DIE MUMIE KEHRT ZURÜCK
Tief in der ägyptischen Wüste werden die mumifizierten Überreste von Imothep, dem verfluchten H...
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DIE MUMIE KEHRT ZURÜCK
Tief in der ägyptischen Wüste werden die mumifizierten Überreste von Imothep, dem verfluchten Hohepriester des Osiris, von seinen Anhängern einmal mehr zum Leben erweckt. Gemeinsam mit seiner blutrünstigen Armee macht er sich auf die Suche nach dem sagenumwobenen ersten Pharao - dem König der Skorpione ...
DAS ABENTEUER GEHT WEITER Zehn Jahre nach ihrer ersten schicksalhaften Begegnung mit dem Untoten begeben sich die inzwischen verheirateten O'Connells mitsamt ihres frühreifen Sohnes Alex erneut zu Ausgrabungen in die Wüste. Als sie Spuren der geheimnisvollen Oase Ahm Shere mit der goldenen Pyramide entdecken, wissen sie nicht, dass dies der Beginn eines unglaublichen Abenteuers ist.
MAX ALLAN COLLINS
DIE MUMIE
KEHRT ZURÜCK™
Der Roman zum Film nach einem Filmdrehbuch von STEPHEN SOMMERS
Aus dem Amerikanischen von Uschi Graf
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
HEYNE ALLGEMEINE REIHE Band-Nr. 01/20073
Titel der Originalausgabe
The MUMMY R E T U R N S 2. Auflage Redaktion: Werner Bauer
Deutsche Erstausgabe 6/2001
Copyright © 2001 by Universal Studios Publishing Rights
a division of universal Studios Licensing, Inc.
The Mummy Returns is a trademark and
Copyright of Universal Studios
All Rights Reserved.
Copyright © 2001 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Printed in Germany 2001
Umschlag- und Innenillustrationen:
Copyright © 2001 Universal Studios Publishing Rights,
a division of Universal Studios Licensing, Inc.
Umschlaggestaltung: Nele Schutz Design, München
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
Druck und Bindung: Ebner Ulm
ISBN: 3-453-18589-7
http://www.heyne.de
Anmerkung des Herausgebers
Der nachfolgende Ausschnitt stammt aus dem sechsten Kapitel von Dr. Evelyn O'Connells >Fluch der Pharaonen Mythos und Geheimnis< (Bembridge Press, London, 1930). Obwohl sie Doktor der Bibliothekswissenschaft war, galt sie als eine führende Expertin ihrer Zeit auf den Gebieten der Archäologie und Ägyptologie. Dr. O'Connell, die Tochter des berühmten Ägyptologen Howard Carnahan - der 1922 mit Sir Gaston Maspero das Grab des Tut-Ench-Amun entdeckte -, war von 1925 bis 1927 Kuratorin des Museums von Kairo, bevor sie die Stelle aufgab, um mit ihrem Ehemann, dem berühmten Forscher Richard O'Connell, eine Familie zu gründen. In späteren Jahren war Mrs. O'Connell Kuratorin des Britischen Museums.
Obwohl es keine Artefakte gibt, die seine wahre Existenz bestätigen, und auch die Hieroglyphen, die seine Geschichte erzählen, erst Jahrhunderte später datieren, ist der König der Skorpione für die Kinder des modernen Ägypten eine wahre Gestalt. Was der Schwarze Mann für die westliche Welt, ist der König der Skorpione für das Land der Pharaonen. Er verkörpert das Böse, mit dem Eltern ihren unartigen Kindern - oft zur Schlafenszeit - drohen. Doch die Hieroglyphen beschreiben den König der Skorpione nicht als ein Ungeheuer, sondern als eine Gestalt, die majestätisch und furchterregend zugleich wirkt. Er ist ein muskulöser, äußerst brutal aussehender und auf seltsame Weise schöner Krieger, der ein Heer von über tausend akkadischen Soldaten befehligte.
Das Bild seines Namensvetters - jenes spinnenartige Wüstentier mit scharfen Scheren, knotig gegliedertem Schwanz und tödlichem Stachel - war in Reliefform auf seinem Schild abgebildet und zierte außerdem den goldenen Brustharnisch, der seine sehnige Gestalt verhüllte, die ansonsten nur von einem Lendenschurz, Tierhäuten und verschiedenen Kriegsan denken bedeckt war. Die Soldaten im Gefolge des Königs der Skorpione dienten unter dem gleichen finsteren Symbol und kämpften unter Bannern, deren Stangen am Ende goldene Scheiben zierten, in die Skorpione eingraviert waren. Am auffälligsten kam das Symbol des Skorpions jedoch auf dem massiven Goldarmband zur Geltung, das der König der Skorpione stets am rechten Handgelenk trug. Es hieß, dass dieser Armreif - auch das Armband des Anubis genannt - auf seltsame Weise verschollen war und zu der sagenhaften Oase von Ahm Shere führte, die als unauffindbar galt. Nach Rechnung der Wissenschaftler dauerte der große Feldzug, in dem der König der Skorpione die damals bekannte Welt vereinen wollte, fünf Jahre und endete 3112 v. Ch. Es heißt, dass der Soldatenkönig an der Spitze von fünftausend Soldaten marschierte, um einen Angriff auf Theben anzuführen; die von riesigen Mauern umgebene Stadt wurde von fünfzehntausend Sumerern verteidigt. Der König der Skorpione war kein General, der seine Männer von einem weit entfernt liegenden Lager aus anführte, er war ein kühner Kämpfer, der Schwert schwingend und Befehle brüllend an der Spitze seiner Truppe die Wüste durchquerte, um dem Feind gegenüberzutreten. Dabei blitzte ein fast wahnsinniger Ausdruck in seinen Augen, und seine lange Mähne schwang im Gleichklang mit seinem Schwert um seinen Kopf. Der König der Skorpione kämpfte wie ein Besessener, sein scharfes Schwert mähte den Feind wie Gras nieder, und sein Tun trieb seine Soldaten immer wieder zu größerer Tapferkeit, aber auch zu neuen grausamen
