Die Autorin Stella Whitelaw hat über 150 Kurzgeschichten in Zeitungen und Frauenzeitschriften veröffentlicht. Sie ist ve...
27 downloads
768 Views
957KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Die Autorin Stella Whitelaw hat über 150 Kurzgeschichten in Zeitungen und Frauenzeitschriften veröffentlicht. Sie ist verheiratet und lebt, mit ihrem Mann, ihren beiden Kindern und drei Katzen in Surrey.
Klappentext In ihren Katzengeschichten schafft es die Autorin Stella Whitelaw immer wieder, den Leser für ihre vierpfotigen Hauptfiguren zu gewinnen. Da ist Mafia Mog, der Schrecken der Nachbarschaft; Kipperbang, die einsame Katze, die nach Gesellschaft sucht; die wunderschöne, geheimnisvolle Glaskatze; und all die anderen Katzen und Kater, die dieses Buch bevölkern. Manchmal witzig, manchmal anrührend, aber immer fesselnd sind diese Erzählungen, die das Wesen dieser Freunde des Menschen einzufangen verstehen und aufzeigen, wie groß ihr Einfluß auf das menschliche Leben sein kann.
1
Dieses eBook ist nicht zum Verkauf bestimmt.
2
3
Stella Whitelaw
Die Katze von La Mancha und andere Geschichten Aus dem Englischen von Traudl Weiser
Knaur Deutsche Erstausgabe September 1995 ©1995 für die deutschsprachige Ausgabe. Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Titel der Originalausgabe »The Owl and the Pussi Cats« ©1993 by Stella Whitelaw Originalverlag Harper Collins, London Umschlaggestaltung Manfred Waller, Reinbek Umschlagfoto G+J Fotoservice, Konrad Wotke Satz MPM, Wasserburg Druck und Bindung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-426-60251-2 4
Für Janice, die Eulen liebt
Do not expect me to be your slave, I have a thirst for freedom. Do not probe my secret thoughts, I have a love of mystery. Do not smother me with caresses, I have a preference for reserve. Do not humiliate me, I have a sense of pride. Do not, I beg, abandon me, I have a sure fidelity. I’ll return your love for me, I have a sense of true devotion.
Erwarte nicht von mir, daß ich dein Sklave werde, mich dürstet nach Freiheit. Ergründe nicht meine geheimen Gedanken, ich liebe Geheimnisse. Überschütte mich nicht mit Zärtlichkeit, ich ziehe Distanz vor. Erniedrige mich nicht, mein Stolz ist ausgeprägt. Ich bitte dich, verlaß mich nicht, ich bin treu. Deine Liebe gebe ich dir zurück, denn ich bin dir treu ergeben. Belgisches überliefertes Gedicht
5
Der Seekater
6
Die Einwohner von Curnock Bay waren an den schwimmenden Kater gewöhnt. Doch die Touristen nicht. Sie holten ihre Fotoapparate und Videokameras heraus, liefen in der sandigen Bucht rum, kletterten über Felsen und hofften, ihre Aufnahmen würden im Fernsehen gesendet werden. Der Kater schwamm von Fels zu Fels –, sein dunkler Kopf war wie der eines Otters gegen die Wellen kaum sichtbar, hochgereckt, weil er Wasser in seinen Augen oder in seiner Nase nicht mochte. Aber er liebte das Meer; er liebte die Wellen, die schäumenden weißen Pferde, jagte Strandkrabben ins Meer und spielte mit der hereinströmenden Flut Fangen. Nicht wegen des Katers merkwürdiger Angewohnheit zu schwimmen nannte Joe ihn Rocky. Der Name sollte seine Bewunderung für den Überlebensgeist des Katers ausdrücken. Die beiden wohnten in einem Cottage in der Nähe des Hafens, dort, wo Joes Fischerboot vertäut lag. Er verdiente sich seinen Lebensunterhalt mit dem Fangen von Makrelen. Er hatte das verirrte getigerte Kätzchen in einer stürmischen Nacht klatschnaß und verdreckt gefunden, als das Meer gegen die Hafenmauer peitschte und den pelzigen kleinen Kerl auf den Gehweg spülte. Er sah dieses winzige dunkle Ding im zurückströmenden Wasser umherwirbeln und hielt es zuerst für einen toten Vogel. Dann merkte er, daß es ein grau gestreiftes, halbtotes Kätzchen war. Das Kätzchen, unter Joes Pullover gesteckt, wo es die Körperwärme ebenso wie den starken Fischgeruch äußerst tröstlich fand, wurde nach Hause getragen. Ein Wesen, das so appetitlich roch, war bestimmt eine nähere Bekanntschaft wert. Das Schwimmen ergab sich rein zufällig. Rocky haßte es, zurückgelassen zu werden, wenn Joe mit seinem Boot zum Fischen hinausfuhr. Dann saß er auf dem Kai, miaute und schrie und marschierte auf der schlüpfrigen Kante auf und ab. Joe schwor, daß der Kater dort stundenlang saß und nur auf seine Rückkehr wartete. Und es machte ihm Sorgen, daß er ins Hafenbecken fallen und ertrinken könnte. »Warum nimmst du deinen dämlichen Kater nicht mit aufs Boot?« fragte einer aus seiner Mannschaft. »Als Maskottchen.« 7
Dafür brauchte Rocky keine Ermutigung. Sofort folgte er Joe mit erhobenem Schwanz an Bord und fand sich schnell auf beschwingten See-Pfoten zurecht, und – was noch wichtiger war – er entdeckte bald, wann er nicht im Weg sein durfte. Er mied den lauten Maschinenraum und suchte in der Kombüse Zuflucht, wenn die Fischer die randvollen Netze einholten. Die Mannschaft hatte ihn gern um sich. Er war zärtlich und schnurrte viel, ohne zu katzbuckeln. Stundenlang saß er mit geschlossenen Augen da und sonnte sich oder lag schlafend an einem warmen Platz. Er schärfte seine Krallen am Mast und lernte, vorsichtig am Schandeckel entlangzuspazieren. Bei schlechtem Wetter ging er nach unten, richtete sich in Joes Ruderhaus gemütlich ein und beobachtete die Instrumente, die Joe zur Orientierung dienten, damit er sein Boot sicher nach Hause bringen konnte. Immer war er der erste am Ufer. Darüber machte die Mannschaft ständig Witze. Kaum berührten die alten Autoreifen, die als Puffer dienten, die Kaimauer, sprang er auf den Gehweg. »Dieser Kater fällt eines Tages noch ins Wasser.« Und es passierte. Rocky verschätzte sich in der Sprungweite, als das Boot in der Dünung schaukelte. Seine Krallen kratzten über den Rand der Betonmauer. Sie war zu naß und schlüpfrig, um daran Halt zu finden. Rocky stürzte sechs Meter tief ins trübe Hafenwasser. Joes erste Reaktion war der Sprung zum Rettungsring, doch schon gleich merkte er, wie dumm das war. Während er noch über die Bordwand spähte, riß er sich seine hohen Stiefel und den Pullover vom Leib. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als seinem Kater hinterherzuspringen. »Verdammter Kater«, fluchte er, weil er wußte, daß das Wasser kalt und brackig war. Obwohl es hier im Hafenbecken von Ebbe und Flut erneuert würde, hatte es immer einen schalen Geruch, und da unten konnte alles Mögliche liegen... auch ertrunkene Ratten. »Warte mal, Chef! Da bewegt sich was.« Rocky bewegte sich nicht nur, sondern Rocky schwamm. Er paddelte platschend wie ein Hund, von Angst und Entschlossenheit angefeuert, dahin. Und der unerwartete Sturz 8
in die Tiefe hatte ihn keineswegs desorientiert. Er paddelte auf die schleimigen grünen Stufen am Ende des Hafens zu. »Mein Gott, dieser Kater schwimmt…« Joe zog sich seine Stiefel wieder an, sprang ans Ufer und eilte zum Ende der Hafenmauer, wobei er seinem tapfer weiterschwimmenden Kater Worte der Ermutigung zurief. »Komm schon, Rocky. Du schaffst es. Los, Rocky, mein Junge...« Die Stufen waren schlüpfrig und gefährlich, aber Joe klammerte sich an das mit Grünspan bewachsene Geländer und kletterte hinunter. Rocky war erschöpft. Joe beugte sich hinab und fischte seinen nassen Kater aus dem Wasser. »Na, du bist vielleicht ein komisches Tier. Ich dachte, du wärst hinüber.« Rocky würgte. Das Wasser schmeckte absolut widerlich, überhaupt nicht wie die frische, salzige Gischt, die das Deck des Fischerboots überspülte. Er war erleichtert, wieder auf trockenem Grund zu sein, entdeckte aber gleichzeitig in sich eine gewisse lebhafte Neugier. Er machte es sich zur Gewohnheit, Joe bei dessen täglichen Spaziergängen die Bucht entlang zu begleiten. Manchmal war es ein Spaziergang früh am Morgen und manchmal spät am Abend, wenn die Dämmerung den Sand grau und die Wellen indigoblau färbt. Er spielte mit den brechenden Wellen Fangen und bekam dabei oft nasse Pfoten, und auch sein langer gestreifter Schwanz triefte nicht selten vor Nässe. Er schien überhaupt keine Angst zu haben. Er entdeckte eine Seemöwe, die frech auf den Wellen schaukelte, sprang ins Wasser und paddelte wild drauflos. Der Vogel kreischte vor Schreck und flatterte mit schlagenden Flügeln davon. Rocky schien das kaum zu merken. Er hatte das Schwimmen entdeckt. Er schwamm zu einem nahe gelegenen Fels, kletterte aus dem Wasser und schüttelte sich wie ein verärgerter Seehund. Aber er war nicht ärgerlich. Er war heiter und zufrieden. Von diesem Augenblick an gab es für Rocky kein Halten mehr. Er war bei jeder Gelegenheit im Wasser. Die Bucht war sein persönlicher Spielplatz. Er durchstreifte den Strand auf der Suche nach Kreaturen, die er ins Meer jagen konnte, versetzte 9
die Sommergäste mit seiner Geschicklichkeit im Wasser in Erstaunen und wünschte sich, er hätte einen Freund, mit dem er in den verlockenden Wellen spielen könnte. Eines Nachmittags tauchte ein einzelgängerischer Großer Tümmler in der Bucht auf. Er wurde von den Mannschaften verschiedener Fischerboote entdeckt, und sie beobachteten, wie er ganz allein tauchte und durchs Wasser zog. Delphine waren schon früher, vor ein paar Jahren, im warmen Gewässer der Südwestküste jenseits der Curnock-Bay gesichtet worden. Aber dieser Delphin war allein. Die Küstenbewohner hatten Angst, er könnte stranden und im seichten Wasser sterben. Eine Menschenmenge versammelte sich auf der Klippe über der Bucht und sah dem wunderschönen Tier, dessen langer Leib wie grauer Stahl glänzte, beim Tauchen und Springen zu. Dabei stieß es klagende Pfiffe aus, die die Schreie der Möwen und Kormorane übertönten. »Er schwimmt ans Ufer«, sagte Joe traurig. »Wie ein Wal. Seine Echo-Ortung ist gestört. Wir gehen besser da runter und versuchen ihn ins tiefe Wasser zurückzutreiben.« Rocky folgte seinem Herrn in die Bucht. Auch er hatte den Tümmler gesehen und war von dessen Größe und Behendigkeit fasziniert. Die Pfiffe aus dem Nasenloch des Delphins klangen aufgeregt und klagend. Rocky spitzte die Ohren und sträubte die Schnurrhaare. Er verstand nicht, was die Pfiffe des Delphins bedeuteten, aber der Ton versetzte alle seine Sinne in Alarmbereitschaft. Der Delphin rief eindeutig nach Hilfe. Der Delphin wirkte deprimiert und verwundet, seine Augen waren glanzlos. Er glitt, von einem unerklärlichen Schicksal getrieben, traurig aufs Ufer zu. Ein paar Männer wateten schreiend und platschend ins seichte Wasser. Rocky flitzte zwischen ihnen hindurch, sprang über die kleinen Wellen und direkt auf den Delphin zu. Er schwang seine Pfoten wie ein Wasserrad und paddelte drauflos. Als er ihn erreicht hatte, platschte er um ihn herum. Der Tümmler schien ihn nicht zu beachten. Rocky kletterte auf einen Fels, schüttelte sich, tauchte dann ins Meer zurück, umkreiste den Delphin und hoffte, er würde mit ihm spielen. 10
