Herz schien zu erstarren, als seine Lippen sich öffneten, den Stiefel der Hexe be rührten und die Zunge in nicht mehr kontrollierbarer Gier über das glatte Leder zu tanzen begann …
* Gegenwart Lilith Eden fühlte sich wie ein einsamer Schatten. Die Enge des Apartments hatte sie nicht mehr ertragen. Sie war in die Nacht hin ausgegangen, weil sie nicht »vom Beton zermalmt« werden wollte. Sie litt, weil sie erkannt zu haben glaubte, daß sie für dauerhafte Freundschaften einfach nicht geschaffen war. Anderen brachte sie nur Unglück – oder den Tod. Damit konnte man nicht für sich wer ben. »Llandrinwyth … Cymru … Radnor …« Selbst jetzt brannten Jeff Warners Worte, die er auf dem verödeten
Grundstück ihres Geburtshauses zu ihr gesprochen hatte, in ihrem Geist.* Drei Tage war es her. Drei endlos lange Tage, während denen Lilith über das Erfahrene nachgedacht und es mit ihrer einzigen Vertrauten diskutiert hatte. Beth. Lilith strich sich in unbewußter Geste über die Brust. Der bloße Gedanke an die junge Reporterin, bei der sie wohnte, erotisierte sie. Erst die Kühle des sie umschmeichelnden Stoffes wirkte ernüch ternd. Der Symbiont begleitete – und bekleidete – sie nach wie vor überallhin. Zur Zeit schmiegte er sich als Kombination aus pech schwarzem Bustier, hauchdünn damit verbundenen, enganliegen den Hosen und kniehohen Stiefeln um ihren Körper. Er hatte schon lange keinen telepathischen Kontakt mehr zu ihr aufgenommen. Li lith wußte nicht, warum er beharrlich stumm blieb, obwohl er nach weislich zu dieser eigenen Art von Kommunikation in der Lage war. Doch sein Schweigen genoß sie durchaus. Der Symbiont, ein Erbe ihrer toten Mutter, war Fluch und Segen in einem. Er vermochte jedes beliebige Kleidungsstück nachzubilden und hatte sich »nebenbei« des öfteren als wirkungsvolle Waffe ge gen Liliths Erzgegner, die Vampire, erwiesen. Eine Erklärung, warum er sich bei Landru, dem Mächtigsten der Blutsauger, verwei gert hatte, war er bis heute schuldig geblieben. Jeff Warner hingegen hatte ihr Ungeheuerliches offenbart: Das Haus ihrer Geburt – genauer die Kraft, die es beseelte und die offen bar auch Warner neuerdings in ihrem Griff hielt – hatte angeblich akzeptiert, daß Lilith »vor der Zeit« aufgebrochen war, ehe sie ihrer Bestimmung gerecht werden konnte – wenngleich sie noch immer nicht wußte, was diese Bestimmung eigentlich beinhaltete. Laut dem *siehe Vampira 9: »Diener des Bösen«
Ex-Polizisten hatte ihr frühes Erwachen einen Prozeß in Gang ge setzt mit dem Ziel, Lilith künftig in ihrem Kampf gegen die Vampire zu unterstützen. In nicht mehr ganz zwei Monaten würde sie auf Menschen treffen, die ihr fortan – Lilith sträubten sich beim bloßen Gedanken die Haare – dienen sollten. Sie hatte Warner (oder dem HAUS) klarmachen wollen, daß sie keine »Diener« brauchte – aber dies war nicht mehr möglich gewe sen. Am stärksten beschäftigte sie seither aber etwas anderes. Es sah aus, als hätte »die, die Lilith ihre Bestimmung gab«, sie auf eine neue Spur des sagenumwobenen Lilienkelchs gestoßen. Eine Fährte, die Landru entweder unbekannt war – oder die er bereits ergebnis los überprüft hatte: Llandrinwyth … Cymru … Radnor … Diese drei Orientierungspunkte hatte Warner ihr genannt. Seinen Angaben zufolge hatte sich die Spur des Vampir-Unheiligtums in Llandrinwyth vor mehr als zweieinhalb Jahrhunderten verloren. Vor nunmehr genau 267 Jahren, so wußte Lilith inzwischen, war der Lilienkelch entwendet worden. Seitdem konnte kein echter Vam pirnachwuchs mehr gezeugt werden, nur noch Dienerkreaturen. Da mit war die Existenz der Alten Rasse längerfristig bedroht. Lilith konnte aus der Bedrohung Gewißheit machen, indem sie den Kelch vor den Vampiren aufstöberte und vernichtete. Der ersten freudigen Überraschung über die neue Spur war Er nüchterung gefolgt. Es sah so aus, als wären Warners Informationen falsch gewesen. Seine Behauptung, der Kelch habe seine Energie zu letzt im Südwesten Englands entfaltet, in einem imaginären Ort na mens Llandrinwyth, hatte der Überprüfung nicht standgehalten. Es gab diesen Ort nicht! Cymru und Radnor aufzuspüren war, dank Beth’ Hilfe, relativ ein
fach gewesen. Cymru war die alte kymrische Bezeichnung für Wa les; Radnor ein ehemaliges County dort – seit den frühen 70er Jah ren aber nur noch ein gleichnamiger District, der in dem neugebilde ten County Powys aufgegangen war. Aber weder in Powys noch im engeren Bereich des Districts Rad nor war auf den detailliertesten Landkarten eine Stadt oder ein Dorf namens Llandrinwyth vermerkt! Kopfschüttelnd bewegte sich die Halbvampirin durch Sydneys hellerleuchtete Geschäftszeilen. Ihr hüftschwingender Gang war Erotik pur – und sie setzte ihn gezielt ein. Der »Drang« war in ihr er wacht. Obwohl sie dagegen ankämpfte. Letztlich aber, da machte sie sich nichts vor, war es eine Existenzfrage, dem ganz speziellen Durst nachzukommen. Ihr Körper war auf herkömmliche Nahrung nicht eingerichtet. Und der Gedanke an Blutkonserven, die sich mit eini gem Aufwand vielleicht hätten organisieren lassen, stieß sie stärker ab als ihr nach rein menschlichem Moralverständnis »verwerfliches« Verlangen. Blut mußte frisch und warm sein, sonst verlor es seinen ganz speziellen Geschmack. »Wieviel, Darling?« fragte eine Stimme, die aufgekratzte Stim mung verriet. Lilith blieb stehen. Wenn sie ehrlich war, hatte sie seit Verlassen des Apartments auf nichts anderes als genau diese Frage gewartet. Als »Kind der Hure« wurde sie von Landru und der Sydneyer Vam pirsippe verhöhnt. Und nicht gerade prüde war sie den nächtlichen Boulevard entlanggeschlendert. Der bärtige Mann sah nicht aus, als hätte er käufliche Gunst nötig. Aber es sah auch nicht danach aus, als hätte sich Lilith verhört. »Wieviel hast du denn dabei?« ging sie auf das Spiel ein. »Genug.« Er hatte hübsche Augen und ein selbstbewußtes Lä cheln. Daß er mit Lilith nicht irgendeine Lady der Nacht erwischt
hatte, sondern etwas ganz Edles, war ihm offenbar klar. »Wirklich?« fragte sie spöttelnd und fügte hinzu: »Ich stelle hohe Anforderungen – in jeder Beziehung.« Er lächelte ahnungslos. »Ich bin jeder neuen Erfahrung aufge schlossen.« »Dann werde ich dich nicht enttäuschen.« Sie benetzte die Lippen. Ihre Zähne schienen pulsierend nach außen zu drängen. Aber sie be zähmte sich. Es war noch zu früh. »Wohin gehen wir?« »Mach einen Vorschlag.« »Hast du irgendwo einen Wagen stehen?« »Ich bin kein Teenager mehr …« »Aber auch kein Tattergreis.« »Das will ich hoffen. Okay. Versuchen wir es.« Sie folgte ihm in eine wenig belebte Seitenstraße. Sein Wagen war ein mit allen Schikanen ausgestatteter amerikanischer Plymouth. Als Lilith sich neben dem Unbekannten im weißen Lederpolster nieder ließ, sprang wie von selbst eine Jukebox an. Die Armaturen waren statt aus dem üblichen Hartplastik aus edlem Holz gefertigt. Das Lenkrad war mit demselben Leder überzogen wie die Sitze und die Wählschalter des Automatikgetriebes. »Fehlt nur noch der eingebaute Pool«, stellte Lilith fest und be glückwünschte sich zu der getroffenen Wahl. »Wie ist dein Name?« »Neal«, sagte er. »Und deiner?« »Lilith.« »Nett. Adams erste Frau …« Sie blickte fragend. »Goethes Faust«, erläuterte er. »Walpurgisnacht. Nie davon ge hört?« Sie schüttelte den Kopf.
»Hier sind zu viele Zuschauer«, beendete sie den Smalltalk. »Such’ uns etwas Ruhigeres!« Lächelnd setzte er den Plymouth in Bewegung. »Der Nielsen Park ist ein Geheimtip für Liebespaare wie uns«, schlug er humorig vor. »Kennst du ihn? Ich würde open-air ohnehin vorziehen. Wir haben eine laue Nacht …« Lilith beschloß, ihn gewähren zu lassen. »Okay«, sagte sie schlicht.
* Neal chauffierte sie an der City vorbei Richtung Meer. Bei einem Wäldchen aus Feigenbäumen stoppte er den Wagen, und im Ster nenlicht liefen sie ein Stück weit über ausgetretene Buschpfade ent lang des zerklüfteten Hafenufers. Das Panorama der nächtlich illuminierten Stadt war grandios. In der Ferne wölbte sich eine Brücke wie ein altrömisches Viadukt. Fei ner Sandstrand schimmerte hell und verlassen im Mondlicht. Neal lenkte Lilith vom Pfad herunter und einen sanften Hang hin auf. Schon von unten war zu erkennen, daß sich weiter oben ein idyllisches, kleines Plateau erstreckte. »Du wirst staunen«, versprach er. »Dort oben gibt es eine der vie len Traumzeit-Kultstätten der Aborigines. Sich dort zu lieben, soll angeblich ungeahnte Energien freisetzen.« Lilith schmunzelte skeptisch. »Schon mal getestet?« »Regelmäßig.« »Und?« »Vielleicht hatte ich noch nicht die richtige Partnerin …« Er wollte noch etwas hinzufügen. Aber in diesem Moment be
merkten sie beide, daß sie ihr Schäferstündchen an einen anderen Ort verlegen mußten. Das Plätzchen war besetzt. Von … Lilith stockte nur kurz der Atem. Neal bemerkte es kaum, blieb aber mit ihr stehen. Die Gestalt, die sich von einem mit Gravuren übersäten Felsen er hob, gehörte unzweifelhaft einem – Vampir! Lilith hatte ein Gespür dafür – so wie Vampire ihre Identität meist mühelos durchschauten. Reflexartig ließ sie Neals Hand los. Ein aggressiver Laut drängte aus ihrer Kehle. Der Mann an ihrer Seite blickte sie befremdet an. Aber der Blutsauger, den Lilith im Visier hatte, reagierte überhaupt nicht auf ihre Annäherung. Etwas stimmte nicht! Lilith spürte es bis tief in ihr Innerstes. »Komm, verschwinden wir«, seufzte Neal. »Wir können anderswo –« »Still!« Lilith zwang ihm ihren Willen auf. Es war leicht. Als sie vorsichtig weiterging, blieb er regungslos zurück. Seine Augen wa ren geschlossen, als würde er schlafen. Lilith erklomm die letzte Steigung vor dem Ziel. Sie versteckte sich nicht. Der Symbiont an ihrem Körper schien in Vorfreude zu erbe ben. Auch er nährte sich von schwarzem Vampirblut. Sie verharrte nur wenige Schritte von einem Wesen entfernt, das älter war als jeder lebende Mensch dieses Planeten und auch älter als Lilith selbst. Dieses Geschöpf hatte mühelos die Jahrhunderte durchwandert, sich immer wieder verjüngend durch das Blut der Menschen. Es war für Lilith faszinierend, sich vorzustellen, was ihre Feinde mit eigenen Augen gesehen hatten. Selbst die zuletzt mit dem Lilienkelch gezeugten Vampire hatten
bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts Furcht und Schrecken ver breitet. In der damals noch völlig unaufgeklärten Welt hatten sie es einfacher und schwerer zugleich gehabt. Der Magie und dem Alchi mistentum war damals noch eine andere Bedeutung zugekommen als in der Gegenwart. Der Vampir drehte Lilith den Rücken zu. Eine Finte. Was sonst? Lilith wollte ihm etwas zurufen, als sie Zeugin eines Vorgangs wurde, dessen Tragweite sie zunächst gar nicht erfassen konnte. Der Vampir drehte sich zu ihr um. Seine Fratze hätte ihn für jeden entlarvt, der ihn jetzt hätte sehen können. Lilith war diesen Anblick inzwischen gewöhnt. Er schreckte sie nicht. Nur das, was durch die Augen des Feindes lautlos in ihre Richtung brüllte, brachte sie fast zum Straucheln! Sie erkannte einen nie bemerkten Zug auf der Grimasse des Vam pirs. Ehe sie die Initiative ergreifen konnte, handelte er. Er griff mit beiden Händen gleichzeitig rechts und links unter sei ne Jacke und brachte das klassische Vernichtungswerkzeug zum Vorschein. Hammer und Pflock. Er will mich pfählen! zuckte es durch Liliths Kopf. Sie wappnete sich gegen eine Attacke, die nie erfolgte. Zwar brachte der Vampir das Tötungsgerät blitzschnell in Positi on, aber es war kein Angriff; im Gegenteil. Lilith verharrte verblüfft mitten in der Bewegung, als er die Spitze des Pflocks gegen das ei gene kalte Herz richtete und ihn mit einem einzigen kraftvollen Hammerschlag tief in die Brust trieb! Der dumpfe Ton mischte sich mit dem Bersten einer oder mehre rer Rippen. Sekundenlang stand der Vampir danach noch aufrecht
und still unter dem nächtlichen Firmament. In seine gequälten Au gen hatte sich ein weiterer Ausdruck geschlichen, den Lilith nie ge sehen hatte, aber auch nie mehr vergessen würde. Dann zerfiel er in Sekundenschnelle zu feinem Staub, der von einer Meeresbrise auf gegriffen und in alle Winde zerstreut wurde. Das einzige Geräusch, das diesen absurd-gespenstischen Vorgang begleitete, stammte von Hammer und Pflock, die beide auf den felsi gen Untergrund fielen. Lilith wollte zu der Stelle gehen, wo das Unglaubliche geschehen war. Aber etwas hielt sie zurück. Etwas – Schattenhaftes! Ich bin selbst ein Schatten … Ein einsamer Schatten … Von plötzlicher Panik erfüllt, wandte sie sich ab und floh in die Nacht.
* Er fühlte sich alt wie die Welt. Sein Schädel war kahl, bis auf einen feinen, spinnwebartigen Flaum, und sein blasses Gesicht, von Falten und Runzeln überzogen wie das eines zwergwüchsigen Methusalem, sah müde aus, immer müde … Wenn er die Augen schloß, grinste ihn der Tod an. Obwohl die überwiegende Zahl der »Familie« es ihn nie hatte spü ren lassen, litt Tom vor allem unter seinem Aussehen. Häßlich, häß lich, häßlich! dachte er. Schlimmer noch als der unausweichliche Tod schien ihm dabei, daß er nie eine richtige Freundin haben würde. Kein Mädchen bei klarem Verstand würde sich mit einem Vogel wie ihm einlassen – keines!
Nach jeder Vorstellung schloß er sich in seinem Wagen ein und kroch ermattet ins Bett. Das Raunen, das Gelächter, die Sticheleien der überwiegend gleichaltrigen (aber nicht gleich häßlichen) Besu cher verfolgte ihn noch Stunden danach. Nicht selten hatte er überlegt, seinem Leben ein vorzeitiges Ende zu setzen. Seines Vaters wegen tat er es dann aber doch nicht und setzte sich statt dessen weiteren Qualen aus, die kein Außenstehen der auch nur erahnen konnte. Vielleicht liebte er die Dunkelheit deshalb so sehr. Weil ihr Mantel ihm die Illusion gab, ein sechzehnjähriger Junge wie tausend andere zu sein. Aber das Dunkel war ein schlechter Verbündeter und ließ ihn regelmäßig im Stich. Bei Tag und im Rampenlicht. Wenn er allein war, lauschte er dem schnellen Schlag seines Her zens. Er wartete immer darauf, daß es einfach einmal aufhören und sein Leben in einem schwarzen Strudel entführen würde. Die meisten wie er starben an Herzschwäche. Nicht nur seine Haut war vergreist, auch jedes Organ und jeder Muskel. Kleinigkeiten wie Stöße, die andere kaum registrierten, brachten ihm wochenlange Blutergüsse ein. Er erinnerte sich genau, daß er – als ihm sein Anderssein erstmals bewußt geworden war – versucht hatte, sich zu verstümmeln. Mit Feuer, glosender Zigaret tenglut oder scharfkantigen Gegenständen. Bis sein Vater eines Ta ges Rotz und Wasser geheult hatte. Die Tränen konnte der Junge noch heute sehen. Manchmal schienen sie vor ihm in der Finsternis zu leuchten … Seither hielt er durch. Aber daß er nicht der einzige war, dem das Schicksal ein hartes Dasein auferlegt hatte, tröstete ihn in keiner Weise. Einmal einen roten Mund küssen, einen warmen Busen streicheln … Es war die erste Nacht in Mallwyd. Der kleine Ort war von wohli
gem Schauder erfüllt, seit Tom und seine Leute in einer kleinen Pa rade durch die Hauptstraße flaniert waren. Die erste Vorstellung war für den kommenden Mittag angesetzt. Tom richtete sich matt im Bett auf, als er Geräusche von der Tür her vernahm. Mit weit aufgesperrten Ohren hörte er, daß sie von je mandem mühelos geöffnet wurde. Unmöglich! dachte er. Er hatte abgeschlossen. Er schloß immer ab! Die Bewegung war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Etwas in seiner Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Die Fins ternis verformte sich zu einer rotierenden Spirale. Aber es verging wieder. Keuchend konzentrierte er sich auf weitere Wahrnehmun gen. Sehen konnte er nichts. Und die Hand nach der Ziehschnur der Wandlampe auszustrecken, gelang ihm auch nicht. Er war wie er starrt. Bis er die Stimme hörte. »Hab keine Angst! Ich bin es nur!« »Fee …?« »Ja, beruhige dich!« Er sackte regelrecht in die Kissen zurück. »Wie bist du –?« »Psst …!« Sie war schon bei ihm. Er spürte den typischen Luftzug und dann ihren kühlen Finger auf seinem spröden Mund. Als sie sich neben ihn auf die Matratze setzte, spürte er eine Sehn sucht, die er sich nicht einzugestehen wagte. Fee war erst vor kurz em zu ihnen gestoßen und sofort zum uneingeschränkten »Star« des Ensembles aufgestiegen. Weder Tom noch die anderen Familienan gehörigen wußten, wie sie ihre Maskerade aufrecht erhielt. Aber sie wirkte, bei aller Monstrosität, täuschend echt. Das genügte dem Pu blikum. Noch nie waren die Vorstellungen besser besucht gewesen.
Es wurde viel getuschelt. Unter anderem, daß Fee und Toms Vater ein sehr intimes Verhältnis miteinander pflegten. Tom beneidete ihn darum. Fee war – hinter der Maske – die hübscheste und zugleich flippigs te Frau, die der »junge Greis« je gesehen hatte. Sie besaß etwas, wor an es den meisten Schönheiten mangelte: Persönlichkeit. Und jetzt hockte sie neben ihm in der Dunkelheit, und er wurde das starke Gefühl nicht los, daß sie ihn durchdringend musterte. Der Gedanke war genauso abstrus wie ihr Erscheinen. »Was willst du …?« setzte er erneut an. »Ich habe mit deinem Vater gesprochen«, sagte sie sanft. »Er hat mir erklärt, was mit dir los ist. Er ist in großer Sorge um dich …« Das war Tom nicht neu. Er war selbst in großer Sorge um sich – verdammt! »Laß mich in Ruhe! Ich will allein sein!« sagte er schroff. »Du bist allein. Ich sehe, wie es dich quält. Und –« »Und?« »Du hast Angst.« »Wovor sollte ich Angst haben? Jemand wie ich fürchtet nichts!« »Außer dummen Mitmenschen und den Tod.« Tom nickte schwach und hoffte inständig, daß sie es nicht tatsäch lich sehen konnte. »Blödsinn!« bellte er mit überschlagender Stimme. »Mir kannst du nichts vormachen.« Warum nicht? Was, zum Teufel, willst du von mir? schrie er in Ge danken. Aber er sagte nur: »Geh jetzt! Bitte!« »Später. Danach. Wenn nicht dir, bin ich es deinem Vater schuldig, es zu versuchen …« Zu versuchen?
Plötzlich spürte er ihre Hände auf seiner Brust. Auch dort war die Haut welk und empfindlich. Auch dort pochte der Altersschmerz im Körper eines sechzehnjährigen Jungen, der wußte, daß er in spä testens ein, zwei Jahren sterben würde. Mit dieser Krankheit wurde man nicht älter. Ihre Berührung war zart und von Rücksicht geprägt. Behutsam strich sie höher, umschloß sein Gesicht und sagte mit einer Ein dringlichkeit, die Tom noch mehr aufwühlte: »Habe Vertrauen! Ich kann dir nichts versprechen, aber ich werde versuchen, dir zu helfen! Ganz ruhig jetzt!« Ein bitteres Lachen steckte in seiner Kehle. Es blieb dort. Weil er sich eingestehen mußte, daß das Zittern aufhörte und sein Herz tatsächlich wieder gelassener zu schlagen begann. Daran än derte sich auch nichts, als Fee vollends zu ihm ins Bett schlüpfte und ihn behutsam in die Arme schloß.