Bluttaten an. Die Sumerer rückten jedoch unaufhaltsam nach, bis sie die Armee des Königs der Skorpione förmlich überrannt hatten. Bald war jene vom Wüstenstaub, den sie selbst so unvorsichtig aufgewühlt hatte, verschluckt, denn immer tiefer trieben die Verteidiger Thebens die geschlagene Armee in die heilige Wüste von Ahm Shere. Dort kämpften der König der Skorpione und seine Mannen nun eine andere, viel hoffnungslosere Schlacht, denn ihre Gegner waren Sonne, Sand und Durst. Der kümmerliche Rest einer Armee, die sich für unbesiegbar gehalten hatte, taumelte und stolperte in der unermesslichen Weite umher und schleppte sich wie auf einer Expedition ins Nirgendwo Sanddünen hinauf und hinunter. Aus Stunden wurden Tage, und die Krieger starben einer nach dem anderen, ihre verstreuten Leichen dienten den Vögeln als Nahrung; nur die Knochen blieben in der bleichenden Sonne zurück. Sie boten eine schreckliche Spur, der niemand zu folgen wagte. Am Ende blieb nur der König der Skorpione übrig. Am Fuße einer Sanddüne, die einer riesigen Pyramide glich, starrte er zur Spitze hinauf, die von der Sonne in goldenes Licht getaucht war. Sie schien ihm zuzuzwinkern, als verspreche sie ihm einen Schatz. Überzeugt davon, dass ihn hinter dieser Düne eine Oase erwartete, stolperte er taumelnd hinauf. Er kletterte und schwankte weiter und weiter, ohne auf alle viere zu fallen, bis er den Gipfel erklommen hatte ... ... wo er noch mehr Sand und noch mehr Dünen sehen konnte. In diesem Moment ließ sich der König der Skorpione doch auf die Knie sinken. So kräftig er auch war - die Tage in der glühenden Hitze ohne Wasser und ohne Nahrung hatten ihren Tribut verlangt, er war mit seinen Kräften am Ende. Mit drohender Faust blickte er zum glühenden Himmel; dabei funkelte sein Armband in der Sonne, und er stieß einen Fluch
aus, der in den sandigen Tälern widerhallte. »Anubis!«, schrie er, und seine krächzende Stimme glich dem Rascheln, mit dem sich sein Namensvetter durch den Sand bewegte. »Verschone mich, schenk mir mein Leben und lass mich meine Feinde erobern - ich werde dir das geben, was die Götter mir versagten: eine Pyramide aus Gold. Ich werde dir diesen wunderschönen Tempel bauen!« Der Himmel antwortete nicht, aber ein Rascheln neben ihm im Sand zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er schaute nach unten und erblickte einen Skorpion - einen echten, lebendigen, nicht das goldene Symbol, das direkt auf ihn zukroch, als verspotte er die pompösen Kriegsinsignien des Kriegers. Der König der Skorpione schickte ein verächtliches Schnauben gen Himmel, ergriff das zuckende Tier und ließ zu, dass es ihn stach. Er zuckte vor Schmerzen zusammen, schob sich den Skorpion in den Mund, kaute darauf herum und schluckte ihn schließlich hinunter. »Eine Pyramide aus Gold und meine Seele!«, schrie er und forderte den Himmel heraus. »Das ist mein Angebot! Ich warte auf deine Antwort!« Plötzlich verwandelte sich der Sand um ihn herum in eine grüne Fläche. Eine üppige Vegetation schoss explosionsartig aus dem Boden, und Pflanzen und Bäume wuchsen sekundenschnell in die Höhe, ein Vorgang, der normalerweise Monate, wenn nicht Jahre dauerte. Das Geräusch von sanft plätscherndem Wasser zog den König der Skorpione auf die Füße, und er verließ die mit exotischen Pflanzen bewachsene Düne und ging auf das Leben spendende, sprudelnde Wasser zu. Darin kühlte er seine aufgesprungenen Lippen und spülte den bitteren Nachgeschmack seines Namensvetters hinunter. Und so entstand, der Legende nach, aus dem Pakt zwischen dem König der Skorpione und dem großen Gott Anubis die Oase von Ahm Shere.
Mit der Beute und den Sklaven, die eine vom König der Skorpione angeführte, plündernde Armee sammelte, wurde ein goldener Tempel erbaut. Aber dieses Heer bestand nicht aus Männern wie jene, deren Knochen verstreut in der Wüste lagen und so die Niederlage der vorherigen Schlacht symbolisierten. Diese Soldaten waren Dämonen, Monster, Krieger, die Anubis geschaffen hatte; Krieger von hünenhafter, hündischer Gestalt, deren Skelette nur mit Muskeln bedeckt waren. Ihre Augen waren glühende Kohlen in den haarigen, schrecklichen Köpfen, die denen von Schakalen glichen. Sie bellten und knurrten und jaulten vor hämischer Freude, wenn ihre Schwerter Körper aufschlitzten, Köpfe rollen ließen, Körperteile zerschmetterten und überall Blut floss. Die letzte Stadt, die diesem höllischen Feldzug zum Opfer fiel, war - wie kann es anders sein - Theben. Tausende der schrecklichen Anubis-Krieger schwärmten durch die einst prachtvolle Stadt und legten sie in Schutt und Asche. Dem König der Skorpione kam es schon lange nicht mehr auf die bloße Eroberung an, sondern er wollte zerstören. Die Häuser wurden mit krachenden Rammböcken zum Einsturz gebracht, und Männer und Frauen schrien vor Angst und Entsetzen, als die sadistischen Soldaten ihren teuflischen Launen folgten. Mitten in diesem Gemetzel, in einer Wolke aus Rauch so schwarz wie seine Seele, kostete der König der Skorpione - mit Blut und Schweiß bedeckt - seinen Triumph aus, und genoss die Vollendung seiner Rache. Seine kräftige, muskulöse Brust hob und senkte sich schwer unter dem goldenen Brustharnisch. Er drehte sich um und betrachtete seine grotesken Krieger diese Kreaturen, die wie eine große Sintflut alles hinweggefegt hatten - und schritt durch die Ruinen, die sie hinterlassen hatten. Diese hündischen Soldaten wirkten plötzlich verloren, da niemand mehr zu töten, nichts mehr anzuzünden, keine
Stadt zu erobern war. Sie hatten ihre Aufgabe erfüllt. Ein Krampf - so unerwartet und elektrisch wie ein Blitz schüttelte den Körper des Königs der Skorpione. Vor Schmerz sank er in die Knie, wie er es auf dem Gipfel der Sanddüne getan hatte. Er schrie vor ohnmächtigem Zorn, als der letzte Lebensfunke aus ihm herausgesogen wurde und er regelrecht in sich zusammenfiel. Das goldene Armband fiel von seinem Handgelenk auf den Boden. Um ihn herum hörte man die jämmerlichen Schreie der schakalähnlichen Kreaturen, die seine Armee gewesen waren. Sie lösten sich in ihre Bestandteile auf und wurden zu schwarzem Sand. Dem Mythos nach schickte Anubis seine Armee zurück in den Wüstensand, aus dem sie gekommen war und wo sie heute noch stumm auf den Tag wartet, an dem ein anderer Narr einen Handel mit den Göttern macht und sie wieder zum Leben erweckt. Es heißt jedoch, wenn sie das nächste Mal zum Leben erwacht, wird auch ihr Befehlshaber wieder lebendig. Und der nächste Feldzug des Königs der Skorpione wird nicht nur eine Stadt wie Theben in Schutt und Asche legen, sondern die ganze Welt.