Dieser wandte sich jetzt zu ihm und betrachtete das merkwürdige kleine Wesen. Rocky paddelte davon und wollte den Delphin dazu verlocken, ihn zu jagen. Der Delphin, neugierig geworden, versuchte umzukehren; sein gewölbter Kopf ragte weit heraus, und sein langer Schwanz peitschte das seichte Wasser. Fast war es zu spät. Rocky verspritzte glitzernde Tropfen in alle Richtungen. Er wollte spielen und wußte, daß es Spaß machen würde. Dieses große Tier besaß mehr Verstand als die dummen Vögel. Der Größenunterschied war unerheblich. Im Wasser spielte er kaum eine Rolle. Das Pfeifen des Tümmlers klang jetzt schwächer, aber er schwamm nicht mehr kopflos aufs Ufer zu. Irgendwie wirkte er verunsichert. Auch die Männer waren verwirrt. »Wir holen Netze«, sagte Joe. »Rocky... komm schon, Rocky. Du kannst überhaupt nichts tun.« Aber Rocky gab nicht so schnell auf. Er saß jetzt keuchend auf einem Fels und merkte, daß er in dem Tümmler, der ihn beäugte, einen Schimmer von Interesse geweckt hatte. Rocky lief übers Felsenriff auf tieferes Gewässer zu. Er war noch nie in so tiefem Wasser geschwommen, aber er zeigte keine Angst. Er schwang seine Pfoten und forderte den Delphin wieder auf, ihn zu jagen. Dieser gab hohe, schnalzende Töne von sich, die zunächst noch zaghaft waren. Eine große Welle rollte heran und drehte seine glatte Flanke. Rockys Aufregung war instinktiv; er verfolgte einen Traum. Der Delphin schien lebhafter zu werden, als ihn eine zweite Welle wieder ein paar Meter hinaustrug. »Die Ebbe hat eingesetzt«, sagte Joe angespannt. »Sie könnte den Delphin in tieferes Gewässer hinaustragen.« Der Delphin hob seinen Kopf über die Wellenkämme, um zu sehen, was dieser Kater jetzt tat. Irgendwie waren die verrückten Possen dieser Kreatur sehr reizvoll. Sein großer Flossenschwanz klatschte anerkennend aufs Wasser. Joe traute seinen Augen nicht. Der Tümmler schwamm mit mächtigen und anmutigen Bewegungen auf den Kater zu. Rocky war entzückt. Er hatte weder Angst noch das Gefühl, bedroht zu werden. Minuten später planschten und tollten die beiden rum wie alte Freunde. 11
Es war Rocky, der zuerst aufgab. Er wurde müde und wollte sein Abendessen haben. Der Tümmler schien das zu verstehen und stieß durch sein Nasenloch Pfiffe aus, als der Kater ans Ufer zu dem verblüfften Joe schwamm. Am nächsten Morgen konnte es Rocky nicht erwarten, in die Bucht hinunterzukommen. Der Delphin wartete bereits, und sein kurzes schnabelartiges Maul öffnete sich zu einem breiten Lächeln. Er stieß einen Willkommenspfiff aus, als der Kater das Riff entlang zum tieferen Gewässer kletterte. Sie spielten den ganzen Tag. Menschen kamen, um ihnen zuzuschauen. Fernsehteams tauchten auf. In den folgenden Tagen wurden Vergnügungsboote eingesetzt, welche Touristen und Sommergäste hinausfuhren, die alle hofften, einen Blick auf den Kater und den Delphin zu erhaschen. Joe war wütend. »Mit euren blöden Besichtigungstouren werdet ihr die beiden noch umbringen«, schrie er und schüttelte seine Fäuste. »Könnt ihr sie denn nicht in Ruhe lassen?« Der Tümmler machte sich um seinen neuen Freund Sorgen. Die beiden spielten in immer tieferen Gewässern, und der Kater, der keine Angst zu haben schien, mußte von Mal zu Mal weiter ans Ufer zurückschwimmen. Eines Morgens, als Rocky in die Bucht hinunterkam, war der Tümmler verschwunden. Der Kater suchte überall, hielt nach einer Spur der großen Kreatur auf dem Meer Ausschau und lauschte auf das vertraute Pfeifen oder Schnalzen. Rocky saß eine Weile reglos wie ein Fortsatz der Felsenkante da und ging dann langsam zum Hafen zurück. Er ahnte, daß sich der Tümmler auf die Suche nach seinen Gefährten gemacht hatte. »Komm schon, alter Knabe«, sagte Joe vom Deck seines Bootes her. »Dein Freund ist nicht mehr da.« Der Kater kehrte zu seinen alten Gewohnheiten auf dem Fischerboot zurück. Er pumpte sich mit Sonne voll, während das Boot durch die Wellentäler der Fischgründe pflügte, in denen er sich völlig heimisch fühlte. Als er zu einem ausgewachsenen Kater heranwuchs, bekam sein Fell einen wunderschönen Glanz. Er zeugte mehrere Würfe Kätzchen, und 12
jedem hatte er seine unverwechselbaren grauen Streifen vererbt. Bei Sonnenuntergang war der Fischfang beinahe beendet. Er war gut gewesen, und die Mannschaft spritzte gerade das Deck ab. Da hörte Rocky etwas. Er bewegte sich vorsichtig außer Reichweite des Wasserstrahls über das schlüpfrige Deck. In weiter Ferne entdeckte er mit seinem scharfen Blick eine Gruppe von Delphinen, die hoch in die Luft schnellten und dabei nach jagenden Seevögeln Ausschau hielten, die Fischschwärme anzeigten. Und plötzlich erspähte Rocky einen vertrauten stahlgrauen Leib, der durchs Wasser pflügte und direkt auf das Boot zuschwamm. Rocky sprang auf einen Stapel aufgerollte Seile, um besser sehen zu können. Er zitterte am ganzen Körper. Ein paar Augenblicke später paddelte er wie verrückt durchs Meer zu seinem Freund. Der Delphin stieß triumphierende Pfiffe aus und schoß vor Freude hoch in die Luft. Die beiden spielten und tummelten sich im Wasser, ohne auf die Menschen auf dem Boot zu achten. Ab und zu sah die Mannschaft, wie sich der Kater an den Rücken des Delphins klammerte und sich tragen ließ, während er eine Verschnaufpause einlegte. Die Motoren wurden gestoppt. Joe warf eine Strickleiter über den Schandeckel und kletterte fluchend hinunter. »Du verdammter Kater«, rief er, aber in seiner Stimme lag kein Ärger. »Ich kann mich glücklich schätzen, wenn ich nicht bis auf die Haut durchnäßt werde. Rocky, komm her.« Der Kater sah seinen Herrn und schwamm zu ihm. Er kletterte auf Joes Schulter und klammerte sich dort fest, als Joe zurück zum Deck stieg. Der Tümmler tollte ausgelassen im Wasser, zeigte seine Kunststücke und war offensichtlich erfreut, Rocky wiedergefunden zu haben. Die Motoren wurden erneut gestartet, und das Boot änderte seinen Kurs in Richtung Land. Der Delphin folgte ihm noch eine Weile und tummelte sich in den Luftblasen des Kielwassers. Dann machte er einen letzten anmutigen Sprung und schwamm davon. »Glaub ja nicht, daß ich dich jetzt jeden Tag aus dem Wasser hole«, sagte Joe murrend und zog die Strickleiter hoch. Natürlich tat er es. 13
Und Rocky schwamm oft mit seinem Freund, fischte mit Joe und führte das Leben, das ihm gefiel. Er war ein Kater von anderer Art. Er war der Kater, der schwimmen konnte.
14
Escamillo
15
Escamillo konnte Blut fließen lassen. Das war eine Eigenschaft, auf die er überaus stolz war. Dabei sah er so sanft und liebevoll aus. Er hatte das von einer langhaarigen Halskrause umgebene Gesicht eines bekehrten Engels mit gelbbraunen, wie Edelsteine funkelnden Augen und einen dichten sandfarben-grauen Pelz mit weißem Unterfell. An den Spitzen seiner Ohren wuchsen lange schwarze Büschel. Er war groß, schaffte es jedoch, wie ein kolossales Kissen mit bebendem Schnurren und unschuldigen Blicken auf dem Schoß seines Opfers zu sitzen und dann – zack! – alle, achtzehn Krallen gleichzeitig in ein rundliches Knie oder einen Oberschenkel zu schlagen. Es floß immer Blut. Escamillo grinste affektiert. Er liebte das Gekreische, die Schreie, die Tränen, den Tumult. Es erfreute den Schmierenkomödianten in ihm. Es war sein kleines Drama des Tages, improvisiert und unvorhersehbar, aber immer absolut befriedigend. Er war nicht umsonst nach einem berühmten Matador benannt worden. »Du mußt diesen verrückten Kater loswerden«, sagte Elizabeth Brumhold, eine von Conchitas Freundinnen, weinend und betupfte sich ihr blutendes Knie. »Er stellt eine Bedrohung dar... aber warum? Er kennt mich doch so gut. Ich habe ihm nichts getan, absolut nichts. Ich habe ihn nur gestreichelt, als er seine Krallen in mich schlug. Das ist mehr als enervierend.« »Mein wundervoller Liebling«, sagte Conchita und vergrub ihre Finger tief in Escamillos dichtem Pelz. »Das ist seine Art, mich zu beschützen. Du bist ein garstiger Junge. Du darfst Mummys liebster Freundin nicht weh tun, auch wenn du glaubst, mich beschützen zu müssen.« Escamillo drückte inbrünstig seine Pfoten in Conchitas flauschigen, mit Perlen bestickten Pullover. Es stimmte. Es war seine Rolle im Leben, Conchita Sanatini vor allen kleinen und mit kurzem Fell bedeckten Wesen zu beschützen. Sie nahm ihn in jedes Theater, wo sie singen sollte, mit und unterzeichnete keinen Vertrag, ehe er das Gebäude nicht inspiziert und für unbedenklich erklärt hatte. »Du weißt, ich kann keine Krabbeltiere ausstehen... Mäuse, Fledermäuse, Spinnen, Asseln, Käfer, Ameisen oder andere gräßliche Kreaturen«, fuhr sie fort. »Escamillo ist ein 16
hervorragender Jäger. Ich vermag nicht aufzutreten, wenn ich Angst vor Mäusen habe. Dann versagt mir einfach die Stimme. Das ist außergewöhnlich.« »Sehr außergewöhnlich«, erwiderte Elizabeth gedehnt. »Meine Stimme versagt nie. Nichts kann meinen Auftritt stören.« »Du bist eben unerschütterlich wie ein Fels«, erklärte Conchita mit einem entwaffnenden Lächeln. Sie wußte, daß sie Elizabeth von jeder Bühne singen konnte. Ihre Stimme war voller Kraft und Reichweite, und sie besaß eine flüssige Vortragsweise; ihr hohes C klang wie eine silberne Stimmgabel. Aber Conchita weigerte sich zuzugeben, daß sie als Schauspielerin versagte. Auf der Bühne besaßen sogar die Kulissen mehr Leben. Elizabeth hingegen konnte schauspielern. Sie beherrschte die gesamte Ausdrucksskala der Gefühle. Und aus der Ferne sah sie gut aus. Aber ihre Stimme... sie war rein und dramatisch, doch schwächer. Die beiden Opernstars waren seit Jahren befreundet, allerdings wandelte ihre Freundschaft stets auf einem schmalen Grat, der außerdem noch mit Sprengkapseln übersät war. Sie sangen in allen berühmten Opernhäusern der Welt und wetteiferten um die großen Rollen. Aber sie waren so verschieden wie Pavarotti und Domingo. Conchita war Elizabeth gegenüber immer im Vorteil: Sie hatte das größere Stimmvolumen, die Präsenz und agierte hinter den Kulissen weitaus besser als auf der Bühne. Aber sie sang ohne Herz, sagten manche. Elizabeths Stimme besaß Gefühl, und sie konnte schauspielern... Opernfans diskutierten stundenlang über die Vorzüge der beiden Sängerinnen. »Liebling«, sagte Conchita. »Du bist mir wegen Budapest doch nicht mehr böse, oder? Es war wirklich ein glücklicher Zufall, daß ich die Rolle bekam. Du warst viel besser als ich. Das muß sogar ich zugeben.« »Und warum hast dann du die Rolle bekommen?« »Es ist mir ein Rätsel... vielleicht hat es das Schicksal so gewollt. Ich habe mich deinetwegen ziemlich aufgeregt.« Elizabeth glaubte ihr nicht. Conchita hatte sich noch nie über das Los anderer Menschen aufgeregt. An dem Engagement für Budapest war etwas faul gewesen, doch Elizabeth bezweifelte, 17
daß sie je herausfinden würde, welche üblen Tricks angewendet worden waren. »Das war lieb von dir«, sagte Elizabeth. »Aber ich bekomme bestimmt das Engagement für das Opernfestival in Sussex. Ich trete gern in Provinztheatern auf. Das natürliche Licht wirkt sich auf meinen Teint sehr vorteilhaft aus. Er leuchtet dann förmlich.« »Ach, heutzutage vollbringt Make-up wahre Wunder...« Escamillo gähnte gelangweilt. Er hatte vom Herumstreifen auf freiem Gelände geträumt und fragte sich, ob eine Wiederholung seines dramatischen Gebärens angesagt sei. Er beäugte verschiedene Schöße und lehnte alle Angebote ab. Er mußte mit seinen Kräften haushalten, für den Fall, daß ein Theater genau zu überprüfen war. Er streckte seine Vorderpfoten und machte einen hohen Buckel. Dann schüttelte er sein Fell aus und befeuchtete seine Augen. »Wer ist der Größte und Schönste?« rief Conchita und nahm ihn in ihre mächtigen Arme. »Wer ist mein Schatz? Wer ist Mummys prachtvoller Lieblingskater?« Er schnurrte ihr, als habe er ein Stichwort erhalten, ins Ohr, rieb seine Nase an ihrem Gesicht und zog alle Schmuseregister. Sie hatte etwas vor, das wußte er. Ihr Schmeicheln und Gurren war nicht normal. Während der sechs Jahre, die er mit Conchita und ihrer Karriere lebte, hatte er immerhin ein paar Tricks gelernt. Elizabeth bekam das Engagement für das renommierte Opernfestival. Sofort eilte sie zu Conchita, um es ihr zu erzählen. Sie würde die Elektra, die griechische Prinzessin und Hohe Priesterin in Mozarts Idomeneo, singen, die rachsüchtige Sopranistin, deren große Haßtirade gegen ihre Rivalin jede Stimme auf eine harte Probe stellte. Es war eine Rolle, die eine dramatische Darstellung verlangte – vor allem in der Höhlenszene – und die ihren Höhepunkt in einer Skala von Tönen erreichte, welche schrillen Schreien ähnelten. »Ich gratuliere, Liebes«, sagte Conchita überschwenglich. »Da kannst du so wunderschön schreien. Du hast die Härte des Tonfalls, den diese Rolle verlangt. Es erfordert keine Sängerin, um zu schreien. Du paßt großartig für diese Rolle.« 18
