Dorf der
Legenden
von Bernd Frenz
Nr. 70 Die Küste am Horn von Kanda hatte längst vor der beständigen Brise kapituli...
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Dorf der
Legenden
von Bernd Frenz
Nr. 70 Die Küste am Horn von Kanda hatte längst vor der beständigen Brise kapituliert, die Tag für Tag landeinwärts zog. Jedes schützenden. Sandkorns beraubt, wurde das Ufer von schroffen, durch Salzwasser zer klüfteten Felsen und faustgroßem Ge röll dominiert. Eine karge Land schaft, die bestenfalls Melancholie auszulösen vermochte - doch richtig abweisend wurde es erst dort, wo Menschen lebten. Rund um eine Bucht, an der sich Fischer und Händler angesiedelt hat ten, erhob sich ein hoher, mit zahlrei chen Kanonen bestückter Erdwall. Die aus den Schießscharten ragenden Geschützrohre wirkten ungefähr so einladend wie die Stachel eines Igels. Um vollends deutlich zu machen, was einem feindlich gesinnten Reisenden blühte, hatten die Dorfbewohner auf mehreren vorgelagerten Hügeln roh gezimmerte Galgen errichtet, an de nen Erhängte baumelten. Dem Grad der Verwesung nach zu urteilen, be reits seit einigen Wochen.
WAS BISHER GESCHAH Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Russlands und Chinas werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten … für Jahrhunderte. Als die Eiszeit endet, hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Muta tionen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den US-Piloten Matthew Drax, dessen Jet-Staffel beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Beim Absturz wird er von seinen Kameraden getrennt und von Barba ren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde … Beim Wettlauf zum Kometenkrater, wo laut der ISS-Daten vielfältiges Leben wuchert, haben Matt Drax, Aruula und der Cyborg Aiko Konkurrenz: Der Weltrat (WCA), Nachfolger der US-Regierung unter Präsident Victor Hymes und General Arthur Crow, setzt seine Ziele unerbittlich durch, indem er barbarische Völker un terstützt, die andere Zivilisationen ständig angreifen und so klein halten. Crows Tochter Lynne leitet die WCAExpedition, begleitet von dem irren Professor Dr. Jacob Smythe. Die zweite Fraktion ist eine Rebellengruppe, die gegen die WCA kämpft, die Running Men. Ihr Anführer Mr. Black ist ein Klon des früheren USPräsidenten Schwarzenegger. Matt, Aiko und Aruula machen sich von L.A. aus auf den Weg. Mit einem Eis segler geht es nach Kanada, wo Matt in einer Biosphäre von einem Lava-Drachen entführt wird. Aiko und Aru ula folgen der Kreatur mit einem Zeppelin und retten Matt aus der Gewalt eines Volkes, das ihn den Walen im Großen Bärensee opfern wollte. Weiter geht es nach Norden - doch bei Fort McPherson stürzt das Luftschiff ab. Inuit, die eine »Eisfrau« als Gottheit verehren, nehmen sie auf. Die Göttin entpuppt sich als Amber Floyd, eine Wissenschaftlerin, die seit über 500 Jahren in einem Kältetank liegt und nun geweckt wird. Gleichzeitig gelangen die Running Men nach Fort McPherson, verfolgt von einer Mongolenhorde. Gemeinsam stellen sie sich der Gefahr. Es gibt Verluste auf beiden Seiten. Auch Amber stirbt, als ihre Zellen rapide altern. Die beiden Expeditionen schließen sich zusammen, doch Matt geht die Allianz nicht ohne Vorbehalte ein; der Rebellenfüh rer ist ihm suspekt. Das ändert sich, als er Mr. Black näher kennen lernt - und dieser ihm das Leben rettet, als ein überlebender Mongole mit Aruula und der Telepathin Karyaana als Geiseln entkommt. Sie können nur Aru ula retten; Karyaana stirbt, nachdem sie herausgefunden hat, dass die Mongolen - die Ostmänner - im Auftrag des Weltrats operieren …
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Matt überließ Aruula den Platz am Bildschirm, auf den das Bild der Bug kamera übertragen wurde. Er musste mit eigenen Augen sehen, was draußen vor sich ging. Zeige- und Mittelfinger tasteten nach dem Entrieglungsknopf für die Dachluke. Zischend klappte der runde Stahldeckel in die Höhe. Licht flutete in den engen, halbdunklen Kom mandostand. Über eine schmale Eisen leiter stieg Matt so weit hinauf, dass er den Oberkörper ins Freie zwängen konnte. Kein leichtes Unterfangen an gesichts des unebenes Geländes, über das der Panzer gerade hinweg rollte. Mit beiden Händen krallte Matt sich am oberen Rand des Ausstiegs fest, wäh rend er die Umgebung absuchte. Im nächsten Moment verwünschte er seine Neugierde. Der Gestank der bau melnden Leichen verpestete derart die Luft, dass er sich einen Ärmel seiner Uniformjacke vors Gesicht presste und durch den Stoff atmete. Es war ein regelrechter Galgenwald, den der Nixon-Panzer mit rasselnden Ketten passierte. Matt zählte zwölf schwarz angelaufene Leichen, die sanft im Takt des Windes schwangen. Dazu kamen zwei Tote, die am Boden lagen, weil entweder Stricke oder Halswirbel der Belastung nicht länger stand gehal ten hatten. Von Salz und Sonne gebleichte Kno chen schimmerten zwischen einstmals farbenfroher Kleidung hervor, die nur noch aus Blut getränkten Fetzen be stand. Für die tiefen Wunden waren vor allem Kolkraben und Bonta-Vögel ver antwortlich, die dicht gedrängt auf den Toten hockten. Erschreckt durch den 4
ungewohnten Lärm, sträubten sie ihr Gefieder und blickten zu dem Panzer auf. Erst als sie sicher sein konnten, dass der Stahlkoloss stur geradeaus fuhr, wandten sie sich wieder ihrer schaurigen Mahlzeit zu. »Kein schöner Anblick, was?«, fragte Mr. Black, der mit Miss Hardy auf dem Dach saß, um die Umgebung im Auge zu behalten. Beide Running Men hatten Tücher vors Gesicht gebunden, um sich gegen Staub und den Verwesungsge ruch zu schützen. »Außer uns scheint keiner an den To ten Anstoß zu nehmen«, sagte Honey butt Hardy. Mit ausgestrecktem Arm deutete sie auf ein offenes Flügeltor, vor dem Wakuda-Gespanne und bela dene Yaks geduldig auf die Überprü fung durch einige Wachposten warte ten. Bauern und Händler, die ihre Wa ren feil halten wollten, erhielten dem nach Einlass. Warum also nicht auch ein paar Reisende, die eine Schiffspas sage suchten? »Wie geht's weiter?«, drang Aikos Stimme von unten herauf. Der Cyborg, der zur Zeit im Fahrer sessel saß, steuerte mit sicherer Hand auf den ausgetretenen Pfad zu, der Richtung Tor führte. Falls sie den Ha fen meiden wollten, mussten sie sich langsam für einen Richtungswechsel entscheiden. Matt sah fragend zu Mr. Black hin über, der nur ein resigniertes Schulter zucken andeutete. Was bleibt uns schon anderes übrig?, wollte der Rebellenfüh rer damit sagen. Auf dem Landweg geht's nicht mehr weiter. Miss Hardy wiederholte die Geste ihres Vorgesetz
ten, um sich - wie nicht anders zu er warten - seiner Meinung anzuschließen. Matt ersparte sich ein bestätigendes Nicken. Jeder von ihnen wusste, wie die Lage aussah. Nach wochenlanger Fahrt befanden sie sich am äußersten Punkt des in die Beringstraße ragenden Landzipfels von Alaska. Um das gegenüberliegende Festland zu erreichen, mussten sie den tonnenschweren Transportpanzer zu rücklassen und auf ein Schiff umstei gen. Die Stadt Wales, die einst in dieser Gegend gelegen hatte, ließ sich auf den topografischen Aufnahmen der ISS, die Matt bei sich trug, nicht mehr ausma chen. Erdbeben, Flutwellen oder ein Anstieg des Meeresspiegels - niemand kannte die wahre Ursache für ihr Ver schwinden. Vielleicht alle drei Kata strophen zusammen. Eine ganze Stadt, einfach von der Landkarte gewischt. Matt fröstelte stets aufs Neue bei dem Gedanken, wie viele Opfer der Kome teneinschlag gefordert hatte. Und je nä her sie dem Kratersee kamen, desto deutlicher wurden die Spuren, die noch jetzt, über fünfhundert Jahre später, die geschundene Landschaft prägten. Hier, so nahe am Epizentrum, gab es kaum noch Ruinen oder Fundamente, die auf frühere Siedlungen hinwiesen. Die Spu ren des 21. Jahrhunderts waren fast vollständig von der Oberfläche getilgt worden. Die Polverschiebung hatte zudem eine drastische Klimaveränderung aus gelöst. Dort, wo einst klirrende Kälte und Schnee herrschten, sprossen nun
grünes Steppengras, Schlingkraut und Brabeelenbüsche. Die steigenden Tem peraturen hatten selbst das Packeis ge schmolzen. Die Beringstraße war ein Meer wie jedes andere geworden, das sich mit einfachen Booten befahren und befischen ließ. Eigentlich ein idealer Ort zum Leben, trotzdem gab es kaum größere Ansiedlungen. Seltsam. Was wohl dahinter steckte? Matt blickte zurück zu den Gehäng ten. Ihr Tod mochte die Antwort auf seine Fragen sein. Leider konnten sie nicht mehr reden, nur noch mahnend im Wind schwingen. Trotzig presste der Pilot seine Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Laut Satellitenkarte befand sich in der hiesigen Bucht der größte Hafen entlang der Beringstraße. Auch wenn es keinem aus der Gruppe gefiel, ihnen blieb gar nichts anderes übrig, als sich von hier aus eine Passage nach Rus sland zu suchen. Behände schwang Matt die Stiege hinab und sah sich innerhalb des Kom mandostandes um. Aiko und Aruula waren ebenfalls dafür, den eingeschla genen Weg fortzusetzen, das konnte er ihren entschlossenen Gesichtern anse hen. Was der Fünfte im Bunde dachte, war dagegen nicht mal mit Worten zu erfahren. Merlin Roots saß mit leerem Blick in seinem Schalensessel. Auf Matts Frage hin machte er nur eine wegwerfende Bewegung, als wäre es ihm völlig egal, wohin es die Expedition verschlug. In Gedanken war der ehemalige WCAHistoriker wohl immer noch bei Ka ryaana, seiner ehemaligen Gefährtin. Ihr 5
Tod hatte ihn nicht nur bis ins Mark er schüttert, sondern auch wortkarg und verschlossen gemacht. Alle hatten ge hofft, dass sich sein Zustand im Laufe der Zeit bessern würde, statt dessen war es nur noch schlimmer geworden. Mer lin kapselte sich immer weiter ab und vernachlässigte sogar die Körperpflege. Dichte Stoppeln bedeckten seinen frü her so penibel geschorenen Schädel. Matt machte sich ernsthaft Sorgen um den Gemütszustand des jungen Mannes. Sobald sie die Ruhe und Abge schiedenheit einer Unterkunft erreicht hatten, wollte er das Gespräch mit Mer lin suchen. Dazu mussten sie aber erst einmal die Torposten passieren. Seufzend wandte sich Matt dem Bild schirm der Bugkamera zu. »Geh lieber etwas vom Gas, bevor du ans Ende der Warteschlange fährst«, mahnte er Aiko. »In dieser Gegend hat man vermutlich noch nie einen Panzer gesehen.« »Geht klar.« Der Cyborg drosselte den kristallgetriebenen Motor und legte die letzten achthundert Meter im Schritttempo zurück. Trotz der geringen Geschwindigkeit jagte der Nixon den wartenden Händlern eine Heidenangst ein. Immer wieder schauten sie nervös über die Schulter und gestikulierten wild in Richtung des heranwalzenden Ungetüms. Matt kletterte über die Stiege nach oben, um ihnen beruhigend zuzuwin ken. Eine Panik blieb zum Glück aus, doch Ruhe kehrte erst ein, als Aiko den Motor mit einem leisen Heulen erster ben ließ. Als Geste des guten Willens entriegelte der Cyborg das Seitenschott. Die herbei eilenden Wachen sollten se 6
hen, dass der Panzer ein menschliches Transportmittel und kein gefährliches Tier war. *
Vier Wochen zuvor. Die Schlacht war schon entschieden, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Al lein das rote Piratenbanner, unter dem die drei Dschunken segelten, raubte den armseligen Fischern den Mut zum Wi derstand. Skarangas Lippen spalteten sich zu einein zufriedenen Lächeln, während er vom Quarterdeck aus verfolgte, was an Land vor sich ging. Berbow hatte den Blutzoll, den es beim letzten Überfall zahlen musste, of fensichtlich gut überstanden. Im Gegen satz zu vielen anderen Küstendörfern, die nur noch aus verwaisten Hütten und Anlegestellen bestanden, brodelte hier weiterhin das Leben. Seit die Wachen auf dem steinernen Aussichtsturm die gefürchteten Dschunken mit den ecki gen Segeln ausgemacht hatten, trieben warnende Glockenschläge die Men schen auf breiter Front ins Landesin nere. Wer konnte, nahm sein Vieh mit, ansonsten rettete jeder nur das, was er auf dem Leibe trug. Und das wichtigste Gut überhaupt - sein Leben. Skaranga fuhr mit der linken Hand unter die rot und blau bestickte Weste, die seinen mit ausgeprägten Muskelpar tien besetzten Brustkorb bedeckte. Ge schwind stieß er zu der Stelle vor, an der er ein feines Zwicken verspürte. Zwischen der spärlichen Brustbehaa rung ertastete er eine Erhebung. Ein
verdammter Blutkäfer, der ihn unbe merkt angezapft hatte! Grollend presste er Daumen und Zeigefinger gegenein ander, bis ein lautes Knacken erklang. »So geht es jedem, der mir lästig wird!« Triumphierend hielt Skaranga die blutigen Überreste in die Höhe und betrachtete sie von allen Seiten, bevor er sie mit einer verächtlichen Geste ins Wasser schnippte. »Alarm! Die Fischer fliehen aufs Meer hinaus!« Apoo, den alle nur den Narren nannten, turnte aufgeregt am Bugspriet herum, während er immer wieder auf die kleinen wendigen Boote deutete, die eilig aus der Bucht heraus ruderten. Immer nah am Ufer bleibend, wollten sie das flache Küstengewässer nutzen, um sich unbeschadet abzuset zen. Ein leises Murren ging durch die Be satzung. Niemand sonst verspürte Lust auf eine Verfolgungsjagd, bei der sie am Ende womöglich auf ein scharfes Riff liefen, das ihnen ein Leck in den Rumpf schlug. Die Fischer von Berbow kannten alle Untiefen vor Ort, außer dem gab es auf ihren kleinen Booten nicht viel zu holen. Höchstens frische Sklaven, aber die ließen sich auch bei anderer Gelegenheit einfangen. »Skaranga! Schnell! Sie entkom men!« Mit seinen an den Oberschen keln ausgestellten Hosen, einem viel zu weiten Hemd und dem schlecht sitzen den Turban, der ihm laufend über die Augen rutschte, sah Apoo wirklich wie ein Narr aus, der nur zur Unterhaltung der Besatzung diente. Seine zappligen Bewegungen und die schreiend bunten Sachen, die er bei verschiedenen Über
fällen erbeutet hatte, täuschten jedoch über den wahren Charakter des quirli gen Piraten hinweg. Wer ihn näher kannte, wusste, dass es das Jagdfieber war, das ihn nicht still stehen ließ. Apoo wollte töten. Mit dem Schwert zuschlagen und Blut spritzen sehen. Beide Hände fest um einen wehrloses Hals legen, bis sein Opfer das Leben aushauchte. So sah für den Narren die Vorstellung von einem gelungenen Überfall aus. Die übrige Besatzung amüsierte sich, weil er vor Aufregung längst kein Wort mehr heraus bekam und mit hochrotem Kopf herumtanzte wie eine Schank maid, die zum ersten Mal auf den Tisch gehoben wurde. Johlend feuerten sie ihn an, schwangen Krummsäbel und Enter beile in der Luft oder hielten sich die Bäuche vor Lachen. Niemand schien mehr daran zu denken, dass sie eine Kü stensiedlung angriffen. Skaranga klemmte seine Daumen hinter den Hosenbund und machte dem Schauspiel mit lauten Worten ein Ende: »Klar zum Beidrehen! Bedienungs mannschaften an die Geschütze!« Der Ärger, den er in der Stimme mit klingen ließ, zeigte sofortige Wirkung. Die grölende Meute stob auseinander. So undiszipliniert sich die Mannschaft auch sonst gab; wenn es darauf ankam, kannte jeder seinen Platz. Selbst Apoo war mit wenigen Schritten bei dem Sechspfünder, den er mit zwei weiteren Piraten bediente. Mit verkniffenem Gesicht sah Skaranga auf die Bronzegeschütze hinab, die sich oberhalb der Ruderbänke aneinander reihten. Kanonen. Eine 7
mächtige Waffe. Und das einzig Gute, das er dem Auftauchen der Ostmänner abgewinnen konnte, die die Bruder schaft des blutigen Banners aus ihren angestammten Gewässern entlang der Pazifa-Inseln vertrieben hatten. Unzäh lige verlustreiche Kämpfe waren not wendig gewesen, um den wendigen Dampfbooten das Geheimnis der über legenen Bewaffnung zu entreißen. Heiße Schauer liefen über Skarangas Unterarme. Da waren sie wieder, die Erinnerungen, die sich nicht verdrängen ließen! Plötzlich schien die Luft um ihn herum erfüllt von Explosionen, metalli schem Klirren und Schmerzensschreien. Eine widerliche Mischung aus Pulver dampf und verbrannter Haut ließ seine Nasenflügel beben, obwohl der Geruch nur in seinen Gedanken existierte. Diese Sinnestäuschung war für Skaranga nichts Neues. Sie befiel ihn stets, wenn er an den Hinterhalt von Bel'bey dachte, bei dem die Piraten drei Dampfboote voller Ostmänner vernichtend geschla gen hatten. Einige der Kanonen, die dabei erbeu tet wurden, befanden sich heute an Bord seiner Dschunken. Mit dem schwarzen Pechanstrich, der sie vor Rost schützen sollte, unterschieden sie sich kaum von den Geschützen, die sie inzwischen selbst gegossen hatten. Für die findigen Schmiede der Bruderschaft war es nicht schwer gewesen, die simplen Konstruk tionen nachzubauen. Die Arbeit der Folterknechte, die das Geheimnis des Schwarzpulvers ergrün den mussten, hatte sich als weitaus zeit raubender erwiesen, doch nach Wochen 8
des ununterbrochenen Schmerzes gab auch der härteste Ostmann klein bei. Selbst Apoo war damals froh gewesen, als er seinen Opfern den Gnadenstoß versetzen durfte. Das hatte es noch nie zuvor gegeben. Lodernde Kohlen. Rot glühendes Ei sen. Verbranntes Fleisch. Immer schneller jagten die heißen Wellen durch Skarangas Arme, bis er das Ge fühl hatte, die Haut würde ihm Stück für Stück vom Körper gezogen. Schweiß perlte auf seiner Stirn auf. Ver dammte Erinnerungen. Erst als die Dschunke unter dem Druck des Heckruders nach Backbord driftete, gelang es ihm, die Schatten der Vergangenheit abzuschütteln. Mit aus dem Wind genommenem Hauptsegel war das Schiff den Gewal ten der See für kurze Zeit schutzlos aus geliefert. Schwerfällig tanzte der Rumpf auf den Wellen, die gischtend an der Bordwand zerschellten. Skaranga glich die Schwankungen in stinktiv mit beiden Beinen aus und sah zu den kleinen Booten, die über der Backbordreling sichtbar wurden. Er schirmte die Augen mit der Hand ab, um sie gegen den Einfall der Sonne zu schützen. So konnte er die Fischer auf den Ruderbänken, die sich mit aller Kraft in die Riemen legten, mit bloßem Auge erkennen. Nahe genug, um sie unter Beschuss zu nehmen. »Ungefähr dreihundertfünfzig Boots längen Entfernung«, schätzte er laut, damit es die Bedienungsmannschaften verstanden. »Fertig machen zum Feu ern!«
Apoo und einige andere rissen die Ledertüllen, die die Mündungen vor eindringendem Salzwasser schützten, von den Backbordgeschützen. Die übri gen Piraten machten sich daran, die Sechspfünder auf die richtige Entfer nung einzurichten. Unter lautem Äch zen drückten sie die Rohrenden mit sta bilen Hebeln in die Höhe, damit pas sende Holzkeile untergeschoben werden konnten. Die Ausrichtung funktionierte nach einem simplen Prinzip. Je größer der hinten liegende Klotz, desto weiter senkte sich die Mündung herab. Bei waagerechter Lage ließen sich nur noch Ziele treffen, die nicht weiter als hun dert Längen entfernt waren. »Dreihundertfünfzig Längen steht«, gellte es nacheinander über Deck, bis auch die letzte Gruppe fertig war. »Ziel anvisieren!«, befahl der Pira tenkapitän. Klappernd flogen die Geschützpfor ten in die Höhe und machten den Sechs pfündern Platz, die nach vorne rollten, bis ihre schwarzen Mündungen drohend aus der Bordwand ragten. Der Steuermann korrigierte noch ein mal den Kurs, während die Dschunke unter Verwendung des Vorsegels lang sam durch die Wellen schnitt. Über die Backbordreling hinweg konnte man die davonziehenden Fischerboote sehen. Brennende Luntenstöcke senkten sich über die mit frischem Pulver gefüllten Zündlöcher. Die Kanoniere warteten nur noch auf den letzten, alles entschei denden Befehl. Skaranga grinste zufrieden. Seine Männer konnten dringend eine Ziel
übung gebrauchen. Beide Hände in die Hüften gestemmt, bleckte er angriffslu stig die Zähne und brüllte: »Volle Breit seite!« Die letzte Silbe hing noch in der Luft, als der Kanonendonner losbrach. Unter infernalischem Lärm entluden sich nacheinander alle fünf Geschütze. Rot glühende Flammen schlugen aus den Mündungen, gefolgt von dichten Pul verwolken, die das Schiff einnebelten. Der Explosionsdruck schleuderte die Sechspfünder auf ihren Holzkarren zu rück, doch starke Sicherungsleinen ver hinderten, dass sie über das ganze Deck rollten. Der geballte Rückstoß, der von den Leinen auf die Bordwand übertragen wurde, brachte die Dschunke gehörig ins Schwanken. Selbst Skaranga musste sich an der Brüstung festhalten, wäh rend er die Geschossbahnen verfolgte. Jaulend zogen die Eisenkugeln über das Wasser hinweg. Die Distanz zu den Fischerbooten schmolz in der Zeit spanne eines doppelten Fingerschnip pens. Zweihundertfünfzig Längen. Dreihundert. Dreihundertünfzig! Schließlich mussten sich die Kano nenkugeln doch der Schwerkraft beu gen. Mit zerschmetternder Kraft sausten sie nieder. Skaranga heulte vor Wut auf, als er die Wassersäulen sah, die an den ersten Einschlagpunkten in die Höhe spritzten. Verdammt, zu kurz gezielt! Die Masse der Fischerboote war schon dreißig Längen weiter. Nur zwei halb besetzte Nachzügler, 9
die nicht genug Ruderkraft aufbrachten, lagen noch im Zielgebiet. Die dritte Ku gel jagte direkt über einen von ihnen hinweg. Bei gesetztem Segel hätten sie glatt die Takelage des Bootes zerfetzt. So musste sich Skaranga damit be gnügen, dass die Ruderer auf den Bän ken durchgeschüttelt wurden, als die hinter ihnen einschlagende Kugel hohe Wellen schlug. Die Besatzung des anderen Nachzüg lers hatte nicht so viel Glück. Eine der beiden verbliebenen Kugeln hämmerte genau in ihren Bug. Das Splittern der Spanten war bis zur Dschunke zu hören. Die Wucht des Einschlags ließ die Schaluppe so stark erzitterten, dass das Heck kurzzeitig aus den Wellen stieg, nur um gleich darauf wieder zurück in die Fluten zu fallen. Die Besatzung hatte den auf sie ein wirkenden Fliehkräften nichts entge genzusetzen. Hilflos wirbelten die Män ner durcheinander, knallten mit den Köpfen zusammen und gingen über Bord. Hilfeschreie gellten über die Wasserfläche, während die Schaluppe bugüber zwischen ihnen versank. Wer nicht schnell genug fort kam, fiel dem Sog des untergehenden Schiffes zum Opfer. Gurgelnd verschwanden sie mit in den Fluten, wurden hinab gerissen in ein kaltes nasses Grab. An Bord der Dschunke wurde der Treffer mit gebührendem Jubel gefeiert. Die Piraten schlugen sich gegenseitig auf die Schultern und ergötzten sich an dem Todeskampf, der sich vor ihren Augen abspielte. Die ausgestreckte Hand eines Ertrinkenden, die noch für kurze Zeit zwischen den Wellen tanzte, 10
löste nur Hohn und Spott bei ihnen aus. Einzig Kapitän Skaranga zog ein missmutiges Gesicht. Dass die meisten Fischer überlebt hatten, sprach nicht ge rade für seine Treffsicherheit. Und als ob das nicht schon ärgerlich genüg wäre, besaß der verbliebene Nachzügler auch noch die Frechheit, seine Fahrt zu stoppen, um die im Wasser paddelnden Kameraden an Bord zu nehmen. Glaub ten diese Netzschwinger etwa, die Pira tendschunke hätte bereits ihr ganzes Pulver verschossen? Es gab nur eine Möglichkeit, den sauren Geschmack, den Skaranga im Mund verspürte, in das süße Aroma des Triumphes zu verwandeln. »Kanonen laden und neu ausrichten!«, übertönte er das allgemeine Geschrei. »Die Kerle versenken wir endgültig in den Wel len!« Einen Moment lang erstarrte die Mannschaft vor Überraschung, dann wurden begeisterte Rufe laut. In Augen blicken wie diesen zeigte sich, warum Skaranga der von allen gewählte und akzeptierte Führer ihrer Flotte war. Weil er es stets aufs Neue verstand, die natürliche Grausamkeit seiner Mann schaft in geregelte Bahnen zu lenken. Mit Feuereifer machten sich die Pira ten daran, die Kanonenrohre auszuwi schen. Erst nachdem auch der letzte Gluthauch verschwunden war, konnten sie es wagen, eine neue Pulverkartusche in das Geschütz zu stopfen. Ladepfrop fen und Eisenkugel folgten - doch ehe sie das Zündloch mit dem Pulverhorn auffüllen konnte, ertönte Geschützdon ner. Überrascht wirbelte Skaranga herum.