TEIL 1: DAS LEICHENTUCH DER MUMIE
Kapitel 1. Der verhängnisvolle Tempel
Am linken Ufer des schimmernden blauen Nils - dem längsten Strom der Welt -, ein kurzes Stück nördlich von Luxor, der Stätte des antiken Thebens, lag die Steinruine eines prachtvollen Tempels; drei Kamele warteten dort geduldig auf ihre Herren, die die von der Sonne ausgedörrten Überreste der Säulenhalle und unterirdischen Kammern erforschten, welche man einst zu Ehren von Amun, dem Gott der Toten, und von Amun Ra, dem Gott der Lebenden und der Toten, erschaffen hatte. Der Tempel war um 1280 v. Chr. vollendet worden. Imhotep persönlich - Großwesir des Djoser und Hohepriester Osiris -, ein Mann von großer Gelehrsamkeit und Macht, hatte den Tempel entworfen und den Bau überwacht. Angeblich hat er die Methode erfunden, die schweren Steine, aus denen die großen Pyramiden gebaut wurden, zu transportieren und aufeinander zu stapeln. Imhotep hatte jedoch den Pharao Sethos betrogen und zur Strafe den Fluch des Hom-dai erdulden müssen, d. h. die Erinnerung an ihn wurde im ganzen Königreich ausgelöscht. Und so kam es, dass der glorreiche Tempel des Imhotep lange vor der Geburt Christi verfallen war. Heute, im Sommer des Jahres 1933, konnte man sich seine Herrlichkeit nur noch
annähernd vorstellen, so als untersuchte man eine vertrocknete Mumie und versuchte sich ein Bild von dem großen Krieger könig zu machen, der er einst gewesen war. Im Innern des Tempels, in dessen Dunkelheit Sonnenstrahlen durch Risse in der Decke eindrangen, ragten riesige Säulen von dem mit Steinen übersäten Boden einer Totenkammer, in der Geschichte, Erinnerungen und vielleicht auch Geister noch lebendig waren ... wie die kleine Gestalt, die einen langen Schatten warf, durch die Dunkelheit auf eine Wand auf der anderen Seite zuschlich, die mit Hieroglyphen geschmückt war, um dann in einen Spalt zu schlüpfen. In den darunter liegenden Katakomben blickte Richard O'Connell abrupt von seiner Arbeit auf. Mit wachsamem Blick reagierte er auf das Geräusch zu seiner Linken über ihm, trat an eine Stelle unter der Decke, an der das Sonnenlicht durch sickerte, und schaute dorthin, wo die Bewegung, das Geräusch herkam ... O'Connell war kein Ägyptologe - die Zeitungen, Zeitschriften und die Wochenschau hatten ihm so einfallsreiche Namen wie >ForscherGlücksritter< und >Abenteurer< verliehen, wobei sie häufig seinen Status als ehemaliger Colonel der französischen Fremdenlegion zitierten ... obwohl Letzteres ausschließlich dem Umstand zu verdanken war, dass Corporal O'Connell stellvertretend das Kommando übernommen hatte, als der eigentliche Colonel desertiert war. Das lag bereits zehn Jahre zurück und war der Beginn eines Abenteuers gewesen, das sein Leben verändern sollte - obwohl sich sein Leben in letzter Zeit bei weitem nicht mehr so ereignisreich gestaltet hatte. Nichtsdestoweniger - selbst wenn ihm das nicht auffiel und ihm diese sentimentalen Bezeich nungen der Presse ziemlich lächerlich vorkamen - hatte Rick O'Connell immer noch das schneidige Auftreten eines modernen Mannes der Tat. Das Alter konnte seinen kantigen
Zügen, dem forschen Blick seiner blauen Augen und seinem jungenhaften, guten Aussehen nichts anhaben. Sonnengebräunt, mit dichtem, schwer zu bändigendem brau nen Haar, das an den Schläfen mit kaum sichtbaren Silberfäden durchzogen war, hatte O'Connell immer noch die gleiche durchtrainierte Figur wie in den Tagen bei der Fremdenlegion. Mit seinem offenen Kragen, den aufgerollten Ärmeln und den in die Stiefel gesteckten Chinos - eine Hand auf dem Pistolenhalfter - hätte O'Connell es als Held jederzeit mit Douglas Fairbanks aufnehmen können. Und genau in diesem Moment wurde ein Held gebraucht. Schritte, die sich mit nicht erkennbaren Geräuschen ver mischten, hallten durch die kalten Katakomben. Es war dieses gespenstische Geraschel, das jedem dunklen und unbewohnten Ort anhaftete. Verstohlen bewegte sich O'Connell die harte Felswand des Gangs entlang, öffnete das Pistolenhalfter und zog leise seinen Revolver heraus. Geräusche und Schritte hallten von den Wänden wider. Etwas kam näher. Was fiir eine tolle Idee, dachte O'Connell angespannt, einen verdammten Tempel zu untersuchen, den unser alter Kumpel Imhotep gebaut hat ... Er blieb an einer dunklen Wegbiegung stehen, jeder Muskel in seinem Körper war angespannt. Nun herrschte tödliche Stille. Dann stürzte er um die Ecke, den Revolver im Anschlag ... ... und erschreckte seinen achtjährigen Sohn Alexander zu Tode. »Hey!« rief der Kleine. Der engelsgleich aussehende Junge mit dem blonden Haarschopf, der mindestens genauso unbän dig wie der seines Vaters war, griff sich teils scherzhaft, teils ernsthaft ans Herz. »Mir wäre fast das Herz stehen geblieben.«
