Achim Hiltrop präsentiert
Folge 8: Die Mumie von Marylebone "Mrs. Carmichael, Sie haben Post." Phoebe Carmichael setzte...
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Achim Hiltrop präsentiert
Folge 8: Die Mumie von Marylebone "Mrs. Carmichael, Sie haben Post." Phoebe Carmichael setzte ihre Teetasse ab und sah von der Unterhaltung mit ihrem Neffen Colin auf. "Bitte?" Mortimer, ihr neuer Butler, stand in der Tür zum Salon. Er hielt ein silbernes Tablett in den Händen, auf dem ein kleiner, weißer Briefumschlag lag. "Sie haben Post, Madam. Möchten Sie sie gleich lesen oder lieber später?" Colin Mirth stellte seine Tasse, die im Gegensatz zu der seiner Tante Kaffee enthielt, auf dem Sofatisch ab. "Nur zu, Tante Phoebe." Phoebe schätzte es nicht, in einer Unterhaltung unterbrochen zu werden – schon gar nicht von vorlauten Bediensteten. Erst vor einige Wochen hatte sie ihrem bisheriges Dienstmädchen einen entsprechenden Vermerk in ihr Arbeitszeugnis geschrieben. Von Mortimer hatte sie bislang einen guten Eindruck gehabt. Nun aber war er in ihrer Gunst gesunken. "Dann wollen wir mal sehen, was es so Dringendes gibt", bemerkte sie spitz und langte nach dem Briefumschlag. Sie öffnete ihn und überflog die kurze Nachricht, die sich darin befand. Ihre Mundwinkel sanken nach unten. "Das ist aber ärgerlich", konstatierte sie. Colin zog fragend die Augenbrauen hoch. "Stimmt etwas nicht, Tante Phoebe?" "Das kann man wohl sagen. Der gute Richter Fulton ist leider unpäßlich und läßt sich für heute abend entschuldigen", erklärte sie ihm, "und somit habe ich für die Gesellschaft bei Lord Fairfax keinen Tischherrn." "Und?" Phoebe seufzte theatralisch. "Ich werde wohl absagen müssen, mein Junge. Jemand wie ich kann ja schlecht ohne Begleitung zu einer Abendgesellschaft gehen." Colin schürzte die Lippen. Die Etikette schrieb in der Tat vor, daß eine Witwe bei gesellschaftlichen Anlässen in Begleitung eines seriösen Herren erschien, wenn sie nicht den unanständigen Eindruck erwecken wollte, auf der Jagd nach einem neuen Mann zu sein. "Ich würde Dir ja gerne helfen, Tante Phoebe, aber ich fürchte, ich wäre fehl am Platz im Hause eines Adligen." Seine Tante kicherte boshaft. "Lord Fairfax ist weniger vornehm als du und ich, mein Junge. Was das betrifft, brauchst du dir keine Sorgen machen. Und die Attraktion des Abends wird dir sicherlich gefallen." Colin zuckte mit den Schultern. "Sergeant Moore ist für einige Tage zu einem Lehrgang fort, und ich habe nichts Besseres für den Rest des Tages vor. Warum also nicht? Wenn du möchtest, springe ich gerne als dein Tischherr des Abends ein." Phoebes Gesicht hellte sich auf. "Das wäre fein, Colin. Ich hatte mich schon so darauf gefreut." "Was gibt es denn für eine besondere Attraktion?", fragte Colin interessiert. Phoebe lächelte vielsagend. "Mein Junge, wir gehen auf eine sogenannte MumienParty."
Colin Mirth * Colin beeilte sich, nach Hause zu kommen und sich umzuziehen. Rechtzeitig um sieben Uhr stand er wieder vor der Tür seiner Tante. Phoebe Carmichael hatte von ihrem Gatten ein beträchtliches Vermögen geerbt, welches ihr erlaubte, in den besseren Kreisen der Londoner Gesellschaft zu verkehren. Obwohl sie es nicht nötig hatte, verdiente sie sich nebenbei etwas dazu, indem sie für die Times in unregelmäßigen Abständen Artikel über die High Society schrieb. Dementsprechend überraschte es Colin auch nicht, daß seine Tante einen dicken Notizblock und einen Bleistift in ihrem perlenbestickten Handtäschchen verschwinden ließ, ehe sie das Haus verließ. "Du siehst gut aus, Tante Phoebe." "Danke, mein Junge. Du auch." Colin hatte seinen besten Anzug angezogen. Dazu hatte er einen leichten Sommermantel, seinen Lieblingszylinder und eine breite geblümte Krawatte ausgesucht. "Wo wohnt denn der gute Lord Fairfax?" "Ganz in der Nähe, in Marylebone. Lord Fairfax wohnt nur einen Steinwurf vom Britischen Museum entfernt", antwortete Phoebe. Colin hob die Hand, um eine vorbeifahrende Droschke heran zu winken. "Dann sollte der Kutscher es ja leicht finden, nicht wahr?" * Phoebe legte ihre Hand auf den Arm, den Colin ihr darbot, und betrat das Kaminzimmer. Hier hatten sich neben ihren Gastgebern bereits einige der anderen Gäste zum Aperitif versammelt. "Mrs. Carmichael", rief Lady Portia Fairfax erfreut, "guten Abend, meine Liebe!" "Guten Abend, guten Abend." Phoebe nickte freundlich in die Runde. "Ich darf Ihnen den gutaussehenden jungen Mann an meiner Seite vorstellen – Sergeant Colin Mirth von Scotland Yard, mein Neffe." "Ich dachte mir schon, daß es nicht der alte Richter Fulton sein könnte", Lord Percival Fairfax lachte dröhnend, "willkommen in meinem bescheidenen Haus, Sergeant Mirth." "Bescheiden ist das falsche Wort", Colin lächelte, "ich finde es sehr behaglich. Sie haben bei der Einrichtung eine sichere Hand bewiesen, Lord Fairfax." Lord Fairfax gab Phoebe einen galanten Handkuß. "Ihr Neffe ist gut erzogen, Mrs. Carmichael. Sie dürfen Ihn ruhig öfter mitbringen." Ein rothaariger Hüne, der die Ausgehuniform der königlichen Armee trug, trat auf Colin zu und sah ihn prüfend an. "Kennen wir uns nicht, Sergeant?" Colins Gesicht hellte sich auf. "Lawrence MacAllan! Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht gesehen!" MacAllan zwinkerte überrascht und kraulte nachdenklich seinen feuerroten Vollbart. "Ja, schon... aber woher...?" "Indien", soufflierte Colin und reichte ihm die Hand. "Kalkutta. Das Attentat auf den Militärattaché. Ich war seinerzeit beim Secret Service." Erkennen spiegelte sich auf dem Gesicht des Offiziers wieder. "Natürlich", machte er gedehnt, "Colin, alter Knabe!" Er ergriff Colins Hand und schüttelte sie heftig. "Wie ich sehe, hat unser Abenteuer Ihrer Karriere keinen Abbruch getan", bemerkte Colin mit einem Blick auf die Kragenspiegel seines alten Freundes. "General des Indien-Regiments, hm? Meinen Glückwunsch, Lawrence!" "Danke, alter Knabe, danke", winkte MacAllan ab. "Man tut, was man kann." Seite 2
Colin Mirth "Ich darf Ihnen Dr. und Mrs. Jones vorstellen", mischte sich Lady Fairfax in das Gespräch der beiden ein, "unseren Hausarzt und seine reizende Gattin." "Angenehm." Colin reichte dem Arzt die Hand und gab seiner Frau, einer attraktiven Mittdreißigerin, einen Handkuß. "Sehr erfreut, Sie kennenzulernen." "... und Lord und Lady Aldritch", setzte Lady Fairfax die Vorstellungsrunde fort. Colin erinnerte sich daran, kürzlich in der Times über Lord Aldritch gelesen zu haben. Der Adlige gehörte zu den prominentesten Vertretern im Oberhaus des britischen Parlaments. Freundlich begrüßte er Lord Aldritch und seine Frau, welche seinen Gruß kühl, aber höflich erwiderten. "Sherry?", fragte Lord Fairfax zwischendurch. "Ja, gerne", erwiderte Colin abwesend. Er hatte sich gerade mit Abraham Spielman, einem Bankier, bekannt gemacht. Spielman war mit seinem Rechtsanwalt, einem jungen Mann namens Reginals Weathers, erschienen. Beide machten einen sehr sympathischen Eindruck. "Nun fehlt nur noch der Professor", stellte Lord Fairfax fest, während er Colin seinen Drink reichte. "Der Professor?", fragte Colin neugierig. "Professor Walter Goodwell", belehrte Lord Fairfax ihn, "ein Ägyptologe am Britischen Museum." "Der Ägyptologe", verbesserte ihn seine Frau. "Der Mann ist eine echte Koryphäe auf seinem Gebiet." "Und er ist auch derjenige, der die Mumie mitbringt", Lord Fairfax rieb sich die Hände. Colin kratzte sich am Kopf. Was einen namhaften Wissenschaftler dazu bewegen mochte, sich an so einem makaberen Partyspaß zu beteiligen, entzog sich seiner Vorstellungskraft. Colin selbst konnte dem Spektakel keinen großen Unterhaltungswert abgewinnen – er hatte genügend wirklich unheimliche Abenteuer erlebt, so daß er an Leichen, welche vor tausenden von Jahren einbalsamiert worden waren, nichts Gruseliges finden konnte. Eine Mumie zur Belustigung von Dinnergästen auszuwickeln, erschien ihm pietätlos. Er äußerte seine Bedenken aber nicht laut, um seinem Gastgeber und den anderen Gästen nicht die Stimmung zu verderben. "Nun, alter Knabe", MacAllan drängelte sich zwischen Colin und Spielman, "was hat Sie denn nach London zu Scotland Yard verschlagen?" Colin stieß mit dem General an. "Die Abteilung, zu der ich gehörte, wurde aufgelöst. Da man beim Secret Service keine Verwendung für mich hatte, wurde ich kurzerhand in den Polizeidienst versetzt." "Wie befremdlich", MacAllan nahm einen großen Schluck von seinem Scotch. Colin zuckte mit den Achseln. "Es gibt Schlimmeres, wissen Sie." "Aber der Geheimdienst ist doch sicherlich eine angesehenere Arbeit als die bei Scotland Yard, Colin", sagte MacAllan leise. "Wenn Sie damit besser bezahlt meinen, muß ich Ihnen leider zustimmen, Lawrence", Colin lächelte müde, "aber ich kann Sie beruhigen, ich komme schon über die Runden." "Falls es Sie tröstet, reich wird man in der Armee auch nicht", MacAllan klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter, "noch nicht mal als General." "Danke." Colin hob sein Glas und sah nachdenklich in das Feuer, welches im Kamin knisterte. Ab und zu versprühten die Holzscheite knackend Funken. "Ah, Professor Goodwell!", rief Lord Fairfax. Alle Anwesenden wandten sich dem unscheinbaren kleinen Mann zu, der soeben eingetreten war. Seite 3
Colin Mirth "Da sind Sie ja endlich, mein Bester", zirpte Lady Fairfax. "Ich hatte schon Angst, Sie hätten uns vergessen!" "Aber wie könnte ich das, meine Teuerste", säuselte Goodwell, "ich werde mir ein Dinner in Ihrem Hause doch nicht entgehen lassen!" Reginald Weathers nahm Colin und MacAllan beiseite. "Wenn man in London eine Mumien-Party organisieren will, führt kein Weg an Professor Goodwell vorbei. Man sagt, er verdient mit seinem Mumien-Lieferdienst mehr Geld als mit seiner Arbeit am Britischen Museum." MacAllan legte die Stirn in Falten. "Ist das so?" "Mumien-Parties sind sehr beliebt in diesen Kreisen, Gentlemen", grinste Weathers, "ich selbst habe schon einige mitgemacht. Es ist immer dasselbe: einige gelangweilte Adlige versprechen sich ein paar Minuten Nervenkitzel davon, eine Mumie auszuwickeln und die Fratze eines vertrockneten Toten zu sehen. Manchmal findet man ein paar Schmuckstücke an den Mumien, manchmal einen Papyrusfetzen, manchmal gar nichts. In