* Llandrinwyth, Weihnacht 1727 Wenn wirklich jeder Tag der »Zwölften«, wie es im Volksmund hieß, vorbedeutend für einen der kommenden zwölf Monate war, dachte Owain Glyndwr bitter, mußte zumindest der Januarius des neuen Jahres einer völligen Katastrophe gleichkommen! So wie der erste Tag der »Zwölften«, der 25. Decembris, für ihn be reits zu einem Desaster geworden war … Auch nachträglich zerriß ihm das entblößende Gefühl verletzter Scham beinahe das Herz in der Brust. Er wußte nicht, wie er die speichelleckenden Minuten am Stiefel der Hexe überlebt hatte. Daß
sie ihn verhext hatte, stand außer Zweifel. Aber diese bloße Erkennt nis war nicht dazu angetan, die in seine Seele geschlagenen Wunden zu heilen. Eine Zeitlang, nachdem die Hexe den Ort in wildem Ritt verlassen hatte und er in seine Pfarrkirche zurückgekehrt war, hatte er ernst haft mit dem Gedanken gespielt, die heutige Messe ausfallen zu las sen. Die Taufe hätte man verschieben können, bis sich die Gemüter etwas beruhigt hatten. Anders sah es mit der Christmette aus. Er würde vor Altar und Gemeinde treten müssen. Dieser Verant wortung hätte er sich nur entziehen können, wäre er bereit gewesen, noch mehr Porzellan zu zerschlagen. Um das Gesicht wenigstens noch einigermaßen zu wahren, mußte er versuchen, die Demüti gung zu vergessen. Daran, daß sich seine Begegnung mit der widerborstigen Fremden bereits wie ein Lauffeuer im ganzen Dorf verbreitet hatte, zweifelte Owain Glyndwr nicht eine Sekunde. Etwas »Ablenkung«, wenn auch nicht in positiver Hinsicht, erbrachte der Umstand, daß die Mutter des Täuflings sich kurz vor Einbruch der Dämmerung dar anmachte, ihr Leben auszuhauchen. Der in Heildingen kundige Schmied hatte Owain Glyndwr rufen lassen, um ihr die Sakramente abzunehmen. Doch als er eintraf, war die Frau bereits ihrem Fieber erlegen. Bei der Begegnung mit dem Witwer erschien es Owain Glyndwr fraglich, ob der gramgebeugte Mann in der Lage sein würde, seine Kinder – nun Halbwaisen – allein großzuziehen. Ein schaler Geschmack der Hilflosigkeit blieb deshalb, als Owain Glyndwr das kinderreiche Haus verließ. Auf seine Frage, wie der Vater sich denn nun in Sachen Taufe entschieden habe, hatte dieser seine Absicht bekräftigt, die Taufe wie geplant am Abend ausführen zu lassen. Owain Glyndwr wäre froher gewesen, wenn ihm wenigs tens dies erspart geblieben wäre. Aber er konnte nicht nein sagen.
Nach seiner Rückkehr in die Pfarrkirche blieben ihm noch drei knappe Stunden bis zum Beginn der festlichen Andacht. Immer na gender wurden die Zweifel, ob er der Konfrontation mit den Dorf bewohnern gewachsen sein würde. Es war ihm immer noch schlei erhaft, warum die Hexe ausgerechnet ihn zur Machtdemonstration mißbraucht hatte. Jeder, dachte er, jeder hätte gehandelt wie ich! Aber sie hat mich gewollt! Sie wollte mich dem Spott und der Verachtung der ganzen Gemeinde preisgeben – es ist ihr gelungen … Nur eine in Schwarzer Magie kundige Frau konnte so handeln. Nur eine Verderbte, die von der heiligen Inquisition vergessen wor den war! Owain Glyndwr betete lange und schöpfte Kraft aus dem Allein sein. Als der Kirchendiener eintraf und den Befehl zum Glockenläu ten abholte, begab sich Owain Glyndwr in sein Gemach und legte die festliche Robe an. Zwischendurch fragte er sich, was geschehen würde, wenn die Gemeinde geschlossen fernbleiben würde. Wenn man ihm auf diese Weise zu verstehen geben würde, daß seine Ent gleisung unverzeihlich war. Owain Glyndwr erwartete diesen Eklat nicht wirklich. Aber die bloße Möglichkeit stürzte ihn in die nächste Sinnkrise. Zugleich wußte er, daß er schlecht beraten gewesen wäre, wenn er versucht hätte, seine Tat mit Geschwätz über Magie und Hexerei rechtfertigen zu wollen. Er konnte einfach nur hoffen, daß die Zeit ihm über die Demütigung hinweghelfen würde. Menschen verga ßen … Als die Meßdiener eintrafen – ein halbes Dutzend Jungen aus dem Dorf – und ebenfalls in ihre Kutten schlüpften, hörte er von draußen die gewohnten Geräusche und Stimmen, die vom allmählichen Ein treffen der Kirchgänger zeugten. Die Glocke im Turm war ver
stummt. Owain Glyndwr ließ seinen Blick über angespannte Kin dergesichter schweifen, und ihm drehte es schier den Magen um, als er erkannte: Auch sie wissen es längst! Sie beobachten mich! Er fragte sich, ob er bereits an Wahnvorstellungen litt. Aber das Gefühl, belauert zu werden, verstärkte sich eher, als er in scheinbarer Versunkenheit aus dem Seitenportal vor den Altar trat. Seine volltönende Stimme erfüllte das Gewölbe und brachte auch die letzte Stimme zum Schweigen, bis der Chor das Lied aufgriff und in scheinbarer Normalität weiterführte. Altar und Kirchenschiff waren nur karg geschmückt. Ein paar Ker zen brannten. Der Geruch von Weihrauch legte sich schwer auf die Atemwege. Owain Glyndwr kam auch jetzt seine Routine zugute. Zugleich wurde die Erkenntnis übermächtig, daß die Pfarrkirche heute nicht grundlos stärker besucht war als in allen Jahren zuvor. Sie kommen wegen mir! Sie wollen sehen, wie ich mit der Ernied rigung umgehe! Von diesem Moment an, da er die Menschen unter sich (der Altar lag leicht erhöht) sicher durchschaute, schöpfte er erstaunlicherwei se neue Kraft. Eine gesunde Portion Trotz und eine Jetzt-erst-rechtStimmung durchströmten ihn. Sein Körper straffte sich. In den folgenden Minuten schien seine Wandlung auch Widerhall in der Gemeinde zu finden. Die Blicke, die er kreuzte, wurden wei cher. O Herr, vergib ihnen, dachte er. Er wollte noch hinzufügen: Denn sie wissen nicht, was sie tun … Da bemerkte er das Fehlen des Taufkindes und der Angehörigen. Beruhigte er sich anfangs noch selbst damit, daß sie sich lediglich etwas verspäteten, wurde die dumpf schwelende Ahnung einer an deren Wahrheit zur Gewißheit, als inmitten der Messe das schwere Portal aufgerissen wurde und eine atemlose Gestalt in die Kirche ge
stürmt kam. Owain Glyndwr erkannte den Mann ebenso problemlos wie die anderen Mitglieder der kleinen Gemeinde. Es war der Vater des neugeborenen Mädchens! Sofort verstummte aller Chorgesang. Bange Blicke streiften die Verzweiflung des Ankömmlings, als er bis zu seinem Pfarrer wankte und dort mit geballter Faust stöhnte: »Mein Kind! Mein – armes Kind …!« Owain Glyndwr dachte zuerst, was viele denken mochten: Es ist auch gestorben! Es ist seiner Mutter nachgefolgt …! Aber die nächsten Worte ließen von dieser Vermutung nichts üb rig. »Es ist verschwunden! Mein armes Mädchen ist – verschwunden! Aus seiner Wiege … Weg! Einfach fort! Und die anderen Kinder be nehmen sich wie toll …!«
* Gegenwart Elisabeth MacKinsey kehrte geschwängert in ihre Wohnung zurück. Rauchgeschwängert. Zehn einsam-gemeinsame Minuten mit ihrem Spezialfreund Mos kowitz hatten genügt, in Nikotin zu erstarren. Ein Vollbad oder eine sehr heiße und sehr langanhaltende Dusche erschienen ihr als einzi ge Rettung. Sie hoffte, daß sie Lilith antreffen würde. Vielleicht – nein, sicher – würde diese ihr den Rücken schrubben … Trotz des anhaftenden Tabakteers hatte sich die Unterhaltung mit
Moskowitz gelohnt. Ohne die Hintergründe ihres Interesses aufzu decken, hatte sie den Fotografen des Sydney Morning Herald ge fragt, wie sie an Kartenmaterial herankommen konnte, das auch die winzigsten Ortschaften eines Landes sicher aufführte. Er hatte sie auf die Nationalbibliothek verwiesen und sich erkundigt, woran ge nau sie interessiert sei. Beth hatte kein Problem darin gesehen, ihm die Begriffe Cymru, Radnor und Llandrinwyth um die Ohren zu feu ern. Um so verblüffter war sie gewesen, als Moskowitz neben enor men Kenntnissen in Fotografie und stinkenden Zigarrenmarken auch noch ein gerütteltes Maß an Allgemeinbildung bewies. »Das klingt alt«, hatte er zwischen zwei Qualmwolken erklärt. »Ich würde also die wirklich alten Karten überprüfen. Vielleicht hat sich im Laufe der Zeit der Ortsname geändert – so was soll in den besten Ländern vorkommen …« Obwohl sich Beth zunächst ein bißchen geärgert hatte, nicht selbst auf das Naheliegende gekommen zu sein, überwog ihre Dankbar keit an den allgemein nicht sehr gelittenen Moskowitz, die sie darin manifestierte, daß sie ihm aus Privatvermögen anonym eine wasch echte Havanna zuschleuste – nachdem sie den Tip auf seine Tauglich keit hin überprüft hatte. Darüber – und dem schnöden Tagwerk, das Moe Marxx, der ewi ge Nörgler und Chefredakteur des Sydney Morning Herald, ihr auf gebürdet hatte –, war es später Abend geworden. Beth haßte es, im Dunkeln nach Hause zu kommen. Schon beim Aufschließen der Wohnungstür hörte sie Geräusche aus der kleinen Küche. Daß kein Licht brannte, verwunderte nicht weiter. Lilith hatte ein Faible dafür, sich wie eine Katze durch die Finsternis zu bewegen. Mit traumhafter Sicherheit, wie man ihr zu gestehen mußte. Alles an ihr war traumhaft.
Und verdammt aufregend! Beth haderte längst nicht mehr damit, sie aufgenommen zu haben. Sie haßte nichts mehr als »Wischiwaschi«, und seit Lilith da war, gab es keinen einzigen Tag und keine Nacht mehr, die in diese »Schublade« zu pressen war! »Lilith …?« Keine Antwort. Beth knipste die Beleuchtung an und pflanzte ihre Tasche mitten auf den Boden. Nachdem sie die Wohnungstür geschlossen hatte, wechselte sie in die Küche. Als sie auch hier Licht machte, erstarrte sie. So wie auch Lilith erstarrt war. Sie stand vor der Spüle und hielt eines der größeren – und wohl auch schärferen – Messer so unmißverständlich in der Hand, daß Beth im ersten Moment nur wie gelähmt zusehen konnte. »Lilith!« Der Schrei fror den aus seiner Starre erwachenden Körper der Halbvampirin erneut ein. Und stoppte die Bewegung des Messers zur Kehle … Beth streifte die lähmende Gänsehaut ab und legte mit einem ein zigen Satz die Kluft zu Lilith zurück. Obwohl sie im Ernstfall keine Chance gegen ihre Kraft gehabt hätte, packte sie Liliths »Waffen arm« und bog ihn zurück. Fast widerstandslos ließ sich die Halbvampirin die Klinge abneh men. Ihr Blick war stumpf, flackerte dann irritiert. »Was –?« »Das frage ich dich!« keuchte Beth und wand ihr das Messer vollends aus den Fingern. »Bist du von Sinnen?« Sie wurde laut. Verdammt laut. Ihr Herz hämmerte bis zum Hals. Sie begriff
plötzlich, wie sehr sie sich an die Freundin gewöhnt hatte. Zumal es keine herkömmliche Freundschaft war, sondern Abenteuer, Lust und Gefahr! Gefahr gehörte immer dazu. Selbstmordabsichten weniger … »Was hattest du gerade vor? Dich umzubringen …?« Beth wollte gar nicht wissen, ob das auf diese Weise überhaupt möglich gewesen wäre. Die bloße Absicht genügte ihr bereits. Lilith schüttelte benommen den Kopf. Sie schien erst die Ketten ei nes Traums abschütteln zu müssen. »Wovon redest du?« Beth lachte heiser und hielt ihr das Messer vor Augen. »Genügt das als Gedächtnisstütze?« Lilith wirkte absolut glaubwürdig, als sie auf ihrem Unverständnis beharrte. »Keine Ahnung, was du meinst!« Beth musterte sie eindringlich. Unwillkürlich fragte sie sich, ob sie sich getäuscht hatte. Manche Bewegungen konnten mißgedeutet werden, aber … »Warst du noch weg?« wechselte sie das Thema. »Warum?« »Wenn ich gehe, drehe ich den Schlüssel immer zweimal um – du nicht ein einziges Mal. Und die Tür war offen …« Lilith zögerte. Dann verneinte sie. »Ich war den ganzen Tag hier …« Beth legte das Messer in die Besteckschublade zurück. Als sie sich wieder Lilith zuwandte, kam diese auf sie zu und schmiegte sich wie schutzsuchend in ihre Arme. Ihre Nähe verriet Beth mehr als al les andere, daß etwas nicht stimmte. Lilith klammerte sich fast schmerzhaft an sie. »Hattest du vielleicht – Besuch?«
»Nein, Beth, nein …« Sie klingt wie eine Verlorene, dachte die Reporterin, von Mitleid überrollt. Himmel, was ist passiert? »Ich habe eine vielleicht tröstliche Nachricht für dich«, sagte sie, obwohl sie inzwischen anzweifelte, damit noch Eindruck schinden zu können. »Welche, Beth?« »Ich habe Llandrinwyth gefunden.«
* Tom erwachte erst gegen Mittag durch das Hämmern einer Faust gegen die Tür. Noch ehe er die Lider öffnete, war die Erinnerung an Fees Besuch da. Seine Kehle wurde trocken. Er massierte sich den Hals. Mühsam wie stets wollte er sich aus dem Bett kämpfen … »Tom! Was ist los? Mach auf, Junge!« Die Stimme seines Vaters war nicht der Grund seiner Verwirrung. Es war die Leichtigkeit, mit der er Bewegungen ausführte – die Klarheit, mit der er seine Umgebung wahrnahm. Er sog den Atem ein und folgte dem Weg durch die kränklichen Lungen. Der erwar tete Husten blieb aus. Mit ungewohnten, federnden Schritten ging er zur Tür und drehte den Schlüssel um. Hatte er abgeschlossen? Nach Fees Besuch …? »Junge!« Sein Vater starrte ihn an wie einen Geist. »Ich fürchtete schon, es ginge dir schlechter … Himmel! Hundertmal habe ich dich gebeten, mir einen Schlüssel zu überlassen. Wenn du …« »Wenn ich?« Wußte er von Fees Besuch? Joey Grimaldi machte nicht den An
schein. Er war Anfang Fünfzig und von immer noch stattlicher Er scheinung. Daß sein einziges Kind älter als er aussah, machte ihm zu schaffen. Er konnte seine Hemmungen nie ganz abstreifen. wenn sie sich Auge in Auge gegenüberstanden. Manchmal kam es Tom so vor, als gäbe er sich eine Mitschuld an dem genetischen Defekt, der für die Vergreisung verantwortlich war. Es war sinnlos, es ihm ausreden zu wollen. Er trug eine Mitschuld; auch wenn sie nur darin bestand, daß er und Toms verstorbene Mutter sich von ganzem Herzen einen Sproß gewünscht hatten. Toms Mutter war vor drei Jahren an den Folgen einer verschlepp ten Lungenentzündung gestorben. Sie war erst sechsunddreißig ge wesen. Die biologische Uhr, um ein weiteres Kind zu zeugen und zu hoffen, daß dieses nicht mit demselben Defekt behaftet sein würde, war noch nicht abgelaufen gewesen. Tom hatte immer in der Furcht gelebt, man könnte ihm ein gesundes Geschwisterchen an die Seite stellen. Daran, glaubte er, wäre er endgültig zerbrochen. Joey Grimaldi machte eine unwirsche Geste. Dann besah er sich seinen Sohn mit plötzlich erwachendem Mißtrauen. »Irgend etwas stimmt nicht mit dir …« Tom bleckte die Zähne zu einem unsicheren Lachen. »Mir kommt es eher so vor, als stimmte es endlich … zumindest ein bißchen …« Die Augen seines Vaters wurden noch größer. Plötzlich leuchtete es warm darin auf, und er legte die schweren Hände auf Toms Schultern. »Du hast eine phantastische Gesichtsfarbe, mein Junge! Der Schlaf hat dir gutgetan!« Tom nickte mit Verschwörermiene. Der Schlaf, dachte er, und Fee. Die Erinnerung war verschwommen. Er wußte nur noch, daß er sich gewünscht hatte, mit ihr zu schlafen. Natürlich war es nicht dazu gekommen. Aber etwas … anderes war geschehen. Etwas ver gleichbar Intimes und Zärtliches …
»Vater …?« »Ja?« »Wäre es viel verlangt, wenn du heute bei der Vorstellung auf mich verzichten würdest?« Ein Schatten huschte über Joey Grimaldis Gesicht. »Es geht dir also doch nicht gut?« »Im Gegenteil!« Tom legte allen Enthusiasmus, zu dem er fähig war, in seine Stimme. »Es geht mir blendend! Darum möchte ich die sen Tag auch so verbringen, wie ich ihn am besten genießen kann. Ich wollte – Spazierengehen.« »Allein?« Grimaldis Gesicht verschloß sich vollends. Er wußte, wie grausam Menschen sein konnten, denen selbst kein Makel anhaftete. »Das geht nicht, und das weißt du!« »Gut, dann nehme ich Paula mit!« Paula zog seit Jahren als größte Frau der Welt mit ihnen, obwohl sie »nur« 229,8 cm maß und der offizielle Rekord fast drei Zentimeter höher lag. Ihr Gewicht von vier Zentnern war bei dieser Größe von untergeordneter Bedeutung. Neu für Toms Vater schien jedoch zu sein, daß Paula sich freiwil lig zu einer länger dauernden Bewegung entschließen könnte. Die Skepsis hob ihm die buschigen Augenbrauen. »Paula?« »Ja doch! Warum nicht?« »Wenn du sie wirklich überreden kannst … Aber dann fehlen mir schon zwei Programmpunkte …« Ehe er sich in seine Ablehnung vertiefen konnte, preßte sich Tom gegen ihn und flehte: »Bitte! Es geht mir so gut...!« Nach einem lauten Räuspern sagte Grimaldi: »Also gut. Aber bis zum Abend seid ihr spätestens wieder da! Und spaziert lieber au
ßerhalb des Ortes, wo euch nicht so viele Leute begegnen …« Die Furcht, sein Sohn könne außerhalb der Familie schutzlos Op fer von Hohn und Spott oder auch nur falschem Mitleid werden, be kam dadurch, daß Tom andererseits öffentlich »ausgestellt« wurde, groteske Züge. »Und noch etwas!« »Ja?« »Ich will es von Paula selbst hören, daß sie dich begleitet!« Tom nickte. »Ich renne, ich eile …!« Das tat er wirklich. Und ließ seinen Vater völlig verdutzt zurück.