Mit großen Augen sah er auf die ande ren beiden Dschunken, die seine Kaper fahrt begleiteten. Ihre Kapitäne hatten seine Breitseite offensichtlich für das Startsignal zu einem allgemeinen An griff gehalten und deshalb ebenfalls das Feuer eröffnet. Dumpfe Schläge hallten vom Hafen wider. Steinstaubwolken markierten die Stellen, an denen einige Gebäude ge troffen wurden. »Aufhören, ihr Idioten! Habt ihr denn vergessen, was wir besprochen haben? Das Dorf nützt uns nichts, wenn ihr es dem Erdboden gleich macht!« Wütend riss Skaranga die Arme hoch und winkte hinüber, doch im Eifer des Gefechts wurden seine Zeichen überse hen. Erst als er ein blaues Kreuz auf gelben Grund am Mast auf ziehen ließ, stellten die anderen Dschunken das Feuer ein. Alle laufenden Manöver be enden, bedeutete diese Flagge. Skaranga schlug wütend mit der rechten Faust in die linke Handfläche. Die überlebenden Fischer waren natür lich längst an Bord der zweiten Scha luppe geklettert und außer Reichweite geflohen. Und eine Verfolgungsjagd war die Sache nicht wert, zumal die Sonne bereits von rötlichem Schimmer überzogen wurde. Bald würde es däm mern. Bis dahin sollten sie besser vor Anker liegen. Apoo, der die Enttäuschung seines Kapitäns am besten nachvollziehen konnte, wagte sich als Einziger aufs Quarterdeck. Grinsend schob der Narr den verrutschten Turban zurecht, bevor er sagte: »Was solls? Dafür stehen uns an Land sämtliche Speisekammern of
fen.« So war er, Apoo, der Narr. Nie lange an das Vergangene denken, immer dar auf bedacht, das Beste aus einer Situa tion zu machen. »Du hast Recht«, gab Skaranga zu. »Also los, Kurs auf die Bucht setzen.« Apoo gab den Befehl lautstark wei ter, bis die Dschunke wieder hart am Wind lag. Mit vollen Segeln schnitt der Bug durch die Wellen, die sich gisch tend teilten und am Rumpf vorbei roll ten. Berbow rückte näher. Ein verlasse ner Hafen, der den Launen der Piraten schutzlos ausgeliefert war … *
Gegenwart. Fünf mit Hellebarden bewaffnete Männer stoppten in respektvoller Ent fernung ab und gruppierten sich zu ei nem nach hinten abfallenden Halbkreis. Jeder von ihnen trug Helm und Brust harnisch aus Bronze, sowie einen Waf fenrock aus übereinander läppenden Le derstreifen. Hosen aus rotem Tuch und feste Stiefel vervollständigten die Uni form. Als zweite Hauptwaffe ragte je dem ein Kurzschwert aus der Rücken scheide; dazu hatten sich die meisten einen scharfen, beidseitig geschliffenen Dolch hinter den Ledergürtel gesteckt. Der Vorderste schien auch der Rang höchste zu sein. Darauf deutete zumin dest der grüne Helmbusch hin, mit dem er sich deutlich von den übrigen Solda ten abhob. Ungewöhnlich waren auch die Augen, die einen leicht mandelför migen Einschlag besaßen, der im Wi derspruch zu seiner hellen Haut stand. 11
Die Männer, die ihn flankierten, wirkten ebenso zusammengewürfelt wie seine Blutlinie. Einer besaß das runde Gesicht eines Inuit, zwei schienen euro päische oder kanadische Vorfahren zu haben und der dritte war nur unwesent lich heller als Honeybutt und Merlin. Vermutlich der Nachkomme einer afro amerikanischen Familie, die es einst zu einem Ölkonzern nach Alaska verschla gen hatte. Matt, Aiko und Aruula traten aus dem Ausstieg des Transportpanzers und hielten ihre Hände vom Körper abge spreizt, zum Zeichen, dass sie in friedli cher Absicht kamen. Die Running Men auf dem Dach machten es ihnen nach, nur Merlin war nicht dazu zu bewegen, den Panzer zu verlassen. Schweigen breitete sich aus. Selbst die Händler, die alles aus sicherer Ent fernung verfolgten, gaben keinen Laut von sich. Aus den Augenwinkeln konnte Matt erkennen, dass auf einer Erdschanze zwei Kanonen in ihre Richtung gedreht wurden. Nicht gerade ein freundlicher Empfang, aber auch noch kein Grund zur Sorge. So nahe, wie ihnen die Tor wache auf den Pelz gerückt war, würde sie im Falle eines Feuerbefehls unwei gerlich mit über den Haufen geschos sen. Die hiesige Bevölkerung schien eher mit Schiffsattacken als mit einem An griff über Land zu rechnen. Trotzdem gab es keinen Grund, die Konfrontation auf die leichte Schulter zu nehmen. Nie mand wusste, wie die Wachen reagieren würden. Ein falsches Wort mochte schon reichen, um Fremde unter dem 12
Galgen tanzen zu lassen. Matt hielt unwillkürlich den Atem an. Für eine Umkehr war es zu spät. Er musste zusehen, dass sie irgendwie klar kamen. Die Wachsoldaten musterten erst ihn und die übrigen Neuankömmlinge, dann den breiten Transportpanzer mit den aufmontierten Maschinengewehren. Be sonders das WCA-Emblem, das auf der Vorderfront prangte, schien ihr Inter esse zu wecken. Auf einen Wink des Offiziers hin zog der Inuit einen Stapel gegerbter Lederhäute hervor, die an der linken Seite miteinander vernäht waren. Aufgemalte Symbole zierten die rauen Oberflächen. Der Posten blätterte wie in einem Block hin und her, um die Zeich nungen mit dem Emblem des Nixon zu vergleichen. »Was soll das?«, wunderte sich Mr. Black. Matthew Drax musste ein Schmun zeln unterdrücken. Es kam nicht oft vor, dass der Rebellenführer eine Wissens lücke zugab. »Werfen Sie einen Blick in Richtung Hafen.« Matt deutete mit dem Kinn in Richtung der Mastspitzen, die über den Erdwall aufragten. In der geschützten Bucht lagen vierzehn Boote unter schiedlichster Größe vor Anker. Jedes von ihnen besaß eine Flagge oder zu mindest einen Wimpel, der Auskunft über die Heimat gab. Den vielfältigen Farbkombinationen nach zu urteilen, wurde der Hafen von Schiffen aus aller Herren Länder angelaufen. Vielleicht gab es entlang der Küste aber auch nur unzählige Stammesgebiete, die alle über eigene Banner verfügten.
Der Offizier des Wachtrupps legte die Stirn in Falten, als sich Matt und Mr. Black miteinander verständigten. Die englischen Sätze klangen wohl fremd in seinen Ohren. In Situationen wie diesen war es jedoch wichtig, seine Gegenüber zu verstehen. Nach kurzem Zögern setzte er deshalb zu einem wah ren Wortschwall an. Die Klangfolgen änderten sich laufend, doch es schien sich stets um denselben Satz zu han deln, den er in verschiedenen Mundar ten wiederholte. Matt erkannte einige Brocken Gwich'in, eine Sprache, in der sie sich schon wenige Wochen zuvor hatten ver ständigen müssen. Aruula, die den Inuit-Dialekt halbwegs beherrschte, wollte bereits zu einer Antwort anset zen, als der Soldat verlangte: »Sagt mir, Fremde, gehört ihr der räuberischen Bruderschaft des blutigen Banners an?« Matts Augenbrauen zuckten über rascht in die Höhe. Unglaublich! Er hatte jedes Wort verstanden. In dieser Siedlung kannte man tatsächlich die Sprache der europäischen Barbaren! Es musste wohl schon mehrfach Seeleute aus Euree bis hierher verschlagen ha ben. »Räuberisch? Redest du von Pira ten?« Matt gab sich empört. »Mit solch niederträchtigen Kerlen haben wir nichts zu tun. Wir sind friedliche Men schen, die eine Schiffspassage suchen.« Um auch den letzten Zweifel an ihren ehrbaren Absichten auszuräumen, stellte Matthew sich und die übrigen Expeditionsteilnehmer namentlich vor. So etwas schaffte in der Regel Ver trauen.
»Hauptmann Cusak von der Stadtwa che Berbow«, gab der Offizier zurück. Dass er eine Möglichkeit zur Verständi gung gefunden hatte, schien seinen Arg wohn zu besänftigen. Den Blick an Aruulas knapp geschnittene Fellweste geheftet, erkundigte er sich wie beiläu fig: »Und welchem Stamm gehört eure Gruppe an?« Die Antwort schien Cusak nicht son derlich zu interessieren, denn er wid mete sich weiter der Aufgabe, Aruula üppige Oberweite mit seinen Augen zu vermessen. Nur der angespannte Zug um seine Mundwinkel ließ ahnen, dass das Desinteresse gespielt war. In Wirk lichkeit wollte der gewiefte Offizier ein Netz aus Fragen auswerfen, in dem sich ungebetene Gäste verfangen sollten. Feine Schweißperlen rannen Matts Nacken herunter, während er um die richtigen Worte rang. Was sollte er dem Hauptmann sagen? Dass sie aus Meeraka kamen und unterwegs zum Kratersee waren? Eigentlich gab es kei nen Grund, mit der Wahrheit hinter dem Berg zu halten. »Sie gehören zum Stamme der WC A!« Matt zuckte zusammen. Das war nun das Allerletzte, was er Cusak sagen wollte, denn die World Council Agency glänzte normalerweise nicht mit Freundschaften, die sie in der Welt schloss. Zum Glück machte der Inuit, der die Lederhäute durchsucht hatte, keinen verängstigten Eindruck, sondern tippte triumphierend auf eine mit groben Stri chen ausgeführte Zeichnung, die einen stilisierten Kometen auf dem Grund ei ner amerikanischen Flagge zeigte. 13
Cusak bedachte den vorlauten Solda ten, der seine Strategie zunichte ge macht hatte, mit einem bösen Blick, be vor er fragte: »Und? Sind die WCA schon einmal unangenehm aufgefal len?« Der Inuit schüttelte den Kopf. »Darüber liegt nichts vor. Sie haben uns nur ein Mal besucht, ohne sich etwas zu Schulden kommen zu lassen.« Matt entließ etwas Luft aus seinem angespannten Brustkorb. Eine Gegend, in der sich Crows Spießgesellen aus nahmsweise nicht wie die letzte Sau be nommen hatten. Fast ein kleines Wun der. »Und was führt eure Gruppe nach Berbow?«, riss ihn Cusak aus den Ge danken. »Eine Reise«, beeilte sich Matt zu er klären. »Wir möchten mit einem Schiff nach Ruland übersetzten.« Cusak zog ein Gesicht, als hätte er gerade eine übelriechende Masse ent deckt, die an seiner Schuhsohle klebte. »Ihr wollt ans jenseitige Ufer?«, fragte er ungläubig. »Da werdet ihr kein Glück haben. Niemand aus Berbow setzt auch nur einen Fuß auf dieses ver fluchte Gebiet. Unser Dorf ist der letzte Außenposten der Zivilisation. Dort drü ben beginnt die Anderswelt, die von fliegenden Rochen, gefährlichen Sire nen und grausamen Seemonstern be herrscht wird. Jeder, der diese Gewässer kennt, fährt nur an unserer Küste ent lang, um den Schrecken der anderen Seite zu entgehen.« Zwei Segel, die am Horizont auf tauchten, bestätigen seine Worte. Matt dachte schaudernd an die Galgenhügel, 14
die von See aus nicht zu übersehen wa ren. Wenn die Besatzungen diesen An blick dem anderen Ufer vorzogen, konnte es noch heiter für sie werden. Trotzdem, sein Entschluss stand fest. Er musste den Kratersee aufsuchen, um Licht in die geheimnisvollen Daten zu bringen, die er auf der ISS gefunden hatte. »Wir möchten gerne versuchen, einen eurer Fischer zur Überfahrt zu be wegen«, erklärte er höflich. »Außer uns muss ja niemand an Land gehen.« Der Hauptmann zuckte nur mit den Schultern. »Von mir aus. Es ist euer Le ben, das ihr verschwendet.« Cusaks Argwohn schien schlagartig erloschen. Offensichtlich traute er keinen Pirat zu, sich unter dem Vorwand einzuschlei chen, eine Reise zum Kratersee zu pla nen. Durch ein Schwenken der Helle barde signalisierte er den Geschütz mannschaften, dass die Situation unter Kontrolle war. Was danach folgte, war reine Rou tine. Cusak ließ sich die überplante La defläche des Transportpanzers zeigen. Angesichts des traurigen Haufens an Transportkisten und Lederbeuteln rümpfte er zwar nur mit der Nase, be hielt aber trotzdem einige mit Brabee lensaft gefüllte Tonkaraffen als Wegzoll ein. Danach ließ er den Panzer passie ren. Matt, Aiko und Aruula enterten den Nixon und schlossen das Seitenschott. Sie mussten noch warten, bis zwei Wakuda-Gespanne abgefertigt waren, dann ging es endlich weiter. Quietschend setzten sich die Panzer ketten in Bewegung. Die Einfahrt war eine echte Heraus
forderung, denn der Nixon nahm fast die gesamte Torbreite für sich ein. Aiko erwies sich jedoch einmal mehr als si cherer Fahrer, der das klobige Gefährt perfekt beherrschte. Bereits im ersten Anlauf manövrierte er den Koloss durch die offenen Flügeltüren. Danach ging es durch enge Straßen hinab zum Hafen. Unterwegs passierten sie einige ausge besserte Häuserfronten und zwei kohl rabenschwarze Ruinen, die ein Raub der Flammen geworden waren. Irgendetwas musste, hier in Berbow vorgefallen sein; vor noch nicht allzu langer Zeit. *
Vier Wochen zuvor. Eine trügerisch wirkende Stille hing in der Luft, als die Dschunken in den Hafen einliefen. Plätze und Straßen rings um die natürliche Bucht wirkten wie leer gefegt. Keine Menschenseele war zu sehen. Nirgendwo das kleinste Zeichen von Gegenwehr. Die Bewohner schienen wirklich alle geflohen zu sein. Trotzdem ließ Skaranga Vorsicht walten. Verfrühter Jubel wurde von ihm mit aller Härte unterbunden. »Bleibt gefälligst an den Kanonen!«, wetterte er, als einer aus der Bedie nungsmannschaft seinen Platz verlassen wollte. »Vielleicht ist das ein Hinter halt!« Auf seinen Befehl hin wurden die Se gel eingeholt, nur für den Fall, dass man sie mit Brandpfeilen empfangen wollte. Die laufende Fahrt der Dschunken reichte aus, um sich zu splitten und drei verschiedene Anlegeplätze entlang des Halbrundes anzusteuern. Häuser, Kar
ren und Schuppen rückten immer näher ins Schussfeld der Kanonen. Skaranga ließ die Rohre zusätzlich mit gehackten Bleistücken laden, damit jeder, der sich ihnen in den Weg stellte, förmlich vom Pier gefegt wurde. Doch es blieb weiterhin ruhig. Knirschend schrammte die Bordwand an dem hölzernen Anlegesteg entlang, der parallel zum Ufer verlief. Apoo und zwei weitere Piraten sprangen von Bord, um die Dschunke zu vertäuen. Alles lief glatt, aber gerade das schien den Narren zu stören. »Verdammt!«, rief er aus. »Was ist das für ein Überfall, bei dem ich nicht wenigstens ein paar Schädel einschla gen oder Weiber schänden kann?« »Vermutlich sind deine Wünsche der Grund dafür, dass alle wie die Fleggen davon sind«, gab Skaranga zurück. »Die Menschen in Berbow haben be stimmt gehört, dass Apoo, der Narr wie der zu Spaßen aufgelegt ist.« Gelächter brandete entlang der Steu erbordreling auf. Die Piraten hielt es nicht länger auf den Plätzen. Ungeduldig drängen sie nach vorn. Scharfe Krummsäbel blitz ten in der Sonne, während sie sich zum Sturm bereit machten. Das eintönige Leben auf See, begrenzt auf einen Raum, der nicht mehr als acht mal drei ßig Schritte maß, hatte sie unruhig und aggressiv werden lassen. Sie dürsteten nach Ablenkung und sehnten sich da nach, das schwankende Deck gegen fe sten Boden einzutauschen. Sie noch länger im Zaum zu halten, würde Unmut heraufbeschwören. Skaranga wusste, wann er die Meute 15
von der Leine lassen musste. »Die Stadt gehört euch«, verkündete er großzügig. »Nur die Luntenstockträger bleiben als Bordwache zurück.« In einer grölenden Woge drängte die bunt gekleidete Bande über die Reling und stürmte mit schweren Schritten auf dem Holzsteg davon. Nur die fünf Ka noniere ließen ihre Schultern hängen, als müssten sie gerade die größte Unge rechtigkeit aller Zeiten ertragen. »Kein Grund zur Trauer«, munterte sie der Kapitän auf, bevor er sich eben falls von Bord schwang. »Ich schicke euch bald eine Ablösung.« Seite an Seite mit Apoo sprang er von dem auf Stelzen gebauten Anleger zur Promenade hinab, um den Weg ab zukürzen. Grobes Gestein knirschte un ter ihren Ledersohlen, als sie federnd aufkamen. Endlich wieder festen Boden unter den Füßen. Skaranga litt unter der gleichen Krankheit wie alle Seeleute. War er an Bord seines Schiffes, verfluchte er stets die Launen des Meeres; befand er sich aber einige Tage an Land, sehnte er sich wieder zurück nach dem gleichmäßigen Takt der Wellen, die an die Bordwand schlugen. Mit weit ausholenden Schritten lief er durch den Hafen, alle Sinne gespannt, weiterhin auf Abwehr bedacht. Seine Besatzung ließ weniger Vor sicht walten. Ausgelassen stürmte sie in die nächstbesten Häuser, um alles Brauchbare an sich zu reißen. Skaranga schritt gerade über den breiten, mit Feldsteinen gepflasterten Weg, der die Bucht wie einen Gürtel umgab, als die ersten Piraten mit Beute auf die Straßen 16
zurückkehrten, Fressalien, Tonkrüge, Federhüte und bunte Kleider an sich ge presst, als ob sie den Plunder nie wieder hergeben wollten. Dabei wurde später sowieso alles auf einen Haufen gewor fen und gerecht unter den Besatzungs mitgliedern verteilt. Einige, die in den üblichen Ver stecken fündig geworden waren, hielten sogar mit Edelsteinen und Münzen ge füllte Säckchen in Händen. Fischer und Händler hatten auf ihrer überstürzten Flucht einiges von Wert zurückgelas sen. Skaranga grinste. Ein schlechter Ruf war das größte Kapital eines Pira ten. Schade, dass die Küste von Kanda längst abgegrast war. Für die Bruderschaft vom blutigen Banner gab es hier nicht mehr genügend zu holen. Was sich noch aus Berbow herauspressen ließ, war ebenfalls kaum der Rede wert. Aber das hatten sie auch nicht anders erwartet. Was sie eigent lich hier suchten, war frischer Proviant, Trinkwasser und eine ruhige Nacht im Bett, bevor sie den weiten Weg in die Meera-See antraten, um sich mit neuen Verbündeten zu treffen. Goldene Zeiten standen der Bruderschaft bevor, denn zwischen Groland, Meera-Inseln und Ruland warteten noch viele Häfen auf die erste Begegnung mit ihren Kanonen. »Hierher, Kapitän! Sieh dir das an!« Apoo sprang wie ein angeschossener Ge rul vor einer offenen Schenkentür herum. »Der Wirt hat uns drei dicke Fässer als Abschiedsgeschenk hinterlas sen!« Zum blauen Fishmanta'kan. Nur eine verdammte Landtaratze konnte sich so einen Namen einfallen lassen. Der
zweistöckige Bau mit dem großen Schankraum war den Piraten noch von ihrem letzten Überfall in guter Erinne rung. Hier hatte es das beste Ael und die drallsten Schankweiber gegeben. Die Kapitäne der anderen Dschunken schienen das genauso zu sehen, denn sie eilten mit großen Schritten herbei, wäh rend ihre Besatzungen bereits innerhalb des Dorfes wüteten. Lautes Krachen hallte durch die Straßen. Die Männer warfen Betten und Truhen aus den Fen stern, entweder aus Übermut oder weil sie nach versteckten Schätzen suchten. Skaranga war es egal. Die Kerle sollten sich ruhig ordentlich austoben. Sobald sie wieder auf See waren, würde er schon für Zucht und Ordnung sorgen. Zusammen mit den anderen Schiffs führern betrat er den Blauen Fishmanta'kan. Hier würden sie bis zum nächsten Morgen ihr Hauptquartier auf schlagen. Der große Schankraum konnte spielend alle drei Besatzungen aufnehmen, und im Obergeschoss gab es bequeme Betten. Die Aelfässer vor der Theke wurden bereits von einer stattlichen Anzahl dur stiger Piraten umlagert. Apoos Ent deckung hatte sich schnell herumge sprochen. Statt die Deckel vernünftig zu lösen, hämmerten die Männer mit ihren Säbelgriffen solange darauf ein, bis sie zerbrachen. Dann wurden von allen Sei ten tönerne Humpen eingetaucht und mit der dunklen, schaumigen Flüssig keit gefüllt. Dabei wurde so mancher Tropfen verschüttet, statt in durstige Kehlen zu rinnen. Ärger machte sich breit. Es dau erte nicht lange, bis es zu einer wüsten
Rangelei kam, bei der auch mit blanker Klinge aufeinander eingedroschen wurde. Schreie gellten durch den Raum. Erst spritzte Blut, dann flog ein abge schlagenes Ohr durch die Luft. Skarangas mandelförmige Augen wurden noch schmaler. Er musste schleunigst eingreifen, bevor noch mehr Unheil geschah. Mit einem mächtigen Satz katapultierte er sich auf die Theke. »Reißt euch zusammen!« brüllte er die versammelte Meute an. »Geht euch nicht gegenseitig an die Kehle, nur weil ihr keine Fischer zum Verdreschen habt! Es ist genug für alle da. Mehr als zwei Humpen pro Mann gibt es nicht! Wir müssen einen klaren Kopf behalten, für den Fall, dass die Dörfler wieder kommen.« Leises Murren wurde unter den Ge scholtenen laut, doch diesmal blieb der Kapitän hart. »Skingo«, er deutete auf den Mann, der als Einziger eine blutbe fleckte Klinge in Händen hielt, »du füllst deinen Krug und nimmst ihn mit auf den steinernen Wachturm. Von dort aus warnst du uns, falls du etwas Ver dächtiges siehst.« Skingo, der drahtige Thaländer mit dem kurzen, bis weit über den Ohren abrasierten Haar machte erst den Ein druck, als wollte er widersprechen. Doch dem Blick seines Kapitäns konnte auch er nicht lange standhalten. Betre ten starrte er auf den Krug in seiner Hand, den er ein letztes Mal eintauchte, bevor er schweigend davonschlich. Skarangas Ansprache hatte gefruch tet. Von nun an ging es gesitteter zu. Apoo zweigte sogar drei volle Humpen für die Kapitäne ab, bevor die übrigen 17
Piraten weiter saufen durften. »Gut gemacht«, lobte Piu, der Führer der zweiten Dschunke. Er war noch sehr jung, aber äußerst zuverlässig. Deshalb hatte ihn die Bruderschaft kürzlich befördert. Skaranga winkte lässig ab, während sie sich an einen einzelnen Tisch nie derließen. »Unsere Männer sind wie kleine Kinder, die förmlich darum bet teln, in die Schranken gewiesen zu wer den. Ab und zu muss man ihnen eben den Gefallen tun.« Lachend stießen die Kapitäne ihre Krüge gegeneinander und tranken von dem dunklen, süffigen Gebräu. Skaranga stieß ein wohliges Seufzen aus. »Ahhh. Das ist doch etwas anderes als brakiges Regenwasser.« Seine Kollegen nickten beifällig, doch Piu zeigte sich mal wieder eifriger als alle anderen. »Wir sollten unsere Trinkfässer noch vor Einbruch der Dun kelheit auffüllen«, schlug er vor. »Was wir erst an Bord haben, kann uns nie mand mehr abspenstig machen. Außer dem brauchen wir einen Vorrat an Sh maldan, getrockneten Brabeelen, Tofa nen und …« »Nur die Ruhe«, unterbrach ihn Skaranga. »Wozu gibt es Fackeln und Talglampen? Die Männer sollen sich erst mal ein wenig austoben. Danach«, er gähnte herzhaft, »ist noch Zeit genug für harte Arbeit.« Seinen Krug in kleinen Schlucken leerend, erzählte er über das geplante Treffen mit den übrigen Schiffen der Bru-.derschaft, bis er merkte, dass ihm die Augenlider schwer wurden. »Verstehe ich nicht«, murmelte er mit 18
schwerer Zunge. »Ist noch nicht mal dunkel draußen.« Den anderen Kapitänen ging es nicht viel besser. Piu hatte seinen Kopf be reits auf den Tisch gebettet. Skaranga langte hinüber, um den faulen Sack wachzurütteln, doch sein Arm war plötzlich schwer wie Blei. Noch ehe er die Bewegung ausführen konnte, sank er selbst vorne über. Erst jetzt, da er die Lider kaum noch offen halten konnte, fiel ihm auf, wie ruhig es im Schan kraum geworden war. Er versuchte noch zur Theke hinüber zu sehen, aber selbst dafür fehlte ihm die Kraft. Seine Gedanken erlahmten, noch be vor er sich richtig über die plötzliche Müdigkeit wundern konnte. Stille brei tete sich in seinem Kopf aus. Dass ihm der Krug aus der Hand glitt und auf dem Boden zerschellte, hörte er schon nicht mehr. *
Obwohl Iisi die Falltür nur eine Handbreit in die Höhe drückte, quietschte sie laut in den Angeln. Er schrocken lauschte er in die Dunkelheit hinein. »Warte gefälligst«, wisperte es unter ihm. »Es ist noch zu früh.« »Unsinn«, gab der junge Fischer eine Spur zu selbstsicher zurück, bevor er in gedämpften Ton fortfuhr: »Es ist schon eine Ewigkeit kein Gepolter mehr zu hören. Draußen muss längst Nacht sein.« »Trotzdem«, mischte sich eine voll tönende, von zu vielen Nächten in ver räucherten Räumen dunkel gefärbt
Stimme ein. Das war Nuuk, der Wirt, der mit den anderen Männern auf dem kalten Erdboden ausharrte. »Warum ein unnötiges Risiko eingehen?« »Weil die Piraten wieder aufwachen, wenn wir zu lange warten«, gab Iisi lau ter als eigentlich beabsichtigt zurück. Ein vielstimmiges Pssst wies ihn umge hend in die Schranken. Wieder lauschte er in den über ihm liegenden Keller hinein, doch auf der steilen Holzstiege, die vom Schankraum herab zu den Fässern voller Ael, Wein und eingelegten Fischen führte, waren keine Schritte zu hören. Na also, da oben gab es niemanden mehr, der ihnen gefährlich werden konnte. Um das an den Nerven zerrende Ge quietsche abzukürzen, stieß er die Luke schwungvoll empor, bis sie einrastete und aufrecht stehen blieb. Dann klet terte Iisi über die Leiter nach oben. Zwei schmale Lichtbahnen, die durch die Ritzen der Schankraumluke dran gen, spendeten gerade genug Helligkeit, dass er nirgendwo anstieß, als er zwi schen Fässern und Kisten hindurch la vierte. Hinter ihm raschelte Stoff. Die übri gen Männer, die sich in dem geheimen Raum unter dem Vorratskeller verbor gen hatten, schlossen sich seinem Vor stoß an. Was blieb ihnen auch anderes übrig? Falls man Iisi erwischte, würden die Piraten hier unten jeden Winkel gründlich absuchen. Spätestens dann mussten sie auch auf die Falltür stoßen. Iisi griff nach demlangen Messer, das hinter seinem Gürtel steckte. Eine gera dezu lächerliche Waffe, falls es gegen Säbel und Enterbeile ging, doch dafür