»Ich danke dir, Liebes. Du bist eine so fabelhafte Freundin.« Escamillo war froh, daß er nicht schon wieder in einem Theater – und noch dazu in einem Provinztheater – auf Jagd gehen mußte. Er haßte die Spinnweben und toten Insekten, die sein Fell und seine Schnurrhaare verklebten. Er zog es vor, fernzusehen und an seiner cremefarbenen, mit Gold verzierten Lederleine im Park spazierenzugehen. Sein Ego machte einen Höhenflug. Er vervollkommnete sein Schielen. Später war er sich nicht über den Ablauf der Ereignisse sicher. Er wußte, daß Elizabeth als Elektra gut war, weil Conchita es ihm zähneknirschend erzählt hatte. Er wußte, daß die Premiere ein großer Erfolg gewesen war und Elizabeth phantastische Kritiken bekommen hatte. Conchita war wütend. »Aber sie kann doch überhaupt nicht singen«, klagte Conchita. »Wie kann man mit einer Stimme wie eine Kreissäge so wundervoll singen? Die Kritiker müssen taub sein. Das sind alles dumme Affen. Ich hätte großartig gesungen.« Escamillo schnurrte mitfühlend in ihr Ohr. Er wußte, wer ihm Gourmet-Futter gab, schließlich war er nicht dumm, noch taub. Conchita fing an, Tag und Nacht die Elektra zu singen. Sie war mit der Rolle vertraut. Das war kein gutes Zeichen. Er kroch unter den Tisch und bedeckte seine Ohren mit den Pfoten. Als Gott ihn zum Gefährten einer Opernsängerin machte, hätte Er ihn wenigstens mit einem musikalischen Gehör ausstatten müssen. Eines Nachmittags steckte Escamillo mit dem Kopf voran unterm Federbett, als er abrupt von Tausenden von Tönen, die aus dem Musikzimmer kamen, geweckt wurde. Conchita probte die Elektra. Ernsthaft. Ihre Stimme war ekstatisch vor Triumph. »Elizabeth ist krank. Sie hat eine Halsentzündung. Sie kann nicht singen. Ich biete sofort an, für sie einzuspringen. Ich bin bereit. Das ist meine Chance. Ich habe noch nie auf diesem Opernfestival gesungen.« Conchita wedelte wie ein Ventilator mit der Tageszeitung. Ihre Frisur geriet in der Aufregung völlig aus der Fasson.
19
»Escamillo, wo bist du? Ich muß meinen Agenten anrufen. Wir müssen in einer Stunde abfahrbereit sein. Sir George wird die Rolle heute und morgen früh mit mir proben. Oh, diese Ehre, dieses Ansehen die königliche Familie wird anwesend sein, die Aristokratie. Champagner im Park während der Pausen alles so wunderschön. Das wird die Krönung meiner Karriere.« Das Management des Opernfestivals war natürlich über Conchitas Angebot erfreut, für Elizabeth Brumhold einzuspringen. Eine Limousine wurde geschickt, um sie abzuholen. »Komm, mein Schatz, geh in dein Körbchen. Wir fahren nach Sussex. Jetzt wird das Publikum richtigen Gesang zu hören bekommen.« Escamillo unterdrückte ein gähnendes Seufzen. Noch ein Theater. Widerstrebend sprang er in seinen Designerkorb. Es war der vornehmste Katzenkorb der Welt, innen und außen gepolstert. Aber die wahre Pracht war das mit glitzernden Glassteinen und Münzen bestickte Bolero des Toreros, das wie ein Banner über Escamillos Korb drapiert war. Das Opernfestival wurde alljährlich im Herzen von Sussex veranstaltet. Die Fahrt führte durch Alleen und über bewaldetes Heideland zu einem Herrenhaus. Die Bühne stand im Park, errichtet zwischen geräumigen Rasenflächen und Blumengärten. Ein langgezogener See wand sich wie ein fahles Band aus Glas unter Trauerweiden dahin. »Da sind wir, Escamillo. Ich bringe dich direkt zum Theater, damit du gründlich herumschnüffeln kannst. Mach es gut, mein schöner Kater, weil ich die beste Darbietung meines Lebens geben muß.« Conchita war für diese Eigenart in der ganzen Theaterwelt bekannt. Ihr Spleen wurde mit geflüsterten Bemerkungen und Grinsen vom Bühnenpersonal toleriert. Sie führte Escamillo in alle Winkel und Ecken, bis er mit der Anlage vertraut war, und dann ließ sie ihn von der Leine. Escamillo kehrte in die Alte Welt zurück, uralte Gene wurden reaktiviert. Diese Jagd war viel aufregender, als Blut fließen zu lassen. Er löste mit einem wilden Fauchen ein Chaos unter den Bühnenarbeitern aus, die erschrocken zurückwichen. Sie hatten noch nie so was wie Escamillo gesehen. Er veranstaltete ein 20
mittelalterliches Massaker, zerfleischte Körper, Flügel, Schwänze; Schnurrhaare flogen in alle Richtungen. Als er fertig war, setzte er sich hin und gab eine einstudierte und präzise Vorstellung von Fellpflege. »Heiliger Strohsack«, keuchte der Bühnendirektor. »Jemand muß diesen Schlamassel wegräumen. Bert!« Escamillo lächelte bescheiden und schlenderte zum Abendessen davon. Er verzehrte seine Beute nie. Pfui... rohes, unausgelöstes Fleisch, das war zu abstoßend für seinen Geschmack. Er bevorzugte ein hübsches Stück geräucherten Schellfisch mit einem Hauch Sahne. Conchitas Proben gingen glatt über die Bühne. Es war ein schöner Sommerabend mit einer zarten Brise. Durch den Park schlenderten elegante Damen in langen, fließenden Roben und gut betuchte Herren im Smoking. Sie tranken Champagner aus Kelchgläsern und plazierten ihre Picknickkörbe von Fortnum und Mason auf Decken im Schottenmuster. Das Knallen von Champagnerkorken steigerte die Aufregung, als das Publikum Platz nahm. Hinter dem eisernen Vorhang überprüften die Bühnenarbeiter ein letztes Mal die Kulisse. Die Sänger konzentrierten sich – jeder für sich und auf seine Weise – und kämpften gegen das Lampenfieber, die Angst, den Text zu vergessen, und mit ihrer unglaublichen Unsicherheit und mit mangelndem Selbstvertrauen. Nur Conchita zeigte an diesem Abend keine Nerven. Ihre kraftvolle Gestalt in der weiß-goldenen Robe dominierte die Szene. Sie würde auf die Bühne treten und das tun, was sie am besten konnte – singen. Elizabeth Brumhold war im Publikum und würde eine Lektion in Gesang erteilt bekommen. Conchita sang göttlich. Jeder Ton floß. Die Kritiker zermarterten sich ihre Köpfe, um eine neue Beschreibung für die Perfektion ihrer Stimme zu finden. Sie gab alles und scherte sich nicht um die Schauspielerei. Das Publikum schloß die Augen und lauschte nur ihrer Stimme.
21
Escamillo gähnte in seinem Korb. Er hatte das alles schon mal gehört. Er träumte davon, zu fliehen und nach Hause zu gehen... In der Pause knallten noch mehr Champagnerkorken; geräucherter Lachs und Flußforellen, Ente und Kaviar, Erdbeeren mit Sahne wurden verspeist. Conchita schwelgte in ihrer Garderobe; sie nahm nur ein Schlückchen von ihrem Honigwasser. »Ich bin wie eine Blume«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild und hob das Glas. »Ich brauche nur den Nektar der Götter.« Die Aufführung verlief weiterhin gut. Es gab keinen Zweifel daran, daß Conchita einen Triumph feiern würde. Ihre Stimme erreichte eine neue, großartige Dimension. Auf jeder Bühne gibt es immer eine Stelle, wo die Stimme eine schärfere, intensivere und voluminösere Resonanz hat. Und Conchita hatte mit ihrer untrüglichen Professionalität diese Stelle gefunden. Da stand sie, stattlich und imposant wie eine Statue, als die Bühne für die Höhlenszene in Dunkelheit getaucht wurde. Das Licht der Scheinwerfer war allein auf ihre Gestalt gerichtet. Sie war für den letzten Solopart bereit, der mit einem großartigen, dramatischen Schrei endet. Die unterirdische Felsenszene wirkte in ihrer Düsterheit unheimlich. Ein Zittern lief durchs Publikum. Conchita ließ sich von der Atmosphäre nicht beeinflussen. Als Schauspielerin hätte sie in dieser Stimmung aufgehen müssen, aber ihre eher pragmatische Reaktion war eine flüchtige Sorge, ihr Gesicht könnte nicht richtig beleuchtet sein. Während sie sang, würde es dunkler in der Höhle. Da hatte sie plötzlich das unheimliche Gefühl, nicht allein zu sein. Whusch. Whusch. In der Luft war eine leichte Bewegung zu spüren. Etwas Dunkles zischte quer über die Bühne. Es war kaum zu sehen, tauchte auf und verschwand wieder. Whusch. Whusch. Wie ein Komet stürzte ein zweites dunkles Etwas von der Überdachung herunter. Im Bruchteil einer Sekunde war es verschwunden. Aber das Luftballett hatte angefangen. Conchita näherte sich dem Höhepunkt ihrer Arie. Plötzlich überfiel sie ein flüchtiger Zweifel, ob ihr der Schrei gelingen 22
würde. Es war so wenig damenhaft, und sie hatte zu lange gezögert, um dem Augenblick die nötige dramatische Spannung zu verleihen. Genau in diesem Moment wurde sie sich der dunklen, herabstürzenden Wesen bewußt. Sie erstarrte vor Entsetzen. Ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei, aber irgendwie gelang es ihr, weiterzusingen. Sie duckte sich, lief von einer Seite der Bühne zur anderen, war hysterisch vor Angst. Ihre Hände flogen hoch, zerrten an ihrer Perücke, weil sie überzeugt war, daß sich diese Kreaturen darin verfangen hatten. Das Orchester hatte Mühe, ihr zu folgen. Die Fledermäuse, die im Dunkel der Verstrebungen der Überdachung lebten, waren aufgewacht und hatten ihre nächtliche Jagd auf Beute begonnen. Sie schwirrten mit einer Geschwindigkeit durch die Höhlenkulisse, daß ihnen das Auge kaum folgen konnte. Das Publikum war von dieser Aufführung fasziniert. Das war absolut neu: Conchita Sanatini als Schauspielerin! In ihrer wahnsinnigen Erregung stieß sie den abschließenden Schrei mit einer überwältigenden Vehemenz aus und floh von der Bühne. Später fand man Conchita zitternd hinter einem Kulissenfelsen auf dem Boden hockend. Jemand begleitete die Weinende in ihre Garderobe. Sie fürchtete, daß niemand sie mehr nach diesem öffentlichen Spektakel als ernsthafte Sängerin betrachten würde. »Fledermäuse! Fledermäuse!« schrie sie. »Du hast die Fledermäuse nicht vertrieben! Dutzende von Fledermäusen haben sich auf mich gestürzt! Escamillo...« Er streckte sich in seinem Korb und zwinkerte. Fledermäuse? Er hatte keine gesehen. Wahrscheinlich lebten sie hoch oben in den Dachsparren. Hatte sie etwa von ihm erwartet, daß er da hinaufkletterte, als wären es Bäume? Und sich das Fell mit diesen ekligen Spinnweben verklebte? Elizabeth kam, in Pelze gehüllt, in die Garderobe. »Mein armer Liebling«, schnurrte sie. »Ich habe ganz vergessen, dich vor den Fledermäusen zu warnen.« »Du hörst dich nicht krank an«, sagte Conchita argwöhnisch. »Hattest du nicht eine Erkältung?« 23
»Meine plötzliche Genesung habe ich einer Menge Vitamin C zu verdanken. Ich fühle mich wundervoll. Bei der nächsten Aufführung kann ich meine Rolle wieder übernehmen.« »Das hast du absichtlich gemacht«, sagte Conchita und schluckte krampfhaft. »Wegen Budapest«, entgegnete Elizabeth. Conchita weinte in Escamillos langhaarige Halskrause. Sein Fell war in wenigen Minuten naß. Er hatte Mitleid mit ihr. Vielleicht hörte er ihretwegen sogar auf, Blut fließen zu lassen. Er dachte sehnsüchtig an seine Freiheit und streckte sich zu seiner vollen Länge von etwas über einem Meter. Kein Luchs, nicht einmal ein zahmer Luchs, sollte Theater überprüfen müssen, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er schloß die Augen und träumte davon, daß er zu Hause, in einem nordamerikanischen Wald, in Freiheit lebte und in die hochgelegenen Regionen kletterte, wo der Wind ihm den Pelz zerzauste...