»Bei mir war es nicht nur fast soweit«, entgegnete sein Vater und schluckte, dann steckte er die Waffe in das Halfter zurück. »Ich habe dir doch gesagt, dass du oben im Tempel warten sollst!« Alexander O'Connell, der ein kurzärmeliges weißes Hemd und dunkelblaue Shorts trug, antwortete in der typischen Manier eines Jungen in seinem Alter. »Aber Dad ...« »Kein aber, Junge. Es ist gefährlich hier unten. Das ist noch unerforschtes Terrain.« Alex trat näher an seinen Vater heran. »Aber ich habe etwas entdeckt! Etwas, das ich dir auf der Stelle erzählen wollte.« »Was hast du entdeckt?« »Deine Tätowierung!« O'Connell hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon sein Sohn sprach. Alex war schon seit langem von der kleinen Tätowie rung auf der Hand seines Vaters fasziniert, kein Wunder, dass es dem Jungen sofort aufgefallen war. »Ich habe die gleiche Zeichnung auf der Wand entdeckt«, erklärte ihm Alex rasch, und die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. »Oben, am Eingang, ist eine Kartusche gezeichnet, die genauso aussieht wie deine Tätowierung! Ehrlich.« »Das bezweifle ich auch nicht, Junge ...« »Sie sieht genauso aus wie das hier«, sagte der Junge und griff nach der Hand seines Vaters. Er drehte sie, so dass sein Vater die Tätowierung betrachten konnte. O'Connell hatte selbst immer wieder darüber nachgedacht, warum sein eigener Vater sie ihm vor langer Zeit - er wusste nicht mehr wann hatte machen lassen. Die Tätowierung zeigte den Kompass eines Seemanns, der in südliche Richtung zeigte, und die Schwingen eines Falken, die nach oben zeigten und eine Pyramide formten. In der Mitte befand sich das >Auge des Horus
Nebeneinander gingen sie die breite Treppe hinauf. »Muss es immer so ablaufen? Wie lauten die Einzelheiten erzähl schon.« »1150 v. Chr.«, begann sie mit knapper, belehrender Stimme, »schickte Ramses IV. eine Expedition los, der es als Letzte gelang, die Oase tatsächlich zu erreichen. Die Expedition war tausend Mann stark.« »Sag jetzt nicht, dass keiner von ihnen je wieder aufgetaucht ist.« Unschuldig schlug sie die Augen nieder. »Bist du sicher, dass du dich nicht doch in diese Sache eingelesen hast?« Seufzend schüttelte er den Kopf und sagte: »Ich hab' einfach drauflosgeraten. Erzähl weiter.« »Habe ich bereits die goldene Pyramide erwähnt?« »Oh, wie nett. Juwelen spielen auch noch eine Rolle. Gier gibt den Dingen doch immer die richtige Würze.« Sie waren auf dem Treppenabsatz angekommen. Evy blieb stehen und lächelte ihn spitzbübisch an. Inzwischen machte ihr die Unterhaltung richtig Spaß und sie wollte ihn noch stärker reizen. »Alexander der Große hat Truppen losgeschickt, um sie zu suchen.« »Was du nicht sagst.« »Und Julius Caesar.« »Nein, wirklich?« »Nicht zu vergessen Napoleon.« »Und nicht zu vergessen, den alten Nappy. Natürlich sind sie nicht selbst gegangen. Sie waren klug genug, jemand anderen zu schicken, der niemals zurückkehren konnte.« »Richtig.« »Ich meine, wir würden das doch auch nicht tun, oder? Selber gehen? Weil wir es ja besser wissen.« »Du hast Recht ...«
»Gut. Endlich hast du es begriffen.« »... keiner von ihnen ist zurückgekehrt.« Evy ging weiter die Stufen hoch, lief die Balustrade in der Bibliothek entlang, zog Bücher aus den Regalen und Karten aus den dafür vorgesehenen Schubladen. O'Connell folgte ihr erschöpft. Er würde es zwar nie zugeben, aber er hatte außer dem Angst ... Angst davor, wohin sie die neueste Obsession seiner Frau führen würde. Seine Gedanken überschlugen sich, und er suchte fieberhaft nach einem Weg, zu ihr durchzu dringen und ihre Entschlossenheit zu schwächen. Leider entging seiner Aufmerksamkeit, dass zwei Limousinen mit verhängten Fenstern und ausgeschalteten Scheinwerfern langsam die Einfahrt auf ihr Haus zurollten. Eine Tatsache, die ihm vielleicht in dieser Sache geholfen hätte. Eins der Fahr zeuge verschwand um die Ecke, während das andere vor dem Haupteingang stehen blieb. Ein Vorhang wurde zurückgezogen und ein dunkelhäutiger Fahrgast mit kantigen Gesichtszügen spähte hinaus: Lock-nah, Meelas Leibwächter. Und wie der unglückliche Zufall es so wollte, konnte Lock nah durch das offene Fenster in die Bibliothek sehen, in der Alex O'Connell mit einem kleinen, aber schweren Gegenstand hantierte. Es war ein höchst wertvoller Gegenstand: das verzierte Kästchen, in dem sich das Armband des Königs der Skorpione befand. Der Junge schwankte unter dem überraschend schweren Gewicht des Kästchens; seine Eltern hatten ihm erlaubt, das Kästchen hereinzutragen, das, obwohl es nicht sehr groß war, in keinen Koffer passte. »Uff!«, stieß der Junge atemlos hervor und machte eine Pause. Er trug kurze blaue Hosen und die dazu passende Jacke. »Dieses gottverdammte Ding wiegt ja eine Tonne!« »Alex! Achte auf deine Ausdrucksweise!«, schalt in seine Mutter von oben.