letzterem Fall wird die arme Mumie üblicherweise von den enttäuschten Käufern im Kamin verfeuert." Weathers verstummte, als sich Goodwell auf seiner Vorstellungsrunde ihnen näherte. "Professor Goodwell – General MacAllan und Sergeant Mirth", sagte Lord Fairfax. "Sehr erfreut." "Angenehm." "Guten Abend." "Wir kennen uns bereits", Weathers prostete dem Professor mit seinem Drink zu, "hallo, Professor." "Mister Weathers. Wie schön, Sie wieder zu sehen. Ich hoffe, es geht Ihnen gut?" Der Professor lächelte ölig. "Gewiß." "Wo haben Sie denn Ihre Mumie, Professor?", fragte MacAllan unverblümt. "Der Sarkophag befindet sich bereits im Billardzimmer", nahm Lord Fairfax die Antwort des Ägyptologen vorweg. "Und nach dem Dessert werden wir uns umgehend dem guten Stück zuwenden", versicherte Goodwell dem General. "Fein", MacAllan klatschte in die Hände, "ich kann's kaum erwarten." "Haben Sie schon einmal eine Mumie gesehen, General?", fragte Goodwell mit Verschwörermiene. "Dutzende", lachte MacAllan, "ich habe mal in unserem Stützpunkt in Suez ein paar Wochen auf den Dampfer nach Indien warten müssen. Damals kamen ständig Karawanen von Grabräubern aus der Wüste, die mit Mumien für Käufer in Europa beladen waren." Goodwell rümpfte mißbilligend die Nase. "Ja, leider sind Mumien ein richtiger Exportschlager der Ägypter geworden. Eine Tatsache, die uns Ägyptologen die Arbeit nicht gerade erleichtert." "Und trotzdem beteiligen Sie sich an diesen Spektakeln", stellte Colin fest. "Falls es Sie beruhigt, Sergeant, mein Interesse ist rein wissenschaftlicher Natur. Ich bin stets auf der Suche nach Hinweisen über den Alltag im alten Ägypten. Auch im Museum wickeln wir zu diesen Zwecken Mumien aus", sagte Goodwell süßlich. "Ob diese Prozedur nun hinter verschlossenen Türen oder vor Publikum geschieht, ist letztlich einerlei." "Was geschieht denn, wenn Sie bei einer Mumien-Party etwas Wertvolles finden?", hakte Colin nach. Goodwell zuckte mit den Achseln. "Nun, die Fundstücke gehen natürlich in den Besitz des Käufers der Mumie über. Aber in den allermeisten Fällen werden die Seite 4
Colin Mirth Grabbeigaben anschließend wieder als Leihgabe dem Britischen Museum zur Verfügung gestellt. Insofern bekommen wir alle das, was wir wünschen: das Museum bekommt Exponate, und unsere Sponsoren bekommen einen kleinen abendlichen Nervenkitzel." "Dann ist ja nichts Verwerfliches dabei", sagte Dr. Jones gut gelaunt, "ich dachte schon, wir müßten ein schlechtes Gewissen haben." "Wo kein Kläger, da kein Richter", orakelte Abraham Spielman mit einem Seitenblick auf seinen Anwalt. Weathers lächelte spöttisch. "Ich wäre der Letzte, der eine Mumie vor Gericht vertreten möchte." Höfliches Gelächter belohnte seinen Scherz. Wenige Augenblicke später erschien der Butler der Gastgeber und meldete, daß das Abendessen bereit sei. * Colin nahm zwischen seiner Tante Phoebe und Lawrence MacAllan Platz. Ihm gegenüber saßen Reginald Weathers sowie Lord und Lady Aldritch. Lord und Lady Fairfax hatten die Ehrenplätze an den Längsseiten der gedeckten Tafel inne. Dr. Jones und seine Frau, der Professor und der Bankier besetzten die übrigen Plätze. "Amüsierst du dich, mein Junge?", fragte Phoebe. "Sehr sogar", sagte Colin. "Ich auch." Mit einem vielsagenden Grinsen gewährte sie ihm einen kurzen Blick auf die Notizen, die sie während ihrer Unterhaltung mit den anderen Gästen gemacht hatte. Sie hatte in der Tat aufschlußreiche Erkenntnisse gewonnen: Lord und Lady Aldritch standen vor den Trümmern ihrer Ehe, Abraham Spielman war über beide Ohren verschuldet, und Lord Fairfax hatte angeblich eine Affäre mit einer Schauspielerin aus dem West End. "Du warst fleißig, Tante Phoebe", murmelte Colin. Phoebe kicherte lediglich boshaft in Vorfreude auf ihren nächsten Artikel mit Klatsch aus der High Society. "Dann wollen wir mal sehen, was es Leckeres gibt, was?" MacAllan entfaltete seine Serviette und ließ seinen Zipfel davon unter seinem roten Vollbart im Kragen seiner Uniformjacke verschwinden. Der Butler und zwei Dienstmädchen tischten eine klare Suppe als Vorspeise auf. "Hühnerconsommé", verkündete Lady Fairfax. "Sehr schmackhaft", zirpte Lady Aldritch. "Unsere Köchin kann Ihrer Köchin das Rezept zukommen lassen, wenn Sie es wünschen", bot Lady Fairfax an. "Das wäre ganz reizend", flötete Lady Aldritch zurück. "Sagen Sie, Sergeant Mirth", Reginald Weathers räusperte sich leise, "in welcher Abteilung bei Scotland Yard arbeiten Sie denn?" "Ich arbeite unter Inspector Pryce", antwortete Colin. "Warum fragen Sie?" "Oh, reine Neugierde", winkte Weathers ab. "Ich wußte gar nicht, daß Pryce noch im Dienst ist. Ich hatte gehört, er hätte Grundbesitz irgendwo in den Kolonien geerbt und würde sich in absehbarer Zeit zur Ruhe setzen." Colin zuckte mit den Schultern. "Da wissen Sie mehr als ich, Mister Weathers." "Vielleicht gibt es mehr als einen Inspector Pryce bei Scotland Yard", schlug Priscilla Jones hilfreich vor. "Das würde mich sehr wundern, Madam", schmunzelte Colin. "So, die Suppe war schon mal köstlich." General MacAllan schob den leeren Teller von sich und griff nach seinem Weinglas. "Schauen wir mal, was es als Nächstes gibt." Seite 5
