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Seewölfe 226 1
Roy Palmer 1.
Der große Regen hatte während der Nacht eingesetzt und ergoß sich rauschend in den Golf von Bengalen und auf die Ostküste Indiens. Er breitete dichte Dunstschleier über den Kämmen der Wogen aus, die vom Wind aus Nordosten auf Legerwall gedrückt wurden, und trommelte auf die schweren, ledrigen Blätter der Urwaldbäume und Sträucher. Er verwandelte die Bäche an der Koromandelküste in reißende Flüsse und die Flüsse in Ströme und ließ auf den terrassenförmigen Stufen des Dekkans, die „Ghats“ genannt wurden, Schlammfelder und Seen entstehen. Der Monsunregen beherrschte die Szene und ließ den jungen Morgen zu einer Sphäre des Halbdunkels und der Undurchdringlichkeit werden. Sein Rauschen und Plätschern schien überall zu sein, und es schien nie mehr aussetzen zu wollen, heute nicht, auch nicht morgen, übermorgen oder in einer Woche. Die „Isabella VIII.“ segelte auf Backbordbug liegend durch die bewegte See auf False Divi vor dem Mündungsdelta des Flusses Krishna zu. Die dschungelbewachsene Küste der Insel tauchte wie aus Nebeln des Jenseits vor ihrem Bugsprit auf. Yasin, der Pirat, den Hasard aus der Bucht von Kadiri gerettet hatte, stand neben dem Seewolf auf der Kuhl, als dieser seine Befehle an die Crew gab. Der Regen näßte ihre Gestalten nicht, denn auf Hasards Anordnung hin waren über der Back, dem Haupt- und dem Achterdeck Schutzdächer aus Persenning gespannt worden. Yasin hatte Hasard soeben erklärt, daß die Ankerbucht der Piratenschiffe an der Westseite der Insel wie üblich bewacht sein würde, aber er hatte ihm auch gesagt, wie er die Posten Raghubirs überlisten konnte. So steuerte die „Isabella“ nun die Leeseite der Insel an und schlich sich im dichten Regen an der Bucht vorbei; deren Posten von den Baumgruppen am Strand aus, unter die sie sich gekauert hatten, die
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Galeone beim besten Willen nicht erkennen konnten. Die Entfernung war zu groß, und der wolkenbruchartig niederprasselnde Regen hüllte schon die beiden in der Bucht ankernden Zweimaster Raghubirs derart dicht ein, daß ihre Umrisse nur als schwache Schemen zu erkennen waren. Keine halbe Meile nördlich der geschützten Bucht öffnete sich wie eine Bresche im Dschungel die Mündung eines Flusses, die breit genug war, um ein Segelschiff von der Größe der „Isabella“ aufzunehmen. „Von dort aus führen zwei geheime Pfade durch den Urwald-, sagte Yasin, der Pirat. „Raghubir hat sie anlegen lassen, um im Falle eines Angriffs auf die Bucht eine Ausweichmöglichkeit zum Fluß hin zu haben.“ „Ich hoffe immer noch. du sagst die Wahrheit.“ Der Seewolf bückte dem Inder forschend ins Gesicht. Durfte er ihm vertrauen? Gewiß, Yasin hatte sich dazu entschlossen, zu sprechen und alles zu verraten, was er über Raghubir und des Freibeuterbande wußte. Aber min Verhalten erschien Hasard fast ein wenig zu unterwürfig und bereitwillig. Yasin beeilte sich zu versichern: „Es ist die Wahrheit, ich schwöre es. Der eine Pfad führt hinauf zu den acht Hütten, die gut eine Meile von dem Ufer der Bucht entfernt auf der kleinen Lichtung eines flachen Hügels stehen. Der andere verläuft durch den Dschungel bis zur Bucht.“ Hasard nickte. Er mußte sich auf die Aussagen des Mannes verlassen, eine andere Wahl hatte er Er wandte sich Ben Brighton zu, der das Achterdeck verlassen hatte und zu ihnen getreten war. und sagte: „Ben, wir bilden zwei Landtrupps von je acht Mann. Die anderen bleiben an Bord der ‚Isabella’. Willst du mich dieses Mal begleiten?“ „Unbedingt, Sir“, antwortete sein erster Offizier und Bootsmann. „Gut, dann übernimmt Ferris für die Zeit unserer Abwesenheit das Kommando über die ‚Isabella?
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„Aye, Sir“, sagte Ferris Tucker, der sich inzwischen ebenfalls genähert hatte. Hasard war entschlossen, sein Vorhaben so schnell und konsequent wie möglich durchzuführen. Raghubir war es gelungen, bei seinem nächtlichen Überfall auf Kadiri zwei Dutzend Mädchen aus dem Fischerdorf zu entführen und auf die Insel zu verschleppen. Hasard wollte sie retten. Er hatte es Narayan, Kankar und Chakra versprochen, die sich an Bord der „Isabella“ befanden. Auch Shandra und Ginesh, die Töchter von Narayan und Kankar, befanden sich in der Gewalt von Raghubir. Die „Isabella“ hatte die Ankerbucht der Piratenschiffe Steuerbord achteraus gelassen, und Bill, der Moses, meldete jetzt durch einen Ruf aus dem Großmars, daß er die Mündung des Flusses entdeckt habe. Hasard und seine Männer bereiteten sich auf die bevorstehende Landung vor. Sie ahnten nicht, daß im Versteck der Piraten das Drama bereits seinen Lauf genommen hatte. * Raghubir lag auf dem Boden seiner Wohnhütte und stöhnte. Er war von dem Stuhl gesunken, auf dem er eben noch gesessen hatte, krümmte sich und preßte die Hände gegen den Leib. Nur seine Beine zuckten noch ein wenig, sein übriger Körper war durch das Gift gelähmt. Sein Gesicht hatte eine weißliche Färbung angenommen und wirkte im Licht des Feuers fratzenhaft. „Tanjoghe heißt der Busch, der im Dschungel wächst“, erklärte Shandra ihm noch einmal, während sie sich neben ihn kniete. „Auf dem Weg hierher stürzte ich. Erinnerst du dich, Raghubir? Dabei gelang es mir, ein paar Blätter in meinen Besitz zu bringen. Ich steckte sie hinter den Leibgurt, den ich unter meinem Kleid trage. Dann, als du mir befahlst, den roten Wein In dem kleinen Kessel zu erhitzen, nahm ich die Gelegenheit wahr und, tat die Blätter hinein.“
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Sie schwieg und tupfte sich die Lippen mit einem Tuch ab; das Ginesh ihr reichte. Shandra lächelte ihrer Schwester zu. „Danke, Ginesh. Ich habe auch von dem Schierlingstrunk gekostet, aber ich habe keinen Tropfen heruntergeschluckt. Ich werde nicht einmal Magenschmerzen kriegen, du kannst ganz beruhigt sein.“ Die Angst wich aus Gineshs Augen, sie lächelte plötzlich auch. Raghubir gab einen röchelnden Laut von sich. „Du — Satan“, stöhnte er. „Stirb“, sagte Shandra. „Die Lähmung hindert dich daran, um Hilfe zu schreien, sie nimmt auch von deiner Zunge Besitz. Du bist uns ausgeliefert, Raghubir, und weder Ginesh noch ich werden auch nur einen Finger für dich rühren. So räche ich den Tod der Meinen. Narayan, mein lieber Vater, Kankar, meine gütige Mutter, und Chakra, mein mutiger Bruder, sind auf ihrem Boot geradewegs ins Nirwana hinübergesegelt, ins alles auflösende Nichts.“ Gineshs Lächeln zerfiel. Sie gab ein trockenes Schluchzen von sich. „Also doch“, flüsterte sie entsetzt. „Ich habe es geahnt, Shandra.“ Shandra legte den Finger gegen die Lippen ihrer zwölfjährigen Schwester und raunte: „Ruhig, ganz ruhig; weine jetzt nicht. Sie werden die paradiesische Glückseligkeit finden und nie mehr zu leiden haben.“‘ Sie wies auf den Anführer der Piraten und zischte: „Aber er wird ihnen dorthin nicht folgen. Mulayaka und die anderen Dämonen der Finsternis werden ihn bis in die Ewigkeit hinein quälen, denn genau das hat er verdient.“ Ginesh preßte die Hände vors Gesicht, doch über ihre Lippen drang kein Laut. Shandra ließ sie gewähren. Den Schmerz über den Verlust ihrer Eltern und ihres Bruders konnte sie ihr nicht nehmen; es war gut, wenn Ginesh allein damit fertig wurde. Raghubir stöhnte nicht mehr. Er lag auf der linken Seite seines Körpers und war zu keiner Bewegung fähig. Nur in seinen Augen schien noch Leben zu sein. Sein
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Blick richtete sich auf den Krug, den er leergetrunken und anschließend auf dem Boden. abgestellt hatte, dann wanderte er weiter, und der Ausdruck von Entsetzen und Unglauben verwandelte sich in lodernden Haß, als er Shandras Gesicht erreichte. Shandra erwiderte den Blick ungerührt. Die Luft im einzigen großen Raum der Hütte war von dem starken Duft des Weinpunsches geschwängert, aber auch von dem herben Geruch der TanjogheBlätter, der sich jetzt mehr und mehr ausbreitete. Der Regen trommelte mit ungehemmter Kraft auf das Dach der Behausung, und manchmal geriet ein Tropfen durch den Rauchabzug in das Feuer. Es zischte, aber der Regen konnte die Flammen nicht löschen. „Heißer Wein“, sagte Shandra. „Du wolltest dich damit gegen die Fieberkrankheiten schützen, die der große Regen bringt, doch du hast das Gegenteil erreicht, Mörder. Die Spanier, denen dieser Wein dereinst gehörte, wären froh, heute zu erfahren, welchen Zweck er erfüllt hat. Aber sie werden es nie mehr vernehmen, denn du hast auch sie getötet. Wie viele Menschen hast du umgebracht, Raghubir?“ Er starrte sie aus unnatürlich geweiteten Augen an, doch der Haß schien langsam zu erlöschen. Sein Blick trübte sich. „Es müssen Hunderte sagte Shandra, dann erhob sie sich und schlich zur Tür der Hütte. Sie lauschte eine Weile dem Grölen und Singen der Männer und dem Kreischen der Mädchen in den Nachbarhütten, wandte sich darauf wieder ihrer Schwester zu und wisperte: „Sie sind beschäftigt, diese elenden .Hunde. Sie ahnen nichts, schöpfen noch keinen Verdacht, daß etwas nicht stimmen könnte. Aber bald wird Koppal, der Narbige. auftauchen und nach dem Rechten sehen. Er mißtraut uns, weil wir Jammur, seinen Kumpan, getötet haben, und er wird sofort versuchen uns totzuschießen, wenn er uns hier neben der Leiche Raghubirs antrifft.“ „Wir müssen fort-, flüsterte Ginesh. „Aber wohin?’ „Zur Bucht. Dort liegen ihre Boote.“
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„Du willst - auf das Wasser hinaus?“ „Ja. Zum Festland ist es nicht weit. False Divi liegt vor der Mündung des KrishnaFlusses“, sagte Shandra. „Wir müssen die Sümpfe des Deltas durchqueren und nach einem Dorf suchen. Dort sind wir sicher, vorläufig jedenfalls.“ Sie wollte weitersprechen. schwieg jetzt aber, weil sie festgestellt hatte, daß Raghubirs Augen sich nicht mehr in ihren Höhlen bewegten. Blicklos waren sie auf die Hüttenwand gerichtet. Shandra ging zu ihm, beugte sich über ihn, richtete sich wieder auf und sagte: „Er ist tot. Los jetzt, Ginesh. Ich nehme seine Waffen. Ich glaube, ich kann damit umgehen, ich habe gesehen, wie man die Feuerrohre bedienen muß. Lauf du als erste los, Schwester, und nimm den Pfad zur Bucht hinunter.“ Ginesh sah sie entgeistert an. „Du kommst nicht mit? Aber ...“ „Ich passe auf, daß dir keiner folgt“, unterbrach Shandra sie mit sanftem Lächeln. „Dann versuche ich, wenigstens noch einige unserer armen Stammesschwestern zu befreien. Wir müssen uns trennen, Ginesh, anders geht es nicht. Willst du die anderen etwa ihrem Schicksal überlassen? Willst du das wirklich?“ Ginesh senkte ihren Blick zum Hüttenboden. „Nein.“ „Dann lauf, so schnell du kannst“, sagte ihre Schwester. „Wir sind frei und werden leben, denn Vishnu, der Erhalter, ist unser Verbündeter.“ Sie bückte sich noch einmal zu Raghubir hinunter und zog diesem die Steinschloßpistole aus dem Waffengurt. Dann schaute sie sich nach seiner Muskete um und entdeckte sie jenseits des Feuers an der gegenüberliegenden Hüttenwand. * Der Pirat war groß und kräftig gebaut. Er trug nur einen Lendenschurz und eine turbanähnliche Kopfbedeckung. Er hockte unter dem riesigen Seidenbaum, der ihm und seinem Begleiter nur unzulänglichen
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Schutz vor den niederprasselnden Regentropfen bot. Das Wasser an seiner muskulösen braunen Gestalt hinunter und formte Pfützen neben seinen nackten Füßen. Mißmutig blickte er zu dem Kumpan, einem hageren Bengalen, hinüber. „Baudh soll verdammt sein“; sagte er. „Er hat uns als Wachtposten eingeteilt ausgerechnet uns.“ „Raghubir hat es ihm gesagt.“ „Aber die Wahl blieb Baudh überlassen. Der Hund kann uns nicht leiden, ich schwöre es dir. Deshalb hat er uns zu diesem verfluchten Sträflingsdienst verdonnert.“ „Baudh ist Raghubirs bester Vertrauter“, sagte der Bengale. „Keiner kann ihm seinen Platz als die rechte Hand unseres Führers streitig machen. Deswegen hat es keinen Sinn, gegen ihn aufzumucken.“ Der Große verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. „Du hältst zu ihm, wie? Ihr stammt ja aus derselben Gegend, nicht wahr, und deswegen seid ihr ein Herz und eine Seele, oder?“ „Das redest du dir nur ein. Ich sage, es hat keinen Zweck, gegen ihn aufzumucken.“ „Wer will denn meutern?“ stieß der Große wütend hervor. „Verdreh mir bloß nicht das Wort im Mund.“ Er wischte sich mit seiner groben, schwieligen Hand das Regenwasser aus dem Gesicht. „Ich meine nur -wir hätten jetzt oben im Lager sein können, um mit den anderen zu feiern, um zu trinken und uns darüber zu freuen, daß wir dem Gefecht gegen diese fremden Teufel mit heiler. Haut entronnen sind. Ja, wir hätten unseren Spaß mit den Weibern haben können, sie sind jung und hübsch und wahrscheinlich alle noch unberührt, aber statt dessen sitzen wir hier in Dreck und Schlamm und müssen uns bis auf die Knochen durchnässen lassen.“ „Wir können uns doch ein kleines Schutzdach aus Zweigen und Blättern bauen“, schlug der Bengale vor. Der Große lachte höhnisch auf. „Damit die Wachablösung sich nachher hübsch gemütlich ins Trockene setzen kann, was? Ohne auch nur einen Finger zu rühren - das
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könnte den Höllenbraten so passen. Nein, für die tue ich keinen Handstreich.“ „Du bist so zornig, daß du überhaupt nichts mehr begreifst“, sagte der andere. „Ja, ich bin wütend! Warum passen wir eigentlich auf die Schiffe auf? Es ist überflüssig. Keiner holt sie aus der Bucht weg, und keiner läuft False Divi bei diesem Regen an.“ Der Bengale erhob sich. „Es ist mir egal, was du denkst. Ich gehe jetzt Reisig holen und baue mir das Dach allein. Der Regen bringt auch die schlimmen Krankheiten, vergiß das nicht. Und ich will nicht am Fieber sterben, jetzt, da wir wieder hier sind und uns erholen können.“ Er stapfte über den schlüpfrigen Strand auf das Dickicht zu, drang zwei Schritte ein und begann, große und kleine Zweige loszubrechen. Der Dschungel atmete seinen stickigen Dunst aus, der jeden Atemzug zu lähmen drohte. Die Hitze und die Feuchtigkeit ließen den Wald zu einer wahren Brutstätte all der Krankheiten werden, die jeder Eingeborene fürchtete: Malaria, Schlafkrankheit, Gelbfieber, Ruhr, Cholera und Pest. Der Bengale schüttelte sich unwillkürlich, als er daran dachte. Der Große kauerte in unveränderter Haltung unter dem Seidenbaum und grübelte mit finsterer Miene darüber nach, wer wohl die fremden Männer an Bord der dreimastigen Galeone gewesen sein mochten, die ihnen in der vergangenen Nacht so arg zugesetzt hatten. Spanier? Portugiesen? Engländer? Sie hatten mit teuflischen Mitteln gekämpft, mit Flaschen. die in hohem Bogen durch die Luft flogen und dann explodierten Ein Schiff des Piratenverbandes hatten sie auf diese Weise in die Luft gejagt, und auch Raghubirs Zweimaster und der dritte Segler waren ramponiert worden. Raghubir hatte die Flucht ergriffen - zum erstenmal, seit er an der Ostküste Indiens seine Beutezüge unternahm. Er hat die Schlacht falsch begonnen, dachte der Pirat. sonst hätten wir siegen müssen, denn wir waren in der Übermacht.
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Raghubir hat bewiesen, daß auch er seine schwachen Seiten hat. Einige von uns sind verreckt, aber wir hätten alle sterben können. Der Bengale hatte unterdessen so viele Zweige und Blätter abgebrochen, daß er meinte, sie müßten genügen, um einen provisorischen Unterschlupf herzustellen. Er wollte zu seinem Kumpan zurückkehren, glaubte aber plötzlich hinter sich ein Geräusch wahrzunehmen, das sich vom Rauschen des Regens und den sonst üblichen Lauten des Dschungels deutlich unterschied. Ein Knacken, als habe jemand auf einen Zweig oder auf eine Wurzel getreten. Er fuhr herum. Er sah eine Bewegung und erkannte zu seinem Entsetzen die Umrisse einer Gestalt, die aus Dunst und Wasser hervorzuwachsen schien. Er ließ das Reisig fallen und griff nach dem Säbel, der in seinem Gurt steckte. Doch es war bereits zu spät für eine Reaktion. Der Fremde riß eine große Faust hoch, und die eisenharten Knöchel trafen das Kinn des Freibeuters mit voller Wucht. Er brach zusammen, aber ehe er das Bewußtsein verlor, stellte er noch fest, dass der Fremde hochgewachsen und breitschultrig war und schwarze Haare hatte — ein weißer Mann mit einem markant geschnittenen und verwegenen Gesicht, das von einem Paar eisblauer Augen beherrscht wurde. 2. Hasard beugte sich über den hageren Bengalen und vergewisserte sich, daß dieser auch wirklich besinnungslos war. Dann wandte er sich um und gab seinen wartenden Männern ein Zeichen. Sie schlüpften aus dem dichten Gestrüpp hervor und zu ihm: Carberry, Big Old Shane, Blacky, Batuti, Dan O’Flynn, Smoky und Matt Davies. Blacky und Batuti legten dem überwältigten Gegner Hand- und Fußfesseln an. Sie verschnürten ihn so, daß er sich nicht mehr rühren
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konnte, und steckten ihm dann einen Stofffetzen als Knebel zwischen die Zähne. Hasard teilte die Zweige des Gebüschs, das zwischen ihm und dem Strand war, mit den Händen und spähte durch den Regen zu der Gestalt des zweiten Wachtpostens hinüber. „Es ist nicht so leicht, sich. an ihn heranzuschleichen“, teilte er seinen Begleitern dann flüsternd mit. „Er sitzt ziemlich weit vorn dichten Gebüsch entfernt und könnte sich umdrehen, ehe wir ihn zu fassen kriegen. Wenn er Krach schlägt, vereitelt er womöglich unseren Überraschungsangriff auf das Hüttenlager.“ „Es liegt eine Meile entfernt, hat Yasin gesagt“, raunte Shane. „Und wenn der Kerl dort unter dem Baum auch noch so brüllt, seine Spießgesellen oben auf dem Hügel können ihn bei dem Lärm, den der Regen verursacht, doch nicht hören.“ „Es sei denn, er feuert seine Pistole oder seine Muskete ab“, meinte Matt Davies leise. Carberry warf ihm einen geringschätzigen Blick zu. „Manchmal frage ich mich, ob du mit dem Kopf denkst oder mit einem anderen Körperteil, Mister Davies. Bei diesem Guß ist keine Schußwaffe mehr zu gebrauchen, du Stint, denn das Zündkraut wird naß.“ „Es sei denn, man bewahrt sein Schießeisen im Trockenen auf“; zischte Matt. „Könnte doch immerhin sein, oder, Mister Carberry?“ Der Seewolf brachte sie durch eine Gebärde zum Schweigen, ehe sich ihre Gemüter zu sehr erhitzten. „Ob er nun eine schußbereite Waffe hat oder nicht, wir gehen kein Risiko ein“, raunte er. „Warten wir eine Weile ab, vielleicht fängt er an, seinen Genossen zu vermissen.“ Tatsächlich stand der Große wenige Augenblicke später auf und setzte sich in Richtung auf das Dickicht in Bewegung. „Satan von einem Bengalen“, sagte er ärgerlich. „Wo steckst du? He, was ist das für eine Art, seinen Posten zu verlassen und so lange wegzubleiben? Bei Shiva, ich pfeife auf dein elendes Regendach.“
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Eine Antwort erhielt er nicht. Verwundert trat er noch einen Schritt näher an das Gestrüpp heran. Der Regen flutete auf ihn nieder und troff an seiner Gestalt hinunter. „Bist du hier?“ fragte er dann noch einmal, diesmal lauter, um sich gegen das Rauschen des Wassers zu behaupten: „He, du Galgenstrick, bist du noch da?“ Ein lautes Rascheln ertönte plötzlich aus den Büschen. Der Pirat stieß einen Fluch aus. Er glaubte, seinen Begleiter entdeckt zu haben und hielt schon eine neue, noch üblere Verwünschung zu seiner Begrüßung bereit, aber da brach etwas ungestüm aus den Sträuchern hervor und flog auf ihn zu. Es war eine wuchtige, bullige menschliche Gestalt, die den Freibeuter mit ihrem Gewicht unter sich begrub, ehe er ihr ausweichen konnte. Beide Männer landeten im Schlamm. Carberry hielt die Arme des Inders mit seinen Knien fest, so daß dieser sie nicht mehr bewegen konnte. Er hieb nur einmal mit seiner Faust zu, und der Mann unter ihm erschlaffte und blieb mit geschlossenen Augen reglos liegen. Hasard, Shane und die anderen traten aus dem Gebüsch. Sie suchten die nähere Umgebung nach weiteren Wachtposten ab, konnten aber niemanden entdecken. „Zwei Wächter an der Bucht, hat Yasin gesagt“, brummte Big Old Shane. „Und zwei waren es auch nur. Der Bursche scheint also wirklich die Wahrheit zu sprechen.“ Hasard sagte: „Es hat den Anschein. Aber ich bin immer noch nicht ganz davon überzeugt, daß er aufrichtig ist.“ „Warum haben wir ihn dann nicht bei uns behalten?“ fragte der graubärtige Riese. Hasard blickte ihn an. „Weil es mir lieber ist, wenn er Bens Gruppe zum Lager hinaufführt. Der Pfad von der Flußmündung bis zum Versteck ist schwerer zu verfolgen als der, der von hier aus zur Lichtung verläuft. Jedenfalls behauptet Yasin das. Ich habe Ben aber eingeschärft, er soll ihn im Auge behalten.“
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Matt Davies hatte sich über den bewußtlosen Piraten gebeugt. Carberry richtete sich soeben wieder auf und sagte unfreundlich: „Sieh ihn dir ruhig ganz genau an. Er trägt eine Pistole, aber sie ist klatschnaß. So schlau, die Waffe in einen ölgetränkten Lappen zu wickeln, wie wir es getan haben, war er nicht. Meiner Meinung nach ist er ein Idiot.“ „Mister Carberry, Sir“, sagte Matt in gespielter Ehrfurcht „Ich bewundere deinen Scharfsinn." Hasard näherte sich ihnen, deshalb verkniff sich der Profos eine geharnischte Antwort. „Smoky und Matt“, sagte der Seewolf. „Ihr fesselt auch diesen Kerl, und dann bleibt ihr als Wachtposten hier am Strand zurück. Versucht, jeden zurückzuhalten, der sich möglicherweise den Booten nähert. Wir sechs anderen versuchen jetzt, so schnell wie möglich das Hüttenlager zu erreichen.“ Kurze Zeit später hatte er mit dem Profos, Shane, Blacky. Batuti und Dan den Pfad entdeckt, der sich durch den Busch zum Hügel hinaufwand. Yasin, der früher bei den Spaniern in Madras als Lakai gedient hatte und die spanische Sprache ziemlich gut beherrschte, hatte eine ausgezeichnete Beschreibung von den Ortsverhältnissen gegeben. Hasard und sein Trupp mußten also von Südwesten her auf das Lager stoßen. Ben und seine Gruppe hatten es inzwischen zweifellos vor sich, ihr Weg traf von Westen her auf die Lichtung. Gemeinsam wollten sie in das Lager eindringen und versuchen, die Mädchen zu befreien. Außer Yasin befanden sich bei Ben Brighton Old O’Flynn, Luke Morgan, Bob Grey, Jeff Bowie, Stenmark und Sam Roskill. An Bord der „Isabella“ waren somit nur noch Ferris Tucker, der Kutscher, Pete Ballie, Gary Andrews, Al Conroy, Will Thorne, Bill und Philip junior und Hasard junior, die Söhne des Seewolfs - ein kleiner Haufe nur, aber immer noch stark genug, um im Bedarfsfall die Geschütze zu zünden, die unter den Regendächern aus Persenning gefechtsbereit standen.