»Also, ich muss sagen, das ist ja erstaunlich schwer«, sagte er bemüht vornehm. Alex stellte das schwere Kästchen etwas unsanfter ab als beabsichtigt; dadurch löste er einen Mechanismus aus, denn er hörte im Inneren ein lautes Klicken. Er schaute zur Galerie hinauf, wo seine Eltern in ein angereg tes Gespräch vertieft waren; daraufhin suchte er in seiner Tasche nach einem bestimmten Schlüssel. Ein letzter Blick, ob seine Eltern auch wirklich abgelenkt waren, dann kniete sich der Junge hin und steckte den Schlüssel ins Schloss. Oben auf der Galerie stand O'Connell dicht vor seiner schönen Frau. Er strich ihr eine Haarlocke aus dem Gesicht und sagte: »Evy, den ersten dieser seltsamen Träume hattest du doch vor genau sechs Wochen, richtig?« Verblüfft antwortete sie: »Hm, ja. Vermutlich ja. Hier.« Sie drückte ihm einen Stapel Bücher in die Arme und ging weiter die Regale entlang. O'Connell holte sie ein und versperrte ihr den Weg. »Sechs Wochen, das fällt zufällig mit dem ägyptischen Jahreswechsel zusammen.« Beeindruckt meinte sie: »Ich wusste doch, dass du Recher chen angestellt hast ...« »Das Neue Jahr nach ägyptischer Zeitrechnung, Schätzchen, auch bekannt als das Jahr des Skorpions.« Jetzt wurde ihr Gesichtsausdruck nachdenklich und zeigte sogar einen Anflug von Besorgnis. »Ja ... das Jahr des Skorpi ons. Stimmt.« Sanft hob er mit dem Zeigefinger ihr Gesicht zu sich empor und schaute sie an. »Ev, ich bitte dich, lass uns zur Abwechs lung mal etwas vorsichtiger sein.« Sie brachte ein kleines Lächeln zustande. »Wir waren noch nie vorsichtig.« Unbemerkt hatte Alex das Kästchen geöffnet und herausge
funden, woher das Klicken gekommen war: Das goldene Arm band mit dem Skorpionsymbol hatte sich geöffnet. Fasziniert starrte er auf den Gegenstand, der ihm im Schein des Lichts regelrecht zuzwinkerte. Sollte er ...? Vorsichtshalber schaute er zu seinen Eltern hinauf, die jedoch nicht auf ihn achteten. »Ich gebe ja zu, dass wir nicht immer vorsichtig waren«, sagte O'Connell zu seiner Frau, »aber du hast auch noch nie zuvor antike Prinzessinnen heraufbeschworen. Diese, diese Halluzinationen ...« »Vielen Dank. Ich ziehe es vor, sie als Visionen zu bezeich nen.« »Wie immer du sie auch nennen willst, in diesem Tempel waren wir so dicht davor ...« Er maß mit Daumen und Zeigefinger ein paar Zentimeter ab. »...die Farm zu kaufen.« Verwirrt runzelte sie die Stirn » Warum sollten wir eine Farm kaufen, wenn wir dieses Haus haben? Und außerdem ist vom Vermögen meiner Eltern nicht genug übrig, um überhaupt etwas zu kaufen ...« »Ev, das ist doch nur eine Redewendung«, sagte er ein wenig ungehalten. »Die Farm kaufen heißt sterben.« »Na ja«, entgegnete sie gereizt, »mir ist es lieber zu sterben als eine Farm zu kaufen.« So wie Alex nicht auf das Gespräch seiner Eltern achtete, so schenkten sie ihm ebenfalls keine Beachtung. Alex, dessen Augen vor Vergnügen funkelten, wie das nur bei Kindern der Fall sein kann, krempelte seinen Ärmel hoch und legte sein Handgelenk behutsam in das offene Armband ... das sofort zuschnappte wie ein beißendes Krokodil. Alex unterdrückte einen Überraschungslaut und sprang ent setzt zurück. Er starrte auf das schwere, goldene Armband, das sich praktisch wie von selbst um sein Handgelenk geschlossen hatte.
Währenddessen legte O'Connell den Stapel Bücher auf einem Stuhl ab, nahm seine Frau in die Arme und genoss es, ihren weichen Körper an sich zu spüren. »Du weißt doch«, sagte er leise und aufrichtig, »ich würde lieber sterben als zuzulassen, dass dir wieder etwas Schreck liches passiert...« Sie strich ihm die Haare aus der Stirn und strahlte ihn an. »O Liebster, du weißt, dass ich genauso fühle.« »Du und Alex, ihr seid das Wichtigste für mich auf der Welt.« Sie schmiegten sich eng aneinander. Unterdessen durchlebte der ihnen so teure Sohn eine ähnliche Vision wie seine Mutter im Tempel des Imhotep ... ein schwebendes dreidimensionales Schaubild der Gizeh-Ebene drei Pyramiden, eine Sphinx, alle im makellosen Zustand wie eine frisch gedruckte Münze. Als er die Hand ausstreckte, um die geometrischen Figuren zu berühren, entfernte sich das Bild von ihm - oder war es Alex, der davon schwebte? Er durchlebte das unglaubliche Gefühl, den Nil entlang zu rasen, als säße er in einem Autogiro. Er fegte durch die Wüste und hielt am Tempel von Karnak an. Es war ungefähr das Jahr 2000 v. Chr. (Alex wusste, dass es dieses Datum war, obwohl er nicht hätte sagen können, warum ...) Die Vision schien sich in nichts aufzulösen und ließ den Jungen leicht benommen zurück; er starrte auf das schwere goldene Armband, das sein Handgelenk umschloss. Alex schüttelte den Kopf, als wolle er so seine Gedanken zurechtrütteln, und zerrte dann verzweifelt an dem Armband, um das verdammte Ding zu entfernen. Aber es hatte keinen Haken oder Verschluss - fast war es so, als sei das Armband mit seinem Handgelenk verbunden. Seine Eltern küssten sich - es war ein langer und zärtlicher Kuss, und als Evy sich schließlich von ihm löste, ohne ihn