Colin Mirth Portia Fairfax wechselte einen finsteren Blick mit ihrem Gatten. Sie selbst hatte gerade erst angefangen, ihre Suppe zu löffeln und war noch weit davon entfernt, die Vorspeise beendet zu haben. Ganz offensichtlich hatte sie ihr Urteil über die Manieren des Generals gefällt. Ebenso eindeutig war die Tatsache, daß Lord Fairfax General MacAllan ohne die ausdrückliche Zustimmung seiner Gemahlin eingeladen hatte. Wenn Phoebes Informationen richtig waren, dachte Colin, war dies ein weiteres untrügliches Indiz dafür, daß es mit der Ehe der beiden nicht zum Besten stand. Er fragte sich, wem von den beiden seine Tante ihre Einladung zu verdanken hatte. "Haben Sie denn ein paar schaurige Fälle zu berichten, Sergeant?", fragte Penelope Aldritch. "Was möchten Sie denn hören, Madam?" Colin verschränkte die Finger. Die Frau des Arztes kicherte. "Nun... vielleicht ein besonders grausiger Kriminalfall aus Ihrer Erfahrung, um die Spannung für die Hauptattraktion des Abends ein wenig anzuheizen. Was meinen Sie?" Colin schüttelte langsam den Kopf. "Ich fürchte, ich muß Sie enttäuschen, Madam. Ich bin erst seit Ende letzten Jahres bei Scotland Yard und habe noch nicht viel Aufregendes erlebt." "Wenn man von den Theatermorden im Frühjahr absieht", warf Phoebe ein. Lady Aldritchs Augen wurden groß. "Der Mord an Mister Sterling? Das war Ihr Fall?" "Mein erster großer Fall", sagte Colin bescheiden. "Natürlich", sagte Lady Fairfax, "jetzt weiß ich auch, woher ich Ihren Namen kenne, Sergeant Mirth. Es war ja in allen Zeitungen." "Insbesondere für den Daily Mirror war die Geschichte ein gefundenes Fressen", bemerkte Reginald Weathers. Abraham Spielman hob mißbilligend die Augenbrauen. "Sie lesen doch wohl nicht etwa den Daily Mirror?" "Nur zu Recherchezwecken", entschuldigte sich der Anwalt lächelnd. "So ein Revolverblatt käme mir nie ins Haus", lachte Dr. Jones. "Mir auch nicht", stimmte Professor Goodwell ihm zu. "Es ist eigentlich erstaunlich", lächelte Phoebe, "dafür, daß quasi niemand diese Zeitung kauft, erfreut sie sich eines enormen Verbreitungsgrades." Die Bediensteten von Lord und Lady Fairfax kamen, um die leeren Suppenteller einzusammeln. Wenige Minuten später erschienen sie erneut und servierten den ersten Gang. "Kalbsmedaillons an Gemüseauflauf", flötete Lady Fairfax, "guten Appetit!" MacAllan sah schweigend zu Weathers hinüber. Die Enttäuschung stand dem General ins Gesicht geschrieben, doch auch der Anwalt hatte keine größere Portion bekommen als er. Auf dem riesigen Teller wirkten das kleine Stück Fleisch und der nur unwesentlich größere Klecks Gemüse geradezu lächerlich winzig. "Nouvelle cuisine", sagte Weathers schulterzuckend. "Wenn mein Boy in Indien für mich und meine Gäste kocht, ist eine Portion so groß wie das, was wir hier zu zwölft essen", raunte MacAllan Colin zu. "Und vermutlich wird Ihr Boy mehr Gewürze ins Essen tun, als hier überhaupt im Hause sind", gab Colin augenzwinkernd zurück. * Zwei weitere Gänge und ein exzellentes Zitronensorbet später war das Abendessen beendet. Lord Fairfax erhob sich und bat um Ruhe. "Ladies und Gentlemen, ich darf Sie nun ins Billardzimmer hinüberbitten", sagte er feierlich, "dort warten Whiskey, Cognac und Zigarren auf uns – und natürlich die Hauptattraktion des Abends!" Seite 6
Colin Mirth Colin und die anderen Gäste standen auf. MacAllan reckte sich mit übertriebener Gestik; das Abendessen hatte beinahe zwei Stunden gedauert. Die Pausen zwischen den einzelnen Gängen hatten beängstigende Dimensionen gehabt, dafür waren die Portionen des zweiten und dritten Ganges wenigstens halbwegs sättigend gewesen. "Bist du auch so gespannt, mein Junge?" Phoebe knuffte ihren Neffen in die Rippen. Colin vermutete, daß seine Tante eventuell einen Schluck Wein zu viel getrunken haben mochte. "Unheimlich", bestätigte er. Reginald Weathers zuckte gleichgültig mit den Schultern. "Sie dürften den Anblick von Leichen doch gewöhnt sein, Sergeant!" "Ich bekomme sie selten nach dem Dessert vom Gastgeber serviert", gab Colin kühl zurück. Lord Fairfax stieß mit theatralischer Gestik die Tür zum Billardzimmer auf und ging voran, die anderen folgten ihm. Dort, auf dem mit einem weißen Laken verhüllten Billardtisch, befand sich eine schlichte Transportkiste aus hellem Holz, auf deren Längsseiten jemand mit einem Brandeisen den Namen des Schiffes eingebrannt hatte, mit dem die Mumie aus Ägypten gekommen war. Der Deckel der Kiste war bereits von den Dienern des Gastgebers aufgestemmt worden, und in der Kiste – gut geschützt durch eine dichte Schicht aus Holzwolle – befand sich ein knapp vier Fuß langes Bündel aus schmutzigbrauem Leinen. Colin stieß MacAllan in die Seite. "'Herrin Ägyptens, Heil!'", grinste er. Als er das verständnislose Gesicht des Generals bemerkte, ergänzte er: "Antonius und Cleopatra, 1. Akt, 5. Szene." MacAllan zog die Stirn kraus und dachte angestrengt nach. "Shakespeare?" "Sie sagen es." "Da ist sie also", brummte Spielman. "Ich hatte sie mir größer vorgestellt." "Vor dreitausend Jahren waren die Menschen