hatte er die Überraschung auf seiner Seite. Vorsichtig, ohne auch nur ein einzi ges Knarren zu verursachen, kletterte er auf allen Vieren die Stiege zum Schan kraum empor. Erneut versperrte ihm eine Falltür den Weg. Diesmal schlug ihm das Herz bis zum Hals, als er die Luke in die Höhe drückte. Seine gewei teten Pupillen wurden vom Zwielicht geblendet, aber nach einigem Zwinkern konnte er zwei Schuhsohlen erkennen, die direkt vor seiner Nase in die Höhe ragten. Sie gehörten einem mit Pluderhosen und Kopftuch bekleideten Piraten, der reglos auf dem Rücken lag. Hätte sich der Brustkorb nicht in regelmäßigen Abständen gesenkt und gehoben, hätte man den Kerl glatt für tot halten kön nen. Wie aus weiter Ferne wurden nun auch Schnarchgeräusche hörbar. Mutig geworden, zwängte sich Iisi unter der Luke hervor und kroch an den Rand der Theke. Von hier aus hatte er einen guten Blick über den Schan kraum, oder besser: Er hätte ihn gehabt, wenn nicht die ganzen Zecher rund um die drei Aelfässer zusammengesunken wären. Die Schlafkräuter, mit denen der Wirt den Trunk versetzt hatte, zeigten eine erstaunlich gute Wirkung. Iisi richtete sich vorsichtig hinter der Theke auf. Nicht ein einziger Pirat war noch wach. Ob in sich zusammengesunken oder lang auf dem Boden ausgestreckt, alle schnauften und schnarchten vor sich hin. Zufrieden kehrte Iisi zur Luke zurück und winkte den anderen. »Kommt 19
schon, die Luft ist rein.« Leises Klirren begleitete die Schritte der Männer, als sie über die Stiege nach oben eilten. Jeder von ihnen hielt ein halbes Dutzend Ketten in Händen, um die Piraten zu fesseln. Nuuk konnte den Zorn, der seinen massigen Körper schüttelte, kaum noch beherrschen. »Damit habt ihr wohl nicht gerech net, ihr miesen Kanaillen!«, zischte er triumphierend. »Habt wohl gedacht, wir nehmen eure Überfälle ewig hin, so wie das schlechte Wetter, häh? Aber nicht mit uns! Wir haben uns seit dem letzten Mal etwas Feines für euch überlegt.« »Lass die Reden«, rügte Iisi den Wirt. »Wir müssen uns beeilen.« Nuuk hielt tatsächlich inne, kniete nieder und begann einem Piraten die Hände auf den Rücken zu fesseln. Die übrigen Männer - Fischer, Bau ern, Händler und Knechte - machten es ihm nach. Nur Iisi eilte Richtung Aus gang, um einen Blick ins Freie zu wer fen. Die Sonne war längst untergegan gen, trotzdem konnte er hinter einigen Dächern rötlichen Schein ausmachen. Am Rand des Dorfes brannte ein Haus nieder. Vielleicht aus Zerstörungswut, vielleicht aber auch, weil ein schläfriger Pirat seine Talgkerze umgeworfen hatte. Es gab noch ein halbes-Dutzend wei terer Plätze, an denen mit Schlaf kraut versetzte Aelfässer standen; und das schon den ganzen Sommer lang. Alle in Berbow hatten gewusst, dass die Piraten früher oder später wiederkommen wür den, denn die übrigen Küstenstädte ent lang des Homs von Kanda hatten längst vor den Angriffen der 20
»Donner-Dschunken« kapituliert. Dort waren die Menschen einfach ins Lan desinnere gezogen und hatten Häuser und Hafen dem Verfall preisgegeben. Das Klirren der Ketten rückte näher. Nun wurden auch die Schläfer an den Tischen in Eisen gelegt. Nicht mehr lange, und sie konnten draußen zuschla gen. »Wie siehts aus?«, fragte Nuuk, der keine Kette mehr übrig hatte. »Bisher ist alles ruhig.« Iisi wartete, bis auch die anderen heran waren, bevor er mahnte: »Wir müssen damit rechnen, dass einige Piraten die Finger vom Ael gelassen haben. Nuuk, du kümmerst dich am besten um den Glockenturm. Falls ihr Ausguck noch wach ist, darf er den Rest der Bruderschaft nicht war nen.« »Keine Sorge.« Der massige Wirt drückte seine gefalteten Hände durch, bis ein Knacken ertönte. »Wenn der Kerl aufmuckt, dreh ich ihm den Hals um.« »Hauptsache, es geht leise vonstat ten«, verlangte Iisi. »Die anderen folgen mir zum Hafen. Wir müssen die Don nerwaffen in die Hände bekommen, da mit wir uns in Zukunft gegen die Bru derschaft wehren können.« Obwohl ihn niemand zum Anführer gewählt hatte, stimmten die anderen zu. Sie waren wohl froh, dass einer die Führung übernahm. Mit gezückten Waffen schlüpften sie nacheinander aus der Tür und drückten sich an der Haus wand entlang. Blank polierter Stahl re flektierte im Mondlicht. Lediglich Nuuk gab der massiven Keule, mit der er auch in der Schenke für Ordnung sorgte, den
Vorzug. Den Schatten einiger Gebäude nut zend, eilte Iisi dem Hafen entgegen. Ge rade wollte er um die letzte Hausecke spähen, als ihn zwei laute Stimmen zu rückzucken ließen. »Hältst du das wirklich für eine gute Idee?«, jammerte einer der beiden Män ner, die über die Promenade kamen. »Skaranga wird uns den Kopf abreißen, weil wir unseren Posten verlassen ha ben.« . Piraten, kein Zweifel. Der zweite stieß einen verächtlichen Laut aus, be vor er antwortete: »Wenn der Käpt'n die versprochene Ablösung geschickt hätte, müssten wir uns auch nicht seinem Be fehl widersetzen.« Iisi bedeute den anderen, dass sie Deckung suchen sollten. Er selbst ver barg sich hinter einer vollen Regen tonne. Gerade noch rechtzeitig, bevor das Duo in ihre Gasse bog. Die Piraten waren so sehr in ihr Ge spräch vertieft, dass sie das im Dunkeln lauernde Unheil gar nicht bemerkten. »Ich bleibe doch nicht die ganze Zeit auf dem Schiff hocken, während sich alle anderen die Hucke vollsaufen«, schimpfte das Großmaul weiter. »Skaranga soll bloß aufpassen. Kein Käpt'n kann es sich erlauben …« Mitten im Satz brach der Mann ab. Das konnte nur bedeuten, dass er etwas bemerkt hatte. Iisi federte aus seinem Versteck her vor. Den rechten Arm angewinkelt, das scharfe Messer fest umklammert, stürzte er auf die Piraten zu, die bereits nach ihren Säbeln griffen. Noch hatten sie keinen Ton hervorge
bracht, und mit einem schnellen Stich in den Hals sorgte Iisi dafür, das es bei dem Großmaul auch so blieb. Ein war mer, klebriger Strom ergoss sich über seinen Unterarm, während er die Klinge zurück zog, um auch den zweiten Geg ner zu attackieren, einen hageren Kerl mit kahl rasiertem Schädel und vor springender Nase, die dem Schnabel ei nes Bonta-Vogels ähnelte. Zwei sil berne Ringe glänzten in seinen Ohr läppchen. Seine glitzernden Pupillen tanzten in dem verzweifelten Versuch, die Zahl der Gegner auszumachen, in seinen Au genhöhlen. Für den Kahlkopf musste es aussehen, als ob die Nacht selbst leben dig geworden wäre, denn plötzlich drangen von überall Männer auf ihn ein. Sein Mund öffnete sich, doch ehe ihn ein Ton passieren konnte, durchbohrten die Forken einer Mistgabel von hinten seine Lungen. Nahezu lautlos sackte der Pirat in sich zusammen. Nur wenige Schritte neben seinem erstochenen Kumpanen hauchte er sein Leben aus. Iisi wischte sein Messer an den Plu derhosen des Toten ab. »Das war ver dammt knapp!«, raunte er. »Wir müssen …« Leise Schritte in der Nebenstraße un terbrachen ihn. Diesmal war es zu spät, um sich zu verstecken. Hastig verteilte sich die Gruppe in der Gasse und machte sich zum Kampf bereit. Unförmige Schemen lösten sich aus der Dunkelheit. War es Freund oder Feind? Als die Gesichter von Cusak und den übrigen Wachsoldaten sichtbar wurden, 21
entspannten sie sich alle wieder. »Jenseits des Hafens ist alles unter Kontrolle«, erklärte der Hauptmann atemlos. »Wie sieht es bei euch aus?« Iisi deutete auf die beiden Toten zu seinen Füßen, die für sich selbst spra chen. Dann berichtete er von den schla fenden Piraten im Blauen Fishmanta'kan. »Gute Arbeit«, lobte Cusak. »Bleibt nur noch der Hafen. Zwei Dschunken sind leer, doch auf der dritten gibt es Wachen. Ihr wisst, was das bedeutet.« »Keine Sorge«, versicherte Iisi. »Die Kanonen übernehmen wir Fischer.« Das kalte Wasser umschloss Iisi wie eine zweite Haut, als er sich, nur mit ei nem Lendentuch bekleidet, in das natür liche Hafenbecken gleiten ließ. Etwas Glitschiges, Filigranes fasste nach sei nen Beinen. Der junge Fischer wusste, dass es Algen waren, die im Uferbe reich wuchsen, trotzdem durchzuckten ihn tausend Ängste. Was, wenn sich die Bruderschaft mit dem Bösen verbündet hatte, das sonst nur jenseits des Hori zonts auf sie lauerte? Iisi hatte noch nie eines der Unge heuer gesehen, die in der Anderswelt herrschten, doch er wusste, dass sie mehr als nur Legenden waren. Selbst hartgesottene Seeleute, die weder Sturm noch Flaute fürchteten, bekamen gla sige Augen, wenn sie von den Kreatu ren des jenseitigen Ufers berichteten. Schiffbrüchige, die dort angespült wurden, sollen sich schon lieber ein Messer in den Leib gestoßen haben, als auch nur einen Schritt an Land zu wa gen. In die Hände von Piraten zu fallen galt weithin als milderes Schicksal, als 22
der verbotenen Küste zu nahe zu kom men. Zumindest in jenen Zeiten, da die Bruderschaft noch keine Donnerwaffen besessen hatten. Kanonen, so hießen die Waffen, die aus den Schmieden der Fishmanta'kan stammen sollten und dickste Schutz mauern zum Einsturz brachten. Es gab nur eine Möglichkeit, das Überleben in Berbow zu sichern: Dieses Dorf musste selbst in den Besitz ihrer zerstöreri schen Kraft gelangen. Iisi befreite seine Beine aus der Um klammerung der Algen und schwamm mit ruhigen Zügen weiter. Nur kein Ge räusch verursachen, hieß die Devise, die von ihm und den Männern an seiner Seite beherzigt wurde. Insgesamt vier Fischer waren es, die lautlos durch das Hafenbecken glitten. Ein Mann mehr als Piraten auf der Dschunke Wache hielten. Das musste reichen. Silberne Reflexe tanzten auf dem Wasser, doch der Mond meinte es gut mit ihnen. Als sie sich dem Schiff nä herten, verbarg er sein bleiches Antlitz hinter einige Wolken, sodass ihre Köpfe mit den dunklen Wellen verschmolzen. Einige Talglichter, die an Deck brann ten, wiesen den Weg durch die Nacht. Ab und an sahen sie die Silhouetten der Wachen, die auf den Planken hin und her patroillierten. Die letzten zwanzig Körperlängen legten die vier Fischer unter Wasser zu rück, um jeder zufälligen Entdeckung zu entgehen, Iisi tauchte, bis er den Schiffsrumpf unter seinen Fingern spürte, ließ sich Handbreit um Hand breit in die Höhe treiben und reckte den Kopf vorsichtig über die Wasseroberflä
che. Salzige Ströme rannen über sein Gesicht und verbanden sich mit den Wellen, die gegen seine Lippen schlu gen. Er zwang sich, in ruhigem Takt durch die Nase zu atmen. Mit klopfendem Herzen lauschte er, was oben los war. Regelmäßige Schritte auf den Plan ken, leise Gespräche, dann ein kurzes, trockenes Lachen. Die Bordwache ahnte noch nicht, was ihr bevorstand. Ksi überzeugte sich davon, dass auch die anderen drei Wasser tretend an der Bordwand klebten, bevor er seine Hände faltete und an die Lippen presste. Zwei Mal ahmte er das Quaken einer gelben Giftkröte nach, nicht öfter. Er wollte schließlich nicht, dass einer der Piraten Jagd auf den lästigen Ruhestörer machte. Was folgte, war eine Zeit bangen Wartens. Iisi fürchtete schon, dass Cusak und die anderen das Signal nicht gehört hat ten, als endlich laute Stimmen vom Kai herüber drangen. An Bord der Dschunke brach Hektik aus. Im Wasser war gut zu hören, wie drei Fußpaare aufgeregt hin und her liefen. Die Fischer zogen Dolche aus den Lendentücher und klemmten die blan ken Klingen zwischen ihre Zähne. Dann griffen sie nach den offenen Geschütz luken über ihnen und zogen sich am Schiffsrumpf empor. Das leise Plät schern, mit dem das Wasser am Körper entlang zurück ins Meer lief, wurde von dem Tumult auf der Hafenseite über tönt. Iisi schlang den freien Arm um die vorstehende Kanonenmündung, win
kelte das linke Bein an und schob den Fuß mit in die Luke. Nachdem er festen Halt gefunden hatte, stemmte er sich in die Höhe, bis er über die Reling hinweg sehen konnte. Gerade noch rechtzeitig, um zu beobachten, wie zwei der Piraten eine Kanone abfeuerten. Gehacktes Blei fauchte über Bootssteg und Promenade. »Lasst das!«, schimpfte der dritte in den verhallenden Donner hinein. »Die sind viel zu weit weg! Los, nachladen! Wenn sie übersetzen wollen, werden sie ihr blaues Wunder erleben!« Mit beiden Händen an der Bordwand festgeklammert, verfolgte Iisi atemlos die Ladeprozedur. Jeden Handgriff prägte er sich ein, denn genau so mus sten sie es selbst machen, wenn sie die Waffen erst erbeutet hatten. »Wo bleiben unsere Leute?«, fragte einer der Kanoniere, dem wohl langsam dämmerte, dass am Ufer irgendetwas nicht so lief, wie es laufen sollte. Cusak und die anderen veranstalteten aus sicherer Entfernung ein Riesenspek takel. Flüche und Beschimpfungen klangen über das Wasser herüber. Als das abgefeuerte Geschütz fertig geladen nach vorne rollte, war die Zeit zum Handeln gekommen. Iisi schwang sich als erster an Bord. Auf nackten Fü ßen eilte er über die rauen Planken. Die anderen folgten ihm wie Schatten. Ge meinsam fielen sie über die Piraten her und machten mit einem Schnitt durch ihre Kehlen kurzen Prozess. Als die Bordwache tot an Deck lag, atmete Iisi erleichtert auf. Die Kanonen - jetzt gehörten sie ihnen! Er berührte ehrfürchtig die metallisch kalten Rohre. Für die Menschen am Kap von Kanda 23
brach eine neue Zeit an. Von nun an
konnten sie den Piraten die Stirn bieten.
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Gegenwart. Matt wollte seinen Augen nicht trauen, als er die Holztafel sah, die über dem Eingang des Blauen Fishmanta'kan an zwei rostigen Angeln pendelte. Nicht nur, dass man auch hier die Legende von den blutrünstigen Fishmanta'kan kannte - die in Wahrheit die friedlieben den Hydriten waren - das reißerische Motiv, dem das Gasthaus seinen Namen verdankte, bestand aus einem Seemon ster mit weit aufgerissenem Maul, das hinter einem gehetzt wirkenden Schwimmer aus den Fluten empor schoss. Abgesehen von den Flossen, mit denen das Untier besetzt war, ähnelte die Szene verteufelt dem Kinoplakat ei nes bekannten Filmklassikers: JAWS von Steven Spielberg. Mr. Black hatte wenig Sinn für cinea stische Betrachtungen. »Dieses Ge schmiere kann doch höchstens ein Kleinkind erschrecken«, brummte er, nachdem er vom Panzer gesprungen war. »Mir gibt viel eher zu denken, dass Berbow Kontakt zur WCA hatte. Scheint fast so, als ob Crows Expedi tion bereits hier durchgekommen ist.« Aiko schwankte unentschlossen mit dem Kopf. »Für mich klang es eher, als ob die Begegnung schon lange Zeit zu rücklag.« »Tatsächlich?«, versetzte Mr. Black. »Können Sie mir dann auch erklären, warum die WCA überhaupt eine Expe 24
dition zum Kratersee losgeschickt hat, wenn sie diese Gegend doch längst er kundet hat, Mr. Tsuyoshi?« Es fiel dem Rebellenführer immer noch schwer, mit Einsprüchen fertig zu werden. Bei den Running Men waren seine Schlussfolgerungen stets als un umstößliche Tatsachen behandelt wor den, doch in Aiko und Matt besaß er zwei gleichwertige Partner, die ihm in vielen Bereichen sogar Wissen voraus hatten. Aiko zeigte wenig Neigung, sich der art abkanzeln zu lassen, doch bevor es zu einem Streit kommen konnte, mischte sich Aruula ein: »Vielleicht waren das Captain Perkins und seine Männer, bevor sie sich auf den Weg nach Nipoo gemacht haben?« In wenigen Worten erzählte sie dem überraschten Mr. Black von den Angrif fen auf die japanische Inselkette, hinter denen der Weltrat steckte. Leider be schränkten sich ihre Informationen auf das, was sie in den Erinnerungen Gene ral Fudohs gelesen hatte, einem Samu rai, der aus Vergeltung die amerikani sche Ostküste besetzten wollte. Eins stand aber fest: Hymes & Co. mussten irgendwo im Pazifik ein Hilfsvolk sta tioniert haben, um auch dort alle auf strebenden Nationen klein zu halten; so wie es die grausamen Nordmänner in Euree taten. Dafür sprachen auch die genetisch verunstalteten Mongolen, die ihnen in den letzten Wochen das Leben schwer gemacht hatten. Matthew Drax hatte ihnen den nahe liegenden Namen »Ostmänner« gegeben. Ein Ächzen ließ alle herumfahren. Das Geräusch stammte von Merlin
Roots, der sich am Ausstieg festhalten musste, um nicht in die Knie zu gehen. »Letztlich ist es meine Schuld«, flü sterte er. »Der Dreckskerl, der Ka ryaana umgebracht hat, entstammt dem gleichen unseligen Herrschaftsdenken, das ich in Skandinavien beim Nordmann-Projekt unterstützt habe. Genauso gut hätte ich ihr selbst das Genick bre chen können.« Zuerst wusste niemand, wie er auf diese Eröffnung reagieren sollte, dann trat Mr. Black heran und legte Merlin eine Hand auf die Schulter. »Schon gut, Mr. Roots«, tröstete er ihn. »Die Verantwortung tragen andere. Sie waren nur deren Chronist. Aber Sie haben das Unrecht eingesehen und sich gegen die WCA gewendet. Mehr kann niemand von Ihnen verlangen.« »Natürlich kann man das!« Ein ent schlossenes Funkeln trat in Merlins trä nenumwölkte Augen, während er die Hände zu Fäusten ballte. »Der Terror dieser Mongolenhorde darf nicht unge straft bleiben. Ich muss den Kampf auf nehmen, bevor noch mehr Unheil ge schieht. Sonst wäre Karyaanas Tod um sonst gewesen.« »Keine Sorge«, versuchte Matthew den Zorn des Schwarzen in richtige Bahnen zu kanalisieren. »Am Kratersee wirst du noch genügend Gelegenheit bekommen, dem Weltrat in die Suppe zu spucken.« Merlin nickte still vor sich hin, als ob ein weitreichender Entschluss in ihm heranreifen würde. »Ja, genau.« Er bleckte die Zähne, angriffslustig und zu allem entschlossen. »Die Pläne der Ost männer durchkreuzen. Das werde ich.
Für Karyaana!« Matt war nicht ganz wohl bei solchen Racheschwüren. Aus dem Wunsch nach Vernichtung erwuchs nur selten etwas Gutes. Auch - oder gerade besonders wenn man glaubte, dass es für eine ge rechte Sache sei. Solange es aber dabei half, Merlin aus seiner Lethargie zu be freien, wollte er sich nicht zum Morali sten aufspielen. »Eins verstehe ich nicht«, gestand Mr. Black an dieser Stelle ein. »Tatsächlich?«, fragte Aiko spöt tisch. »Das ist ja ganz was Neues.« Blacks Miene versteinerte, besonders als er sah, dass sich sogar Miss Hardy über den unqualifizierten Zwischenruf amüsierte. Innerlich vermerkte er den Programmpunkt Notwendigkeit von Re spekt und Hierarchie in einer Wider standsorganisation für die nächste Schulungsmaßnahme, ging aber sonst nicht weiter auf Aikos Spitze ein. Statt dessen fragte er: »Wie ich vorhin be reits bemerkte: Warum rüsten Hymes und Crow zu einer Expedition, wenn sie schon seit Jahren eine Außenbasis im Pazifik haben? Müssten die nicht längst wissen, was am Kratersee vor sich geht?« Statt einer Antwort schlug Black all gemeine Ratlosigkeit entgegen. Zufrie den stellte er fest, dass selbst der vor laute Cyborg nicht weiter wusste. »Darüber kann man nur spekulieren«, sagte Matt schließlich. »Vielleicht be finden sich die Ostmänner in langwieri gen Kriegen mit anderen Völkern rund um den Kratersee.« Dass Matt in diesem Zusammenhang auch an die Hydriten dachte, die mit ih 25
ren eigenen Erkundungen gescheitert waren, behielt er wohlweislich für sich. Zum einen, weil er keinen Pessimismus verbreiten wollte, zum anderen, weil er sich an das Versprechen gebunden fühlte, niemandem von dem friedlichen Seevolk zu erzählen, das schon seit Jahrtausenden am Meeresgrund lebte und sich vor den Menschen verbarg. Ihr Gespräch wurde ohnehin durch neugierige Dorfbewohner gestört, die von allen Seiten näher rückten. Ein Transportmittel wie den Nixon-Panzer hatte noch keiner von ihnen gesehen. Andächtig ließen sie ihre Hände über die stählerne Außenfläche gleiten. Ein hagerer, sehr gepflegt wirkender Mann mit grauem Haar klopfte mehr mals ungeniert gegen die Panzerung, als ob er sie auf Stabilität überprüfen wollte. Zufrieden mit dem Ergebnis, trat er näher und sah von einem zum ande ren, um herauszufinden, wer der Anfüh rer der Gruppe sein könnte. Der Ein fachheit halber wandte er sich an den Größten von allen, Mr. Black. »Mein Name ist Lurok«, stellte er sich in der Sprache der Euree-Barbaren vor. »Ich bewundere euer Gefährt, das sich ohne Wakudas und Yakks bewegt. Wollt ihr es vielleicht verkaufen?« Aruula übersetzte die Anfrage für Mr. Black, der ja tatsächlich der Besit zer des Panzers war … zumindest war der Nixon unter seinem Kommando aus den Beständen des Weltrats entwendet worden. Während der Rebellenführer mit Aru ulas Hilfe versuchte, eine Schiffspas sage auszuhandeln - und damit blankes Entsetzen bei Lurok auslöste - setzten 26
sich Matt und Aiko zum nahe gelegenen Hafen ab. Beiden ging ein Thema durch den Kopf, das sie nicht vor fremden Oh ren besprechen wollten. »Die hiesigen Legenden von den Dä monen der Anderswelt«, begann Aiko, sobald sie außer Hörweite waren. »Glaubst du, dass die Hydriten damit zu tun haben?« Seit der Cyborg mit Matt und Aruula in Sub'Sisco gewesen war, wusste er um die Existenz der intelli genten Meeresbewohner. »Der Fishmanta'kan auf dem Wirtsh ausschild deutet zumindest darauf hin«, antwortete Matt. »Die Hydriten haben unter diesem Namen schon öfters Angst und Schrecken verbreitet, um Menschen von bestimmten Plätzen fern zu halten. Was aber nicht ins Bild passt, ist das Gerede über die fliegenden Rochen und all die anderen Dämonen. Da scheint noch wesentlich mehr im Busch zu sein.« »Denkst du an den Mar'os-Kult?« Matt nickte düster. »Wenn wir an die Mar'os-Hydriten geraten, sieht es schlecht für uns aus.« Diese Gruppe hatte dem Jahrtausende langen Frieden abgeschworen und war zur Urform der kriegerischen Fleischfresser zurückge kehrt. Sie erreichten die Uferpromenade, von der sie einen guten Blick über die gesamte Bucht hatten. Ein halbes Dut zend Fischerboote säumte die Anlege stege, aber auch viele größere Schiffe, die hochseetauglich waren. Das impo santeste war ein Dreimaster mit über vierzig Metern Länge, an dem eifrig ge hämmert und gesägt wurde. Brandneue Geschützpforten klafften in der Bord
wand, und das aus gutem Grund. An ei nem Flaschenzug, der über das Heck hinaus ragte, schwebte bereits ein Ka nonenrohr, das seinen Platz an Deck finden sollte. Auch sonst ließ die Betriebsamkeit im Hafen auf einen bevorstehenden Konflikt schließen. Im Hafen stapelten sich ganze Berge von zerlegten Karos serien, Maschinenteilen und Türwan dungen. Was zuvor auf einem verwai sten Schrottplatz in Ruland oder Euree abgetragen worden war, galt hier als Rohstoff, aus dem sich lebensnotwen dige Dinge schmieden ließen. Bei meh reren Booten war der Bug durch Metall platten verstärkt worden, was mitunter zu skurrilen Anblicken führte. Den Rumpf eines in der Nähe liegen den Kutters zierte unter anderem der Kühlergrill einer deutschen Nobelka rosse. Der Fischer versuchte gerade, das eingearbeitete sternförmige Zeichen mit einen gewebten Tuch auf Hochglanz zu wienern. Schon seltsam. Vieles hatte sich in den letzten fünfhundert Jahren verän dert, manche Rituale waren dagegen gleich geblieben. Matt und Aiko sahen zur Einmün dung der Bucht hinüber, die durch eine schwere Eisentrosse blockiert wurde. Zwei Schiffe, die in den Hafen einlau fen wollten, mussten erst draußen vor Anker gehen. Vom Hafen aus setzte ein Ruderboot mit einem Wachkommando über, das an Bord alles durchsuchte. Erst nachdem feststand, dass sich weder Piraten noch Kanonen unter Deck be fanden, sank die armdicke Kette ins Wasser und machte den Weg frei.