* Llandrinwyth, Neujahr 1728 Es roch immer noch nach Schnee, aber er wollte nicht fallen. Der Himmel hatte eine Weite angenommen, wie sie Owain Glyndwr sel ten zuvor bemerkt hatte. Es war, als täte sich ein Abgrund über ihm auf. Es waren weitere Tiere verendet. Die Bauern fanden sie morgens völlig entkräftet in den Ställen, und einer behauptete, eine große Katze beobachtet zu haben, die auf dem Hals einer liegenden Milch kuh gekauert und sich am ausströmenden Blut des Tieres gelabt hat te. Owain Glyndwr stand diesem Geschehen absolut ohnmächtig ge genüber. Er wußte nicht mehr, was er glauben konnte und was nicht. Und
wie ihm ging es den meisten Bewohnern des Ortes, die ein zwar har tes und entbehrungsreiches, aber auch überschaubares Leben ge wohnt waren. Der vor einer Woche verschwundene Täufling – das Mädchen mit dem goldblonden Haar – war immer noch ohne eine Spur verschol len, obwohl sich der halbe Ort an der Suche beteiligt hatte. Seine Ge schwister, die tatsächlich wie irr durch Haus und Hof gerannt wa ren, als man sie fand, hatten sich inzwischen wieder gefangen, ohne sagen zu können, was geschehen war. Niemand – auch Owain Glyndwr nicht – glaubte noch, das Neuge borene irgendwo wohlbehalten auffinden zu können. Die Nächte draußen waren eisig geworden, und davon abgesehen, daß sich das Mädchen niemals aus eigener Kraft aus der Wiege hätte entfernen können, sondern entführt worden sein mußte, hätte es unter diesen Bedingungen keinen Tag im Freien überlebt. Daß jemand aus dem Dorf es an sich genommen haben könnte, hielt man anfangs noch für möglich. Einfach aus der Erwägung her aus, jemand könnte Mitleid mit dem Vater und den nun ohnehin auf schwere Zeiten zusteuernden Kindern gehabt haben. Möglicherwei se hatte jemand das Neugeborene bei sich aufnehmen und großzie hen wollen. Aber dieser Gedanke hielt keiner näheren Betrachtung stand. In ei nem Dorf wie Llandrinwyth hätte diese Absicht nicht lange verdeckt werden können. Nun waren es schon sieben Tage, und ein anderer, weit böserer Verdacht hallte als immer lauter werdendes Echo durch das von Berghängen umschanzte Dorf. Der Hexe gab man die Schuld! Jenem gelbäugigen Luder, an das Owain Glyndwr seine ganz eige nen Erinnerungen hatte. Sie, die Namenlose, verfolgte ihn bis in sei
ne Träume, als wollte sie ihn auch dort noch versuchen. Er hatte mit Clough Corwen, dem Wirt, gesprochen, um mehr über die Unbekannte in Erfahrung zu bringen. Aber Clough hatte behauptet, sie habe ihn nur nach dem schnellsten Weg nach Rhaya der, der nächstgrößeren Stadt, gefragt. Eine Auskunft, die er ihr be reitwillig erteilt habe. Warum auch nicht? Dabei hatte Clough Cor wen so unverschämt gegrinst, daß Owain Glyndwr die Schamröte ins Gesicht gestiegen war. Niemand aus dem Dorf war mit offenen Vorwürfen an ihn heran getreten, aber hinter vorgehaltener Hand wurde manches getu schelt. Owain Glyndwr war zu der Überzeugung gelangt, daß man – er konnte es nicht anders ausdrücken – irgend eine Wiedergutma chung von ihm erwartete. Er wußte nicht, was das sein könnte. Er wollte es nicht wissen. Als er an diesem Tag aus dem Fenster seines Gemaches in den Ort hinunterblickte, traf ihn das, was er sah, wie ein Huftritt ins Gesicht. Es war kurz vor Mittag, die Straße wirkte unnatürlich ausgestorben, aber unten bei Clough Corwens Gasthaus stand ein reiterloses Pferd, das Owain Glyndwr unter Tausenden wiedererkannt hätte! Um so verwunderlicher erschien es, daß sich nicht erneuter Auf ruhr gebildet und Menschen sich zusammengeschart hatten. Owain Glyndwr griff sich an die Kehle, als ihm dämmerte, warum sich niemand auf der Straße zeigte. Sie erwarten, daß ich mich darum kümmere! Sie sehen es als mei ne Pflicht an, ihnen die Teufelin vom Hals zu schaffen und vielleicht sogar … Ein flaues Gefühl kroch durch seine Gedärme. Die Vorstellung, daß die Hexe tatsächlich hinter dem Verschwinden des kleinen Mädchens stecken und dennoch an den Ort ihrer ruchlosen Tat zu
rückgekehrt sein könnte, mutete gar zu unwahrscheinlich an. Owain Glyndwr trat vom Fenster zurück und schloß es mit steifen Fingern. Er zauderte fast eine Stunde, während der er immer wieder hinter die Scheibe trat und überprüfte, ob sich nicht vielleicht doch ein anderer ein Herz faßte. Dies geschah nicht. Sie alle verkrochen sich wie erbärmliche Feiglinge hinter ihren Scheiben! Endlich überwand Owain Glyndwr das tiefgreifende Trauma, das ihn seit dem ersten der »Zwölften« im Banne hielt. Und heute war erst der achte Tag des Dodekahemeron, das am Epiphanias enden wür de. Owain Glyndwr war kein bißchen gespannt auf dieses schon jetzt unsägliche Jahr … Er rüstete sich mit Rosenkranz, Kruzifix und einem Fläschchen Weihwasser, dann machte er sich mit zitternden Beinen auf den kur zen Weg hinab ins Dorf. Die heimlichen Blicke der Bewohner spürte er körperlich. Die schwarze Stute stand reglos vor Corwens Haus und schien Owain Glyndwr mit höhnischer Gelassenheit zu mustern. Daß selbst ein Tier ihn bereits verachtete, drehte dem Geistlichen den Magen um. Seine Finger flochten sich um den Rosenkranz in der Manteltasche, und die wenigen Stufen zum Eingang gingen fast über seine Kräfte. Er trat durch die offene Tür in den Schankraum, in dem sich mit unter auch um diese Zeit schon der eine oder andere Gast verlor. Meist die Ältesten des Dorfes. Heute jedoch war die Stube leer. Auch Clough Corwen selbst hielt sich nicht darin auf. Das Feuer im Kamin war am Verlöschen. Keine Wärme strömte davon aus. Die Luft erinnerte an ein frisch geöffnetes Grab, dessen typischen Ge
ruch Owain Glyndwr immer in der Nase trug. Er blieb kurz stehen und sah sich um. Dabei spitzte er die Ohren, um herauszufinden, wo Corwen mit seinem unseligen Gast sprach. Die Geräusche, die schließlich tatsächlich zu ihm vordrangen, eng ten ihm die Kehle. Er wollte es zunächst nicht wahrhaben, aber es gab kaum einen Zweifel. Noch schwankenderen Schritts ging er auf die grobe Holztreppe zu, die ins darüberliegende Stockwerk führte. Die Stufen knarrten, aber dies ging in den weitaus lauteren Tönen unter, die aus einem der Zimmer drangen. Owain Glyndwr dampfte unter seinem Mantel. Er hatte noch nie soviel geschwitzt wie in diesen Tagen und Nächten. Als er die Tür vorsichtig einen Spalt öffnete, sah er die nur in Rie men gekleidete gelbäugige Hexe, die über dem flach auf dem Bett liegenden, derben Clough Corwen kniete, die ausgestreckten Arme in sein Haar gekrallt hatte, sich daran festhielt und ihr Becken über seinem wie ein Pfahl aufragenden Geschlecht kreisen ließ. Owain Glyndwr glaubte, gleich einen Herzschlag bekommen zu müssen. Japsend kämpfte er um den nächsten Atemzug. Die beiden Gestalten ließen sich in ihrer animalischen Begierde nicht stören. Owain Glyndwr hörte die kehligen Anfeuerungen, mit denen die Rothaarige den Wirt zu immer heftigeren Stößen animier te. Er hackte mit den Fersen in die Bettstatt und bäumte seinen Un terleib dem ihren rhythmisch entgegen. Dabei erzeugten die beiden die Geräusche, die Owain Glyndwr heraufgelockt hatten. Clough Corwen war nackt bis auf die Strümpfe. Er hatte einen muskulösen Körper, an dem auch der leichte Bauchansatz nicht stör te. Die Hexe selbst betrieb ihre Unzucht in einer Montur, die wie ein Gewirr aus Lederstreifen aussah, welche untereinander mit silbrig glänzenden Metallringen verbunden waren. Der Schoß, dort, wo Corwen sie »pfählte«, war ausgespart. Aus Owain Glyndwrs Rich
tung war sogar zu sehen, daß sie offenbar über keinerlei Schambe haarung verfügte. Alles an ihr war glatt und rein und von aristokra tischer Blässe. Diese Maske der Unschuld bot einen stark erotisieren den Kontrast zum Ausdruck ihres Gesichts und dem Flair, das die seltsame Lederkleidung erzeugte. Owain Glyndwr fühlte sich dagegen gefeit. Aber Clough Corwen schien diesem Weib hemmungslos verfallen. Der Geistliche überlegte, was zu tun war. Wenn er die Hexe in die ser Situation stellte, konnte leicht wiederum etwas passieren, was ihn dem Gespött der Leute preisgab. Ein winziger Fehler, und die Namenlose würde ihn erneut demütigen. Er hatte eine andere Idee, und er mußte sie umsetzen, bevor das unverfrorene Weib genug von ihrem Besteiger hatte. Owain Glyndwr zog sich auf Zehenspitzen nach unten zurück und verließ ebenso leise das Gasthaus. So schnell ihn seine Füße trugen, kehrte er in die Pfarrkirche zurück und durchwühlte einen der Schränke nach einem Säckchen, das er vor längerer Zeit von einem fahrenden Händler erstanden hatte, weil ihm die Kunststückchen, die dieser damit vorführte, gefielen. Mit dem Sack und einem Stichling kehrte er zu Corwens Haus zu rück. Alles in allem hatte er nicht länger als eine Viertelstunde für Hin- und Rückweg gebraucht. Dennoch ging er auf Nummer Sicher, schlich erneut ins obere Stockwerk und überzeugte sich, daß die bei den Kopulierenden noch einige Zeit miteinander beschäftigt sein würden. Mit weichen Knien kehrte er nach draußen zum Pferd der Hexe zurück. Es stand immer noch still und scheinbar unverrückbar an den Haltebalken gebunden, und seine Augen folgten in gewohnter Bosheit jeder Bewegung Owain Glyndwrs, solange sie sich in sei nem Blickfeld ereignete.
Der Geistliche bohrte ein Loch, etwa so groß wie die Kuppe seines kleinen Fingers, in ein leeres Fach der Satteltasche und schüttete da nach den Inhalt des mitgebrachten Säckchens hinein. In diesem Moment war es ihm gleichgültig, ob andere heimlich sein Treiben beobachteten. Da sie sich nicht aus ihren Häusern wag ten, spielte es keine Rolle. Aber auch nachdem er die Dinge in ihre Bahnen gelenkt hatte, fühlte er sich von keiner Last befreit. Im Gegenteil. Er wußte jetzt, daß er es zu Ende bringen mußte. Müden Schrittes kehrte er zur Pfarrkirche zurück, wo er vom Fenster aus abwartete, bis die gelbäugige Hexe Corwens Haus ver ließ. Er hoffte inständig, daß dies vor Einbruch der Dunkelheit ge schehen würde, sonst würde der Plan sofort auffliegen. Das Schicksal wollte es, daß die Fremde schon nach wenigen Mi nuten ihr Pferd bestieg und in scharfem Galopp die kopfsteinge pflasterte Hauptstraße entlang aus dem Dorf preschte. Owain Glyndwr starrte ihr mit brennenden Augen hinterher. Er wußte, das Schlimmste stand ihm noch bevor. Aber er hatte auch erkannt, daß er mit der zugefügten Schmach nicht würde wei terleben können …
* Gegenwart »Du hast … Llandrinwyth gefunden?« Lilith streifte die Benommen heit ab, für die sie selbst keine Erklärung fand. Noch einmal schmiegte sie sich fest an Beth’ warmen Körper, und sofort sprangen wieder Funken der Begierde wie Sternschnuppen durch ihre Sinne.
Auch der Durst erwachte. Der Hunger nach Blut … War sie nicht fortgegangen, um gerade diesen Durst zu stillen? Hatte sie nicht die Wohnung verlassen, weil sie das Alleinsein nicht länger ertrug? Fröstelnd gestand sie sich ein, daß sie alles andere als sicher war, es nicht getan zu haben. Zweifelsfrei schien hingegen, daß sie unge sättigt zurückgekehrt war … »So ist es!« bestätigte Beth. Ihrem Ton war klar zu entnehmen, daß sie von Liliths Verhalten betroffen war. Lilith hätte ihr die Sorge gern genommen – wenn sie selbst gewußt hätte, welcher Einfluß sie aus der Bahn geworfen hatte. Angestrengt forschte sie in ihrem Gedächtnis nach dem, was sich in den letzten Stunden zugetragen hatte. Aber sie vermochte es nicht zu greifen. Bereitwillig ließ Lilith sich ins Wohnzimmer führen. Beth pflückte ihre Umhängetasche vom Fußboden und packte auf dem Couchtisch aus, was sie mitgebracht hatte. Lilith stürzte sich auf die kopierten Blätter wie eine Ertrinkende auf den rettenden Strohhalm. Beth, die neben ihr Platz genommen hatte, tippte mit dem Finger auf die Stelle, um die es ging. Llandrinwyth. Lilith starrte auf die fliegenden Blätter und fragte: »Wie bist du darauf gekommen? Was sind das für – Kopien?« »Ausdrucke von Mikrofilmaufnahmen. Ich konnte dir schlecht die Originalkarten vorlegen«, antwortete Beth. »Die liegen sicher ver schlossen in den ›Katakomben‹ der Nationalbibliothek. Keine ist jünger als dreihundert Jahre. Aber man kann sich gegen geringes Entgelt Kopien ziehen lassen …« Lilith ließ den Blick genauer über das Papier schweifen. »Cymru«, las sie dieselbe Länderbezeichnung, die Jeff Warner benutzt hatte. Nach kurzem Suchen fand sie den nächsten Anhaltspunkt. »Radnor
…« Sie bemerkte kaum, daß Beth sich erhob und zur Regalwand wechselte, wo ihre umfangreiche private Bibliothek eingeräumt war. Als sie zurückkehrte, hielt sie eine aktuelle Straßenkarte Großbritan niens, Maßstab 1:200.000, in der Hand. Solche Touristenhilfen konn te man in jeder Buchhandlung erwerben. Darauf aber wurde Lland rinwyth, wie sie längst festgestellt hatten, verschwiegen. Beth faltete die Karte auseinander und legte sie neben die Kopien der antiquarischen Pergamente. Lilith ließ sie angespannt gewähren, als Beth einen Stift nahm und die Eckdaten der alten Position Llandrinwyth’ auf die aktuelle Karte übertrug. Sie hörte, wie die Reporterin überrascht den Atem aus stieß, ehe sie sagte: »Von wegen veränderte Ortsnamen … Das Kaff gibt es nicht! Da ist nichts als ›Gegend‹ an der Stelle, wo es einmal stand …!« Lilith schürzte nervös die Lippen. »Bist du sicher?« Beth reagierte ungewohnt humorlos. »Mach’s besser!« hielt sie ihr die Karten hin. Weder Mißtrauen noch Unglaube verleiteten Lilith dazu, es wirk lich zu überprüfen. Es war einfach nur … Hilflosigkeit. »Ein Ort, selbst wenn es nur ein kleines Dorf war, kann doch nicht einfach verschwinden …!« »Heutzutage nicht mehr«, nickte Beth, bereits wieder versöhnli cher. Sie sah, wie sehr Lilith die Sache nachging. »Früher vielleicht. Die Pest, Kriege … was weiß ich. Irgend etwas mag den Ort einst von den Landkarten getilgt haben.« »Vor oder nach dem Kontakt mit dem Lilienkelch?« »Was weiß ich?« »Ich will es genau wissen!«
Liliths Körper straffte sich, während Beth sich seufzend zurück lehnte. »Das habe ich befürchtet …!«
* Moe Marxx thronte ungnädig hinter seinem Schreibtisch. Der Blick aus seinen kohleschwarzen, tiefliegenden Augen erhellte sich auch nicht, als die fremde Frau nach kurzem Anklopfen in sein allseitig verglastes Redaktionsbüro trat. Er haßte Anklopfen (Zeitverschwendung allgemein), und er haßte, obwohl er das niemals offen ausgesprochen hätte, Frauen. Er liebte sie nur, wenn er sie auf die Größe zusammenstutzen konnte, die ihnen seiner Meinung nach gebührte. Fingerhut. Dann wurden sie akzeptabel. Bis zum nächsten Anschiß. Unnötig zu erwähnen, daß Marxx eingeschworener Junggeselle war. Unnötig auch der Hinweis, daß dies ein Segen für das weibli che Geschlecht war. Unter diesem Aspekt betrachtet, war er nichts anderes als ein Di nosaurier. Angehöriger einer aussterbenden Spezies. Wären da nicht noch seine unumstrittenen fachlichen Fähigkeiten gewesen … »Wer sind Sie? Was wollen Sie?« »Sind Sie an einer guten Story interessiert?« »Hätten Sie denn eine zu bieten?« Er vervollkommnete täglich den zynischen Schwung seiner Lippen. »Ich denke mal – ja!« »Sie denken …« Marxx zerdehnte das Wort wie einen alten Kau gummi. Die Wangen in seinem hageren Gesicht spannten sich. Er hatte die harsche Abfuhr schon auf der Zunge, als er sich spontan anders besann.
Einen Stuhl konnte er der verführerischen Erscheinung, deren Rei ze selbst ihm plötzlich zugänglich waren, nicht anbieten. Auf dem einzigen Stuhl des »Terrariums« saß er. Und das wollte er auch so belassen. »Ich bin ganz Ohr. Sagen Sie, was Sie zu sagen haben!« Nachdem die Frau gegangen war, saß Moe Marxx noch minuten lang wie das Opfer eines Schlaganfalls hinter dem Tisch seines tägli chen »Schnellgerichts«, von wo aus er seine Untergebenen abzuferti gen pflegte. Als einer der Redakteure zur morgendlichen Abnahme der Schlag zeilen hereinplatzte, erlebte er einen so stoisch ausgeglichenen Ty rannen, der alle Vorschläge vorbehaltlos absegnete, daß dem jungen Mann tatsächlich Begriffe wie »Notarzt« und »Krankenhaus« durch den Sinn geisterten. Am Ende war er aber einfach nur froh – und ging, ehe Marxx sein wahres Wesen wieder hervorkramte. Irgendwann griff Moe Marxx nach dem Telefonhörer und säuselte ein »Würden Sie so freundlich sein, gleich mal zu mir zu kommen?« hinein. Er mußte länger warten, als er normalerweise verkraftet hätte. Doch selbst das brachte ihn nicht aus der Ruhe. Das nächste Exemplar Frau enterte den Glaskasten. »Ja?« Moe Marxx studierte interessiert das Schwarze unter seinen Fin gernägeln. »Ich habe einen Job für Sie, MacKinsey! Einwände?« »Das kommt auf den Job an …« »Ist mit einer kleinen Reise nach England verbunden …« Er infor mierte sie mit dem Nötigsten und endete mit einem abermals zer dehnten: »Also …?« »Okay.« Marxx arbeitete intensiver an den Schätzen unter seinen Nägeln.
»Wann sprachen wir eigentlich zuletzt über eine Erhöhung des Ge halts?« »Ihres oder meins?« Er lachte abgehackt. Seine Lippen wölbten sich gönnerhaft nach außen. »Ihres natürlich!« »Noch nie – wenn ich genau überlege.« »Etwas dagegen, wenn ich verdoppele?« »Habe ich Bedenkzeit?« Er lachte abermals. Diesmal klang es wie Spucken. Als Macbeth sich Minuten später auf dem Parkplatz zu Lilith ins eigene Auto setzte, stand sie immer noch völlig unter dem Eindruck des gerade erlebten Wunders. Kopfschüttelnd meinte sie: »Ich liebe ihn, wenn er so gut zu mir ist! – Wie lange hält deine Hypnose an …?«
* Als Tom nicht, wie verabredet, bis zum Abend mit der »Langen Paula« zurückgekehrt war, begann Joey Grimaldi sich Vorwürfe zu machen, den Ausflug überhaupt zugelassen zu haben. Aber die mit tägliche Begegnung mit ihm hatte ihn dermaßen aus der Fassung ge bracht, daß er ihm vermutlich jede Bitte erfüllt hätte. Seit vielen Jah ren hatte er das erstemal das Gefühl gehabt, daß Toms erschüttern des Äußeres (vortretende Augen, schnabelartige Nase, winziger, fast lippenloser Mund) sich nicht weiter in Richtung Greisentod entwi ckelt hatte. Regelrecht erfrischt hatte Tom auf ihn gewirkt – voller Tatendrang. Und das, obwohl ihn bereits seit seinem fünften Le bensjahr gesundheitliche Einschränkungen wie Hüftleiden, Kno chengewebsschwund, Gelenkversteifung und was sonst noch plag
ten. Die Krankheit, von der sein Sohn seit der Geburt befallen war, nannte sich »Progeria infantilis«. Weltweit gab es nur etwa zwanzig Leidensgenossen, die, wie Tom, quasi »im Zeitraffertempo« lebten. Geistig war er rege, und seine sittliche Reife übertraf die eines Gleichaltrigen um einiges. Aber kein Arzt hatte ihm helfen können, nicht für alles Geld. Joey Grimaldi glaubte manchmal, daß dies die himmlische Strafe für die Art war, wie seine Familie nun schon in der fünften Genera tion ihr Brot verdiente … FREAKS – Die große Monstrositäten-Schau, stand auf den Seiten wänden der altmodischen Wohnwagen, die wie eine runde Wild westburg postiert waren und deren »Hof« bei gutem Wetter die Freiluftmanege bildete. Aber gutes Wetter war rar, und manchmal wechselte der Himmel in Minutenschnelle sein Gesicht. Deshalb war meist eine riesige Plane über die Pferdewagen gespannt, unter deren Dach die Vorstellungen auch bei leichtem Regen abgehalten werden konnten. Jahrein, jahraus ging das so. Der Direktor der Freak-Show fragte in den einzelnen Wagen nach, ob jemand Tom oder Paula gesehen habe. Die Antwort lautete über all gleich. Nein. Zuletzt betrat er den Wagen, den er sich mit Fee teilte, seit diese zu ihnen gestoßen war. Als er ihr erzählte, daß Tom immer noch über fällig war, schien sie betroffener als der Rest der großen »Familie«. »Ich werde mich darum kümmern«, versprach sie. »Sobald es rich tig dunkel ist, werde ich die Suche aufnehmen!« Er fragte nicht, warum sie so lange warten wollte. Er kannte den Grund.