noch kleiner als heute", belehrte ihn Professor Goodwell. "Außerdem besteht der menschliche Körper aus sehr viel Feuchtigkeit. Mehr als das, was sie sehen, bleibt nun mal nicht übrig." "Nun gut, Professor!" Lord Fairfax rieb sich die Hände. "Dann wollen wir mal, was?" Während der Butler des Gastgebers die Abendgesellschaft mit Getränken versorgte und Goodwell weiter über Techniken der Mumifizierung dozierte, beugte sich Colin interessiert über die offene Kiste. Die Mumie war recht gut erhalten. Die Streifen aus Leinentuch, in welche der einbalsamierte Körper einbandagiert war, wirkten spröde und zerbrechlich, so als würden sie bei der kleinsten Bewegung zu Staub zerfallen. Ein Geruch wie von alten Büchern stieg aus der Holzkiste auf. "Es ist schon ein seltsamer Gedanke", murmelte Lady Aldritch neben ihm, "daß das hier mal ein Mensch war..." Colin lächelte sie an. "Noch seltsamer erscheint mir der Gedanke, daß wir die Mumie nun auswickeln wollen." Penelope Aldritch sah nachdenklich von der Mumie auf, blickte Colin lange an und tupfte sich dann mit einem spitzenbesetzten Taschentuch die Stirn ab. "Ich glaube, mir ist nicht wohl", sagte sie dann mit zitternder Stimme. Während sie mit unsicheren Schritten zur Toilette eilte, wandte Colin seine Aufmerksamkeit wieder Professor Goodwells Ausführungen zu. Der Akademiker wollte sich gerade im Detail darüber auslassen, aus welcher Epoche die fragliche Mumie stammte, als ihm Lord Fairfax – sichtlich angeheitert vom Genuß diverser Digestifs – ihm jovial auf die Schulter klopfte: "Lassen Sie's mal gut sein, mein Bester. Jetzt lassen Sie uns mal endlich zur Sache kommen." Goodwell verstummte pikiert. Fairfax winkte MacAllan und Dr. Jones zu sich. "Gehen Sie mir doch mal bitte zur Hand, Gentlemen. Eins, zwei, drei!" Seite 7
Colin Mirth Zu dritt hievten die Männer die Mumie aus der Kiste. Langsam ließen sie sie zu Boden. "Erstaunlich", bemerkte MacAllan, "sie wiegt fast gar nichts. Aber sie ist recht unhandlich." Lord Fairfax schob seine glimmende Zigarre in den Mundwinkel, krempelte die Ärmel hoch und beugte sich mit einem kleinen Klappmesser über die Mumie. Einen Moment lang stand er unschlüssig vor ihr, dann durchtrennte er die Bandagen in Höhe des Brustbeins und fing an, daran zu ziehen. "So geht das nicht", knurrte er nach einer Weile. "Sie müssen sie noch einmal anheben, Gentlemen!" MacAllan spuckte in die Hände und hob die Mumie an den Füßen hoch, und der Arzt hielt ihren Kopf fest. Lord Fairfax wickelte die Leinenstreifen Meter um Meter ab, während seine beiden Assistenten die Mumie dabei langsam um ihre Längsachse drehten wie eine Spindel. Mehr Cognac und Whiskey wurde gereicht, und Priscilla Jones feuerte die Männer beschwipst an. Phoebe Carmichael machte sich unbemerkt weitere Notizen. "Wie sie wohl aussieht?", murmelte Abraham Spielman. Reginald Weathers grinste. "Wir werden es gleich wissen, Mister Spielman." Lady Fairfax zündete sich eine Zigarette an, die sie an einer langen Zigarettenspitze aus Elfenbein rauchte. "Viel häßlicher als die alte Mrs. Worthington wird sie wohl kaum sein", kicherte sie boshaft. Lady Aldritch kam in dem Moment von der Toilette zurück, in dem die erste Handbreit der einbalsamierten Leiche zum Vorschein kam. Sie wurde noch eine Spur bleicher und machte postwendend kehrt. "Das Gesicht", johlte Lord Aldritch, "wir wollen das Gesicht sehen, Percy!" MacAllan sah Colin schnaufend an. "Wollen wir mal tauschen, alter Knabe?" Colin hob abwehrend die Hände. "'Um allen Schlamm Ägyptens nicht!'". Heinrich VIII., 2. Akt, 3. Szene, fügte er in Gedanken hinzu. "Ich kann schon den Hals sehen", zirpte Lady Fairfax. "Dann kann es sich definitiv nicht um Mrs. Worthington handeln", scherzte Phoebe. Sie wechselte einen nachdenklichen Blick mit Colin. Auch ohne Worte verstand Colin, daß seiner Tante das pietätlose Spektakel ebenso unangenehm war wie ihm. Er seufzte leise. Dann war es geschafft. Die letzte Bandage löste sich vom Schädel der Mumie, und unter Applaus und Beifallsbekundungen der Abendgesellschaft kam eine eingetrocknete Fratze zum Vorschein, von der Colin nicht einmal mit Gewißheit sagen konnte, ob es sich einst um das Gesicht eines Mannes oder einer Frau gehandelt haben mochte. Die Haut war dünn, brüchig und ledrig, und stellenweise schien der Schädelknochen durch. "Wie schaurig", hauchte Lady Fairfax und leerte den Rest ihres Cognacs in einem Zug. "Einfach widerwärtig!" Priscilla Jones konnte den Blick jedoch nicht abwenden. "Ja", stimmte Lord Fairfax enthusiastisch zu, "sie ist phantastisch, nicht wahr?" "Es ist gruselig", räumte der Bankier ein, "Sie haben nicht zu viel versprochen, Lord Fairfax." "Was haben wir denn da nun vor uns, Professor?", fragte Colin den Ägyptologen. Walter Goodwell paffte an seiner Zigarre. "Nun", sagte er, "wie ich bereits eingangs erwähnte, handelt es sich um eine Mumie aus der Zeit des Pharao Ramses II. An dem Grab, in dem man sie fand, waren Inschriften, aus denen hervorging, daß es sich hierbei um die Konkubine eines hohen Beamten des Pharao gehandelt hat. Mehr konnten wir leider nicht entziffern."