Matt blickte sorgenvoll übers Meer. Irgendwo dort draußen, verborgen hinter dem Horizont, lag die russische Küste. Was sie dort wohl erwarten mochte? Eine Andersweltf Mutierte Kreaturen, die alles töteten, was ihnen zwischen die Klauen kam? Was es auch war, es würde gewiss nicht ungefährlich werden. Der blonde Fischer, der den Merce desstern poliert hatte, betrachtete inzwi sehen sein Werk. Die Bugverkleidung reflektierte silbern im Sonnenlicht. Zu frieden warf er das Tuch an Deck und schlenderte über den Steg davon. »Comdo!«, rief er schon von weitem im Dialekt der Euree-Barbaren. Offen bar wusste auch ganz genau, wen er da ansprach. Nachrichten verbreiteten sich schnell in einem so kleinen Hafen. »Ich bin Iisi. Seid ihr gekommen, um euch dem Kampf gegen die Piraten anzu schließen?« »Vielleicht«, antwortete Matt auswei chend. »Mein Name ist Maddrax, das hier ist Aiko. Wir haben erst kürzlich von der Bruderschaft des blutigen Ban ners erfahren. Sind das wirklich so üble Burschen, wie überall erzählt wird?« »Und ob!« Der Fischer, der sich zu ihnen gesellte, als ob sie alte Freunde wären, sprudelte sofort drauflos. »Die miesen Sharx haben praktisch die ganze Küste ausgeplündert, bis uns drei ihrer Dschunken in die Falle gingen. Jetzt, wo wir uns wehren können«, stolz deu tete er auf die Kanonen hinter den Erd wällen, »trauen sich die anderen natür lich nicht mehr heran. Unser Sieg hat sich überall in Windeseile herumge sprochen. Handelsschiffe kommen von 27
nah und fern, um in unserem Hafen Schutz zu suchen.« »Dann ist doch alles in bester Ord nung«, sagte Matt, der zwischendurch immer wieder für Aiko übersetzen mus ste. Die Miene des blonden Fischers büßte ein wenig an Frohsinn ein. »Leider nicht ganz«, gestand er. »Draußen auf See herrschen immer noch die Kanonen der Bruderschaft. Aber damit ist bald Schluss.« Das La chen kehrte auf sein Gesicht zurück. »Wir drehen jetzt nämlich den Spieß um und stöbern die Piraten in ihren Verstecken auf. Küstenfischer aus ganz Kanda sind eingetroffen, um uns bei der Jagd zu unterstützen. Sogar einige See leute aus Ruland schließen sich dem Feldzug an. Sie haben ein starkes Schiff und sind im Kampf erfahren. Zusammen mit ihnen werden wir die Meera-See endgültig sicher machen.« Matt sah zu dem großen Kriegsschiff hinüber, auf das eine weitere Kanone verladen wurde. »Wie kommt es, dass die Ruländer so hilfsbereit sind?«, wollte er wissen. »Weil sich die Bruderschaft inzwi schen auch an ihrer Küste breit macht«, erklärte Iisi. »Außerdem wollen sie na türlich das, worauf alle scharf sind.« »Die Kanonen?« Der Fischer nickte. »Erst wollten wir keine herausgeben. Aber dann haben unsere Ältesten überlegt, dass es am be sten ist, wenn möglichst viele Schiffe damit ausgerüstet sind. Wenn jeder mann solche fürchterlichen Waffen be sitzt, wird es niemand mehr wagen, sie gegeneinander einzusetzen.« 28
Matt zog die Nase kraus. Auweia, dachte er, die Vereinssatzung der Natio nal Rifle Association hat also doch überlebt. Da sich die hiesigen Politiker aber kaum von einem Fremden würden belehren lassen, behielt er seine Mei nung lieber für sich. »Und was verschlägt euch nach Ber bow?«, erkundigte sich Iisi neugierig. »Der Wunsch nach Handel oder die Su che nach Abenteuern?« »Eher Zweiteres«, antwortete Matt hew. »Wir wollen ans jenseitige Ufer, das ihr Anderswelt nennt.« lisis Reaktion verlief genau wie er wartet. Erst gefror seine fröhliche Miene zu Eis, dann folgte eine Welle puren Entsetzens, das sein Gesicht ver zerrte. »Schon gut«, wehrte Matt ab, bevor er sich die üblichen Warnungen anhö ren musste. »Wir haben schon gehört, dass es dort drüben nur so von Dämo nen wimmeln soll.« Iisi strich verlegen durch sein von Salz und Sonne gebleichtes Haar. »Mag sein, dass in unserem Hafen viel See mannsgarn gesponnen wird«, gab er zu. »Aber in den meisten Legenden, die hier von Mund zu Mund gehen, steckt ein wahrer Kern, das könnt ihr mir glau ben.« »Warum erzählst du uns nicht ein wenig mehr davon?«, bat Matthew. »Du siehst aus, als ob du einen kräftigen Bis sen vertragen könntest, und wir wollten sowieso eine Kleinigkeit im Blauen Fishmanta'kan zu uns nehmen. Möchtest du uns vielleicht Gesellschaft leisten?« Die Aussicht auf gebratenen Fisch und einen Humpen Ael schien ganz
nach Iisis Geschmack. Dankend nahm er die Einladung an und setzte sein Schwätzchen mit den Fremden fort. Auf dem Weg zum Panzer berichtete er mit leuchtenden Augen, wie er mit einigen Freunden den gefürchteten Skaranga überlistet und an den Galgen gebracht hatte. Am Nixon hatte sich die Menschen menge größtenteils wieder zerstreut. Nur Lurok, der grauhaarige Händler, re dete noch auf Mr. Black ein, der aber nur unwillig abwinkte. Honeybutt und Merlin montierten gerade die Maschi nengewehre ab, verstauten sie im Kom mandostand und schlossen das Seiten schott hinter sich. »Wie sieht es aus?«, erkundigte sich Aiko. »Schlecht«, brachte Aruula die Situa tion auf den Punkt. »Bisher ist niemand bereit, sich dem anderen Ufer auch nur auf Sichtweite zu nähern. Vielleicht müssen wir uns doch einen anderen Ha fen suchen.« *
Da sich die Arbeiten im Hafen dem Ende zuneigten, war der Schankraum im Blauen Fishmanta'kan gut besucht. Zuerst erschien es unmöglich, sieben zusammenhängende Plätze zu ergattern, aber auf einem der erhöht liegenden Po deste, die sich an der linken Seite des Saals entlang zogen, hatten sie schließ lich Glück. Weiß getünchte Rundbögen und halbhohe Geländer, die sie räum lich von dem Parkett abgrenzten, ver mittelten ein gemütliches Ambiente. Frischer Bratenduft, Ael und Kiffet
tenwolken zogen durch den Raum und vermischten sich zu einem prickelnden Aroma, das ihnen das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Zum Glück schien Iisi mit dem Wirt gut be kannt zu sein, denn ihre Gruppe wurde in Rekordzeit mit dampfenden Tellern und überschäumenden Humpen ver sorgt. Auch sonst erwies sich der kon taktfreudige Fischer als große Hilfe. Nachdem alle gesättigt waren, machte er Matt und Mr. Black mit einer Reihe von Kapitänen bekannt, die regelmäßig auf den Meeren kreuzten. Leider war die Mühe vergebens. We der durch Geld noch gute Worte ließ sich jemand dazu bewegen, die Fahrt ans gegenüberliegende Ufer zu wagen. »Verdammter Aberglaube«, schimpfte Mr. Black, nachdem sie eine weitere Abfuhr erhalten hatten. »Die würden lieber ihre eigene Mutter im Ozean ertränken, als uns überzusetzen. Es kann doch nicht angehen, dass wir einen ganzen Kontinent durchqueren und dann an einer Meerenge von nicht mal zweihundert Kilometern scheitern. Notfalls müssen wir eben ein Schiff für unsere Zwecke requirieren.« »Wie bitte?« Matt traute seinen Oh ren nicht. Bloß gut, dass keiner der um stehenden Seeleute der englischen Spra che mächtig war, sonst hätte man sie vermutlich sofort am nächsten Balken aufgeknüpft. »Wollen Sie ernsthaft vor schlagen, einem der Fischer die Exi stenzgrundlage zu stehlen? Dann wären wir doch nicht ein Deut besser als die Piraten, die über Berbow hergefallen sind.« Blacks Gesicht wirkte plötzlich wie 29
aus Stein gemeißelt. Der Vorwurf, ein gewöhnlicher Dieb zu sein, traf ihn zu tiefst. »Wir stehen im Dienst einer ge rechten Sache«, beteuerte er mit rauer Stimme. »Da ist es manchmal unum gänglich, auch fragwürdige Methoden anzuwenden. Wenn ich mich recht ent sinne, hat es Ihnen auch nichts ausge macht, in einem gestohlenen Panzer zu reisen, Commander.« Nun war es an Matt, den Beleidigten zu spielen. »Vorsicht, jetzt vergaloppie ren Sie sich«, warnte er den Rebellen. »Es ist ein Riesenunterschied, den Weltrat zu prellen oder ein paar Barba ren, die nicht mal ahnen, um was es bei unserer Auseinandersetzung geht.« Für einige Sekunden standen sich die beiden Männer schweigend gegenüber. Nur die harten Blicke, mit denen sie einander taxierten, zeugte von dem stil len Kampf, der zwischen ihnen tobte. Die Gespräche um sie herum ver stummten. Fischer, Händler und Hafen knechte spürten instinktiv, dass sich ne ben ihnen Ärger zusammenbraute. Obwohl er Matt an Größe und Kraft überlegen war, senkte Mr. Black zuerst den Blick. »Sie haben Recht, Comman der«, gestand er ein. »Ich bin wohl übers Ziel hinausgeschossen.« »Schon gut«, lenkte Matt ein. »Die Strapazen der letzten Wochen stecken uns allen in den Knochen. Sie werden schon sehen, wir finden einen Weg übers Meer, auch wenn es etwas länger dauert.« Versöhnlich gestimmt, kehrten sie an ihren Tisch zurück. Schon von weitem konnte Matt sehen, dass sich Aruula die Schläfen massierte. 30
»Probleme?«, erkundigte er sich. Die Barbarin schüttelte tapfer den Kopf. »Es geht schon, nur mein Lausch sinn macht mir noch zu schaffen. Manchmal klingen in meinem Kopf mehrere Stimmen durcheinander, dann höre ich wieder gar nichts mehr.« Typisch Aruula. Immer mit dem Kopf durch die Wand: Nach der langen Zeit, in der ihr telepathisches Talent blockiert gewesen war, wollte sie nun übergangslos an alte Leistungen an knüpfen. »Lass es etwas ruhiger angehen«, bat Matt. »Alles Weitere ergibt sich schon von selbst.« Er hauchte ihr einen schnellen kuss auf die Stirn, worauf sie mit einem dankbaren Nasenstüber ant wortete. Beide freuten sich schon auf die gemeinsame Nacht in einem der Gä stezimmer. Das war doch etwas ande res, als wochenlang zu sechst in einem engen Panzer aufeinander zu hocken und dabei jegliche Privatsphäre zu ver lieren. Der liebevolle Moment wurde jäh ge stört, als Iisi sich zu ihnen herüber beugte und raunte: »Der Ruländer dort drüben ist vielleicht eure letzte Hoff nung auf eine Passage.« Mit einer un auffälligen Geste deutete er auf den dunkelblonden Seebären, der gerade zur Tür herein kam. »Capt'n Deerk von der Puutin, dem Dreimaster, der mit unse ren Kanonen bestückt wurde. Es heißt, er hätte schon alle Meere dieser Welt befahren. Vielleicht wagt er sich ja auch bis ans Ufer der Anderswelt?« Hinter dem kräftigen Mann mit den ledernen Stulpenstiefeln, der dunklen Tuchhose und dem weit - ausgeschnitte
nen Hemd, das einen Blick auf seine stark behaarte Brust zuließ, traten drei weitere Seeleute ein, die ihn wie eine Leibgarde flankierten. Allesamt harten Burschen. Die Säbel an ihren Hüften machten deutlich, dass sie jederzeit be reit waren, sich auf ein Scharmützel einzulassen. Selbstsicher sah Deerk in die Runde, bis er einige Plätze nahe des Podestes erspähte, auf dem Matt und seine Freunde saßen. Der Lärmpegel in der Schenke nahm schlagartig ab, als sich die Ruländer ruppig zwischen den dicht besetzten Bänken hindurch drängten. Der Re spekt, der ihnen von allen Seiten entge genschlug, war deutlich zu spüren. Zwei Händler, die an dem ausgespähten Tisch saßen, räumten freiwillig das Feld, obwohl sie ihre Mahlzeit noch nicht beendet hatten. Capt'n Deerk machte keine Anstalten, sie zurückzuhalten, und zeigte sich auch sonst nicht besonders feinfühlig. Ver mutlich durfte er das auch nicht, wenn er den Kampf gegen die Piraten anfüh ren sollte. Wie ein nasser Sack ließ er sich auf einen Stuhl fallen und streckt die Füße aus. Sein eher markant als schön zu nennendes Gesicht glänzte vor Schweiß. Er musste kräftig mit ange packt haben, als die Kanonen an Bord der Puutin geladen wurden. Die Männer an seiner Seite machten einen nicht minder erschöpften Ein druck. »Der Kahlkopf ist Ursk, der Steuer mann«, berichtete Iisi, der sich einmal mehr als wandelndes Auskunftsbüro er wies. »Daneben mit den schwarzen Locken hockt Grigor, Deerks erster Of
fizier. Und dann gibt es noch Vasili, den Messerwerfer.« Der Beiname des Letzteren ergab sich aus den beiden gekreuzten Leder gurten, die ihm über Brust und Rücken der ärmellosen Weste liefen. Jeweils sechs schmale, wohl ausbalancierte Wurfklingen steckten in jedem Riemen. Ein geübter Mann konnte damit viel Unheil anrichten. Im Moment fingerte Vasili jedoch in einer aus Sharxleder gefertigten Gürtel tasche herum, aus der er ein verschlos senes Glas zog. Matt musste schon ge nau hinsehen, um die feuerroten Insek ten mit den schwarz geringelten Hinter teilen zu erkennen, die in dem engen Gefängnis aufgeregt kreisten. Vorsichtig schnürte Vasili die Leder kappe auf, die als Verschluss diente. Ohne ein Schlupfloch zu lassen, schob er die rechte Hand unter den Lappen, bis seine Finger ins Glas hinein ragten. Anfangs ignorierten ihn die Insekten, doch als er nach ihnen schnippte, wur den sie wütend. Ein leichtes Zucken des Bizeps signalisierte, das sie ihn stachen. Zufrieden zog er die Finger zurück, presste den Lederdeckel fest auf das Glas und schob es zum Nächsten in der Runde weiter. Alle vier, einschließlich Capt'n Deerk, ließen sich auf diese Weise stechen. Danach wanderte das verschlossene Glas wieder in die Gür teltasche. Ehe Matt fragen konnte, was dieses bizarre Ritual zu bedeuten hatte, durch lief die Seeleute eine erstaunliche Ver änderung. Die Müdigkeit schien regel recht von ihnen abzufallen. Eben noch wortkarg und mürrisch, begannen sie 31
miteinander zu schwatzen und zu la chen, als hätten sie schon ein halbes Fass Ael getrunken. Ihre Körper straff ten sich. Die Gesten wurden ausschwei fend, aber auch fahrig und nervös. »Das Stachelgift muss eine belebende Wirkung haben«, vermutete Aiko, der die Szene ebenfalls mit Interesse ver folgt hatte. Aufputschend wäre wohl das passen dere Wort gewesen. Als die Schank maid kam, waren die Seeleute nicht mal mehr in der Lage, eine Bestellung auf zugeben. »Komm, setz dich zu uns«, forderten sie. »Uns steht der Sinn nach Gesellschaft, nicht nach dem verbrut zelten Zeug, das Nuuk seinen Gästen andreht.« Die schlanke Bedienung in dem lan gen, keineswegs aufreizenden Kleid dachte gar nicht daran, sich mit der zu gedröhnten Männerrunde einzulassen. Doch als sie gehen wollte, um am Ne bentisch die Teller abzuräumen, packte Vasili sie am Arm und zog sie unter dem Gelächter seiner Kameraden zu sich auf den Schoß. Prompt kassierte er eine schallende Ohrfeige, die seine linke Gesichtshälfte rötete. »Hoppla, auf einmal doch so stür misch«, flachste er scheinbar heiter, bog aber gleichzeitig die Handgelenke des Mädchens brutal hinunter. »Wie wäre es mit einem kleinen kuss, bevor du wieder in die Küche eilst?« Die Schankmaid versuchte sich ver zweifelt aus der harten Umklammerung zu befreien, doch gegen Vasilis Kräfte kam sie nicht an. Mit zappelnden Bei nen musste sie über sich ergehen lassen, dass er ihren Oberkörper hintenüber 32
kippte. Seine Lippen spitzten sich zu ei nem übertriebenen Kussmund. »Lass mich los, du Scheusal!«, schrie sie erbost, doch es half nichts. Das Ge sicht ihres Peinigers rückte näher und näher. Wütend stieß sie Vasili ein Knie in die Rippen. Dass dabei ihre Beine entblößt wurden, störte sie nicht. An die rauen Hafensitten gewohnt, tat sie alles, um sich ihrer Haut zu wehren. Sie wand sich wie eine Schlange, schrie, trat und biss wild um sich. Vasili hörte trotzdem nicht auf, sie zu bedrängen. Er schien keinerlei Schmerzen zu spüren. Nicht mal, als sie ihm die Stirn ins Gesicht rammte. Ein lautes Knacken klang durch den Raum. Vasilis Nasenbein war gebrochen. Zwei dicke Blutströme schossen aus seinen Luftlöchern, aber auch das konnte sein Begehren nicht abkühlen. Im Gegenteil. Nun umfasste er ihre schlanken Handgelenke mit einer Pranke und nestelte mit der frei gewor denen Hand an ihrem Rocksaum herum. In der Schänke verstummten alle Ge spräche. Angewidert und erbost starrten die Gäste auf das ungebührliche Beneh men des Messerwerfers, doch niemand wagte einzuschreiten. Nicht mal Nuuk, der von der Theke aus alles verfolgte. Von Capt'n Deerk hatte die Schank maid auch keine Hilfe zu erwarten; der war viel zu sehr damit beschäftigt, sich die Lachtränen aus dem Gesicht zu wi schen. »Zu blöd, um ein Weib zu küs sen!«, wieherte er so laut, dass es in der ganzen Schänke zu hören war. »Lässt sich glatt die Nase platt schlagen. Un glaublich!«
Die Art, wie er unruhig auf dem Stuhl hin und her rutschte, ließ ahnen, dass das Insektengift in seinen Adern gerade die volle Wirkung entfaltete. Selbst wenn er gewollt hätte, es wäre ihm wahrscheinlich gar nicht möglich gewesen, einzugreifen. Sekundenlang sah es so aus, als mus ste die Schankmaid die Nötigung hilflos über sich ergehen lassen, doch dann wurde der Saal von einer strengen Stimme erfüllt: »Lassen Sie sofort die junge Dame los! Dieser ehrlose Auftritt ist unter der Würde eines jeden Man nes!« Mr. Black, dem gute Manieren über alles gingen, war es als Erstem zu bunt geworden. Der athletisch gebaute Re bellenführer erhob sich herausfordernd von seinem Stuhl. In dem verschlisse nen Thermoanzug, der durch einen Fel lumhang ergänzt wurde, machte er einen äußerst kriegerischen Eindruck. Vasili reagierte sofort. Vielleicht, weil der Messerwerfer nur darauf ge wartet hatte, dass sich jemand ein mischte. Und wenn er den Meerakaner auch nicht verstand, so erf asste er doch die Bedeutung seiner Worte. In einer schwungvollen Bewegung stieß er die Schankmaid vom Schoß und sprang auf. In seiner Hand blitzte eine schmale Klinge auf. Niemand hatte gesehen, wie sie aus dem Gurt dorthin gekommen war. Ein verdammt flinker Kerl. Mit der Zunge sogar noch schneller als mit dem Wurf dolch. »Was willst du, häh?«, schnauzte er Black an. »Ärger?« Furcht vor dem grö ßeren Gegner schien Vasili nicht zu kennen. Schneller als das menschliche
Auge folgen konnte, wechselte sein Messer zwischen den beiden Händen. »Komm doch her«, forderte er. »Dann steche ich dich ab.« Eine Explosion stanzte ein Loch un die Decke, dass Steinbrocken und Ver putz herabrieselten. »Wenn du noch dazu kommst!«, er klang Matts Stimme. Und als Vasilis Blick zu ihm hinüber huschte, starrte er in die noch rauchende Mündung seines Drillers. Matt hoffte, dass die Drohung genügte. Er wollte den Ruländer nicht töten. Doch Vasili schien nicht so einfach aufgeben zu wollen. Er schwenkte die Hand herum, zielte nun auf Matt. »Wenn du glaubst …« Eine schwere Hand, die auf seine Schulter krachte und ihn am Wurf hin derte, unterbrach die Drohung. Capt'n Deerk mischte sich ein. Die bedrohliche Situation schien den Kapitän aus sei nem Rausch gerissen zu haben. »Schluss jetzt!«.befahl er. Vasili gab keinen Ton von sich. Sein blutverschmiertes Gesicht und die Zor nesader, die über seiner linken Schläfe pochte, sprachen dafür Bände. Alles in ihm schrie nach Kampf, das war nicht zu übersehen. Doch dann, von einer Se kunde auf die andere, sprang ein breites Grinsen auf sein Gesicht. Fast so, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. »Hey, hey, hey«, lachte er. »Was für eine Dröhnung. Heute haben mich gleich zwei Feuerfleggen auf einmal er wischt.« Mit dem Ärmel seines Hemdes wischte er sich das Blut aus dem Ge sicht, dann nahm er Platz, als ob nichts gewesen wäre. Er warf der Schankmaid 33
sogar eine glänzende Münze zu, wohl als Entschädigung für seine Grobheiten. Sie pfefferte ihm das Geldstück post wendend an den Kopf, worauf er sich vom Stuhl fallen ließ, um den tödlich Getroffenen zu markieren. Irgendwo im Schankraum begann jemand zu kichern. Damit war der Bann gebrochen. Die all gemeine Anspannung entlud sich in donnerndem Gelächter, das über alle Ti sche hinweg zog. Nur Matt und seine Gefährten, die inzwischen standen, blickten schweigend auf Deerks Truppe hinab. Die geballte Kampfkraft, die sie da mit zur Schau stellten, schien dem Ka pitän der Puutin zu imponieren. Leicht schwankend, die Augenlider auf Halb mast, kam er näher und lehnte sich läs sig auf die Brüstung, die ihr Podest um gab. »Nur die Ruhe«, mahnte er. »In einer Hafenschänke geht es nun mal etwas rauer zu. Vor allem, wenn eine gefährli che Fahrt bevorsteht. Ihr habt doch si cher davon gehört? Wir stechen morgen in See, um das Piratenproblem zu lösen. Wir sind die Guten!« »Tatsächlich?«, fragte Matt lako nisch, doch das Verhalten der anderen Gäste schien Capt'n Deerk Recht zu ge ben. Niemand scherte sich noch um die Ruländer, die wieder friedlich am Tisch saßen. Nur die Schankmaid machte von nun an einen großen Bogen um Vasili, der sich Essen und Ael von Nuuk ser vieren lassen musste. »Wie sieht es mit euch aus?«, hakte Deerk nach, und Aruula übersetzte seine Worte für Black, Merlin, Aiko und Honeybutt. »Ihr scheint ebenfalls 34
erfahrene Kämpfer zu sein, und was eure Waffen angeht - so eine kleine Ka none, wie du sie trägst, habe ich noch nie gesehen. Wollt ihr nicht bei mir an heuern? Ich könnte noch ein paar kräf tige Arme brauchen, wenn es gegen die Piraten geht.« Matt und die anderen ließen sich wie der am Tisch nieder. Der Commander griff nach seinem Aelhumpen, nahm einen Schluck und sah zu dem raubeini gen Kapitän, der geduldig auf eine Ant wort wartete. »Der Sold, den wir ver langen, wäre dir sicher zu viel«, erklärte er schließlich. Deerk zeigte sich wenig beeindruckt. »Wieso? Was schwebt euch denn vor?« Matt wartete einen Moment, bevor er die Taratze aus dem Sack ließ. »Wir su chen eine Passage ans jenseitige Ufer.« »Ihr wollt in die Anderswelt?« Der Capt'n lachte. »Wenns weiter nichts ist. Sobald die Piraten geschlagen sind, setze ich euch gerne an der Küste ab.« Matt verschluckte sich beinahe an seinem Ael. Was war denn nun los? Kein Entsetzen? Keine Legenden? Kein Gejammer über böse Dämonen? Die Fragen stand ihm so deutlich ins Ge sicht geschrieben, dass Deerk antwor tete: »Die Fischer und Händler in die sem Kaff sind doch alle … abergläu bisch.« Er hatte etwas ganz anderes sa gen wollen, es sich aber angesichts eben jener Fischer und Händler im Gasthaus verkniffen. »Dort drüben gibt es nichts Besonderes außer ein paar Piratenne stern, die wir ausräuchern werden. Ich bin schon zwei Mal an diesem Teil der Ruland-Küste gelandet und mir ist nie etwas passiert.«
»Stimmt das wirklich?«, fragte Mr. Black misstrauisch, nachdem Aruula übersetzt hatte. »Ja natürlich. Was glaubst du denn, woher wir die Feuerfleggen haben?« Das berauschte Funkeln war längst aus Deerks Pupillen gewichen. Sein glattes, nun fast jungenhaftes Gesicht wirkte of fen und ehrlich, als er fortfuhr: »Mein Angebot steht weiterhin: Den gleichen Prisenanteil wie die anderen und eine Fahrt ans gegenüberliegende Ufer. Wir stechen bei Tagesanbruch in See. Wenn ihr bis dahin nicht an Bord seid, geht es ohne euch los.« Er klopfte zum Ab schied auf die Brüstung und ging zu sei nen Männern zurück. Matt starrte dem seltsamen Vogel eine Weile nach, bevor er Aruula fragte: »Was meinst du? Kann man ihm trauen?« Die Barbarin machte ein betrübtes Gesicht. »Ich habe versucht, seine Ge danken zu erlauschen, aber entweder bin ich noch nicht wieder in Form, oder es liegt an den Feuerfleggen. Ich konnte nur ein heißes Wabern in seinem Kopf erkennen.« »Dieser Deerk ist ein berechnender Kerl, der nur an sich selbst denkt«, warf Mr. Black ein. »Genau deshalb sollten wir auch bei ihm anheuern.« »Verstehe ich nicht«, gestand Aiko. »Aber das liegt doch auf der Hand«, sagte Black süffisant. »Wir sind zu sechst und mit hochmodernen Schusswaffen ausgerüstet. Bis wir auf die Piraten treffen, wird Deerk schön freundlich bleiben, weil er uns für den Kampf braucht. Und falls er danach sein Versprechen nicht einhalten will,
nehmen wir ihm einfach das Boot ab und fahren auf eigene Faust weiter. Oder sieht das jemand anders?« Die anderen nickten zufrieden, und selbst Matt mochte diesmal nicht wider sprechen. *
Aiko schraubte gerade das Bordfunk gerät aus der Halterung, als es am Sei tenschott rumorte. Zischend klappte die Luke nach außen. Wer konnte das zu dieser späten Stunde sein? Im Hof der Schmiede, in der sie den Panzer geparkt hatten, war es bereits stockdunkel. Ha stig griff er nach der Tak 02, eine hand liche Maschinenpistole aus der Produk tion seines Vaters. Trotz ihres kurzen Laufs war es nicht einfach, die Waffe in dem engen Kommandostand ausrichten, doch es gelang. Über Kimme und Korn visierte er den offenen Einstieg an, ließ die Waffe aber sofort sinken, als Miss Hardy den Kopf zur Tür herein steckte. »Habe ich Sie erschreckt?« Sie machte ein schuldbewusstes Gesicht. »Ich wollte nur fragen, ob Sie vielleicht Hilfe brauchen, Mr. Tsuyoshi.« Aiko schob die Unterlippe vor und sah auf die ausgebauten Teile hinab, die sich fein säuberlich auf dem Boden an einander reihten. Alles lag genau an sei nem Platz, und er war nicht sonderlich scharf darauf, dass ihm jemand die ganze Ordnung durcheinander brachte. »Eigentlich komme ich ganz gut alleine zurecht«, antwortete er, bereute die Worte aber sofort wieder, als er die Ent täuschung auf dem Gesicht der jungen Frau sah. Schnell fügte er hinzu: »Ich 35
würde mich aber freuen, wenn Sie mir etwas Gesellschaft leisten. Alleine ist es ziemlich öde hier drinnen.« Miss Hardys Lächeln entblößte zwei strahlend weiße Zahnreihen. »Gerne«, freute sie sich. »Mir ist auch langweilig, und zum Schlafen ist es noch zu früh.« Obwohl zwei Zenti meter kleiner als Aiko, musste auch sie den Kopf einziehen, um nicht an die stählerne Decke des Kommandostandes zu stoßen. Geschmeidig lavierte sie um die einzelnen Sitze herum, bis sie die Fahrerkonsole erreichte. Als sie sich vorbeugte, um den Verrieglungsknopf zu betätigen, demonstrierte sie ein drucksvoll, woher ihr Spitzname Honig hintern stammte. Selbst durch den ge polsterten Thermoanzug zeichneten sich Honeybutts rückwärtige Rundungen an genehm deutlich ab. Aiko hantierte geschäftig mit dem Schraubenzieher herum, während er die zierliche Rebellin aus den Augenwin keln beobachtete. Irgendwie wurde er aus Honeybutt Hardy nicht richtig schlau. Ihre ruhige, bescheidene Art ließ sie manchmal hilflos erscheinen, doch wenn es hart auf hart ging, hatte sie bisher jedes Mal bewiesen, dass sie zu kämpfen - und noch viel wichtiger: zu überleben verstand. So wie sie Black anhimmelte, hätte Aiko anfangs Stein und Bein geschwo ren, dass die beiden ein Pärchen wären, doch das Verhältnis zwischen dem Re bellenführer und seiner letzten noch verbliebenen Mitstreiterin, schien eher platonischer Natur zu sein. Würde sich Black sonst ein Quartier mit Merlin Roots teilen, während Hardy ein Einzel 36
zimmer bezogen hatte? »So werden Sie den Schlitz nie tref fen«, tadelte Honeybutt belustigt. »Sie müssen schon hingucken, wenn Sie den Schraubenzieher ansetzen.« »Wie bitte?« Aiko ließ vor Schreck fast sein Werkzeug fallen. Verdammt, Miss Hardy hatte gesehen, wie er auf ihren Hintern schielte. Wie peinlich. »Immer auf die anstehende Aufgabe konzentrieren und sich nicht ablenken lassen«, dozierte sie mit erhobenen Zei gefinger. Aiko verdrehte die Augen. »Hilfe! Ist das ein Leitsatz der Running Men, den Sie auswendig lernen mussten?« Honeybutt, die sich gerade in einem der Schalensessel niederlassen wollte, hielt mitten in der Bewegung inne. »Ja«, antwortete sie mit großen Ernst. »Ist etwas falsch daran?« Ihre gefurchte Stirn machte deutlich, dass sie sich an gegriffen fühlte. Die Running Men wa ren ihre Familie, auf die sie nichts kom men ließ. Vorsicht, verbale Tretminen! Aiko stieß laut hörbar die Luft aus, um sich etwas Zeit zu verschaffen, während er um die richtigen Worte rang. »Ich will die ganze Rebellenkiste überhaupt nicht heruntermachen«, stellte er klar. »Die Enklave, aus der ich komme, musste auch unter der WCA leiden. Von daher stehen wir auf derselben Seite. Und wenn es darum geht, Lynne Crow eins auszuwischen, bin ich sofort dabei. Mich stört nur die Verbissenheit, mit der die Running Men zu Werke gehen. Man kann die Sache doch auch etwas lockerer handhaben. Das Leben ist viel zu kurz, um es einzig und allein dem
Kampf zu widmen.« Honeybutt sog jedes seiner Worte auf wie ein trockener Schwamm, der mit Feuchtigkeit benetzt wird. Eine Armee widerstreitender Gefühle marschierte über ihr ebenmäßiges Gesicht. Die Aus sicht auf Spaß und Lebensfreude gefiel der jungen Frau natürlich, doch am Schluss legte sich ein trauriger Zug um ihre Lippen. »Sie haben gut reden, Mr. Tsuyoshi«, sagte sie leise, »Sie wissen nicht, wel ches Leben ich in Waashton geführt habe. Ich bin auf der Straße groß ge worden. Meine einzige Familie war eine Horde Gleichaltriger, die genauso ums nackte Überleben kämpfen mussten wie ich. Schon als Kind habe ich geflucht, gestohlen, getrunken und …«, sie zö gerte, als ob sie nicht genau wusste, wie viel sie preisgeben sollte, bevor sie vollendete: »… gehurt.« Aiko spürte ihre dunklen Augen auf sich ruhen. Honeybutt beobachtete ganz genau, wie er auf dieses Geständnis rea gierte. In diesem Moment, in dem zum ersten Mal die Abgründe durchschim merten, die hinter der zurückhaltenden Fassade schlummern mochten, zuckte er nicht mal mit dem kleinsten Muskel und machte auch nicht den Fehler, wei ter in sie zu dringen. Was Honeybutt er zählte, sollte aus freien Stücken kom men. Allein durch sein Schweigen for derte er sie auf, fortzufahren. »Ohne Mr. Black wäre ich dem Elend nie entronnen«, erklärte sie. »Er hat an meine Fähigkeiten geglaubt und mir beigebracht, wie diese Welt wirk lich funktioniert. Ohne ihn wusste ich nicht, wie man eine niveauvolle Unter
haltung führt oder würde Technik für reinste Magie halten.« Sie deutete auf einige Bauteile zu ihren Füßen. »Kamera, Koaxialkabel und Bild schirm«, zählte sie auf. »Geben Sie mir Ihr Werkzeug und ich schraube daraus innerhalb von fünf Minuten ein funktio nierendes Überwachungssystem zusam men.« »So eine Kamera lässt sich aber auch zu nichtmilitärischen Zwecken einset zen«, seufzte Aiko. »Für wissenschaftli che Beobachtungen in der Tierwelt, um ein Theaterstück aufzuzeichnen, oder was weiß ich. Die Running Men sehen alles immer nur aus dem kriegerischen Blickwinkel.« »In Waashton mussten wir unsere knappen Ressourcen …« »Ihr seid aber nicht mehr in der Hauptstadt«, unterbrach der Cyborg är gerlich. »Die Bedingungen haben sich geändert, aber ihr benehmt euch immer noch, als ob ihr auf Patrouille im feind lichen Sektor wärt.« Als er sah, wie sich Hardys Blick verfinsterte, wedelte Aiko hilflos mit dem Schraubenzieher in der Luft herum. »Sieh mal, ich will dich doch nicht ärgern. Es ist toll, was du mit Blacks Hilfe aus deinem Leben ge macht hast. Da habe ich es bestimmt leichter gehabt. Du solltest auf dieser Reise einfach nur die Augen für offen halten und sehen, was es noch außer halb eueres Kampfes gibt. Einfach …« »… lockerer werden?« Das Lächeln war auf Hardys Lippen zurückkehrt. Hoffentlich nicht, weil sie sich über seine Stammelei lustig machte. »Ist es das, was Sie meinen, Mr. Tsuyoshi?« Aiko schnipste mit dem Finger. 37
»Genau. Lockerer werden, das ist das Stichwort.« »Und wie soll das gehen?«, fragte sie ganz ernsthaft. »Zuerst mal, indem du mich nicht mehr Mr. Tsuyoshi nennst«, erwiderte er. »Für meine Freunde heiße ich Aiko.« Die Kebellin dachte eine Weile ange strengt nach. Mr. Black, der größten Wert auf Förmlichkeiten legte, würde es sicher nicht gefallen, wenn sie seine Grundsätze plötzlich unterlief. Trotz dem hellten sich ihre Züge auf. »In Ord nung«, entschied sie. »Aber nur, wenn du mich Honeybutt nennst.« »Daran solls nicht scheitern.« Grin send wandte sich Aiko wieder der Sen deanlage zu. Mit schnellen Drehungen löste er die letzten Schrauben, hob das Gerät aus der Halterung und stellte es zu den anderen Bauteilen, die sie mit auf die Reise nehmen wollten. Zusam men mit den Maschinengewehren und dem Granatwerfer wurde das Gepäck ganz schön schwer, doch wenn auch nur halb so viel an den Legenden der An derswelt dran war, wie in diesem Dorf erzählt wurde, konnten sie die Sachen sicher noch gut gebrauchen. »Was ist als nächstes dran?«, fragte Honeybutt wissbegierig. »Es fehlt nur noch der Trilithium-Kristall«, antwortete Aiko. »Die Zerstö rungskraft eines Panzers ist zu mächtig, als dass wir ihn fahrtüchtig zurücklas sen könnten.« Honeybutt nickte verstehend. »Erklärst du mir, wie der Kristall funk tioniert?«, fragte sie. »Puhhh!« Aiko rieb sich nachdenk 38
lich das Kinn. »Das ist nicht so einfach, wie du dir das vielleicht vorstellst.« »Hey!« Empört stemmte die junge Frau ihre Hände in die Hüften. Von der zurückhaltenden Art, die Aiko so sehr an ihr schätzte, war plötzlich nichts mehr zu spüren. »Bloß weil ich keinen Computer im Kopf habe wie du, heißt das noch lange nicht, dass ich nichts Kompliziertes verstehen kann.« »Das ist kein Computer, das sind neurale Erweiterungen«, stellte der Cy borg beleidigt klar. »Ich bin keine Ma schine, sondern ein Mensch, der ge nauso denkt und fühlt wie du auch.« Honeybutts Wangen erhielten einen dunklen, glänzenden Ton, der an eine polierte Billardkugel erinnert. So sah es also aus, wenn sie errötete. »Das weiß ich doch«, sagte sie weich, ohne seinem Blick auszuweichen. In ihren braunen Augen schimmerte plötzlich etwas Un ergründliches, das ihm zuvor nicht auf gefallen war. »Okay.« Er musste sich räuspern, um die Kehle frei zu bekommen. »Zuerst müssen wir die Sicherheitsabdeckung entfernten, dann gilt es, den Kristall un beschädigt aus der Porzellanfassung zu entfernen.« Gemeinsam krochen sie in den hinte ren Teil des Kommandostandes, um die Arbeit auszuführen. Aiko wusste nicht, warum es ausgerechnet in diesem Mo ment geschah - aber zum ersten Mal, seit er mit Brina durch die nächtlichen Straßen von El'ay geflohen war, spürte er wieder das Bedürfnis, eine Frau, mit der er Seite an Seite kämpfte, an sich zu ziehen und in die Arme zu schließen. Doch er wagte es nicht.