Mit gesenktem Haupt flüsterte er: »Es ist ihm etwas zugestoßen – ich fühle es!« »Wir werden sehen«, sagte Fee. Sie unternahm keinen Versuch, ihm fadenscheinigen Trost zuzusprechen. Gerade als er den Wohnwagen wieder verlassen wollte, polterte die Lange Paula das kurze Treppenstück zur Tür hoch. Die Vibratio nen ihrer zweihundert Kilogramm pflanzten sich durch den ganzen Wagen fort. Selbst geduckt hätte sie Mühe gehabt, hereinzukom men. Sie war klug genug, gleich draußen zu bleiben. Joey Grimaldi öffnete die Tür und starrte sie nur an. Sein Adams apfel tanzte auf und ab. In diesem Moment glaubte er zu wissen, warum die Lange Paula außer Atem, verschwitzt und mit flackern dem Blick vor ihm stand. »Ist Tom …?« Das tot sparte er sich. Die Riesin verneinte aufgeregt. »Er war plötzlich weg«, keuchte sie. »Verschwunden! Ich habe nach ihm gesucht, bis es dunkel wur de. Aber er hat auf keinen meiner Rufe reagiert …« »Verschwunden …«, echote der Direktor der Freak-Show. Nicht tot … »Wo?« fragte Fee aus dem Hintergrund. »Wo genau?«
* Der Besuch bei Moe Marxx stellte nur ein kleines, wenn auch für Beth’ Finanzen enorm »fruchtbares« Intermezzo dar. Inzwischen standen sie kurz vor dem Abschluß der Vorbereitungen ihrer ge meinsamen Reise nach England. Lilith litt immer noch an schattenhaften Heimsuchungen – vagen
Erinnerungen an etwas absolut Verrücktes, das ihr widerfahren sein mußte. Aber sie konnte es nicht greifen. Es hatte mit ihrem »Ausset zer« zu tun, den Beth ihr geschildert hatte. Wirklich glauben mochte sie aber immer noch nicht, daß sie ein Messer gegen sich selbst erho ben hatte … »Sieh dir das an!« Beth kehrte von einem letzten Blitzbesuch in der Redaktion zu rück. Sie war nicht davon abzubringen gewesen, Moe Marxx noch einmal zu konsultieren und sich die Bestätigung zu holen, daß er mit ihrer Recherche-Reise für zwei Personen nach Wales auch wirklich einverstanden war. »Was hast du ihm nur alles eingeimpft, wovon ich nichts weiß?« hatte sie vor Verlassen der Wohnung gefragt. Selbst die thebaische Sphinx der alten Griechen wäre bei dem Versuch gescheitert, Liliths geheimnisvolles Lächeln zu imitieren. Mehr als dieses Lächeln war ihr nicht zu entlocken gewesen. Als sie nun heimkehrte, konzentrierte sich Beth’ Wissensdurst of fenbar nur noch auf eine ganz bestimmte Meldung in der mitge brachten Zeitung; natürlich der Sydney Morning Herald, frisch aus der Druckerpresse. »Lies!« verlangte sie knapp, fast atemlos. Lilith sah von dem Kartenstapel auf, den sie sich zum x-ten Mal vorgenommen hatte. Sie stellte keine unnötigen Fragen. Schon die Schlagzeile hatte es in sich: POLIZEICHEF CODD SPURLOS VERSCHWUNDEN – ENT FÜHRT? »Oha!« Lilith las weiter. Nach Informationen aus »gut unterrichte ter Quelle« wurde Virgil Codd, der allgewaltige Chef der Sydneyer Polizei, seit etwa drei Tagen vermißt. Aber erst jetzt war etwas dar über an die Öffentlichkeit gesickert. Er war seinem Büro im Haupt
quartier unentschuldigt ferngeblieben. Eingeleitete Nachforschun gen hatten ergeben, daß er sein Haus in einem Vorortbezirk Hals über Kopf verlassen hatte. Hinweise auf eine gewaltsame Entfüh rung hatte man bislang nicht gefunden. Dennoch wurde wild über die Hintergründe des mysteriösen Falls spekuliert. »Vor drei Tagen«, murmelte Lilith. »Das paßt!« nickte Beth. Sie hatte offenbar nichts von dem verges sen, was Lilith ihr zwischenzeitlich erzählt hatte. »Du meinst, Warner –?« »Ich meine!« bekräftigte die Freundin. Daß Codd in Diensten der Vampirsippe von Sydney stand, war längst keine sensationelle Enthüllung mehr. Zumindest nicht für sie beide. Etliche Indizien hatten darauf hingedeutet. Aber Lilith hatte bislang noch keine Gelegenheit gehabt, den Verdacht zu überprüfen. Jetzt schien es, als habe Jeff Warner, der »Gesandte« des HAUSES, ihr die Arbeit abgenommen. »Das würde bedeuten«, sagte Lilith, ohne sich wirklich mit dem Gedanken anfreunden zu können, »daß er einer der ›Befreiten‹ ist.« »Und nicht nur das«, unterstrich Beth. »Was noch?« »Dein ›Diener‹…!« Liliths Miene verschloß sich. Beth hatte ihren wunden Punkt be rührt. »Vergiß es!« »Wie du willst. Aber ich an deiner Stelle würde mich schon mal seelisch auf die anstehende Begegnung in nicht mehr ganz zwei Mo naten vorbereiten …« Wunder Punkt Nummer zwei. Laut Warners Worten hatte das HAUS eine größere Anzahl von Menschen, die in den Tagen zuvor auf dem Grundstück 333, Pad
dington Street verschollen waren, mit seltsamen »Früchten« ausge schickt, um überall im Land Dienerkreaturen von ihrem untoten Skla vendasein zu befreien. Mehr noch: sie in Menschen zurückzuver wandeln! Als »Preis« für diese Befreiung vom Bösen hatte Warner die Pflicht genannt, von nun an einem neuen Herrn – Lilith! – zu Diensten zu sein … Ihren Standpunkt zu vertreten und klarzumachen, daß sie solche »Diener« nicht wollte, war Lilith nicht möglich gewesen. Angeblich brauchte sie die »Befreiten« nicht einmal selbst ausfindig zu ma chen. Nach Ablauf der von Warner genannten Frist würden sie sich mit Lilith in Verbindung setzen, hatte es geheißen … Beth wurde klar, daß sie Lilith mit ihrer Bemerkung in Grübelei und schwere Gedanken zu stürzen drohte. Sie handelte, bevor es zu spät war, trat zu Lilith und legte eine Hand auf ihre Schulter. »Denk nicht darüber nach«, sagte sie leichthin. Ihre Hand rutschte über Liliths Brustbein tiefer und schob sich unter den Stoff ihrer Symbionten-Bluse. »Ich habe da ein Mittel, das lästige Gedanken ga rantiert verschwinden läßt.« Lilith erschauderte, ließ augenblicklich von dem Kartenmaterial ab und lehnte sich in der Couch zurück. »Und was?« fragte sie unschuldig, obwohl sie die Antwort längst kannte. »Nimm mich«, antwortete Beth geradeheraus. »Mit Haut und Haa ren. Ich habe Lust auf dich …« Es wurden magische Momente. Für sie beide. Liliths Mund strich über Beth’ zartknospende Brüste. Beth strei
chelte und küßte ihrerseits Liliths schwellenden Busen, koste ihren flachen Bauch und scheute sich auch nicht, mit behutsamem Drang in ihren feuchten Schoß zu tauchen, um dort zu vollbringen, was Li lith zuvor nur von bereitwilligen Männern erfahren hatte. Die Be rührungen der Freundin ließen Lilith in schierer Lust zerfließen. »Du bist wundervoll«, hauchte sie, während Beth ganz selbstver ständlich tiefer glitt, um mit Lippen und Zunge zu vollenden, was ihre Hände vorbereitet hatten. Lilith legte sich weit zurück in die warmen Kissen, schloß die Au gen und gab sich minutenlang nur den Bemühungen der erfahrenen Geliebten hin. Daß Beth sich ausschließlich dem eigenen Geschlecht zugezogen fühlte, erschien ihr als glückliche Fügung, um auch diese Seite der Lust kennenzulernen. Als sie nach dem ersten Orgasmus nun ihrerseits Beth’ Schoß schmeckte und liebkoste, wußten sie beide, daß dies noch nicht alles gewesen war. Wieder und wieder umgarnten sie einander, und Li lith spürte das in ihr pulsierende Leben intensiver als je zuvor. … kein einsamer Schatten! Ich bin kein …
* Vergangenheit Clough Corwen maß Owain Glyndwr mit abfälligem Blick. »Nie mand war hier!« beharrte er. »Wie kommt Ihr nur darauf? Das ist absurd!« Absurd war, daß der Wirt tatsächlich überzeugt schien von dem, was er sagte.
Für Owain Glyndwr war es der letzte Beweis, daß die gelbäugige, rothaarige Hexe Macht über Menschen hatte. Zugleich fragte er sich aber, ob Clough Corwen sich wirklich nicht an seine ausschweifen den Exzesse mit ihr erinnerte – oder ob auch er vielleicht soviel Scham und Schande empfand, daß er sich in eine Gedächtnislücke geflüchtet hatte. Corwen war als rauhbeiniger Zeitgenosse bekannt, der die Kirche mied, seit er den Kinderschuhen entwachsen war. Solche Sensibilität war ihm eigentlich nicht zuzutrauen. Dennoch war Owain Glyndwr sicher, daß es ihm nicht entgangen wäre, wenn der Wirt ihn mit Vorsatz belogen hätte. Wortlos wandte er sich ab und verließ das Haus. So oft wie in den letzten Tagen hatte er das Dorf noch nie in kurz en Abständen durchwandert. Die Pfarrkirche stand leicht erhöht und bildete das ungefähre Zentrum von Llandrinwyth. Die etwa zweihundert Häuser waren tieferliegend darum angeordnet. Noch ein gutes Stück von Corwens Haus entfernt erweiterte sich die ge pflasterte Straße zu einem etwas größeren Platz mit gemauertem Brunnen. Fahrende Händler stellten hier an manchen Tagen ihre Waren zur Schau, und über die niedrigen Bruchsteinbauten hatte man einen kaum verstellten Blick zum Snowdon, dem größten Berg der Insel, der auch jetzt, im Gegensatz zum Umland, mit einem »Schneehut« gekrönt war. Eingebettet in das darum gruppierte Ber gland gab es viele fruchtbare Täler wie jenes, in dem Llandrinwyth lag. Die wahre landschaftliche Schönheit entfaltete sich erst von Früh jahr bis Spätherbst. Die Winter hier oben waren öde, dunkel und entbehrungsreich. Heute war die Luft zudem von ungewohnter Stil le. Nur ein leiser Wind zerrte an der Mantelkapuze des Geistlichen. Er schlenderte noch am Friedhof vorbei, wo sie die Mutter des ver
schwundenen Täuflings im leicht gefrorenen Boden beigesetzt hat ten. Das Holzkreuz mit dem eingeritzten Namen war so trist, daß Owain Glyndwr die daran klebende Trostlosigkeit bis ins Mark zu spüren glaubte. Betroffen über solche Gedanken wandte er sich ab und marschier te zur Pfarrkirche zurück. In einer Stunde würde es dunkel werden. Dann mußte sich zeigen, ob sein Plan aufging. Beim Betreten des Kirchenschiffs war sein Erstaunen groß, als Guy Fenians mächtige Gestalt vor dem Altar kniete. Der heilkundige Schmied erhob sich sofort, als er Owain Glyndwr eintreten hörte, und stapfte mit festen Schritten auf ihn zu. Fenians Haare sahen aus wie dünne, zusammengerollte Metallspä ne. Im Schein der wenigen Kerzen hatte auch das Gesicht des wort kargen Mannes einen fast metallischen Glanz. »Ja?« fragte Owain Glyndwr. Er sah sofort, daß Guy Fenian mehr auf dem Herzen hatte als einen normalen Kirchenbesuch. Dennoch verblüffte ihn das, was der bärenstarke, knapp Vierzigjährige zu sagen hatte. »Ich habe Euch beobachtet, Hochwürden«, sagte er. An Respekt hatte er es nie mangeln lassen, und auch nach der öffentlichen De mütigung seines Geistlichen schien sich daran nichts geändert zu haben. Für Owain Glyndwr war dies Balsam auf die Seele. »Beobachtet?« Er verstand nicht, worauf Guy Fenian hinauswollte. »Wobei?« »Als Ihr Euch am Pferd der Hexe zu schaffen machtet …« Owain Glyndwr faltete die Hände abwartend vor dem Bauch. »Du weißt, was ich tat?« »Nein.« Guy Fenian schüttelte das Haupt. Er war in speckiges Le
der gekleidet, unter welchem sich eine zentimeterdicke Schurwoll schicht gegen die Kälte befand. Ein breiter Gürtel teilte seinen hoch gewachsenen Körper in zwei etwa gleich große Hälften ein. Mehrere momentan leere Schlaufen verrieten, daß sich normalerweise Werk zeuge darin befanden. Aber nicht, wenn er die Kirche besuchte. »Ich hoffte, Ihr würdet es mir sagen.« »Warum?« Owain Glyndwrs Mißtrauen erwachte. »Ihr habt einen schweren Stand zu Zeiten …« Er verkniff sich eine nähere Ausführung. »Jedenfalls schuldlos. Ihr seid ein rechtschaffe ner Mensch, Pater. Ich beobachte Euch lange genug. Was die Hexe Euch antat – was sie uns allen antat, muß gesühnt werden! Ich kam, um Euch meines Beistands zu versichern!« »Wie meinst du das, Schmied?« »Ihr habt etwas vor – ich weiß es. Jeder im Ort weiß es, denn viele haben Euch beobachtet!« Das bestätigte nur, was Owain Glyndwr ohnehin vermutete. Er be schloß, Fenian zu vertrauen. Insgeheim fühlte er Erleichterung, nicht länger allein zu sein. Allein gegen das Böse. Als sich der Schmied angehört hatte, zu welchem Mittel sein Geist licher gegriffen hatte, spiegelte sich erst Staunen, dann unverhohle ne Bewunderung in seinem fleischigen Gesicht. »Phosphorkörner«, wiederholte er mit wiegendem Kopf und fügte hinzu: »Ich teile Eure Meinung, daß die Hexe für das Verschwinden des Kindes verantwortlich ist!« »Und ich deine, daß sie eine Hexe ist!« gab Owain Glyndwr zu rück. Er fühlte sich von wohltuendem Optimismus durchdrungen. Mit einem starken Verbündeten wie Guy Fenian konnte gelingen, was bis dahin zweifelhaft gewesen war. »Bleibt nur zu hoffen, daß der Wind uns keinen Strich durch die Rechnung macht«, sagte der Schmied.
»Wir werden sehen. Geh jetzt nach Hause. Ich komme in einer Stunde bei dir vorbei. Dann ist es dunkel genug, um der Fährte – wenn sie noch da ist – zu folgen.« »Ich besorge zwei Ponys«, sagte Fenian. »Und etwas Proviant. Wer weiß, wie weit durch die Nacht unser Weg führt.« Owain Glyndwr, der die Suche nach dem Unterschlupf der Hexe eigentlich zu Fuß hatte aufnehmen wollen, nickte dankbar.
* Wie schon die Tage zuvor hatte er in einem Werk studiert, das be reits 1487 mit dem Segen der Kirche zur Veröffentlichung gelangt war. Im Volksmund wurde es »Der Hexenhammer« genannt. Der la teinische Titel lautete Malleus Maleficarum. Darin wurden bewährte Methoden aufgezählt, wie übernatürliche Wesen zu erkennen und zu vernichten seien. Im Falle der gelbäugigen Frau, die Llandrinwyth heimgesucht hat te und wohl immer noch heimsuchte, ging Owain Glyndwr weiter hin davon aus, es mit einer Hexe zu tun zu haben. Dazu paßte die Beobachtung des Bauern, der die Katze auf seiner verendenden Kuh bezeugte. Im »Hexenhammer« wurde vor allem Hexen die Fähigkeit nachgesagt, sich in dieses seiner Behendheit wegen gerühmte Tier zu verwandeln. Für welchen dunklen Zweck die Teufelsbraut das Neugeborene geraubt hatte, ließ sich aus dem Buch nicht zweifelsfrei entnehmen. Aber Owain Glyndwr schauderte beim bloßen Gedanken an mögli che Rituale. Es sollte Hexen geben, die Kinder nur stahlen, um durch »Kochen und Auslassen« die Ingredenzien für ihre berüchtig ten Hexensalben zu komplettieren, die ihnen Flüge auf ihren Besen ermöglichten.
Owain Glyndwr füllte eine Tasche mit Dingen, die ihm von seiner täglichen Arbeit her vertraut waren. Für Absonderlichkeiten wie »geweihte Dolche« und ähnliches hatte er persönlich nichts übrig. Dennoch sah er es, als er beim Schmied eintraf, nicht ungern, daß dieser ein Kurzschwert umgürtete und vollmundig verkündete: »Ich kenne mich auch ein wenig aus, Hochwürden! Man muß ihnen den Kopf abschlagen und ihn anschließend sofort verbrennen!« Owain Glyndwr äußerte sich dazu nicht, sondern ließ sich von Guy Fenian beim Besteigen des Ponys helfen. Der Mond beleuchtete den Weg, als sie den Ort verließen. Und der Mond funkelte auch in den verwehten, schwach erkennbaren Kör nern, die die Hexe bei ihrem Ritt verloren hatte. Die Orientierung war nicht einfach, aber möglich. »Euch darf man sich nicht zum Feinde machen«, witzelte Guy Fe nian. Es war herauszuhören, daß er das scherzhaft Kaschierte ernst meinte. Der Schmied imponierte Owain Glyndwr immer mehr. Eigentlich zog er den größten Teil seiner Kraft aus diesem unerschütterlichen Begleiter, den Gott ihm in seiner Barmherzigkeit gesandt hatte. Eine gute Meile hinter dem Dorf meinte Fenian dann: »Wenn sie noch weit geritten ist, werden uns die ›Wegmarken‹ ausgehen …« Er hatte recht. Owain Glyndwr starrte auf den flirrenden »Engels staub« am Boden und wußte plötzlich nicht mehr sicher, ob er sich nicht besser gewünscht hätte, die Spur möge versiegen. Es gab nichts, wovor ihm banger war als vor einer direkten Auseinander setzung mit der Teuflischen, die ihn schon einmal ihrem Spott aus gesetzt hatte. Dennoch gab er nicht auf. Vielleicht gehörte auch ein Hauch von Todessehnsucht, wie er wohl jeden Menschen im inners ten Kern erfüllte, zu dieser Entscheidung. Ganz sicher jedoch spielte der ganz unchristliche Wunsch nach persönlicher Vergeltung mit.
Wie er dieses Weib verachtete! Kurz darauf zeichnete sich ab, wohin die schwefeläugige Heimsu chung sich nach Verlassen des Dorfes gewandt hatte. Aber der auf kommende Verdacht war nicht dazu angetan, aufzuatmen. »Bei Jesus Christus, unserem Herrn!« keuchte auch Guy Fenian, als sie den Kreuzweg erreichten. Vom Hauptweg führte ein schma ler, kaum benutzter Pfad höher ins Gebirge. Dort oben – das wußten Fenian und Glyndwr – stand nur Rhymneys Einsiedelei! Der alte Rhymney hatte vor vielen Jahren Llandrinwyth nach dem siechvollen Sterben seiner gesamten Familie an einer bis heute nicht identifizierten Krankheit den Rücken gekehrt. Obwohl – Owain Glyndwr und wohl auch der Schmied, der damals versucht hatte, die Befallenen zu heilen, wußten, daß Rhymney die Abkehr in die felsige Einöde von der Dorfbevölkerung nahegelegt worden war. Man hatte ihn spüren lassen, daß man Angst vor ihm hatte – auch noch, nachdem sicher schien, daß Rhymney überleben würde und keine Ansteckungsgefahr mehr darstellte. »Wie lange ist es her?« fragte Owain Glyndwr. Er fragte es sich selbst, aber Guy Fenian antwortete: »Dreizehn Jahre. Ich muß oft an ihn denken. Ihr habt Euch damals vor ihn zu stellen versucht. Viel leicht, wenn er es selbst noch gewollt hätte, würde er heute noch bei uns leben …« Owain Glyndwr nickte ohne rechte Überzeugung. Der einzige Grund, warum er seiner Gemeinde ihr Verhalten überhaupt verzie hen hatte, war, daß jedes Haus im Laufe eines Jahres etwas zum Un terhalt Rhymneys beisteuerte. Die Almosen wurden regelmäßig in der Nähe seiner Klause abgestellt. Allein hätte er sich niemals ernäh ren können. Die deponierten Lebensmittel und ab und zu auch etwas Kleidung waren bei der nächsten Lieferung nie mehr an Ort und Stelle. Daran
allein ließ sich ersehen, daß Rhymney – inzwischen weit im sech zigsten Jahr – immer noch lebte. Aber niemand, auch Owain Glynd wr nicht, hatte ihn in den vergangenen dreizehn Jahren je wieder zu Gesicht bekommen. Glyndwr fragte sich in diesem Moment, ob es wirklich aus Re spekt vor Rhymneys Entscheidung so geschehen war – oder einfach nur, weil niemand mehr zu viele Gedanken an ein charakterliches Armutszeugnis verschwenden wollte. Ein Vorwurf, den auch er sich ans Revers heften mußte … Sie stiegen von den Ponys und führten sie hintereinander an den Zügeln zwischen den engen Felswänden nach oben. Der Phosphor glitzerte noch eine Weile auf dem Boden – dann hörte das Gefunkel schlagartig auf. »Wie ich befürchtete«, raunte Guy Fenian. Laut zu reden wagte keiner von ihnen mehr. Selbst das Geklappe re der Hufe erschien ihnen inzwischen zu verräterisch. Nur die Tat sache, daß sie sich hier auskannten, beruhigte sie etwas. Lange bevor sie Rhymneys tief in den Fels führende Einsiedelei er reichten, weitete sich der Pfad wieder zu einer saftigen Wiese mit ei nem von einem Gebirgsbach durchschnittenen Wäldchen. Dort, un ter immergrünen Tannen, ließen sie die Ponys zurück und legten die letzte halbe Meile zu Fuß zurück. Ihre Augen hatten sich genügend an die Dunkelheit gewöhnt, um relativ sicheren Schritts voranzukommen. Owain Glyndwrs Ge schnaufe wurde jedoch mit der Zeit immer lauter. Er war Märsche nicht gewöhnt. Die deutlich bessere Kondition besaß Fenian. »Wenn wir all das glücklich überstehen«, seufzte der Geistliche ir gendwann, »halte ich eine Messe nur zu deinen und Gottes Ehren ab, Schmied!« »Zu Ehren des Kindes wäre mir lieber«, erwiderte Fenian. »Auf
daß wir es unversehrt finden … Und – beim Feuer in meiner Esse – das werden wir!« »Still jetzt!« zischte Owain Glyndwr. Vor ihnen zeichnete sich die Öffnung in der Felswand ab. Dort wurden die Almosen hinterlegt, und jeder ahnte, daß sich irgendwo im Verlauf der Höhle Rhymneys Unterschlupf befand. Es gab hier nichts anderes. Das Loch im Fels aber gähnte nicht dunkel, sondern war von ei nem gespenstisch roten Schein erfüllt. Vermutlich rührte es von ei nem Feuer, das Rhymney (oder die Hexe!) in Gang hielt. Owain Glyndwr hatte die ganze Zeit verdrängt, wie er sich ein Ar rangement zwischen diesen beiden Charakteren, die so gegensätz lich wie Feuer und Wasser waren, eigentlich vorstellte. Nun, unmit telbar vor der Beantwortung dieser Frage, schauderte ihn. Er hatte nicht mehr nur Sorge um das entführte Neugeborene, sondern auch um den alten Rhymney …! Guy Fenian hatte sein Schwert am Knauf aus der Gürtelscheide gezogen. Er verströmte immer noch Zuversicht, doch wer genau darauf achtete – und das tat Owain Glyndwr –, der vermochte eine Veränderung gegenüber dem Beginn ihrer Suche auszumachen. Owain Glyndwr sah sich gefordert. Er schulterte seine Tasche an einem breiten Riemen und ging voraus. Ihm war schlecht vor Aufre gung. Aber es gab kein Zurück mehr. Er hätte auch noch vor dem letzten Menschen von Llandrinwyth, der ihm Respekt zollte, das Gesicht verloren. »Vorsichtig, Herr Pfarrer!« flüsterte der Schmied und heftete sich an seine Fersen. Der Höhleneingang nahm sie auf. Sie tauchten in ein Licht, das unmöglich von einem einfachen Feu er stammen konnte.