24
Weihnachten
25
Die Bedeutung von Weihnachten verstand Sky nicht. Und er verstand auch nicht, was sein Name bedeutete. Er war weder blau wie der Himmel, noch spazierte er darin herum. Der war Sky ebenso ein Rätsel wie diese unbegreifliche Sache namens Weihnachten. Weihnachten kommt bald, sagten sie. Er schaute zum Fenster hinaus, für den Fall, daß es um die Straßenecke käme. Aufregung hing in der Luft; er spürte auch Spannung, Streß und Druck. Für Weihnachten sei eine Menge zu erledigen, sagten sie. Er half, indem er ein paar Knollen aus der steinharten Erde ausgrub und sie ins Haus brachte. Doch wie es schien, war das gar nicht hilfreich, denn er wurde aus dem Haus gejagt. Eines Abends gab es eine Menge Lärm, und ein großer Karton wurde vom Speicher heruntergebracht. Er durfte nicht auf den Dachboden, obwohl er drei blitzschnelle Versuche wagte, um auf die Leiter zu klettern. Er beschnüffelte den Karton. War dieser trockene, metallische Geruch Weihnachten? Im Haus herrschte hektische Betriebsamkeit, als der Karton geöffnet wurde. Sky wurde mit Lametta behängt, und sogar sein langer, buschiger Schwanz verwickelte sich in dem kratzigen Zeug. »Schau mal, sieht Sky nicht süß aus? Sollen wir ihn auf die Spitze des Christbaums setzen?« Skys Ohren zuckten. Er sah, daß sie jetzt etwas aus dem Garten hereingebracht hatten. War Weihnachten etwa ein Baum? Wurde dieser Wirbel um etwas veranstaltet, das das ganze Jahr über im Garten wuchs? Vielleicht konnte er helfen, indem er in den Baum kletterte und die verführerischen weißen Engel, die wie ein Schwarm Schmetterlinge in den Ästen schwangen, neu ordnete? Doch alle stießen schrille Schreie aus. »Hol diesen Kater aus dem Baum!« »Er trampelt auf meinem neuen Weihnachtspapier herum!« »Das ist ein Geschenk, du Dummkopf. Runter mit dir!« Sky wußte nicht, was er verkehrt gemacht hatte. Die Stimmen klangen ärgerlich. Und soweit es ihn betraf, war das die ganze Mitwirkung an den Vorbereitungen. Ein fetter, toter weißer Vogel tauchte in der Küche auf. Er hatte keinen Kopf, und seine 26
gekrümmten Beine waren zusammengebunden. Sky untersuchte ihn voller Interesse. Er könnte besser riechen, wäre er nicht so eiskalt. »Nein!« schimpfte jemand. »Sky, du böser Kater!« Man zerrte ihn vom Tisch und sperrte ihn in ein anderes Zimmer. Er kroch mit Mühe unter einen niedrigen Bücherschrank und kniff seine zitronengelben Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Jetzt wußte er, was Weihnachten bedeutete. Ärger, Zeitmangel, hektische Aktivitäten, Gereiztheit, Verlust von Zuneigung. Seit beinahe einer Woche hatte sich Sky auf keinem Schoß einkuscheln können. Er steckte die Nase unter seinen Schwanz. Vielleicht würde alles vorbei sein, wenn er aufwachte. Aber der nächste Tag war noch schlimmer, und er verkroch sich vor dem Tumult. Er bekam kein Frühstück, und Hunger zerfleischte wie Krallen seinen Magen. Das Haus wurde von Fremden besetzt – neue Füße, neue Gerüche, laute herzliche Stimmen. Bald bekam er Kopfschmerzen. Der Teppich verschwand unter einem Berg zerknüllten Papiers. Tesafilm blieb an seinen Pfoten kleben und dann in seinen Schnurrhaaren. Eine ihm unbekannte Frau nahm ihn beiseite und löste sanft die Streifen aus seinem Fell. Dann gab sie ihm heimlich ein Stück Truthahn von ihrem Teller. Besserte sich Weihnachten allmählich? Seine Lebensgeister kehrten zaghaft zurück. Er kletterte auf den Baum, um nachzusehen, ob sich die Lage da oben auch zum Guten wendete. Der Krach ließ das ganze Haus erbeben. Geschrei übertönte den Fernseher. Er wurde, zitternd vor Angst, vor die Tür gesetzt. Sky verstand nichts mehr. Im Freien durfte er auf Bäume klettern. Der Boden war mit weißem, nassem Zeug bedeckt. Er schüttelte angewidert seine Pfoten und suchte unter einem kleinen Busch Zuflucht und kauerte unter Blättern, die ihn mit kaltem, weißem Staub bedeckten. Da wurde plötzlich die Haustür aufgerissen, und Licht flackerte über den Schnee. Alle kamen in Schals gehüllt und mit Wollmützen auf den Köpfen heraus und schwenkten brennende Fackeln. Sie trampelten die Straße hinunter.
27
Sky folgte neugierig in einiger Entfernung, weil er Angst hatte, allein zurückgelassen zu werden. Vielleicht waren sie so böse auf ihn, daß sie nie mehr zurückkamen. Sie gesellten sich zu einer Gruppe, die vor einem Haus stand. »Oh, Tannenbaum«, fingen sie an zu singen. »Oooooh«, jaulte Sky. »Still, Katze. Geh nach Hause.« »Ihr Kinderlein kommet.« »Kinderlein«, stimmte Sky in den Gesang ein. »Psst, verschwinde. Hör auf mit deinem gräßlichen Gejaule.« »Er will doch nur mitsingen«, sagte die fremde Frau. Sie hob ihn hoch und steckte ihn in ihren Anorak, obwohl sein Fell voller Schnee und naß war. Sky grub, noch immer jaulend, seine Krallen in ihren Pullover. Die Frau trug ihn nach Hause, und er schlief auf ihrem Schoß, während alle fernsahen. Dann wurde der tote Vogel zerlegt, um Sandwiches daraus zu machen, und er bekam viele köstliche saftige Fleischbrocken. Der Heimweg für die fremde Frau war zu weit, also richteten sie ihr ein Bett auf dem Sofa her. Er rollte sich warm, schläfrig und satt auf ihren Füßen ein. Wenn das Weihnachten war, war er dafür – jederzeit.
28
Taugenichtse (Eine wahre Geschichte)
29
Wir sind drei gerettete Kätzchen, die, winzig, erst zwei Tage alt und kaum lebendig, ausgesetzt wurden. Damals, als wir uns blind und mit verklebten Augen an unsere Mutter klammerten, wußten wir natürlich nichts davon. Jetzt leben wir mit unserer Pflegemutter (menschlich) und richtigen Mutter, Sascha, zusammen. Das Problem ist nun, daß unsere Retterin auswählen soll, welche von uns sie behält – zwei, die bleiben, zwei, die gehen. Wir alle lieben diese Frau – auf unterschiedliche Art – von ganzem Herzen. Daisy ist flatterhaft und gesprenkelt, tanzt überall herum, sitzt nie still und ist entweder zu beschäftigt, um zu essen, oder schlingt alles gierig in sich hinein, um schnell wieder zu irgendeinem Spiel zurückzukehren. Caspian (oder Teddybär, wie er in Augenblicken fröhlicher Ausgelassenheit genannt wird) ist ein prachtvoller Langhaar-Bluepoint und lebt von seinem Aussehen. Ich liebe wirklich alle und beweise es durch hingebungsvolles Beobachten von Menschen, Stupser mit dem Kopf, mächtiges Schnurren und stündlichen Küssen. Ich gebe auch eine ziemlich gute Imitation eines Pelzkragens um breite Schultern ab. Wir versuchen wirklich, ihr bei der Auswahl zu helfen. Gestern ordneten wir ihr BlumenArrangement neu. Es stand im offenen Kamin, was sowieso ein dummer Einfall ist, weil jeder weiß, daß Blumen nicht in einem Kamin wachsen. Sie war nicht erfreut. Wir verstreuten die Blumen überall auf dem Teppich, was dem Zimmer ein viel natürlicheres Aussehen verlieh. Es schaute wie ein Garten aus. Getrocknete Blumen, Farne und Gräser – in fröhlicher Hemmungslosigkeit durch die Luft geschleudert. Dann sprangen wir auf ihren Rücken, setzten uns auf ihre Füße und schlugen unsere nadelartigen Krallen in ihre nackten Beine, während sie versuchte, das Chaos aufzuräumen. Was für ein Spaß. Heute wollten wir die Zentralheizung zerlegen. Das bedeutet, man muß an Ventilen und anderen Sachen herumfummeln und den Teppich hochklappen. Wir hatten schon ein ziemliches Stück geschafft, als sie uns entdeckte und in unseren Laufstall sperrte. Ich bitte Sie. Für den Laufstall sind wir schon viel zu groß, und dann hängt nichts als eine blöde Smarties-Schachtel 30
an einer Schnur zum Spielen und ein großer, ausgestopfter weißer Hund, den man nur herumzerren kann. Wir stimmten einen kläglichen Chor von Quiecksern an, und sie ließ uns raus. Es funktioniert immer. Caspian ging zu ihr und bedankte sich. Er ist so liebenswürdig und artig und höflich, da kann einem wirklich übel werden. Er ist auch auf unfaire Weise schön und hat ein langes, dichtes, silbergraues Fell wie Samt und große blaue Augen. »Ach, was für liebes kleines Teddybärgesicht«, ruft jeder und streichelt ihn. Er ist so gutmütig, daß er nie beißt. Und er wäscht auch alles, war ihm unter die Augen kommt. Zeig ihm ein Stück Seife, und er würde es waschen. Daisy, meine jüngere Schwester, ist am intelligentesten. Das muß ich ihr lassen. Sie findet für jedes Problem eine Lösung. Stellt man sie vor die Aufgabe, mehrere Garnrollen gleichzeitig abzuwickeln, findet sie einen Weg. Sie versteckt alle unsere Spielsachen und entdeckt sie dann mit aufgeregtem Schnurren, als wäre es ein Zaubertrick. Sie wird auch als Bluepoint bezeichnet, obwohl sie mehr grau, kurzhaarig und glatt ist, eine rosafarbene Pfote hat und ihre Augen von silbernen Härchen umrandet sind, die wie perlfarbener, etwas verschmierter Lidschatten aussehen. Ich habe keinen richtigen Namen. Schon seit Wochen bin ich namenlos. Ich werde abwechselnd Muffin-fürs-erste, Biskuit, McVitie, Osbourne, Jasper und McGyver genannt, wegen meines fahlen honigfarbenen Fells. Ich bin die Farbe von Vollkornmehl, Mangofruchtfleisch, Milchkaffee, Karamel, einem frischgepflückten Pilz, einer Honigwaffel, Alabaster, einer Makrone, einem Sauerteigfladen, einem Haferkuchen. Über meinen Rücken laufen zwei lange rostrote, mit Gold gesprenkelte Streifen und über meinen Kopf fünf kurze. Ich bin gesprenkeltes Gold mit dem hellbraunen Schmuck einer fernen Pharaonin um den Hals. Sie will mich Sandy nennen. Ich komme mir aber wie ein Oliver vor. »Du hast so schöne Augen«, sagt sie und hat ein bißchen Angst vor mir. »Schräg wie eine ägyptische Statue und doch leuchtend wie das gelbe Licht einer Verkehrsampel. Ich bin mir 31
sicher, Bastet, die Katzengöttin, hat genauso ausgesehen wie du.« Ich werfe ihr einen distanzierten, geheimnisvollen Blick zu. Es kann sein, daß ich ein Nachkomme von Bastet bin. Meine Augen sind wie ihre. Ich bin die Rädelsführerin. Mir fällt immer alles zuerst ein. Ich bin die Erstgeborene, habe als erste das Nest verlassen, habe als erste von einem Teller gegessen, war die erste, die auf einen Baum kletterte und herunterfiel, und die erste, die unter den Schuppen kroch und ein Blumenbeet für meine Bedürfnisse benutzte. Dieser Morgen war so schön, daß ich ein bißchen Gärtnern im Haus für eine sinnvolle Beschäftigung hielt. Sie hat mehr Pflanzen, als sie pflegen kann. Ich saß in etlichen Blumentöpfen, stutzte den überlangen, herabhängenden Efeu, knabberte nachdenklich an einer Begonie, entdeckte Ameisen im Pfennigkraut und warf den Topf sofort runter. Pfui! Bestimmt wollte sie keine Ameisen auf dem Fensterbrett haben. Undenkbar. Ich wurde zunächst ausgeschimpft, doch als sie die Ameisen in der verstreuten Erde auf dem Fußboden entdeckte, änderte sie ihre Meinung und umarmte und küßte mich auf den Kopf. Wir verlegten unsere Gartenarbeit nach draußen und halfen, Salatpflänzchen einzusetzen. Unsere Reihen wurden nicht so gerade wie ihre, aber unser erster Versuch war recht eindrucksvoll. Wir gruben auch eine Menge Extralöcher... überall. Man kann nicht wissen, wann sie die mal braucht. »Muffin-fürs-erste, geh mir bitte aus dem Weg, sonst schneide ich dir den Schwanz ab.« Ich mustere den Kantenschneider. Der Lärm ist faszinierend, und wie die Grashalme durch die Luft fliegen! Ich laufe auch hinter dem Rasenmäher her, tänzle darum herum, pirsche mich an und attackiere ihn. Das beunruhigt alle, aber mir ist es egal. Wartet nur, bis ich herausfinde, wie ein Auto funktioniert. Wenn es regnet, helfen wir ihr bei der Ablage. Darin ist sie absolut hoffnungslos; hat überhaupt keine Methode. Stapel sind überall auf dem Teppich und ihrem Schreibtisch. Die Bücherregale sind mit Papier vollgestopft. Wir leisten gute Arbeit. Man konnte es einen fliegenden Start nennen. Jetzt kann sie alles sehen – auf einen Blick. Wir dachten, das würde sie 32