Noch nicht. *
Mit den ersten Strahlen des neuen Morgens ging die Gruppe an Bord der Puutin, wo sie zu ihrer Überraschung Hauptmann Cusak und seine Männer trafen, die ebenfalls die Fahrt begleite ten. Die Hafenwache sollte die Seeleute an den Kanonen ausbilden und gleich zeitig wohl auch verhindern, dass sich Capt'n Deerk mit den neuen Waffen ab setzte, bevor die Bruderschaft des bluti gen Banners vernichtend geschlagen war. Bronzehelm und Brustharnisch hatten die Soldaten zu Hause gelassen. Auf See waren schwere Rüstungen lebens gefährlich, denn bei einem unfreiwilli gen Bad riss ihr Gewicht selbst geübte Schwimmer in die Tiefe. Stattdessen trugen die Männer nun grüne Mützen und Hemden, deren Färb ton an frischen Tang erinnerte. Cusaks und Matthews Gefolgsleute nickten einander freundlich zu, als sie sich an Deck begegneten. Da beide Gruppen fremd an Bord waren, spürten sie sofort ein Gefühl der Verbundenheit. Die Besatzung der Puutin bereitete den Passagieren ebenfalls einen herzli chen Empfang. Der Vorfall in der Schänke hatte sich bis zum Kombüsen jungen herumgesprochen, doch von Feindseligkeit war deshalb nichts zu spüren. Im Gegenteil. Jeder wollte die Männer und Frauen sehen, die Vasili zur Räson gebracht hatten. Besonderes Interesse erregten dabei die Gewehre und Driller, die Matt und seine Freunde
trugen. Es dauerte nicht lange, bis ein Probeschuss gefordert wurde, doch Capt'n Deerk, der die Treppe vom Quarterdeck herab stieg, scheuchte seine Männer wieder an die Arbeit. »Schön, dass ihr uns doch noch be gleiten wollt«, freute er sich. »Dafür er haltet ihr auch das schönste Quartier an Bord. Fragt den Hauptmann, er ist eben falls dort untergebracht.« Cusak schnaufte verächtlich. »Ein feuchter Lagerraum ohne Sonnenlicht, in dem es nach Meerestieren stinkt. Wenn das die bester Kammer ist, möchte ich nicht wissen, wie Ihr hausen müsst, Herr Kapitän.« Deerks Lächeln verbreiterte sich zu einem schalkhaften Grinsen. »Gut, es nicht ganz so luxuriös wie meine Ka bine«, gestand er ein, »aber ich bin ja auch der Capt'n. Meine Mannschaft ist nicht anders untergebracht als die Pas sagiere, davon könnt ihr euch gerne überzeugen. Und was den Geruch an geht, so ist er vielleicht besser zu ertra gen, wenn ihr erfahrt, dass er aus der Speisekammer stammt. Und nun macht es euch erst mal bequem. Vasili und Grigor zeigen euch den Weg.« Deerk war ein kleiner Aufschneider, dem man nicht ernsthaft übel nehmen konnte, dass er seine beengten Räume wie den Schlafsaal eines orientalischen Palastes anpries. Trotzdem verstand er sich auf das Wichtigste, was einen Schiffskapitän auszeichnete: auf Men schenführung. Das zeigte sich daran, dass er die angeheuerten Kämpfer gleich zu Beginn mit Vasili konfron tierte, mit dem sie die nächsten Tage auskommen mussten, ob er ihnen nun 39
sympathisch war oder nicht. Matt hätte den Kotzbrocken fast nicht wiedererkannt, wenn da nicht die über kreuz laufenden Messergurte gewesen wären. Das Gesicht des Grapschers wurde von einer blau angelaufenen Nase und zwei dicken Veilchen geziert. Ein Andenken an den Kopfstoß der Schankmaid, doch Vasili schien den Schmerz gar nicht zu spüren. »Da seid ihr ja«, grüßte er, als ob sie alte Freunde wären. »Dann kann es ja endlich losgehen.« Zusammen mit Gri gor, der sich von der wortkargen Seite zeigte, ging es durch den achternen Nie dergang unter Deck. Mit den schweren Rucksäcken, die alle auf dem Rücken trugen, war es gar nicht so einfach, die steile Treppe hinab zu kommen, doch da sie sich gegenseitig unterstützten, verlief alles reibungslos. Sie passierten die Ruderbänke, auf denen sich ein Schachbrett aus Licht und Schattenquadraten abzeichnete, weil die Sonne durch das Holzgeflecht fiel, das die Hauptluke abdeckte. Eine Etage tiefer gab es nur noch Tranfun zeln, die kleine Lichtinseln in den stockdunklen Gängen schufen. Von Salz, Feuchtigkeit und Fisch geprägter Muff schlug ihnen entgegen, aber das war für einen Segler dieses Alters nor mal. Vasili musste sich wieder einen Stich der Feuerfleggen gegönnt haben, denn er redete pausenlos auf seine Begleiter ein. Er erklärte, wie sie vom aktuellen Standort aus zur Kombüse, Pulverkam mer und Kapitänskajüte kamen, oder beschrieb den Weg ins Unterdeck, wo Frischwasserfässer, Ersatzsegel und 40
Tauwerk lagerten. Die Informationen kamen so schnell und reichhaltig, dass sie kein Mensch auf Anhieb behalten konnte, deshalb versuchte Matt es auch gar nicht erst. Vorläufig reichte es ihm, sich den Weg zum Schlafplatz und zu rück zu merken. Nachdem sie tief in den Achterbe reich vorgedrungen waren, gelangten sie in einen großen, fast leeren Raum, an dessen Längsseite sich zwei große Truhen und zahlreiche Netzhaufen an einander reihten. »Wenn erst mal die Hängematten aufgespannt sind, sieht es gleich viel gemütlicher aus«, verkündete Vasili, der das gleiche Talent zum Gebraucht wagenhändler besaß wie sein Kapitän. »Die Kisten haben Vorhängeschlösser, darin könnt ihr euer persönliches Eigen tum verstauen. Außerdem lasse ich ei nige Talgkerzen bringen, damit ihr Licht habt.« Matt zog während des Vortrages die Nase kraus, wie ein Tier, das eine Wit terung aufnimmt. Cusak hatte Recht ge habt. In diesem Bereich des Schiffes roch es wesentlich strenger als in den Gängen, die sie unterwegs passiert hat ten. »Das sind die Hummer«, erklärte Va sili auf Anfrage. Nach einem kurzen Seitenblick zu Grigor, der nur mit den Schulten zuckte, bot der Messerwerfer an: »Kommt mit, dann seht ihr, was ich meine.« Er führte Matt und die anderen in eine Kammer, die sich dem Schlafsaal anschloss. Sobald die Tür aufschwang, schlug ihnen ein scharfer Geruch entge gen, der von Salz und Verwesung ge
prägt wurde. Ausgangspunkt dafür wa ren fünf Emaillewannen, die irgendwie die letzten fünfhundert Jahre überstan den hatten, obwohl sich der weiße Schmelzglasüberzug bereits in großen Stücken vom Zinkuntergrund löste. Im Schein des Tranlichts erwachte das darin schwappende Wasser zu leise klapperndem Leben. Ein Gewimmel aus hornigen roten Glieder brodelte explosi onsartig in die Höhe, scheiterte jedoch an einer rostigen Lage Maschendraht, die ein Überquellen verhinderte. Erst auf den zweiten Blick identifizierte Matt die vielarmigen Masse als mutierte Krabben, denen jeweils eine einzelne, ungewöhnlich lange Schere aus dem Maul ragte. Einen angewiderten Laut von sich gebend, sah er zu Vasili auf, der beim Anblick der zusammengepferchten Tiere nur mit der Zunge schnalzte. »Eine echte Delikatesse«, versicherte er. »Besonders wenn einem nach meh reren Tagen auf See Shmaldan und Trockenfisch zum Hals raushängen.« Dass diese Delikatesse in unmittelba rer Nähe der Passagiere gelagert wurde, schien Vasili als besonderen Vertrau ensbeweis zu betrachten. Die Geruchs belästigung, die für Matt und die ande ren im Vordergrund stand, roch er dage gen nicht. Etwas Gutes musste eine ge brochene Nase ja haben. Mr. Black sorgte dafür, dass die Tür zur Nebenkammer wieder möglichst schnell geschlossen wurde. Nachdem die Gruppe ihr schweres Gepäck in den abschließbaren Truhen verstaut hatte, kehrte sie an Deck zurück, um die Vor bereitungen zum Auslaufen zu unter
stützen. Um den Hafen zu verlassen, mussten die Ruderbänke besetzt werden. Aiko und Mr. Black erwarben sich bei dieser Gelegenheit die Hochachtung der ge samten Besatzung, weil sie zu zweit einen Riemen übernahmen, der sonst von vier Männern bedient wurde. Mit seinen künstlichen Armen war der Cy borg natürlich allen anderen an Aus dauer überlegen, doch Mr. Black hielt kräftig mit, bis die Puutin weit genug vor der Küste lag, um den ablandigen Wind zu nutzen. Zehn Schiffe nahmen die Fahrt mit vollen Segeln auf, die meisten von ih nen nur einmastige Kutter, wie Iisis Fi scherboot, doch insgesamt eine ansehn liche Flotte, die den Piraten den Garaus machen konnte. *
Drei Tage später, auf hoher See. Über Nacht hatte der Wind aufge frischt und das kristallblaue Meer in einen grauen Sud verwandelt, der wü tend gegen die Bordwand schlug. Der verstärkte Wellengang ließ das Deck schwanken. Nicht genug, um echten Seeleuten ein Stirnrunzeln zu entlocken, doch es reichte, um viele Passagiere blass um die Nase werden zu lassen. Als Matt aus dem Niedergang trat, krallte sich Hauptmann Cusak gerade mit beiden Händen an der Reling fest und starrte angestrengt auf die See hin aus. Falls er gerade versuchte, sich auf einen festen Punkt zu konzentrieren, hatte er schlechte Karten. So weit das Auge reichte, waren sie 41
von der grauen See umgeben. Weit und breit war kein Land in Sicht, nur ein knappes Dutzend Segel, die sich am östlichen Horizont abzeichneten. Ihr Köder, der die Piraten anlocken sollte. »Alles in Ordnung?«, fragte Matt, als er neben den Hauptmann trat. »Geht schon«, antwortete Cusak tap fer. »Das verdammte Warten macht mir mehr zu schaffen als der Seegang. Mir wäre wohler, wenn die Dschunken end lich angreifen würden.« Nachdenklich blickte Matt zu den Kuttern hinüber, die so furchtbar weit entfernt schienen. Wie wohl Iisi und den anderen Fischern zumute war? Sie gingen ein großes persönliches Risiko ein, um die Bruderschaft aus ihrem Ver steck zu locken. Andererseits hatten sie diese Strategie selbst vorgeschlagen. Capt'n Deerk ging davon aus, dass die mongolischen Piraten einen Unter schlupf an der Küste der Anderswelt be saßen. Ursprünglich wollte er dort so lange kreuzen, bis sie die Dschunken an ihrem Liegeplatz aufgestöbert hatten, aber bei diesem Vorgehen wäre die Pu utin auf sich allein gestellt gewesen. Alle übrigen Besatzungen hatten sich unwiderruflich geweigert, auch nur auf Sichtweite an das verrufene Ufer heran zu segeln. So blieb nur noch die Falle auf offener See, die gehörige Risiken barg. Insbesondere bei rauer Witterung, wie sie zur Zeit herrschte. Falls die Dschunken den Köder schneller erreichten als die Puutin und die Velbi - ein Zweimaster von den Meera-Inseln -, war es um die Fischer geschehen. Dunkle Vorahnungen gru ben sich in Matts Gehirnwindungen, 42
Bilder von brennenden und sinkenden Schiffen. Lautes Rauschen erfüllte seine Ohren. Er spürte deutlich, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Verdamm ter Seegang. Die Lippen zu einem dün nen Strich zusammengepresst, krallte er sich neben Cusak in die Reling. »Wenigstens bin ich nicht der Ein zige, dem übel wird«, bemerkte der Hauptmann, doch seine Schadenfreude währte nicht lange. Sekunden später stieß er ein ungläubiges Schnauben aus. Seine Hand tastete nach den Wanten, die sich bis zur Spitze des Großmastes spannten. Er krallte sich in die aus Pflanzensträngen geflochtenen Taue, als wollten ihm die Knie den Dienst versa gen. »Das gibt es nicht!« Mehr brachte er nicht heraus, bis seine freie Hand nach vorne stieß. »Da! Ein Fishmanta'kan!« Matt folgte der angegebenen Rich tung, vermochte aber nicht mehr als ein paar Wellen zu sehen, die schäumend in sich zusammenfielen. »Bist du sicher?«, fragte er. Cusak ließ die Hand sinken. »Ich weiß nicht«, antwortete er verunsichert. »Jetzt ist nichts mehr zu sehen. Vielleicht sind auch nur meine Nerven überreizt.« Matt klopfte dem Nebenmann beruhi gend auf die Schulter, während er das Meer weiter mit Blicken absuchte. Was er im Augenblick am wenigsten gebrau chen konnte, war eine Scheinattacke be sorgter Hydriten, die die Menschen von irgendeiner Gefahr fernhalten wollten. Ein Delfiin von zwei Metern Länge stieg in elegantem Bogen aus dem Was ser. Sein zerfurchter, von Wucherungen und knotigen Geschwülsten besetzter
Leib glitzerte kurz in der Luft, bevor er mit dem hornbesetzten Schädel voran abtauchte und wieder in der Tiefe ver schwand. Das war es also, was Cusak gesehen hatte. Erleichtert lachte der Hauptmann auf. »Bloß gut, dass das keiner meiner Männer mitbekommen hat. Die würden mich nie wieder ernst nehmen.« »Keine Sorge«, versicherte Matt. »Ich halte dicht.« Während die beiden Männer weiter nach dem harmlosen Meeressäuger Ausschau hielten, gingen die wichtigen Beobachtungen völlig an ihnen vorbei. Zum Glück gab es einen Ausguck, der trotz des Wellengangs im Mastkorb ausharrte. »Fischerboote melden vier Mal rot!«, rief er plötzlich herab. »Alle Mann an Deck! Vier Mal rot!« Matt reckte den Hals, um nach den Kuttern zu sehen, war aber nicht sicher, ob er wirklich Farbtupfer an ihren Ma sten erkennen konnte. Vier Mal rot be deutete, dass vier Masten einen roten Wimpel aufgezogen hatten, weil ent sprechend viele Dschunken an ihrem östlichen Horizont aufgetaucht waren. Vier Dschunken! Die gesamte verblie bene Flotte der Bruderschaft. Eine rie sige Chance, aber auch eine große Ge fahr. Was nun folgte, war ein Wettlauf mit der Zeit. Capt'n Deerk stand schon am Quar terdeck und brüllte seine Befehle: »Ab in die Wanten, Jungs, und alle Segel setzen!« Matt und Cusak mussten zur Seite springen, um den herbei eilenden See leuten nicht im Wege zu stehen. Barfuß
sprangen sie in die Wanten und kletter ten mit affenartiger Geschwindigkeit hinauf. Aiko folgte kurze Zeit später, blieb aber an der Reling stehen und blickte übers Meer hinaus. Mit seinen Augenimplantaten, die sämtliche Re zeptoren verstärkten, konnte er besser sehen als jeder Seemann im Mastkorb, »Vier rote Wimpel«, bestätigte er. Jeder der Männer spürte die seltsame Erregung in sich aufsteigen, die jedem Kampf voranging. In diesem Fall war es eine Art Jagdfieber. Sie mussten die be drohten Fischer rechtzeitig erreichen und beschützen. Die Ausgangslage dafür schien denk bar günstig. Der Wind blies aus West, besser konnte es nicht kommen. Und da bisher nur Besan- und Vormasten auf getakelt waren, standen ihnen noch ge waltige Reserven zur Verfügung. Sämtliche Seeleute kletterten in den Toppsgasten herum, um das Großsegel zu lösen. Nur Capt'n Deerk und Ursk, der Steuermann standen noch an Deck. Aruula, Honeybutt, Mr. Black und Merlin kamen gerade aus dem Nieder gang hervor, gefolgt von den Männer der Hafenwache. Jeder hatte seine Waf fen dabei, um im Nahkampf gegen die Piraten bestehen zu können. Matt fasste nach dem Driller in seiner Beintasche. Nachdem er von den Running Men in Fort McPherson ein weiteres Magazin erhalten hatte, standen ihm noch gut sechzig Schuss zur Verfügung. Nicht genug, um damit verschwenderisch um zugehen, aber wenn es hart auf hart ging, würde er sie einsetzen. Aiko überprüfte seine Tak 02, für die es hier nirgendwo passende Patronen 43
gab. Für ihn war erst recht Sparsamkeit angesagt, deshalb stand der Wahlhebel auf Einzelfeuer. Mr. Black hielt ein Sturmgewehr in Händen. Merlin und Honeybutt teilten sich die verbliebenen Driller. Nur Aruula vertraute einzig und alleine auf ihr Schwert. Da die Gruppe keinen der Laser benutzen wollte, um unnötiges Aufsehen zu vermeiden, blieb für die Barbarin auch keine Schusswaffe übrig. Matt spielte allerdings mit dem Ge danken, die Maschinengewehre aus dem Panzer in Stellung zu bringen. Be vor er aber einen entsprechenden Vor schlag machen konnte, musste er war ten, bis Capt'n Deerk sein Gespräch mit dem Kapitän der Velbi beendet hatte. »Es geht los, Nahar!«, rief Deerk zu dem längsseits gegangenen Zweimaster hinüber. »Setzt jeden Fetzen Segel, den ihr habt, und bleibt in unserem Kielwas ser. Wir fegen die Piraten von der-See, ehe sie überhaupt wissen, mit wem sie es zu tun haben.« Von der Velbi hallte begeisterte Zu stimmung herüber. Danach kümmerte sich Deerk wieder um sein eigenes Schiff. »Maddrax!«, rief er mit lauter Stimme. »Solange meine Leute ausgela stet sind, brauche ich Ihre Hilfe!« Kein Problem, signalisiert der Pilot mit einem Handzeichen. »Nehmen Sie drei kräftige Männer und schaffen Sie zwei Wannen voller Hummer an Deck!« »Wie bitte?« Matt wusste, dass man die Befehle eines Kapitäns normaler weise nicht in Frage stellte, aber diese Anweisung erschien ihm völlig unsin nig. Darum rief er: »Wozu soll das gut 44
sein?« Capt'n Deerk verschränkte beide Hände hinter dem Rücken als Zeichen, dass er nicht in der Stimmung für ir gendwelche Diskussionen war. Trotz dem blieb er freundlich, als er antwor tete: »Eine kleine Geheimwaffe, die den Piraten ordentlich Kopfschmerzen be reiten wird. Glauben Sie mir, ich weiß, was ich tue.« Matthew schaute sich zu den Fischer booten um, deren Segel nicht größer als ein Daumennagel wirkten. Bis es zur Schlacht kam, hatten sie die Wannen drei Mal hoch und runter geschleppt. Sein in die Runde gehender Blick streifte Aiko, Merlin und Mr. Black. Er erklärte den beiden Meerakanern, was Deerk verlangte. Zu viert gingen sie un ter Deck, um einen Befehl auszuführen, den sie nicht verstanden. Schon zu allen Zeiten hatten Soldaten das im Nachhin ein bereut. Ihnen sollte es nicht besser gehen. *
Beim Versuch, die Wanne den steilen Niedergang hinauf zu stemmen, geriet sie in eine gefährliche Schieflage. Prompt schwappte ein Teil des Brack wassers heraus, mitten in Aikos entsetz tes Gesicht. Klappernde Hummersche ren bedachten das Missgeschick mit höhnischem Beifall, während der Cy borg den Kopf hin und her warf, um die dreckige Brühe abzuschütteln. »Igitt, schmeckt das eklig«, fluchte er, ohne die Wanne auch nur einen Mil limeter absacken zu lassen. Seine künst lichen Arme, die äußerlich wie ganz
normale Gliedmaßen aussahen, funktio nierten so exakt wie immer. »Sollen wir absetzen?«, fragte Matt, dem schon übel wurde, wenn er sich den Geschmack des stinkenden Hum merwassers nur vorstellte. »Nichts da«, beschied ihm Aiko, »jetzt ist es eh egal. Hoch mit dem Teil.« Keuchend legten sie die letzten Stu fen zurück. Auch für den Cyborg war der Transport eine Tortur, denn abgese hen von seinen mechanischen Armen und diversen Gehirnimplantaten war er ein ganz normaler Mensch, der schwitzte und blutete wie jeder andere auch. Matt beschleunige das Tempo, ob wohl er rückwärts ging. Sie wollten die Wanne neben dem Großmast abstellen, wo sie keinem den Weg versperrte, doch schon nach wenigen Schritten ver hielt Aiko mitten im Schritt. Auf seinem Gesicht zeichnete sich Unverständnis ab. »Shit!«, fluchte er. Verwundert blickte Matt über die Schulter. Zuerst sah er nur, dass die VeZ-bi mehrere Schiffslängen zurück gefallen war, weil sie weniger Segelflä che besaß als der Dreimaster. Erst da nach bemerkte er, das Aruula, Honey butt und die Hafenwache von der Besat zung der Puutin umzingelt wurden. Ihre Hände waren auf den Rücken gefesselt. Blanker, scharf geschliffener Stahl lag an ihren Kehlen. »Tut nichts Unüberlegtes!«, klang es vom Quarterdeck herüber. »Sonst ster ben eure Freundinnen!« Einen brennenden Luntenstock in der
Rechten, stand Capt'n Deerk an der Re ling zum Quarterdeck. Seine freie Hand ruhte auf einer zweipfündigen Dreh basse die auf Matt und Aiko gerichtet war. Diese Waffe stammte nicht aus dem Hafendepot, so viel stand fest. Das konnte eigentlich nur eins bedeuten: Deerk gehörte zu denen, die längst Ka nonen besaßen. Zu den Piraten. »Stellt die Wanne schön vorsichtig ab«, befahl er. »Die eiserne Maid an meiner Seite ist mit Bleitrauben gela den. Wenn ich sie abfeuere, reißt es euch das Fleisch von den Knochen.« Matt und Aiko taten, was von ihnen verlangt wurde. Sie hatten gar keine an dere Wahl. Nur wenige Schritte entfernt tauchten nun auch Merlin und Mr. Black aus dem Dunkel des Niedergangs auf. So bald sie die Situation erfassten, ließ Black die Wanne fallen und langte nach dem Sturmgewehr über seiner Schulter. Ein stählerner Blitz, der neben ihm in die Tür fuhr, ließ den Rebellen mitten in der Bewegung erstarren. Auf seiner Wange bildete sich ein blutiger Strich, der schnell an den Rändern zerlief. Das Wurfmesser, das zitternd im Holz steckte, hatte ihn dort gestreift. »Vorsicht, Großmaul«, warnte Vasili, der sich mit einer Hand in den Wanten hielt, während in der anderen schon wieder scharfer Stahl glitzerte. »Das nächste Mal treffe ich ins Schwarze.« Diese Worte musste Aruula nicht ein mal übersetzen, damit Black sie ver stand. Angesicht der Geiseln, der Schrotla dung und des Messerwerfers blieb Matt 45
und den anderen gar nichts anderes üb rig, als die Waffen niederzulegen und sich den blanken Säbeln der anstürmen den Seeleute zu ergeben. Mit allem hat ten sie gerechnet, aber nicht damit, dass Deerk im Augenblick des Angriffs die Fronten wechselte. Welche Verbindung mochte es zwischen den mandeläugigen Piraten aus der Pazifa-See und den Ru ländern geben? »Sie haben den Menschen in Berbow versprochen, die Bruderschaft des roten Banners zu bekämpfen!«, warf Matt dem verräterischen Kapitän vor. Deerk verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen, und hob die Hände in einer entschuldigenden Geste. »Was soll ich machen, ich bin nun mal ein notorischer, auf seinen Vorteil be dachter Lügner. Deshalb habe ich schon Anfang des Sommers einen Pakt mit der Bruderschaft geschlossen. Sie soll mir helfen, die Meera-Inseln auszuplündern. Da ist viel zu holen, denn Rulands Sal zund Erzminen brauchen Sklaven für den Abbau. Und die Besitztümer, die es nebenbei zu erbeuten gibt, sind auch nicht zu verachten. - Leider«, plötzlich bekam Deerks Stimme einen wütenden Unterton, »haben uns die schlauen Fi scher von Berbow einen Strich durch die Rechnung gemacht. Das Letzte, was wir nämlich gebrauchen können, sind Häfen, die mit Kanonen ausgerüstet werden. Darum fegen wir das Dorf von der Seekarte, sobald die siegreich heim kehrende Flotte in den Hafen eingelas sen wird.« Lachend trat Deerk an eine der Wan nen und begann das schützende Draht geflecht zu lösen. 46
Matthew konnte sehen, dass Aiko ne ben ihm die Muskeln spannte. Der japa nischstämmige Amerikaner, der noch mit der Schmach der Niederlage ha derte, stand kurz davor, sich auf den Kapitän zu stürzen. »Nicht«, presste Matt zwischen den Zähnen hervor. Kampfsportler hin oder her, nicht mal Jackie Chan und Jet Li im Doppelpack hätten es geschafft, eine ganze Piraten mannschaft auszuschalten, ohne das Le ben der Geiseln zu gefährden. Zum Glück behielt Aikos Vernunft am Ende die Oberhand. Knirschend sprang ein Ende des Drahtverhaus in die Höhe. Die entstan dene Lücke war nicht viel größer als eine Handbreite, trotzdem arbeitete sich sofort ein Hummer darunter hervor. Capt'n Deerk streifte sich einen aus feinen Kettengliedern geschmiedeten Handschuh über die Rechte, bevor er das vorwitzige Tier hinter dem Kopf packte und triumphierend in die Höhe hob. Zwei unterarmlange Scherenglie der schnappten auf und zu, ohne ihn zu verletzten. »Dressierte Scherenparasiten«, stellte Deerk das unheimliche Tier mit den schwarz hervorquellenden Augen vor, dessen in knotige Glieder unterteilter Schwanz aufgeregt umher pendelte. »Gewöhnt euch schon mal an ihren An blick, sie werden euch von nun an be gleiten, bis ihr als Minensklaven ver kauft werdet.« Der Gliederschwanz schoss in die Höhe und schlängelte sich mehrmals um Deerks Unterarm. Wie ein emsiger Specht klopfte die Spitze über den Ket
tenhandschuh hinweg, doch erst als sie auf bloße Haut stieß, fuhr ein spitzer Stachel aus, der sich tief ins Fleisch bohrte. So schmerzhaft der Vorgang auch aussah, Deerk verzog keine Miene. Gelassen wartete er die weiteren Geschehnisse ab. Zuerst sah es so aus, als ob sich der Stachel dauerhaft in ihn verankern wollte, doch dann federte der Gliederschwanz überstürzt zurück und gab das Handgelenk frei. »Das Gift der Feuerfleggen ist unver träglich für sie«, lachte Deerk. »Wir sind darauf gekommen, als wir sahen, dass sich befallene Yakks freiwillig in Fleggenschwärme stürzten, nur um die Parasiten wieder loszuwerden.« Den Scherenhummer am ausge streckten Arm haltend, trat der Kapitän drohend näher. Merlin, der ihm am nächsten stand, wollte vor der klappern den Maulschere zurückweichen, doch zwei Seeleute, die an seinen Armen hin gen, vereitelten jeden Widerstand. De erk umrundete die drei mit schnellen Schritten und presste das Tier ohne Vorwarnung in Merlins Nacken. Sechs kurze, kräftige Chitinbeine klammerten sich von hinten um Hals und Schultern, während der Glieder schwanz unter die Uniform glitt und sich zielsicher in der Wirbelsäule veran kerte. Merlin wollte vor Schmerz auf schreien, doch die scharfe Maulschere, die von beiden Seiten gegen seinen Hals drückte, raubte ihm den Atem. Ausge stattet mit zwei zusätzlichen Gelenken, passte sie sich der Halsform so weit an, dass die Spitzen unter dem Kinn nur drei Fingerbreit auseinander ragten. »Ganz ruhig«, beschwichtigte Deerk