Owain Glyndwr begann ein leises Gebet zu murmeln, als er das Kribbeln überall dort, wo der rote Schein ihn berührte, spürte. Guy Fenian hinter ihm fluchte ebenso leise. Beides änderte wenig. Langsam stießen sie tiefer in den gewundenen Stollen vor, der ir gendwo in eine größere Kaverne – Rhymneys Klause – münden mußte. Zuvor aber hörten sie Stimmen. Das Weinen eines Kindes! Einen Moment kam ihr Vormarsch ins Stocken. Aber dann war es gerade dieses Geräusch, das die Selbstzweifel beendete. Guy Fenian drängte neben Owain Glyndwr, und Seite an Seite eilten sie weiter. Der Geistliche hatte sein geweihtes Kruzifix aus der Tasche gezogen. Das kühle Eisen, aus dem Fenian es geschmiedet hatte, schuf weite re Zuversicht. Bis sie die Stelle erreichten, wo der Stollen endete. Eine unsichtbare Mauer brachte sie gleichzeitig zum Stillstand. Es war keine wirkliche Barriere – es war nur das Entsetzen über das, was sich ihren Blicken bot, als sie die Höhle und das satanische Schauspiel darin überblicken konnten. Owain Glyndwrs Finger krampften sich um das Kruzifix, als woll ten sie es in einem grotesken Kraftakt zerdrücken. Guy Fenian ver fuhr ähnlich mit seinem Schwert. In der Mitte der Höhle stand der Ursprung des lockenden, absto ßenden, wunderbaren, häßlichen roten Schimmers, der sie hierher geführt hatte. Es war ein … Gefäß. Ein unheilvolles Gebilde von selbst düsterro ter, schroffer, aus tausend Teilen zusammengesetzt wirkender Ober fläche. Der Gegenstand war ganz offensichtlich einer Blume nach
empfunden – einer Lilie. An der Spitze eines fast schnörkellosen Stiels befand sich der »Blütenkelch«, in dem es dunkel und feucht schimmerte. Blauschwarz. Das rötliche Licht ging von den Außen flächen des Gefäßes aus. Als Owain Glyndwr es sah, durchzuckten ihn Assoziationen, die ihm angesichts der Frau, die vor dem Kelch am Boden kauerte, wie pure Blasphemie anmuteten: Das heilige Abendmahl … Wein aus Was ser, der SEIN Blut symbolisierte … Von seinen Lippen löste sich gequältes Wimmern. Er hörte erst auf, als sich Fenians zupackende Hand in seinen Arm grub. Die kurze visionäre Schau erlosch. Owain Glyndwr atmete wieder freier. Er wußte nicht genau, was hier geschah. Er erkannte nur, daß sie Zeugen eines Rituals wurden, das sie besser nicht gesehen hätten, und von dem sich auch nicht sagen ließ, wie lange es schon andau erte. Das Neugeborene lag nackt inmitten der Kälte auf einem dünnen Tuch (es ist nicht kalt, wisperte es in Owain Glyndwrs Hirn) und schrie sich die Seele aus dem Leib. Ein ungleich schlimmeres Bild aber bot Rhymneys Leichnam, der an einem Pfahl hing, welcher ihm zu Lebzeiten offenbar als Aufbe wahrungsort seines wenigen Geschirrs gedient hatte. Die Nägel, die die jetzt am Boden verstreuten Töpfe, Pfannen und anderen Utensi lien getragen hatten, bohrten sich in sein Rückenfleisch und hielten ihn auf diese makabre Weise aufrecht, obwohl das Leben sich längst aus ihm verabschiedet hatte – womöglich seit Ankunft der Hexe, dachte Owain Glyndwr mit einem fauligen Geschmack im Mund. »Es ist die Gelegenheit!« riß Guy Fenian die Initiative an sich, wäh rend Owain Glyndwr noch unfähig, einen Finger zu rühren, da stand. »Ihr nehmt das Kind – ich kümmere mich um die Teufels
braut! Sie sieht und hört uns nicht in ihrem verfluchten Treiben …!« Owain Glyndwr wünschte sich, er hätte diese Zuversicht teilen können. Alle hehren Vorsätze verpufften im Angesicht dieser spuk haften Grausamkeiten. Erst Guy Fenians erneuter Ansporn setzte ihn in Bewegung. Er tappte tiefer in die noch dichter werdende Röte, die ihm plötzlich mehr zu sein schien als bloßes Licht. Sie er schien ihm auf eine unbeschreibliche Weise … gefräßig! NEIN! stoppte er sich. So darf ich nicht denken! Ich muß stark sein – wie Guy …! Aus den Augenwinkeln sah er den Schmied sich der gebeugt sit zenden Hexe nähern, die mit ihrem Gesicht den felsigen Grund be rührte (wie meine Lippen ihre Stiefel, dachte Owain Glyndwr bizarr). Sie trug wieder nicht mehr als das Geflecht von Lederriemen, das ihre schweren Brüste kaum zu bändigen vermochte und an den Sei ten vorquellen ließ. Owain Glyndwr schoß das Blut in den Kopf. Aber er konzentrierte sich auf das schreiende Neugeborene, huschte darauf zu und hob es samt Decke zu sich empor. Im selben Moment, als er es gegen seinen Körper drückte, hörte das Gebrüll auf. Sofort wurde auch die Röte dunkler, fast purpurfarben … Owain Glyndwr sah Guy Fenian mit erhobener Klinge vor der Hexe stehen. Er stieß einen gutturalen Schrei aus, und schon sauste das Schwert auf ihren Nacken nieder. Owain Glyndwr schloß kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, erwartete er, den Kopf der Teufelsbraut rollen zu sehen. Aber sie kauerte unverändert da. Guy Fenians Klinge klebte an ihrem Nacken, ohne ihn gespalten zu haben, und in den Augen des Schmieds war darüber die größte Verblüffung zu lesen. »Schnell, gehen Sie, Herr Pfarrer!« stieß er aus. Mit einem heftigen
Ruck löste er das Schwert von der Hexe und taumelte drei Schritte zurück. »Gehen –«, wiederholte er, kam aber nicht weiter. Owain Glyndwr sah gerade noch, daß auch der Hals der Hexe – dort, wo die Klinge sie hatte töten sollen – von einem dünnen Leder band umgeben war. Dann erhob sich die Frau, die Clough Corwen wie ein brünstiger Stier bestiegen hatte. Sie richtete sich auf, wie Owain Glyndwr noch keinen Menschen hatte aufstehen sehen. Es war eher eine Umstrukturierung des gesamten Körpers. Aus der ge rade noch nach vorn gebeugt kauernden »Skulptur« wurde eine auf recht stehende. Einfach von einem Wimpernschlag zum nächsten. Die Namenlose stand in voller Größe Guy Fenian zugewandt. Owain Glyndwr, der hinter ihr stand, schien sie nicht zu bemerken. Der Geistliche hielt das Neugeborene mit einem Arm. Mit dem an deren zerrte er die Flasche mit Weihwasser aus der Tasche. Er war tete nicht länger, sondern entfernte den Korken mit den Zähnen und besprengte damit den Rücken der Hexe. Gebetsformeln sprudelten über seine Lippen. Dort, wo die Flüssigkeit auftrat, reagierte sie wie ätzende Säure mit dem Fleisch der Frau. Owain Glyndwr war geschockt über die unerwartete Wirkung. Dann wirbelte die Teufelsbraut herum und fauchte ihn aus einer abscheulich verwandelten Fratze an. Die Schönheit war von ihr ab gebröckelt wie eine zerbrochene, lehmige Maske. Ihre Schwefelau gen kochten. »Aaah, Priesterchen …!« Ihre Zunge stieß zwischen den Lippen hervor, wurde länger und länger und züngelte Owain Glyndwr feucht entgegen. In diesem Augenblick nutzte Guy Fenian die Ablenkung, um sein Schwert erneut niederfahren zu lassen. Diesmal zielte er am Nacken vorbei und schlug in die Hüfte der Hexe. Sein Gesicht war gerötet,
als wollte er einen jungen Baum fällen. Und tatsächlich hackte die Klinge ungehindert in den Leib der Schwefeläugigen, die mit einem überraschten Röcheln zusammenklappte. »Gehen Sie, Herr Pfarrer – so gehen Sie schon! Ich bringe das hier allein zu Ende!« rief der Schmied und zog das Schwert aus dem He xenkörper. Owain Glyndwrs Augen weiteten sich, als er sah, daß kein Blutstropfen daran klebte. Das Kind in seinem Arm wand sich. Trotzdem schleuderte er noch einmal Weihwasser und das eiserne Kruzifix gegen den verderbten Hexenleib. Die getroffene Haut warf Blasen. Das Kruzifix haftete sekunden lang an dem sich windenden Körper, und als es abfiel, hinterließ es ein geschwärztes Brandmal. Owain Glyndwr ertappte sich dabei, daß ihm die Qualen dieses Weibs wohltaten. Erst als er merkte, daß Guy Fenian ihn verwun dert beobachtete, wandte er sich dem Stollen zu, der aus der Kaver ne führte. Noch einmal hielt er ein, als die Stimme des Schmieds Überra schung kundtat. Im Umdrehen sah Owain Glyndwr fassungslos, wie der Leichnam Rhymneys sich mit ruckartigen Bewegungen von den Nägeln frei machte, auf Guy Fenian zutaumelte und erst durch einen wuchtigen Schwertstreich gestoppt werden konnte. Enthauptet brach der schon vorher tote Einsiedler neben der Satansbraut zusammen. Owain Glyndwr verließ endgültig die Höhle. Noch immer war alles in roten Schein gehüllt. Aber wieder schien dieses Licht eine Nuance dunkler geworden zu sein, als zöge es sei ne Kraft aus der nun sterbenden Hexe. »Vergiß dieses Gefäß nicht, wenn du nachkommst!« rief der Geist liche noch. Dann hastete er durch die Purpurhelle auf den Ausgang
zu. Wenig später holte ihn ein gräßlicher, abrupt abbrechender Schrei aus der Kehle der Hexe ein, worauf er das strampelnde Neu geborene schützender unter seinen Mantel preßte und in die stern klare Nacht hinaustrat. Er wartete minutenlang auf Fenian. Das Kind schrie sich immer stärker ein. So laut, daß sich Owain Glynd wrs Nerven zum Zerreißen spannten. Der rötliche Schein erlosch von einem Moment zum anderen. Stumpfe Schwärze legte sich wie ein Vorhang über den Eingang zur Höhle. Die Hexe ist tot! dachte Owain Glyndwr tiefbefriedigt. Als Guy Fenian nach einer weiteren Spanne immer noch nicht auf getaucht war, das Neugeborene aber immer unruhiger wurde, gab der Geistliche sein Warten auf. Er verließ sich darauf, daß der Schmied keinerlei Mühe haben würde, ihm in den Ort zurück zu fol gen. Obwohl er in der Folge immer wieder zurückblickte, um im Sternenlicht Ausschau nach Fenian zu halten, entdeckte er keine Spur von ihm. Die beiden Ponys scharrten unruhig mit den Hufen. Owain Glynd wr band das seine los, führte es den engen Hohlweg hinab, saß dann mit dem Neugeborenen auf und ritt in langsamem Trab nach Lland rinwyth zurück. Das Dorf lag dunkel. Owain Glyndwr hielt nicht vor dem Haus des Kindsvaters, sondern brachte das Neugeborene weiter zur Kir che. Es hatte aufgehört zu schreien und zu zappeln und schien in er holsamen Schlaf verfallen. Er legte es in die Kissen seines Bettes und läutete dann eigenhändig die Kirchenglocke. Ihr lauter Klang weckte jeden Mann, jedes Weib und jedes Kind in Llandrinwyth. Nach und nach strömten sie herbei, um nachzu schauen, was passiert sei. Die Botschaft, die Owain Glyndwr zu verkünden hatte, machte ihn
im Handumdrehen vom still Verachteten zum euphorisch gefeierten Helden dieser einfachen Leute. Nur Guy Fenian ließ lange auf sich warten …
* Mallwyd, Gegenwart Als sich die Tür hinter dem rauhbeinigen Wirt schloß, lag eine zwei tägige »Tour de force« hinter Lilith und Beth. Nachdem sie auf dem Londoner Flughafen Heathrow zwischenge landet und vom sprichwörtlich englischen Schmuddelwetter emp fangen worden waren, hatten sie den Weg mit einem Anschlußflug nach Birmingham fortgesetzt. Es hatte keine längeren Wartezeiten gegeben, und auch die Anmietung eines geländegängigen Rover war überraschend glatt verlaufen. Den nötigen Papierkram hatte stets Beth erledigt. Wie schon bei Liliths Abstecher nach Indien* waren nur die Paß kontrollen am Flughafen wirklich heikel gewesen. Die überwiegend laxe Einstellung des Sicherheitspersonals hatte ihnen über das Di lemma hinweggeholfen, daß Lilith immer noch keine hieb- und stichfesten, sprich gültigen Ausweispapiere besaß. Ein Manko, mit dem sie wohl noch länger würde leben müssen. Sie hatte sich mit einem älteren Reisepaß von Beth behelfen und gegebenenfalls auf ihre Suggestivkräfte vertrauen müssen. Beides war nicht ernsthaft geprüft worden, da Lilith sich geschickt aus schließlich männlichen Kontrolleuren zugewandt hatte. Und deren Aufmerksamkeit hatte prompt mehr dem »Original« als irgendwel *siehe Vampira 6-8
chen Ablichtungen gegolten. Glücklicherweise. Denn erstens wußte Lilith inzwischen, daß nicht jeder für diesbe zügliche Beeinflussungen empfänglich war. Und zum zweiten er füllte ihr Paß nicht einmal die »Mindestanforderung«, das hieß, er konnte kein Bild von Lilith aufweisen. Dies scheiterte ganz einfach daran, daß sich noch kein Apparat ge funden hatte, der in der Lage gewesen wäre, die Halbvampirin in genügender Schärfe abzulichten. Fotos von ihr sahen stets aus, als wäre sie durch fließendes Wasser hindurch abgelichtet worden. »Wie müde bist du?« wandte Lilith sich an Beth, die gerade ein paar Sachen aus ihrem Koffer kramte. »Sehr«, erhielt sie zur Antwort. »Du wohl gar nicht?« »Nein.« »Was hast du vor?« »Schon mal ein bißchen umhören.« »Tu dir keinen Zwang an. Du weißt, wo du mich findest. Ich du sche oder bade noch rasch, danach hüpfe ich in die Falle!« Lilith verließ das spartanisch eingerichtete Zimmer. Der Pub, in dem sie abgestiegen waren, nannte sich »Half-way« – was immer damit gemeint war. Als Lilith die enge Stiege nach unten und durch eine aus der Gründerzeit stammende Tür in den Schankraum ging, hatte sie den Eindruck, die nachmittäglichen Gäste bei einer eher düsteren Unterhaltung zu stören. Der Wirt – bärbeißig und im besten Pensionsalter – fädelte sich so gleich durch das enge Nadelöhr hinter der langgezogenen Theke und kam auf Lilith zu. »Probleme?« Ehe Lilith antworten konnte, fiel ihr eine nicht gerade alltägliche
Männergestalt auf, die ihr gegenüber am anderen Ende des Tresens stand. Dieser Mann zeigte als einziger keinerlei Interesse an Lilith. Sein Kopf war gewaltig. Mindestens doppelt so groß wie bei einem normalen Menschen. Das enorme Gewicht konnte der eigene Körper offenbar ohne Hilfe nicht tragen. Es wurde durch ein metallisches »Exoskelett« kompensiert, welches auf das Schlüsselbein aufgesetzt war. Von der übrigen Statur und der Kleidung her fiel der Mann nicht weiter auf. Allerdings baumelten zwei mit Ketten verbundene, auf Sperrholz geklebte Plakate vor Brust und Rücken, die bei flüchti ger Betrachtung wie die farbenprächtige Ankündigung eines etwas antiquierten Wanderzirkus wirkten. Für mehr als »flüchtig« hatte Lilith keine Zeit. »Das Wasser?« fragte der Wirt. »Wie?« Sie schüttelte die Irritation ab. »Manchmal spukt und spuckt es in den Zuleitungen für die Bäder«, erklärte der bärtige Mann, der Lilith unvermittelt daran er innerte, daß auch ihr ermordeter Vater aus – im weitesten Sinne – dieser Gegend stammte. Zumindest von derselben Insel. »Alles wunderbar, danke«, beteuerte sie, auch auf die Gefahr hin, daß Beth vielleicht in genau diesem Moment gegenteilige Erfahrun gen sammelte. Sie neigte sich leicht über die Theke und flüsterte ihm vertraulich zu: »Sind Sie hier gebürtig?« Er nickte. »Könnte ich Sie dann kurz unter vier Augen sprechen?« Der Wirt blinzelte. Dann verneinte er zerknirscht. »Sie könnten – wenn ich noch beide Augen besäße. Aber das linke fiel den ver dammten Deutschen zum Opfer. Seither ziert mich ein hübscher Blechdeckel aus Titan …« Er klopfte mit dem Fingerknöchel gegen seinen Hinterkopf, und es tönte tatsächlich blechern und hohl.
»Wenn Sie auch mit dreien Vorlieb nähmen …?« Lilith lächelte. Von Beth wußte sie, daß es Humor gab – und das, was Briten dafür hielten. »Wenn Sie wollen«, erbot sie sich freund lich, »passe ich sogar so lange auf ihr falsches auf.« »Das wäre nett.« Der Wirt machte – unter dem Gelächter seiner Gäste, die natürlich trotz bemühter Diskretion jedes Wort mitbe kommen hatten – eine Geste, als wollte er sich das Glasauge tatsäch lich aus der Höhle puhlen. Statt Gänsehaut zu mimen, hielt Lilith provokativ beide Hände auf. Diesmal ging das Gelächter auf seine Kosten. »Respekt«, murmelte er, während er sie zu einem Nebenraum winkte, auf den er selbst zusteuerte. Enttäuschte Gesichter blieben zurück. Der Wirt schloß die Zwi schentür und knipste eine schwache Deckenlampe an. Im schumm rigen Licht setzten sie sich gegenüber an einen der rustikalen Tische. »Worum geht es?« fragte der Wirt des »Halfway«. Lilith faltete beide Landkartenversionen – alt und neu – vor ihm auseinander. Sie ließ ihn nicht aus den Augen, als sie sagte: »Meine Freundin und ich arbeiten für eine Zeitung. Uns interessiert ein Ort, der sich dieser –«, sie tippte auf die Kopie, die Beth in der National bibliothek gezogen hatte, »– Karte zufolge keine drei Meilen von hier entfernt befinden müßte … Aber auf dieser –«, jetzt war die ak tuelle Karte dran, »– gibt es Llandrinwyth nicht mehr! Können Sie mir sagen, warum?« Die Nennung des verschwundenen Ortes hatte eine bemerkens werte Wirkung. Der Mittsechziger erhob sich abrupt und blaffte in aufgebrachtem Ton: »Sorry, darüber weiß ich nichts! Hier gibt es keinen Ort dieses Namens!« Nachdem sie es zunächst mit purer Höflichkeit versucht hatte,
kam sie nun um die Erkenntnis nicht herum, daß damit nicht alle et was anfangen konnten. Das Exemplar vor ihr jedenfalls machte auf stur. »Setzen!« zog Lilith andere Saiten auf. Ihr Gegenüber lachte schal. »Ein andermal, Lady. Draußen warten durstige Kehlen …« Es fiel ihr schwer, hinzunehmen, daß sie ausgerechnet hier und jetzt auf jemanden getroffen war, der sich immun gegen ihre Beein flussungsversuche zeigte. Vielleicht – obwohl Lilith sich den tieferen Zusammenhang nicht erklären konnte – lag es an der Metallplatte in seinem Schädel … Lilith kam nicht dazu, lange darüber zu grübeln. Kaum hatte der Wirt sie wie ein Schulmädchen sitzen lassen, schwang die Tür er neut auf, und die bedauernswerte Mißgestalt, die sie unter den Gäs ten bemerkt hatte, trat zu ihr herein. Er kam ohne seine Werbeplaka te; vermutlich hatte er sie draußen abgestellt. »Ja?« fragte Lilith. Es war klar, daß er ihretwegen kam. Unklar war nur, warum. »Ich hörte«, die Stimme des kleinen Mundes inmitten eines riesi gen Gesichts klang wie die eines pubertierenden Knaben, »daß Sie sich nach Llandrinwyth erkundigten.« »Von wem?« fragte Lilith ärgerlich, weil immer noch unter dem Eindruck der gerade erlebten Abfuhr. »Von ihm?« Ihr Nicken konnte sich nur auf den Wirt beziehen. Der fremde Gast schüttelte behutsam den Kopf, wobei sein kom pletter Rumpf bis zu den Hüften mitdrehte. »Ich sagte bereits, ich hörte es. Ich höre alles. Eine Tür ist kein Hindernis.« Lilith betrachtete ihn sekundenlang schweigend. Sie forschte in der ungewöhnlichen Physiognomie, fand aber keine Anzeichen ei ner Übertreibung, weshalb sie beschloß, es einfach so stehen zu las
sen. »Und wenn es so wäre?« Er zuckte die Achseln, was beinahe noch seltsamer anzuschauen war als das Nicken. »Man soll niemandem ausreden wollen, sich in sein Unglück zu stürzen.« »Warum nicht?« »Weil man es nicht kann«, philosophierte die Mißgestalt mit einem Gleichmut, der angeboren sein mußte. »Interessant. Und was hat das mit Llandrinwyth zu tun?« »Ich komme seit vielen Jahren immer wieder durch diese Gegend. Llandrinwyth hat hier keinen guten Klang! Das Dorf verschwand vor zweieinhalb Jahrhunderten wie vom Erdboden verschluckt. Es ranken sich viele Legenden darum, aber nicht eine spricht gut über das vom Angesicht der Erde getilgte Dorf. Die wenigsten, die heute leben, glauben wirklich daran, daß es einst existiert hat. Obwohl es Dokumente gibt, auf denen es amtliche Erwähnung findet. Aber kein Stein blieb davon übrig. Nicht ein einziges Hausfundament oder das Straßenpflaster!« Lilith begann zu ahnen, daß der Zufall ihr jemanden zugespielt hatte, der als Auskunftei besser oder zumindest ebensogut geeignet war wie der Wirt des »Halfway«. Sie bot dem seltsamen Mann Platz an. »Setzen Sie sich. Erzählen Sie. Ich liebe Legenden!« »Auch solche von Tod und Untergang?« »Ich vermute, es gibt keine anderen über einen Ort, der aufhörte zu existieren. Die meisten werden von Krieg oder barbarischen Überfällen handeln …« Er verneinte auf dieselbe unbeholfene Art wie immer. Etwas ande res ließ das »Gestänge« um seinen Schädel gar nicht zu. »Keine Krie
ge, keine Überfälle. Jedenfalls keine, wie man sie einst kannte. Es ist alles sehr viel … gespenstischer.« »Ich bin neugierig!« »Das kann gefährlich sein. Gestern wie heute …« Lilith fragte sich, ob der Mißgestaltete sein Wissen auch nur aus der Gerüchteküche bezog, oder ob er andere, verläßlichere Quellen kannte. »Ich bin nicht sehr ängstlich. Kennen Sie die Stelle, wo Llandrinwyth einst stand?« »Was wollen Sie dort?« Weder Argwohn noch Neugierde schwan gen in der Frage mit. Er erkundigte sich, obwohl ihn der Grund ei gentlich kaum zu interessieren schien. Andererseits war es fast un möglich, in diesem Gesicht zu lesen. »Und Sie?« fragte Lilith. »Was wollen Sie hier? Was waren das für Plakate, die sie wie eine lebende Litfaßsäule umgehängt hatten?« Der Fremde zögerte. »Ich gehöre zu einer kleinen Wanderschau«, sagte er schließlich. Diesmal schwang etwas in seiner Stimme mit: Frustration und eine Müdigkeit, die nur Menschen kennen, die ihr Leben lang für Geld geschuftet haben – und für nichts sonst. Aber Geld als einziger Antrieb für etwas, das neben dem Schlaf die längs te Zeit des Tages in Anspruch nahm, war auf Dauer einfach zu we nig. Irgendwann hinterließ es ein Loch. Ein Vakuum. So war es hier. »Ein Zirkus?« fragte Lilith. Sein Gesicht wurde noch verkniffener. »Mehr eine ›Tierschau‹«, murmelte er. »Ich bin eine der Attraktionen. Ich knacke Kokosnüsse auf meinem nackten Schädel. Wenn Sie es nicht glauben und zufäl lig eine Kokosnuß dabeihaben, beweise ich es Ihnen …« Lilith wollte es zunächst nicht wahrhaben, aber er bekräftigte: »Es ist eine Art ›Monster-Schau‹. Die Leute kommen immer noch so gern wie vor vielen Jahren, um sich den Aussatz ihrer Art zu begaf fen. Mir ist das Vergnügen, das wir hervorrufen, fremd. Aber irgend
etwas muß dran sein, sich am Leid anderer zu weiden …« Lilith schauderte. Wieder einmal wurde ihr bewußt, daß sie noch längst nicht alle Untiefen der menschlichen Seele ausgelotet hatte. Zu behütet war der Jahrhundertschlaf gewesen, in dem sie ihr bei nahe gesamtes bisheriges Leben verbracht hatte, zu harmlos die Träume, die ihr eine ganz normale Existenz vorgegaukelt hatten. Auf die Realität hier »draußen« hatten sie sie nur unzureichend vorbereitet. »Kommen wir zurück zu Llandrinwyth«, beendete Lilith den fruchtlosen Gedankengang. »Was meinten Sie damit, es könne ge fährlich sein – gestern wie heute?« »Nichts«, sagte ihr Gegenüber. Er log. »Könnten Sie mich zu der Stelle führen, wo der Ort einst lag?« »Ich könnte«, nickte er. »Aber ich werde den Teufel tun.« »Warum?« »Ich will nicht schuld sein an Ihrem Verschwinden. Es ist genug passiert!« »Genug passiert? Wann? In jüngerer Zeit?« »Wonach suchen Sie?« stellte er die Gegenfrage. Und fügte in un umstößlichem Ton hinzu: »Ich traue Ihnen nicht! Sie … Sie sind nicht, was Sie scheinen …!« Lilith verbarg ihre Betroffenheit. Zugleich fragte sie sich, ob Ran dexistenzen irgendwo eine besondere Antenne entwickelt hatten, um sie zu durchschauen. Auch Carlotta Frost, die medial begabte Greisin, der sie in Sydney begegnet war, hatte anscheinend keine Mühe gehabt, Liliths »Sonderstellung« zu erkennen. Natürlich nicht bis ins Detail, aber es hatte genügt, ihr nichts vormachen zu können. Zugleich war bei Carlotta ein Effekt aufgetreten, der Lilith immer
noch nachging. In unmittelbarer Nähe des Mediums war sie von ei nem Gefühl der Orientierungslosigkeit und Verwirrung überwältigt worden! Hier war dies glücklicherweise nicht der Fall. »Wie heißen Sie?« fragte sie. »Das geht Sie nichts an!« sagte er barsch. »Mich interessiert auch nicht, wie Sie heißen. Verschwinden Sie lieber, bevor Sie verschwin den!« Mit einem Gefühl zunehmender Hilflosigkeit mußte Lilith es geschehen lassen, daß der Mann, wie zuvor schon der Wirt, unge hindert das Nebenzimmer verließ. Auch er schien gegen hypnoti sche Kräfte gefeit. Die Häufigkeit ihres Scheiterns nahm damit all mählich beängstigende Ausmaße an. Lilith warf trotzdem nicht die Flinte ins Korn. Sie raffte ihre Papie re zusammen und begann einen umfangreichen Spaziergang durch die Kleinstadt namens Mallwyd. Sie war guter Hoffnung, irgendwo unkompliziertere Informanten zu finden.