jedoch loszulassen, sagte sie: »Ich mag es nicht, wenn du das tust.« O'Connell blickte sie fragend an: »Was?« »Wenn du das tust, habe ich immer das Gefühl, als würde ich dir in allem zustimmen.« O'Connell grinste sie an. »Auch dem Vorschlag, nichts zu tun? Für eine Weile mal nicht zu forschen und auszugraben?« »Nun ... die Bembridge Wissenschaftler drängen mich schon lange, den ägyptischen Flügel des Britischen Museums zu übernehmen. Dadurch wären wir häufiger zu Hause und ich könnte eine gute Mutter und moderne Frau sein.« »Das klingt gut ... wie war das noch gleich? Du wolltest mir doch in allem zustimmen ...?« Sie lachte und schmiegte sich noch enger an ihn. In diesem Augenblick fiel O'Connell der rosafarbene Büstenhalter auf, der an einem Kronleuchter hing. »Das ist wohl kaum einer von deinen, oder?«, fragte er sie. »Nein.« Mit einem Seufzer ließ O'Connell seine Frau los und sagte: »Ich glaube, wir haben unseren Haushüter vergessen.« »Ach ja«, sagte sie und starrte auf den herunterbaumelnden Büstenhalter. »Bruder Jonathan - das sieht ganz nach ihm aus.« »Ich sage ihm lieber Bescheid, dass wir wieder zu Hause sind«, knurrte O'Connell, »und rate ihm, sämtliche ... Besucher wegzuschicken.« Evy lachte und meinte: »Zum Glück hängt nur Wäsche vom Kronleuchter und nicht Jonathan selbst.« O'Connell beugte sich über das Geländer und schaute auf Alex hinunter, der neben dem kleinen goldenen Kästchen saß, dessen Inhalt Evy so unternehmungslustig machte. »Alex! Glaubst du, dass du dich ein paar Minuten benehmen kannst?« »Klar!«, erwiderte der Junge und zog den Ärmel über das
Armband. Er betete, dass sein Vater nichts bemerkt hatte, was zum Glück der Fall war. O'Connell verschwand in einem Korridor und Evelyn ging die Treppe hinunter, da es an der Zeit war, mal nach ihrem kostbaren Sohn zu sehen. Alex hörte die Schritte, schloss rasch das Kästchen, hob es hoch und stellte fest, dass es ohne das Armband leicht wie eine Feder war. Rasch nahm er eine schwere Vase vom nahe gelegenen Tisch, stopfte sie in das mit Samt ausgelegte Kästchen und schlug den Deckel wieder zu. Genau in dem Augenblick bog seine Mutter um den Bücherschrank. Sie fuhr ihm durchs Haar und fragte: »Schön, wieder zu Hause zu sein, nicht wahr?« »Es ist himmlisch«, sagte der Junge und schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln. »Würdest du das für mich aufmachen?« bat sie ihn und zeigte mit dem Kopf auf das Kästchen. »Was aufmachen?« »Das Kästchen.« »Warum?« Seine Mutter seufzte - offensichtlich bewies sie bei dieser Diskussion nicht viel Geduld. »Weil ich seinen Inhalt, nämlich das goldene Armband, in unseren Wandsafe tun möchte. Es ist von unschätzbarem Wert.« »Das würde ich ja tun, wenn ich den Schlüssel finden könnte.« »Du hast den Schlüssel verloren? Alex, wenn du den Schlüssel tatsächlich verloren hast, kannst du dich von deinem Taschengeld verabschieden ...« »Ich habe ihn nicht verloren! Ich kann ihn nur nicht finden.« Er versuchte sein süßestes Lächeln. »Das ist etwas ganz anderes.« Ungewollt musste seine Mutter lachen.
»Nun, ich habe auch schon das eine oder andere verlegt. Na gut, dann fang an zu suchen.« »Das mache ich, Mum. Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen, also wirklich, ich bin ...« Er reckte die Arme und täuschte ein Gähnen vor, nahm die Hände jedoch rasch wieder herunter, als er bemerkte, dass er beinahe das goldene Armband an seinem Handgelenk entblößt hätte. »... bin ziemlich müde. Könnte ich nicht ins Bett gehen?« »Alex O'Connell fragt, ob er früh ins Bett gehen darf? Das ist ja ganz was Neues. Na gut. Die Sache kann ja auch bis morgen warten.« Als wolle sie dem widersprechen, ertönte am Eingang zur Bibliothek eine tiefe Stimme: »Ich übernehme das Kästchen jetzt!« Mutter und Sohn richteten gleichzeitig den Blick auf die große Gestalt mit dem rotem Turban, die mit riesigen Schritten auf sie zukam. Es war ein ausgesprochen gut aussehender Araber in einem dunklen Umhang und einem weißen lockeren Anzug; letzeres Wüstengewand erinnerte Alex stets an einen Pyjama. »Bleiben Sie, wo Sie sind!«, befahl Evy. Der Araber ging weiter. Seine Hand zog unter seinem Gewand ein Schwert hervor, das bedrohlich aufblitzte. »Geben Sie mir das Kästchen!« »Wer sind Sie?« Alex' Mutter trat vor und stellte sich schützend vor ihren Sohn. Sie schob energisch ihr Kinn nach vorn, und ihre Stimme verriet keine Furcht. »Ich verlange zu erfahren, was Sie in meinem Haus zu suchen haben!« Der Araber hatte sie fast erreicht. »Geben Sie mir das Kästchen!«
An der Wand direkt hinter ihnen hing ein großes römisches Schwert; Evy nahm es mit einer flinken Bewegung herunter und stellte sich in Kampfposition. »Hua!«, entfuhr es Alex. »Verschwinden Sie aus meinem Haus«, sagte seine Mutter gebieterisch zu dem Araber, der sicherheitshalber stehen geblieben war. »Mum...« Alex zupfte sie am Ärmel. »Das ist nicht unbedingt eine deiner besten Ideen ...« »Pst«, entgegnete sie und wandte sich an den Araber: »Gehen Sie jetzt, bevor mein Ehemann Sie entdeckt ... und Sie tötet.« In dem Moment platzten drei weitere Wüstenkrieger mit Schwertern in den Händen in die Bibliothek. Alex schluckte schwer und zog am Kleid seiner Mutter. »Ich glaube, es wäre an der Zeit, nach Dad zu rufen ...« »Gehen Sie zur Seite«, befahl der Araber, »dann nehme ich das Kästchen und lasse Sie und Ihren Sohn am Leben.« »Nein«, erwiderte sie. Der Araber zuckte mir den Achseln. »Dann werde ich Sie jetzt beide töten und das Kästchen trotzdem mitnehmen.« »Das glaube ich kaum«, rief eine tiefe, rauchige Stimme. Alex schaute hinter seiner Mutter hervor, die auch wissen wollte, wo diese Worte herkamen, und erblickte einen erhabe nen, bärtigen Wüstenkrieger in einem dunklen Gewand und mit tief gebräunten, kantigen Zügen. Seine Wangen waren mit selt samen puzzleähnlichen Tätowierungen bedeckt. Keiner wusste, wo er hergekommen war, und es schien, als wäre er aus dem Nichts aufgetaucht. »Med-jai!«, rief einer der Turbanträger, während der Anführer wie erstarrt und schweigend den Neuankömmling musterte. »Sieh einer an«, sagte Evelyn fast beiläufig zu diesem neuen Mitspieler und hielt das Schwert so gleichgültig in die Höhe,