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Colin Mirth "Dann muß die Dame aber in Ungnade gefallen sein", mutmaßte MacAllan, "wäre sie sonst nicht reich mit Schmuck behängt gewesen?" Goodwell breitete die Arme aus. "Vielleicht war der Schmuck in dem Sarkophag, in dem sich die Mumie befand. Oder er lag lose in der Grabkammer. In den letzten dreitausend Jahren haben Grabräuber wahrscheinlich alle Wertsachen fortgeschafft." Lord Fairfax ballte die Fäuste. "Soll das etwa heißen, ich habe mein Geld zum Fenster hinaus geworfen?", grollte er finster. Der Professor legte ihm versöhnlich die Hand auf den Arm. "Kommen Sie schon, was wollen Sie denn? Sie hatten doch eine Menge Spaß, oder etwa nicht?" Der Blick des Gastgebers fiel auf die Mumie. Und dann auf den Kamin. * Am nächsten Morgen, als Colin gerade in seinem Büro Platz genommen hatte, pochte es an der Tür. Auf Colins Aufforderung hin wurde die Tür des Büros geöffnet, und Harvey Jones steckte den Kopf herein. "Doktor Jones", rief Colin überrascht, "treten Sie ein. Was führt Sie her?" Der Arzt zog die Tür hinter sich zu und nahm auf dem Stuhl Platz, der eigentlich Archibald Moore gehörte. "Guten Morgen, Sergeant Mirth. Hätten Sie einen Augenblick Zeit für mich?" "Selbstverständlich." "Sie waren gestern abend so plötzlich weg, Sergeant..." Colin lächelte spöttisch. "Ich habe ja nichts gegen Lord Fairfax persönlich, Doktor, aber was zu weit geht, geht zu weit. Es ist schon pietätlos genug, daß wir uns anmaßen, die Totenruhe zu stören, Mumien aus ihren Grabkammern holen und sie zur Unterhaltung auf Parties auswickeln. Ich finde es aber den Gipfel der Geschmacklosigkeit, wenn jemand wie Lord Fairfax die sterblichen Überreste einer ägyptischen Konkubine frustriert im Kamin verfeuert, nur weil die Mumie nicht die erhofften Juwelen enthielt." Jones rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. "Sie müssen Percy verstehen, Sergeant Mirth, er ist nun mal so." "Das macht ihn mir nicht sympathischer", entgegnete Colin eisig. Jones zuckte mit den Schultern. "Sie hätten trotzdem noch bleiben sollen. Sie haben etwas verpaßt, das Sie vielleicht interessiert hätte." "Ach ja? Was denn, wenn ich fragen darf?" Der Arzt griff in seine Jackentasche und zog ein erbsengroßes Objekt hervor, welches er auf Colins Schreibtisch warf. "Das hier habe ich zufällig in der Asche gefunden, als ich den Rest meiner Zigarre in den Kamin schnippte." Colin hob den Gegenstand auf und drehte ihn in den Fingern. "Metall?" "Silberamalgam", erwiderte Jones lapidar. "Und?" Colin zog die Stirn kraus. Diesmal war es der Arzt, der spöttisch lächelte. "Sie haben doch sicher einen Mediziner im Haus, oder?" * "Ich weiß jetzt, worauf mein geschätzter Kollege hinauswollte", sagte Doktor MacKinnon und erhob sich von dem Mikroskop, durch das er das mysteriöse Fundstück des Arztes begutachtet hatte. "Es handelt sich mit großer Wahrscheinlichkeit um die Reste einer Füllung." Seite 9
Colin Mirth "Einer was?", fragte Colin überrascht. "Eine Zahnfüllung. Eine Plombe, wie man so schön sagt. 90 Prozent Silber und 10 Prozent Kupfer, dazu noch Quecksilber. War in dieser Zusammensetzung vor ein paar Jahrzehnten mal groß in Mode, aber inzwischen..." "Moment, Doktor", Colin hob die Hand, "sagten Sie gerade 'vor ein paar Jahrzehnten'?" MacKinnon blinzelte. "Das, lieber Sergeant Mirth, waren exakt meine Worte." Colin schürzte die Lippen. "Könnte eine solche Zahnfüllung auch schon... sagen wir mal, zwölfhundert Jahre vor Christus verwendet worden sein?" Der Gerichtsmediziner lachte trocken. "Sie scherzen wohl, Sergeant. Die ersten, die mit so etwas experimentiert haben, waren die Chinesen. Sechshundert vor Christus vielleicht, aber nicht zwölfhundert. Warum fragen Sie?" Colin verschränkte die Arme vor der Brust. "Weil jetzt Ihr Wort gegen das eines Ägyptologen vom Britischen Museum steht, Doktor MacKinnon, darum." * Big Ben schlug elf, als Professor Walter Goodwell sein Haus verließ. Er sah nervös nach links und rechts und blickte sich mehrmals um, während er die mit Gaslaternen beleuchtete Straße hinabging. Zufrieden stellte er fest, daß ihm niemand folgte. Hätte er jedoch nach oben geschaut, wäre ihm vermutlich das Herz stehengeblieben. "So spät noch unterwegs, Herr Professor", murmelte Colin. Er saß auf dem Rücken seines orientalischen Flaschengeistes, der in einer Höhe von beinahe tausend Fuß über der Stadt schwebte und leise vor sich hin summte. Ein feiner Nieselregen hatte eingesetzt und prasselte leise gegen den hochgeschlagenen Kragen von Colins Mantel. "Ist das der Mann, Efendi?", fragte Abdul. Colin nickte und