herablassend, »der Kleine will nur von deinem Rückenmark naschen. Versuch nicht, ihn zu lösen, sonst trennt er dir den Kopf ab.« Auf einen Wink hin wurde Merlin losgelassen. Dicke Schweißperlen glitzerten auf der schwarzen Stirn des Historikers, der nicht mal die kleinste Bewegung wagte. Mit dem Parasiten im Nacken bot Mer lin einen grotesken Anblick, insbeson dere wegen der behaarten Fühler, die wie Antennen über seinen Kopf hinaus ragten. Deerk hielt schon den nächsten Hum mer in der Hand, der sich in Mr. Black Nacken festsetzten sollte. Der Anblick des abstoßenden Viehs löste bei dem besonnenen Rebellenführer jähes Ent setzen aus. Mit einem wütenden Auf schrei schüttelte er seine beiden Bewa cher wie lästige Insekten ab und häm merte einem dritten, der mit dem Säbel ausholte, die Faust unters Kinn. In das Knacken des Kiefers mischte sich der Schrei zweier Frauen. Er stammte von Aruula und Honeybutt, die nur noch einen Luftröhrenschnitt vom Tod entfernt waren. »Reißen Sie sich zusammen, Black!«, schrie Matt wütend. »Wir müssen uns fügen, anders geht es im Moment nicht.« Der durchtrainierte Hüne blieb zum Glück stehen, bevor Vasili ihm den Rücken perforieren konnte. Blacks Brustkorb zitterte vor mühsam unter drücktem Zorn, doch er hielt sich unter Kontrolle, während Deerk den Parasiten in seinen Nacken festsetzte. Danach ging alles ganz schnell. 47
Matt, Aiko und die anderen wurden der gleichen Prozedur unterzogen, bis jeder von ihnen ein lebendes Scheren halsband trug. Capt'n Deerk und seine Besatzung schienen sich der Wirkung ihrer Tiere sehr sicher zu sein, denn sie hielten es nicht für nötig, die Gefange nen danach noch zu fesseln oder zu be wachen. Im Gegenteil. Man ließ sie un beachtet zusammen stehen, mit dem Hinweis, dass es bald etwas für sie zu tun gäbe. Matt spürte ein unangenehmes Krib beln im Rückrat, genau dort, wo der Stachel steckte, ansonsten konnte er keine negativen Auswirkungen des Sti ches ausmachen. Noch nicht, jedenfalls. Auf Dauer musste es einfach schädlich sein, wenn einem Menschen Lebens kraft absaugt wurde. »Wir müssen die Viecher loswer den«, forderte er leise, »bevor wir einen Weg suchen, die Fischer zu warnen.« »Leichter gesagt als getan«, antwor tete Aiko. »Der Druck der Scheren er höht sich schon, wenn ich mir nur die Nase kratze.« Beunruhigt sahen sie aufs Meer hin aus. Die Segel der Fischerboote waren auf Handtellergröße angewachsen. Noch glaubten sie, die Puutin wolle ih nen zur Hilfe eilen, aber das würde sich bestimmt bald ändern. Doch dann war es zu spät. Dann saßen sie in der Falle. Eingekesselt zwischen den Dschunken und dem Dreimaster. »Wir müssen der Velbi ein Signal ge ben«, schlug Merlin Roots vor. »Das ist unsere einzige Chance.« Auf dem Zweimaster, der ihnen im Kielwasser folgte, hatte man noch nicht 48
mitbekommen, was auf dem tief liegen den Mitteldeck der Puutin vor sich ging. Doch was sollte eine Warnung schon groß bringen? Mit ihren Kanonen war die Puutin allen anderen Schiffen der Flotte überlegen. Capt'n Deerk schien sich seiner Sa che sehr sicher zu sein. Umringt von der übrigen Besatzung, untersuchte er die erbeuteten Schusswaffen, von denen er sich eine Stärkung der Feuerkraft er hoffte. Nacheinander nahm er die Dril ler, die Tak 02 und Blacks Sturmgewehr in die Hand und betrachtete sie von al len Seiten, ohne die Funktionsweise wirklich zu durchschauen. Vergeblich drückte er immer wieder auf den Abzug des Drillers, doch der erwartete Schuss blieb aus. Fluchend warf Deerk die Waffe zu Boden, weil er sie für defekt hielt. Als er mit den Gewehren ebenfalls kein Glück hatte, dämmerte ihm jedoch all mählich, das er etwas falsch machte, ohne darauf zu kommen, dass die Si cherungshebel einen praktischen Nut zen besaßen. Er kannte sich zwar mit primitiven Kanonen aus, der Umgang mit hochmodernen Handfeuerwaffen er forderte aber mehr Übung. »Maddrax!«, brüllte Deerk wütend. »Komm her und zeig mir, wie eure Waffen funktionieren!« »Tu es nicht«, bat Merlin, als der Commander wirklich gehen wollte. »Deerk wird die Gewehre gegen Un schuldige einsetzen!« Matt wollte etwas antworten, brachte aber kein Wort hervor. Mühsam sam melte er etwas Speichel im Mund, um
die Stimmbänder anzufeuchten. Das Schlucken fiel ihm schwer. Es fühlte sich an, als ob ein stachliger Ball in sei ner Kehle feststecken würde, doch nach einiger Anstrengung gelang es ihm end lich, sich zu räuspern. »Ich fürchte, uns bleibt im Augen blick keine Wahl«, sprach er aus, was sonst alle dachten. »Niemanden ist da mit gedient, wenn wir unser Leben wegwerfen.« »Feigling«, keuchte Merlin. Der Vorwurf schmerzte den Com mander, doch war es wirklich Feigheit, wenn man dem ureigenen Überleben strieb folgte und sich in eine aussichts lose Situation fügte? Matt und Aruula waren schon einmal in Sklaverei gera ten und hatten lange genug überlebt, um die Freiheit wieder zu erlangen. Warum sollte das nicht auch ein zweites Mal gelingen? Merlin fehlten entsprechende Erfah rungen, aus denen er Hoffnung und Kraft schöpfen konnte. Ein irres Glit zern in seinen Augen zeigte, dass er die Situation nicht länger ertrug. Karyaanas Tod hatte ihn labil gemacht, und nun, da der Druck zu groß wurde, brannten die Sicherungen endgültig durch. »Ich halt es nicht länger aus«, keuchte er gereizt. »Diese Dreckskerle sind doch nicht besser als die Ostmän ner, die Karyaana getötet haben. Und vor denen soll ich zu Kreuze kriechen? Niemals!« Ehe ihn jemand daran hindern konnte, packte Merlin die vorstehenden Scherenspitzen seines Parasiten und versuchte sie mit einem kräftigen Ruck auseinander zu ziehen. Vergeblich. Der
Kraft des Tieres hatte er nichts entge genzusetzen. Alles was Merlin mit der Attacke erreichte, war, dass die Sche renspitzen am vorderen Gelenk nach in nen klappten, und zwar schneller als er die Hände fortziehen konnte. Zwei schwarze Fingerkuppen segel ten durch die Luft, gefolgt von einem roten Schauer. Schreiend ballte Merlin die verletzte Hand zur Faust, um die Blutung zu stillen. Aiko sammelte die abgetrennten Glieder von den Planken auf und zog ein Fläschchen Regenerationsgel aus der Beintasche. »Zeig deine Wunden vor«, forderte er Merlin auf. »Wenn wir uns beeilen, kriegen wir das schon wie der hin.« Der WCA-Historiker ignorierte das Hilfsangebot. Blind vor Zorn stürzte er auf Deerk und seine Männer zu. Unter wegs klaubte er eine hölzerne Flaschen zugrolle auf, die er drohend über den Kopf wirbelte. Die Piraten beobachteten den Sturm lauf mit gelangweiltem Interesse, ohne auch nur ansatzweise in Verteidigungs stellung zu gehen. Nicht mal Vasili griff zu einem Messer; spätestens das hätte Merlin stutzig machen müssen. Der Einzige aus der Besatzung, der sich rührte, war Grigor, der erste Offi zier. Mit einer lässigen Bewegung langte er nach der silbernen Kette um seinen Hals und fischte eine kleine Me tallpfeife aus dem Dickicht der wallen den Brustbehaarung hervor. Das Mund stück zwischen die Lippen geklemmt, deutete er auf den Parasiten in Merlins Nacken und stieß einen kurzen, hellen Pfiff aus. 49
Im gleichen Moment schnappte die Maulschere zusammen. Bevor die scharfen Hornschneiden mit lautem Knall aufeinander trafen, hinterließen sie eine blutige Schneise durch Muskeln, Sehnen und Halswirbel, mit der sie den Kopf vom Torso trenn ten. Matt hatte während seiner Stationie rung in Deutschland von einer Legende gehört, in der ein geköpfter Piratenkapi tän noch an fünfzehn Besatzungsmit gliedern vorbeigegangen sein sollte, be vor er fiel. Merlin Roots schaffte nicht mal einen zweiten Schritt. Mitten im Lauf wich alle Kraft aus seinem Körper. Wie ein nasser Sack schlug er lang hin. Direkt neben seinen abgetrennten Kopf, der auf dem ab schüssigen Deck weiter rollte, bis ihn die Reling vor dem Sturz ins Meer be wahrte. Eine schnell anwachsende rote Pfütze breitete sich zwischen den Schulterblät tern des Toten aus. In ihr zappelte der Scherenparasit, so hilflos wie eine auf den Rücken gedrehte Schildkröte. Er musste Schmerzen leiden, denn eine der Hornschneiden war durch den Aufprall zerbrochen. Laute gab das Tier jedoch nicht von sich. Nur das obligatorische Geklapper, das plötzlich seltsam spröde klang. Ein Pirat nahm den Hummer auf und schleuderte ihn mit einer weit ausholen den Bewegung über Bord. Verletzt war der Parasit nicht mehr von Nutzen. Capt'n Deerk schaute kopfschüttelnd auf die überlebenden Gefangenen, die vor Schreck wie erstarrt standen. Merlin Roots war tot. Ein Mann mit 50
Grundsätzen, der sich vom Unrecht ab gewandt hatte, um die barbarische Welt, in der sie lebten, ein wenig besser zu machen. Seine edlen Motive hatten ihm kein Glück gebracht. Erst war seine Ge fährtin ermordet worden, nun hatte es ihn selbst mitten aus dem Leben geris sen. »Ich habe euch doch gewarnt, oder nicht?«, fragte Deerk in einem Tonfall, in dem Väter normalerweise mit ihren unartigen Kindern sprechen. »Die Para siten sind dressiert. Sie töten euch je derzeit, wenn wir es wollen. Flucht oder Widerstand ist also zwecklos.« »Kutter noch achthundert Schiffslän gen entfernt«, unterbrach der Ausguck den zynischen Vortrag. »Vier Dschun ken nähern sich ihnen von Osten.« Seufzend stieg Deerk zum Quarter deck empor und sah zu den Fischerboo ten, die inzwischen deutlich voneinan der zu unterscheiden waren. Zufrieden lehnte er sich auf die Brüstung und sah übers Mitteldeck hinaus. »Maddrax!«, befahl ermit kalter Stimme. »Du und deine Freunde, ihr werft den Toten über Bord und wischt das Blut von Deck. Und keine Aufsäs sigkeit mehr! Es ist nicht gut fürs Ge schäft, wenn zu viele Sklaven den Kopf verlieren.« In Matts Adern brodelte es vor Zorn. Die Kaltschnäuzigkeit, die Deerk an den Tag legte, war wirklich kaum noch zu überbieten. Am liebsten hätte er den Piraten mit bloßen Fäusten zur Rechen schaft gezogen, doch Merlins Tod machte nur zu deutlich, wie hilflos sie waren. Ein kurzer Pfiff genügte, um den Nächsten aus ihrer Mitte zu töten.
Widerstrebend machte sich Matt mit Mr. Black daran, Merlin ein Grab in der aufgewühlten See zu bereiten. Während sie den Leichnam an Hän den und Füßen zur Reling trugen, wus ste der Commander nicht, was ihm mehr Übelkeit bereitete: die grässliche Halswunde, oder dass Merlins Tod le diglich ein Teil der Piratentaktik gewe sen war. Einer der Gefangenen sollte ruhig den Kampf suchen, damit die an deren mit eigenen Augen sehen konn ten, was ihnen bei Aufruhr blühte. Nach dem Kalkül der Piraten wurde die Lust auf Widerstand so am schnellsten ge brochen. Matt schwor, dass sie sich getäuscht haben sollten. *
Gefesselt und geknebelt wurden die restlichen Gefangenen rund um den Großmast drapiert, damit sie das jäm merliche Scheitern der Piratenjagd nicht verpassten. Nur bei den Vieren, die be reits durch die Hummer kontrolliert wurden, konnte man auf Fesseln ver zichten. In Sachen seemännische Fähigkeiten standen die Männer der Puutin anderen Schiffsbesatzungen in nichts nach. Auf Capt'n Deerks Befehl hin refften sie die Größmastsegel, damit die Velbi zu ih nen auf schließen konnte. Der Zweimaster zog prompt gleich und näherte sich bis auf Rufweite. Deerk versicherte sich noch einmal, dass die Steuerbordbatterie feuerbereit war, bevor er an die Quarterdeckreling trat und seinem Kollegen zuwinkte.
»Ist alles in Ordnung bei euch?«, schallte es von der Velbi herüber. »Vorhin sah es so aus, als wäre ein Mann über Bord gegangen!« Die Worte wirkten auf merkwürdige Weise ver zerrt, da Kapitän Nahar in eine große, trichterförmige Muschel sprach, die seine Stimme verstärkte. Capt'n Deerk verließ sich dagegen völlig auf das Volumen seines Brust korbes. »Bei uns ist alles klar!«, gab er fröhlich zurück. »Ihr scheint mir aber Probleme zu haben. Sieht fast so aus, als ob die Velbi leck geschlagen ist.« Auf dem Zweimaster ertönte undeut liches Stimmengewirr. Der verwirrte Kapitän beriet sich mit seinen Offizie ren, bevor er antwortete: »Von einem Wassereinbruch ist mir nichts bekannt! Seid Ihr sicher mit Eurer Beobach tung?« »Verdammt sicher!«, bestätigte De erk, der seinen Kanonieren ein Handzei chen gab. »Seht noch einmal genau hin.« Das Klappern der nach oben sprin genden Geschützpforten untermalte seine Worte. Blitzschnell rollten die feuerbereiten Kanonen auf den Holzkar ren nach vorn. Die abwärts geneigten Mündungen visierten den gegnerischen Rumpf unterhalb der Wasserlinie an. Auf diese Entfernung ließ sich die Velbi überhaupt nicht verfehlen. Nur noch ein einziger Befehl trennte den Zweimaster von dem vernichtenden Schlag. Capt'n Deerk zögerte nicht, ihn zu geben. »Feuer!« Ohrenbetäubender Donner rollte über das Meer, als alle sechs Kanonen 51
gleichzeitig Feuer und Blei spuckten. Die Velbi erzitterte wie unter dem Faustschlag eines Riesen, als der Rumpf von den Kugeln durchlöchert wurde. Sekundenlang behinderte grauer Pulver dampf die Sicht, doch als sich die Wol ken verflüchtigten, wurde das wahre Ausmaß der Treffer sichtbar. Ein fünf zehn Meter langer, fast durchgehender Spalt klaffte in der Bordwand. Zersplit terte Spanten ragten wie scharfe Zähne aus den schäumenden Wasserwirbeln, die gurgelnd im Inneren des Schiffes verschwanden. Die Velbi verlor umgehend an Fahrt. Unter den eindringenden Fluten neig ten sich Rumpf und Masten nach Back bord. Das Deck wurde so abschüssig, dass selbst erfahrene Seeleute den Halt verloren. Schreiend schlitterten sie über die Planken hinweg. Für die meisten en dete die Rutschpartie, als sie gegen die Reling krachten. Andere jagten mit Schwung darüber hinweg und ver schwanden in den schäumenden Fluten. An Bord der Puutin wurden die Tref fer unter lauten Hurra-Rufen gefeiert. Nur Ursk, der Steuermann gönnte sich keinen Freudentanz. Mit sicherer Hand hielt er das Schiff auf Kurs, während der getroffene Kontrahent zurück blieb. Das war auch gut so, denn die ein stürzenden Wassermassen zogen die Velbi unbarmherzig in die Tiefe. Der Zweimaster krängte bereits so weit nach Backbord, dass die Wellenkronen an die Reling stießen. Wer sich nicht die Knochen gebro chen hatte, suchte sein Heil in einem Sprung über Bord, hinein in die schäu mende See, die aussah, als würde sie 52
kochen. Mit lautem Knarren sackte der Rumpf weiter ab, bis auch Wanten und Segel ins Wasser tauchten. Ein mit einer Fellweste bekleideter Matrose schoss aus der dunklen Tiefe herauf und hielt sich strampelnd an der Oberfläche. Blind vor Angst warf er sich gegen die tobenden Wellen, nur darum bemüht, schnellstens Abstand zwischen sich und die Velbi zu bringen. Mit dem Mut der Verzweiflung kämpfte er gegen den Sog des untergehenden Schiffes an, der unbarmherzig an ihm zerrte. Der Seemann war ein guter Schwimmer. Drei Mal gelang es ihm, mit dem Kopf aus den Fluten zu tau chen und nach Luft zu schnappten. Dann blieb er verschwunden. Seinen Kameraden ging es nicht bes ser. Immer mehr von ihnen konnten dem Sog nicht länger widerstehen. Am Ende wurden sie alle in das nasse Grab gezogen, so wie die Mastspitzen ihres Schiffes, die bis zuletzt aus dem Wasser ragten. Matt schloss die Augen, als die Velbi endgültig von der Oberfläche ver schwand. Und mit ihr all seine Hoff nungen, dass sich das Schicksal noch zu ihren Gunsten wenden möge. Die Piraten machten sich johlend daran, die abgefeuerten Geschützrohre auszuwischen und neu zu laden. In we niger als drei Minuten waren sie erneut feuerbereit, doch es dauerte wesentlich länger, bis die Kutter in Reichweite ka men. Den Fischern, die fest mit Hilfe ge rechnet hatten, musste beim Anblick der sinkenden Velbi das Herz stehen geblie ben sein; und das war natürlich genau
der Plan, den Capt'n Deerk verfolgte. Den Gegner so zu schockieren, dass er gelähmt vor Angst war. Nur so fielen ihm die Kutter weitgehend kampflos in die Hände. Um den Druck noch zu erhöhen, ließ Deerk das Tuch aufziehen, mit dem Merlins Blut aufgewischt worden war. Wie ein brutales Versprechen flatterte es an der Spitze des Großmasts - das blutrote Banner der Bruderschaft. Lautes Wehklagen hallte von den Kuttern herüber, als die Fischer das ganze Ausmaß des Verrats erkannten. Einige von ihnen suchten ihr Heil in der Flucht, doch Ursk machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Ohne einen entsprechenden Befehl abzuwarten, drehte er bei und nahm so den Wind aus den Segeln der Puutin. Capt'n Deerk war längst zum vorder sten Steuerbordgeschütz geeilt, um es höchstpersönlich auf die Fliehenden auszurichten. Der Luntenstock senkte sich, die Kanone erbebte. Jaulend schlug die Kugel in die Bordwand des vorderen Kutters ein. Holzsplitter sto ben auseinander. Zum Glück lag der Treffer weit über der Wasserlinie, so dass der Besatzung die Möglichkeit zur Kapitulation blieb. Inzwischen waren auch die wendigen Dschunken heran, die wie ein Wirbel wind unter die Fischerflotte fuhren und den Kampf Mann gegen Mann suchten. Barfüßige Asiaten in bunter Tracht en terten die Kutter mit tollkühnen Sprün gen und ließen ihre Krummsäbel durch die Luft pfeifen. Die meisten Fischer waren so verängstigt, dass sie vor den Angreifern auf die Knie sanken und
ums nackte Leben bettelten. Nur einige Unverzagte wie Iisi leisteten erbitterten Widerstand. Dafür schlug man ihn mit der flachen Klingenseite grün und blau, bis er sich nicht mehr regte. Ernsthaft verletzt wurde aber nie mand; schließlich sollten die Gefange nen auf dem Sklavenmarkt einen guten Preis erbringen. Capt'n Deerk zeigte sich mit dem Schlachtverlauf mehr als zufrieden. Er ließ die restlichen Segel reffen und zog längsseits vor die dümpelnden Kutter. »Hallo, Poo-Tong«, grüßte er den Führer der Dschunken. »Wie ich sehe, hast du schon gute Arbeit geleistet.« »Sei gegrüßt, Capt'n Deerk«, klang es etwas säuerlich zurück. »Warum ver senkst du unsere Beute, statt sie zu er obern?« Der Ruländer lachte, als ob er die Frage nicht Ernst nehmen würde, trotz dem antwortete er: »Die Besatzung der Meera-Insel war ohne jeden Wert für uns. Es sind die Fischerboote, die uns den Weg in den Hafen ebnen werden. In Berbow wartet mehr Beute auf uns, als unsere Laderäume fassen können. Skla ven und Kanonen in Hülle und Fülle.« Poo-Tong gab sich mit der Erklärung augenscheinlich zufrieden, denn er lenkte das Gespräch auf die Gefange nen, die auf der geräumigen Puutin un tergebracht werden sollten. Gleichzeitig ließ er die führungslosen Kutter anein ander binden, um sie in Schlepptau zu nehmen. Capt'n Deerks Männer warfen gerade das Fallreep aus, um die neuen Sklaven an Bord zu nehmen, als Matt von hefti gem Brechreiz erfasst wurde. Merlins 53
Tod und die rücksichtslose Versenkung der Velbi, die er hilflos mit ansehen musste, waren ihm wohl doch stärker an die Nieren gegangen, als er zuerst ge dacht hatte. Die Kiefer fest aufeinander gepresst, stand er auf und taumelte mit unsicheren Schritten übers Deck, um sich nicht vor den Füßen seiner Freunde zu übergeben. »Hey, wo willst du hin?«, herrschte ihn Vasili an, der nicht weit entfernt stand. »Scher dich gefälligst zurück auf deinen Platz!« Matt nahm den Befahl gar nicht rich tig wahr. In seinen Ohren rauschte es wie in einer Steingrotte bei Sturmflut. Gleichzeitig verschwamm das Deck vor seinen Augen, als würde er durch Milchglas schauen. Die Beine versagten ihm den Dienst, sodass er ins Stolpern geriet und auf die Knie fiel. Zuerst dachte er, die Beklemmungen stammten von dem Würgegriff des Pa rasiten, doch das Gegenteil war der Fall: Das Tier in seinem Nacken begann unkontrolliert zu zappeln und stieß sich mit den haarigen Beinen ab. Durch Matts Rückrat zuckte ein stechender Schmerz, der rasch einem Gefühl der Erleichterung wich, als der davon schlängelnde Gliederschwanz aus dem Kragen der Pilotenkombination schlüpfte. »He, was ist denn hier los?« Vasili schien ebenso überrascht wie Matt. »Zurück an deinen Platz, du Drecks vieh!« Den Scherenparasiten hielt nichts mehr bei seinem Opfer. Er fiel auf die Planken und krabbelte davon. Ein schmales Wurfmesser, das sich durch 54
seinen knotigen Hinterleib bohrte, na gelte ihn jedoch an Deck fest. Vergeb lich versuchte das Tier eine neue Rich tung einzuschlagen. Alles was ihm blieb, war im Kreis herumzulaufen, wo durch sich die Wunde vergrößerte. Vasili wollte gerade ein weiteres Messer werfen, als das Hinterteil so hart in die Höhe flog, dass die durchbohrte Stelle über den schmalen Griff hinweg rutschte. Kaum befreit, sauste der Hum mer auf seinen Peiniger zu, der er schrocken zurücksprang, um der zu klappenden Schere zu entgehen. Vasili war schnell, aber in diesem Fall nicht schnell genug. Ratschend fuh ren die Hornschneiden durch seine Ferse, aus der sofort Blut hervorschoss. Auf einem Bein hüpfend, ergriff Vasili die Flucht. Schreiend schlug er einen Haken nach dem anderen, um der klap pernden Schere zu entkommen. Nur einigen beherzten Kameraden, die mit gezückten Säbeln zur Hilfe eil ten, hatte er zu verdanken, dass ihm größere Amputationen erspart blieben. Die Schläge, die auf den Hummer nie derprasselten, zertrümmerten den Scha lenpanzer. Am Ende blieb nur eine zuckende Fleisch- und Chitinmasse üb rig, von der keine Gefahr mehr drohte. »Du Hohlschädel«, herrschte Deerk den Messerwerfer an. »Wieso benutzt du nicht die Hummerpfeife? Es ist deine eigene Schuld, wenn du gebissen wirst!« »Ich kann doch nichts dafür«, jam merte Vasili wie, ein kleines Kind, wäh rend er die Blutung mit der bloßen Hand zu stoppen suchte. Die Schmer zen, die durch seinen Fußballen pulsier
ten, waren so schlimm, dass er den Oberkörper rhythmisch vor und zurück wiegte. »Das blöde Biest hat sich aus Maddrax' Nacken gelöst. Da stimmt was nicht.« Überrascht schaute Deerk auf seinen Gefangenen, der immer noch zu schwach war, um aufzustehen. Mit har tem Griff packte er Matts blonden Schopf und riss ihm den Kopf in den Nacken. »Vasili hat ausnahmsweise Recht«, knurrte er laut. »Was ist los mit dir, Ma ddrax? Hast du dich heimlich von Feu erfleggen stechen lassen?« Mit einer verächtlichen Geste ließ er wieder von dem Gefangenen ab. »Ist auch egal«, sagte er kalt. »Du bist sowieso zu ge fährlich, um dich am Leben zu lassen.« *
Zwei kräftige Ruländer mit gezück tem Säbel ließen Matt keine Sekunde aus dem Auge, während die Fischer an Bord stiegen. Als sie sahen, dass ihre Hafenwache ebenfalls geschlagen war, verließ sie endgültig der Mut. Teil nahmslos reihten sie sich vor den Hummer-Wannen auf, um einen der Parasi ten zu empfangen, die ihnen jede Mög lichkeit zur Flucht nahmen. Einzig Iisi zwinkerte Matt verschwö rerisch zu, als ob er noch an eine Ret tung glauben würde. Sein blau geschla genes Gesicht brachte sogar ein Lächeln zustande, als er rief: »Siehst du, an un seren Legenden ist doch was dran! Eine Anderswelt, in der Feuerfleggen und Scherenparasiten leben, birgt sicher noch viel größere Gefahren!«
Ein Hieb mit der flachen Säbelklinge ließ den Fischer verstummen, doch seine Worte hallten noch lange in Matts Gedächtnis nach. Behielt Iisi am Ende tatsächlich Recht? War die Expedition zum Kratersee ein Selbstmordunterneh men, das zwangsläufig scheitern mus ste? Nachdenklich sah er zu Poo-Tong hinüber, der im Kreise seiner Leibwäch ter das Fallreep bestieg. Wie die mei sten Männer der Bruderschaft trug er weit geschnittene, bunte Seidenkleider und einen geflochtenen Zopf, der bis weit zwischen die Schulterblätter reichte. Seine aufgedunsenen Wangen zeugten vom guten Leben, doch der fe dernde Gang bewies, dass er noch so gut zu kämpfen wusste wie in jüngeren Jahren. »Wie ich sehe, ist auch bei dir an Bord alles gesund und munter«, be grüßte er Deerk. Die Blessuren, die Va sili davongetragen hatte, schien er zu übersehen, oder sie interessierten ihn schlichtweg nicht. »Es ist alles nach Plan gelaufen«, freute sich Capt'n Deerk. »Die Dumm köpfe in Berbow haben es mir aber auch sehr einfach gemacht. Ich musste nur erzählen, dass ich die Bruderschaft jagen und zur Strecke bringen will, und schon sind sie mir gefolgt wie Taratzen Flötenspieler.« Zufrieden verfolgte Poo-Tong, wie die Fischer mit Hilfe der Scherenparasi ten ihrer Freiheit beraubt wurden. Sei nem aufmerksamen Blick entging aber auch nicht der gefesselte Mann, dem das Scherenhalsband fehlte. Sein Zeige finger stach in Matts Richtung. »Was ist 55