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Narayan und Chakra hatten den Seewolf unbedingt begleiten wollen, doch er hatte ihre Unterstützung energisch abgelehnt. Chakra konnte sich gewiß nicht auf den Beinen halten, und auch Narayan war von Raghubir so schwer verwundet worden, daß er in einem neuen Kampf gegen die Piraten keine Hilfe, sondern eher eine Last dargestellt hätte. So harrten Narayan, Chakra und Kankar bangen Herzens in der Achterdeckskammer der „Isabella“ aus, in der der Seewolf sie untergebracht hatte. Sie flehten in ihren stummen Gebeten Brahma, Vishnu, Krishna, Shiva, Indra und die anderen Gottheiten der Hindus an, sie mögen den weißen Männern bei ihrem tollkühnen Unternehmen beistehen - damit Shandra, Ginesh und die anderen Mädchen von Kadiri nicht sterben mußten. * Ginesh hatte das Lager der Piraten verlassen und hastete auf dem Pfad zur Bucht hinunter. Ihr Herz schlug schnell und heftig, und die Angst vor etwaigen Verfolgern saß ihr wie eine Faust im Nacken. Immer wieder drehte sie sich um und blickte zurück in den grünen, dampfenden Wald. Aber niemand erschien hinter ihr, um sie festzuhalten und zurück zu den Hütten zu schleppen. Sie rutschte auf dem morastigen Untergrund aus und stieß sich beinah den Kopf an einem der mächtigen Baumstämme. Fast hätte sie aufgeschrien, aber sie konnte sich im letzten Augenblick noch beherrschen. Sie zwang sich zu eiserner Disziplin, rappelte sich wieder auf und lief weiter. „Du mußt stark sein und hart gegen dich selbst werden.“ Diese Worte hatte Shandra ihr mit auf den Weg gegeben. Jetzt, da sie ganz auf sich allein angewiesen war, wollte Ginesh um jeden Preis zeigen, daß sie nicht mehr das törichte Kind war, das bei jedem Anlaß zu weinen anfing. Shandra, ich will so wie du werden, dachte sie, und sie eilte weiter durch den Regen, der sie bis auf die Haut durchnäßte, aber
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auch den gröbsten Schmutz von ihrem dünnen Gewand wusch. Sie glaubte, das Herz würde ihr stehenbleiben, als sie mit einemmal eine dicke Schlange gewahrte, die keine fünf Schritte vor ihr behäbig von links nach rechts über den Pfad wechselte. Sie fürchtete sich davor, durch einen Sprung über das Reptil hinwegzusetzen, deswegen drückte sie sich nach links ins Dickicht und wartete ab, bis es verschwunden war. Riesenschlangen wie diese bissen ihre Opfer nicht tot, sie fingen sie mit ihren Leibeswindungen ein und erwürgten sie. Ginesh hatte schon von Männern vernommen, die über eine Python gestolpert, gestürzt und dann von ihr gepackt worden waren, ehe sie wieder hatten aufspringen können. Wie wahr solche Geschichten, die in den Fischerdörfern erzählt wurden, tatsächlich waren, vermochte sie nicht abzuschätzen. Sie konnte aber nicht Herr über ihre Angst werden und versteckte sich zitternd im Gestrüpp. Plötzlich drangen Stimmen an ihr Ohr. Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Täuschte sie sich — oder näherte sich da jemand? Ihre Knie begannen immer heftiger zu beben, so stark, daß sie nachzugeben drohten. Nur mühsam hielt Ginesh sich aufrecht und spähte im prasselnden Regen nach den Männern, die jetzt ganz dicht vor ihr waren und sich offenbar in einer fremden Sprache unterhielten. Es waren sechs Männer. Sie schritten an ihr vorbei, ohne sie zu entdecken. Soweit das Mädchen erkennen konnte, handelte es sich um einen großen Schwarzhaarigen, einen bulligen Mann mit Narben im Gesicht, einen Bärtigen, einen schlanken Dunkelhaarigen und einen noch etwas schmaleren, jungen Mann mit hellblondem Haar. Diese fünf waren Weiße, aber der sechste, ein wahrer Herkules an Gestalt, war pechschwarz. Menschen solcher Hautfarbe hatte sie noch nie zuvor gesehen. Sie erschrak zutiefst. Wer waren sie?
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Wie gelähmt wartete sie ab, bis sie in Richtung auf das Piratenversteck verschwunden waren. Dann kehrte sie auf den Pfad zurück. Auch die Riesenschlange war fort. Der Weg war frei. Ginesh lief weiter, so schnell sie konnte. Immer wieder blickte sie über die Schulter zurück. Für sie gab es nur eine Erklärung für das unvermittelte Auftauchen der sechs Männer: Sie gehörten der Bande der Freibeuter an, hatten vorher unten an der Ankerbucht Wache gehalten und begaben sich jetzt ins Lager, um an der Feier teilzunehmen, die dort begonnen hatte. Warum sollte Raghubir keine Männer in seine Meute aufgenommen haben, die anderer Herkunft als er und die übrigen Kerle. waren? Möglich war alles, und die weißen Männer, von denen ihr Vater ihr manchmal erzählt hatte. waren dem Vernehmen nach auch nicht besser als die, die in Indien zu Hause waren. Sie hatten Madras besetzt und die Macht über die Stadt an sich gerissen; sie töteten, raubten und brandschatzten und wollten das ganze Land ihrem Einfluß unterwerfen. So jedenfalls stellten es die Pandas, die Schriftgelehrten, die Brahmanen und die Dorfältesten dar. Shandra hatte nicht bedacht, daß Raghubir bei den Schiffen und Booten Wachtposten zurückgelassen haben konnte. Ginesh dankte den Göttern dafür, daß sie den sechs Männern entgangen war. Vielleicht hat Brahma die Schlange geschickt, damit ich mich versteckte, dachte sie, wer weiß. Sie hoffte inständig, daß es jetzt keine Wächter mehr an der Ankerbucht gab und der Weg zu den Beibooten der Schiffe frei war. Auf nackten Fußsohlen lief sie durch den Regen. Sie fiel nicht mehr, begegnete weder Tieren noch Männern und erlebte auch sonst keinen Zwischenfall. Das Tor zur Freiheit schien jetzt endgültig offenzustehen. *
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Shandra hatte mit der Steinschloßpistole und der Muskete Raghubirs die Hütte verlassen und schlich zu der benachbarten Behausung hinüber. Sichernd blickte sie nach allen Seiten, konnte aber niemanden entdecken, der sie beobachtete und aufzuhalten trachtete. Und wenn sich jemand zeigt, dann schieße ich ihn nieder, dachte sie. Sie hatte es Raghubir und seinen Kerlen abgeschaut, wie man die seltsamen Feuerrohre bediente: Man spannte mit dem Daumen den oberen Hahn, bewegte mit dem Zeigefinger den anderen, gebogenen Hahn unter dem hölzernen Rahmen und schon spuckte das Rohr Feuer und Eisen und brachte den Tod. Shandra pirschte an der Wand der Hütte entlang, die dem Dschungel zugewandt War. An dieser Seite gab es keinen Einlaß. Die Tür war vorn und öffnete sich zu dem Platz hin, der sich als kleines Rondell zwischen den acht Gebäuden erstreckte. Sie hatte sich vorgenommen, erst ganz um die Hütte herumzugehen, bevor sie eindrang und auf die Piraten schoß. Wenn es im Freien niemanden gab, der ihren Plan vereitelte, gelang es ihr vielleicht, die Mädchen in dieser Hütte zu befreien und mit ihnen einen Vorstoß zu der nächsten Hütte hin zu unternehmen. Sie konnte den Piraten, die sie tötete, die Waffen abnehmen, und Shandra war sicher, daß ihre Stammesschwestern voll Haß gegen die übrige Bande kämpfen würden. Nichts konnte sie aufhalten. Lieber starben sie, als daß sie sich von diesen Teufeln noch einmal demütigen ließen. Geschrei und Gelächter drangen aus den Hütten, und zwischendurch war immer wieder das Klagen und Wimmern der Mädchen zu hören. Shandra hielt die Steinschloßpistole in ihrer rechten Hand. Ihre Miene war hart, ihre Lippen hatte sie zusammengepreßt, und sie wußte, daß sie sofort abdrücken würde, wenn ihr jemand den Weg verstellte. Wie sie im Urwald von Kadiri den gräßlichen Jammur, Koppals Kumpan, getötet hatte, als er über Ginesh hergefallen war, so würde sie auch jetzt wieder töten,
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um ihre Ehre zu verteidigen und die anderen Mädchen vor einem grausigen Schicksal zu bewahren. Im dichten Regen schob sie sich auf die Ecke der Hütte zu. Sie zuckte zusammen, als vor ihr eine Gestalt erschien - irgendwie hatte sie es erwartet. Es wäre schon fast ein Wunder gewesen, wenn sie den Eingang zur Hütte ohne jeglichen Aufenthalt erreicht hätte. Der Mann, der die Ecke umrundet hatte, war Koppal. Er blieb stehen, und seine Züge verzerrten sich zu einer Grimasse des Hasses und der Verschlagenheit. „Ich wollte nur einen Kontrollgang unternehmen“, sagte er so leise, daß sie es gerade noch verstehen konnte. „Nur eben um die Hütte herum und dann zu Raghubir hinüber, denn ich traute dem Braten nicht.“ Seine Hand senkte sich auf den Griff seines Säbels. „Wie recht ich gehabt habe.“ Sie richtete die Mündung der Pistole auf seine Brust. „Stirb“, sagte sie. „Stirb wie dein Führer. Tod euch allen, verflucht sei euer Teufelsnest.“ Sie drückte ab. Aber statt des erwarteten Schusses ertönte nur ein schwaches metallisches Klicken. Feuer und Rauch blieben aus, keine Wirkung zeigte sich. Verstört blickte Shandra den narbigen Mann an. Er grinste in diabolischer Freude. „Wußtest du das nicht? Bei Nässe zünden die Waffen nicht, sie sind unbrauchbar. Wie einfältig du doch bist.“ Seine Augen verengten sich, er packte den Säbel und zog ihn aus dem Gurt. „Was ist mit Raghubir geschehen? Was habt ihr mit ihm getan? Niemals hätte er euch laufen lassen, niemals.“ Sie ließ die Pistole fallen, packte die Muskete mit beiden Händen an ihrem Lauf und schwang sie durch die Luft. Koppal duckte sich und stieß einen Fluch aus. Er wollte einen heftigen Streich mit seinem Säbel führen und Shandras Beine treffen, doch der Kolben der Muskete strich nicht über seinen Rücken weg - wie er erwartet hatte -, sondern traf seinen Hinterkopf.
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Shandra hatte geistesgegenwärtig auf seine Bewegung reagiert und den Schlag tiefer geführt, als ursprünglich vorgesehen. Koppal gab einen eigentümlichen, spuckenden Laut von sich und strauchelte über die Klinge seines Säbels. Sein Kopf flog unter der Wucht des Hiebes ein Stück vor, sein Körper kippte auf die Hüttenwand zu. Er stieß mit der linken Schulter gegen die Wand, dann sank er daran zu Boden, lehnte sich auf die Seite und rührte sich nicht mehr. Shandra eilte weiter. Die Wand hatte sich ein wenig bewegt, und ihre groben Holzbohlen hatten ein schwaches Knacken verursacht, als Koppal dagegen geprallt war. Vielleicht hatten die Piraten im Inneren der Hütte den Laut nicht vernommen, weil das Rauschen des Regens es übertönte. Aber möglich war, daß sie das leichte Beben bemerkt hatten. Shandra lief um die Ecke herum und an der Seitenwand entlang nach vorn, um den Eingang zu erreichen. Sie bereute es, nicht den Säbel des Narbigen an sich gerissen zu haben, und sie sagte sich in diesem Moment auch, daß sie das ganze Unternehmen wohl doch falsch begonnen hatte. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie sah die Tür vor sich. Sie stand halb offen, und in dem dunklen Spalt war eine undeutliche Bewegung zu registrieren. Shandra preßte sich mit dem Rücken gegen die Außenwand und schob sich langsam nach rechts weiter. Sie hielt die Muskete jetzt wieder so in ihren Händen, als wolle sie damit schießen, aber sie ahnte natürlich, daß auch die Muskete nicht funktionierte, wenn schon die Pistole Raghubirs den Dienst versagt hatte. Die Gestalt eines großen. halbnackten Mannes trat halb aus der Tür hervor. Er spähte ins Freie und sagte: „Verdammt, was hatte- das Wackeln der Wand bloß zu bedeuten? Er hat einen Kontrollgang unternehmen wollen - hat er gesagt. Oder hat er sich den Hals schon so vollgetrunken, daß ihm schlecht geworden ist? He, Koppal!“
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Koppal antwortete nicht. Er konnte es nicht, denn er lag in tiefer Bewußtlosigkeit im Morast hinter der Hütte. Der Pirat rief den Namen des Narbigen noch einmal. dann drehte er sich zu den anderen hin um, die im Inneren der Hütte lärmten. „Was meint ihr, ob er wohl umgekippt ist und seinen Rausch auspennt?“ fragte er. „Das weiß der Henker!“ brüllte jemand zurück. „Laß den Bastard doch in Ruhe, und komm zu uns zurück!“ Der Pirat blickte noch einmal in den Regen - und da sah er Shandra, die ihn erreicht hatte und die Mündung der Muskete auf ihn richtete. „Du?“ sagte er entsetzt. „Bei Vishnu - töte mich nicht.“ Sie begriff, daß er - anders als Koppal davon überzeugt war, sie könne ihn mit der Waffe erschießen. Diese Chance nutzte sie sofort aus. „Geh langsam vor mir her zurück in die Hütte!“ zischte sie. Er wandte sich um, hob die Arme an und kehrte in die Hütte zurück, in deren Mitte nur noch die Glut eines Feuers glomm. Die Gestalten, die rund herum versammelt waren, blickten erstaunt auf, als sie bemerkten, daß er nicht mehr allein war. 3. „Achtung“, sagte Ben Brighton. „In Deckung, Männer. Da ist jemand.“ Er zog den Kopf ein und ging in Deckung. Hinter ihm duckten sich die Männer seiner Gruppe in die Büsche. Im prasselnden Regen hielten sie ihre Pistolen und Musketen bereit, deren Schlösser sie vorsorglich mit ölgetränkten Lappen umwickelt hatten. Rechter Hand von Ben, der dem Saum der Lichtung am nächsten hockte, war tatsächlich eine Bewegung im dichten Gestrüpp. Jemand schob sich auf den achtköpfigen Trupp zu, wer, ließ sich nicht einmal vermuten, denn die Blätter der Büsche hielten seine Gestalt verborgen. Ben sah dicht vor sich einen nassen Haarschopf hochtauchen. Er riß den öligen
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Lappen vom Schloß seiner Pistole und hob die Waffe an. Dann aber konnte er auch das Gesicht wahrnehmen, das zu dem Schopf gehörte, und er erkannte Dan O’Flynn. Aufatmend ließ er die Pistole wieder sinken. „Hölle und Teufel“, raunte er. „Dan, fast hätte ich wirklich auf dich abgedrückt.“ Dan grinste und kauerte sich neben ihn. „Mann, da habe ich ja noch mal Schwein gehabt, Mister Brighton. Hasard hat mich vorgeschickt. Ich sollte euch suchen und Bescheid geben, daß wir eingetroffen sind. Matt und Smoky sind unten am Strand der Bucht zurückgeblieben, um auf die beiden. überwältigten Wachtposten aufzupassen.“ „Gut. Und wie soll jetzt unsere Taktik sein?“ Dan grinste immer noch. „Langsames Vorrücken ins Lager der Raghubir-Bande. Je zwei Mann nehmen sich eine Hütte vor. Mit der Überrumpelung muß es klappen, bevor die Piraten eine Gelegenheit finden, sich zu fassen und nach den Waffen zu greifen.“ „Das hört sich einfach an“, zischte sein Vater hinter Bens Rücken. „Aber so mir nichts, dir nichts lassen die Hunde sich nicht überwältigen. Sie haben bestimmt Posten aufgestellt.“ Dan schüttelte den Kopf. „Ich habe keine gesehen.“ Durch das Rauschen des Niederschlages hindurch waren das Grölen von Männerstimmen und hin und wieder ein schriller Laut zu vernehmen, der nur von den gefangenen Mädchen herrühren konnte. Luke Morgan hatte sich neben Ben und die beiden O’Flynns geschlichen und flüsterte: „Die verdammten Hurensöhne haben gut zu tun, wie mir scheint. Es ist der beste Augenblick, um ihnen auf den Leib zu rücken. Auf was warten wir?“ „Auf deine dämlichen Bemerkungen“, gab der alte O’Flynn in seiner gewohnt freundlichen Art zurück. Ben wandte sich an Dan. „Sag Hasard, daß wir jetzt ausschwärmen und in das Lager eindringen. Irgendwo auf der Mitte der
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Lichtung werden wir uns dann ja wohl treffen.“ „Aye, aye“, sagte Dan O’Flynn, drehte sich um und verschwand im nassen Unterholz. Er bahnte sich mit seinen Händen einen Weg und bemühte sich darum, so wenige Geräusche wie möglich zu verursachen. Keine fünf Yards vom Rand der Lichtung entfernt arbeitete er sich voran, kroch manchmal auf allen vieren dahin und beschmutzte sich seine vom Regen völlig durchweichte Kleidung von oben bis unten. Unbehelligt gelangte er zu Hasard, Carberry, Shane, Blacky und Batuti, die unweit des Pfades im Dickicht auf ihn warteten. Er erstattete dem Seewolf seine Meldung. Hasard gab den anderen daraufhin ein Handzeichen, und sie erhoben sich, traten auf den Pfad und legten die letzten zehn, zwanzig Schritte zum Unterschlupf der Piraten zurück. Sie sicherten nach allen Seiten, aber nach wie vor ließ sich keiner der Gegner blicken. „Beim Donner“, raunte Blacky Old Shane zu und wischte sich eine nasse Haarsträhne aus der Stirn. „Das ist das feuchteste Landunternehmen, an dem ich je teilgenommen habe. Weißt du was? Ich kann’s kaum erwarten, daß alles vor bei ist und wir uns in den Hütten ein wenig trocknen und ausruhen können.“ Sie blickten nach vorn zu den acht recht solide wirkenden Hütten aus Holzbohlen, deren Dächer mit dicken Reisigmatten gedeckt waren. Aus schmalen Abzugslöchern kräuselte sich Rauch, und durch die geöffnete Tür der einen Behausung war zuckender Feuerschein zu erkennen. So gesehen, vermittelten die Hütten fast ein Gefühl der Geborgenheit und Behaglichkeit. * Shandra verschaffte sich mit einem raschen Blick ein Bild von der Situation. Fünf Mädchen und fünf Männer befanden sich in dieser Hütte — mit dem Piraten, der mit erhobenen Händen vor der Mündung der
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Muskete stand. Im schwachen Licht, das teils von außen hereindrang und teils von den glimmenden Holzkohleresten ausging, vermochte sie unter den Mädchen vier ihrer Stammesschwestern aus Kadiri zu erkennen. Die fünfte hatte sie nie zuvor gesehen. Der säuerliche Geruch von Wein schwebte in der Luft, und aus dem Zustand der Mädchen schloß Shandra, daß aus dem Umtrunk, der keine eigentliche Siegesfeier war, ein intimes, ausschweifendes Fest hatte werden sollen. In der vergangenen Nacht hatten sich die Piraten nicht mit Ruhm bekleckert, doch den Spaß mit den entführten Mädchen wollten sie sich nicht nehmen lassen. Die Mädchen waren bereits halb entblößt, die Rundungen ihrer Brüste schimmerten bronzen im dämmrigen Licht. Verstört hatten sie sich aufgerichtet, entgeistert blickten sie auf Shandra, die das Unglaubliche, Ungeheuerliche gewagt hatte. „Werft eure Waffen weg“, sagte Shandra zu den Piraten. „Dorthin, auf den Boden in der Mitte des Raumes. Ich töte diesen Mann, wenn ihr nicht sofort gehorcht.“ Raghubirs Männer erhoben sich langsam. Shandra nahm die Muskete etwas .höher und drückte die Mündung gegen den Nacken ihres Gefangenen. „Vorsicht!” rief sie. „Vielleicht glaubt ihr, daß ich es nicht tue. Muß ich es euch erst beweisen, damit ihr seht, wie ...“ „Schluß!“ schnitt der größte von ihnen ihr das Wort ab. Es war Baudh, der Bengale. Mit abgespreizten Beinen stand er neben der Feuerglut und wies auf Shandra. „Ihr Narren!“ schrie er. „Merkt ihr denn nicht, daß sie uns nur täuschen will? Die Muskete ist naß, ihr Kraut zündet nicht, aber selbst wenn der Schuß losgehen würde, würde nur einer von uns ins Gras beißen - die anderen würden sie packen und ihr den Hals umdrehen!“ „Er lügt!“ rief Shandra. „Das Feuerrohr ist trocken, knochentrocken!“ „Das Feuerrohr“, ahmte Baudh sie höhnisch nach. „Sie weiß noch nicht einmal, daß es eine Muskete ist. Was