als wäre es eine Taschenlampe. »Rick würde jetzt sagen: >Lange nicht gesehenIch bin ein Fremder aus dem Osten auf der Suche nach dem, was verloren ging< ...« Ohne nachzudenken vollendete O'Connell automatisch den Satz und hörte sich selbst wie von Ferne sagen: »Ich würde antworten: >Ich bin ein Fremder aus dem Westen, auf der Suche nach seinem Ichalter FreundNein< geantwortet, als wäre die nervtötende Frage berechtigt. »Sind wir ...« setzte der Junge an. Lock-nah sprang auf. Wie durch Zauberei erschien ein Messer in seiner Hand. Der Araber schleuderte die funkelnde Waffe auf die trommelnden Finger des Jungen, die Klinge schlug in das Holz der Fensterbank und blieb zitternd zwischen Alex' Zeige- und Mittelfinger stecken. Auch Alex zitterte. Er vollendete seine Frage nicht, eine Frage, die er auf dieser Reise nie wieder stellen würde. Der Junge zog seine Hand aber auch nicht vom Fensterbrett, sondern bemühte sich krampfhaft, ruhig zu bleiben und sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. Er starrte auf die kalten, kantigen Züge des Arabers und bemerkte beiläufig: »Hübsche Zielscheibe.« »Ich habe daneben getroffen.« Ungewollt riss Alex die Augen auf. Lock-nah musterte den Jungen bedrohlich, zog die Klinge aus dem Fensterbrett und setzte sich wieder; dann benutzte er die Klinge als Zahnstocher. Alex wusste, dass der Mann versuchte, ihn einzuschüchtern, und es ärgerte ihn am meisten, dass es auch noch funktionierte. Er starrte Lock-nah an und sagte: »Ich muss aufs Klo.« »Nein.« »Nein? Sie entscheiden nicht, ob ich zum Klo muss oder nicht!« Der Araber warf ihm einen kalten Blick zu. »Gehen zu müssen ist deine Entscheidung. Es dir zu erlauben, das ist meine.« »Dann mache ich in die Hose. Ich pinkle mir in die Hosen und erzähle deiner Herrin, dass Sie mich nicht zum Klo gehen ließen. Dann können Sie ja versuchen, ein paar Sachen für
mich auf zutreiben, die mir passen, und …« Lock-nah sprang erneut auf. Alex schluckte. Dieses Mal warf der Araber nicht die Klinge nach ihm, sondern zeigte nur auf die Toilette am Ende des Wagons. Alex stand rasch auf und ging in die Richtung. Er öffnete die Tür und erblickte das schmutzigste Scheißhaus in ganz Ägypten, noch dazu fensterlos. »Vielleicht sollte ich direkt in die Hose machen«, sagte der Junge. »Los, rein da!« schnarrte Lock-nah und schob ihn in das stinkende Loch. Die Tür ließ er offen. Alex öffnete die Knöpfe seiner kurzen Hosen. Dann blickte er zu Lock-nah, der hinter ihm eingetreten war und nun mit vor der Brust verschränkten Armen wie ein zorniger Harems wächter da stand. Über die Schulter hinweg sagte Alex: »Wollen Sie etwa die ganze Zeit da stehen und mir zusehen?« »Beeil dich!« Na ja, dachte Alex, zumindest hat diese Toilette eine Klofrau. »Hören Sie«, sagte der Junge. »Ich kann nicht pinkeln, wenn mir jemand dabei zusieht ...« »Okay«, knurrte Lock-nah, ging hinaus und schlug die Tür zu. Alex schaute sich in der abscheulichen Umgebung um. Dann sah er in den Topf und musste sich fast übergeben. Wusste denn hier niemand, wie man eine Toilettenspülung bedient? Während er versuchte, den Gestank nicht einzuatmen, langte der Junge vorsichtig nach der rostigen Kette der alten Toilettenspülung und zog daran - obwohl er ansonsten bemüht war, nichts in diesem Raum zu berühren. Während er sich abwandte, hörte er ein lautes, glucksendes Geräusch. Er sah hinunter und entdeckte, wie das Ding funktionierte. Der Boden
öffnete sich, und die Spülung ergoss sich mit dem Unrat auf die Zugschienen. Alex pinkelte, knöpfte sich die Hose zu und zog erneut die Spülung; dabei dachte er über einen Plan nach. Er schaute zurück zu der verschlossenen Holztür, hinter der Lock-nah wartete. Entschlossen packte er die rostige Toilette und verbannte sämtliche Gedanken an Bazillen aus seinem Kopf. Er zerrte daran und stellte fest, dass sie nur locker am Boden befestigt war, so wie er vermutet hatte. Er zog sie so weit von ihrem Platz bis eine Öffnung zu sehen war, durch die er sich zwängen konnte. Was sonst noch durch dieses Loch gegangen war, interessierte nicht. Dieses Scheißhaus war Alex' Fluchtmöglichkeit ... ... wenn nur die Schienen nicht so nah daran vorbeiführen würden. Wenn er durch die Öffnung sprang, würde er Leib und Leben riskieren. Lock-nahs gedämpfte Stimme drang durch die Tür: »Beeil dich!« »Ich bin noch nicht fertig«, rief der Junge und stöhnte überzeugend; dadurch konnte er etwas Zeit gewinnen. Wenn doch nur der Zug anhielt oder wenigstens langsamer fahren würde ... Als ob sein Flehen erhört worden sei, blieb der Zug plötzlich stehen. Metall quietschte auf Metall. Alex konnte nicht ahnen, das der Zug in der Nähe des Tempels von Karnak, ihrem Bestimmungsort, angelangt war und deshalb anhielt. Doch die Gründe spielten keine Rolle. Er dachte noch nicht einmal darüber nach, dass er dann in der Wüste auf sich allein gestellt war. Er wusste nur, dass sich eine Fluchtmöglichkeit bot, ob nun durch ein Scheißloch oder nicht, er musste die Gelegenheit nutzen. Er schob die rostige Toilette noch etwas weiter zur Seite und ließ sich durch das Loch auf die Schienen fallen. Auf allen