freuen. Sie sagt immer, daß ihr niemand zur Hand geht. Wir haben es mit zwölf Pfoten getan. »Ach du meine Güte...« Sie war sprachlos. »Muffin-fürs-erste, ich weiß, das ist dein Werk. Runter von meinem Schreibtisch. Verschwinde. Setz dich, und benimm dich.« Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nicht hingesetzt und mich gut benommen. Und auch nicht die verrückte Daisy. Wir springen entweder wie Gummibälle durcheinander oder liegen schlafend da. Ist das da eine Wespe, eine Biene oder eine Fliege? Hab dich! Hoppla! Paß auf, da kippt was um... »O nein! Meine Uhr. Meine kostbare französische Spieluhr. Ein Hochzeitsgeschenk. Muffin, was soll ich nur mit dir machen?« Gib mir einen richtigen Namen. Das ist doch wirklich nicht zuviel verlangt. Ich beschnuppere neugierig die herumliegenden Teile. Langweilig. Ist das ganze Geheul nicht wert. Ich helfe ihr beim Zusammensuchen der einzelnen Stücke. Das Gehäuse ist nicht zerbrochen, aber das Innere ist ziemlich durcheinander geschüttelt. Wem gefällt schon dieses Gesinge. Es ist nicht mal Englisch. Eigentlich hätte sie dankbar sein müssen. Jetzt braucht sie die Uhr nicht mehr aufzuziehen. »Dich behalte ich nicht«, wütete sie. »Ich schicke dich zurück. Ich behalte Caspian und seine Mutter, Sascha. Mit ihm gibt es keinen Ärger. Aber du und Daisy, ihr macht mich wahnsinnig.« Die Worte gefroren in der Luft, obwohl die Morgensonne helle Flecken ins Zimmer sprenkelte. Uns zurückschicken? Wohin? Woher sind wir gekommen? Ich und die kleine Daisy? Meine kleine Schwester sprang arglos umher und jagte einen Schmetterling. Sie hört nie zu, sie ist unschuldig wie ein Rosenblatt. Ich konnte es ihr nicht sagen. Sie muß beschützt werden. Ich ging in den Garten und war ungewöhnlich ruhig. Meine Beine waren ganz schwach. Was bedeutete das ›uns zurückschicken‹? Wir sind immer hier gewesen. Meine früheste Erinnerung beginnt damit, daß wir in einem Korb lagen und sehr spät am Abend auf der Ladefläche eines Transporters durchgerüttelt wurden. Wir krochen auf dem Fußboden einer Küche heraus, drei winzige, verlorene und hilflose Pelzknäuel. 33
Aber ich war gleich neugierig und beschnupperte die neue Umgebung, während die anderen in ein Nest aus Baumwollflanell krochen und sich an unsere Mutter schmiegten. »Ich kann es einfach nicht glauben, daß jemand zwei Tage alte Kätzchen aussetzt«, hatte die Frau gesagt und jeden von uns vorsichtig mit einem Finger gestreichelt. »Das ist grausam.« »Wahrscheinlich haben sie nicht geglaubt, daß eine so junge Katze schon trächtig werden kann. Sie ist ja selbst noch ein Kätzchen, kaum neun Monate alt.« Wir sind eine Familie mit nur einem Elternteil, dachte ich, mich schläfrig an ihren pelzigen, silbernen Bauch kuschelnd, und haben eine ganz junge Mum. Heute habe ich es mit der Hausarbeit. Alles, was mit Wasser zu tun hat, fasziniert mich. Ich beobachte wie hypnotisiert die Tropfen, die aus dem Wasserhahn fallen, wie das Wasser im Becken herumwirbelt, wie der Wischlappen über den Boden gleitet und auf dem Linoleum dunkle Streifen hinterläßt. »Raus! Raus!« schreit sie und versucht uns alle auf einmal einzufangen, als wir einen Sturmangriff auf den Wischlappen machen. Wir sind phantastisch, rutschen überall herum, verzieren das nasse Linoleum mit Pfotenspuren und verursachen ein Chaos. Wir sind alle verrückt nach Wasser. Wenn sie sich morgens wäscht, sitzen wir im Waschbecken. So werden manchmal unsere Schwänze naß. Sie muß um uns herumspritzen. Wir toben in der leeren Badewanne, wenn sie sie putzen will. Wir sind süchtig nach tropfenden Wasserhähnen. Nähen macht auch Spaß. Auf dem Stoff zu sitzen, bringt die ganze Prozedur zum Stillstand. Das Nähkästchen umzuwerfen, ist sehr lustig, obwohl sie besorgt zu sein scheint, wir könnten in die Nadeln treten. Über den auf dem Boden ausgebreiteten Stoff zu rutschen, in die Falten zu boxen und uns wie ein Pfannkuchen einzurollen, ist auch lustig. Sie lacht. Wahrscheinlich wollte sie sowieso nicht nähen. Genauso wie sie eigentlich nicht kochen will, es aber tun muß. Es ist Teil irgendeines Arrangements, daß sie die ganze Arbeit 34
erledigt. Wir helfen ihr beim Kochen, indem wir über den heißen Herd spazieren, in den Mixer spähen und mit schielenden Augen die sich langsam drehende Mikrowelle fixieren. »Nein, nein!« schreit sie verzweifelt und versucht ihr Körnergericht vor den Räubern zu schützen, indem sie von jeder Oberfläche Kätzchen entfernt. »Ich werde noch verrückt.« Sie rast herum, zerrt uns überall heraus, achtet darauf, daß wir weder verbrannt noch zerfleischt und auch nicht tiefgefroren werden. »Es hat keinen Sinn. Ich muß euch aussperren.« Sie schiebt uns raus und schließt die Tür. Wir stimmen im Gang ein klägliches Maunzen an, das ausdrückt, daß wir frieren, einsam und verängstigt sind, daß es uns leid tut und wir es nie wieder machen werden, und so weiter. Nach ungefähr einer Minute läßt sie uns rein. Mit einem Satz sind wir drei erneut auf der Arbeitsfläche, um nachzusehen, was sie gerade tut. Toll, Curry! Großartig! Käsekuchen, großartig! Schokoladenbiskuit – wir kosten alles. Sie weint oft. Das ist sehr beunruhigend. Wir verstehen nicht, warum sie weint. Ich tue mein Bestes, um sie zu trösten, indem ich ihr meine feuchte Nase ins Gesicht stupse und laut in ihr Ohr schnurre. Caspian versucht sie mit seinem erstaunlich guten Aussehen und seiner ruhigen Art abzulenken. Daisy tanzt und gibt sich besonders witzig und amüsant; sie zieht eine Art Kabarett-Show ab. Das bringt die Frau dazu, mit dem Weinen aufzuhören, und sie schmust mit uns allen, einschließlich Sascha, die zu einem Mutter-Groupie wird. Das ist wahrscheinlich so, weil die beiden etwas verbindet. Es ist offensichtlich, daß sie sich lieben. Sie haben eine Art persönlicher Beziehung. Zwei, die gehen, und zwei, die bleiben. Der kritische Moment kommt näher. Sie muß sich bald entscheiden. Wir werden täglich größer. »Muffin und Daisy müssen gehen«, sagt sie und drückt uns beide an sich. »Sascha hat schon viermal das Zuhause gewechselt; es wäre einfach nicht fair, sie wieder wegzugeben. Und Caspian ist so schön, daß ich es nicht ertragen könnte, ihn 35
bei anderen Leuten zu wissen. Aber ich liebe euch alle. Und was wäre, wenn ich weggehen wollte? Wer würde vier Katzen aufnehmen? Wer würde für vier Katzen sorgen?« Daisy und ich wußten nicht, ob wir begeistert oder deprimiert sein sollten. Im Zweifelsfall stürze dich aufs Essen. Wir machten uns auf die Jagd nach Eßbarem. Rohe Kartoffeln? Biskuitverpackung? Kalte Teebeutel? Dann landeten wir einen Volltreffer. Ich schlenderte zufällig über dieses Regal voller Kochbücher und stieß eine Plastikdose um. Der Deckel flog davon, und der Inhalt ergoß sich über den Fußboden. Das vertraute Klappern von harten kleinen Kräckerchen war Himmelsmusik. Wir stürzten uns darauf, als stünde uns eine Belagerung bevor. Es war ihr Reservevorrat an zusätzlichem vitaminreichem und sehr teurem Trockenfutter, das sie für uns aufbewahrt. Wir feierten eine tolle Freßorgie... Dabei machten wir einen Lärm wie Elefanten, die Bambusrohr brechen. Natürlich hörte sie uns. »O mein Gott! Euch wird schlecht werden«, sagte sie und versuchte die Kräckerchen einzusammeln. Nach ein paar Minuten fruchtloser Bemühungen merkte sie, daß sie es verkehrt anpackte – und sie sammelte uns ein. Unter heftigem Protest – mit zwölf strampelnden Pfoten, gewölbten Rücken und gereckten Hälsen – wurden wir nach draußen gesetzt. Daisy, die schnell wie der Blitz ist, war wieder drinnen, ehe die Tür zugemacht wurde. »O nein«, schalt sie und blockierte vier Pfund strampelnde Katze mit hundertacht Pfund menschlicher Entschlossenheit. »Du hast genug gefressen. Sieh dir nur dein aufgeblähtes Bäuchlein an.« Daisy watschelte auf die übriggebliebenen Kräckerchen zu, hatte aber keine Chance. Wir auch nicht. Also verschwanden wir, um unser unprogrammgemäßes Mitternachtsmahl im Schlaf zu verdauen. Wir wußten, daß wir unsere Chance verpatzt hatten. Jetzt würde sie keinen von uns behalten. Sie würde uns alle gegen eine wohlerzogene, stubenreine, fügsame Katze mit zivilisierten Manieren eintauschen. Jedesmal, wenn sie telefonierte, sprang ich neben sie auf das Telefonbänkchen, um mitzuhören. Caspian hielt am Auto Wache und warf ihr seine Cary-Grant36
Blicke zu. Daisy nun, Daisy jagte wie gewöhnlich hinter ihrem Schwanz her und sprang in die Luft, um die Flugzeuge zu fangen, die von Gatwick abhoben. Ich konnte es ihr nicht begreiflich machen, daß die Lage ernst war. Sascha saß gelassen im Garten, beobachtete die Possen ihrer zügellosen Sprößlinge und gab uns gelegentlich einen Klaps, wenn wir ihr zu nahe kamen. Vielleicht wußte sie etwas, was wir nicht wußten. »Ich rufe wegen der geretteten Katzenfamilie an«, hörte ich die Frau später am Telefon sagen. »Es geht nicht darum zu entscheiden, welches Kätzchen ich behalte, sondern welches ich weggebe. Und dazu bin ich einfach nicht fähig, obwohl sie mich wahnsinnig machen. Sie könnten gar nicht unartiger sein. Ein Haus voll ungehorsamer Kinder kann nicht schlimmer sein. Aber was soll’s? Ich bin nicht in der Lage, mich zu entscheiden. Vielleicht muß ich sie alle behalten.« Mir fällt ein Stein vom Herzen. Die Bedrohung, weggegeben zu werden, ist von mir genommen. Ich sitze im Waschbecken und bewundere sie, während ich dem tropfenden Wasserhahn und diesem merkwürdigen Make-up-Ritual zusehe. Ich atme den Duft ihrer Haut ein, grabe meine Krallen in ihr Haar, als ich auf ihre Schulter klettere und mich um ihren Hals drapiere. Ich liebe die Klarheit des Wassers und die kristallenen Tröpfchen, wenn sie ihr Gesicht bespritzt. Wir beide sind aneinander gefesselt. So kam es, daß wir alle blieben. Ich weiß nicht, wie wir das geschafft haben, weil wir noch immer ein Rudel Taugenichtse sind. Die Pflanzen sind alle entfernt und Zierstücke weggepackt worden. Das Futter wird versteckt. Schranktüren werden verschlossen oder blockiert. Der Weihnachtsbaum hielt nur ein paar Minuten unseren Attacken stand. Wir haben die Dekoration so schnell heruntergeholt, wie sie sie aufhängte. Wir sind noch immer hinter den Nußsäckchen her, die sie für die Vögel in die Bäume hängt. Wir beißen uns durch jede Art von Verpackung, die Futter enthält. Wir lernen, die Tasten des Computers zu bedienen. Wir helfen beim Ausdrucken und 37
verpassen den Seiten einen ermutigenden Schlag, wenn sie nicht hinsieht. Sie nennt mich noch immer Muffin. Vielleicht bekomme ich einen anderen Namen, wenn ich erwachsen bin. Mir gefällt noch immer Oliver.