mit dem dort?« »Nichts Besonderes«, wiegelte Deerk ab. »Aus irgendeinem Grund mögen ihn die Hummer nicht. Vielleicht hat er sich von einer Feuerflegge stechen lassen. Er wird über die Planke gehen, dann haben wir keine Scherereien mit ihm.« Poo-Tongs von Natur aus schmale Augen verengten sich um eine weiter Nuance. »Du bist wirklich sehr großzü gig mit dem Leben unserer Sklaven, Capt'n.« »Man sollte eben nie am falschen Ende sparen.« Der Ruländer grinste. »Nach diesem erfolgreichen Coup ha ben sich unsere Männer außerdem ein wenig Unterhaltung verdient.« Ohne weitere Zeit zu verlieren, hob er die Hand, drehte sich für alle sichtbar im Kreis und rief: »Es ist wieder so weit! Der Gang über die Planke steht an!« Spontaner Applaus brandete auf, wurde von den Dschunken aufgenom men und kehrte von dort als vielfaches Echo zurück. Zwei Piraten schleppten eine lange Holzlatte heran, die sie mit dem vorderen Ende über die Backbor dreling schoben. Nachdem die Stimmung derart aufge heizt war, konnte sich Poo-Tong gar nicht mehr gegen den Tod des Gefange nen aussprechen. Mit einer lässigen Ge ste überließ er Capt'n Deerk das Feld. Der Ruländer ließ eine alte Autofelge holen, die bisher als Sitzgelegenheit ge dient hatte. Mit einem langen Strick band man sie an Matts Füßen fest. Da nach drückte man ihm die Felge in die Hände, damit er sie selbst zur Planke trug. Aruula schrie auf, als sie begriff, was 56
ihrem Gefährten bevorstand, doch das Scherenhalsband und einige Piraten hin derten sie daran, ihm zur Hilfe zu eilen. »Bleib ganz ruhig«, forderte Matt sie auf. Angesichts des drohenden Endes war alle Benommenheit von ihm gewi chen. Sein Verstand arbeitete messer scharf, als er fortfuhr: »So schnell bringt mich nichts um, Aruula, das weißt du doch. Ich lasse dich nicht al lein. Das verspreche ich dir.« Er sprach diese Worte auf Englisch und legte alle Zuversicht hinein, zu der er fähig war, um zu verhindern, dass sich die Barbarin zu einer Tat hinreißen ließ, die auch ihr Leben kosten würde. Erhobenen Hauptes schritt Matt übers Deck, als gäbe es nichts zu befürchten. Seine Haltung zeigte Wirkung. Aruula beruhigte sich, obwohl sie jeden seiner Schritte weiter ängstlich verfolgte. Während die Piraten ihn mit spötti schen Worten bedachten, blieb der Commander äußerlich völlig ruhig. Nur seine unter der Felge verborgenen Fin ger zupften hektisch an den Knoten, die das Gewicht mit der Fußfessel verban den. Wegen dem Strick, der um seine Füße lief, konnte er nur kleine Schritte machen, aber das kam ihm zugute. Trö deln konnte er jedoch nicht, dafür sorg ten die blanken Säbelspitzen, mit denen man ihn voran trieb. An der Reling angekommen, wurde er von Ursk und Grigor unter den Ach seln gepackt und in die Höhe gestemmt. Die Planke war nur zehn Zentimeter breit, trotzdem fand Matt mit den Ar meestiefeln genügend Halt, um einige Schritte weit hinaus zu balancieren. »Spring schon, du Memme!«, brüll
ten die ersten Piraten, obwohl er sich bei dieser Entfernung eher den Kopf am Rumpf aufgeschlagen hätte als zu er trinken. Mühsam hielt er das Gleichge wicht, während seine Fingerspitzen ein ums andere Mal an dem festgezurrten Knoten scheiterten. Verdammt, das ging nicht so einfach, wie er gehofft hatte! »Los! Los! Geh schon weiter, du fei ger Monkee!« Eine Säbelspitze stach in seine Hüfte. Um dem stärker werdenden Druck auszuweichen, musste er der vi brierenden Planke folgen. Der raue Hanf scheuerte ihm die Haut von den Fingerkuppen, trotzdem zupfte er wei ter. Irgendwann musste sich die Schlaufe doch lösen. »Monkee! Monkee! Monkee!«, gellte es von allen Seiten. Die Piraten auf den Dschunken nahmen den Ruf auf, ob wohl sie den Gang über die Planke ver mutlich gar nicht kannten. Matt versuchte alle äußeren Einflüsse auszublenden, während er endlich den ersten Knoten löste. Doch da waren noch zwei andere, die wesentlich kom plizierter angelegt waren. Ich lasse mich von dem Gewicht bis zum Kiel in die Tiefe ziehen, überlegte er. Bis dahin müssen die Knoten gelöst sein. Und während alle auf dieser Seite ins Was ser starren, tauche ich an Steuerbord auf und verberge mich unter dem Heck. Das Pläneschmieden half, die Nervo sität abzubauen. Mit ruhigen Fingern lockerte er auch den zweiten Knoten. Er wollte gerade daran gehen, das Seilende aus der Schlaufe zu ziehen, als das Brett unter seinen Füßen zu schwanken be gann. Verdammt! Ursk und Grigor sprangen auf dem hinteren Ende der
Planke herum, um ihn aus der Balance zu bringen. Matt federte einen Teil der Bewe gung mit den Knien ab, konnte sich aber nicht gleichzeitig auf seine Finger übungen konzentrieren. »Spring! Spring! Spring!«, forderte die grölende Meute. Fieberhaft zog Matt das Seil ausein ander. Nur noch ein Knoten, dann hatte er es geschafft! Verzweifelt verlagerte er den Oberkörper vor und zurück, um das Gleichgewicht zu halten, als plötz lich ein Schatten durch die Luft wischte. Zu spät begriff er, dass sich ein Pirat an einem Tau zu ihm herab schwang. Er versuchte noch auszuwei chen, doch es war zu spät. Der Pirat fegte ihn mit einem Tritt von der. Planke. Der harte Stoß schleuderte Matt die Felge aus den Händen. Mensch und Gewicht schlugen ne beneinander auf das Wasser. Matt ver suchte noch, die Felge zu packen, doch sie sank schneller als er in die Tiefe. Ehe er richtig begriff, wie ihm geschah, zerrte sie ihn hinab in die Tiefe. Während der Rumpf der Puutin an ihm vorüber zog, rollte Matt sich zu sammen, bis er den Strick erreichte, der an seinen Füßen zerrte. Nur noch ein Knoten, hämmerte es durch seine Ge hirnbahnen. Das muss doch zu schaffen sein! Verzweifelt packte er das Seil und zog es Hand um Hand näher zu sich heran. Doch jede Sekunde, die er brauchte, um überhaupt an die Felge zu gelangen, entfernte er sich weiter von der rettenden Oberfläche. Unter der zu nehmenden Tiefe begannen seine Ohren 57
zu schmerzen. Um ein Platzen der Trommelfelle zu verhindern, musste Matt einen Druckausgleich schaffen. Hastig presste er die Nasenflügel mit zwei Fingern zusammen und begann sich zu schnauzen. Der Schmerz ließ augenblicklich nach, doch um welchen Preis! Sein Atem wurde ihm knapp, und die Felge pendelte noch immer weit unter ihm. Er konnte es nicht mehr schaffen. Das war das Ende. Ihm blieb nur noch, den Reflex zum Atemholen so lange wie möglich hinauszuzögern. Spätestens als seine Gedanken zu Aruula abschweiften, wurde ihm klar, dass er längst kapituliert hatte. Matt schämte sich dafür, dass er Aruula in der Gefangenschaft dieser Mistkerle zu rückließ. Während seine Gedanken sich ver wirrten, schienen auch Matts Empfin dungen verrückt zu spielen. Plötzlich fühlte er sich auf merkwürdige Weise erleichtert, als ob das Gewicht an seinen Füßen verschwunden wäre. Er glaubte Berührungen an seinen Seiten und den Armen zu spüren. Waren das die ersten Auswirkungen des Sauerstoffmangels? Oder nahmen ihn die himmlischen Heerscharen in Empfang, um ihn in eine Welt jenseits der irdischen zu füh ren? Wohl eher letzteres, denn vor ihm tauchte eine milchigweiße Blase auf, die entfernte Ähnlichkeit mit einer Schäfchenwolke hatte. Das irre Ki chern, das über Matts Lippen drang, löste einen Blasenvorhang aus, der zur Oberfläche stieg. Halt aus, gleich hast du es geschafft! 58
Die Stimme, die ihn anfeuerte, klang seltsam fremd - und gleichzeitig sehr vertraut. Die große Blase rückte näher und nä her. An der Unterseite bildete sich jetzt eine runde Öffnung. Matt stieg auf wärts. Jemand schien ihn von unten in die Blase zu bugsieren. Buchstäblich in letzter Sekunde; seine brennenden Lun genflügel hielten es nicht länger aus. Er musste Atem holen. Jetzt, sofort! Und tatsächlich - füllten sich seine Lungen mit Luft! Keuchend fand er sich in einer Sauer stoffblase wieder, die ihn wie ein schüt zender Kokon umgab. Sein Brustkorb hob und senkte sich wie der Blasebalg einer Schmiede. Erst als sich die Atem frequenz wieder halbwegs normalisiert hatte, nahm er seine Umwelt bewusst wahr. Die hauchdünne Hülle, die ihn um gab, hatte einen Durchmesser von gut fünf Metern. Der Zugang war wieder geschlossen. An der Unterseite befan den sich mehrere mit Wasser gefüllte Hautlappen, die ein Aufsteigen verhin derten und wohl auch sonst für die nö tige Stabilität sorgten. Das Material fühlte sich wie Latex an, obwohl es ver mutlich bionetischen Ursprungs war. Nach diesen Erkenntnissen war Matt nicht mehr sonderlich überrascht, als er zwei Hydriten entdeckte, die von außen zu ihm hereinschauten. Ihre schuppigen, von Quastenflossen besetzten Köpfe wirkten Furcht erregend, doch Matt wusste, dass sich unter der schuppigen Oberfläche friedvolle Wesen verbargen, die den Menschen einige Tausend Jahre
an Evolution voraus hatten. Beide Fischwesen kommunizierten miteinander, ohne Matt direkt anzuspre chen. »Der Mensch hat sicher Angst«, ver mutete der Linke. »Sieh nur, wie er zit tert. Oder ist ihm vielleicht kalt?« »Ich weiß nicht«, antwortete sein Be gleiter, der einen gelb leuchtenden Flos senkamm trug. »Wenn nur einer der Al ten hier wäre, der die menschliche Spra che beherrscht. Dann könnten wir uns mit ihm verständigen.« »Das ist nicht nötig«, antwortete Matthew, indem er mühsam die klackenden Hydriten-Laute formulierte. »Euer Dialekt ist mir geläufig.« Nur zwei kurze Sätze, doch die Mee resbewohner zuckten zurück, als hätte er nach ihnen geschlagen. Ungläubiges Staunen spiegelte sich in ihren schwar zen Augen wider. »Wie kann das sein?«, fragten sie sich gegenseitig. Sicher waren sie nie zuvor einem Menschen begegnet, der sich in ihrem Idiom verständigen konnte, und sie hatten wohl auch noch von keinem gehört, außer vielleicht … Neugierig tauchten sie wieder näher. »Bist du etwa …«, begann der Linke. »… der Kiemenmensch aus Hykton …«, vollendete der Rechte. »… der kürzlich auch in Sub'Sisco war?«, führte ein Dritter weiter, der von unten hinzustieß, den Satz weiter. Oje, Tick, Trick und Track auf hydri tisch. Das konnte ja heiter werden. Matt verkniff sich ein Grinsen, denn schließ lich hatten ihm die Jungs das Leben ge rettet. Oder besser gesagt, die beiden Jungs und das Mädchen, wie die Brust
wölbungen des Neuzugangs erkennen ließen. Die drei jugendlichen Hydriten stell ten sich ihm als Hog'tar, Bin'log und Xop'tul vor, die aus Torkur, einer Un terwasserstadt in der Beringstraße stammten. »Ich bin tatsächlich Maddrax, der ei nige Zeit in Hykton gelebt hat«, bestä tige der Commander im Gegenzug. »Quart'ol, einer eurer Wissenschaftler, hatte seinen Geist einige Zeit auf mich übertragen. Seitdem sind die hydriti schen Sprachmuster in meinem Ge dächtnis verankert.« Angesichts dieser Nachricht gerieten die Hydriten förmlich aus dem Häus chen. Ihre Flossenkämme leuchteten in verschiedenen Farben auf, während sie Matt geradezu mit Fragen nach seinen neuesten Erlebnissen überschütteten. Einmal mehr bekam er den Eindruck, dass er für das Meeresvolk zu einer Art Legendengestalt geworden war, deren Abenteuer interessiert verfolgt wurden. Während er das Interesse an seiner Person abzublocken versuchte, sammel ten sich vor der Luftblase weitere Ge stalten, die bisher alles aus sicherer Ent fernung verfolgt hatten. Matt zählte ins gesamt zehn Hydriten und einen grauen, mit Wucherungen überzogenen Delfiin, der in einigem Abstand seine Runden zog. Cusak hatte also wirklich einen Hy driten gesehen. Der Delfiin war danach vermutlich nur durch die Wellen ge sprungen, um sie zu täuschen. »Wie kommt es, dass ihr rechtzeitig zur Stelle wart, noch dazu mit einer Luftblase?«, brachte Matt eine Frage 59
vor, die ihm auf den Lippen brannte. Sein Erstaunen machte die Gruppe sichtlich stolz. Hog'tar, der sich zum Wortführer aufschwang, erklärte, dass sie auf einer biologischen Exkursion waren, die sich mit der hohen Mutati onsrate bei Delfiinen befasste, die von Zeit zu Zeit aus dem Posedis einwan derten. Als sie die vielen Schiffe an der Oberfläche bemerkten, hatten sie aus reiner Abenteuerlust beschlossen, den Menschen eine Weile zu folgen, um zu sehen, was es mit den aufeinander zu strebenden Flotten auf sich hatte. Der Untergang der Velbi war ein re gelrechter Schock für sie gewesen, vor allem, weil sie trotz aller Bemühungen niemanden lebend aus dem gesunkenen Wrack bergen konnten. Angesichts die ses Fiaskos hatten sie daher beschlos sen, für ähnliche Fälle vorzusorgen. »Als es wieder Kanonendonner gab, haben wir eine bionetische Nottrans porthülle mit Luft geflutet«, erklärte Hog'tar stolz. »Damit haben wir uns un ter den Schiffen platziert, für den Fall, dass noch ein weiteres untergeht. Statt dessen bist plötzlich du ins Wasser ge stürzt, mit einem Gewicht an den Bei nen, das dich am Schwimmen hinderte. Da haben wir den Strick durchtrennt und dich hierher gebracht.« »Ich verdanke euch allen mein Le ben«, sagte Matt. »Ohne euer beherztes Handeln wäre ich ertrunken.« Auf Hog'tars Zügen spiegelte sich Erleichte rung wider. »Ich hatte schon Sorge, was der Hohe Rat von Torkur zu unserem Eingreifen sagen würde«, meinte er. »Nun bin ich froh, dass wir das Risiko eingegangen sind.« 60
Matt wusste, dass die Kontaktauf nahme zu Menschen strengen Regeln unterworfen war. »Wenn es Probleme geben sollte, werde ich gern euer Für sprecher sein«, machte er Hog'tar zu sätzlich Mut. »Sag uns, Maddrax«, mischte sich Xop'tul ein, »was an der Oberfläche vorgeht. Warum mussten so viele Men schen sterben?« Matt schwieg betroffen. Da war er wieder, der Grund, aus dem sich die Hydriten seit Anbeginn der Zeit in den Tiefen der Ozeane verbargen. Weil der Mensch eben nicht nur des Menschen größter Feind war, sondern auch der al ler anderen Spezis, die seinen Weg kreuzten. Was sollte er tun? Diesen jungen Fischwesen bestätigen, was ihnen die Alten und Weisen Zyklus für Zyklus predigten? Dass die Lungenatmer von Natur aus unfähig zu einer friedlichen Existenz waren? Seine quälenden Zweifel waren dem Piloten wohl deutlich anzusehen, denn die Hydriten rückten erschrocken zu sammen, als ob sie plötzlich fürchteten, was er ihnen erzählen könnte. Matt sah sie sich an, diese zwischen ein Meter vierzig und ein Meter fünfzig großen Wesen mit humanoiden Körperbau, der sich in erster Linie durch die breiten Flossenhände und - fuße vom Men schen unterschied. Ihre platten, ge schuppten Gesichter mochten auf un vorbereitete Gemüter abstoßend wirken, doch Matt sah längst ihre natürliche Schönheit. Dieses Volk zu belügen, dem er schon mehr als ein Leben verdankte,
schien ihm undenkbar. Und so räusperte er seine Kehle frei, um zu erklären, was es mit Capt'n Deerk und der Bruder schaft des blutigen Banners auf sich hatte. Während er seine Stimmbänder mit den klackenden Lauten strapazierte, ließ er seinen Blick über die zehn im Wasser schwebenden Körper gleiten, die sich nur mit kurzen, ganz instinktiven Flos senschlägen im Gleichgewicht hielten. Jeder von ihnen, ob männlich oder weiblich, trug neben Lendenschurz und Armreifen einen kurzen silbernen Stab an der Hüfte. Matt hatte ihn schon oft gesehen. Es handelte sich um eine Art Elektroschocker, mit dem sich Sharx' und andere gefährliche Tiere auf Di stanz halten ließen. Noch während er von Capt'n Deerks Verrat erzählte, reifte ein Plan in ihm heran, wie er Aruula und die Anderen aus den Klauen der Piraten befreien könnte. Doch würden ihn die Hydriten unterstützen? Ihn, einen fast Fremden, von dem sie nur Legenden aus Sub'Sisco und Hykton wussten? »Scherenparasiten?«, unterbrach Xop'tul, als er von dem Akt der Ver sklavung berichtete. »Klingt ganz nach den roten Maulscherern, die ich wäh rend einer Landexpedition gesehen habe. Gefährliche Tiere, aber uns lassen sie zum Glück in Ruhe. Forscher haben herausgefunden, dass unsere Gehirn schwingungen für ihre Symbiose unge eignet sind.« »Das könnte erklären, warum der Pa rasit von mir abgelassen hat«, vermutete Matt. »Quart'ols Gedächtnisengramme aktivieren sich automatisch in Gegen
wart von Hydriten. Anfangs ist das mit Stoffwechselproblemen verbunden, darum war mir an Bord auch so übel.« Einige Hydriten aus der Gruppe drängten ihn, weiter zu berichten, doch Xop'tul widersprach den neugierigen Artgenossen. »Wenn sich an Bord der Puutin wirklich Sklaven befinden, dür fen wir nicht tatenlos zusehen«, forderte sie. »Wir müssen sofort den Hohen Rat in Torkur benachrichtigen, damit er eine Entscheidung fällt. Ich denke, es ist an der Zeit, dass die schrecklichen Fishmanta'kan den Piraten eine Lektion er teilen.« »Sehr richtig«, stimmte Matt zu. »Doch wir haben keine Zeit, um erst eine Genehmigung einzuholen. In jeder Phase, die verstreicht, kann einer mei ner Freunde den Parasiten zum Opfer fallen. Wir müssen sofort zuschlagen, bevor es zu spät ist!« Auf den Gesichtern der Hydriten zeichnete sich Entsetzen ab, als hätte er gerade etwas absolut Ungehöriges von ihnen verlangt. Aufgeregt stoben sie auseinander, denn sie brauchten Platz für die ausholenden Gesten, mit denen sie ihrer Empörung Luft machten. Nur Xop'tul blieb an ihrem Platz und sah Matt tief in die Augen. Ihre Brüste bebten, als sie beschwörend klackte: »An die Oberfläche gehen und uns zu erkennen geben? Es tut mir Leid, Ma ddrax, aber dazu ist unsere Gruppe nicht befugt. Wir können dir nicht hel fen …« *
Gut sechzig Männer und Frauen 61
drängten sich in dem düsteren, nur durch einige Talgkerzen erhellten La gerraum. Wer bei den Kämpfen verletzt worden war, durfte in einer der wenigen Hängematten liegen, die anderen hock ten auf dem Boden und haderten zu meist mit ihrem Schicksal. Lediglich Aruula schien gutes Mutes zu sein. »Ihr werdet es sehen«, flüsterte sie zum wiederholten Mal. »Maddrax befreit uns. Er findet einen Weg.« Die meisten, die ihre Worte hörten, schüttelten nur mitleidig den Kopf. Eine Reaktion, die sie nicht gelten ließ. »Er hat mir versprochen, dass er zurück kommt. Vorhin an Deck, kurz bevor er …«, sie stockte einen Moment, »… ab getaucht ist.« Wer den feuchten Film über ihren Pupillen sah, der wusste, dass Aruula vor allem zu sich selbst sprach, um im mer wieder zu hören, was sie gerne glauben wollte. »Commander Drax ist ertrunken«, versuchte Mr. Black sie mit der Wahr heit zu konfrontieren. »Auch wenn es Ihnen schwer fällt, seinen Tod zu ak zeptieren, Sie müssen sich damit abfin den. Es ist wichtig, unser ganzen Den ken und Handeln auf eine mögliche Flucht zu konzentrieren. Verstehen Sie?« »Nein!« Angriffslustig reckte die Barbarin das Kinn in die Höhe. Einen Moment lang sah es wirklich so aus, als ob sie mit bloßen Händen auf Black los gehen wollte, doch dann beließ sie es bei einem geschnauften: »Niemand hat die Leiche gesehen. Solange Maddrax nur verschwunden ist, kann er auch noch leben.« 62
Black stieß einen überraschten Laut aus. »Also wirklich, Miss Aruula. Der Commander ist mit einem Gewicht an den Füßen ins Meer gestoßen worden und nicht wieder aufgetaucht - wie viele Beweise brauchen Sie noch, um …« »Aber die Hoffnung sollte man doch nie aufgeben«, mischte sich Honeybutt ein, die einfach nicht mit ansehen konnte, wie Aruula bei Blacks Worten immer mehr in sich zusammensackte. Diesmal blieb dem Rebellenführer beinahe die Luft weg. »Miss Hardy«, keuchte er. »Von Ih nen hätte ich nun wirklich etwas mehr Logik erwartet. Hat sich denn bei unse ren Einsätzen nicht immer wieder be wiesen, dass rationale Analysen in Kri senzeiten der beste Weg sind, um …« »Schnauze, Black, aber sofort!« Aiko, der bisher geschwiegen hatte, sah wütend zu dem Hünen auf. »Merken Sie denn nicht, dass Ihre hohlen Phra sen derzeit nicht gefragt sind?« »Hohle Phrasen?«, echote der Rebel lenführer. »Ich denke lediglich an unser aller Zukunft!« Black ballte seine Hände unbewusst zu Fäusten, doch er ließ sie auf seinen mächtigen Ober schenkeln ruhen. »Für ihre Pläne ist in den nächsten Tagen noch genügend Zeit«, beschied ihm Aiko in einem kalten Ton, von dem er selbst nicht gewusst hatte, dass er dazu fähig war. »Im Moment trauert hier jeder so, wie er es für richtig hält, und es ist ein Zeichen von Anstand, wenn man solche Unterschiede gegen seitig achtet. Ich für meinen Teil re spektiere sogar, dass rationales Denken Ihre Art der Trauerbewältigung ist, aber
ich lasse nicht zu, dass Sie dabei einer guten Freundin weh tun!« An diesem Vorwurf hatte Black kräf tig zu kauen. Wortlos schaute er in die Runde, in der Hoffnung, dass jemand eine andere Meinung vertrat, erntete aber nur Schweigen. Aiko entspannte sich wieder und brachte sogar ein aufmunterndes Zwin kern in Aruulas Richtung zustande. »Und wenn ich ganz ehrlich bin«, fügte er hinzu, »glaube ich auch nicht, dass Matt tot ist. Der Kerl ist schon mehr als einmal in der Versenkung verschwun den und bisher immer wieder aufge taucht.« Aruula schenkte ihm ein dankbares Lächeln, dass nur von Honeybutts glän zenden Augen überstrahlt wurde, mit denen sie den Cyborg ansah. Aiko strei chelte tröstend über ihre Schulter. Ho neybutt nutzte die Gelegenheit, um nä her an ihn heranzurücken. Die gegensei tige Körperwärme, die sie sich spende ten, war angenehm in diesem feuchten Loch. »Es wird alles wieder gut«, versprach Aiko, einfach weil es das war, was Ho neybutt jetzt hören wollte. Danach schwiegen beide wieder und hingen ih ren eigenen Gedanken nach. *
Die bionetische Luftblase stieg in gleichmäßigem Tempo auf, bis sie in zwei Metern Tiefe zum Stillstand kam. Sobald sie ihre Position stabilisiert hatte, öffnete sich der kreisrunde Schließmuskel an der Unterseite. Matt schlüpfte hindurch und legte die ver
bliebene Strecke mit kräftigen Schwimmstößen zurück. Seine Füße waren nackt. Die Stiefel hatte er an den Schnürsenkeln aneinander gebunden und sich um den Nacken gehängt. Laut los tauchte auf, schöpfte Atem und hielt sich mit paddelnden Bewegungen an der Oberfläche. Rundum lag die nächtliche See. Die silberne Mondscheibe verbarg sich hin ter der Wolkendecke; nur ihr Schemen erhellte schwach die Boote, die auf den Wellen dümpelten. In diesem Zwielicht wirkten die erleuchteten Fenster der Ka pitänskajüte wie ein Fanal, das sich als flackernder Lichtblitz auf dem Wasser widerspiegelte. Die Segel hingen schlaff von den Toppsgasten. Derzeit herrschte Flaute, wodurch die Annähe rung für Matt erleichtert wurde. Eine Heckwache ließ sich nicht an der Reling ausmachen, trotzdem schwamm Matthew äußerst vorsichtig auf die dümpelnde Puutin zu. Im Schat ten des Ruderblattes verharrte er einen Moment und lauschte in die Höhe. Von Deck war nicht das geringste Geräusch zu hören. Hier auf hoher See rechneten die Piraten natürlich nicht mit einem Überfall. Vermutlich gab es nur eine Ruderwache, die auf den nächtlichen Kurs achtete. Matt nutzte die eisernen Verbindun gen zwischen Ruder und Rumpf, um in die Höhe zu klettern. An der überhän genden Heckgalerie suchten seine Fin ger solange Halt, bis er sich in die Höhe schwingen konnte. Hinter den Glas scheiben wurden zwei ins Gespräch vertieften Männer sichtbar. Durch ein angelehntes Fenster hörte er Capt'n De 63
erks Stimme. »Diese Waffe mag vielleicht un scheinbar wirken, Poo-Tong«, verkün dete der Rüländer gerade, »aber sie ist um ein Vielfaches gefährlicher als Sä bel oder Wurfmesser! Gleich morgen werde ich die Fremden foltern lassen, bis sie uns ihre Funktion verraten. Das wird die Besatzungen unterhalten und uns großen Nutzen bringen.« »Mag sein«, antwortete Poo-Tong sichtlich gelangweilt. »Hauptsache, die beiden Weiber bleiben unverletzt. Die sollen nämlich mich ein wenig unterhal ten, bevor sie einen guten Preis auf dem Sklavenmarkt erzielen.« »Keine schlechte Idee«, stimmte Capt'n Deerk zu, bevor er ein gehässi ges Lachen folgen ließ. »Vasili kann die beiden hübschen Bellits gleich mal her holen.« Matt, der inzwischen mit beiden Fü ßen auf dem Absatz stand, wartete keine Sekunde länger. Blitzschnell stieß er das angelehnte Fenster auf und sprang in die Kajüte. In seiner Rechten funkelte der Schockstab, den ihm die Hydriten überlassen hatten. Deerk und Poo-Tong saßen an einem breiten Tisch und tranken Wein aus sil bernen Kelchen. Der Schreck, einem tot Geglaubten gegenüber zu stehen, ließ ihre Bewegungen zu Eis gefrieren. »Du?«, keuchten sie wie aus einem Munde. Zu mehr waren sie nicht fähig. Matt machte sich nicht die Mühe, ihre einsilbige Frage zu beantworten. Mit drei Schritten durcheilte er die Ka bine und ließ den Silberstab in seiner Hand auf einen Meter anwachsen. Deerk löste sich als Erster aus seiner 64