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versteht sie denn schon von Feuerwaffen? Das Drecknest, in dem sie aufgewachsen ist, hat ja nie Berührung mit den Europäern gehabt, wie sollte sie da auch nur wissen, was Pulver ist? Sie kann mit der Muskete nicht umgehen, ich schwöre es euch.“ Er streckte die Hand aus. „Gib das Ding her. Mach keine Dummheiten, und erzähle uns, was mit Koppal geschehen ist. Hast du ihn wieder überlistet, wie im Dschungel hinter deinem Dorf?“ Er wollte einen Schritt vortreten, aber der Pirat, der sich in Shandras Gewalt befand, rief: „Nicht, Baudh! Bleib stehen! Du unterschätzt sie! Ich will nicht sterben!“ „Was bist du doch für ein erbärmlicher Hasenfuß“, sagte Baudh voll Verachtung. „Ich habe es immer gewußt: Es gibt tapfere Kerle in unserem Haufen, die den Tod nicht scheuen, aber wir haben auch Feiglinge dabei, die sich hinter dem Mut der anderen verstecken. Schieß ihn nieder, du kleine Hure, es ist nicht schade um ihn.“ Er traf wirklich Anstalten, zu Shandra zu gehen, aber plötzlich geschah etwas, womit niemand gerechnet hatte. Das Mädchen, das Shandra fremd war, war mit einem Satz hinter Baudh und riß ihm mit großem Geschick das Messer aus dem Gurt, ehe er sie daran hindern konnte. Sie schlang ihm einen Arm um den Hals, klammerte sich an ihm fest, hielt ihm die scharfe Spitze des Messers gegen die Kehle und sagte: „Auf diesen Augenblick habe ich gewartet, Baudh. Mich kannst du nicht einschüchtern. Ich bringe dich um, und wenn ich selbst sterben muß.“ „Jenida, du giftige Schlange“, zischte er. „Laß mich sofort los, oder es gibt ein großes Unglück.“ „Nein! Ich bin lange genug deine Sklavin gewesen. Deine Leibeigene, die du treten, schlagen und gebrauchen konntest, wie es dir gerade paßte.“ „Packt sie! Tötet sie!“ schrie er außer sich vor Wut. „Raghubir wird euch alle aufhängen, wenn ihr nicht augenblicklich gehorcht!“ „Raghubir!“ rief Shandra, und in ihrer Stimme lag plötzlich aller Triumph, den sie
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schon verspürt halte, als der Anführer der Bande zu ihren Füßen gelegen hatte. „Raghubir ist tot und wird nie wieder auch nur einem einzigen Menschen ein Leid zufügen!“ „Tot?“ fragte Jenida. „Ist das wahr?“ „Wie hast du das fertiggebracht?“ flüsterte eins der Mädchen aus Kadiri. Sie kannte Shandras außergewöhnlichen Mut und ahnte in diesem Moment, daß nur sie die Vollstreckerin gewesen sein konnte. „Gift“, sagte Shandra. „Die Blätter des Tanjoghe-Strauches. Brahma, der Allmächtige, hat sie mir in die Hand gespielt, und ich habe in seinem Auftrag gehandelt.“ „Lüge!“ brüllte Baudh. „Betrug! Hört nicht auf sie! Wehrt euch, schlagt sie nieder!“ Er versuchte, das Mädchen Jenida durch einen heftigen Ruck seines Körpers abzuschütteln, aber sie blieb wie eine Klette an ihm hängen. In die Gestalten der drei anderen Piraten geriet jetzt auch Bewegung. Durch Baudhs Beispiel angespornt, griffen sie fluchend zu den Waffen. Shandra hob die Muskete und schlug mit dem Eisenlauf zu. Der Pirat, der auf ihren Trick hereingefallen war, riß noch die Hände hoch, um seinen Hinterkopf zu schützen, aber seine Reaktion erfolgte zu spät. Der Lauf traf ihn, und er brach in den Knien ein. Stöhnend kniete er auf dem Boden der Hütte. Jenida schrie gellend auf und stach mit dem erbeuteten Messer zu. Baudh fiel vornüber und gab etwas Unverständliches von sich. Seine Miene war ungläubig und entsetzt zugleich. Je zwei Mädchen stürzten sich auf einen Penaten und zerrten ihn zu Boden. Der fünfte, der noch frei vor der hinteren Wand des Raumes stand, zog die Pistole aus dem Hosenbund und legte damit auf Shandra an. Jenida hatte das Messer jedoch wieder an sich genommen und schleuderte es über die verglimmenden Reste des Feuers weg. Die Klinge traf den Mann, bevor er den Abzug der Pistole drücken konnte. Mit einem erstickten Laut streckte er sich auf
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dem Boden aus, und die Pistole entglitt seinen erschlaffenden Fingern. Shandra schlug noch einmal kräftig mit dem Musketenlauf zu, dann hastete sie an ihrem ohnmächtig zusammenbrechenden Gefangenen vorbei auf die Pistole zu. Ein anderer Pirat hatte die beiden Mädchen fortgestoßen. die ihn überwältigen wollten, und sprang auf Jenida zu. Er wollte seinen Säbel zücken, aber sie hatte sich inzwischen über Baudhs reglose Gestalt gebeugt und dessen Pistole an sich gebracht. Auch diese Pistole war trocken und somit gebrauchsfähig. Katzengewandt rollte sich Jenida auf dem Untergrund ab, schnellte wieder hoch und spannte den Hahn der Waffe. Sie drückte ab. als der Gegner nur noch zwei Schritte von ihr entfernt war und den Säbel schon zum Angriff bereit in der Hand hielt. Donnernd entlud sich der Schuß. Die Mädchen schrien unwillkürlich auf. Ein kurzer Feuerstoß stach wie ein Schlitz in das Halbdunkel, eine Wolke Pulverqualm stob hoch, und der Pirat fiel mit einem letzten Fluch und einem verzweifelten Röcheln vor Jenida hin. Shandra hatte sich nach der Pistole gebückt, die der Hand des anderen Kerls entfallen war. Sie nahm sie auf, zog den Hahn mit dem Daumen zurück, hielt die Waffe dann mit beiden Händen fest und zielte auf den fünften Freibeuter, der immer noch mit den Mädchen von Kadiri rang. Sie wagte aber nicht abzudrücken, denn sie riskierte, eine ihrer Stammesschwestern zu verletzen oder gar zu töten. Jenida nahm dem Kerl, den sie durch den Schuß gefällt hatte, rasch den Säbel ab, glitt dann mit geradezu unheimlich anmutender Schnelligkeit hinter den Rücken des fünften Kerls und stach zu, als er ihr in einem günstigen Augenblick die Nackenpartie ungeschützt darbot. Er sank zu Boden, ohne auch nur einen Laut von sich zu geben. Shandra ging zu Jenida. Sie war von Freude und Grauen zugleich erfüllt, beide
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Gefühle lagen in ihrem Inneren in einem heftigen Widerstreit. Jenida umarmte die Kampfgefährtin, die sie gefunden hatte, mit einem erleichterten Lachen. „Dies ist unsere Stunde“, sagte sie. „Die Götter haben uns die Erlösung gesandt, wir sind frei.“ Shandra lauschte dem fragenden Rufen und dem wütenden Gebrüll, das jetzt, nachdem der Schuß gefallen war, aus den Nachbarhütten herüberdrang. „Aber der Kampf geht weiter“, sagte sie. „Und wir wissen noch nicht, wie er endet.“ * Hasard und seine Männer hatten den Pistolenschuß auch vernommen, aber sie wußten nicht, Wie sie ihn werten sollten. In ihrer Sorge um die Mädchen mußten sie das Schlimmste befürchten—daß nämlich die Piraten eine ihrer Gefangenen bei einem Fluchtversuch erschossen hatten. Der Seewolf begann zu laufen und stürmte als erster auf den runden Platz zwischen den Hütten. Er sah links von sich ein paar Gestalten aus dem Regen auftauchen und nahm eine geduckte, abwehrende Haltung ein. Im nächsten Moment jedoch stellte er fest, daß es sich um Ben, Old Donegal Daniel O’Flynn, Yasin und die anderen Männer der zweiten Gruppe handelte. Er gab ihnen ein Zeichen, wandte sich nach rechts und lief auf die Hütte zu, in der seiner Meinung nach der Schuß gefallen war. Die hastigen Bewegungen, die mit einemmal vor den beiden rechten Nachbarhütten dieses Gebäudes waren, entgingen ihm nicht. Er fuhr halb herum, gewahrte vier oder fünf halbnackte braunhäutige Gestalten und riß sofort den ölgetränkten Stoffstreifen vom Schloß seines Radschloß-Drehlings. Er hatte den Sechsschüsser aus dem Waffenschrank in der Kapitänskammer geholt, bevor er sich von Bord der „Isabella“ an Land begeben hatte, und Ben Brighton hatte er für diesen Einsatz den Schnapphahn-Revolverstutzen
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ausgehändigt, der einen etwas längeren Lauf hatte und sogar über eine Trommel mit acht Kammern verfügte. Hasard schickte einen Warnschuß über die Köpfe der Piraten hinweg. Sie stießen Worte in ihrer Sprache aus, die er nicht verstand, rissen ebenfalls ihre Waffen hoch und erwiderten das Feuer, bevor der Regen sie unbrauchbar machte. Carberry, Big Old Shane, Blacky, Ben, die beiden O’Flynns und die anderen Männer der „Isabella“ begannen jetzt gleichfalls zu schießen. Die Schüsse knallten in kurzen Abständen, und im Nu war im Lager von Raghubirs Bande der Teufel los: Mit zwei Sätzen entfernte sich der Seewolf aus der Schußlinie der Gegner. Er war jetzt dem Eingang der Hütte nahe, in der die Pistole gekracht hatte. Wieder preßte er den Kolben des Drehlings gegen seine Schulter, zog durch, fing den Rückstoß der Waffe ab, bewegte die Trommel mit der Hand weiter und schoß noch einmal. Zwei Piraten brachen schreiend zusammen, aber dann war der Drehling nicht mehr zu gebrauchen, denn das Wasser hatte das Zündkraut der restlichen drei geladenen Kammern zu sehr genäßt. Er ließ die Waffe in den Schlamm fallen, zog den Degen und wartete kampfbereit auf die anrückenden Piraten. Shandra und Jenida standen in der offenen Tür der Hütte, hinter ihnen drängten sich die vier anderen Mädchen. Shandra begriff in diesem Augenblick nicht, was um sie herum geschah. Im Aufwallen eines panischen Gefühls wollte sie auf Hasard abdrücken, auf den Mann, der ihnen am nächsten stand. Jenida legte ihr jedoch die Hand auf die Pistole und drückte die Waffe sanft nach unten. „Nicht schießen“, sagte sie. „Siehst du denn nicht, daß diese weißen Männer gekommen sind, um gegen Raghubirs Kerle zu kämpfen? Dies sind unsere Freunde — unsere Retter in der Not.“ Shandra stammelte: „Dann — dann können sie nur Brahmas und Vishnus himmlische Sendboten sein. Ich —ich kann es nicht fassen, das ist zuviel für mich.“
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Sie spürte, wie ihr schwindlig wurde. 4. Koppal; der Narbige, wollte sich von dem schwarzen, morastigen Boden der Lichtung erheben, doch die Schmerzen in seinem Hinterkopf waren so heftig, daß er wieder hinsank und sich stöhnend hin und her wälzte. Er war zu sich gekommen, als ein Stakkato von Schüssen vor den Hütten gekracht hatte. Jetzt war nur noch das Gebrüll der Männer zu vernehmen, aber er glaubte auch das Klirren aneinanderprallender Klingen zu hören. Er erkannte die Stimmen seiner Kumpane, doch da waren auch noch andere Rufe, die in einer ihm fremden Sprache ausgestoßen wurden. Ein Überfall, dachte er erschrocken, und sofort unternahm er einen zweiten Versuch, aufzustehen. Es gelang ihm, sich aufzurappeln. Er stöhnte und hielt sich an der Hüttenwand fest. Die Schmerzen und die Übelkeit drohten ihn zu übermannen, doch sein Haß auf Shandra und der unbändige Zorn über das, was geschah, gewannen schließlich die Oberhand. Wer waren die Angreifer? Koppal ahnte, daß es dieselben Männer waren, die ihnen von Bord der großen Galeone aus schon vor Kadiri so arg zugesetzt hatten. Er bückte sich, drohte zu stürzen; hielt aber doch das Gleichgewicht und hob mit einer lästerlichen Verwünschung seinen Säbel auf. Er torkelte bis zur Ecke der Hütte, blieb stehen und hielt vorsichtig Ausschau. Auf dem Platz zwischen den Hütten tobte der Kampf, doch von ihm schien kein Mensch Notiz zu nehmen. Langsam bewegte er sich weiter, um die Ecke herum und dann an der seitlichen Wand der Hütte entlang nach vorn, dorthin, wo die Feinde sein mußten. Er langte an der nächsten Ecke an, riskierte einen Blick und sah den großen, breitschultrigen Mann mit den schwarzen Haaren, der mit seinem Degen gegen zwei Piraten focht.
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Koppal hielt den Atem an. Du elender, räudiger Hund, dachte er, dich schlage ich als ersten tot, und dann sind die anderen an der Reihe. Ich bringe so viele wie möglich um, und wenn ich dabei selbst die Reise ins Jenseits antrete. Er löste sich von der Wand der Hütte und pirschte sich an den fremden Eindringling heran. Philip Hasard Killigrew hielt ihm den Rücken zugewandt und bemerkte ihn nicht, weil er genug damit zu tun hatte, sich die beiden wütend schreienden indischen Piraten vom Leibe zu halten, die mit Schiffshauern auf ihn eindrangen. * Ben Brighton hatte nur zwei Schüsse aus dem Schnapphahn-Revolverstutzen abgeben können, dann war die Waffe unbrauchbar geworden. Er hatte sie rasch weggeworfen und seinen Cutlass gezückt, mit dem er sich jetzt gegen die aus den Hütten hervorstürmenden Piraten zur Wehr setzte. Auch Luke Morgan, Old O’Flynn, Bob Grey, Jeff Bowie, Stenmark und Sam Roskill hatten ihre Blankwaffen gezückt und wandten sich damit den wilden Kerlen zu, die, durch die Schüsse alarmiert, nun alle auf das Rondell stürmten. Der Profos, Shane, Blacky, Batuti und Dan .waren bei Hasard und schwangen ihre Degen und Säbel. Der schwarze Herkules aus Gambia setzte das Entermesser, das er von der „Isabella“ mitgebracht hatte, aber nur für kurze Zeit ein, dann vertauschte er es mit dem Morgenstern, seiner altvertrauten Waffe, die er hervorragend zu führen wußte. Die Seewölfe schlugen sich mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, aber sie hatten doch keinen leichten Stand, denn die Piraten befanden sich immer noch in der Überzahl. Nach Hasards Schätzungen waren es fast drei Dutzend Männer. Da in der einen Hütte unversehens der Pistolenschuß gefallen war, war Hasards Überraschungsaktion nur halb gelungen, und jetzt galt es, den knappen Vorteil, den
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sie der Bande gegenüber hatten, um jeden Preis zu behaupten. Das wilde Handgemenge verlangte ihnen also ihre volle Konzentration und ihren ganzen Einsatz ab — und so war es kein Wunder, daß in diesen Augenblicken keiner mehr auf Yasin achtete. Ben hatte bislang ein waches Auge auf den Piraten gehabt, denn der Seewolf hatte ihm ja eingeschärft, den Inder nicht unbeobachtet zu lassen. Jetzt aber stand Yasin etwas im Hintergrund, und seine Gestalt wurde im Regen und Dunst zu einem verschwommenen, undeutlichen Etwas. Stenmark und Bob Grey schützten ihn mit ihren Schiffshauern. Sie waren etwa zehn Schritte von ihm entfernt und droschen kräftig auf die Gegner ein, so daß diese nicht bis zu Yasin vorstoßen, ihn als Verräter entlarven und niederstechen konnten. Yasin war unbewaffnet und somit völlig wehrlos. Vorsichtig bewegte er sich jetzt über den Platz und näherte sich Raghubirs Hütte. Raghubir — wo steckte er? Yasin hatte die große Gestalt des Anführers nirgendwo erkennen können, so sehr er auch Ausschau gehalten hatte. Was hatte das zu bedeuten? Etwa, daß Raghubir hei dem Nachtgefecht vor Kadiri den Tod gefunden hatte? Yasin konnte es nicht glauben. Bis zuletzt meinte er, die Stimme des Bandenoberhauptes vernommen zu haben, auch dann noch, als Saidu und er schon längst im Wasser der Bucht gelandet und von den Seewölfen aufgefischt worden waren. Nein, dachte er, die Dinge liegen anders, irgendetwas stimmt hier nicht. Er betrat Raghubirs Hütte, ohne daß ihn jemand daran hinderte. Unheilverkündend mutete die Stille an, die im Raum lag. Mißtrauisch blickte Yasin sich um, aber er entdeckte die Gestalt am Boden erst, als seine Augen sich etwas an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Das Feuer in der Mitte des Raumes war ganz heruntergebrannt, nur die glimmenden Holzkohlenreste verbreiteten
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noch einen rötlichen Schimmer. Yasin tat noch zwei Schritte, dann beugte er sich mit gerunzelter Stirn und zusammengezogenen Augenbrauen über den reglosen Mann. Draußen erklang der Todesschrei eines Mannes. An der Art, wie er diesen Laut ausstieß, erkannte Yasin, daß es sich um einen seiner ehemaligen Kumpane handeln mußte. Wütendes Gebrüll ertönte im Rauschen und Plätschern des Regens, die Klingen der Degen, Säbel und Entermesser klirrten weiterhin gegeneinander. Yasin musterte Raghubirs verzerrtes, starres Gesicht mit einem Ausdruck von Verblüffung und Ratlosigkeit. Er nannte zweimal den Namen des großen, schwarzhaarigen Mannes, dann lauschte er an seiner Brust und stieß in plötzlicher Erkenntnis einen leisen Pfiff aus. Er richtete sich wieder halb auf, untersuchte Raghubir und fahndete nach der tödlichen Wunde, vermochte aber nichts zu entdecken, das darauf schließen ließ, wie der Mann gestorben war. Wenig später richtete sich Yasins Aufmerksamkeit auf den Kessel, der über dem erloschenen Feuer hing. Er ging hin und schnupperte nachdenklich über dessen Öffnung. Ein Geruch von lauwarmem Wein stieg ihm in die Nase, aber ihm entging auch nicht die herbe Beimischung, die darin enthalten war. „Gift“, sagte er. „So muß es gewesen sein. Jene, die ihm schon lange ans Leder wollten, haben nach dem Verlust unseres dritten Schiffes und der peinlichen Niederlage vor Kadiri beschlossen, ihn ein für allemal zu beseitigen. Das heißt, die Bande braucht jetzt einen neuen Anführer.“ Er lachte leise und begann, den Raum nach Waffen abzusuchen. Auf diese Gelegenheit hatte er schon lange gewartet, und er wußte genau, was er zu tun hatte. Was er dem Seewolf an Bord der „Isabella“ erzählt hatte, stimmte: Er, Yasin, hatte Raghubir verlassen wollen, um einer Auseinandersetzung mit ihm zu entgehen, die früher oder später unabwendbar gewesen wäre.