setzte sein Fernglas ab. "Er ist es in der Tat, Abdul. Sehen wir doch mal, wo er um diese Zeit hingeht." Goodwell ging die Straße hinunter bis zur Oxford Street. In der Nähe von Marble Arch winkte er eine Droschke herbei, gab dem Kutscher einige Instruktionen, faltete seinen Regenschirm zusammen und stieg ein. Dann folgten Abdul und Colin dem Gefährt in westlicher Richtung. Die Droschke fuhr die Bayswater Road hinab. Die Bäume am Straßenrand standen hier dicht an dicht, so daß Colin Mühe hatte, der Kutsche mit den Augen zu folgen. Am westlichen Ende der Kensington Gardens bog der Kutscher nach Süden ab und folgte der Kensington Church Street. "Er fährt nach Kensington", bemerkte Colin. Noch vor der Kensington High Street hielt die Droschke jedoch an. Goodwell stieg aus, bezahlte und verschwand in einer Seitenstraße. "Das sieht nicht so aus, als ob er heute abend wieder zu einem Empfang bei einem Mitglied der vornehmen Gesellschaft will", murmelte Colin. "Nicht um diese Zeit, und nicht in diesem Aufzug. Ich frage mich, ob—" "Efendi", zischte Abdul, "schaut!" Der Professor war vor der Tür eines roten Backsteingebäudes stehengeblieben. Er pochte an die Tür, und wenige Augenblicke später wurde ihm geöffnet – gerade so, als sei er bereits ungeduldig erwartet worden. Colin und Abdul warteten eine Weile. Als ihnen klar wurde, daß Goodwell nicht so bald wieder herauskommen würde, sank der Flaschengeist langsam herab und ließ seinen Meister auf das Trottoir herabsteigen.
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Colin Mirth Nachdem Colin die Falten in seinem Anzug und seinem Mantel glatt gestrichen hatte, sah er neugierig auf die dunkle Bronzeplakette, die neben der Tür des Hauses an der Außenmauer befestigt war. "'Nazareth House'", las er, "'Heim für betagte Arme'." Abdul verschränkte die muskulösen Arme vor der Brust. "Was sagt uns das, Efendi?" "Ich bin mir nicht sicher, Abdul." Colin schürzte nachdenklich die Lippen. "Aber da dies kaum die richtige Uhrzeit für einen Höflichkeitsbesuch ist, müßte ich mich schon sehr täuschen, wenn der gute Professor nicht Dreck am Stecken haben sollte." * Nachdem Colin mit Abduls Hilfe geräuschlos das Schloß der Haustür geöffnet hatte, schlich er leise durch die unbeleuchtete Eingangshalle des Altenheims. In der Etage über ihm hörte er leise Stimmen. Er betrat das Treppenhaus und bedeutete Abdul, ihm zu folgen. Vor einer angelehnten Tür, auf der ein Messingschild mit der Aufschrift "Henry W. Griffith – Manager" prangte, blieb Colin stehen. Er lauschte angestrengt. Von den beiden Stimmen, die er hörte, erkannte er nur eine, und zwar die von Professor Goodwell. Die andere Stimme mußte dem Direktor des Heims gehören. "Ich brauche aber in spätestens einer Woche wieder zwei Körper", hörte er Goodwell sagen. "Am ersten Oktober soll eine Mumienparty bei Lord und Lady Farnsworth stattfinden, und ich bekomme bis dahin keine Lieferung mehr aus Ägypten, Mister Griffith." "Es gäbe da zwei Kandidaten", sagte Griffith langsam, "aber ich kann Ihnen beim besten Willen nicht mit Gewißheit vorhersagen, wann die beiden Herrschaften das Zeitliche zu segnen gedenken." "Oh doch, das können Sie", entgegnete Goodwell eisig. "Es wäre nicht das erste Mal, daß Sie—" "Was soll überhaupt die Eile?", rief Griffith nervös, "wir haben doch erst Anfang August, Professor!" "Die Präparation dauert seine Zeit", erwiderte der Ägyptologe unwirsch, "das wissen Sie genau, Mister Griffith." Colin hörte, wie jemand mit zittrigen Händen ein Glas einschenkte und gierig daraus trank. "Professor, Sie haben mir doch versprochen, daß ich nie wieder in die Verlegenheit kommen würde, einen meiner Insassen zu vergiften", stammelte Griffith. "Ich habe mich offenbar geirrt", antwortete Goodwell lapidar. "Es gibt Fristen und Termine, die wir einhalten müssen. Ich kann diesmal nicht darauf warten, daß einer Ihrer Insassen von selbst stirbt. Kommen Sie schon, Sie tun unseren Kandidaten doch einen Gefallen, wenn Sie ein wenig nachhelfen..." "Nun ja, vielleicht... aber das ist dann das letzte Mal, daß wir so etwas machen, Professor!" Colin vernahm das Rascheln von Papierscheinen. "Es soll Ihr Schaden nicht sein", sagte Goodwell. Nun hatte Colin genug gehört. Er stieß die Tür des Büros auf und trat auf die Männer zu, in der einen Hand seine Dienstmarke, in der anderen seinen alten Colt, den er aus Amerika mit nach England gebracht hatte. "Guten Abend, Gentlemen", rief er. "Im Namen Ihrer Majestät: Sie sind verhaftet!" "Wer sind Sie?" Griffith sprang entsetzt auf. "Sergeant Mirth!" Goodwell sah ihn verblüfft an. "Wo kommen Sie denn jetzt her?"