* Vergangenheit Sie hingen an seinen Lippen, und Owain Glyndwr badete im wie dergewonnenen Respekt. Er hatte hoch gespielt – und gewonnen. Vergessen war die von der Hexe zugefügte Pein! Unwillkürlich suchten seine Augen in der Menge nach Clough Corwen. Er fand ihn nicht. Es hätte ihn auch überrascht.
Nachdem er in knappen Worten und ohne besondere Aus schmückungen berichtet hatte, was ihm mit Guy Fenians Hilfe ge lungen war, begehrte man das gerettete Kind zu sehen. Owain Glyndwr wartete jedoch, bis der Vater des Mädchens sich den Weg zu ihm gebahnt hatte und ihm nach hinten ins private Gemach folg te. Seine Tochter schlief wie ein Engel. Sie schien tatsächlich völlig unversehrt und hatte auch die Reise durch die Kälte ohne Schaden überstanden. In dem Moment, als ihr Vater vor dem Bett zum Ste hen kam, öffnete sie die Lider und blickte wach zu ihm hoch. Ein krähender Laut löste sich aus ihrer Kehle, und der Mund verformte sich zu einem einnehmenden Lächeln. Sowohl dem Vater als auch Owain Glyndwr rührte es das Herz. Beide waren wenig erfahren darin, zu welchen Gefühlsäußerungen ein Kind dieses Alters befähigt war. Daran änderte auch die Tatsa che nichts, daß der grobschlächtige Bauersmann neben diesem schon eine Handvoll anderer Kinder hatte heranwachsen sehen. Das würde sich ändern. Zwangsläufig. Die Mutter des Kindes leb te nicht mehr … Vermutlich, dachte Owain Glyndwr, wird er aus eben diesem Grund auch schon bald wieder heiraten. Niemand würde es ihm verübeln. Owain Glyndwr überließ es dem Vater, das Kind der Gemeinde zu präsentieren. Als sich die erste Aufregung gelegt hatte und Guy Fenian immer noch nicht heimgekehrt war, bat Owain Glyndwr – nun wieder mit uneingeschränktem Respekt – ein paar kräftige Männer, auszuzie hen und nach ihm zu suchen. Den Weg zu Rhymneys ehemaliger Einsiedelei kannten sie. Noch vor Morgengrauen brachen sie ohne Murren mit Fackeln
auf. Owain Glyndwr sah dem Zug, der einer Prozession glich, vom Portal der Pfarrkirche aus zu, bis sich die Lichter in der Nacht verlo ren. Er hoffte inständig, daß der Schmied seinen Mut nicht mit dem ei genen Leben hatte bezahlen müssen. Vielleicht lag er nur verletzt in der Höhle oder auf halbem Weg. Er war ein kräftiger Mann und würde die Kälte überstehen, bis Hilfe ihn erreichte … An Schlaf konnte Owain Glyndwr nicht denken. Und je mehr Zeit verstrich und der neue Tag dämmerte, desto heftigere Vorwürfe machte er sich, die Männer nicht selbst angeführt zu haben. Das Warten zermürbte ihn. Guy Fenians Leben als Preis für das wiedergefundene Kind schien ihm zu hoch. Irgendwann stieg aus der Richtung, wo die Höhle lag, Rauch zum Himmel. Sie hatten kein Zeichen ausgemacht, und so wußte Owain Glyndwr dies zunächst nicht zu deuten. Aber er wurde noch unru higer. Gegen Mittag dann kehrten die ausgesandten Männer endlich zu rück. Da sie ohne Reittiere aufgebrochen waren, hatten sie offenbar eine provisorische Trage bauen müssen. Als Owain Glyndwr den auf dieser Konstruktion liegenden Mann erspähte, löste sich der Knoten in seiner Brust. Von ein paar blutverkrusteten Blessuren abgesehen, ging es Guy Fenian offenbar gut. Er winkte seinem Pfarrer auch sofort zu, als er seiner gewahr wurde, und Owain Glyndwr eilte ihm entgegen, als sie vor seiner Schmiede Halt machten. Fenian konnte, gestützt von helfenden Händen, aufstehen und fiel Owain Glyndwr Augenblicke später in die Arme. Der Geistliche ließ sich Bericht erstatten darüber, was nach seinem
Verlassen der Höhle geschehen war. Fenians Worten zufolge hatte die Hexe offenbar die »neun Leben einer Katze«, und sie hatte erst Ruhe gegeben, nachdem er ihr ein jedes dieser Leben mit dem Kurz schwert ausgetrieben hatte. »Sie griff mich an und schälte mir mit bloßen Krallen die Haut vom Leib!« Er lachte übermütig. Offenbar war die Erleichterung über das überstandene Abenteuer auch bei ihm groß genug, um ihn die erlittenen Wunden übersehen zu lassen. »Erst als es mir endlich gelang, ihr den Kopf abzuschlagen, gab sie Ruhe! Ich bin dabei wohl etwas zu ungestüm zu Werke gegangen, denn danach konnte ich nicht mehr auf mein linkes Bein auftreten. Daher konnte ich Euch auch nicht folgen, Hochwürden. Aber ich war guter Hoffnung, daß Ihr mir Hilfe schicken würdet … Danke!« Owain Glyndwr wehrte gestenreich ab. »Ohne dich, Schmied, und das habe ich alle wissen lassen, wäre es mir nie gelungen, das Kind zurückzuholen! Und ich habe mein Versprechen nicht vergessen. Noch heute abend werde ich dir und Gott zu Ehren eine Messe aus richten!« Offenbar hatte Guy Fenian sein Handicap nicht bedacht und war falsch aufgetreten. Jedenfalls stöhnte er kurz auf und wiegelte dann ab: »Gemach, gemach, Herr Pfarrer. Laßt mir wenigstens einen Tag Verschnaufpause! Morgen, morgen abend gern …« Owain Glyndwrs Lächeln bat um Verzeihung für sein Ungestüm. »Natürlich, Schmied, natürlich. Du kennst dich in Heildingen aus, deshalb wird es reichen, wenn eine Magd zu deiner Verfügung auch über Nacht bei dir bleibt …« Er blickte in die Runde. »Das läßt sich doch machen, ihr Leute?« Seine Worte fanden nichts als Zustimmung. Owain Glyndwr aalte sich darin. Dann verabschiedete er sich von Guy Fenian, seinem »Waffenbruder«. Auf dem Rückweg zur Pfarrkirche fiel ihm ein, beim Haus des Witwers vorbeizuschauen. Als er die Schwelle über
trat, war er im Nu von einer Kinderschar umringt, die ihn in kindli chem Eifer hochleben ließ. Der Vater saß am Küchentisch und ließ sich von einer rotwangigen Frau aus dem Dorf darin unterweisen, womit er das letzte Kind, das seine Frau ihm schenkte, in ihrer Ab wesenheit füttern konnte. Owain Glyndwr kannte sie und wußte, daß sie vor einem halben Jahr selbst ein Kind geboren hatte, das sie immer noch von ihrer Brust stillte. Deshalb Überraschte es ihn nicht, als er hörte, wie sie dem Witwer anbot, auch sein Mädchen anzulegen, wenn es ihre Milch zuließ. Der Mann nahm das Angebot nach einigem Zögern an. Owain Glyndwr wartete ab, bis sie sich, verfolgt von den Ge schwistern des Neugeborenen, in ein Eck zurückzog und die pralle Brust freimachte. Indes sprach Owain Glyndwr den Mann auf die immer noch nicht vollzogene Taufe an. Sie einigten sich auf den morgigen Abend. Einen Namen für das Mädchen hatte schon ihre Mutter zu Lebzeiten ausgesucht. Eiddyd. Diesen Wunsch wollte der Mann erfüllt sehen. Kurz bevor Owain Glyndwr wieder aufbrach, lenkte ein gellender Schmerzschrei den Blick zu der Frau, die Eiddyd zu stillen versuch te. Sie fluchte – und verstummte erst, als sie sich der Anwesenheit des Pfarrers erinnerte. Gepreßt rief sie daraufhin: »Es – hat mich gebis sen! Keinen Tropfen nimmt es von mir – aber beißt zu, als hätte es den Mund bereits voller Zähne …!« Owain Glyndwr traute seinen Augen nicht, als er sah, daß die Brustwarze der Frau tatsächlich blutete. Der Vater des Kindes und er erhoben sich fast gleichzeitig vom Tisch und traten zu der Frau, der die Tränen in den Augen standen.
In diesem Augenblick quietschte eines der älteren Kinder: »Der Pfarrer wirft mit Haaren um sich! Der Pfarrer wirft –« Eine schallende Ohrfeige des Vaters brachte den Jungen zum Schweigen. Das änderte jedoch nichts daran, daß er – wie Owain Glyndwr mit kaltem Grausen feststellte – recht hatte. Ganze Büschel seines Haa res lagen auf dem Boden der Stube, und als er sich reflexartig ans Haupt griff, fühlte er weitere Büschel sich bei der leisesten Berüh rung lösen. Das Licht, dachte er, ohne einen Beweis für seine aus dem Moment geborene These zu haben. Das sind die Folgen des gefräßigen, verderb ten Lichts! Erst jetzt erinnerte er sich wieder des seltsamen Gefäßes, das er Guy Fenian mitzubringen aufgetragen hatte. Er hatte vergessen, den Schmied oder andere danach zu fragen, und beschloß, es für heute gut sein zu lassen. Morgen war auch noch ein Tag. Ehe er das Zuhause des Täuflings verließ, warf er einen letzten Blick auf das blondhaarige Mädchen, dessen Gesicht auch nach der Attacke auf seine Amme noch engelsgleich wirkte. Dennoch schien es sich verändert zu haben, seit Owain Glyndwr es zuletzt gesehen hatte. Er konnte sich täuschen – er mußte sich täuschen –, aber es kam ihm vor, als sei Eiddyd in den wenigen Stunden bereits ein deutli ches Stück … gewachsen.
* Gegenwart
»Heidekraut«, sagte Beth. Sie hatte recht. Mehr als Heidekraut, natürlich gewachsener Fels und niedriges Buschwerk bedeckte das Tal, das sich unter ihnen ausbreitete, nicht. Sie standen mit dem Geländewagen auf einer Anhöhe und konn ten von dort aus weder Mallwyd, das verborgen hinter weiteren Hängen lag, noch Spuren des geheimnisvollen Llandrinwyth entde cken, das sich unten im Tal einst erhoben haben sollte. Die Reste einer Straße, die hier oben endete, hatten dem Rover ge nügt, den Hügel zu erklimmen. Auf der anderen Seite mußte auch der geländegängige Wagen passen. Es wäre nicht ratsam gewesen, sich dem losen Geröll anzuvertrauen. »Was habt ihr’n erwartet?« fragte der sommersprossige Junge, den Lilith in der Stadt aufgegabelt hatte, nachdem die Erwachsenen, die sie befragt hatte, alle nichts über das verschwundene Nachbardorf gewußt hatten. Beth zuckte die Schultern. Der Junge hieß Druyd, war kaum älter als zwölf und hatte Lilith, bevor er sie ansprach, offenbar schon eine Weile bei ihrer Wander schaft durch Mallwyd beobachtet. Wie sich herausstellte, hatte einer seiner entfernten Vorfahren einst in Llandrinwyth gelebt – lange bevor der Ort in einer Naturka tastrophe unterging. Um welche Art von Unglück es sich dabei ge handelt hatte, wußte Druyd auch nicht zu sagen. Aber er hatte – ganz ohne »Nachhilfe« – keine Sekunde gezögert, ihnen das Tal, wo Llandrinwyth einst stand, zeigen zu wollen. Einzige Bedingung sei nerseits war gewesen, daß sie ihn vor Einbruch der Dunkelheit in die Stadt zurückbrachten. »Hat man nie richtig nachgeforscht, was dem Dorf zum Verhäng nis wurde?« fragte Lilith. »Wenn deine Familie dort Wurzeln hatte,
wird man sich doch eingehender damit auseinandergesetzt haben?« Druyd grinste breit. Für ihn war der Ausflug offenbar nichts ande res als eine willkommene Abwechslung vom täglichen Einerlei. An geblich hatte er Schulferien. Ob es stimmte, war bei diesem Grinsen fraglich. »Klar!« verkündete er großspurig. »Muß die Alten damals ganz schön getroffen haben. Die Ruhe war hin. Aber gefunden hat man nix.« »Kein Krater, keine Senke, wie nach einem Erdrutsch …?« Er zuckte, immer noch grinsend, die Achseln. »Was weiß ich! Gehn wir jetzt ‘runter? Echt stark, daß ihr mich hergebracht habt. Meine Eltern würden das nie erlauben …« Lilith gab Beth ein unmißverständliches Zeichen, worauf diese be reitwillig den Motor startete und den Rover vorsichtig wieder nach Mallwyd zurücklenkte. »Heh …! Dunkel ist’s aber noch lang’ nicht!« Niemand widersprach. Der Junge war die größte Hilfe, wenn er den Mund hielt. Sobald er ihn öffnete, drohte Streß. Sobald sie ihn beleidigt – aber immerhin um eine Zehn-PfundNote reicher – vor der Haustür abgeliefert hatten, kehrten sie umge hend ins Heidetal von Ex-Llandrinwyth zurück. Dunkel war es noch lange nicht.
* Vergangenheit
»Herr Pfarrer! Wacht auf! Es ist dringend, Herr Pfarrer …!« Owain Glyndwr streifte die Fesseln des Schlafes ab. Guy Fenians Stimme jenseits der Tür zum Gemach verstummte. Dann wurden schleifende Schritte hörbar, die sich langsam entfernten. Owain Glyndwr traute seinen Ohren nicht. Wenn Fenian schon wieder auf den Beinen war, mußte er aus demselben Stoff geschaf fen sein, wie er ihn täglich auf seinem Amboß schmiedete: aus ro hem, heißen Eisen. »So warte doch! Ich komme ja schon …!« rief Owain Glyndwr be legt. Mit klopfendem Herzen schwang er sich aus dem Bett und schlüpfte in die bereitliegende Kleidung. Noch steif in den Gliedern ging er zur Tür, die er mit geübtem Griff aufhebelte. Sofort schlug ihm Purpurschein entgegen. Gefräßiges Licht! Dieser Teufelskerl, dachte Owain Glyndwr, schwankend zwischen Bewunderung und neuerwachendem Unbehagen, hat also doch nicht vergessen, es mitzubringen! Aber mußte er es unbedingt in die Kirche schleppen? Zu dieser Stunde …? Der kurze Korridor zwischen Gemach und Kirchenschiff war leer. Owain Glyndwr hörte Guy Fenians Schritte bereits drüben im Got teshaus. Obwohl es angesichts des gespenstischen Scheins eigentlich unnö tig war, zündete er die armdicke Kerze an, die auf einem Holzdorn neben seinem Bett befestigt war, und entfachte daran eine zweite, handlichere Kerze, die er mit sich führte, als er dem Schmied folgte. Eine seltsame Erregung, nicht unbedingt Angst, hatte Besitz von ihm ergriffen. Vielleicht war es die Erinnerung an das Gefäß, von dem er wußte, daß er Vergleichbares noch nie zuvor gesehen und gefühlt hatte.