vieren kroch er unter dem Zug hervor und lief auf den Sandhügel zu. Dort erblickte er den riesigen Tempel mit seiner uner messlichen Anzahl von Säulen. Er wusste sofort, dass dies der große Armin-Tempel von Karnak war. Selbst als er unter der unbarmherzigen Sonne über den heißen Sand um sein Leben rannte, wusste der Junge, das sein verstorbener Großvater als Erster diese Ruinen erforscht hatte und sein Tod dem Fluch des Königs Tut-Ench-Amun zugeschrieben worden war. Hinter ihm schrien die Männer auf Arabisch und in gebrochenem Englisch. Er hörte Lock-nah brüllen: »Der Junge ist entwischt!« Doch am schrecklichsten war das Geräusch des Gewehrfeuers, das die Wächter auf dem Dach des Zuges eröffneten. Kugeln schlugen neben ihm ein, doch Alex wich aus und rannte durch die Ruinen auf den großen Tempel zu. Hinter sich hörte er etwas zu Boden krachen, wusste aber nicht, was es war. Das Geräusch, das der Junge nicht deuten konnte, kam von der Tür des Güterwagens, die gewaltsam aufgerissen wurde. Der erneuerte Imhotep trat mit der schönen Meela an seiner Seite an die geöffnete Tür. Die Aufregung um ihn herum hatte ihn aufmerksam gemacht, deshalb wollte er sich draußen umschauen. Er hörte über sich die Schüsse auf dem Dach des Güterwagens. Imhotep, dessen dunkle Gewänder den größten Teil seiner unbehaarten, muskulösen Brust freiließ, lehnte sich aus dem Wagon und schaute zu den Wächtern hinauf, die auf den fliehenden Jungen zielten. Imhotep war erfüllt mit Zorn. Hatte er nicht den Befehl gegeben, dass dem kleinen O'Connell unter keinen Umständen etwas zustoßen dürfe? Langsam, ganz langsam hob die Mumie die Arme. Mit großen Augen beobachtete Meela, wie der golden
schimmernde Imhotep etwas Unsichtbares von großem Gewicht in die Höhe hob. Über ihr schrien Menschen, und sie beugte sich vor, um nach oben zu schauen. Sie sah, wie die Wächter in die Luft gehoben wurden. Die Gewehre fielen ihnen aus den Händen und krachten auf das Dach. Unvermittelt prallten die Männer zusammen und das unerträgliche Geräusch brechender Knochen ließ ihre Schreie verstummen. Wie Puppen flogen sie von ihrem Hochsitz in den Sand und in die Ruinen. Beeindruckt von diesem Beweis seiner Macht schmiegte sich Meela an den Arm Imhoteps, der allerdings gegen die Tür des Güterwagens fiel. Anscheinend hatte ihn dieser Aufwand an körperlicher Energie erschöpft; sie legte einen Arm um ihn und tröstete ihn liebevoll. Doch so müde Imhotep auch war, richtete er seinen Blick auf den Kalksteintempel, in welchem der Junge verschwunden war. Alex war tatsächlich, auf der Suche nach einem Versteck, in eine der großen Hallen des Tempels gelaufen; doch dort suchte ihn eine Vision heim, die das goldene Armband an seinem Handgelenk ausgelöst hatte. Er befand sich in einem Raum, so neu wie die Zukunft, umgeben von teuren, feingearbeiteten Reliefs, die der trium phalen Züge des Pharaos Sethos gedachten. Dann raste die Vision mit dem Jungen davon, durch die Wüste zu einem anderen Tempel, der Tempelinsel von Philä, ca. 2000 v. Chr., wo ein Mann, ein muskulöser, großer Mann von edlem Gebaren direkt auf Alex zukam ... ... der plötzlich wieder im Tempel von Karnak war. Der Mann kam immer noch auf ihn zu und dieser Mann war der wiedergeborene Imhotep, dessen Blick Alex fixierte und ihn davon abhielt zu fliehen. Die würdevolle, in schöne Kleidung gehüllte Mumie blieb vor dem Jungen stehen und hob die
Hand. Aber nicht um den Jungen zu schlagen, im Gegenteil. Alex schwebte vom Boden wie Peter Pan, bis er auf Augenhöhe mit Imhotep war, dessen schönes Gesicht sich vor Anstrengung bei dieser bemerkenswerten Tat hässlich verzerrte. Dann atmete Imhotep aus, entspannte sich und entließ Alex aus seiner psychischen Umarmung. Der Junge fiel unsanft auf den harten Steinboden. Imhotep lächelte, als sei er geradezu stolz auf den Jungen, und drohte ihm mit dem Zeigefinger. »Böse, böse«, sagte er und streckte seine Hand aus.
Alex schluckte und kam nur widerwillig auf die Füße.
Er klopfte seine kurzen Hosen ab und ergriff die Hand der
Mumie.
Kapitel 4. Visionen
In den rot glühenden Sonnenuntergang segelte Izzys Luftschiff hoch über dem Nil; die untergehende Sonne spiegelte sich in der glitzernden Oberfläche des Flusses, der in Flammen zu stehen schien. In all den Jahren von Evelyns Kindheit in Ägypten an hatte sie die klare Schönheit der Wüste und die wissende Stille des Nils immer wieder tief berührt. Während sie ihrem Bruder Jonathan half, die Sachen zusammenzupacken, die sie für die Fortsetzung ihrer Reise an Land benötigten, befiel sie ein seltsames, prickelndes Gefühl. Stimmen riefen nach ihr. Stimmen aus der Vergangenheit, doch nicht unbedingt aus ihrer eigenen. In ihrer Nähe reinigten der Anführer der Med-jai und ihr Ehemann die Waffen, luden sie nach und machten sich für die unvermeidbare Schlacht bereit, die vor ihnen lag. »Wenn ein Mann seine Vergangenheit nicht annimmt«, sagte Ardeth Bay zu Rick, »ist er nicht auf seine Zukunft vorbereitet.« »Na gut«, sagte Rick seufzend. »Angenommen, ich bin irgendein wiedergeborener Tempelritter der Freimaurer ...« »Das ist nicht genau, was ...« »Wie auch immer. Dann bin ich also ein Tempelritter, na und? Was bringt uns das denn jetzt hier?« »Es ist eine geistige Einstellung. Es ist der fehlende Teil Ihres Herzens, Ihrer Seele. Wenn Sie es annehmen, es beherzigen, ist nichts unmöglich, sogar der Sieg über das nahende Unglück.« »Na gut«, sagte Rick und zuckte mit den Achseln. »Dann sagen Sie mir doch mal, mit welcher Art von Unglück wir von unserem alten Freund Er, der nicht genannt werden soll rechnen können?«
Ardeth Bay lächelte zaghaft; anscheinend war ihm aufge fallen, dass Rick ihn auf den Arm nahm. »Da er mit Sicherheit nun vollkommen erneuert ist, gibt es keinen Grund mehr, warum wir ... ich ... ihn nicht bei seinem Namen nennen sollte.« »Imhotep.« »Imhotep«, bestätigte der Med-jai nickend »Da er seine mächtigen Kräfte rasch wiedererlangt, wird selbst der König der Skorpione ihm bei seiner Ankunft in der Oase von Ahm Shere nicht gefährlich sein können.« »Und der König der Skorpione ist kein Weichei, richtig?« Ardeth Bay schaute ihn verwirrt an. »>Weichei