Überraschung. Den Weinkelch fallen lassen und nach Blacks Sturmgewehr auf dem Tisch zu greifen war eine Be wegung. Er packte die Flinte an Lauf und Kolben, um sie schützend vor sich zu halten, weil er wohl einen weit aus holenden Hieb wie mit einem Säbel er wartete. Ein Fehler, denn der Schock stab war keine Schlagwaffe. Matt führte ihn wie einen Degen. Das rechte Bein zu einem Ausfall vorge streckt, zielte er auf Deerks Brustkorb und stach zu. Ein silbernes Glitzern zuckte über den Tisch, allerdings ohne den Piraten zu erreichen. Capt'n Deerk lachte schon triumphierend auf, als sich plötzlich eine blauweiße Flamme aus der Spitze löste und die verbliebene Entfernung blitzartig überbrückte. Ein Keuchen entrang sich Deerks Lungen, als der Energiestoß in seinen Solarplexus schlug. Das Sturmgewehr polterte auf den Tisch, doch der Piraten schädel hinterließ ein weitaus dunkleres Geräusch, als er hintendrein schlug. Matt fuhr herum, um Poo-Tong zu at tackieren, doch noch in der Drehung er kannte er, dass der Asiate nicht mehr auf seinem Stuhl saß. Unversehens schraubte er sich links von Matt in die Höhe und riss sein Schwert aus der Holzscheide. Die Klinge kreuzte den Weg des Meterstabs. Ein scharfes Bren nen fuhr durch Matts Unterarm, als ihm die Waffe aus der Hand geprellt wurde. Verdammt, er hatte den Asiaten un terschätzt! Fluchend stolperte Matt zurück, ge rade noch rechtzeitig, um dem Schlag auszuweichen, der seiner Kehle galt. Poo-Tong folgte ihm mit traumwandle
rischer Sicherheit, ohne die Klinge ab zusetzen. Matts Rechte ertastete eine Holz lehne, die er packte und nach vorn warf. Klappernd ging der Stuhl zwischen ih nen zu Boden, doch Poo-Tong setzte mit einem kurzen Sprung darüber hin weg, ohne die Klinge auch nur eine Se kunde sinken zu lassen. Unversehens zuckte der scharfe Stahl vor, schlitzte aber nur Matts Uniform auf, da er be reits zur Seite wich. Auch dieses Manöver brachte keine Verschnaufpause. Die Schwertspitze folgte ihm wie der Suchkopf einer Cruise Missile. Ein kaltes Feuer glänzte in PooTongs Augen, während er auf Matt ein drang. Den Weinpokal, der ihn treffen sollte, wischte er mit einer ärgerlichen Bewegung zur Seite. Da stolperte Matt über die Stiefel, die ihm von den Schultern rutschen, und musste plötzlich um seine Balance kämpfen. Gleichzeitig erklang ein lau tes Fauchen von der Fensterseite her, wie um den Todesstoß zu untermalen. Es lenkte aber auch Poo-Tong ab, des sen Augen sich unnatürlich weiteten. Vermutlich, weil das aggressive Ge räusch von zwei furchteinflößenden Fischmonstern stammte, die durch das offene Fenster in die Kajüte eindrangen. Der kurze Moment des Zögern reichte Matt, um dem Stich durch eine Körperdrehung zu entgehen. Er nutzte die Gelegenheit, um mit dem Arm aus zuholen - und die Linke so schwungvoll wie schmerzhaft in Poo-Tongs Gesicht krachen zu lassen. Der Erfolg war im wahrsten Sinne
des Wortes umwerfend. So drahtig und geschickt der Pirat auch im Angriff sein mochte, einstecken gehörte nicht zu sei nen Qualitäten. Ein einziger Treffer auf sein Kinn genügte, um ihn ins Land der Träume zu schicken. Matt wischte sich über die schweiß nasse Stirn und sah zu Hog'tar und Xop'tul hinüber, die mit ihren Schock stäben nervös nach allen Seiten sicher ten. Ihr Fauchen, das für Poo-Tong so furchterregend geklungen hatte, war in Wirklichkeit ein ängstlicher Laut gewe sen. Sie waren über den Kampf minde stens ebenso erschrocken wie der Pirat über ihr Aussehen. »Vielen Dank«, keuchte Matt, noch ganz außer Atem. »Ohne euch wäre es wohl endgültig aus gewesen.« Gerade weil sie keinerlei Erfahrung mit Gewalt hatten, rechnete er ihnen umso höher an, dass sie sich doch noch entschieden hatten, ihm beizustehen. Die Hydriten nickten nur schwei gend, als wären sie nicht sicher, ob sie sein Lob annehmen konnten. Matt klaubte inzwischen seinen Driller vom Tisch. Er überprüfte das Magazin, ließ es wieder einrasten und steckte die Waffe in die Beintasche seiner Kampf hose. Danach hob er den Schockstab auf, der über die Planken davongerollt war. Um sicher zu stellen, dass PooTong keinen Ärger mehr machte, ver passte ihm Matt einen Energiestoß, der jeden Menschen für gut eine Stunde pa ralysierte. Danach öffnete er die Kajütentür und spähte vorsichtig in den dahinter liegen den, mäßig beleuchteten Gang, in dem sich weder eine Wache noch ein betrun 65
kener Seemann blicken ließ. Ein Deck tiefer lagen die leeren Frachträume, in denen die Sklaven untergebracht sein mussten. Wenn sie es unbemerkt bis dorthin schafften, waren sie aus dem Gröbsten raus. Matt holte noch einmal tief Luft, be vor er hinaus schlüpfte. Hog'tar und Xop'tul folgten ihm wie Schatten. Gemeinsam erreichten sie den Niedergang, der in die Tiefe führte. Lei ses Schnarchen ließ darauf hoffen, dass die meisten Piraten längst von Alk und Müdigkeit übermannt worden waren. Trotzdem wichen sie den Geräuschquel len so weit wie möglich aus. Nur ein Mal mussten sie eine Unterkunft passie ren, in der Schlafende in ihren Hänge matten schaukelten. »Dort vorne«, flüsterte Matt, »um die nächste Ecke!« Den Schockstab fest umklammert, ta stete er sich weiter, bis ihn ein Schatten riss, der sich auf dem Gangboden ab zeichnete, verharren ließ. Vor dem be helfsmäßigem Kerker gab es eine Wa che! Matt nutzte die großen Griffmul den, die für Flossenhände ausgelegt wa ren, um den Stab auf höchste Intensität zu schalten. Alle Sinne angespannt, sprang er um die Ecke und schaltete den überraschten Posten durch einen über fünf Meter geschleuderten Blitz aus. Der getroffene Pirat schwankte einige Male in seinen Stulpenstiefeln vor und zurück, bevor er vornüber kippte. Ge nau in Matts Arme, der ihn auffing, be vor der Aufprall das Deck erzittern ließ. »Wartet lieber hier«, empfahl er den beiden Hydriten, bevor er den Türriegel zurückschob und in den dahinter liegen 66
den Raum schlüpfte. Die Sklaven, die sich dort aufhielten, blickten überrascht auf. Matt legte den Zeigefinger auf die Lippen, um zu signalisieren, dass sie sich still verhalten sollten. Lediglich Aruula konnte einen Laut der Freude nicht unterdrücken, was durchaus ver ständlich war. »Ich hab gewusst, dass du lebst«, flüsterte sie aufgeregt. »Außer Aiko und mir wollte niemand an deine Rückkehr glauben.« Die Zahnreihen des Cyborgs glitzer ten im Dunkeln, als er die Lippen zu ei nem Grinsen verzog. »War doch klar«, sagte er leichthin. »Gefesselt und mit einem Gewicht an den Füßen im Meer versenkt - das packt doch jeder.« Matt deutete ein scherzhaften Box hieb in Aikos Richtung an, bevor er sich neben Aruula niederließ und sie zärtlich in die Arme schloss. Zumindest so weit, wie es der elende Parasit zuließ, der ih ren Hals umklammerte. »Ich sorge dafür, dass diese Schma rotzer verschwinden«, versprach er, nicht nur Aruula, sondern auch allen an deren, die neugierig näher rückten. »Aber es geht erst einmal nur in Zwei ergruppen. Aiko und Aruula kommen als erste mit mir nach draußen.« Er wandte sich an die Running Men, wie derholte seine Worte auf Englisch und fügte hinzu: »Mr. Black, Sie und Miss Hardy sind als nächstes dran.« Die bei den nickten. Aiko deutete auf die Waffe in Matts Händen, während sie auf zur Tür gin gen. »Bedeutet der Schockstab das, was ich vermute?« »Ja«, gab Matt zurück. »Deshalb
macht ihr beiden auch den Anfang.« Aiko und Aruula verzogen keine Miene, als sie die im Gang wartenden Hydriten sahen. Beide waren in die Exi stenz des Unterwasservolkes einge weiht. Matt stellte die vier einander vor. »Wissen Hog'tar und Xop'tul sicher, wie sie uns von den Parasiten befreien können?«, erkundigte sich Aruula. »Mit Bestimmtheit erst, wenn wir es versucht haben«, gestand Matt ein. »Dann lass es uns sofort durchzie hen«, schlug Aiko vor. »Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Die Hummer schienen zu bemerken, dass etwas- nicht stimmte, denn ihre Scheren zogen sich enger zusammen. Aiko und Aruula mussten um Atem rin gen, während die Hydriten hinter sie traten. Im nächsten Augenblick akti vierten Hog'tar und Xop'tul ihre Schockstäbe, die auf höchste Intensität eingestellt waren. Blauweiße Flammen schlugen den Parasiten in den Rücken. Einen bangen Augenblick lang glaubte Matt, die Scheren würden sich schließen, doch dann erschlafften die Tiere und kippten nach hinten weg. Nur der mehrgliedrige Hinterleib klebte noch unter der Klei dung fest, doch mit einem schnellen Ruck ließ sich der Stachel lösen. Nach dem die Parasiten reglos am Boden la gen, rollten Aiko und Aruula mit den Schulterblättern und rieben sich den Nacken. »Tut das gut, endlich wieder frei zu atmen«, seufzte Aruula. Matt atmete ebenfalls auf. Also lie ßen sich auf diese Weise die Gefange nen wirklich befreien. Zuvor mussten
jedoch Hog'tar und Xop'tul verschwin den, damit ihre Existenz nicht enthüllt wurde. Nachdem die beiden in einem Nebengang verschwunden waren, holte Aruula als nächstes Honeybutt und Mr. Black nach draußen. Matt und Aiko lahmten die Parasiten durch gezielte Schockstöße. »Saubere Arbeit«, lobte Mr. Black. »Wie sind sie an diese Blitzdinger her angekommen?« »Ein kleines Geheimnis, das ich vor läufig nicht lüften darf«, antwortete Matt vage und fuhr, bevor Black nach haken konnte, fort: »Übernehmen Sie bitte mit Aruula und Miss Hardy die Befreiung der anderen Sklaven? Aiko und ich holen derweil unsere Waffen aus der Kapitänskajüte.« Mr. Black zeigte sich einverstanden. Mit den drei Schockstäben würde die Aktion nicht lange dauern. Matt tauchte mit Aiko in den Neben gang, wo Hog'tar und Xop'tul auf sie warteten. Erst dort zog er seinen Driller aus der Beintasche. Der Weg zurück ins Heck verlief auch ohne Komplikationen. Vor dem offenen Fenster hieß es Abschied neh men, doch Matt hatte noch ein weiteres Anliegen. Er kramte in einer seiner Ta schen herum, bis er eine der wetterfe sten Folien fand, auf die sie die Satelli tenkarten aus der ISS gedruckt hatten. Es war die radiologische Karte mit einer farblichen Darstellung der CFStrahlungswerte. »Ich habe noch eine letzte Bitte an euch«, wandte er sich an Hog'tar und Xop'tul. »Durch Verbündete wissen wir, dass der Weltrat eine eigene Kra 67
tersee-Expedition ausgeschickt hat. Das wird unsere Mission noch schwieriger machen, als sie ohnehin schon ist. Wir könnten Unterstützung gebrauchen. Ist es euch möglich, Kontakt mit dem Wis senschaftler Quart'ol aufzunehmen?« »Das ist kein Problem«, sagte Hog'tar. »Torkur besitzt über die Trans portröhren eine direkte Verbindung mit dem Allatis. Was sollen wir Quart'ol ausrichten?« »Sagt ihm, er soll Dave McKenzie in der Community London aufsuchen und mit ihm zum Kratersee aufbrechen. Wir treffen uns an einem markanten Punkt, und zwar … hier.« Er deutete auf eine leuchtende Stelle der radiologischen Aufnahme. »Den Strahlenwerten nach zu urteilen gibt es da eine besonders hohe Konzentration an Kristallen, die wir uns auf jeden Fall ansehen sollten. Es wäre gut, wenn Quart'ol und Dave mit Waffen und weiterem Material dort hinkommen könnten. Die Ergebnisse, die uns am See erwarten, werden sicher für alle Menschen und Hydriten von großem Interesse sein.« Hog'tar umschloss die zusammenge rollte Folie mit seiner Flossenhand und verstaute sie in einer Innentasche des Lendentuchs. »Wir werden deine Bitte ausrichten«, versicherte er. »Außerdem warten wir mit den anderen im Wasser, für den Fall, das ihr noch Hilfe braucht.« Matthew bedankte sich und ver sprach, die an Bord verbliebenen Schockstäbe nach Gebrauch ins Meer zu werfen. Er wusste, dass die pazifisti schen Hydriten nicht zuließen, dass ihre Technik in andere Hände geriet. 68
Nachdem sich alle mit Handschlag voneinander verabschiedet hatten, ver schwanden die Hydriten durchs Fenster. Um keinen Lärm zu verursachen, rutschten sie am Ruderblatt hinab. Matt verfolgte noch, wie sie im Meer ver schwanden, bevor er mit Aiko die restli chen Driller, das Sturmgewehr und die Tak 02 vom Tisch nahm. »Jetzt können die Piraten ihr blaues Wunder erleben«, triumphierte der Cy borg. Vermutlich bereute er diese for schen Worte rasch wieder, denn kaum lag die Kajütentür hinter ihnen, erklan gen ein Deck tiefer gellende Schreie. Es waren Alarmrufe, mit denen ein Aus bruchsversuch gemeldet wurde, gefolgt von hartem Wummern, das wie ge dämpfter Kanonendonner klang. »Verdammt«, zischte Matt. »Jetzt geht es hart auf hart.« *
Die Befreiung von den Parasiten ging schnell voran. Der Gang füllte sich zu sehends, und obwohl Mr. Black immer wieder zur Ruhe aufforderte, stieg der Geräuschpegel unweigerlich an. Die Gefahr der Entdeckung wuchs von Mi nute zu Minute, bis Black schließlich seinen Schockstab an Iisi übergab, um lieber jetzt als zu spät für eine Konfron tation mit den Piraten vorzusorgen. Er drang in den Frachtraum vor, in dem immer noch die Kiste mit den Waffen des Nixon-Panzers stand: zwei Maschinengewehre und der tragbare Granatwerfer. Der Rebellenführer brauchte nur einen Patronengurt einzu legen und den Ladehebel durchzuzie
hen, um eines der MGs feuerbereit zu machen. Obwohl er schon unter der Last ächzte, hängte er sich auch noch den Granatwerfer um und schteppte bei des nach draußen. Als er die Waffen neben Miss Hardy abstellte, fiel ihm auf, dass sich die Zahl der umherstehenden Menschen nicht vergrößert zu haben schien. Als wären einige von ihnen bereits aufgebrochen, anstatt zu warten. Er ging die versammelten Männer durch und kam schließlich darauf, wer fehlte. Ein flaues Gefühl machte sich in seinem Magen breit. Er holte sich Aru ula als Übersetzerin und fragte Iisi: »Wo sind Cusak und die anderen Wa chen geblieben?« Der Fischer zuckte nur mit den Schultern. »Keine Ahnung, ich bin hier vollauf beschäftigt.« Aruula und Honeybutt wussten eben falls nichts über den Verbleib der Ge suchten, worauf sich Mr. Black ent schloss, der Sache auf den Grund zu ge hen. Das schwere Maschinengewehr mit beiden Händen vor dem Brustkorb haltend, marschierte er los. Als er durch die erste offene Tür in die Mannschaftsunterkünfte der Puutin blickte, blieb ihm fast das Herz stehen. Zwischen den schwingenden Hänge matten huschten tatsächlich Cusak und seine Mannen herum, um sich mit den Waffen der Schlafenden einzudecken. Black bedeutete dem Hauptmann mit einer energischen Geste, zum Rückzug zu blasen, doch eigentlich hatten die Soldaten bereits, was sie brauchten. Cusak duckte sich gerade tief genug, um unter einer Hängematte hindurch zu
schlüpfen, als über ihm ein lautes Schnarchen abrupt endete. Der Haupt mann stand sofort still, um nicht durch Sohlen- oder Plankenknarren aufzufal len, doch die anderen bemerkten in der allgemeinen Unruhe die Gefahr nicht. Da schreckte der Pirat auch schon in die Höhe, rieb sich die verschlafenen Au gen und starrte auf die fremden Gestal ten. »Alarm«, brüllte er. »Die Sklaven brechen aus!« Ehe er noch mehr Lärm machen konnte, rammte ihn Cusak von unten unsanft aus der Matte. Danach ging al les sehr schnell. Die Wachleute rannten, mit Säbeln und Messern bewaffnet, aus dem Raum, während immer Piraten hochfuhren. Einige tasteten nach den Pfeifen, die sie alle um den Hals trugen, und bliesen hinein. Der Zweck war ein deutig: die Sklaven mittels der Hummer zu töten. Glücklicherweise trug keiner von Cusaks Männern mehr eine der le benden Halsfesseln. Mr. Black visierte den nächstbesten Piraten an und zog den Abzug des MGs durch. Ratternd löste sich eine Salve. Hämmernde Mündungsblitze beleuchte ten den schummrigen Raum wie ein Stroboskop. Der Pirat wurde von den Einschlägen zurückgeworfen. Black beließ es bei dem einen Feuer stoß. Die Wirkung verschreckte die meisten Piraten so sehr, dass sie einge schüchtert und unschlüssig in ihren Hängematten sitzen blieben. »Wagt nicht, uns zu folgen!«, rief Black noch, bevor er die Tür zuwarf. »Sonst seid ihr alle dran!« Erst danach fiel ihm ein, dass die Piraten seine 69
Worte gar nicht verstehen konnten. Aber es war anzunehmen, dass sie zu mindest ihren Sinn verstanden. Hastig schloss er zu Cusaks Wachen auf. Von der entgegengesetzten Seite rückten weitere Piraten näher. Die Sol daten stellte sich dem Ansturm tapfer entgegen, konnten aber nicht verhin dern, dass einige Dressurpfeifen los schrillten - gefolgt von lautem Schmat zen und hartem Poltern aus der Gegen richtung. Kein Zweifel, da rollten Köpfe. »Aus dem Weg!«, brüllte Black und richtete das Maschinengewehr nach vorne aus. Cusak und seine Männer wi chen sofort zur Seite. Mr. Black feuerte eine neue Salve. Der Bleihagel fällte die erste Reihe der anstürmenden Piraten wie eine Sense. Doch von hinten drängten immer mehr heran. Der Running Man erreichte den Gang, in dem die befreiten Sklaven ent setzt auf zwei Freunde hinab sahen, die kopflos am Boden lagen. Miss Hardy kniete nur wenige Meter entfernt und machte den Granatwerfer feuerbereit. »Wie viele haben noch Viecher im Nacken?« rief Black ihr zu. Honeybutt sah auf. »Keiner mehr. Diese beiden«, sie wies auf die Toten, »waren die Letzten.« »Okay.« Black verschaffte sich rasch einen Überblick. »Wir arbeiten uns an Deck vor. Miss Hardy übernimmt die Führung, ich decke den Rückzug!« Aruula übersetzte seine Worte. Die Fischer drängten eilig in Richtung Auf gang, während Black weitere Angreifer, die mit gezückter Klinge heran stürm 70
ten, niedermähte. Wer stattdessen floh, wurde mit knapp hinter den Fersen ein schlagenden Kugeln belohnt … Diese Sprache verstanden sogar diese wilden Kerle. Kurz bevor Black den anderen an Deck folgte, legte er einen neuen Patro nengurt in das MG ein. Als er ins Freie trat, atmete er tief die frische Nachtluft ein. Hier waren sie erst einmal außer Gefahr. Nachfolgende Piraten mussten durch das Nadelöhr des Einstiegs und waren somit eine leichte Beute der Ku geln. Mr. Black rollte die Schultern, um die Verspannung seiner Brustmuskula tur zu lösen, und legte den Kopf in den Nacken. Und sah einen Schatten über sich in den Wanten, der sich vor der Scheibe des Mondes abzeichnete! Black reagierte sofort. Eine Schusssalve löste sich aus dem schwe ren Maschinengewehr. Ein röchelnder Schrei ertönte. Und ein glitzernder Sil berfunken wirbelte unkontrolliert durch die Luft. Es war einer von Vasilis Wurf dolchen, auf direktem Weg in die Tiefe. Gefolgt von dem Piraten. Der Messer werfer hatte ihm dort oben aufgelauert, hatte eiskalt abgewartet, dass Black sich zu den anderen gesellte. Aber er konnte seinen Rachedurst nicht stillen. Das hässliche Geräusch, mit dem Va sili aufprallte, war weithin zu hören. Genauso wie das leise Stöhnen vom Ruder her! Blacks Kopf flog herum. Ursk, der Steuermann, gab noch nicht auf. Einen brennenden Luntenstock in der Hand, rannte er auf die Drehbasse
zu, die mit traubeneigroßen Bleikugeln gefüllt war. Black riss das MG herum und jagte eine weitere Salve aus dem Lauf. Häm mernd fraßen sich die Einschusslöcher an der Quarterdeckbrüstung hinauf, doch kurz bevor die gerade Linie an dem Steuermann enden konnte, war nur noch ein Klicken zu hören. Der Patro nengurt hatte sein Ende erreicht. Black hatte sein Pulver verschossen. Triumphierend richtete Ursk die Drehbasse auf den blonden Hünen, der plötzlich wie erstarrt schien. Der Lun tenstock senkte sich, doch bevor er das Zündloch erreichen konnte, zerplatzte die Lafette, auf der die Kanone ruhte. Das schwere Rohr stürzte aufs Deck hinab, wo es ein tiefes Loch in die Plan ken schlug. »Die Flossen hoch!«, klang die Stimme von Matthew Drax über das Deck. Seinen Driller im Anschlag, zielte er weiter auf Ursk, der immer noch verdattert auf die nutzlos gewor dene Lafette starrte. Als der Steuermann die Arme langsam gen Himmel streckte, war auch der Widerstand der anderen Piraten gebrochen. Hinzu kam, dass we der Capt'n Deerk, noch Poo-Tong sich während des Kampfes hatten blicken lassen. Ohne Führung fehlte es den Bur schen an einer vernünftigen Strategie. Einer wagte sich, einen weißen Stoff fetzen schwenkend, aus dem Nieder gang. Dann hören die Menschen an Deck die Säbel und Messer der Piraten zu Boden klirren, und Sekunden später kam die Meute mit erhobenen Händen aus dem Bauch des Schiffes hervor. Die Fischer fesselten die überleben
den Piraten. An Bord der Puutin war so mit alles im Lot. Was blieb, waren die vier wendigen Dschunken, auf denen bei dem Schusslärm das Leben erwacht war. Die Flaute machte Segelmanöver unmöglich; dafür tauchten Ruder ins Wasser, die die Dschunken in Angriffs position brachten. »Wir müssen die Kanonen besetzen«, rief Aiko, »bevor sie uns zusammen schießen!« »Das übernehmen wir«, versprach Cusak. »Bringt die Puutin zwei Strich backbord, sonst schießen wir die Fi scherboote zusammen, die zwischen uns sind.« Aiko und einige Fischer besetzten die Bänke auf dem Ruderdeck, während Matt das Steuer übernahm und Mr. Black den Granatwerfer schulterte. Erster Kanonendonner von den Dschunken leitete die Auseinanderset zung ein. Die Breitseite schien erst zu kurz gehalten, denn vor dem Bug der Puutin stiegen Wassersäulen auf. Dann wurde die Reling durchbrochen, gleich darauf knickte der Vormast ein. Take lage und Toppsgasten krachten aufs Deck und begruben einige unvorsich tige Fischer unter sich, während die obere Masthälfte splitternd ins Meer krachte. »Legt euch in die Riemen!«, rief Aiko und zog sein Ruder kraftvoll an sich heran. Das Schiff wendete auf eng sten Raum, bis die vorbei gleitende Dschunke längsseits lag. »Fertigmachen zum Feuern«, kam Cusaks Befehl. »Und … Feuer!« Sobald die Rohre aus den offenen Geschützp forten lugten, entluden sie sich auch 71
schon in einer wohlgezielten Breitseite, die das gegnerische Deck leer räumte. Freudengeheul klang auf der Puutin auf, das mit lautem Wutgeschrei von den verbliebenen Dschunken beantwor tet wurde. Darauf vertrauend, dass die Backbordbatterie erst wieder nachgela den werden musste, setzten die drei ver bliebenen Piratehschiffe einen Ramm kurs und hielten direkt auf die Puutin zu. Sie hatten die Rechnung ohne Mr. Black gemacht. Der Running Man entsicherte den Granatwerfer, nahm sorgfältig Maß und feuerte dicht hinter einander zwei Geschosse ab. Die erste Granate riss ein Loch ins Quarterdeck der ersten Dschunke und setzte sie in Brand. Die Seeleute auf dem zweiten Schiff hatten noch weniger Glück: Ein Volltreffer der Pulverkam mer sprengte das Schiff in einer gewal tigen Explosion auseinander. Damit war auch der Widerstandswille der letzten Mannschaft gebrochen. Im Schein der brennenden Schwester schiffe streckte sie die Waffen und half den Überlebenden der drei Wracks an Bord. Auf Seiten der Fischer herrschte da gegen grenzenlose Freude. Die gefürch teten Piraten waren tatsächlich geschla gen. Matt nutzte den allgemeinen Sie gestaumel, um die Schockstäbe zurück ins Meer zu werfen. Von den Hydriten ließ sich keiner an der Oberfläche sehen. Vielleicht hatten sie sich angesichts der Gewalt in die Tiefe zurückgezogen. Trotzdem war sich Matt sicher, dass sie ihr Eigentum
wiederfinden würden. Epilog
Der steinige Strand unterschied sich nicht wesentlich von anderen Küsten dieser Welt, und doch spürte Matt ein kaltes Rieseln über seinen Rücken lau fen, als Iisi das Beiboot an Land setzte. Vor ihnen lag der nördlichste Zipfel Ru lands, die Landmasse, die den Kratersee einrahmte wie ein verkrüppelter Arm. Die fünf Gefährten - Matthew Drax, Aruula, Aiko, Mr. Black und Honeybutt Hardy - winkten einen letzten Gruß zu den Männern hinüber, die in Sichtweite das Deck der Puutin bevölkerten. Nicht mehr lange, dann würden sie die Segel setzten und nach Berbow zurückkehren, um Capt'n Deerk, Poo-Tong und die Überlebenden der Bruderschaft der Ju stiz zu übergeben. Ab sofort waren Matt und seine Freunde wieder auf sich allein gestellt. Drei Männer und zwei Frauen, deren Rucksäcke vollgestopft waren mit Ver pflegung, Ausrüstung und den Resten modernster Technik aus dem NixonPanzer, die ein Leben in einer Welt er möglichen sollten, in der Feuerfleggen und Scherenparasiten vermutlich noch das harmloseste Problem waren. Mr. Black, der das schwere Funkge rät aus dem Transportpanzer trug, nahm als erster sein Gepäck auf. Die anderen folgten seinem Beispiel. Und dann ging es los, hinein in eine neue, unbekannte Welt voller Gefahren …
ENDE 72
Ausblick:
Die Menschenfalle von Claudia Kern Matthew Drax und seine Begleiter sind in Ruland angelangt. Nun ist es - geografisch gese hen - nicht mehr allzu weit bis zum Ufer des Kratersees, den der Komet Christopher-Floyd vor über fünfhundert Jahren in die asiatische Landmasse grub. In Wahrheit aber haben die fünf Menschen den schwersten Teil ihrer Reise noch vor sich. Denn sie betreten ein Land voller Wunder… und namenloser Schrecken. Eine andere Expedi tion unter der Leitung von Lynne Crow und Professor Dr. Smythe muss diese Erfahrung, die Matt & Co. noch bevorsteht, jetzt schon machen. Denn sie sind bereits in einem Gebiet ange kommen, wo die Strahlung der grünen Kristalle bizarre Blüten getrieben hat …
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