Als er aus dem Zwischengang auf die Erhöhung des Altarraums trat, wurde er von einem heftigen Luftzug getroffen, der die Kerze ausblies. Owain Glyndwr erschrak immer noch nicht. Hier in den Mauern seiner Kirche fühlte er sich sicherer als an jedem anderen Ort der Welt. Er blieb lediglich kurz stehen, um sich im rötlichen Schimmer (der auf absonderliche Weise nur die Luft erfüllte, aber von keinem der Reliquien, nicht einmal von Wänden oder Boden, angenommen wurde) zu orientieren. Er fand das nach Vorbild einer Blume gefertigte, »lichtatmende« Gefäß dort, wo es am wenigsten hingehörte: mitten auf dem Altar tisch! Bedachte man Abstammung und Vorbesitzerin, kam dies ei nem Sakrileg gleich. Owain Glyndwr verstand nicht, wie der beson nene Guy Fenian so etwas hatte tun können. Jeden anderen hätte er auf der Stelle verdammt. Aber der Schmied stand in seiner Achtung bereits so hoch, daß Owain Glyndwr ihm zutraute, einen triftigen Grund für dieses Verhalten vorweisen zu können. »Guy, wo seid Ihr?« rief er mit bemüht fester Stimme in das weite Rund. Als er weder Antwort erhielt noch weitere Schritte hörte, erwachte nun doch das Mißtrauen – als Vorstufe der Furcht – in ihm. Er machte einen ungezielten Schritt auf den Altarstein zu. Das Licht dieses Kelchs wärmte nicht. Es war kalt wie die Hand, die ihn in Rhymneys Höhle abgestellt hatte, um … Um …? Owain Glyndwr begriff fröstelnd, daß er immer noch nicht den Grund kannte, warum die Schwefeläugige das Neugeborene ent führt hatte. Aber es mußte ein Motiv gegeben haben. Etwas, das es wert war, einen harmlosen Einsiedler grausam zu töten und ein gan
zes Dorf psychischem Terror auszusetzen …! Zu seinem endgültigen Schrecken sah Owain Glyndwr, wie er bei de Hände nach dem lichtausschüttenden Gegenstand ausstreckte. Er wollte das nicht! Er wollte es nicht – berühren… Lachen lenkte ihn ab. Böses, gemeines, hinterhältiges Lachen! Als er den Blick hob, sah er Guy Fenian in der Nähe des Ausgangs, dort, wo die Holzbänke anfingen, am Beginn des Mittelgangs ste hen. Der Schmied schien das Purpurlicht aus der Luft zu fischen und auf sich zu bündeln. Eine regelrechte Aura umfloß ihn. »Guy, was –?« rann es über Owain Glyndwrs Lippen. Seine Hände hingen immer noch in der Luft. Rote Blitze zuckten jetzt aus dem Kelch und stachen in seine Fingerspitzen. Der Pfarrer spürte den kochenden Strom bis in seinen Hinterkopf. Die Schädel decke schien zu knistern. Er wollte schreien. Er wollte sich abwenden und rennen. Owain Glyndwr starb viele Tode, während er mitansah, wie Guy Fenians Gestalt zerfloß, wie Wachs, das man starker Sonnenhitze aussetzte, nur viel, viel schneller. Ganz oben fing es an. Ganz oben bildete sich unter der schmelzenden Schicht von Fenians Kopf das arrogant-grausame Gesicht der Satansbraut heraus, die Owain Glyndwr überwunden glaubte! Vorbei! Er sah die Wahrheit! Die Wahrheit war, daß womöglich gar nicht Fenian mit den Män nern des Ortes zurückgekehrt war, sondern etwas – anderes. Etwas, das selbst hier unter dem Dach des Herrn fähig war, seine dunkle
Magie zu entfalten! »Nein …!« keuchte er. »Weiche, Satanas!« Das Lachen der Schamlosen wurde dröhnender. Unter Fenians Maske kam vollends – wie unter einem auseinanderplatzenden Rau penkokon – der in Lederriemen geschirrte Körper zum Vorschein, Inbegriff männlicher Lust. Rotes, gewelltes Haar wehte unter dem gleichen Luftzug, der auch schon die Kerze ausgeblasen hatte, die ir gendwo auf dem Boden des Altarpodests lag. Die Hexe schien unangreifbar. Weder die Kirche insgesamt noch die überall zu findenden Insi gnien christlichen Glaubens fochten sie erkennbar an, und in Owain Glyndwr strömte all das an Hysterie und Angst zurück, was er schon überwunden geglaubt hatte. Als er sich in Erinnerung rufen wollte, was er im Malleus Malefica rum gelesen hatte, streikte sein Gedächtnis vollständig. Er war leer! Hohl und leer … Die Schwefeläugige witterte seine Schwäche. Nein, dachte Owain Glyndwr, sie ist meine Schwäche! »Mein tapferes Priesterlein«, höhnte sie zu ihm herüber. »Komm, komm zu mir! Ich wußte, daß wir uns wiedersehen. Ich mag Män ner mit Charakter …« Owain Glyndwr spürte einen Krampf, vom Herzen ausgehend und in jeden anderen Muskel strahlend. Sein Blick trübte sich kurz. Er merkte kaum, wie er walroßlaut zu schnaufen begann. »Weiche … Satanas …!« röchelte er. Sie lachte. Vergeblich suchte er die Spuren von Fenians Schwert. Oder von Weihwasser und Kruzifix. Ihre Schönheit war makellos. Das flammend rote Haar umtanzte
immer noch ein sündhaft lockendes Gesicht, dessen Ausdruckskraft von einem x-förmig über Nasenwurzel, Stirn und Wangen laufen den Lederschmuck noch unterstrichen wurde. Dort, wo sich die Achsen des X trafen, hielt ein Metallring die Streifen zusammen. Rechts und links davon lohten Schwefelaugen. Auch Brüste, Scham und Schenkel waren in Riemen gebunden. Irgendwie, dachte Owain Glyndwr, verlieh dieser archaische Schmuck ihr etwas von einer amazonenhaften … Kriegerin. Als sie jetzt die Arme ausstreckte, bemerkte er, daß ihre Hände wie Waffen armiert waren. Verbunden mit dem Leder, in dem sich der Purpur des Kelchs spiegelte, zweigten den Handtücken entlang schmale Streifen ab, die jedem Finger bis zu seinem Ende folgten und darüber hinaus als metallisch funkelnde, rasiermesserscharfe, winzige Dolche ausliefen! Owain Glyndwr schauderte längst nicht mehr – er zitterte wie un ter Schüttelfrost. Seine Zähne schlugen hörbar aufeinander und schienen ihm für eine Weile das lauteste Geräusch im ganzen Kir chenrund überhaupt. »Danke, daß du mir so freundlich zugearbeitet hast …« Er verstand kein Wort. »Komm jetzt, komm …!« Nein, dachte er. Nein, bitte … Er wich dem schweren Altar aus und gehorchte marionettenhaft. Wie damals, als sie ihn vor aller Augen erniedrigte. Owain Glyndwr begriff plötzlich, daß er sie viel zu lange unterschätzt hatte. Jetzt war es zu spät. Sie war keine Hexe. Sie war viel mehr! »Stopp!« Dieser Befehl kam schneidend. Der samtene, spielerische Ton war aus ihrer Stimme verschwunden. »Ich habe es mir anders überlegt.« Sie kam ihm entgegen. Geschmeidig wie ein Raubtier, das sich seiner Beute sicher wußte. »Führe mich in dein Gemach! Ich
mag nicht nur Männer mit Charakter – ich mag einfach Männer...!« Owain Glyndwr spürte, wie sich würgender Abscheu hinter seiner Kehle aufbaute. Verzweifelt suchte er nach einem Ausweg. Sie kam zu ihm und nahm ihn bei der Hand. Ihre Berührung war fischkalt und abstoßend. Sie paßte nicht zu dieser so lebendig, warm und weich wirkenden Hülle. Er verspürte keinerlei Begehren, obwohl es auch in seinem Leben Zeiten gegeben hatte, da er im inneren Wider streit gegen das auferlegte Zölibat gelegen hatte. Er hatte es überwunden. Und wenn er sich eines sicher war, dann, daß er jeder Versuchung dieser immer noch Namenlosen widerste hen würde. Sie mochte ihm ihren Willen aufzwingen nach Belieben – aber nicht ihre Begierde! Die Frage war nur, wie sie sich verhalten würde, sobald sie dies er kannte. Vermutlich würde sie ihn töten … Owain Glyndwr forschte nach Anzeichen, daß sich seine allgegen wärtige Furcht zu Panik auswuchs. Erstaunlicherweise fand er das Gegenteil. An der Hand der Schwefeläugigen wurde er ruhiger und war wieder zu klaren Überlegungen fähig! Er badete nicht länger im Pfuhl verpaßter Gelegenheiten. Er sann nach einem neuen Weg, dieses menschenverachtende Geschöpf doch noch zu überwinden. Als sie gemeinsam den Altar passierten, pflückte die Unbekannte das purpurleuchtende Gefäß mit ihrer Linken und trug es mit sich, während ihre Rechte Owain Glyndwr keine Sekunde freigab. Dabei atmete sie gieriger. Ihre Nasenflügel bebten, und die Zunge (Die Zunge! Owain Glyndwr erinnerte sich mit Grausen an das, was er schon einmal gesehen hatte.) benetzte ihre sinnlichen Lippen mit einem Näs sefilm. Erst in Owain Glyndwrs Schlafgemach ließ sie ihn los. Sie stellte
das sonderbare Gefäß auf einem niedrigen Schränkchen neben ei nem Spiegel ab, in dessen Glas Owain Glyndwr den Kelch von sei ner Position aus ein zweites Mal sehen konnte. Und dann überlief ihn heißer Schreck, als er die Anomalie im Spie gel entdeckte! Er hätte die Teufelin sehen müssen – aber das Abbild zeigte sie an der Stelle, wo sie stand, einfach nicht! Dem Spiegelbild zufolge hätte er allein im Raum sein müssen! »Dein Bett ist noch warm …«, hauchte sie in falscher Zärtlichkeit, während er sich fieberhaft zu erinnern versuchte, was er über We sen wußte, die keine Reflektionen warfen. Die Kerze neben dem Bett brannte noch immer. Aber ihr Licht ging völlig im Purpur unter. »Wer – bist du …?« Die Frage quoll wie zäher Schleim über seine Lippen. Es verwunderte ihn, daß er überhaupt dazu imstande war. »Eine Diebin!« lachte sie aufgeräumt. »Die – Kinder – stiehlt …!« »Nicht nur.« Ihre begleitende Geste konnte alles oder nichts be deuten. »Ich nehme, was mir gefällt – und was in meine Pläne paßt!« »Pläne …?« »Darüber, Priesterchen, wirst du nichts erfahren. Obwohl kaum Gefahr besteht, daß du es ausplaudern könntest …« Er wußte, was sie damit sagen wollte. Was immer sie ihm noch an tun wollte – es würde nicht allzu lange dauern. Und danach … Sie trat an ihm vorbei zu seiner Bettstatt, glitt darauf und rekelte sich katzenhaft, als müßte sie dem Linnen erst ihren Geruch auf drücken. Dann sprang sie hoch und zog Owain Glyndwr dermaßen ungestüm auf die Matratze, daß er sich den Kopf am hölzernen Ende anschlug und sekundenlang betäubt liegenblieb.
Sie musterte ihn, als könnte sie unter seine Robe blicken. Als sie schließlich über ihn kam, nahm das Verhängnis seinen Lauf. Nicht allein für den Pfarrer von Llandrinwyth. Für das ganze, verlöschende Dorf …
* Gegenwart »Hältst du es wirklich für möglich, daß der Kelch hinter dem Unter gang des Dorfes steckt?« fragte Beth. Ihr Blick schweifte skeptisch über das verlassene Tal. »Ich bin sicher«, bestätigte Lilith. »Die Spur des Unheiligtums ver lor sich nach Warners Angaben hier. Zu einem Zeitpunkt, als Lland rinwyth noch existierte. Kurz darauf verschwand das Dorf nicht nur vom Erdboden, sondern auch aus den Köpfen der meisten Men schen der Umgebung. Hier waren Kräfte im Spiel, die keinen natür lichen Ursprung haben. Ich bin völlig sicher!« »Und wie bringt uns das weiter?« fragte Beth. »Du erwartest doch nicht ernsthaft, den Kelch oder auch nur eine Spur von ihm hier zu finden?« »Wenn du so negativ eingestellt bist, warum hast du mich dann begleitet?« »Ich wußte nicht, daß es so aussichtslos ist«, bekannte die Freun din. »Hier gibt es nicht einmal Reste von Ruinen … gar nichts! Wo nach soll man suchen?« Lilith wollte nicht so rasch aufgeben. Sie hatte mit Warner, dem »Gesandten des Hauses«, gesprochen. Sein »Finde es heraus!« auf ihre Frage, wie die Spur des verschwundenen Lilienkelchs bei
Llandrinwyth beschaffen sei, mußte mehr zu bedeuten haben als das, was sich hier vor Ort augenscheinlich feststellen ließ! Hätte Warner – beziehungsweise die Macht hinter Warner – sie hierher beordert, wenn es nichts zu gewinnen gäbe? Nein! dachte Lilith. Etwas existiert immer noch, und ich werde es finden! Mit Beth! »Hilf mir«, bat sie die Freundin. »Wir sind gerade erst angekom men. Was haben wir zu verlieren, wenn wir uns etwas ausführlicher umsehen?« »Nichts. Sag mir nur, wonach ich mich umsehen soll!« »Du wirst es wissen, sobald du darüber stolperst …« Lilith wußte, wie bemüht diese Erklärung klang. Prompt kam Beth’ bissiger Humor zum Durchbruch. Sie bückte sich und hob einen Stein auf. »Ich bin gerade über das hier gestol pert.« Sie reichte ihn an Lilith weiter. »Hilft es dir weiter?« »Es ist ein Anfang«, lächelte Lilith nachsichtig. »Wenn du mir auch noch die restlichen fünfhunderttausend Teile besorgen kannst, die fehlen, um das Ganze zu bilden, können wir die Heimreise antreten …« Beth tippte sich gegen die Stirn und seufzte: »Von mir aus. Suchen wir ruhig eine Weile getrennt – nach was auch immer. Aber ich ma che mir Druyds Lebensmotto zu eigen: Vor dem Dunkelwerden will ich wieder in Mallwyd sein! Ich glaube, wir zäumen das Pferd von hinten auf. Kein seriöser Journalist sucht nach … nichts! In der Stadt selbst finden wir sicher noch am ehesten jemanden, der uns sagen kann, was hier damals passierte. Es gibt immer ›Historiker‹, ob von eigenen oder anderer Gnaden, ist egal …« Lilith entfernte sich nickend. »Einverstanden. Wir bleiben in Blick kontakt – das dürfte hier kein Problem sein. Wenn einer fündig
wird, gibt er sofort Laut!« »Aber laut!« Auch Beth setzte sich launig in Bewegung.
* Es war kein Zufall, daß Lilith die »Anomalie« entdeckte. Es war die Summe ihrer Beobachtungen, während sie langsam die Landschaft durchkämmte. Überall wuchs Heidekraut oder ragte mit Moos und Flechten bewachsenes Gestein aus dem Boden … … nur hier nicht! Wenige Schritte von ihr entfernt war der Boden – nackt. Anders ließ es sich nicht beschreiben. Ein kreisrunder Fleck von knapp einem Meter Durchmesser wies nicht einmal Spuren von Be wuchs auf. Er erinnerte Lilith im ersten Moment an den seiner Vege tation beraubten Grund im Garten ihres Geburtshauses. Aber sie hätte keinen weiteren Gedanken daran verschwendet, wenn nicht in diesem Moment ein kleiner Vogel in rasantem Flug dicht über den Boden geflogen – und dicht vor der unbewachsenen Stelle ein hals brecherisches Ausweichmanöver vollzogen hätte, welches ihn der maßen aus der Bahn warf, daß er – was Lilith noch nie bei einem Vogel beobachtet hatte – fast trudelnd irgendwo zu Boden ging und fiepend liegenblieb. Zunächst glaubte sie noch, das kleine Vogelherz könnte mitten im Flug gestreikt haben. Aber nach einer Weile erhob sich der Piepmatz wieder und setzte den unterbrochenen Flug fort, als sei nichts ge schehen … Von diesem Moment an hegte Lilith ein gesteigertes Interesse an dem nackten Fleck. Bis sie darauf zuging und zwei Schritte davor nach links ab
schwenkte. Nicht nur ihre Beine – auch ihr Kopf wollte nach links! Verblüfft zwang sie sich zum Stehenbleiben. Als sie sich umwand te, hatte sie sich bereits wieder ein gutes Stück von der Stelle, die sie interessierte, entfernt. Auch der zweite Annäherungsversuch mißlang. Kurz hatte Lilith sogar das Empfinden, die Schatten, die sie in Syd ney heimgesucht hatten, kehrten zurück. Streiflichtartig glaubte sie sich an eine Begegnung mit einem Vampir zu erinnern, der … Der was? Sinnlos. Die Erinnerung war nicht zu fassen. Kopfschüttelnd rief sie nach Beth. Die Freundin schien froh für jede Ablenkung zu sein. Was sie von der Suche nach einer ihrer Meinung nach längst nicht mehr vorhan denen Stecknadel hielt, hatte sie deutlich genug gemacht. »Treffer?« fragte sie dementsprechend spöttisch, als sie Lilith er reichte. Lilith ging nicht darauf ein. »Siehst du die kahle Stelle dort?« »Ich sehe vorzüglich. Dafür brauche ich zwar zwei Kontaktlinsen, aber die sitzen momentan dort, wo sie hingehören …« »Sehr hübsch«, überging Lilith die bissige Bemerkung. »Würdest du mir kurz eine Bodenprobe von der Stelle bringen?« »Zu fein, dir selbst die Finger schmutzig zu machen?« »Vampire hassen schmutzige Fingernägel«, behauptete Lilith treu herzig. »Sehr menschlich. Ich auch!« »Gut, dann stell dich einfach dorthin!« »Gibt’s hier Treibsand oder Mini-Moore?« frotzelte Beth weiter.
»Wenn ja, rette ich dich … Bitte!« Schulterzuckend setzte sich die Freundin in Bewegung. Fasziniert beobachtete Lilith, daß Beth kurz vor dem Ziel ein ähnli ches Ausweichmanöver vollführte wie zuvor schon sie selbst und der Vogel. Beth blieb erst stehen, als Lilith ihr zurief: »Willst du noch weit?« Völlig perplex drehte Beth sich um. Lilith eilte zu ihr und legte ihr tröstend die Hand auf die Wange. »Interessant, oder?« »Unheimlich träfe es eher …« »Ich bleibe bei interessant.« »Ist dir dasselbe passiert?« Lilith nickte. »Und was bedeutet das?« »Das will ich herausfinden. Warte hier!« »Was hast du vor?« Beth zog unbehaglich die Schultern nach oben. »Warte einfach … Oder willst du noch einen Versuch wagen?« Beth schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, danke! Hattest du auch dieses … Gänsehautgefühl, als du kehrtmachtest?« »Nein. Ich ging einfach vorbei …« Lilith lief zum dritten Mal auf die nackte Bodenstelle zwischen dem Heidekraut zu. Sie erinnerte sich in etwa, wie weit sie herange kommen war, ehe der Ausweichdrang sie erfaßt hatte. Kurz davor verlangsamte sie und schlich förmlich näher. »Ruf mir etwas zu, so bald ich die kleinsten Anstalten mache, die Richtung ändern zu wol len! Irgend etwas!« gab sie über die Schulter noch Weisung an Beth – da geschah es auch schon. Lilith merkte es im selben Moment, als Beth’ Stimme sie erreichte. Ihr Fuß drängte nach links. Sofort zwang sie sich zum Stehenblei ben.
Nur noch ein knapper Schritt trennte sie von dem Punkt, der sich näherer Untersuchung entzog. »Komm zurück!« hörte sie Beth. Zugleich nahm sie Schritte wahr. Aber ehe die Freundin sie erreichte, mobilisierte Lilith alle Konzen tration und – überwand ein weiteres Stück. Zu weit für Beth. Deren Schritte entfernten sich wieder. Lilith brauchte sich nicht umzuwenden, um zu wissen, daß Beth erneut desorientiert von ihr wegsteuerte … Aber sie war entschlossen, das Geheimnis der kahlen Stelle zu ent rätseln. Sie wagte nicht zu hoffen, daß sich gar der Kelch darunter verbergen könnte. So einfach konnte es nicht sein. Nein … Dennoch war es natürlich dieser Gedanke, der die Anspannung weiter in ihr schürte. Der sie über die eigenen Grenzen – und eine fremde Grenze – gehen ließ! Eine mindestens zehnfache Schwerkraft schien an ihren Muskeln zu zerren, als sie die letzten Zentimeter überwand, die den Fleck schützten. Ihr Gesicht verzerrte sich. Der Wunsch, in eine barbari sche Metamorphose zu flüchten und Barbarisches zu verrichten, wurde schier übermächtig. Aber mehr als das rapide Anwachsen ih rer Reißzähne geschah nicht. Ihre Kräfte waren nur auf das eine fi xiert. Auf einen einzigen Schritt. »Lil-«, hörte sie noch Beth’ abrupt endende Stimme. Dann fiel die »Grenze«. Einen Steinwurf entfernt stöhnte Beth erblassend auf, als Lilith wie eine in Sonnenglut flirrende Fata Morgana kurz aufleuchtete – und dann erlosch …
*
Purpur … Die erste Sinneswahrnehmung nach ihrem Erwachen war … pur pur! Sie lag unter freiem, von rötlichem Zwielicht durchdrungenen Himmel. Ob Tag oder Nacht herrschte, war nicht feststellbar. Ver mutlich, dachte Lilith und versuchte das trunkene Gefühl abzu schütteln, gab es hier weder das eine noch das andere. Keine Wolken, keine Sonne, kein Mond und keine Sterne zogen am Himmel entlang – nur seltsame »Schlieren«, die den Purpur durchwoben, der sich in jedem Luftmolekül spiegelte. Auch die fernere Umgebung sah anders aus, als Lilith sie in Erin nerung hatte. Das Tal war grüner, Äcker waren gelegt, die zwar brachzuliegen schienen, die aber vorher mit Sicherheit nicht da ge wesen waren! Lilith ahnte sofort, wo sie war, auch wenn sie den Vorgang, der sie hierher geschleudert hatte, nicht durchschaute. Llandrinwyth! Sie lag auf einem Kopfsteinpflaster, inmitten einer Häuseran sammlung, die vor dem »Schritt«, den sie unter Mühen bewältigt hatte, nicht dagewesen war. Jedenfalls nicht mehr. Benommen richtete sie sich auf. Der Symbiont war das einzig Ver traute, das sie hierher begleitet hatte. (Durch die Zeit? War sie tatsäch lich in eine Vergangenheit geraten, die vor dem Zeitpunkt lag, als das Dorf verschwand? War sie gar dort, wo sich der Kelch befand…?) Aber er hatte seine Form verändert. Lilith trug jetzt ein rotes Kleid, das nicht ganz so eng anlag wie je nes, das sie damals im Keller ihres Geburtshauses gefunden hatte. Es ließ ein kleines Stück unterhalb des Busens frei. Das Dekollete war gewagt, und die Träger des Oberteils waren auf die Oberarme gerutscht.
Ihre Blicke schweiften über den Ort, während sie sich langsam um die eigene Achse drehte, und noch vor Vollendung der Drehung ahnte sie, daß die Hoffnung, hier das Unheiligtum der Vampire zu finden, gering war. Sie sah keine Menschen, und die Häuser – selbst die Kirche, die di rekt über ihr auf einer Kuppe den Mittelpunkt des Dorfes bildete – wirkten ausnahmslos verlassen. Bei Liliths Standort wiesen sie zwar kaum Spuren des Verfalls auf, aber je weiter es zum Ortsrand ging, desto deutlicher wurde der Zerfall. Auch das war seltsam. Lilith spähte zu den eingestürzten Dächern, schiefhängenden Fenstern und Türen in der Ferne – und schaute sich als Kontrast ihre unmittelbare Umgebung an. Das Gotteshaus selbst (vor dem Lilith erstaunlicherweise nicht die geringste Scheu empfand) und seine nä here Umgebung wirkten völlig unversehrt. Als könnte gar jemand jeden Moment die Glocke im Turm zur nächsten Andacht läuten. Was aber nicht geschah. Überdies war es unwahrscheinlich, daß hier überhaupt je wieder eine Messe stattfinden würde … Lilith verließ sich auf ihr Gefühl, und das besagte, daß sie voll kommen allein war. Alles um sie herum schien auf verwirrende Weise erstarrt zu sein. Fast alles! In diesem Moment sah sie das Gesicht eines alten Mannes hinter einem offenstehenden Fenster wegtauchen! Das zugehörige Bruchsteinhaus lag auf der anderen Straßenseite. Ohne Zögern eilte Lilith auf dessen Tür zu und fand sie von innen verschlossen. Der Schlüssel steckte. Lilith eilte weiter zum offenen Fenster und entdeckte, daß die Scheibe eingeschlagen war. Die Scherben lagen innen verstreut. Vor sichtig streckte sie den Kopf durch die Öffnung und rief: »Wer im
mer Sie sind, zeigen Sie sich! Ich bin niemand, vor dem Sie Angst haben müßten!« Auf Antwort wartete sie vergebens. In der Stube war auch niemand zu sehen. Eine Tür zu einem Ne benraum stand offen. Als Lilith endlich um das Haus herumeilte, fand sie dort ein zwar heiles, aber auch offenstehendes Fenster. Unerklärlich blieb jedoch, wie der alte Mann, den sie beobachtet hatte, so schnell hatte heraus klettern und flüchten können. Es war keine Spur mehr von ihm zu sehen, doch als Lilith durch das Fenster hineinstieg, fand sie Fußspuren im dünnen Bodenstaub, die ihren Verdacht unterstützten. Die wenigen Räume des Cottage zu durchsuchen, nahm wenig Zeit in Anspruch. Den Toten fand sie in seinem Bett. Im ersten Moment dachte sie, die Gestalt, die ihr, seitlich liegend, den Rücken zukehrte, schliefe nur. Aber dann erkannte sie die Wahrheit. Der Leichnam des unbekannten Mannes war bereits deutlich in Verwesung übergegangen, aber dem Anschein nach noch nicht viel länger als etwa ein halbes Jahr. Spuren von Gewalteinwirkung wa ren nicht zu entdecken, auch nicht, als Lilith den Kissenüberwurf zur Seite hob. Seine Augen sahen am schlimmsten aus. Ansonsten hielt sich das Fleisch noch einigermaßen an den Knochen … Lilith, die sich über den Toten gebeugt hatte, um dies herauszufin den, wandte sich schaudernd ab. Sie hatte zu viele Tote in zu kurzer Zeit gesehen. Eine vielleicht so gar hilfreiche Abstumpfung war aber noch nicht eingetreten. Um das Haus zu verlassen, benutzte sie die Tür. Der Schlüssel ließ
sich problemlos drehen. Scheinbar unverändert lag die Straße im Purpurschein. Lilith hielt sich nicht auf, sondern durchsuchte weitere Häuser, de ren Türen offenstanden. Alles, was sie fand, waren Leichen, Leichen und nochmals Lei chen! Auffallend dabei war, daß der Verwesungsgrad zunahm, je weiter sie sich den Ortsrändern näherte. Ehe Lilith eine Begründung dafür fand, erreichte sie eine Art Marktflecken mit einem großen gemauerten Brunnen. In den Häu sern dort machte sie eine neue Entdeckung. Überall, wo sie den Fuß über die Schwelle setzte, fand sie zerstörte Spiegel an den Wänden. Eher zufällig entdeckte sie kurz darauf eine Gestalt, die halb ver deckt hinter dem gemauerten Brunnen lag. Diese Entdeckung trieb ihr das Blut vollends in die Wangen. »Beth …«, rann es über ihre Lippen.