38
Ding, dong, die Glocken Ding, dong, die Glocken schallen. Die Katze ist ins Wasser gefallen.
39
Sie wurde gejagt von Jungen mit lauten Stimmen, die schmuddlige, abgetragene Trainingsanzüge anhatten. Sie liefen Hals über Kopf die schlüpfrige, grob gepflasterte Straße hinunter und warfen mit Dosen und Steinen. Ein Stein, der sie hart im Rücken traf, brachte sie kurz zum Stehen, dann sprang sie auf eine Mauer und floh über den Sims. Ihre geschmeidige schwarze Gestalt hob sich als Silhouette gegen den Nachthimmel ab. Gefahr lag noch in der Luft; sie roch den beißenden Hauch des Bösen. Eine Hand packte ihre Beine und zerrte sie von der Mauer. Sie wehrte sich heftig, biß und kratzte, aber der Griff war zu fest, und sie war hilflos. Ihre grünen Augen funkelten, als sie ihren Fänger ansah – einen mageren Jungen mit einem pickligen, vernarbten Gesicht. Sein Griff war wie ein Schraubstock. Sie zog sich in sich zurück, wurde zu einer schlaffen Gestalt, weil sie wußte, daß ihre Knochen wie die eines Vogels brechen würden, sollte er noch mehr Druck ausüben. Wer warf sie rein? Der schmächtige Johnny Klein. Er eilte zu seinen Freunden zurück, die ihn lachend und triumphierend einkreisten. Sie banden eine Dose an ihren Schwanz. Kniffen ihr in die Ohren. Ließen sie kopfüber baumeln. Sie ertrug alles. »Na los, Johnny. Was machst du jetzt mit ihr?« »Weiß nicht. Wie wär’s mit einem netten Bad?« Sie hoben das Gitter von einem Abwasserkanal und warfen die Katze in die Kloake. Sie krümmten sich vor Lachen und liefen dann davon, um ein neues Opfer zu suchen. Das trübe Wasser schlug über ihrem Kopf zusammen. Verzweifelt kämpfte sie sich an die Oberfläche und rang keuchend nach Luft. Es stank fürchterlich. Verschwommen wurde sie sich bewußt, daß sie nicht allein war. Ratten huschten naß und glänzend vorbei. Ihre großen schwarzen Schlitzaugen funkelten gemein und raubgierig. 40
Ein Haufen Müll trieb neben ihr in dem träge dahinfließenden Strom, und sie schlug ihre Krallen in einen Styroporbehälter für Hamburger. Er gab ihr genug Halt, um nicht unterzugehen. Ihr kleines rosa Maul öffnete sich in Panik. Sie haßte den Gestank der widerlichen Brühe, die in ihre Lungen drang. Ihr drehte sich der Magen um, aber sie konnte die Kloake nicht auswürgen. Mehrere Minuten lang klammerte sie sich an den Hamburger-Karton, wirbelte im Sog herum, bis ihr ein plötzlicher Schwall von Abwasser aus einem Bürogebäude den Karton entriß. Mit einem verzweifelten Sprung rettete sie sich auf einen schmalen Sims, der oberhalb des Wassers verlief. Nachdem sie die abscheuliche Brühe ausgewürgt hatte, bewegte sie sich vorsichtig den Sims entlang. Schwarze, schlangenähnliche Kreaturen schwammen unter ihr dahin. Noch mehr Ratten huschten an ihr vorbei, sie waren sich ihrer Übermacht voll bewußt. Ihre Augen waren verklebt, und sie fiel in einen Zustand der Erschöpfung und hörte auf, gegen das Unvermeidbare zu kämpfen. Es war ihr egal, ob sie in dieser Finsternis umkam. Sie hatte lange genug die Straßen durchstöbert, hatte in Mülltonnen und im Rinnstein nach Futter gesucht, hatte Mäuse auf verlassenen Grundstücken gefangen und war auf Baustellen herumgestromert, um weggeworfene Speisereste aufzustöbern. Sie erinnerte sich an ein Zusammensein mit einem Menschen. Sie erinnerte sich an eine Frau mit ruhiger Stimme und zitternden, knotigen Händen, die sich bemühten, eine Dose zu öffnen. Eines Tages war die Frau verschwunden, und die Katze hatte ihren eigenen Namen vergessen. Sie nagte an der Schnur an ihrem Schwanz. Es dauerte, aber schließlich plumpste die Dose in die Kloake. Der Wasserpegel sank, und ihr Fell trocknete in der Wärme des Kanals zu stachligen Spitzen. Sie lag reglos da und überlegte, wie sie hier rauskommen könnte. Ständig hallten Geräusche wie blecherne Echos durch die Tunnel. Unaufhörlich gurgelte und plätscherte die Kloake dahin, wogte wie ein urzeitliches Monster aus den Tiefen empor. Schließlich legte sich die Übelkeit, und ihr Magen knurrte vor Hunger. Das war nichts Neues. Der Geruch nach Ratten war 41
überwältigend, aber ihr fiel keine Möglichkeit ein, wie sie eine fangen könnte, ohne wieder in das schwarze Wasser springen zu müssen. Sie kroch mit gespitzten Ohren und geschärften Sinnen den Sims entlang. Diese Stelle war trocken, jene kalt; über diese Wand floß Wasser herunter. Sie leckte herabrinnendes Regenwasser, und die Feuchtigkeit reinigte ihre verklebte Kehle. Sie beschnupperte sorgfältig die Stelle, um sie wiederzufinden. Regenwasser bedeutete überleben. Sie wollte nicht zusammen mit dem Abfall irgendwohin geschwemmt werden. Ihre Schnurrhaare zuckten nach vorn und nahmen zitternd etwas wahr. Es roch nach kleinen, trockenen, hilflosen Ratten. Sie sprang ins Nest, zerrte ein Rattenjunges heraus und lief, mit der Beute im Maul, den Sims entlang zurück. Sie kaute knirschend, ließ jedoch in ihrer Panik Kopf und Schwanz fallen. Sie hatte Angst, die Rattenmutter könnte zurückkommen. Nichts passierte. Vom Hunger getrieben, kroch sie erneut mutig zum Nest und holte sich mit flinker Pfote noch ein Junges. Sie zog sich weit in den Tunnel zurück, ehe sie ihre Beute verspeiste. Diese zweite Ratte schmeckte schon besser. Sie schmeckte nach Hoffnung. Die immer wiederkehrende Vision eines Wasserstrudels quälte sie wie ein Alptraum. Tiefes, schwarzes wirbelndes Wasser, das mit krabbenartigen Klauen nach ihr griff. Sie wußte, daß die Zeit kommen würde, da die Kloake sie verschlingen würde. Hier gab es keine Möglichkeit zu überleben und keinen Weg nach draußen. Eines Tages würde der Wasserpegel über den Sims steigen und sie ertränken. Ihr letzter Atemzug würde stinken, ihr letzter Gedanke dem unendlichen Sternenhimmel gelten, dessen Funkeln sie nie wieder sehen würde. Wer holte sie raus? Der große Klaus. Die Alarmglocken schrillten zum dritten Mal in dieser Nacht. Die Feuerwehrmänner rollten sich aus ihren Kojen, zogen ihre Uniformen an und setzten ihre Helme auf. 42
»Das ist schon der dritte Einsatz«, stöhnte Klaus und stieg in seine Stiefel. Der Sturm hatte die ganze Nacht über der Stadt gewütet. Sie waren zu zwei Häuserblocks mit überfluteten Kellerwohnungen gerufen worden und hatten stundenlang gepumpt. Jetzt hatten sie es mit einer geplatzten Wasserleitung zu tun, die sich in die Kanalisation ergoß. Der Abwasserkanal stammte noch aus viktorianischer Zeit, und die zusätzlichen Wassermassen könnten die bereits maroden Tunnel zum Einsturz bringen. »Schick eine Mannschaft da runter«, sagte der Kommandant energisch. »Klaus und Arthur. Überprüft die Lage. Jemand hat Geräusche gemeldet.« Große Sache, dachte Klaus und fummelte an den Verschlüssen seines Schutzanzugs herum. Er starrte die gelben Lichter der Straßenlaternen an, die wie erlöschende Feuerwerkskörper flackerten. »Wer ist denn unser Zwerg, hm?« höhnte ein Kumpel. »Mega-Zwerg«, sagte ein anderer grinsend. Klaus feixte. Er hatte ihren Spott satt. Er hatte es satt, der kleinste Mann der Brigade zu sein. Gab es keine Wachstumshormone? Er sehnte sich danach, groß zu sein. Warum mußte er immer derjenige sein, der durch Speisekammerfenster gezwängt, Kohlenrutschen hinunter geschoben und in Aufzugsschächte gesteckt wurde? Bekam er je die Chance, ein Mädchen aus der Not zu retten? Nie. Gewöhnlich wurde er von den großen Kerlen beim Sturm auf die Schlafzimmertür niedergetrampelt. Aus dem geplatzten Hauptrohr schoß Wasser wie aus einem isländischen Geysir. Ein öliger Film überzog die Fahrbahn, schwemmte Leitkegel und Mülleimer davon und unterspülte parkende Autos. »Nummer eins, drei und fünf pumpen«, befahl der Kommandant. Klaus schnallte sich sein Atemgerät um. Er war schon öfter in einen Abflußkanal gestiegen. Das war kein Honiglecken. »Sprout. Lestor.« »Boß!« »Runter mit euch beiden.« 43
»Boß!« Klaus hob den schweren Kanaldeckel und tastete nach der ersten Sprosse der Eisenleiter. Er rückte das Mundstück der Sauerstoffflasche zurecht, holte tief Luft und stieg hinunter. Wie scheußlich. Diese Finsternis und der Gestank. Der Strahl seiner Taschenlampe fiel auf die glitzernden Augen einer Ratte, und ihn schauderte. Er haßte Ratten. Er kannte den Grundriß des Hauptkanals; nur die Nebenkanäle verwirrten ihn. Er hakte ein Sicherungsseil an eine Sprosse, das er hinter sich ablaufen ließ. Je schneller er hier fertig war, um so besser. Die Kloake schwappte über den Rand seiner hohen Wasserstiefel und durchtränkte seine Socken. Ihm drehte sich der Magen um. »Oh, verflucht«, würgte Lestor hervor. Eine schwarze Gestalt sprang Klaus an und ließ ihn zurückstolpern. Krallen bohrten sich durch den dicken Kragen seines Schutzanzugs. Er riß sich die Kreatur vom Leib, und sie floh in die Dunkelheit. Der Lichtstrahl der Taschenlampe fiel auf einen langen schwarzen Schwanz auf dem Sims. Verdammt, eine Katze. Klaus fand schließlich die Stelle, wo das Mauerwerk zerbröckelt war. Es wirkte nicht einsturzgefährdet, davon überzeugte er sich. Jetzt konnte er zurückgehen. Er drehte sich um und tastete nach der Sicherungsleine. Er haßte jeden Schritt, den er in dieser stinkenden Flut machen mußte. Die Sicherungsleine hatte sich von seinem Gürtel gelöst. Das bedeutete Ärger. Er hatte die erste Regel eines Feuerwehrmanns gebrochen. Vergewissere dich, daß die Sicherheitsleine festsitzt. Er hatte sie nicht überprüft. »Lestor?« Keine Antwort. Er warf einen Blick auf den Manometer seiner Sauerstoffflasche. Er zeigte fünfunddreißig Bar, das hieß, ihm blieb noch Sauerstoff für ungefähr fünfzehn Minuten. Kein Grund zur Panik, sagte er sich und versuchte sich an die Route zu erinnern, die er hierher eingeschlagen hatte. Der Ausstieg konnte nicht weit entfernt sein. Geh gegen die Strömung des Kanals, sagte er sich. Feindselige grüne Augen starrten ihn funkelnd an, und ein Fauchen kam aus der Kehle. Klaus war für eine kurze Weile ganz gefangen. Die Katze steckte in diesem Höllenloch und 44
besaß trotzdem den Mut, ihr Territorium zu verteidigen. Er dachte keinen Augenblick daran, daß sie wild sein könnte, und näherte sich ihr mit ausgestreckter Hand. »Miez, Miez«, kam es zischend aus seiner Gasmaske. Es war ein unheimlicher Ton. Die Katze saß wie erstarrt da. Sie hatte seit Tagen keine menschliche Stimme mehr gehört. Der Klang verwirrte sie, und diese schwerfällige Gestalt flößte ihr Mißtrauen ein. »Komm schon, armes Ding. Laß uns von hier verschwinden.« Die Katze wich auf dem schmalen Sims zurück und kauerte fauchend, bereit zum Absprung. »Fisch und Chips«, sagte Klaus. »Magst du Fisch und Chips, Kumpel?« Diese Worte klangen besänftigend und vertraut. Die Frau hatte das oft gesagt. Sie ging aus dem Haus und kam mit diesem köstlichen Essen in einer fettigen Tüte zurück, das sie mit der Katze teilte. Klaus spürte, daß die Katze kurz in ihrer Wachsamkeit nachgelassen hatte. Jetzt bewegte er selbst sich mit katzenartiger Geschwindigkeit, schnappte sich das Tier vom Sims und drückte es gegen seine Brust. Da hing die Katze und erinnerte sich an einen anderen brutalen Griff. Aber diesmal kniff ihr niemand in die Ohren oder band ihr eine Dose an den Schwanz. Klaus stopfte die Katze in seinen Schutzanzug und zuckte zusammen, als sich scharfe Krallen durch sein T-Shirt bohrten. »Na gut«, sagte er und schluckte den Schmerz hinunter. »Wollen mal sehen, daß wir dich und mich hier rauskriegen.« Er fand mit nachtwandlerischer Sicherheit den Weg zurück durch das Gewirr der Tunnel zu der eisernen Einstiegsleiter. Dort hing die Sicherungsleine, die sich an einer Sprosse verfangen hatte. Er kletterte hinauf, raus in die frische Nachtluft und riß sich die Gasmaske vom Gesicht. Klaus kam sich plötzlich größer vor und mußte grinsen. Die Luft roch nach Frühling, obwohl weder ein Krokus noch eine Narzisse zu sehen war. »Wo warst du denn, Mann?« sagte Lestor.