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Denn Yasin hatte gegen Raghubir intrigiert und versucht, eine Meuterei gegen ihn zu beginnen. Yasin hatte die Macht an sich reißen wollen, doch Raghubir schien von dem Komplott, das im Begriff war, sich gegen ihn zu bilden, etwas geahnt zu haben. Deswegen hatte sich Yasin in der letzten Zeit zurückgehalten - in der Hoffnung, Raghubirs Vertrauen in ihn würde wieder steigen. . Das war jedoch nicht der Fall gewesen. Yasin fand einen Säbel und ein langes, scharfes Messer, nahm die Waffen an sich und grinste. Er kehrte zu Raghubirs Leiche zurück, holte mit dem rechten Fuß aus und gab ihr einen Tritt in die Seite. Raghubir rollte auf den Rücken, aber seine Arme fielen nicht schlaff zu den Seiten weg. Er hielt sie seltsam verkrümmt über der Brust, die Hände schienen nach etwas Imaginärem greifen zu wollen. „Du verdienst kein Grab, Bastard“, sagte Yasin verächtlich zu dem Toten. „Wenn der Regen vorbei ist, werden die Geier und die Raubkatzen, die Schlangen und die Würmer kommen und dich vertilgen. Dann wird die Bande längst woanders sein und ein neues Versteck einrichten —unter meinem Kommando.“ Er verließ die Hütte und schritt über den Platz zu Hasard, dessen Gestalt sich deutlich aus der dichten Masse der Leiber hervorhob. Töte den Kapitän der weißen Hunde, Yasin, rief es in Yasins Geist, wenn er fällt, ist es mit dem großen Mut der anderen vorbei. Sie werden sich zurückziehen, und die Bande wird dich im Triumphzug durch das Lager tragen. Seine rechte Hand schloß sich fest um den Griff des Säbels. Niemand achtete auf ihn, niemand hielt ihn auf, als er hinter den Seewolf trat. * Ben hatte eine Wunde am linken Oberarm, das Blut lief über seinen Ellenbogen, vermischte sich mit dem Regen und tropfte zu Boden. Aber es sah schlimmer aus, als
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es in Wirklichkeit war. Das Entermesser seines Gegners hatte ihn nur leicht gestreift, weil er gedankenschnell dem auf seine Schulter gezielten Hieb ausgewichen war, und so war er noch einmal glimpflich davongekommen. Jetzt entdeckte Ben in der Deckung des Kerls, der mit haßerfüllter Grimasse auf ihn eindrang, eine Lücke und nutzte sie sofort aus. Er nahm die Spitze seines Cutlasses nach vorn, stach mit aller Kraft zu und verfolgte, wie der Pirat zurücktaumelte, das Entermesser fallen ließ und mit einem würgenden Laut in den Morast sank. Für eine Weile hatte Ben Luft. Er blickte nach links, um zu sehen, wie es Hasard und dessen Gruppe erging — und plötzlich glaubte er, seinen Augen nicht zu trauen. Gleich zwei Kerle schlichen geduckt auf den Seewolf zu — und er bemerkte es nicht, weil der Kampf gegen zwei Piraten ihm zuviel abverlangte. Bens Entsetzen steigerte sich, als er feststellte, daß einer der Kerle Yasin war. Yasin, dem Hasard beinah sein Vertrauen geschenkt hätte, Yasin, der Geläuterte und Bekehrte, der treuherzig versichert hatte, er würde dem Piratentum abschwören und ein besseres Leben beginnen! Du verdammte Kanaille, dachte Ben erzürnt, als Yasin den Säbel gegen Hasard hob. „Hasard!“ schrie Ben. „Aufpassen! Hinter dir!“ Der Seewolf reagierte sofort. Er trieb seine beiden Gegner mit einem blitzschnell von links nach rechts geführten Degenstreich ein Stück zurück, fuhr dann herum und griff Yasin an. Yasin hatte nicht damit gerechnet, daß man ihn jetzt, da er seinem Ziel so nahe war, noch aufhalten würde. Er war erschrocken und irritiert. Hasards Degen tanzte vor seinen Augen, die Spitze war seinem Gesicht bedrohlich nah. Yasin wich nach rechts aus, ohne den Säbel in mörderischem Hieb auf den Hals des Seewolfs niedersausen zu lassen. Yasin stolperte, keuchte und fluchte, fing sich wieder, drehte sich halb um und sah Ben
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Brighton, der wutentbrannt auf ihn losrückte. Hasard mußte sich wieder seinen beiden anderen Gegnern zuwenden und hatte genug damit zu tun, sie an einem raschen Ausfall zu hindern. So entging ihm, daß da immer noch Koppal, der Narbige, war, der sich von der Ecke der Hütte Baudhs her mit dem Gebaren des grimmigen Rächers näherte. Koppal war erstaunt, Yasin hier im Lager .zu sehen, er hatte ihn für tot gehalten, da ja das dritte Schiff im Golf von Kadiri explodiert war. Aber er dachte nicht weiter darüber nach. Für ihn zählte jetzt nur noch das eine, nämlich, dem Schwarzhaarigen mit den blauen Augen den tödlichen Streich zu verpassen. Plötzlich aber ertönte hinter ihm eine helle Stimme. „Koppal!“ Er wirbelte herum und sah Shandra neben Jenida unter dem Türpfosten von Baudhs Hütte stehen. Shandra, die bisher fassungslos das Geschehen auf dem Rondell verfolgt hatte, hatte beim unerwarteten Anblick des Narbigen den Kopf verloren. Sie erinnerte sich wieder an die Szene im Dickicht hinter ihrem Dorf, sie dachte an all das, was der Mann ihr und ihrer Schwester angedroht hatte, und sie stieß noch einmal haßerfüllt seinen Namen aus: „Koppal!“ Er wollte losstürmen und sie mit seinem Säbel töten, doch Shandra schob Jenidas Hand vom Lauf der erbeuteten Pistole, nahm jetzt sehr schnell die Waffe hoch, deren Hahn nach wie vor gespannt war und betätigte den Abzug. Krachend löste sich der Schuß. Es war, als wäre Koppal gegen ein unsichtbares Hindernis gerannt. Er blieb abrupt stehen, ließ den Säbel fallen, riß die Arme hoch, als wolle er die Barriere erklimmen, die ihm den Weg zu Shandra versperrte, und sank dann in sich zusammen. „Auf was warten wir?“ sagte Jenida. „Greifen auch wir in den Kampf ein.“ Die Mädchen hinter ihrem Rücken drängten sich nach vorn, aus der Hütte
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heraus auf den Platz. Sie hatten die Säbel und die Messer, die sie den Piraten in Baudhs Hütte abgenommen hatten. Jenida stürmte voraus, und mit schrillen Rufen warf sich die kleine Gruppe den Piraten entgegen. Shandra ging zu Koppal und hob seinen Säbel vom nassen, durchweichten Boden auf. Sie lief damit zu dem großen, schwarzhaarigen Mann mit den eisblauen Augen. blieb dicht neben ihm stehen und war plötzlich seine Partnerin im erbitterten Kampf gegen die beiden Piraten, die sich zäh verteidigten. Yasin schlug sich unterdessen mit Ben Brighton. Er wollte diesen Mann, der sein Vorhaben im letzten Augenblick vereitelt hatte, töten, doch irgendwie schien er dessen kämpferische Fähigkeiten zu unterschätzen, denn trotz seines wütenden Bestrebens, ihm den Säbel in den Leib zu rammen, gelang ihm nicht der entscheidende Stoß. Ben Brighton war ein stämmiger Mann, der ein bißchen behäbig wirkte — und manchmal war er’s wohl auch —, aber wenn er in der Hitze des Gefechts so richtig in Fahrt geriet, war er zu ungeahnt flinken Attacken und gewandten Ausweichmanövern fähig. Er hielt Yasin eine Zeitlang hin und erschöpfte dessen Energien, dann nutzte er eine Schwäche des Gegners aus und holte ihm mit einem gewaltigen Hieb des Cutlasses den Säbel aus der Hand. Yasin schrie auf. Der Säbel entglitt wie von Geisterhand entführt seinen Fingern, flog ein Stück über die Lichtung und landete im Morast. Yasins Hand brannte wie Feuer. Er wollte das scharfe Messer zücken, aber die Finger versagten ihm momentan den Dienst. Aufschreiend wich er Ben aus, drehte sich auf dem schlüpfrigen Untergrund um und ergriff die Flucht. Er rannte zu einer der Hütten, in der seiner Überzeugung nach noch einige der entführten Mädchen sein mußten, und sofort hatte er einen neuen Plan gefaßt. Die Männer der „Isabella“ riskierten ihr Leben, um diese Mädchen zu befreien, es
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war für sie ein Gebot der Ehre und Ritterlichkeit, sie unversehrt zurück nach Kadiri zu bringen. Wenn es ihm gelang, nur zwei oder drei von ihnen in seine Gewalt zu kriegen, konnte er sie als Faustpfand gegen die Engländer benutzen. Niemals würde dieser Killigrew zulassen, daß er den Mädchen auch nur eine kleine Messerwunde beibrachte —und genau da war der schwache Punkt des Seewolfs. Yasin zog das lange Messer aus dem Hosenbund und steuerte geradewegs auf die Hütte zu, die er für sein Unternehmen ausgewählt hatte. Er glaubte, freie Bahn zu haben, da verstellte ihm plötzlich jemand den Weg. Es war der Alte, den Yasin an Bord der „Isabella“ kennengelernt hatte. Seines Namens konnte er sich nicht mehr entsinnen, er wußte nur, daß er lang und unaussprechlich war. Yasin meinte, mit diesem Mann, der verwittert wirkte, leicht gebeugt war, obendrein ein Holzbein hatte und mit einer Krücke zu gehen pflegte, leichtes Spiel zu haben. Er hob das Messer, duckte sich etwas und setzte zum Sprung an, um den Alten .mit sich umzureißen, in den Schlamm zu werfen und ihm das Messer zwischen die Rippen zu stoßen. Aber jetzt geschah etwas geradezu Unglaubliches. Die Krücke, an der der alte Mann bis hier herauf ins Versteck marschiert war, segelte durch die Luft und traf Yasins Kopf, ehe er durch einen Sprung zur Seite ausweichen konnte. Es dröhnte in Yasins Schädel. Er stöhnte auf und versuchte, seine Benommenheit und den stechenden Schmerz abzuschütteln, aber da war Old Donegal Daniel O’Flynn auch schon über ihm und verpaßte ihm einen Tritt mit seinem Holzbein, der es ebenfalls in sich hatte. Yasin krümmte sich vor Pein, aber dennoch versuchte er, mit dem Messer nach dem Leib Old O’Flynns zu hacken. Donegal, der sich zu Yasins Verwunderung auch ohne die Krücke hervorragend. zu bewegen wußte, stieß einen grimmigen Laut aus, riß die Pistole
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aus dem Gurt, die er vorher abgefeuert und dann weggesteckt hatte, und ließ den dicken Kolben mit geradezu verblüffender Schnelligkeit auf den Hinterkopf des Gegners niedersausen. Yasin glaubte, von einem Hammer getroffen worden zu sein. Sein Bewußtsein setzte aus, und für ihn versank alles in erlösender Finsternis. „Arwenack!“ rief Old O’Flynn. „Das war’s! Teufel, hat dieser Giftzwerg denn wirklich geglaubt, er könne mich aus dem Weg räumen?“ 5. Shandra hatte die Aufmerksamkeit des einen von Hasards beiden Gegnern auf sich gelenkt und focht mit ihm. Auf diese Art gewann der Seewolf einen Vorteil und konnte den anderen zu den Hütten hin zurückdrängen. Dem Kerl begann es an Ausdauer zu mangeln, er zeigte jetzt deutliche Schwächen. Hasard brachte ihm in einer heftigen Attacke eine Schulterwunde bei, tauchte unter einem weit ausgeholten Gegenhieb weg, richtete sich wieder auf und zog dem Freibeuter die Degenklinge quer über den Arm. Der Pirat taumelte zurück und prallte mit dem Rücken gegen die eine Hüttenwand. Er war in die Enge getrieben, in seinem flackernden Blick mischten sich Haß und Panik. Aus der Tür der Hütte schlüpfte plötzlich eine schlanke Gestalt. Sie war mit zwei Schritten neben dem Kerl, und in ihrer Hand blinkte etwas auf. Die nächste Bewegung war so schnell, daß Hasard ihr mit dem Blick kaum zu folgen vermochte. Der Pirat kippte vornüber und blieb, die Arme weit von sich gestreckt, mit dem Gesicht zuunterst im Schlamm liegen. Über ihm stand das Mädchen. das ihn getötet hatte. Der Schrei. den sie ausstieß, jagte dem Seewolf einen kühlen Schauder über den Rücken. Er wandte sich ab und kehrte zu seiner Helferin zurück, die so unverhofft neben ihm erschienen war. Noch wußte er nicht,
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daß sie Shandra war, die Tochter Kapkars und Narayans, aber den Beschreibungen zufolge, die die beiden an Bord der „Isabella“ von ihren Töchtern gegeben hatten, begann er zu ahnen, wen er vor sich hatte. Fast staunend verfolgte er, wie sich das Mädchen mit dem Piraten herumschlug. Er hatte bislang nur eine junge Frau kennengelernt, die so wild und draufgängerisch kämpfte - sie hieß SiriTong und wurde die Rote Korsarin genannt, und sie befand sich derzeit wahrscheinlich sehr, sehr weit entfernt von diesem Platz auf der Erdkugel. ganz drüben auf der anderen Seite. Wenn ihre Fahrt von der Südsee bis in die Karibik erfolgreich verlaufen war, dann mußte sie inzwischen auf der Schlangen-Insel eingetroffen sein. Shandra führte den schweren Säbel mit ungewohnter Kraft, der Haß spornte sie zu Leistungen an, zu denen sie sich selbst nicht imstande geglaubt hatte. Aber natürlich war sie keine erfahrene Säbelfechterin wie die Rote Korsarin. Früher oder später mußte sie scheitern, und darauf wartete ihr Gegner nur, ehe er sich zu sehr verausgabte. Hasard erkannte sofort, auf was das ungleiche Duell hinauslief, und so glitt er neben Shandra, richtete seinen Degen auf den Kerl und nahm es wieder selbst mit ihm auf. Der Zweikampf ging eine Weile hin und her, aber dann trat eine Wende im Geschehen ein, denn ein Gefühl der Panik breitete sich unter allen Piraten aus und ließ ihre Wut in Unsicherheit umschlagen. Erst in diesem Augenblick bemerkten sie, daß sie nicht mehr in der Übermacht, sondern ihrem Feind unterlegen waren. Einer, der gerade im heftigen Gefecht mit dem zornigen Carberry lag, gab plötzlich auf, drehte sich um und rannte über den Platz davon, daß der Morast aufspritzte. Er tauchte im Dschungel unter und suchte sein Heil in der Flucht. Zwei, drei andere folgten seinem Beispiel. Hasard zeichnete mit der Spitze seiner Degenklinge eine S-Linie in die Luft,
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umging die Verteidigung des Gegners und ritzte ihm ein blutiges Mal auf die Hüfte. Er riß den Degen wieder hoch, wehrte das Entermesser ab, das auf ihn niederhuschte, und holte gleich darauf zu einem neuen Ausfall aus. Jetzt war es auch mit der Fassung dieses Piraten aus. Er duckte sich plötzlich, fuhr auf dem Hacken seines nackten Fußes herum und lief davon, als säßen ihm die Teufel der Hölle im Nacken. Hasard ließ den Degen sinken, drehte sich zu seinen Männern um und schrie: „Paßt auf, daß sie nicht zur Bucht laufen! Matt und Smoky dürfen nicht gefährdet werden!“ „Aye, Sir!“ brüllte Ben Brighton zurück. „Verstanden!“ „Hasard!“ rief Big Old Shane. „Sollen wir diesen Hunden nicht nachlaufen?“ „Nein, laßt sie türmen! Paßt auf die Verletzten und Bewußtlosen auf besonders auf Yasin.“ „Ho, hoppla“, sagte Old O’Flynn, und seine Miene war so heiter, wie man sie selten sah.. „Da kannst du aber ganz beruhigt sein, Sir. Ich lasse diesen giftigen Zitteraal nicht mehr aus den Augen, und wenn er auch. nur den Kopf zu heben wagt, kriegt er wieder eins mit der Krücke drauf.“ Er hatte dem besinnungslosen Yasin das Holzbein auf den Rücken gestellt, und so bestand wirklich aller Anlaß, seinen Versicherungen Glauben zu schenken. Hasard und seine Männer standen im dichten Regen und blickten sich nach allen Seiten um, aber plötzlich war kein einziger Gegner mehr da, der es mit ihnen aufnehmen wollte. „Die Waffen einsammeln!“ rief der Seewolf, ging zu seinem RadschloßDrehling, bückte sich danach und hob ihn auf. Als er sich wieder aufrichtete, war plötzlich Shandra bei ihm. Sie hing sich ihm an den Hals und drückte ihm Küsse auf die Wangen. Dann stammelte sie aufgeregt: „Vishnu, mein Erlöser! Nur du kannst es sein, der vom Himmel zur Erde niedergestiegen ist, um uns alle zu retten.“
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Hasard wehrte sie sanft, aber bestimmt ah und erwiderte: „Ich verstehe kein Wort von dem, was du sagst.“ Auf spanisch fragte er sie: „Wie heißt du? Bist du Shandra? Wo ist deine Schwester Ginesh?“ Jenida, die sich mit den anderen Mädchen zusammen ebenfalls tapfer geschlagen hatte, trat zu den beiden und lachte erleichtert auf. „Jetzt wir alle wirklich frei!“ stieß sie in gebrochenem Spanisch hervor. Hasard sah sie an. Das dünne Gewand, das sie trug, klebte ihr wie eine zweite Haut auf dem Körper, und sie hätte ebenso gut nackt sein können. Deutlich waren ihre hohen, festen Brüste zu erkennen, ihre geschwungenen Hüften und die langen, geraden Beine. Aber sie schien sich ihres Zustandes nicht im geringsten zu schämen. Lächelnd blickte sie zu Hasard auf. „Ich heiße Jenida“, sagte sie. „Du bist auch aus Kadiri?“ „Nein, aus Gudur.“ „Es ist gut, daß du die spanische Sprache beherrscht. Was sagt dieses Mädchen?” Er wies auf Shandra, die wieder versuchte, sich an ihm festzuklammern. „Shandra nennt dich Vishnu“, erklärte Jenida. „Du unser Gott bist, der all unser Flehen erhört hat.“ „Herrje“, sagte der Seewolf. „Jetzt geht das. schon wieder los. Ihre Mutter hat sich so ähnlich ausgedrückt, aber ich bin ein gewöhnlicher Sterblicher wie du und sie, erklär ihr das bitte. Wir haben Raghubir und seine Bande vor Kadiri bekämpft und sind den beiden Seglern dann bis hierher gefolgt.“ „Raghubir — er ist tot“, sagte Jenida. Dann setzte sie ihm auseinander, was geschehen war, und er blickte betroffen zu der Hütte, in der der tote Führer der Bande lag. Hasard legte Shandra die Hand auf die Schulter. „Sie hat sehr viel Mut bewiesen“, sagte er zu Jenida. „Aber ich will jetzt endlich .wissen, wo Ginesh, ihre jüngere Schwester, steckt.“ Jenida übersetzte seine Worte, und Shandra erwiderte: „Ginesh ist zur Bucht hinuntergelaufen.“
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Als Jenida dies dem Seewolf verdeutlichte, winkte er sofort Ben Brighton, Carberry und Shane zu sich heran und rief ihnen zu: „Vier Mann kehren zur Bucht zurück, sorgen dafür, daß .keiner der flüchtenden Piraten zu den Booten und Schiffen gelangt, und geben Smoky und Matt Davies Bescheid, daß das kleine Mädchen irgendwo dort unten herumirrt. Wahrscheinlich hält sie auch uns für Seeräuber und hat eine Heidenangst vor uns!“ „Aye, Sir“, sagte Ben Brighton. „Aber wie sollen wir ihr beibringen, daß wir wirklich keine Schnapphähne und Schlagetots sind?“ Hasard deutete auf Jenida. „Sie begleitet euch. Sie ist eine gute Dolmetscherin.“ Er wandte sich wieder an sie und erklärte ihr auf spanisch, was sie tun sollte. Sie nickte. „Ja, ich gehe gern mit deinen Männern. Werdet ihr uns auf eurem Schiff mitnehmen?“ „Selbstverständlich. Aber, halt, noch etwas, bevor ich es vergesse. Shandras Eltern und ihr Bruder Chakra befinden sich an Bord unserer Galeone. Ich möchte, daß Shandra es sofort erfährt. Narayan und Chakra wurden im Kampf gegen Raghubir verletzt, aber wir konnten sie von dem schwimmenden Scheiterhaufen retten, auf dem sie verbrennen sollten. Inzwischen besteht keine Lebensgefahr mehr für sie. Jenida trat zu Shandra, ergriff ihren Arm und sprach leise auf sie ein. Shandra brach in Tränen aus. Der große Regen, der auf False Divi niederrauschte, war plötzlich eine heilende Kraft, die alle bösen Wunden der Vergangenheit fortwusch. * Ginesh war stehengeblieben, als die Schüsse auf der Lichtung gefallen waren. Sie nagte an ihrer Unterlippe und überlegte verzweifelt, was dort oben auf dem Hügel wohl geschah. War es Shandra tatsächlich gelungen, wenigstens einige der Stammesschwestern von Kadiri zu befreien? Oder hatten die Piraten sie