* Sie kam zu sich. Noch während ihre Lider flatterten, hob Beth die Finger an ihr Ge sicht und fuhr darüber. Eine Blutspur blieb zurück. Lilith sah, daß beide Hände Verletzungen aufwiesen. Von dem Sturz? Auch nachdem ihre Augen geöffnet waren, brauchte Beth eine Weile, bis sie die neben ihr kniende Freundin erkannte. »Wie hast du es geschafft, mir zu folgen?« staunte Lilith angesichts der Hürden, die sie hatte überwinden müssen, um den letzten Schritt zu tun.
Beth richtete den Oberkörper auf. Sie war bleicher denn je. Nur ihre Lippen und das Blut auf dem Gesicht stellten Farbtupfer dar, die ganz eigene Gefühle in Lilith aufkommen ließen. »Hätte ich dich nicht verschwinden sehen«, antwortete Beth schleppend, »also nicht gewußt, daß da … irgendein Durchgang sein muß, hätte ich es niemals geschafft. So jedoch habe ich mich Schritt für Schritt vorgekämpft – Augen zu und durch! Ich wußte, daß man dich nicht allein lassen kann …« Sie lächelte vage. Lilith hauchte ihr einen Kuß auf die Wange. Nicht ganz uneigennützig. Das Blut, das sie schmeckte, putschte sie regelrecht auf. Und erinnerte zugleich an die prekäre Lage, in die sie geraten war. Als sie sich von Beth löste, meinte sie: »Ich frage mich, wieviel Zeit vergangen ist, seit wir die ›Schwelle‹ überschritten haben.« »Ein paar Minuten«, sagte Beth. Lilith schüttelte den Kopf. »Das bezweifele ich.« »Warum?« »Weil ich einen ständig zunehmenden Hunger verspüre, obwohl ich es normalerweise noch einige Zeit hätte aushalten müssen. Mein Durst nach Blut ist so gewaltig angewachsen, daß er bald zu einem ernsten Problem werden wird.« »Du meinst …?« »Ich meine, wenn ich hier nicht bald einen lebenden ›Spender‹ fin de, könnte es kritisch werden …« Die Art, wie Lilith sie ansah, schien Beth begreiflich zu machen, worauf die Halbvampirin eigentlich hinauswollte. Sie wurde noch eine Nuance blasser. Bevor sie das Thema vertiefen konnten, rann ein erstickter Schrei
über die Lippen der Reporterin. Lilith schrak zusammen, weil sie den Entsetzenslaut auf sich be zog. Dem war jedoch nicht so. Beth’ Blick ging an Lilith vorbei in die Ferne. Sie drehte den Kopf – und erkannte augenblicklich die Gefahr, die sich ihnen langsam, aber unaufhaltsam näherte: Aus mehreren Häusern und über die Straße vom Ortsrand wank ten Gestalten heran. Die ehemaligen Bewohner des Dorfes! Leichen in ganz unterschiedlichen Zerfallsstadien. Manche waren noch in erkennbare Kleidung gehüllt. Einige sahen aus, als wären sie erst vor wenigen Tagen gestorben, bei anderen lösten sich Brocken verrotteten Fleisches aus den toten Leibern und ließen eine grausige Spur auf dem Pflaster zurück. Dazwischen torkelten sogar bleiche Skelette, wie von unsichtbaren Fäden bewegt. Die Geräusche, die sie beim Näherkommen verursachten, trieben Beth das blanke Entset zen in die Augen. »Wir sind – umzingelt!« preßte sie hervor. Sie sprang vom Boden auf. Panik überschwemmte das gerade zurückgewonnene Bewußt sein. Nicht bei Lilith. Auch sie hatte erkannt, daß sich die wankenden Gestalten von überall dort näherten, wo es Häuserlücken und Straßenfortsetzun gen gab. Dennoch verfiel sie nicht in Hysterie. Im Gegenteil. Sie streifte das Gefühl zunehmender Ohnmacht ab. Inmitten all der Starre geschah endlich etwas. Auch etwas, das sie von ihrem Durst ablenkte … »Bleibe dicht hinter mir!« raunte sie Beth zu. Dann suchte sie nach dem vermeintlich schwächsten Glied in der Gefahrenkette und ent
schied sich für zwei fast mitleiderregend nebeneinander herantor kelnde Skelette, deren bleiche Knochen das allgegenwärtige rötliche Licht aufzusaugen schienen, so daß der Eindruck entstand, die Ge rippe seien von einer dünnen Schattenhaut ummantelt. Doch je kürzer die Distanz zwischen ihnen und den beiden Skelet ten wurde, desto mehr wuchsen in Lilith Zweifel, ob sie mit diesen Gegnern wirklich das erwartet leichte Spiel haben würde. Die un aufhaltsame Zielstrebigkeit, mit der die Toten den Ring enger und enger zogen, beeindruckte sie. »Was – geht hier eigentlich vor?« keuchte Beth. »Hast du eine ver dammte Ahnung, wo wir sind …?« »Llandrinwyth«, erwiderte Lilith beinahe lakonisch. »Ich dachte, das sei offensichtlich …« »Für dich vielleicht!« Beth verstummte. Lilith erreichte die Stelle, wo sie den Ring zu durchbrechen hoffte. »Warte, bis ich dir sage, daß du folgen sollst!« wandte sie sich in ungewohntem Befehlston an Beth. Dann visierte sie den Spalt zwi schen den Skeletten an und warf sich ihnen entgegen. Sie versuchte, jeweils einen der Knochenarme zu greifen und die Gerippe zur Seite zu schleudern. In dem Moment jedoch, da sie mit den Knochen in Berührung kam, begriff sie, daß es mit der »Schat tenhaut« eine Bewandtnis hatte. Sie hatte das Gefühl, jemand steche mit glühenden Nadeln in ihre Hände und ließe alle Kraft durch das entstandene Ventil entweichen … Sie sackte zu Boden. Ging vor den Skeletten in die Knie. Sie ver mochte nicht einmal mehr, den Griff um die geschälten Knochen zu lösen. Der Tod klebte an ihren Händen.
Der Tod saugte sie aus bis ins Mark! Beth’ erstickter Schrei sickerte kaum in ihr Bewußtsein. Auch sie schrie. Und ihr Schrei übertönte alles. Dunkelheit und Schmerz senkten sich wie eine tödliche Lawine über ihren Geist, ris sen ihr Bewußtsein in zähflüssige, breiige, erstickende Tiefe … Und dann, als schon das Ende nahe schien – erwachte der Symbi ont! Lilith registrierte kaum, wie er sich unter ihre tauben Finger schob. Wie er hauchfeine Handschuhe formte, die ihre Haut vor dem direk ten Kontakt mit dem Schattenpolster schützte … Machte ihm die lähmende Kraft nichts aus? Wieder ein gellender Schrei. Aber es war nicht mehr ihr eigener. Beth tauchte neben ihr auf, riß sie vom Boden hoch und brüllte: »Tu etwas! schnell!« Liliths Blick klärte sich. Sie hielt immer noch die Knochenarme fest, aber die Schattenhaut konnte ihr nichts mehr anhaben. Der Symbiont wirkte wie eine Isolierung. Er absorbierte den teuflischen Einfluß, der sie in die Knie gezwungen hatte. Aber für wie lange noch? Lilith wartete nicht ab, bis auch seine Kräfte verbraucht waren. Sie nahm alle verbliebene Kraft zusammen und schmetterte beide Gerippe gegeneinander. Es krachte häßlich, als sich der Verbund in seine Bestandteile auflöste und die einzelnen Knochen in weitem Umkreis verstreut wurden. Sofort rückten zwei Zombies von beiden Seiten nach, um die Lücke zu schließen. Beth’ Initiative kam zur rechten Zeit. Sie faßte Liliths Hand und zog sie mit sich. Auch als sie die akute Gefahrenzone überwunden hatten, hörten sie nicht auf zu rennen.
Erst als sie einen akzeptablen Vorsprung gewonnen hatten, blie ben sie stehen und blickten zurück. Und konnten nicht verstehen, daß die Toten die Verfolgung nicht aufnahmen, sondern langsam wieder in die Häuser zurückkehrten, aus denen sie zuvor geströmt waren.
* Sie suchten Unterschlupf in der Kirche auf dem Hügel. Noch immer hatte das christliche Gebäude keinerlei negative Auswirkungen auf Lilith, wie es normal gewesen wäre. Aber auch dies war ein Rätsel, das sie zu einem späteren Zeitpunkt lösen mußten. Von der Kirche aus konnten sie das gesamte Dorf überblicken und würden die Attacken weiterer Untoten rechtzeitig bemerken. Wenn sie darüber hinaus ausnahmsweise einmal so etwas wie Glück hat ten, würden sie in diesem gespenstischen Dorf auch nicht von der Dunkelheit überrascht werden. Lilith spekulierte darauf, daß das rötliche Zwielicht zu jeder Zeit gegenwärtig war. »Mir wäre es lieber, du würdest dich hier etwas umsehen, damit wir nicht die nächste böse Überraschung erleben«, bat Beth. »Ich bleibe beim Portal und halte den Weg im Auge.« Lilith hatte keine Einwände, weil es das Naheliegendste war. Das Kirchenschiff war schnell überprüft. Es sah tatsächlich aus, als könnte die nächste Messe jede Stunde stattfinden. Keine Spur von Verfall oder auch nur Staub. Als Lilith hinter dem Altarpodest in einen Seitengang vorstieß, ge riet Beth außer Sicht. Die Pfarrkirche war jedoch von solch über schaubarer Größe, daß Lilith sich zutraute, der Freundin jederzeit schnell zu Hilfe eilen zu können.
Ein wirkliches Problem war jedoch ihre zunehmende Schwäche, die noch aus der Berührung der Skelette resultierte, und der immer stärker werdende Durst. Lilith erkannte mehr und mehr Anzeichen, daß sie binnen kürzester Frist auf eine Blutmahlzeit angewiesen sein würde, um nicht völlig entkräftet zu werden. Darüber, was dies für Konsequenzen nach sich zog, machte sie sich nichts vor. Beth war der einzige lebende Mensch hier. Gedankenschwer durchkämmte Lilith auch die Kammern und Ge mächer, zu denen der Nebengang führte. Nirgendwo fand sie weite re Tote, die sich zur Bedrohung erheben konnten. Was immer die Bewohner von Llandrinwyth umgebracht hatte, es schien vor der Kirche haltgemacht zu haben. Vor einem großen, kunstvoll verzierten Spiegel in der Privatkam mer des Pfarrers blieb Lilith etwas länger stehen. Jedenfalls nahm sie an, daß es ein Spiegel war. Doch obwohl die Oberfläche völlig intakt schien, bildete er sie nicht einmal ver schwommen ab. Auch das Zimmer wurde nicht wiedergegeben. Das Glas war völlig blind. Ein weiteres Rätsel … Schulterzuckend kehrte Lilith zu Beth zurück, die bleich an der Kirchenpforte lehnte. »Du siehst völlig erschöpft aus«, sagte sie und strich ihr das blonde Haar aus der Stirn. »Hinten ist ein Raum, wo du dich etwas hinlegen kannst. Ich passe so lange auf.« Beth’ heiseres Lachen erinnerte sie an den eigenen Zustand, der noch wesentlich kritischer war. Plötzlich glitt ein seltsamer Ausdruck über die Züge der Freundin. Dann sagte sie rauh: »Okay. Unter einer Bedingung!« »Was soll das heißen?« »Das soll heißen«, erwiderte sie, »daß wir uns nichts vormachen sollten. Außer uns gibt es hier nichts Lebendiges – und das Tote
kann uns höchstens ebenfalls ins Jenseits befördern. Helfen wird es dir nicht!« Lilith tat immer noch, als würde sie nicht verstehen. Aber sie verstand sehr gut. »Tu es!« fauchte Beth, halb zornig, halb bestürzt über die eigenen Worte. »Du wirst mir nicht weh tun, oder? Aber du brauchst es – du brauchst mein Blut! Was nützt du mir als Schatten deiner selbst? Es geht hier um unser beider Überleben, und nach dem, was gerade passiert ist, habe ich keine Hoffnung, es ohne dich zu schaffen. Mit dir habe ich wenigstens eine Chance!« »So einfach ist das?« Beth fuhr sich aufgebracht durch die Haare. »Scheißschwer ist es, zur Hölle! Aber hast du eine andere Idee?« Lilith ging stumm auf sie zu und nahm sie in den Arm. »Nein«, flüsterte sie. Dann biß sie zu.
* Die Angst war sein ständiger Begleiter. Seit die Lange Paula – und mit ihr die Welt – hinter ihm verschwunden und von dieser ersti ckenden, in roten Schein gegossenen »anderen Wirklichkeit« abge löst worden war, irrte Tom ziellos umher. Er suchte den Ausgang. Wie er hierher gelangt war, entzog sich seinem Begreifen. Er war einfach durch das Heidekraut getollt und hatte sich daran gefreut, sich wieder frei bewegen zu können, ohne sofort nach Luft japsend zusammenzusinken. Er hatte sich eine geradezu unverschämt warm strahlende Wintersonne ins Gesicht brennen lassen und immer neue Kunststückchen versucht, die er sich nie vorher gewagt hatte. Rad schlagen, Purzelbäume …
Bis … Etwas Unerhörtes hatte sein Glück mit der Wucht eines gegen eine Mauer fahrenden Wagens gebremst. Zuerst hatte er geglaubt, nur über etwas gestolpert und dann hin geschlagen zu sein. Aber als er sich aufrichtete, war nichts mehr wie vorher gewesen. Um ihn herum hatten sich Häuser erhoben, mehr oder weniger verfallen. Viel schlimmer als dies war jedoch die Stim mung gewesen. Die Atmosphäre war von einem Moment zum nächsten total umgekippt! Das Jenseits, war sein erster tastender Versuch gewesen, zu verste hen. Ich bin tot! Gott war gnädig und wollte mir eine letzte Freude ma chen, bevor – Etwa zu diesem Zeitpunkt hatte er den ersten Toten gefunden. Hinter einem der Bauernhäuser, neben der Mistkuhle. Die Frau hat te einen Mantel und ein Kopftuch getragen und bäuchlings dagele gen, und erst als er sie mit einem Stock auf den Rücken gehebelt hat te, hatte er erkannt, wie es tatsächlich um sie stand. Sie mußte schon vor sehr langer Zeit gestorben sein. So lange eben, wie es brauchte, einen unbeseelten Körper derart verfaulen zu las sen … Der Anblick war schrecklicher gewesen als alles, was Tom je hatte ansehen müssen. Selbst sein eigenes Spiegelbild erschien dagegen von geradezu vermessener Schönheit. Die einzige Schlußfolgerung, die er aus diesem Fund hatte ziehen können, war, daß dies keinesfalls das Jenseits war – günstigstenfalls eine Vorhölle … Später, als er in eines der verschlossenen Häuser eingebrochen war, hatte er draußen von der Straße Schrittgeräusche gehört. Die Frau, die er daraufhin erspähte, war ihm so wenig geheuer wie alles hier gewesen. Als er erkannte, daß sie ihn bemerkt hatte, wußte er
sich nicht anders zu helfen, als sein Heil in der Flucht zu suchen. Inzwischen fragte er sich jedoch, ob dies kein Fehler gewesen war. Vielleicht teilte die Frau ein ähnliches Schicksal, wie es ihm wider fahren war. Vielleicht konnten sie gemeinsam einen Ausweg finden … Er kehrte zu dem Haus zurück, das sie nach ihm betreten hatte. Nur der Leichnam im Bett war noch da. In diesem Moment hallte ein schauriger, beinahe unmenschlicher Schrei durch das Dorf. Tom wartete wie versteinert, bis der Laut ab brach. Kurz darauf sah er die Frau im roten Kleid in Begleitung ei ner zweiten Frau die Straße hochhetzen und in der Pfarrkirche auf dem Hügel verschwinden. Das Herz war ihm in die Hose gerutscht, sonst hätte er es vielleicht gewagt, sich diesmal zu zeigen. Noch während er überlegte, ob er ihnen zur Kirche folgen sollte, dämmerte ihm, daß sie vor etwas Gräßlichem auf der Flucht gewesen sein mußten. Angestrengt späh te er durch das Fenster die Straße hinab. Es war niemand zu sehen. Das schleifende Geräusch, das hinter ihm erklang, warnte ihn zu spät. Als Tom herumfuhr, grinste ihn das zerfressene Gesicht des Toten an, der aus seinem Bett gekrochen war.
* Beth war in tiefen Erschöpfungsschlaf gefallen. Das Opfer, das sie für Lilith erbracht hatte, schien sie nachhaltig geschwächt zu haben. Lilith hingegen war förmlich aufgeblüht. Zärtlich strichen ihre Blicke über Beth’ schmales Gesicht und die knabenhaft schlanke Figur, die sich unter dem dunkelblauen Kleid
abzeichnete. Dann kehrte sie zum Portal der Kirche zurück. Nachdem sie die vom Dorf heraufführende Straße eine Zeitlang im Auge behalten und sich dort nichts gerührt hatte, änderte Lilith kur zerhand ihre Strategie. Sie hatte kein gutes Gefühl dabei, Beth allein im Privatgemach des einstigen Pfarrers zu wissen. Das Portal war abschließbar, der Schlüssel steckte, und die beiden Torflügel sahen mehr als robust aus. Lilith verriegelte diesen Zu gang von innen und ließ den Schlüssel stecken. Als sie das Gemach betrat, in dem Beth ausgestreckt und so friedlich auf dem Bett lag, überkam sie das Verlangen, sich neben sie zu legen und die Augen zu schließen. Aber an Schlaf oder auch nur ein bißchen Ruhe war in dieser Situation nicht zu denken. Also setzte sie sich nur auf die Bettkante und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Und dann geschah etwas, was sie zunächst für einen Streich ihrer überanstrengten Sinne hielt. Die nicht reflektierende Fläche des Wandspiegels geriet in ge spenstische Bewegung, begleitet von einem Geräusch, das ferner Meeresbrandung ähnelte. Vorsichtig erhob sich Lilith vom Bett und trat neugierig näher an den merkwürdigen Spiegel. Im nächsten Moment meinte sie, das Herz müsse ihr aussetzen. Zum erstenmal sah sie ihr eigenes Spiegelbild kristallklar vor sich! Halluzinierte sie? Das bin ich …? Da verschwand das Bild auch schon wieder – und wurde von ei nem anderen abgelöst. Und wieder zweifelte Lilith an ihrem Verstand. Denn hinter dem Spiegelglas schwebend sah sie den Gegenstand,
dem Landrus jahrhundertelange Suche galt. Den Lilienkelch! Zum Greifen nah schien er in das Glas des Spiegels eingebettet zu sein! Lilith streckte unbewußt die Hand nach dem magischen Kleinod aus, das über Gedeih und Verderb einer Rasse entschied, die den Menschen seit Urzeiten knechtete. Der Spiegel bot keinen Widerstand. Das unheilige Gefäß sehr wohl. Lilith umfaßte den Stiel des Kelchs mit beiden Händen. So fest, daß ihre Knöchel weiß hervortraten. Sie konnte nicht glauben, daß sie diesen Meilenstein im Kampf gegen die Vampire tatsächlich gefun den haben sollte. Daß sie ihn nur noch vernichten mußte, um … Als sie ihren Irrtum erkannte, gab es schon kein Zurück mehr. Etwas Unsichtbares, eisig Kaltes von jenseits des Spiegels packte ihren Arm mit unwiderstehlicher Kraft – und zog sie in den Spiegel hinein...!
* Beth erwachte und besah sich ihre Hände. Die Schrammen, die wie feine Schnitte aussahen, hatten längst zu bluten aufgehört. Als sie zum Hals tastete, war auch dort die Wunde geschlossen. In der Kirche war es still wie in einem Grab. Beth schwang sich aus dem Bett und näherte sich zielstrebig dem kunstvoll verschnörkelten, aber ansonsten nicht weiter auffälligen Spiegel. Ihr Spiegelbild lächelte Beth an.
Und es nickte ihr zu. Ja, sie wußte, was zu tun war … Beth nahm einen leeren Kerzenhalter, der auf dem Tisch neben dem Spiegel stand, drehte ihn zwischen den Fingern, wog ihn, holte aus – und schmetterte das schwere Metall wuchtig gegen das Glas, das sofort in tausend Scherben zersprang. Sieben Jahre sprichwörtliches Pech schreckten sie nicht. Es war ja nicht ihr Pech. Zufrieden kehrte sie zum Bett zurück, legte sich hin, schloß die Augen und träumte den Traum fort, den sie nie unterbrochen hatte. Einen Traum, in dem sie durch purpurne Helle von Haus zu Haus wanderte und jeden Spiegel, den sie finden konnte, zerschlug. Einen Traum, in dem eine Freundin namens Lilith Eden nicht mehr vor kam … ENDE
Hinter den Spiegeln von Adrian Doyle Der Sturz durch den Spiegel – hat Lilith ihn wirklich erlebt? Denn die »andere Seite« erscheint ihr normaler als das verwunschene Dorf: Der Himmel hat seine Purpur-Farbe verloren, es gibt keine le benden Toten, Llandrinwyth ist bewohnt. Doch zwei Fakten trüben die Normalität. Beth ist spurlos verschwunden – und über dem Al tar der Kirche erhebt sich ein unwirklicher, rasender Wirbel, in dem das Böse selbst zu wohnen scheint. Lilith wagt sich hinunter in das Dorf. Und stößt auf ein Geheimnis, das sich um den Lilienkelch, einen grausamen Fluch und … ihre ei gene Existenz rankt.