45
Was war das für ein Junge, so verrückt. Der eine Katze zu ertränken versucht. Johnny Klein starrte fassungslos seine kostbare Sammlung von Fußballbildern an. Sie trieben völlig durchweicht, mit verlaufenen Farben in dreckiger Kloake. Die Kellerwohnung war überflutet. Sein Vater schrie ihm etwas zu. Johnny achtete nicht darauf. Die Verzweiflung hatte ihn taub gemacht. Diese Sammlung konnte er nie ersetzen. Ihretwegen war er zum Führer der Bande gewählt worden. Jetzt war ihm nichts mehr geblieben. Die ihm nie etwas Böses getan. Und Mäuse fing auf seines Vaters Farm. »Nach der Überschwemmung kommen die Ratten«, sagte sein Vater und hob einen durchnäßten Teppich hoch. »Du wirst schon sehen. Wie schade, daß wir Großmutters Katze nicht haben. Sie war eine große Jägerin.« Klaus streckte sich im Aufenthaltsraum aus. Er hatte geduscht, den Gestank abgespült und frische Kleidung angezogen. Der Becher starken, süßen Tees in seiner Hand war das beste Getränk der Welt. Er goß Milch in eine Untertasse und stellte sie auf den Boden. »Da, Blackie. Trink das aus. Jetzt bist du hier zu Hause.« Die Katze erstarrte, zitterte dann und erinnerte sich endlich wieder an ihren Namen.
46
Kater Kipperbangs neues Lieblingstier
47
Kipperbang hatte den ganzen letzten Sommer mit der Suche nach einem eigenen Lieblingstier verbracht. Menschen hatten Lieblingstiere, warum sollte also ein kleiner engelhafter Kater mit langem gelb-rot-braunem Fell und intelligenten bernsteinfarbenen Augen keins haben. Seine Gedankengänge waren denen der Menschen relativ ähnlich, allerdings weit weniger verwirrend. Er nannte Futter Futter und Schlaf Schlaf und rein und raus bedeutete genau das. Er redete nie Unsinn. Menschen aßen unterschiedliche Speisen zu verschiedenen Zeiten, ihre Schlafgewohnheiten waren notorisch unzuverlässig, und Kipperbang wurde aus ihrem Kommen und Gehen nicht schlau. Daß sie aber Lieblingstiere hatten, das verstand er. Er hatte sich ein eigenes gewünscht, seit er gemerkt hatte, daß seine Herrin ihr Lieblingstier vergötterte. Immer sprach sie mit ihren Freunden darüber. Zuerst fand Kipperbang einen hübschen runden Kieselstein als Lieblingstier, aber er wurde ihm bald langweilig, weil er wenig spielte. Dann hatte es ihm eine große Papiertüte angetan, bis seine Herrin mit dem Fahrrad darüberfuhr und sie wegwarf. Sein Lieblingstier war ein Marienkäfer gewesen, den er Ruby nannte. Kipperbang hatte ihn tagelang im Gewächshaus untergebracht, bis er eines Morgens nach Hause flog, weil sein Haus brannte und seine Kinder allein waren. Obwohl Kipperbang verstand, daß es sich um einen Notfall handelte, blies er eine ganze Weile Trübsal. Er entdeckte sein nächstes Lieblingstier, als es im Garten herumrollte. Es war viel beweglicher, als es der Kieselstein je gewesen war, und foppte ihn nicht, indem es in die Luft und außer Reichweite flog wie die Papiertüte. Er war sich ziemlich sicher, daß es keine Kinder hatte, was ihn beruhigte. Er packte es vorsichtig mit den Zähnen, um es nicht zu verletzen. Den fragilen Marienkäfer auf seiner Vorderpfote herumzutragen, war sehr ermüdend gewesen. Er hielt mitten in der Bewegung inne, als ihm etwas völlig Unerwartetes bewußt wurde. Dieses neue Lieblingstier hatte einen Geschmack, einen köstlichen Geschmack. Ehe er sich bremsen konnte, biß er knirschend hinein. Vor Entsetzen über das, was er getan hatte, machte er einen Luftsprung und beschnupperte dann vorsichtig 48
das Ding. Nein, es war nicht tot wie ein dummer zerfetzter Vogel oder eine erstarrte Maus. Abgesehen von den Löchern, die seine scharfen Zähne hinterlassen hatten, schien es überhaupt nicht verletzt zu sein. Es rollte schon wieder fröhlich den Pfad hinunter. Kipperbang war entzückt. Er hatte ein unzerstörbares, kinderloses Lieblingstier gefunden, mit dem er sich amüsieren konnte und das einen köstlichen Geschmack hatte. Was konnte er mehr erwarten? Er sprang mit im Wind flatterndem Schwanz hinterher. »Sieh dir Kipperbang an«, sagte seine Herrin am Fenster. »Was hat er für einen Spaß daran, etwas im Garten zu jagen.« Er entdeckte auch, daß er dieses Lieblingstier nicht füttern mußte wie den Kieselstein und die Papiertüte, die an Unterernährung gelitten, aber seine Futtergaben in Form von toten Würmern und zerquetschten Spinnen nicht angenommen hatten. Sogar der Marienkäfer hatte sich im Gewächshaus nur von grünen Blattläusen ernährt und die Nase über seine dargebotenen Leckereien gerümpft. »Kipperbang ist in letzter Zeit so glücklich«, sagte seine Herrin zu dem anderen Menschen, der auch im Haus lebte – ein Riese mit großen Füßen und einer dröhnenden Stimme, die Kipperbangs empfindliche Ohren beleidigte. »Er hat immer so einsam ausgesehen.« »Red kein dummes Zeug, Schatz. Wie kann eine Katze einsam sein?« »Er hat stundenlang im Steingarten gesessen und nur in die Luft gestarrt.« »Das ist die Art der Katzen, über das Leben nachzudenken.« »Ich glaube nicht, daß es eine so einfache Erklärung dafür gibt«, sagte sie. Für Kipperbang war es ein wunderschöner Sommer. Sein neues Lieblingstier war so anspruchslos. Es wurde nie eifersüchtig, wenn Kipperbangs Aufmerksamkeit plötzlich von einem Vogel oder einem Ameisenhaufen abgelenkt wurde oder wenn er einen Frosch ums Blumenbeet scheuchte. Es wurde nie ärgerlich, wenn er es im Regen draußen ließ oder hinter dem Garten49
schuppen vergaß. Kipperbang hatte noch nie ein derart tolerantes Wesen erlebt. Es war das perfekte Lieblingstier. Eines Tages kam Kipperbang mit gewohnt zufriedenem Gesichtsausdruck und vor Glück strahlenden Augen in die Küche geschlendert. Es war Zeit zum Abendessen, und der Duft seines Lieblingsgerichts – saftige Fischhäppchen in köstlicher Soße – hing in der Luft. Aber er merkte sofort, daß die Gedanken seiner Herrin nicht bei seinem Abendessen waren. Sie stand nahe bei dem Riesen, und ihre Wangen waren feucht. »Sechs Monate? Ach, Liebling, wie ich dich vermissen werde. Mußt du wirklich fort?« »Sechs Monate vergehen schnell.« Die dröhnende Stimme ließ Kipperbang zusammenzucken. »Was soll ich nur ohne dich anfangen, Schatz.« »Du kommst schon zurecht. Ich hoffe nur, du suchst dir keinen Ersatz für mich«, brummte der Riese. Kipperbang strich um ihre Knöchel. Er dagegen hoffte, sie würde jemanden finden, der weniger lärmend war und kleinere Füße und einen besseren Orientierungssinn hatte. Er rieb sein Mäulchen an ihrem Knöchel, beschnupperte ihre Haut, markierte mit seinem Duft sein Territorium und übermittelte ihr gleichzeitig seine Besorgnis und sein Mitgefühl. »Ohne dich werde ich so einsam sein, Schatz«, sagte sie, und ihre Wangen wurden noch feuchter. Kipperbang beobachtete fasziniert, wie die Feuchtigkeit über ihr Gesicht tröpfelte. Woher kamen diese Tropfen? Er blickte bewundernd zu ihr hinauf, bis ein Tropfen auf seinen Kopf fiel und er erschrocken einen Satz machte. Da kam ihm ein Gedanke. Er raste in den Garten. Natürlich würde sie ohne ihren Schatz – ihr Lieblingstier – einsam sein. Das konnte er gut verstehen. Ihn durchströmte eine glühende Liebe, als er daran dachte, wie sie ihn mit Zärtlichkeit überschüttete, ihn mit Leckereien verwöhnte und ihn kraulte, bis er vor Wonne zerfloß. Es war das mindeste, was er tun konnte. Ja, er würde sein Lieblingstier mit ihr teilen.