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vorzeitig entdeckt und feuerten jetzt auf sie? War es nicht doch ein Fehler gewesen, daß sie so bereitwillig dem Wunsch ihrer Schwester gefolgt und zu den Booten geflohen war? Hätte sie nicht lieber bei Shandra bleiben sollen? Aber nein, dachte sie und versuchte, sich zu beruhigen. Shandra weiß, was sie tut. Ich darf nichts anderes als das unternehmen, was sie mir aufgetragen hat. Wenn ich nicht gehorche, schade ich ihr nur. Ich will stark sein — und hart gegen mich selbst. Ich will die Boote erreichen und dort auf sie warten. So lief sie weiter, gelangte am Ende des Dschungelpfades, den die Piraten in beständiger Arbeit vor dem Wildwuchs des Waldes bewahrt hatten, an den Strand der Bucht und eilte zu der Stelle, an der sie die Beiboote der zweimastigen Piratensegler wußte. Sie begegnete zu ihrer Erleichterung keinem Menschen und war nun sicher, daß es keine Wachen mehr an der Ankerbucht gab. Das Schießen oben im Lager hatte aufgehört. War das ein gutes Zeichen? Ginesh blieb fast in dem völlig durchweichten Sand stecken, als sie der Brandung nahe war. Jeder Schritt wurde jetzt zur Last. Sie keuchte entsetzt auf. Konnte man hier einsinken? Sie hatte ihren Vater einmal von dem gefährlichen, mörderischen Treibsand erzählen hören, den es an bestimmten Küsten geben sollte. Verwandelte der große Regen den sonst harmlosen Strand etwa in einen tödlichen Sumpf? Sie spürte ihr Herz wieder heftiger schlagen, aber sie zwang sich dazu, nicht die Nerven zu verlieren. Bislang hat dich der Schlick nicht festgehalten, sagte sie sich im stillen, also. wird er es auch nicht tun, bevor du die Boote erreicht hast. Im strömenden Regen gelangte sie an das erste Schiffsbeiboot und lehnten sich über das Dollbord, um ein wenig zu verschnaufen. Dann richtete sie sich wieder auf und begann, an den Leinen zu hantieren. Die Leinen waren um Pflöcke
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gelegt worden, die die Piraten vorsorglich in den Untergrund gerammt hatten, so daß auch eine stärkere Brandung oder das auflaufende Wasser die Boote nicht vom Strand heben und entführen konnten. Ginesh war derart in ihre Tätigkeit vertieft, daß sie nicht den Mann bemerkte, der hinter ihr aufgetaucht war. Matt Davies betrachtete das Mädchen und überlegte, wie sie wohl aus dem Schlupfwinkel der Piraten entwischt war und was sie mit dem Boot wollte. Smoky und er hatten sie durch den Regen laufen sehen. Smoky hielt weiterhin Wache unter dem Seidenbaum, aber er hatte Matt aufgetragen, der Kleinen zu folgen und sie so behutsam wie möglich davon zu überzeugen, daß es keinen Sinn hatte, etwa mit einem Boot in die Bucht und dann ins offene Meer hinauszupullen. Matt räusperte sich. Er wollte sie nicht erschrecken. Wahrscheinlich würde sie von seinem Anblick ohnehin nicht begeistert sein. Er war ein leicht angedreckter Kerl mit klatschnassem Haar und nicht weniger nassem Zeug auf dem Leib, und Smoky hatte ihm lachend bescheinigt, daß er aussah „wie ein Seehund, der gerade aus dem Meer hochtaucht“. Ginesh schien sein Hüsteln nicht gehört zu haben, also gab er noch einmal einen undeutlichen, grunzenden Laut von sich, diesmal allerdings etwas lauter. Sie fuhr wie von Nadeln gestochen zu ihm herum und ließ die Bootsleine los, deren Knoten sie fast geöffnet hatte. „Nein!“ stieß sie entsetzt hervor. „Nein, nein.“ Der Mann, der da breitbeinig auf dem Sand stand, hatte einen Stoppelbart und trug ein Stück Tuch undefinierbarer Farbe um seinen nassen Haarschopf. Das Schlimmste an seinem Aussehen war aber nicht seine Häßlichkeit, sondern der Haken, der sich an dem Platz befand, an dem eigentlich seine rechte Hand hätte sein müssen. So etwas Grauenvolles hatte Ginesh noch nie zuvor gesehen. Sie schrie auf, sprang hoch und wollte weglaufen, aber da war er
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schon bei ihr und hielt sie mit seiner richtigen Hand am Arm fest. Ginesh kreischte und jammerte und trat mit dem Fuß nach ihm, aber er ließ sie nicht wieder los. „Nun mal immer mit der Ruhe“, sagte Matt Davies. „Hör mir zu, du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Verstehst du mich denn wenigstens?“ Sie zitterte, wand sich und schrie gellend, als sie sah, wie er zu grinsen versuchte und das eine Auge zukniff. Keinen Moment zweifelte sie daran, daß er nun das mit ihr tun würde, was auch Jammur und Raghubir vorgehabt hatten, was ihnen aber nicht gelungen war. „Nein!“ stieß sie wieder hervor. „Lieber sterbe ich! Töte mich! Nimm dein Messer, und stich es mir in die Brust!“ „Hölle und Teufel“, sagte Matt. „Hier kapiert einer den anderen nicht, scheint mir. Weißt du denn nicht, wie gefährlich es ist, ganz allein mit so einem Boot rauszupullen — bei diesem Seegang?“ „Shandra!“ rief sie verzweifelt. „Shandra, wo bleibst du denn nur? Warum kommst du nicht und hilfst mir?“ Sie dachte voll Entsetzen, daß es doch besser gewesen wäre, wenn sie bei Shandra geblieben wäre, oder daß sie wenigstens eine Waffe aus der Hütte Raghubirs hätte mitnehmen sollen, aber für solche Überlegungen war es jetzt zu spät. Matt kam sich recht dumm bei der ganzen Angelegenheit vor, denn er begriff, daß er sie nicht von seinen friedlichen Absichten überzeugen konnte. Irgendwie wurde er auch verlegen, denn er war sich im klaren darüber, daß er nicht richtig mit ihr umgehen konnte. Er verdammte Smoky, der ihn vorgeschickt hatte, und grübelte nach, was jetzt wohl am besten zu tun sei. Dieses Mädchen war ein Kind und eigentlich doch kein Kind mehr, soviel war deutlich zu sehen. Matt wurde richtig mulmig zumute. „Matt!“ schrie Smoky. „Was ist los?“ Er hatte die Kleine schreien hören. Was sollte er denn jetzt von ihm, Matt, denken? Matt zog sie kurzerhand am Arm hinter sich her und brachte sie zu Smoky. Ginesh
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trat, kratzte und biß, sie war ein schreiendes, widerspenstiges Bündel. „Hier ist guter Rat teuer“, erklärte Matt verdrossen. „Versuch du doch mal, sie zur Vernunft zu bringen. Sie versteht kein Wort von dem, was ich sage.“ Smoky trat vor Ginesh hin und hielt die Hand fest, mit der sie nach seinem Gesicht schlagen Wollte. „Nicht doch“, sagte er. „Wir wollen dir nichts Schlechtes antun. Wir sind deine Freunde — und die Freunde von Shandra, von Narayan, Kankar und Chakra. Deine Eltern und dein Bruder sind auf unserem Schiff. Narayan, Kankar und Chakra – verstehst du?“ Ginesh horchte bei der Nennung dieser Namen auf und leistete keinen Widerstand mehr. „Moment mal“, sagte Matt. „Glaubst du etwa, sie ist die Schwester von dieser Shandra?“ „Ganz sicher ist sie das“, entgegnete Smoky gelassen. „Den Berichten unserer indischen Freunde zufolge wurde nur ein zwölfjähriges Mädchen aus Kadiri entführt, und das ist Ginesh. Die anderen Mädchen sind alle zwischen achtzehn und zwanzig Jahren alt, wenn ich mich nicht verhört habe.“ „Donnerwetter“, sagte Matt. „Dein Scharfsinn ist so groß wie der unseres Profos.“ „Wer zieht da über mich her?“ ertönte in diesem Augenblick eine Stimme rechts von ihm. „Mister Davies?“ „Ja, Sir“, erwiderte Matt mit säuerlicher Miene. „Aber ich ziehe nicht über dich her, sondern ich lobe deine Klugheit und, äh – deine schnelle Auffassungsgabe.“ Carberry trat durch den Regen zu ihnen. In seinem Gefolge befanden sich Ben Brighton, Big Old. Sharie, Blacky und ein braunhäutiges Mädchen. Matt konnte nicht anders, er mußte einen Blick auf ihre festen Formen werfen. Sie lenkten, so nahezu unverhüllt, wie sie waren, nun einmal die Aufmerksamkeit jedes Mannes auf sich. „Wegsehen“, sagte der Profos barsch. „Mister Davies, du Lüstling sollst nicht
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gierig in die Gegend glotzen, das gehört sich nicht. Wir sind anständige Kerle, verstanden?“ „Jawohl, Mister Carberry. Darf man jetzt wissen, was eigentlich passiert ist?“ „Ja, das würde ich auch gern erfahren“, sagte Smoky. „Es ist alles weitgehend nach Plan verlaufen“, erklärte Ben, der jetzt ein Stück vortrat. „Wir haben gesiegt.“ „Hurra“, sagte Matt, aber es klang auch nicht gerade sonderlich begeistert. „Das hier“, sagte Blacky mit einem Fingerzeig auf ihre Begleiterin, „das ist Jenida, unsere neue Dolmetscherin.“ Jenida begann, eindringlich auf Ginesh einzureden, und die Zwölfjährige lachte plötzlich, schlug die Hände zusammen und verbeugte sich vor Smoky und Matt. Es war eine Geste der Entschuldigung. Matt kratzte sich am Hinterkopf, wandte sich an Ben Brighton und sagte: „Sir, ich wäre verdammt froh, wenn wir jetzt bald an Bord unserer alten Lady ‚Isabella’ zurückkehren und unsere nassen Sachen trocknen könnten.“ Ben lächelte. „Ich glaube, deinem Wunsch kann entsprochen werden, Matt. Auf False Divi hält uns jetzt nichts mehr.“ 6. Yasin kam wieder zu sich und rappelte sich vom schwarzen, schlammigen Boden der Lichtung auf, aber im nächsten Moment bereute er es, nicht liegengeblieben zu sein. Ein Tritt traf seinen Allerwertesten, und er stolperte durch eine breite Pfütze auf die Fassaden der Hütten zu. Old O’Flynn ließ sein Holzbein sinken und brüllte ihm auf spanisch nach: „Hau ab, und laß dich hier nicht wieder blicken, du Strolch! Im übrigen kannst du froh sein, daß Hasard mir verboten hat, dich auseinanderzunehmen! Sonst könntest du Galgenstrick deine Knochen nämlich einzeln wieder zusammensuchen, das schwör ich dir!“ Yasin hastete zwischen zwei Hütten hindurch und verschwand im Busch, ohne sich noch einmal umzusehen.
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Der Seewolf, Batuti, Dan O’Flynn, Luke Morgan, Bob Grey, Jeff Bowie, Stenmark und Sam Roskill lachten lauthals, dann fuhren sie fort, ihre Pistolen und Musketen und die Waffen einzusammeln, die die Piraten während des Kampfes verloren hatten. Wenig später schritten die Männer der „Isabella“ den Pfad zur Mündung des Flusses hinunter, und Shandra und die anderen Mädchen aus Kadiri folgten ihnen. Hasard rechnete kaum noch mit einem Angriff der Piraten aus dem Hinterhalt, aber vorsichtshalber hielten er und seine Männer die Augen doch nach allen Seiten offen. Ohne Zwischenfall erreichten sie die „Isabella“, die nach wie vor dort ankerte, wo sie sie zurückgelassen hatten. Der Fluß hatte sich jedoch durch das Regenwasser verbreitert, und die Strömung zerrte derart heftig an dem Schiff, als wolle sie es von seiner Ankertrosse losreißen. Ferris Tucker und die anderen an Bord begrüßten die Rückkehrer mit lautem Jubel und Arwenack-Geschrei. Die Wiedersehensszene, die sich kurz darauf zwischen Shandra, ihren Eltern und ihrem Bruder Chakra abspielte, ging selbst den hartgesottenen Männern der „Isabella“ ans Herz. Hasard räusperte sich und hielt nach dem Kutscher Ausschau, der die leichten Blessuren verarzten sollte, die einige Männer aus dem Kampf im Hüttenlager davongetragen hatten. Old O’Flynn zog sich aufs Achterdeck zurück, Bob Grey kratzte sich an seinem Kinn, als hätte er dort Flöhe, und Dan, Batuti, Stenmark und die anderen schienen plötzlich Eiliges im Vordeck oder an den Geschützen zu tun zu haben. Etwas später trafen auch Ben Brighton, Big Old Shane, Carberry, Blacky, Smoky und Matt Davies mit Ginesh und Jenida ein. Narayans, Kankars und Chakras Freude kannte keine Grenzen mehr, als sie auch die Zwölfjährige erblickten. Ginesh fiel ihnen in die Arme und lachte und weinte abwechselnd. „Ja, also“, sagte Ben Brighton. „Das wär’s.“ Er sah zu den Indern hinüber. Die
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Mädchen von Kadiri hatten Narayans Familie umringt und klatschten begeistert in die Hände. Ben rieb sich mit der Hand die Wange, blickte wieder seinen Kapitän an und fuhr fort: „Du wirst dich gefragt haben, was wir so lange an der Bucht getrieben haben.“ Der Seewolf lächelte. „Ich weiß schon, Ben. Ihr seid zu den beiden Schiffen der Piraten rübergepullt und habt ihre Rümpfe angebohrt, damit sie ganz rasch auf den Grund der Bucht sinken, wie sich’s gehört.“ „Und da liegen sie inzwischen auch schon“, sagte der Profos mit einem Ausdruck größter Genugtuung. „Ben“, sagte der Seewolf. „Laß jetzt deine Armwunde vom Kutscher versorgen.“ „Aye, Sir.“ „Shane, du suchst bitte zusammen mit Ferris und Al die Waffen der Piraten heraus, die wir noch verwenden können. Alle anderen werft ihr über Bord. Auf dem Grund des Flusses werden die Kerle sie bestimmt nicht wiederfinden.“ „Ganz bestimmt nicht, Sir“, sagte der graubärtige Riese. „Aber wie viele Überlebende der Bande sind in den Urwald geflüchtet?“ „Ich schätze, daß es etwa zwanzig Männer sind. Vorläufig sitzen sie hier auf der Insel fest“, erwiderte Hasard. „Wenn das Wetter besser wird, versuchen sie vielleicht, zum Festland hinüberzuschwimmen, je nachdem, ob sie mit Haien rechnen müssen oder nicht. Da sie keine Schiffe und kaum noch Waffen haben, können sie für einige Zeit keinem Menschen mehr gefährlich werden. Und es ist noch die Frage, ob die Bande sich neu formiert.“ „Wahrscheinlicher ist, daß ihre Reste sich in alle Himmelsrichtungen zerstreuen“, meinte Blacky. „Und damit wäre der Zweck dessen, was wir beabsichtigten, doch erreicht, oder?“ „Ja“, sagte der Seewolf. „Übrigens, was habt ihr mit den Beibooten der Schiffe getan?“ Der Profos grinste. „Die haben wir natürlich auch angebohrt und in die Bucht
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raustreiben lassen, nachdem wir sie nicht mehr brauchten. Zufrieden, Sir?“ „Ja. Das war gründliche Arbeit, Ed. Jetzt gehen wir wieder in See und sehen zu, daß wir so schnell wie möglich zurück nach Kadiri gelangen, um unsere indischen Freunde dort abzusetzen.“ Hasard blickte wieder zu Narayan, Chakra, Kankar und den Mädchen und fühlte plötzlich ein ungutes Gefühl in sich aufsteigen. Er mußte die Mädchen so rasch wie möglich in ihrem Dorf absetzen, damit es früher oder später keine Unruhe und kein böses Blut gab. Es entging ihm nicht, wie begeistert und verlangend die meisten seiner Männer die Mädchen ansahen. Die Gewänder der Mädchen waren total durchnäßt und lagen derart eng an ihren Körpern an, daß sie ebenso gut völlig nackt auf das Hauptdeck der „Isabella“ hätten treten können. „Alle Mädchen werden im Achterdeck untergebracht!“ rief er. „Will, besorg ihnen trockene Kleidung. Und wenn es nur ein paar einfache Fetzen Segeltuch sind das ist immer noch besser als gar nichts!“ „Aye, Sir“, sagte Will Thorne, der Segelmacher. „Wird sofort erledigt, Sir.“ Hasard stellte fest, daß Jenida zu ihm herüberlächelte, und ihm wurde richtig mulmig zumute. * Der Regen dauerte fast unvermindert an, aber es gab kein Gewitter mehr wie in der vergangenen Nacht und am frühen Morgen. Die Überfahrt nach Kadiri verlief bei dem anhaltenden Nordostwind zügig, wenn auch nicht gerade ruhig. Nach wie vor war die See aufgewühlt und ließ die „Isabella“ stampfen und schlingern. Hasard wartete, bis die Mädchen allesamt in den Kammern des Achterdecks untergebracht waren, dann stellte er seine Söhne als Wachen im Gang auf und legte sich in seiner Koje zur Ruhe. Er spürte jetzt die Erschöpfung. Die letzten Stunden hatten ihm einige Energie abverlangt. Er brauchte neue Reserven, denn in Kadiri würde er keine Station einlegen, sondern
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gleich wieder weitersegeln. Er wollte Indien endgültig den Rücken kehren und trotz des Regens an Ceylon vorbeigehen und mit Kurs auf Afrika den Indischen Ozean durchqueren. Deshalb war dies die beste Gelegenheit, um ein wenig zu ruhen und die Ereignisse auf False Divi zu vergessen. Wenn er die Dinge in aller Sachlichkeit betrachtete, dann mußte er vor sich selbst eingestehen, daß sie großes Glück gehabt hatten und vollauf mit sich zufrieden sein konnten. Keiner seiner Männer hatte ernste Verletzungen erlitten, und die Mädchen waren vollzählig an Bord versammelt. Laut Auskunft von Jenida waren sie auch unversehrt — die Piraten hatten ihnen keine Gewalt antun können. Bei der Flucht von Kadiri nach False Divi hatten die Kerle alle Hände voll zu tun gehabt, um sich mit ihren Schiffen gegen das Wetter zu behaupten, und im Schlupfwinkel waren sie dann durch Shandras Ausbruch und den Angriff der Seewölfe gestört worden. Hasard dachte vor dem Einschlafen an Raghubir, den er in seltsam verkrümmter Haltung in dessen Hütte hatte liegen sehen, ehe er das Lager verlassen hatte. Er hatte sich vorgenommen, sich noch genauer über die Art des Schierlingstrankes zu informieren, den Shandra dem Piratenführer verabreicht hatte. Wer weiß, dachte er, vielleicht kann ein solches Kraut auch uns eines Tages nützlich sein. Ich muß auch noch den Kutscher darüber unterrichten, es wird ihn interessieren. Darüber schlief er ein. Als er wieder aufwachte, setzte er sich sofort in seiner Koje auf und blickte zur Sanduhr. Der Sand war ganz durchgelaufen, und es ließ sich nicht feststellen, wie viel Zeit wirklich verstrichen war. Die „Isabella“ rollte in der See, das Wasser rauschte an den Bordwänden. Oben auf Deck war das Trappeln von Schritten zu vernehmen. Er stand auf, zog sich trockene Kleidung an, öffnete die Tür und trat auf den Gang hinaus. Keine fünf Schritte von ihm
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entfernt lehnte einer seiner Söhne mit dem Rücken an der Wand, aber er löste sich sofort von ihr, als er ihn erblickte. „Philip?“ sagte er. „Nein, ich bin Hasard, Dad. Philip ist vorn am Schott.“ Verdammt und zugenäht, dachte der Seewolf, im Dunkeln kann man seine eigenen Söhne nicht auseinanderhalten. „Wie lange habe ich geschlafen?“ fragte er. „Mister Brighton hat eben gerade hier unten nach dem Rechten gesehen und mir gesagt, daß vier Glasen der Nachmittagswache abgelaufen sind.“ „Dann ist es also kurz nach zwei Uhr. Gibt es Neuigkeiten?“ „Keine, Dad. Nur — diese Jenida hat dich sprechen wollen.“ „Weshalb?“ „Das hat sie mir nicht gesagt.“ „Ruf sie zu mir“, sagte er. * Hasard hatte sich hinter sein Kapitänspult gesetzt, als es an die Tür seiner Kammer klopfte. Er sagte „Herein“, und die Tür schwang auf und gab den Blick auf Jenida frei. Sie trug ein seidenes Gewand, dessen Saum fast bis auf den Boden reichte. Lächelnd schloß sie die Tür hinter sich und trat mit geschmeidigem Gang auf ihn zu, in dem ein wenig Koketterie und ein bißchen Herausforderung lagen. „Setz dich“, sagte er. „Er wies auf das geschnitzte Holzgestühl an der achteren Wand, und sie ließ sich darauf nieder, wobei sich der Stoff des Gewandes straff über ihren Schenkeln spannte. „Woher hast du dieses Kleid?“ fragte er sie. Sie lächelte immer noch und antwortete: „Erinnerst du dich nicht, daß die Mädchen von Kadiri die Hütten durchsucht haben, ehe wir das Lager verließen? Nun, sie haben Raghubirs Beute wiedergefunden und mitgenommen: Gewänder aus Seide und Brokat und einen Sack voll Perlen, das rechtmäßige Eigentum der Fischer von Kadiri.“