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Colin Mirth "Ich bin Ihnen gefolgt, Professor", erklärte Colin ihm. "Wenn Sie das nächste Mal einen unserer Mitmenschen mumifizieren, dann denken Sie daran, daß es jemand ohne moderne Zahnfüllungen ist." Goodwell runzelte die Stirn. "Die Mumie von Lord Fairfax...?" "... hatte eine Amalgamfüllung, ja. Darum wurde ich mißtrauisch." Der Ägyptologe lächelte dünn. "Kommen Sie, Sergeant. Ob die armen Teufel, die in diesem Haus sterben, nun auf dem Armenfriedhof verscharrt werden oder in meiner Mumienwerkstatt landen... wen schert es?" "Wie ich soeben hörte, helfen Sie gelegentlich nach, wenn es nicht schnell genug geht", sagte Colin ungerührt, "und es soll Leute in Old Bailey geben, die so etwas für Mord halten, Professor." "Ich hatte nichts damit zu tun", schrillte Griffith und zeigte auf Goodwell. "Er ist an allem schuld! Er hat mich gezwungen, der alten Mrs. Peters Arsen zu geben!" Goodwell tat etwas, mit dem Colin nicht gerechnet hatte. Er griff in die Innentasche seines Jacketts, zog einen kurzläufigen Revolver hervor, richtete ihn auf den Direktor des Altenheims und drückte ab. Griffith sah ungläubig auf das Loch in seiner Brust und sackte dann ohne ein weiteres Wort in sich zusammen wie eine Marionette, der man die Fäden durchtrennt hatte. Colin zog ebenfalls den Abzug seiner Waffe durch, doch Goodwell duckte sich mit einer Agilität, die für einen Mann seines Alters bemerkenswert war, aus Colins Schußlinie und schleuderte mit der freien Hand den Stuhl, auf dem er gesessen hatte, in Colins Richtung. Ehe Colin dem Möbelstück ausweichen konnte, prallte es hart gegen seinen Brustkorb und riß ihn von den Beinen. Nur die Tatsache, daß Colin unter dem Stuhl begraben wurde, rettete ihn vor den beiden Schüssen, die Goodwell auf ihn abgab. Die Kugeln bohrten sich in das Holz statt in Colins Kopf. Für einen kurzen Moment verlor er das Bewußtsein. Der Ägyptologe rannte an Colin vorbei aus dem Zimmer, doch als er die Tür erreichte, versperrte ihm die bullige Gestalt einer über acht Fuß großen, blau leuchtenden Geistererscheinung den Weg. Abdul knurrte drohend und funkelte Goodwell mit seinen roten Augen böse an. Der Professor blieb wie angewurzelt stehen. Angesichts der unerwarteten Spukgestalt verließ ihn sein Mut. Seine Augen drohten aus den Höhlen zu treten, und sein Mund gab nur noch Unverständliches von sich. Kraftlos ließ er die Waffe sinken. Dann verkrampften sich plötzlich sein ganzer Körper, und seine Hände fuhren an seine Brust. Zuckend und röchelnd ging er in die Knie, den Blick noch immer wie gebannt auf Abdul gerichtet. Als Colin sich benommen wieder aufgerappelt hatte, lag Goodwell reglos am Boden. "Das wollte ich nicht, Efendi", entschuldigte sich Abdul. Colin kniete neben dem Professor nieder und fühlte seinen Puls. Er wurde nicht fündig. "Sein Herz war zu schwach", urteilte er, "die Aufregung war wohl zu viel für ihn." Vom Schreibtisch des Direktors hörten sie plötzlich ein leises Stöhnen. Colin sah überrascht zu Griffith hinüber, den er bereits für tot gehalten hatte. "Ich glaube, sein Komplize lebt aber noch", sagte Abdul. * "Und das soll ich Ihnen glauben?", fragte Archibald Moore ungläubig, als er mit Colin einige Tage später abends im Red Lion saß.
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Colin Mirth Colin hatte die Schilderung der Mumienparty und seine darauffolgenden Ermittlungen soeben beendet und befeuchtete seine trockenen Lippen nun mit einem großen Schluck Ale. "So wahr ich hier stehe, Archie." Sein Kollege schüttelte den Kopf. "Eine Mumienparty... Also nein, ich bitte Sie! Das kann auch nur einem Lord einfallen." "Das kann auch nur ein Lord bezahlen", korrigierte ihn Colin. "Nach dem zu urteilen, was ich aus Mister Griffith bei seiner Vernehmung herausbekommen habe, hat Professor Goodwell sich seine selbstgemachten Mumien sehr gut bezahlen lassen. Ein lukratives Geschäft." "Nun ja, er war halt eine Koryphäe auf dem Gebiet, wenn ich Sie richtig verstanden habe", sagte Archibald, "und er wird schon gewußt haben, wie die alten Ägypter ihre Mumien gemacht haben. Laien wie uns konnte er damit gewiß hereinlegen. Ich frage mich, was passiert wäre, wenn mal ein anderer Ägyptologe auf einer dieser Parties erschienen wäre? Der hätte den Schwindel doch gewiß bemerkt, denken Sie nicht auch?" "Wenn er schlau war, hätte er für solche Anlässe vorsichtshalber eine echte Mumie in Reserve gehabt", grinste Colin. "Und wenn nicht?", hakte Archibald nach. Colin sah nachdenklich in sein Bier. "Wer weiß, Archie?", seufzte er, "wer weiß?"
Demnächst: "Ein Vampir in Belgravia"
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