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Er lehnte sich zurück und setzte eine verblüffte Miene auf. „Himmel, daran habe ich im Eifer des Gefechts gar nicht mehr gedacht! Wir sind dumm gewesen. Wir hätten auch nach Raghubirs übrigen Schätzen forschen sollen, statt so schnell zum Schiff zurückzukehren.“ „Viel war das nicht“, sagte sie in ihrem nicht ganz einwandfreien Spanisch. „Raghubir und seine Kerle haben ihre Perlen und Rupien in den Kaschemmen und Hurenhäusern der Hafenstädte verpraßt. Sie haben nahezu alles durchgebracht, auch den Erlös, den sie aus dem Verkauf von Sklavinnen und kostbaren Stoffen erzielten.“ Angewidert verzog sie ihr Gesicht. „Sie waren wie die Tiere. Primitiv, wild und grausam. Aus Baudhs Hütte habe ich einen Beutel voll Perlen mitgenommen. Den habe ich deinem Bootsmann übergeben, Lobo del Mar.“ „Hat er dir gesagt, daß man mich so nennt?“ „Ja.“ „Mein richtiger Name ist Killigrew. Meine Freunde sagen Hasard zu mir.“ „Hasard — wenn du nicht erschienen wärst, dann — dann hätte ich bald selbst Hand an mich gelegt, denn ich wollte nicht mehr leben.“ Sie senkte den Blick. „Muß ich dir sagen, wie Baudh, der Bengale, mich behandelte?“ „Nein. Aber was den Beutel mit den Perlen betrifft: der gehört dir, und ich werde ihn dir wieder zurückgeben lassen.“ „Ich will ihn nicht.“ „Ich auch nicht“, sagte er. Er beugte sich vor und betrachtete sie eingehend. „Ich weiß, daß du durch dieses Geschenk deinen Dank zum Ausdruck bringen «rillst, aber gerade deshalb lehne ich es ab. Soll ich den Beutel ins Meer werfen lassen?“ Sie schaute verdutzt auf, und er konnte. erkennen, daß ihre Augen von einem feuchten Schimmer erfüllt waren. Ihr Gesicht war schmal und nicht unbedingt als schön zu bezeichnen. Die schrecklichen Erfahrungen, die sie hatte erleiden müssen, hatten ihre Spuren hinterlassen. Um ihre Lippen spielte ein
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herber Zug, und ihre dunklen Augen blickten bitter und ohne Illusion. Ihre Stimme klang hart, und in ihrem Benehmen lag beinah die schnelle Vertraulichkeit, an denen man die leichten Mädchen in den Häfen erkannte. „Du wirst die Perlen noch gut gebrauchen können“, sagte er. „Wirst du mich an Land setzen?“ „Natürlich. In Kadiri.“ Sie wischte sich mit der rechten Hand über die Augen. „In Kadiri wird jede Hand gebraucht, denn das Dorf muß neu aufgebaut werden, wie Shandra mir erzählt hat. Ich wäre auch nicht abgeneigt, beiden neuen Freunden zu bleiben, die ich gewonnen habe. Chakra ist ein netter Junge, er gefällt mir.“ Sie sah ihn offen an. „Er hat die Geschmeidigkeit eines Tigers und eine so große innere Widerstandskraft, daß die Wunde ihm schon gar nicht mehr zusetzt. Hast du nicht gesehen, wie schnell er wieder bei Kräften ist?“ Hasard begegnete ihrem Blick. Sie muß um die fünfundzwanzig Jahre alt sein, dachte er, aber sie wirkt älter. Laut sagte er: „Bist du hier, um mir das zu erzählen, Jenida? Sag mir lieber, wo du die spanische Sprache gelernt hast und wie du in die Hände der Piraten gefallen bist. Erzähl mir deine ganze Geschichte - und sprich ohne Umschweife aus, um was du mich bitten wolltest.“ „Du hast ein großes Herz, Lobo del Mar“, sagte sie. „Und du kannst Gedanken lesen. Vielleicht bist du doch mit Vishnu verwandt?“ „Hör auf. Reden wir nicht länger um den Kern der Angelegenheit herum. Und versuch auch nicht, mir zu erzählen, daß du ernsthaft an Chakra interessiert bist. Es wird einige Zeit vergehen, bis du wirklich wieder einen Mann lieben kannst, Jenida.“ „Aber es wird sich keiner finden, der Jenida noch haben will“, flüsterte sie. „Das wolltest du doch sagen, oder?“ „Nein, das wollte ich nicht. Es würde mir nie einfallen, dich zu beleidigen. Du bist ein kluges, tapferes Mädchen, und es war schließlich nicht deine Schuld, daß du Baudhs Sklavin wurdest. Ich meine nur, du
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müßtest Haß und Widerwillen empfinden, was die Männer betrifft.“ Sie stand auf und trat durch den wankenden Schiffsraum auf sein Pult zu. „Ich denke anders, Lobo del Mar. Ich mag dich, und ich würde gern bei dir bleiben.“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Verflixt, was hatte er sich da eingebrockt? Mit deinem verdammten Gerede hast du sie noch provoziert, dachte er, Herrgott, bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Sie blieb am Pult stehen und hielt sich mit beiden Händen daran fest. Plötzlich lächelte sie wieder. „Aber ich weiß, daß es nicht möglich ist“, sagte sie. „Deshalb bitte ich dich, bring mich zurück nach Gudur. Gudur ist mein Heimatort, ein kleines Dorf, das nicht sehr weit von Kadiri entfernt an der südlichen Koromandelküste liegt. In Gudur werde ich nachsehen, was aus meinem Mann geworden ist.“ „Aus - deinem Mann?“ wiederholte er verwundert. Er kam sich weder sonderlich geistreich noch überlegen vor und verfluchte sich zum zweitenmal. „Ich bin - ich war verheiratet“, entgegnete sie. „Aber ich wünsche mir von ganzem Herzen, daß Katanimar, mein Gatte, tot ist.“ 7. Hasard stand auf, ging um das Pult herum und griff nach ihrem Arm. Er führte sie zu ihrem Stuhl zurück -wobei sie fast das Gleichgewicht verlor und hinfiel - und brachte sie dazu, sich wieder hinzusetzen. „Ich will deine ganze Geschichte hören“, sagte er. „Aber fang bitte von vorn an.“ Mit einer flüchtigen Bewegung strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, dann nickte sie. „Gut. Du sollst alles wissen. Alles Unheil begann, als eines Tages der Spanier nach Gudur kam. Vorher hatten wir ein recht glückliches Leben geführt. Ich hatte Katanimar seit sieben Mondwechseln geheiratet, und mein größter Wunsch war es, Kinder haben zu können.“
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Hasard blieb vor ihr stehen. „Was wollte der Spanier? Landete er mit einem Boot? Mit einem Schiff?“ „Nein. Gudur liegt etwas landeinwärts auf einem Ghat des Dekkan-Gebirges. Es ist kein Fischerdorf wie Kadiri. Und dieser Spanier - er hieß übrigens Amado Mitre, wie ich später erführ - erschien zu Fuß.“ „Zu Fuß? Durch den Dschungel?“ „Warte. Er war aus Madras geflohen. Die Spanier haben dort ein Fort.“ „Das habe ich schon von Yasin vernommen.“ „Mitre war nur ein kleiner, unbedeutender Soldat in dem Fort, aber er brachte eines Tages durch Zufall heraus, wo der Lagerkommandant die kleine Truhe mit seinen privaten Kostbarkeiten aufbewahrte“, sagte sie. „Mitre stahl sie bei Nacht, nahm sich ein Pferd und verschwand. Er flüchtete nach Norden und wollte, wie er uns berichtete, Kakinada erreichen. Aber er hatte Pech. Das Pferd brach sich auf den Ghats einen Knöchel, und so mußte er es erschießen. Zu Fuß irrte er durch die Nacht und gelangte in unser Dorf - ausgerechnet nach Gudur.“ „Hatte er seine Beute noch dabei?“ wollte Hasard wissen. „Ja. Ein Kistchen voller Gold, Silber und Diamanten.“ „Ich bin überzeugt, daß der Kommandant des Forts den Raub sehr bald bemerkte und dem Mann einen Trupp Soldaten nachschickte.“ Jenida blickte ihn wieder an. „Genauso war es. Aber Katanimar, dieser Narr, glaubte, Mitre in unserer Hütte verstecken zu müssen. Katanimar kannte die spanische Sprache, weil er beim Aufbau des Forts in Madras mitgeholfen hatte, als er noch ein sehr junger Mann gewesen war. Die Spanier hatten ihn nicht wie einen Sklaven behandelt, sondern sie hatten ihn sogar noch bezahlt, weil sie von seiner Geschicklichkeit und seinem freundlichen Wesen angetan waren.“ „Ich verstehe. So brachte er auch dir Spanisch bei?“ „Ja.“
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„Und als nun so plötzlich dieser Amado Mitre auftauchte, witterte Katanimar eine Chance, zu Wohlstand und Ansehen zu gelangen, nicht wahr?“ sagte Hasard. „Er versprach Mitre, ihn nach Kakinada zu führen, falls er ihn dafür bezahlte -mit Gold, Silber und Juwelen.“ Jenida musterte ihn überrascht. „So, wie du sprichst, könnte man meinen, du wärest selbst mit dabei gewesen, Lobo del Mar.“ „Meine Freunde nennen mich Hasard.“ „Hasard, es war genauso, wie du sagst. Mitre versprach meinem Mann ein Drittel von seiner Beute, wenn er ihn nur so schnell wie möglich nach Kakinada hinaufbrachte. In Kakinada, mußt du wissen, sitzen die Spanier und Portugiesen noch nicht richtig fest, dort gibt es hundert Mittel und Wege, an Bord eines Schiffes zu gehen und für alle Zeiten spurlos zu verschwinden. Eben das hatte Mitre vor.“ „Brachen die beiden noch in derselben Nacht auf?“ „Zuerst tranken sie Reiswein und rauchten Haschisch, und sie berauschten sich dabei zusätzlich an ihren großspurigen Plänen. Ich versuchte ein paarmal, Katanimar diesen Wahnsinn auszureden, hielt ihm immer wieder vor Augen, daß die Spanier sie suchen und finden würden. Was dann mit ihnen geschah, wußte er doch ebenso gut wie ich. Aber er lachte mich nur aus und sagte mir, ich sollte mich heraushalten.“ „Und dann?“ „Dann tauchten die Spanier auf, noch in der Nacht, denn sie hatten eine Spur von Mitre entdeckt. Sie erschienen, um das ganze Dorf zu durchsuchen.“ „Katanimar und Mitre flüchteten?“ „Ja. Ich wollte mit, aber Katanimar stieß mich zurück.“ „Sie wollten in die Berge hinauf?“ „Genau das. Kaum waren sie fort, da begann das Allerschlimmste. Die Spanier trieben uns aus den Hütten und schlugen uns mit Peitschen: Sie verlangten immer wieder von uns zu hören, wo wir den Soldaten versteckt hätten, aber wir schwiegen. Einige Männer unseres Dorfes begehrten auf und wollten sich zur Wehr
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setzen, aber sie wurden erschossen. Da schrie eine der Frauen, daß sie den Fremden in unserer Hütte habe unterschlüpfen sehen, und sie wies mit dem Finger auf mich.“ Die Erinnerung an das Geschehen ließ sie unwillkürlich zusammenfahren. Sie gab einen klagenden Laut von sich und schlug die Hände vors Gesicht. „Jenida“; sagte der Seewolf und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Wenn du nicht willst, brauchst du mir nichts mehr zu erzählen. Ich habe schon genug gehört und kann mir den Rest denken.“ Sie ließ die Hände sinken und blickte wieder zu ihm auf. „Nein, es ist schon gut. Laß mich weiterreden. Vielleicht tut es mir sogar gut. Du kannst dir vorstellen, daß die Spanier mit allen Mitteln von mir zu erfahren versuchten, wo mein Mann und der Soldat steckten. Ich sagte immer wieder, ich wüßte es nicht, und sie töteten mich fast. In ihrer Wut vertrieben sie alle Männer, Frauen, Greise und Kinder aus Gudur, und wer nicht gehorchen wollte, den schossen oder stachen sie nieder. Sie steckten die Hütten an, und Gudur hörte auf zu bestehen.“ „Dann ritten sie in die Ghats hinauf, um nach den beiden Flüchtlingen zu suchen?“ „Ja. Ich kam am Morgen zu mir und blickte mich um, aber außer Swabi, dem Brahmanen, vermochte ich keinen Menschen mehr zu entdecken. Er sagte mir, ich solle gehen. Für immer. Es wäre besser - für alle. Jene, die die Irrsinnstat der Spanier überlebt hatten und sich im Dschungel versteckten, würden über kurz oder lang zurückkehren und mich aus Wut steinigen, denn sie hielten mich für mitverantwortlich für das, was geschehen war.“ „Es nutzte nichts, daß du deine Unschuld beteuertest?“ „Nein. Ich mußte gehen. Ich stieg in den Dekkan auf und suchte nach Katanimar und Amado Mitre, doch ich fand sie nicht. Ich sah auch die spanischen Soldaten nicht wieder. So begab ich mich auf den Weg nach Kakinada.“ Sie lächelte freudlos. „Du wirst es wohl kaum für möglich halten,
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aber ich schaffte es, mich durchzuschlagen. In Kakinada hörte ich mich tagelang um, aber niemand hatte meinen Mann und den Spanier gesehen. So beschloß ich, auf sie zu warten.“ „Aber sie erschienen nicht.“ Traurig schüttelte sie den Kopf. „Ob sie die Stadt jemals erreicht haben, weiß ich nicht. Ich fiel auf einen Kerl herein, der mich beschwatzte und mir versprach, er würde mir helfen. Aber was tat er?“ „Er verschleppte dich in ein Bordell“, sagte der Seewolf. „Jedenfalls kann ich es mir so vorstellen.“ „So war es. Und aus diesem Haus kam ich nicht mehr heraus - bis eines Tages Baudh, der Bengale, bei mir erschien. Ich gefiel ihm so gut, daß er mich der Hausmutter abkaufte und mich mitnahm auf sein Schiff. Als ich begriff, daß er ein Pirat der gefürchteten Bande Raghubirs war, war es zu spät, an Flucht zu denken. Wir befanden uns bereits auf See und segelten nach False Divi. Dort hielt er mich in seiner Hütte wie -wie einen Hund, den er liebkosen oder schlagen konnte, wie es ihm gerade paßte. Einmal versuchte ich zu fliehen. Da kettete er mich an.“ „Wie lange ist das alles her?“ fragte er sie. „Vielleicht fünf Mondwechsel. Genau weiß ich es nicht.“ „Rund fünf Monate. Und wo halten dein Mann und Amado Mitre sich deiner Meinung nach inzwischen auf?“ „Ich weiß es nicht und will es eigentlich auch gar nicht wissen. Vielleicht erfahre ich es in Gudur. Vielleicht ist das Fort neu aufgebaut worden. Möglich, daß ich nachträglich Genugtuung erhalte und man einsieht, wie groß das Unrecht war, das mir angetan wurde.“ Hasard nahm die Hand von ihrer Schulter. „Ich werde dich hinbringen, Jenida, sobald wir Narayan, Kankar, Chakra und die Mädchen in Kadiri abgesetzt haben. Und ich werde auch versuchen, dir zu helfen.“ „Wie?“ „Das weiß ich selbst noch nicht. Aber es interessiert mich selbst, was nach deiner Flucht aus Gudur aus dem Dorf geworden ist. Wir werden es gemeinsam aufsuchen.“
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Sie stand auf, schlang ihm rasch die Arme um den Hals und küßte ihn, ehe er sie daran hindern konnte. Dann ließ sie ihn wieder los und eilte aus dem Raum. * Kadiri. Kurz vor Einbruch der Abenddämmerung ankerte die „Isabella“ in der Bucht, in der das Gefecht gegen Raghubirs Verband stattgefunden hatte. Der Regen hatte etwas nachgelassen, und noch von Bord ihres Schiffes aus konnten die Seewölfe und ihre indischen Freunde erkennen, daß die im zerstörten Dorf zurückgebliebenen Männer und Frauen eine der niedergebrannten Hütten wiederaufgebaut hatten. Die Fischer von Kadiri rannten zu dem letzten Boot, das ihnen geblieben war, kletterten hinein und pullten zur „Isabella“ hinüber. Hasard ließ die Beiboote abfieren und teilte je vier Männer ein, die als Bootsgasten fungieren und die Passagiere an Land bringen sollten. Der Abschied fiel keinem von ihnen leicht. Narayan trat vor den Seewolf hin und sagte: „Wir werden es nie vergessen, was ihr für uns getan habt. Ohne euch wären wir alle tot. Philip Hasard Killigrew, wir werden den Gedanken an dich und deine Männer ewig in unseren Herzen tragen und zu Brahma, Vishnu, Krishna, Shiva und den anderen Göttern beten, daß sie euch beschützen.“ Jenida stand neben dem Seewolf und übersetzte jedes Wort. „Ich weiß jetzt, wie man kämpft!“ rief Chakra, ehe auch er von Bord ging. „Ich habe es von dir gelernt, Hasard! Danke für alles, was du getan hast!“ Kankar und Ginesh knieten vor Hasard auf die Planken des Hauptdecks und verneigten sich tief. „Ich bin nicht Vishnu“, sagte Hasard, als Kankar sich wieder aufrichtete und ihn ernst anblickte. „Ich bin ein ganz gewöhnlicher Sterblicher.“ „Ich weiß“, sagte sie. „Aber wir werden Vishnu einen Altar bauen und deinen Namen darin verewigen.“
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„Mister Brighton!“ rief Hasard seinem ersten Offizier und Bootsmann zu. „Her mit den Gewändern aus Brokat und Seide, und vergiß mir ja nicht den Beutel mit den Perlen, den Raghubir ihnen abgenommen hatte!“ „Aye, Sir!“ tönte Bens Stimme vom Achterdeck zurück. „Und da du schon dabei bist, hol auch gleich den Beutel, den Jenida dir ausgehändigt hat!“ rief der Seewolf. „Ich will, daß sie ihn zurückerhält! Er ist ihr Eigentum, verstanden?“ „Sicher, Sir“, sagte Ben. „Ich hatte ihn auch nur zur Aufbewahrung übernommen.“ „Schon gut“, meinte Hasard — und er lächelte zuerst Jenida und dann Shandra zu, die leichtfüßig über das Deck auf ihn zuschritt. Mit der größten Selbstverständlichkeit blieb sie vor ihm stehen, richtete sich auf den Zehenspitzen auf und küßte ihn auf die Wangen. Dann drückte sie ihm etwas in die Hand und sagte: „Dies ist alles, was ich dir schenken kann, denn ich weiß, daß du nichts von uns annehmen willst. Ich habe die Blätter auf False Divi vom TanjogheStrauch gepflückt, um Raghubir zu vergiften. Die, die ich nicht gebraucht habe, habe ich bis jetzt weiterhin an meinem Hüftgurt getragen.“ Er sah ihr in die Augen. „Ich werde sie als Erinnerung an dich behalten und wie einen Schatz hüten. Wenn ich sie betrachte, werde ich immer wieder zurück an Kadiri und False Divi denken.“ Shandra warf ihm einen letzten Blick aus ihren großen dunklen Augen zu, nachdem Jenida ihr Hasards Worte übersetzt hatte, dann verabschiedete sie sich auch von Jenida und ging von Bord. Sie kletterte an der Jakobsleiter hinunter und stieg zu ihrem Vater, zu ihrer Mutter, ihrem Bruder und ihrer Schwester in das eine Beiboot der „Isabella“. Die Kleider aus Brokat und Seide und der Beutel mit den Perlen waren in eins der Boote gegeben worden, und so legten jetzt beide Jollen gemeinsam mit dem Fischerboot ab und entfernten sich.
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Hasard blickte ihnen nach. „Sie werden es schaffen, das Dorf neu aufzubauen“, sagte er. „Und sie werden ihr Leben neu beginnen und die Vergangenheit schnell vergessen.“ „Ja“, sagte Dan O’Flynn, der neben ihn ans Schanzkleid der Kuhl getreten war und Shandra und den anderen Mädchen einen, entsagungsvollen Blick nachsandte. „Und eines Tages kehren wir hierher zurück und sehen nach, was aus den armen Mädchen geworden ist — oder?“ „Schlag dir das aus dem Kopf, du Träumer.“ Hasard warf ihm einen scharfen, zurechtweisenden Blick zu. „Die armen Mädchen werden die jungen Männer ihres Stammes heiraten, zu Frauen werden und Kinder haben, kapiert?“ „Ja. Leider.” „Schade drum, wie?“ „Allerdings.“ „Ich bin nur froh, daß keine von ihnen einem Strolch wie dir in die Hände fällt“, sagte der Seewolf, und plötzlich grinste er. * Die „Isabella“ segelte nach Süden und folgte dem Verlauf der Ostküste Indiens. Es regnete die ganze Nacht hindurch, und die improvisierten Schutzdächer aus Persenning blieben über der Back, der Kuhl und dem Achter- und Quarterdeck gespannt. Kurz nach Beginn der Mittelwache erschien der Seewolf auf dem Hauptdeck. Er stieg den Niedergang an der Backbordseite zum Achterdeck hinauf und trat zu Stenmark, der von Pete Ballie das Ruder übernommen hatte, ins Ruderhaus. „Gudur, Sir“, sagte der Schwede. „Wo liegt das eigentlich genau?“ „Mehr als hundert Meilen südlich von Kadiri und ungefähr fünfundsiebzig Meilen nördlich von Madras.“ „Danke, Sir. Dann müßten wir also im Laufe des Vormittags dort eintreffen.“ „Falls der Wind nicht schralt.“ „Ja, natürlich. Und falls wir keinen Sturm auf die Jacke kriegen“, sagte Stenmark. „Darf ich noch was „ fragen?
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„Nur zu. Aber ich weiß schon, du willst wissen, was ich mir davon verspreche, bis nach Gudur vorzustoßen." „Richtig. Ehrlich gesagt, ich finde es schon richtig, daß wir Jenida dort abliefern, aber die Geschichte, die du uns heute abend erzählt hast — nun, die will mir gar nicht gefallen.“ „Du meinst, da ist was faul?“„Das nicht unbedingt“, sagte der Schwede. „Aber nehmen wir mal an, wir stoßen bei unserem Landgang mit den Spaniern zusammen. Klar, wir würden uns wehren. Aber das wäre eine Begegnung, die nicht auf unserem Programm steht, ich meine...“ „Etwas völlig Sinnloses, nicht wahr?“ „Ja.“ „Ich gebe dir in diesem Punkt sogar recht“, sagte der Seewolf. „Aber ich will dir meinen Verdacht verraten. Ich habe keinerlei Beweis für meine Annahme, aber ich bin trotzdem überzeugt davon, daß es so ist.“ Stenmark warf ihm einen verständnislosen Blick zu. „Daß was so ist?“ „Daß Katanimar und Amado Mitre immer noch im Dekkan oberhalb von Gudur festsitzen und sich monatelang nicht von dort weggerührt haben“, sagte der Seewolf. 8. Am nächsten Morgen ließ der Regen unverhofft nach, und er setzte ganz aus, als die „Isabella“ ihrem Ziel schon sehr nahe war. Hasard hatte die Position, an der Gudur sich nach Jenidas Angaben befinden mußte, noch einmal genau überprüft und dann auf einer Karte eingezeichnet, die er jetzt von seinen Söhnen an der Innenseite der Rückwand des Ruderhauses festpinnen ließ. Er gab den Befehl, die Regenschutzdächer zu bergen, und wenig später erkannte er, daß er durchaus in weiser Voraussicht gehandelt hatte: Die Sonne stahl sich mit ersten Strahlen durch die Wolkenbänke und begann, die Decks der „Isabella“ zu trocknen. „Abfallen!“ rief Hasard von der Schmuckbalustrade des Achterdecks aus
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seinen Männern zu. „Wir gehen vor den Wind und nehmen direkten Kurs auf Gudur!“ „Aye, aye, Sir!“ tönte es zurück. Kurz darauf rauschte die „Isabella“ mit prall gebauschtem Vollzeug vor dem immer noch frischen Nordost in südwestlicher Richtung auf das Land zu, und keine halbe Stunde später konnte man mit dem bloßen Auge die Wälder der Koromandelküste erkennen, aus denen die Feuchtigkeit in dichten Nebelschwaden aufstieg. Jenida trat zu Hasard auf das Achterdeck und blickte aufmerksam voraus. „Erkennst du deine Heimat wieder?“ fragte er sie. „Ja“, erwiderte sie, aber in ihren Zügen spiegelte sich keine Freude. „Wir sind an der richtigen Stelle. Es gibt die Mündung eines Flusses, in die du dein Schiff steuern kannst.“ „Wie auf False Divi?“ „Dieser Fluß ist breiter, wir können ihn ein Stück hinauffahren.“ „Wenn die Strömung nicht zu stark ist“, sagte er. „Sir!“ rief plötzlich Bill, der Moses, der seinen altvertrauten Posten im Großmars innehatte. „Da hält ein Boot auf uns zu! Steuerbord voraus!“ Hasard nahm sofort das Spektiv zur Hand, zog es auseinander und spähte hindurch. Als er vom Achterdeck aus nicht genug erkennen konnte, lief er über die Kuhl bis zur Back, erklomm sie und richtete das Rohr erneut nach vorn. Jetzt erkannte er das Boot sehr deutlich. Es hatte einen Mast mit einem Segel rötlichbrauner Farbe und war ungefähr so groß wie die Jollen der „Isabella“. In einem Punkt jedoch hatte Bill sich getäuscht: Das Boot steuerte nicht auf sie zu, sondern lief mit östlichem Kurs über Steuerbordbug liegend auf die offene See hinaus. Jenida war dem Seewolf nachgeeilt. Etwas außer Atem langte sie bei ihm an und fragte: „Was hat dein Ausguck gesagt? Ich habe es nicht verstanden.“
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Hasard spähte immer noch durch die Optik des Rohres und sah jetzt die Gestalt eines einsamen Mannes an Bord des Bootes. Aufrecht stand der Fremde im Heck und hielt die Ruderpinne. Aber noch etwas anderes fiel dem Seewolf auf. Ein Bündel schien auf den Duchten zu liegen, etwas Großes, Längliches, offensichtlich Verpacktes, das sich nicht genauer definieren ließ. Er ließ das Spektiv sinken und reichte es an Jenida weiter. Er erklärte ihr, wie man es handhabte, dann fügte er hinzu: „Wirf einen Blick hindurch, und sieh dir genau das Boot an, das da an uns vorbeisegeln will. Ist das vielleicht jemand aus Gudur?“ Sie befolgte seine Aufforderung und ging sehr geschickt mit dem Rohr um. Plötzlich stieß sie einen leisen, verblüfften Laut aus, nahm den Kieker weg und sah Hasard an. „Das ist Swabi, der Brahmane“, erklärte sie aufgeregt. „Ich habe aber keine Ahnung, was er ...“ Sie wurde durch Bill unterbrochen, der jetzt wieder einen Ruf ausstieß. „Sir! Das Boot führt eine Fracht! Etwas, das längs auf den Duchten liegt! Sieht wie eine Mumie aus!“ „Hölle und Teufel!“ wetterte jetzt auf der Kuhl der Profos los. „Hab ich richtig gehört? Eine Mumie? Hölle, das wird ja immer verzwickter. Was ist denn hier bloß los, was, wie?“ „Die Mumie von Gudur“, sagte Old O’Flynn, der nicht weit von ihm entfernt stand. Er setzte eine düstere Miene auf. „Das hört sich schlimm an. Vielleicht grassiert eine Seuche in diesem Nest, und sie kippen die Toten scharenweise in die See. Wißt ihr noch, wie das damals vor der Küste von China war, als wir dem Schwarzen Tod begegneten?“ „Aufhören!“ fuhr Carberry ihn an. „Ich will’s nicht hören.“ „Es könnte sich auch um die Pocken oder um die Cholera handeln“, meinte Blacky. „Blacky, dir zieh ich gleich die Haut in Streifen ab“, drohte der Narbenmann. „Und weißt du auch, von welchem verfluchten Körperteil?“
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„Ich kann’s mir denken“, sagte Blacky seufzend und schickte einen ergebenen Blick zum Himmel. „Quatsch mit Soße“, sagte jetzt der Kutscher, der vom Schanzkleid aus das Boot beobachtet hatte. „Mit einer Krankheit scheint mir das Ganze nichts zu tun zu haben, eher mit einem religiösen Zeremoniell. Ein Pestopfer balsamiert man doch nicht noch sorgfältig ein, ehe man es der See übergibt. Und bedenkt bitte, daß es bei den Hindus eine ganze Reihe von Bestattungsriten gibt, von denen wir zwar schon etwas vernommen haben, die wir aber nicht kennen.“ Carberry hob abwehrend die Hand. „Schon gut, halt uns jetzt bloß keinen Vortrag. Ich sage nur, dös ist ein schlechter Auftakt für unsere Landung in Gudur. Irgendwie stinkt die Sache.“ „Ja, das ist ein böses Omen“, weissagte auch Old O’Flynn. Jenida hatte den Männern gelauscht, ohne auch nur ein Wort zu verstehen. Jetzt wandte sie sich wieder an den Seewolf und fragte ihn: „Was sagen sie denn? Sie scheinen sehr besorgt zu sein.“ „An Bord des Bootes befindet sich eine Mumie“, sagte der Seewolf so ruhig wie möglich. „Weißt du, was das zu bedeuten hat?“ Sie nickte. „In unserem Dorf reiben wir die Toten mit Fetten und Ölen ein und umwickeln ihre Körper mit Streifen von Seidentüchern, ehe wir sie auf die Reise ins Nirwana schicken.“ „Um sie für die Ewigkeit zu erhalten?“ „Nein. Damit sie schneller verbrennen:“ „Das hört sich sehr Makaber an.“ „Die Mumie ist in Bambusschilf eingewickelt, das kann ich jetzt genau sehen!“ rief Bill aus dem Großmars. „Makaber?“ wiederholte Jenida. „Dieses Wort kenne ich nicht. Aber bei uns werden alle Toten verbrannt. Swabi, der Brahmane, segelt mit dem Boot ein Stück hinaus, dann zündet er es an und kehrt schwimmend ans Ufer zurück. Ehe das Meereswasser das Feuer zum Erlöschen bringt und bevor das Boot sinkt, ist der Leib des Toten vernichtet.“
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„Ja. So sollten übrigens Narayan, Kankar und Chakra sterben.“ „Sie haben es mir erzählt.“ „Wer, meinst du, könnte der Tote sein?“ Ihre Züge verhärteten sich, und um ihre Mundwinkel bildeten sich kJ eine Falten. „Ich hoffe, es ist Katanimar. Wenn ich weiß, daß er tot ist, finde ich vielleicht endlich Ruhe.“ „Bevor er ins Nirwana oder Paradies hinüberwechselt, möchte ich, daß du ihn identifizierst“, sagte Hasard. Er drehte sich um und gab seinen Männern ein Zeichen, wieder ein wenig anzuluven, auf südlichen Kurs zu gehen und dem Boot den Weg auf die offene See hinaus abzuschneiden. * Swabi, der Brahmane, blickte zu dem großen dreimastigen Schiff, das sich ihm auf geradezu bedrohliche Weise näherte. Seine Züge blieben entspannt, und er gab durch keine Miene oder Geste zu verstehen, daß er Angst hatte. Ruhig laschte er die Ruderpinne fest. Dann bückte er sich und schürte mit einem Stöckchen die Holzkohlenglut auf, die in einem kleinen Tongefäß zwischen den Duchten glomm. Er blickte zu der Mumie und dachte: Sie sollen dich nicht mehr behelligen, auch du hast das Recht, ungehindert dorthin zu fahren, wohin wir alle eines Tages müssen. Ehe sie heran sind, geht das Boot in Flammen auf, und ich springe ins Wasser und kehre zum Land zurück. Flammen züngelten aus dem Tongefäß auf. Er wollte es gerade umstoßen, da ertönte von dem Schiff her eine weibliche Stimme: „Swabi, warte! Tu es nicht! Laß mit dir reden, ich bitte dich darum!“ Er richtete sich langsam auf und hob verwundert die Augenbrauen. „Jenida“, murmelte er. „Nun bist du also doch nach Gudur zurückgekehrt. Aber du wirst enttäuscht sein, bitter enttäuscht. Es gibt keine Tränen der Freude für dich, kein Wiedersehen mit alten Freunden, nur Swabi ist da, um dich zu umarmen, aber er kann nichts Gutes berichten.“
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Als er ihre Gestalt hinter der Balustrade auf dem Torkastell des Schiffes erblickte, winkte er ihr zu und rief: „Jenida, kehre um, und segle fort! Wer immer bei dir ist, sage ihm, daß Gudur kein guter Platz für ihn ist!“ „Wer ist der Tote?“ schrie sie. „Warum willst du es wissen?“ fragte er zurück. „Ich habe ein Anrecht darauf, es zu erfahren!“ Swabi zuckte mit den Schultern und wartete ab, bis das Schiff die Segel aufgegeit und beigedreht hatte. Dann manövrierte er vorsichtig auf die hohe Bordwand zu und ging längsseits. Eine Jakobsleiter war bereits ausgebracht. Ich will euer Feind nicht sein, dachte er. * Außer Jenida nahm Hasard nur den Kutscher mit, als er an der Jakobsleiter in das seltsame Boot abenterte. Der Brahmane hatte das rötlichbraune Segel aufgegeit und die Rah abgefiert. Er stand zwischen den Duchten und erwartete sie. „Das sind meine Freunde“, erklärte Jenida, als sie Swabi kurz umarmt hatte. „Sie heißen Philip Hasard Killigrew und der Kutscher.“ „Ein Kutscher auf einem Segelschiff?“ fragte Swabi verwundert. Jenida übersetzte dies ins Spanische, und der Seewolf sagte lächelnd: „Seinen wahren Namen kennt niemand, aber wir nennen ihn so, weil er früher der Kutscher bei einem der besten Ärzte von ganz England war.“ „Sir, Hasard“, murmelte der Kutscher. „Wenn Doc Freemont das jetzt hören könnte, würde er vor Stolz erröten.“ Jenida übertrug in ihre Sprache, was Hasard gesagt hatte. Der Seewolf betrachtete unterdessen den Brahmanen. Swabi trug ein weißes Gewand, das ihm bis auf die Füße reichte. Seine Gesichtshaut war wettergegerbt, aber seine Augen funkelten wie die eines Zwanzigjährigen. In der Tat ließ sich sein Alter nur schätzen. Er konnte fünfzig, aber
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auch sechzig oder gar siebzig Jahre alt sein. Swabi verbeugte sich vor den beiden weißen Männern und sagte: „Ich achte und verehre jeden Menschen, der in friedlicher Absicht nach Gudur kommt.“ „Wir bitten dich, die Schilfhülle für einen Augenblick zu öffnen“, forderte Hasard ihn auf, nachdem er die Übersetzung seiner Worte vernommen hatte. „Das ist gegen die Gebote der göttlichen Allmacht“, sagte Swabi. „Gütiger Swabi“, ergriff Jenida das Wort. „Du mußt uns diesen Gefallen tun. Mir zuliebe. Du weißt doch, daß ich nicht schuldig bin an dem, was in der Nacht des Grauens in Gudur geschehen ist, nicht wahr?“ „Ich habe die Wahrheit in der Milch einer heiligen Kuh gelesen“, sagte der Brahmane feierlich. „Aber da war es schon zu spät, du warst fort.“ "Erfülle meine Bitte, Swabi.“ „Es ist kein erfreulicher Anblick.“ „Ist der Tote - Katanimar?“ „Nein“, sagte Swabi, dann bückte er sich und öffnete die Matten aus Bambusschilf, die den präparierten Leichnam umschlossen. Jenida preßte in einer unbewußten Geste die Faust gegen den Mund, als der Körper, der Kopf und das bleiche Gesicht des Toten erschienen. „Das ist ein Spanier“, sagte der Seewolf. „Dafür würde ich notfalls meine Hand in ein offenes Feuer legen. Ist es so, Jenida?“ „Ja. Es ist Amado Mitre.“ Der Kutscher beugte sich über die Mumie. Die feinen Seidentücher lagen so eng an, daß jede Einzelheit in der Physiognomie zu erkennen war, und doch löste er sie mit vorsichtigen Griffen und untersuchte den Kopf eingehend. Der Brahmane wollte protestieren; doch Jenida hielt ihn zurück und sprach leise und besänftigend auf ihn ein. Der Kutscher blickte zu seinem Kapitän und sagte: „Dieser Mann wurde erschlagen. Irgendjemand griff ihn rücklings an und hieb nur einmal zu, mit einem Stein oder einem anderen harten,
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spitzen Gegenstand. Der Schlag war tödlich. Sieh dir das Loch an, das der Mann im Hinterkopf hat.“ Der Seewolf tat es, richtete sich dann wieder auf und setzte Jenida und dem Brahmanen den Sachverhalt auseinander, während der Kutscher den toten Spanier wieder so herrichtete, wie er vorher gewesen war, und sich anschließend die Hände mit Seewasser wusch. Swabi sagte: „Ich weiß, daß er umgebracht wurde. Ich fand ihn oben im Dschungel des Dekkans auf der Astgabel eines Sandelholzbaumes. Er war dorthin gebettet worden, damit er vor den wilden Tieren sicher war, und man hatte seinen ganzen Körper mit Öl und Talg eingerieben, damit er nicht verwesen konnte.“ „Eine unheimliche Geschichte“, meinte der Seewolf. „Katanimar hat entweder einen Hang zum Schaurigen und Makaberen oder aber er ist völlig durchgedreht.“ Er blickte zu Jenida. „Frag den Brahmanen, wo Katanimar seiner Meinung nach steckt.“ Jenida betätigte sich wieder als Dolmetscherin, und Swabi wies mit ausdrucksloser Miene zu den Ghats, den Terrassen des Dekkans. „Hab ich mir doch gedacht“, sagte der Seewolf. „Er irrt dort oben im Dschungel herum, weiß der Henker, warum. Vielleicht hat er jegliche Orientierung verloren.“ „Und warum hat er den Spanier getötet?“ „Es könnte einen Streit zwischen ihnen gegeben haben, wer weiß?“ „Oder der Inder hat nicht mehr mit ihm teilen wollen“, sagte der Kutscher. „Oder Mitre wollte sich davonstehlen, gut möglich“, meinte Hasard. „Er erschlug ihn, balsamierte ihn ein und legte die Leiche auf der Astgabel des Baumes ab.“ „Er ist nicht mehr bei Verstand“, murmelte der Kutscher. „Willst du ihn denn wirklich noch suchen?“ „Ja. Wir gehen an Land. Ich nehme zu diesem Ausflug in den Dekkan aber nur Freiwillige mit.“ Hasard spähte aus halb zusammengekniffenen Augen zu den dicht bewaldeten Höhenzügen hinüber, aus
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denen der Wasserdunst immer noch wie Dampf aufstieg. „Der erste Freiwillige hat sich schon gemeldet“, sagte der Kutscher trocken. „Aber nun mal ehrlich. Du wärst bestimmt nicht abgeneigt, auch die kleine Schatztruhe zu finden, die Mitre dem Kommandanten des Forts von Madras abgenommen hatte, oder?“ „Ich wäre ein verdammter Lügner, wenn ich das Gegenteil behaupten würde“, entgegnete der Seewolf. Der Brahmane wies auf den Toten. „Er war zu seinen Lebzeiten ein Lump“, sagte er. „Aber jetzt hat seine Seele das Verlangen, die tote Hülle zu verlassen, und dies kann nur durch die Verbrennung geschehen.“ Hasard nickte, als Jenida ihm die Worte des Alten übersetzte. „Er soll das Boot ruhig anzünden. Wir lassen es treiben, und Swabi kann mit uns an Land gehen. Sag ihm, er soll mit uns an Bord der ‚Isabella’ aufentern.“ Der Brahmane bückte sich und stocherte wieder mit seinem Stöckchen in der Holzkohlenglut des irdenen Gefäßes herum. Bald schossen die Flammen hoch, und diesmal stieß er das Behältnis wirklich um, ehe er hinter Hasard, dem Kutscher und Jenida an der Jakobsleiter hochkletterte. 9. Das Boot trieb lodernd nach Süden davon, und die meisten Männer der „Isabella“ bekreuzigten sich r sch, als sie ihm einen letzten Blick nachwarfen. „Der Herr sei seiner armen Seele gnädig“, sagte der Kutscher. „Viel hat er wohl wirklich nicht getaugt, aber ich wünsche ihm, daß er jetzt doch endlich seine Ruhe gefunden hat.“ „Kutscher“, brummte der Profos hinter seinem Rücken. „Ich hab’s ja schon immer gesagt, du hättest einen feinen Bordkaplan abgegeben.“ „Ja, schon gut“, sagte der Kutscher. Er wandte sich ab und schritt zur Kombüse davon. Seine Gedanken beschäftigten sich mit Katanimar und mit dem, was dem
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Mann oben in den Bergen wohl zugestoßen sein mochte. Mit dem Großsegel, der Fock und der Blinde lag die „Isabella“ jetzt wieder vor dem Wind und lief auf die Küste zu. Jenida stand neben Hasard und dem Brahmanen auf der Back und gab sich alle erdenkliche Mühe, das Schiff und seine Mannschaft durch ihre Hinweise sicher in die Flußmündung zu lotsen. Bald war der Fluß erreicht, und Hasard ließ von nun an pausenlos die Wassertiefe ausloten. Es stellte sich heraus, daß der Strom, in den der große Regen das Gewässer verwandelt hatte, tatsächlich bis auf gut zwei Meilen ins Landesinnere hinein schiffbar war, und der Schub des Windes reichte aus, die „Isabella“ bis zu diesem Punkt zu befördern, an dem sie schließlich ankerte. Die Jollen wurden auf Hasards Geheiß abgefiert, und dann suchte er die Männer aus, die ihn bei dem Landunternehmen begleiten sollten. Freiwillig hatten sie sich alle gemeldet, deshalb mußte er auch dieses Mal wählen. Schließlich waren es außer Swabi und Jenida Ferris Tucker, Big Old Shane, Carberry, Dan O’Flynn, Blacky, der Kutscher, Luke Morgan, Batuti und Pete Ballie, die mit ihm von Bord gingen, in die Jollen stiegen und an Land pullten. Die Zwillinge hatten wieder einmal darum gebeten, mit in den Trupp aufgenommen zu werden, aber Hasard hatte es nicht zugelassen, weil er befürchten mußte, an Land mit Spaniern zusammenzustoßen. Madras war nicht mehr fern, und es stand zu befürchten, daß die Spanier noch in den Bergen nach Katanimar und Amado Mitre suchten. Ben Brighton übernahm das Kommando an Bord der „Isabella“. Er ließ Klarschiff zum Gefecht machen und schärfte seiner kleinen Crew ein, die Augen nach allen Seiten offenzuhalten. Swabi und Jenida führten den zehnköpfigen Trupp durch den dampfenden, stickigen Regenwald, durch Morast und Hitze hinauf auf die erste Terrassenstufe. Hier gab es einen
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Kahlschlag, von dem aus man die „Isabella“ in der Flußmündung ankern sehen konnte. Hier, auf dem Ghat, hatte einst das Dorf Gudur gestanden, aber der Anblick, der sich jetzt bot, wär deprimierend. Klägliche Steinhaufen, rußgeschwärzt und inzwischen schon fast vom Gras und von den Sträuchern überwuchert, zeugten davon, daß hier einmal mehr als zwanzig Hütten gestanden hatten. Jetzt gab es nur noch eine niedrige Hütte aus Holz und Bambusschilf, die dem Brahmanen Unterschlupf und Schutz vor schlechtem Wetter bot. Swabi blieb in der Mitte des ehemaligen Dorfplatzes stehen und breitete die Arme aus. „Die Männer und Frauen von Gudur kehrten nach dem Überfall der Spanier zurück“, sagte er. „Aber sie rafften nur ihre wenigen Habseligkeiten zusammen, die ihnen geblieben waren. Dann zogen sie fort, um anderswo eine neue Heimat zu finden. Der Ort sei verflucht, sagten, sie, und ich, der ich mich ihnen nicht anschloß, konnte ihnen nicht widersprechen. Die Götter schienen sich tatsächlich gegen uns gewandt zu haben.“ „Warum gingst du nicht mit deinen Leuten?“ fragte Hasard. Swabi zeigte den Anflug eines Lächelns. „Ich hielt es für richtig, mich in die Einsamkeit und in die Meditation zurückzuziehen. Vielleicht, so dachte ich, kannst du Brahma, Krishna, Vishnu und die anderen Gottheiten dadurch wieder sanftmütig stimmen.“ „Bliebst du nicht auch wegen Katanimar und Jenida?“ fragte der Seewolf. „Das auch. Ich ging immer wieder in die Berge hinauf. Ich traf mit spanischen Reitern zusammen, aber sie taten mir nichts an, weil sie eine gewisse Achtung vor den Brahmanen haben. Ich fand weder Jenida noch ihren Mann noch den unglücklichen Amado Mitre, der das Unheil in unser Dorf gebracht hatte.“ Hasard wandte sich Jenida zu. „Du hast wirklich sehr viel Glück gehabt, daß du
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nicht wieder in die Hände der Spanier fielst, als du nach deinem Mann suchtest.“ „Das habe ich wohl“, sagte sie leise. „Aber es wäre besser gewesen, wenn sie mich in jener Nacht getötet hätten.“ „Sag so etwas nicht.“ „Glaubst du, daß mein Leben wieder einen Sinn haben kann?“ „Ja.“ „Dann habe ich Hoffnung“, sagte sie, und die Härte wich ein wenig aus ihrem Blick und aus ihren Zügen. „Was du sagst, ist mir mehr wert als alles andere.“ „Wann fandest du den Toten?“ wollHasard jetzt von dem Brahmanen wissen. „Bevor der Regen begann“, antwortete dieser. „Und du brachtest ihn hierher?“ „Ja.“ „Eine erstaunliche Leistung für einen Mann deines Alters“, sagte Hasard. Swabi hat mehr Kraft, als man vermutet“, erklärte Jenida. „Und die Götter haben ihm bei seinem Werk geholfen.“ „Ich sammelte die letzten Seidentücher, die in Gudur liegengeblieben waren“, fuhr der Brahmane fort, „und wickelte den Toten darin ein, wie es die Gebote verlangen. Ich wartete das Ende des Regens ab und hielt bei ihm Wache, hier, in meiner Hütte.“ „Das muß alles andere als erfreulich gewesen sein“, meinte Carberry zu Big Old Shane. „Teufel, mir wird ganz anders, wenn ich daran denke, daß ich tagelang neben einem mausetoten Don hocken soll, der mich aus seinen hohlen Augen anglotzt.“ „Ruhe!“ zischte Ferris Tucker. „Du hast mir gar nicht den Mund zu verbieten, Mister Tucker“, sagte der Profos drohend. „Weißt du das?“ „Unterbrecht den Brahmanen nicht“, sagte der Seewolf. „Mich interessiert sein vollständiger Bericht.“ Carberry biß sich auf die Unterlippe. Ferris grinste und verfolgte vergnügt, wie der Narbenmann bedenklich rot im Gesicht anlief. „Heute früh schaffte ich die Mumie zu dem Boot, das mir geblieben war“, sagte Swabi mit würdevoller Miene. „Ich bereitete alles für die Bestattung auf See vor, wartete ab,
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bis die Sonne mich mit ihren Strahlen grüßte, und segelte dann hinaus.“ „Gut.“ Hasard blickte zu dem Hang hinüber, der hinter dem Dorf aufstieg. „Ich möchte dich bitten, uns bis zu dem Baum zu führen, auf dem du den Toten bei einem deiner Erkundungsgänge entdeckt hast, Swabi.“ Der Brahmane zog die Augenbrauen zusammen und hob mahnend den rechten Zeigefinger. „Das ist jetzt, nach dem großen Regen, besonders gefährlich.“ „Wegen der Spanier?“ fragte Pete Ballie. „Unsinn, Pete“, sagte Dan O’Flynn. „Denk doch mal richtig nach. Merkst du nicht, wie weich der Boden unter unseren Füßen ist?“ „Nein”, sagte Pete ärgerlich. „Ich laufe ja wie ein blindes Walroß durch die Gegend.“ „Hast du schon mal ein Walroß laufen sehen?“ fragte der Profos Big Old Shane, froh darüber, daß auch mal jemand anders eine unpassende Bemerkung fallenließ. Swabi sagte: „Ich hatte mich schon sehr weit vorgewagt, als ich den Leichnam auf dem Sandelholzbaum entdeckte, weiter, als ich vorgehabt hatte, denn oben auf den höchsten Ghats hausen die bösen Dämonen. Jetzt ist es ein Wagnis, bis dorthin aufzusteigen, denn die Erde rutscht von den Hängen und bildet tückische Sümpfe,: in denen man einsinken kann. In den großen Pfützen und in den Teichen auf den Terrassen lauern Schlangen und Krokodile.“ „Trotzdem“, sagte der Seewolf entschlossen. „Wir brechen auf. Ich will Katanimar finden. Swabi, auch du willst wissen, was aus ihm geworden ist, nicht wahr?“ „Ja.“ „Du kannst es nur mit unserer Hilfe.“ „Ich werde euch führen“, sagte der Brahmane. * Je höher sie kletterten und je später es wurde, desto mehr nahmen die Hitze und die Feuchtigkeit zu. Hasard schätzte, daß der Platz, den sie um die Mittagsstunde
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erreichten, etwa tausend Fuß über dem Meeresspiegel lag. Schwitzend und über und über mit Schlamm beschmutzt blieben er und seine Männer unter dem Sandelholzbaum stehen, den Swabi ihnen durch eine Geste näher bezeichnete. Als sie sich umdrehten, stellten sie fest, dass man von hier oben aus einen herrlichen Ausblick auf die Koromandelküste hatte. Tief unten, klein wie ein Kinderspielzeug, lag unweit der Mündung des Flusses die „Isabella“. Hasard wischte sich den Schweiß vom Gesicht, holte ein paarmal tief Luft, sah sich nach allen Seiten um und ließ seinen Blick über die riesigen Bäume mit dem bizarren Geäst und den ausladenden Kronen und das Buschwerk des Unterholzes wandern. Erst jetzt wurde ihm bewußt, wie paradiesisch schön diese Umgebung im Sonnenlicht anmutete. Die Ghats wiesen eine überaus üppige Vegetation auf mit stark duftenden Blumen und Gewürzpflanzen, mit Kaffeeund Teesträuchern, mit Reispflanzen, mit Kautschuk- und Sandelholzbäumen, aber auch mit Kokos-, Öl- und Dattelpalmen. Hinter jeder Terrasse strebte ein Hang auf, der noch dichter und nahezu undurchdringlich bewachsen war, und aus diesen Buschgürteln tönte .das Konzert der Urwaldvögel. Ein Paradies. das den Menschen mit seinem betörenden Duft zu ersticken drohte, eine grüne Oase, in deren morastigen Tümpeln hundert Krankheiten lauerten, eine Hölle, die mannigfache Gefahren bereithielt. Sehr schnell kehrte der Geist von seinen Höhenflügen in die Wirklichkeit zurück. Hasard trat unter den großen Sandelholzbaum und blickte zu der Astgabel hinauf, die Swabi ihm wies. Schließlich kletterte er sogar hinauf und untersuchte das Geäst. Er forschte nach Spuren, die ihm etwas über Katanimars Verbleib verrieten, fand aber keine. Er kehrte wieder auf den weichen Waldboden zurück und sagte: „Wir bilden jetzt vier Dreiergruppen und schwärmen
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aus, um nach einer Fährte oder sonstigen Hinweisen auf Katanimar zu suchen. Swabi und Jenida bleiben hei mir. Ferris, Shane und Ed, ihr bildet die nächste Gruppe. Dann weiter: Dan, Blacky und der Kutscher, und die letzte Abteilung besteht aus Luke, Batuti und Pete.“ „Aye, Sir“, murmelten die Männer. Sehr wohl war ihnen bei dem Gedanken, noch höher in das Bergland aufsteigen zu müssen, zwar nicht, aber sie hatten sich nun mal freiwillig zu dem Unternehmen gemeldet, und so gab es kein Zurück mehr, und man durfte sich keine Blöße geben. Hasard bewegte sich mit seinen beiden Begleitern in nördlicher Richtung, Gruppe zwei schickte er nach Nordwesten, Gruppe drei nach Westen und Gruppe vier nach Südwesten. Aus Süden waren sie gekommen, als sie die Ghats erklommen hatten, und vorläufig schloß der Seewolf aus, daß sich der Gesuchte zwischen ihnen und der Stelle befand, an der einmal das Dorf Gudur gestanden hatte. Tief sanken Hasard, Swabi und Jenida im Schlamm ein, mühsam war ihr Weg den nächsten Hang hinauf. Wieder trat ihnen der Schweiß aus allen Poren, und ihr Atem ging schwerer und schwerer. Sie strebten in eine Region hinauf, in der selbst Swabi noch nie gewesen war, es war die Region der „bösen Dämonen“, wie er immer wieder versicherte. Hasard dachte nüchterner. Er rechnete noch eine Zeitlang damit, spanischen Posten zu begegnen, aber als das auch nach dem Ablauf der nächsten Stunde nicht der Fall war, schloß er diese Möglichkeit aus. Die Spanier schienen es aufgegeben zu haben, hier nach dem Inder und dem Spanier zu fahnden. Wenn man es recht bedachte, gehörte schon mehr als Ausdauer dazu, fünf Monate lang im Dekkan nach zwei Schatzräubern zu suchen. Man mußte geradezu verbohrt sein in die Hoffnung, sie doch noch irgendwo aufzustöbern, aber so weit schien bei dem spanischen Kommandanten aus Madras die Liebe zu seinem verschwundenen Gold und Silber doch nicht zu gehen.
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Also wahrscheinlich kein Kampf mit spanischen Soldaten, doch das hieß nicht, daß man unbesorgt voranschreiten durfte. Nach wie vor mußte jeder Mann befürchten, von wilden Tieren angegriffen oder von dem Giftbiß einer Schlange getötet zu werden, in einem Sumpf zu versinken, oder aus dem Hinterhalt von dem irren Katanimar angefallen zu werden, der versuchen würde, ihn mit einem Stein den Hinterkopf zu zerschmettern. Immer wieder blickte sich Hasard nach allen Seiten um. Wo steckte Katanimar? Beobachtete er sie schon? Hatte er sie die ganze Zeit über verfolgt? Möglich war es. Wenn sein Geist auch umnachtet war, so brauchte er seine urwüchsigen Instinkte doch nicht verloren zu haben. Hasard fragte sich, wie er jetzt wohl aussehen mochte. Jenida hatte ihn als gutaussehenden jungen Mann beschrieben. In fünf Monaten aber mochte Katanimar zu einem wilden Waldmenschen geworden seih, zerlumpt, schmutzig und mit einem langen Bart, mehr Tier als Mann. Wie auch immer die Begleitumstände sein mochten, was auch immer Katanimar im Regenwald festhielt, für Hasard stand eins fest: Swabi, Jenida, er und seine Männer näherten sich der Lösung eines Dramas, das sich hier oben abgespielt hatte und nun seiner Vollendung entgegenging. Jenida, die neben ihm ging, hielt plötzlich seinen Arm fest. „Ich habe Angst“; raunte sie ihm zu. „Laß uns umkehren.“ Er blieb stehen und sah sie fest an. „Du hast doch Vertrauen in mich, nicht wahr, Jenida?“ „Alles Vertrauen dieser Welt.“ „Dann laß uns bitte jetzt nicht umkehren. Laß uns wenigstens den Gipfel dieses Berges erklettern, er ist nicht mehr fern.“ „Ja“, sagte sie. „Gut. Ich werde auch weiterhin tapfer sein.“ Sie schritten weiter, und Swabi, der Brahmane, folgte ihnen mit sorgenvoller Miene. 10.
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Auf der Kuppe des Berges wurde der Boden etwas fester, aber sie hatten mit Schwärmen von Moskitos und anderen Insekten zu tun, die sie umschwirrten. Die Plagegeister setzten ihnen so lange zu, bis Swabi schließlich stehenblieb, die Blätter eines Strauches abpflückte und Hasard und Jenida bedeutete, sie zwischen den Fingern zu zerpressen und sich mit dem ausströmenden Saft das Gesicht und den Oberkörper einzureiben. Der Pflanzensaft roch durchaus nicht unangenehm, aber er schien auf die Insekten wie Gift zu wirken. Ganz plötzlich zogen sie sich zurück. Der Seewolf steckte sich einige dieser Blätter zu und beschloß, sie später vom Kutscher noch eingehend untersuchen zu lassen wie die Blätter des TanjogheStrauches, die Shandra ihm überreicht hatte. Wir legen uns noch eine richtige Kräutersammlung zu, dachte er nicht ohne Ironie, selbst wenn wir Katanimar nicht finden, haben wir wenigstens ein neues Mittel gegen die Mückenplage. Schweigend schritten sie weiter voran und orientierten sich am Stand der Sonne, die von einem nahezu wolkenlosen, tiefblauen Himmel schien. Einmal kletterte Hasard auf einen Baum und spähte nach Norden. Er konnte jetzt ein weiteres, geschwungenes Tal sehen, an dessen Hänge sich der grüne Waldwuchs wie ein riesiger Moosteppich schmiegte. Nur an einer Stelle wurde der Regenwald durch einen braunen Fleck unterbrochen. Hasard zog sein Spektiv unter dem Hemd hervor, warf einen Blick hindurch und erkannte, um was es sich bei der Erscheinung handelte. Er steckte das Rohr wieder weg, stieg von dem Baum zu Boden und sagte zu Swabi und Jenida, die ihn erwartungsvoll anblickten: „Es hat einen Erdrutsch gegeben. Ich möchte den Platz, an dem offenbar ein ganzer Hang weggesackt ist, genauer untersuchen. Keine Angst, wir passen schon auf. Notfalls seilen wir uns an.“ Er klopfte mit der Hand gegen die Taurolle, die er von der „Isabella“ mitgenommen und an seinem Gürtel festgebunden hatte.
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Sie brauchten eine halbe Stunde, um eine kleine Lichtung zu erreichen, deren Boden lehmig und klebrig, aber doch relativ fest war. Hasard erkannte, daß es sich um eine andere Art von Erde handelte. Die Seite des Berges, die nach Gudur und zum Meer wies, war ganz von schwarzem, sumpfähnlichem Boden bedeckt, der wie Schlick an den Füßen zerrte. Auf dem Lehm jedoch konnte man voranschreiten, ohne einzusinken. Hasard blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. Er bückte sich, fuhr mit den Fingern über den Untergrund und stieß einen leisen Pfiff aus. Mit einem Ruck drehte er sich zu Swabi und Jenida um. „Spuren“, sagte er. „Die Abdrücke zweier menschlicher Füße, der Größe nach die eines Mannes. Auch der anhaltende Regen hat sie nicht fortwaschen können - oder sie sind noch ganz frisch.“ „Brahma steh uns bei“, flüsterte Swabi. „Solltest du nicht lieber deine Freunde rufen?“ fragte Jenida. Ihre Stimme hatte ein wenig zu zittern begonnen. Hasard schüttelte den Kopf. „Wenn dies tatsächlich Katanimars Fährte ist und er irgendwo in der Nähe steckt, dann verjage ich ihn nur, wenn ich einen Schuß abgebe. Und ein Schuß ist das einzige Zeichen, durch das ich meine Leute herbeiholen kann.“ Er stand auf, hielt seinen Blick auf den Boden gerichtet und folgte dem Verlauf der Spur. Sie führte ihn wieder in den Dschungel, und hier verlor er sie fast aus den Augen. Aber dann, als der Saum des Waldes unversehens aufbrach und den Blick auf das Tal öffnete, sah er die Abdrücke wieder. Sie folgten dem Verlauf des Waldrades in nordwestlicher Richtung. Einige Fußmarken waren nur halb zu sehen, ihre zweite Hälfte war mit der wegsinkenden Erde weggebrochen. Hasard, Jenida und der Brahmane standen unmittelbar am Rand des scharfen Abbruchs. Tonnenweise war die braune, lehmige Erde hier weggesunken und hatte Bäume und Büsche mit in die Tiefe genommen:
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Hasard nahm die Taurolle vom Gurt, rollte sie auseinander und verband sich mit Jenida und dem Brahmanen. Dann ging er weiter, immer an der Kante des Erdrutsches und hart am Saum des Dschungels entlang. Wieder war die Fährte deutlich zu sehen. Hasard duckte sich ein wenig, nahm die doppelläufige Reiterpistole zur Hand und hielt wieder nach allen Seiten Ausschau. Jenida stieß plötzlich einen entsetzten Laut aus. Hasard wandte den Kopf und sah, wie sie abglitt: Sie drohte in die Tiefe zu stürzen, aber Swabi reagierte gedankenschnell. Er warf sich nach links und hielt sich am Stamm eines Baumes fest. Hasard folgte sofort seinem Beispiel, und so hing Jenida mit ihren Hüften in dem Tau fest, das sich straffte, konnte mit beiden Händen zupacken und wieder auf den schmalen Absatz zurückklettern. „Hasard“, sagte sie, als sie sich halbwegs wieder beruhigt hatte. „Es tut mir leid.“ „Das hätte auch mir oder dem Brahmanen passieren können“, meinte er lächelnd. „Deswegen habe ich uns ja aneinandergeknüpft.“ Sie strebten weiter voran. Die Spur endete plötzlich ohne erkennbaren Grund. Hasard blieb stehen, schaute sich um und entdeckte im Dickicht zwei in den Boden gerammte Pflöcke, zwischen denen die Reste einer aus Schilf und Reisig geflochtenen Matte hingen. Auch die Fragmente eines kleinen Schutzdaches über den Pflöcken waren zu erkennen. Es war, als habe eine Gigantenhand mit einem Ruck das weggerissen, was einmal eine selbstgebaute, primitive Unterkunft gewesen sein mußte. Jenida und der Brahmane standen neben dem Seewolf, und er brauchte ihnen nichts zu erklären. „Hier hat er also wie ein wildes Tier gelebt“, sagte sie. „Als der Regen aufhörte, unternahm er wohl einen Erkundungsgang, so stelle ich es mir jedenfalls vor. Er kehrte zurück und langte hier bei seinem Lager an —und dann setzte der Erdrutsch ein.“
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„Ja. Es war ein Fehler von ihm, die Hütte an den Hang zu bauen“, sagte der Seewolf. Er hatte wieder sein Spektiv hervorgeholt, zog es auseinander, drehte sich um und blickte zu den Erdmassen hinunter, die in Bewegung geraten waren, als der Regen sie gründlich durchweicht hatte. Seine Gestalt straffte sich mit einemmal. „Ich weiß jetzt, wo Katanimar ist“, sagte er leise. „Wo?“ fragte Jenida, obwohl sie es schon ahnte. „Es ist besser, wenn du nicht hinsiehst.“ „Doch! Ich will ihn sehen!“ stieß sie hervor. „Bitte, gib mir das Rohr!“ Er überlegte kurz, dann reichte er ihr doch das Spektiv, hob die Doppelläufige und gab einen Schuß ab, dessen Echo sich an den Hängen des Tales brach und über die Kuppe des Berges hinweg zu den Ghats hinunterrollte. Im Krachen des Schusses sah Jenida durch das Fernrohr die menschliche Hand, die aus den losen Erdmassen aufragte — etwa hundert Fuß unterhalb des Platzes, an dem sie standen. Die Finger schienen verkrampft nach etwas greifen zu wollen, nach einem Halt, der die Erlösung vor dem schrecklichen Ende brachte. Aber diesen Halt hatte es nicht mehr gegeben, nicht für Katanimar, den der Gedanke an den großen Reichtum fasziniert und schließlich um den Verstand gebracht hatte. * Es dauerte gut eine Stunde, bis sie alle zur Stelle waren, aber schließlich versammelten sich Ferris, Shane, Carberry, Dan, Blacky, der Kutscher, Luke, Batuti und Pete neben ihrem Kapitän und den beiden Indern bei den Resten von Katanimars Hütte. Hasard leitete nun die Bergungsaktion ein. Sie belegten die mitgebrachten Taue um die Stämme dicker Bäume, dann seilten sie sich ab: zuerst der Seewolf, dann Ferris Tucker und Big Old Shane, die Werkzeug dabeihatten, schließlich auch der Kutscher.
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Die anderen sicherten oben die Taue und hielten sich für den Fall bereit, daß das Erdreich erneut wegsackte. Dann würden sie ihre Kameraden so schnell wie möglich zurück nach oben ziehen. Ganz gegen Hasards Erwartungen verlief das Unternehmen jedoch ohne Zwischenfälle. Sie langten bei der Hand an und begannen zu graben. Bald hatten sie die Gestalt eines mageren Mannes mit langen Haaren und dichtem, dunklem Bart freigelegt. Seine Augen starrten sie blicklos an. Der Kutscher drückte ihm die Lider zu. In seiner linken Hand, die mit unter dem Erdreich begraben worden war, hielt der Tote die kleine Truhe —so, als ob sie ein magisches Mittel gewesen wäre, das ihn vor allem Unheil bewahrte. Sie hatte ihm aber nur Unglück gebracht. „Seht euch seinen linken Arm an“, sagte der Kutscher. „Da ist eine lange Narbe“, stellte Ferris Tucker erstaunt fest. „Die sieht ja furchtbar aus!“ Hasard sah seinen Feldscher fragend an. Der Kutscher untersuchte die Narbe sorgfältig, dann richtete er sich wieder auf und sagte: „Der Mann hat an sich selbst vollzogen, was ich eine chirurgische Roßkur nennen würde. Meiner Meinung nach ist er von einer giftigen Schlange gebissen worden, während er und Mitre sich hier oben vor den Verfolgern versteckten. Da hat er sich mit einem Messer selbst den Arm geöffnet und das faulende Gewebe herausgeschnitten. Daß er dabei nicht gestorben ist, wegen des Blutverlustes, meine ich, ist ein Wunder.“ „Etwas von dem Gift gelangte aber doch bis in sein Hirn“, ergänzte der Seewolf. „So verlor er den Verstand und verrannte sich in die Idee, daß sie noch lange hierbleiben müßten, ehe sie es wirklich wagen durften, nach Kakinada zu gehen. Amado Mitre wollte sich mit dem Kistchen davonstehlen, aber Katanimar überraschte und erschlug ihn. Dann, in einer Art von wahnwitziger Gewissensnot, salbte er den Leichnam ein und zerrte ihn auf die Astgabel des Sandelholzbaumes. So
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ungefähr muß es zugegangen sein. Wie genau, werden wir nie erfahren.“ * Sie schafften den Leichnam zu den Überresten der kleinen Hütte, und hier stellte Jenida fest, daß es wirklich Katanimar war. Sie weinte nicht. Sie wandte sich nur an Swabi, den Brahmanen, und sagte: „Wir werden auch ihn bestatten, nicht wahr, Swabi?“ „Ja“, erwiderte er. „Und was wirst du dann tun?“ „Kann ich vorläufig bei dir bleiben?“ „In Gudur?“ „Ja. Ich will vor meinem seelischen Kummer nicht davonlaufen. In Gudur bin ich geboren, in Gudur will ich meine Vergangenheit bewältigen.“ „Das kannst du nur durch Gebete und durch Meditation“, sagte er. „Ich werde dich in dieser Kunst unterrichten, wenn du willst.“ „Ja. Es ist mein Wunsch und fester Wille.“ Hasard hatte sich hingekniet und das Kistchen geöffnet. Seine Männer, die sich über ihn beugten und über seine Schultern blickten, stießen Laute der Anerkennung und des Staunens aus. „Donnerwetter!“ rief der Profos aus. „Randvoll mit Gold-, Silber- und Diamantschmuck gefüllt. Das ist wirklich ein Schatz, der es in sich hat. Damit könnte ein Mensch bis ans Ende seiner Tage ohne Probleme leben — ach was, was sag ich denn, eine ganze Familie!“ „Jenida“, sagte der Seewolf. „Die Truhe gehört dir. Du wirst sie irgendwo vergraben, damit die Spanier sie nicht finden.“ „Ich will sie nicht.“ „Dann werfen wir sie in die See.“ Der Brahmane ließ sich von Jenida übersetzen, was gesprochen worden war, dann sagte er: „Ich schlage vor, wir teilen diesen Schatz. Mir ist an irdischem Reichtum nicht gelegen, aber ich werde Jenidas Anteil so lange verstecken, bis sie sich entschließt, Gudur zu verlassen. Dann kann sie das Gold, das Silber, die Juwelen
Die Mumie von Gudur
und ihren Beutel voll Perlen gut gebrauchen, um sich eine Zukunft aufzubauen.“ Hasard erhob sich und nickte ihm dankbar zu. „Ein weiser Ratschluß, Swabi. So werden wir verfahren.“ Er wandte sich seinen Männern zu. „Laßt uns jetzt Katanimars Leiche und die Truhe hinunter nach Gudur bringen. Anschließend kehren wir an Bord der ‚Isabella’ zurück und gehen wieder in See.“ * Am Nachmittag verließ die „Isabella“ die Mündung des Flusses. Der Brahmane und Jenida winkten hinter ihr her und blickten ihr nach, bis sie um eine Biegung verschwunden war. Und dann weinte Jenida doch, denn sie wußte, daß sie den Seewolf nie wiedersehen würde. Noch am späten Nachmittag passierte die „Isabella“ in angemessenem Abstand Madras. Hasard und einige seiner Männer blickten vom Steuerbordschanzkleid des Achterdecks aus dorthin, wo das Fort der Spanier stehen mochte. „Himmel, wenn der Kommandant auch nur ahnen würde, daß wir einen Teil seines Privatvermögens an Bord haben“, sagte Hasard. „Er ahnt aber nichts, und das ist gut für ihn, Sir“, sagte Big Old Shane vergnügt. „Er würde sich sonst bloß weh tun. Ich meine, er würde sich die Haare büschelweise ausraufen oder sich selbst in den Achtersteven beißen, und das täte ihm bestimmt nicht gut.“ Die Männer lachten. Als sie wieder verstummten, meinte der Seewolf: „Ich schätze, damit lassen wir Indien nun endgültig hinter uns. Wir segeln durch die Palk-Straße und den Golf von Manaar quer durch den Indischen Ozean zur afrikanischen Ostküste hinüber.“ „Ohne weitere Aufenthalte?“ fragte Dan O’Flynn. „Ja.“ „Ich kann’s einfach nicht glauben.“ Der Seewolf lächelte. „Ich habe es dir ja schon vor Kadiri gesagt, Dan: Du bist ein
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ganz verdammter Strolch, dem man nicht
trauen darf.“
ENDE
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