50
Er lief zu der Stelle, wo er es beim Sonnenbad zwischen den Ringelblumen zurückgelassen hatte. Dort wartete es geduldig. Ein paar Blütenblatter klebten wie Konfetti in seinem Inneren. Kipperbang nahm es zart mit den Zähnen und genoß den starken Geschmack. Er trug sein Lieblingstier stolz ins Haus und legte es seiner Herrin mit Ehrerbietung zu Füßen. Dann trat er zurück und war überzeugt, daß beide es voller Bewunderung und Dankbarkeit annehmen würden. Sie bückte sich und hob es auf. »Pfui! Kipperbang, was hast du da angeschleppt? Einen schmutzigen alten Joghurtbecher. Wie ekelhaft.« Sie eilte zum Spülstein, und Kipperbang sah voller Entsetzen, daß sie sein Lieblingstier im Wasserstrahl ertränkte. Dann schüttelte sie die Tropfen ab und warf den Becher in eine Einkaufstasche, die hinter der Tür hing. »Noch ein Becher für die Spielgruppe«, sagte sie und wischte sich die Hände ab. Kipperbang rührte sein Abendessen nicht an. Er schob den Fisch lustlos auf dem Teller hin und her; wie Pappe schmeckte er und die Soße wie Essig. Er tat so, als würde er seine Schnurrhaare putzen. Kipperbang wartete geduldig, bis die beiden ihr Abendessen ins andere Zimmer trugen. Dann sprang er aufs Abtropfbrett, spazierte über Tassen und Teller und spähte in die Einkaufstasche. Bei dem Anblick, der sich ihm bot, sträubte sich sein Fell. Dutzende von Bechern in unterschiedlichen Größen und Formen lagen in der Tasche. Er war höchst erstaunt. Woher waren all diese Kinder gekommen? Und in so kurzer Zeit? Er versuchte sein Lieblingstier in der Menge zu finden, aber es war unmöglich. Kipperbang schlenderte tieftraurig in den Garten und kletterte auf einen Stein. Da saß er und starrte in die Schatten der Dämmerung, als das Abendlicht verblaßte und der Mond wie ein Jäger am Himmel auftauchte. »Ich weiß nicht, was mit Kipperbang los ist«, sagte seine Herrin am Fenster. »Es sitzt seit Stunden völlig reglos da.« 51
Kipperbang harrte so still wie ein Indianerhäuptling mit steinernem Gesicht im Garten aus. Kein Muskel in seinem Körper zuckte. Niemand wußte, daß sein Herz langsam zerbrach. Jetzt mußte er sich wieder ein neues Lieblingstier suchen.
52
Die Eberesche
53
Schon seit vielen Jahren stand die Eberesche am kalkigen Hang des Chantonbury Hill. Sie war nicht besonders schön, kaum sechs Meter hoch, und in ihrem gelbgrauen Stamm waren längs verlaufende tiefe Risse. Ihre Äste waren spindeldürr, die Blätter gefiedert und gezackt. Lange Zweige reckten sich wie Finger voll Sehnsucht nach Luft und Raum in dem dichten Wald empor, der den abgerundeten Hügel darüber säumte. Mischka kannte die Eberesche gut. Oft hatte er seine Krallen an ihrer Rinde geschärft. Die Borke schonte die empfindlichen Nervenenden in den Hornschichten, und beim Kratzen strömte ein angenehmes Gefühl durch seine Glieder. Er mochte den Duft der schmalen, flaumigen Knospen im Frühjahr und den der bräutlichen Blüte im Mai. Mischka lebte in einem windschiefen Cottage, das sich in die Senke des Weald unterhalb vom Chantonbury Hill schmiegte. Einst war es eine Arbeiterkatze gewesen, und jetzt wurde es von einem Ehepaar bewohnt, das ein Restaurant in Worthing besaß. Der dritte Stock bestand nur aus einem Speicher mit einem einzigen winzigen Fenster, das wie ein Auge in die Welt hinausschaute. Das Dach neigte sich unter dem Gewicht der Zeit; in dem schiefen Kamin hatte seit einem halben Jahrhundert kein Feuer mehr gebrannt. Mischka war wohlgenährt, doch geliebt wurde er nicht. Die beiden waren viel zu beschäftigt. Er wurde mit Essen aus dem Restaurant versorgt, das in Tüten nach Hause gebracht wurde; er bekam alle nötigen Katzenimpfungen, doch auf einem Schoß durfte er sich nie geborgen einrollen. Er verbrachte seine langen Tage und Nächte auf der Suche nach einer Stimme mit Wanderungen durch die South Downs, denn die beiden sprachen nicht mit ihm. Sie sprachen nur über ihn. »Hast du die Katze gefüttert?« »Wir sollten die Katze raussetzen.« Vergeblich waren die Geschenke, die er ihnen brachte – Blätter, Zweige, Rindenstücke, Schaffell und einen Stein von der Hügelkuppe. Sie nahmen keinerlei Notiz davon. Nur ein kleiner Stein löste die ganze Katastrophe aus. Ein kleiner Stein genügte, der den Hügel hinunterrollte und dabei ein prekäres Gleichgewicht zum Einsturz brachte. 54
Chantonbury Hill war seit langem ein Ort, über den merkwürdige Gerüchte kursierten. Seine Geschichte reichte weit zurück. In der Eisenzeit, etwa vierhundert Jahre vor Christus, hatte auf dem Hügel eine Burg gestanden. Das war so lange her, daß die Seelen dieser Menschen im Chaos der Brutalität und des Elends verlorengegangen waren. Dann hatten die Römer dort einen Tempel errichtet. Im Jahre 1760 hatte der exzentrische Charles Goring, damals noch ein Knabe, der im nahe gelegenen Winston Park lebte, einen Kreis Birken auf der Hügelkuppe der South Downs gepflanzt, um den wilden, sturmumtobten Gipfel mit einer Krone aus Grün und Gold zu bedecken. Dieser Hügel, der aus meilenweiter Entfernung zu erkennen war, wurde die Sehenswürdigkeit in Sussex. Das waren die bekannten Fakten über Chantonbury Hill. Es gab aber auch andere, unheimlichere Sagen – Geschichten von nächtlichen Ritualen, schwarzen Messen und Teufelserscheinungen. Nur wenige Menschen gingen nach Einbruch der Dunkelheit auf den Hügel. Einzig Adepten der Schwarzen Magie umkreisten den Gipfel siebenmal um Mitternacht. Manche Leute behaupteten, sie hätten eine blaue Lichtkugel über den Bäumen schweben sehen. Sie behaupteten, das sei der Teufel, der seinen Getreuen einen Hexentrank bringe. Mischka wurde viel öfter hinausgesetzt als hereingerufen. Weil man ihn derart ignorierte und zurückwies, glaubte er, sein Wesen sei verkrüppelt. Dabei gab er sein Bestes, um als Mitglied des Haushalts akzeptiert zu werden. Er schnurrte begeistert als Dank für die Überreste aus dem Restaurant, er sprang auf Schöße, er rieb sich an Knöcheln. Doch alle Bemühungen waren vergeblich. Diese beiden Menschen waren keine Katzenmenschen. »Hast du die Katze gefüttert?« »Setz die Katze raus, und komm ins Bett.« Also durchstreifte Mischka das Weald, wanderte meilenweit, beobachtete, lauschte und lernte Düfte und Gewohnheiten kennen. Er erforschte die Umgebung mit wissenschaftlicher 55
Akribie. Er wußte zum Beispiel, daß sich die Eberesche fortbewegte, denn sie kletterte den Hügel hinauf. Zuerst glaubte Mischka, sein Erinnerungsvermögen spiele ihm einen Streich und er habe sich im Standort geirrt. Er markierte das Territorium. Er war verwirrt. Aber er konnte sich doch nicht fünf Tage hintereinander irren. Er rollte sich im Gestrüpp in der Nähe des Baums ein und wartete. Seine Geduld war nahezu unerschöpflich. Das Licht verblaßte, und sein Magen knurrte. Er dachte voll Sehnsucht an Heilbutt und Scholle, gegrillte Nieren und Krabbenpastete. Der Speichel tropfte ihm aus dem Mund, aber er ließ – neugierig und ein bißchen ängstlich – die Eberesche nicht aus den Augen. Dunkle Wolken verbargen das fahle Gesicht des Mondes, und der Wind fegte ächzend über den bewaldeten Hügel. Blätter raschelten und wisperten, winzige Wesen huschten durch die Nacht. Mischka blinzelte und gähnte. Eine lange Wurzel bohrte sich durch die Erde an die Oberfläche, suchte nach einem festen Halt, sich wie ein brauner Wurm bewegend. Sie kletterte den Abhang hinauf und umschlang einen jungen Baum, der sich unter der Anspannung neigte. Ein reißendes Geräusch war zu hören, als sich die Eberesche aus der Erde zog und ein paar Meter hügelaufwärts kletterte. Erde und Steine stürzten herab. Die Seele des Baums stöhnte vor Anstrengung. Mischka sah diesem Ereignis wie erstarrt zu. Die Eberesche hatte sich bewegt. Der alte Wurzelkrater füllte sich langsam mit Sand, und ein paar Minuten später war von dem Loch nichts mehr zu sehen. Plötzlich schien die Eberesche zu merken, daß sie beobachtet wurde. Ihre Äste krochen wie Fühler auf der Suche nach Duftspuren über die Erde. Mischka floh. Sich bewegende Bäume waren höchst verwirrend. Er huschte durch die Blätter, den steilen Pfad hinunter und über die Felder zum Cottage. »Es ist schon nach Mitternacht«, hörte er jemanden sagen. »Ich habe große Lust, diesen Kater die ganze Nacht über draußen zu lassen.« Mischka setzte zum Endspurt an und schoß zwischen den Beinen, die im Türrahmen standen, hindurch. 56
»Voller Dreck und Blätter, wie gewöhnlich«, klagte die andere Stimme. Er säuberte sich, noch immer zitternd vor Angst, so gut er konnte. Mitte Oktober war die Eberesche voll mit Büscheln roter Beeren und stand fast auf der Kuppe des Hügels. Mischka war ganz krank vor Sorge. Etwas war überhaupt nicht in Ordnung. Er spürte es an der Atmosphäre. Die Eberesche hatte ihre Gestalt verändert. Sie wurde jetzt dunkler, höher und schlanker. Ihre Äste sahen nun wie Arme aus, die winkten, und ihre Zweige wurden zu langen Fingern. Der Kater schärfte seine Krallen nicht mehr an der gelblichen Borke, weil er sich vor einer möglichen Reaktion fürchtete. Er hätte schwören können, daß er den Baum atmen hörte. Trotz seiner Angst war er fasziniert. Seine verdammte Neugier überwog die Vernunft, und es zog ihn immer wieder, ganz gleich, welches Wetter herrschte, zum Gipfel des Chantonbury Hill, wo der Kreis stolzer Birken in ihrer ganzen Herbstpracht stand. Es war ein merkwürdiger Tag. Ein Donnerstag, der sich von anderen unterschied. Nichts schien sich zu bewegen, so als würde eine Glocke aus Schweigen und Reglosigkeit etwas Unheilvolles ankündigen. Mischka entdeckte einen kleinen weißlichen Stein, der ihm sehr gefiel und den er mit der Pfote herumrollte. Als er beschloß, zum Abendessen nach Hause zu gehen, nahm er ihn vorsichtig in den Mund, um ihn als Geschenk mitzubringen. Ein plötzliches Zischen zwischen den Blättern erschreckte ihn, und er ließ den Stein fallen. Er rutschte wie ein lebendes Wesen den schlüpfrigen Abhang hinunter. Das schien ein Signal zu sein. Positiv ionisierte Moleküle luden die Atmosphäre auf. Ein Beobachter sagte später, er habe aus meilenweiter Entfernung ein Licht am Himmel über den Birken gesehen. Mischka bekam an diesem Abend kein Fressen, denn bei seiner Rückkehr zum Cottage klapperten die Fenster, schlugen die 57
Türen, heulte der Kamin, und die Äste begannen zu brechen. Sturm peitschte den Himmel. Teufel flogen durch die Luft, und schmächtige Hexen umklammerten verzweifelt ihre flatternden Gewänder. Der Hügel öffnete seinen Schlund, und ein fürchterlicher Wirbelsturm brach sich Bahn nach draußen. Diese Gefahr stimulierte alle Sinne. Kleine Tiere flohen in ihre Höhlen. Der Sturm brauste übers Land und hinterließ einen Pfad der Verwüstung. Böen mit einer Geschwindigkeit von fünfundneunzig Meilen pro Stunde entwurzelten Bäume und Hecken, deckten Dächer ab, zerrissen Strom- und Telefonkabel und knickten Straßenschilder um. Der Sturm wirbelte die Eberesche durch die Luft und riß ihr das Herz heraus. Der Baum schrie, als er gespalten wurde und diese außen wirkende Macht seine Wurzeln aus der Erde riß. Er wurde der Länge nach wie ein Strohhalm zersplittert, und sein Wesen wand sich als spiralförmiger Geist in den schwarzen Himmel empor. Doch dann befreite sich der Geist aus dem sterbenden Baum, entfloh dem Bösen im Zentrum des Sturms und jagte himmelwärts zu den Sternen und ließ das Chaos hinter sich. Mischka kauerte mit angelegtem Fell und Schnurrhaaren und vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen inmitten der umherfliegenden Trümmer und beobachtete das Spiel der zitternden Lichter. Die Birken stürzten eine nach der anderen um. Das Bersten und Knarren des brechenden Holzes ließ die Erde erbeben. Mischka war überzeugt, daß der Teufel seinem Gefängnis entronnen war und im ganzen Süden Englands Rache übte. Dieses mächtige Naturereignis schlug Breschen durch Wälder, entwurzelte Abertausende von Bäumen, schleuderte Autos durch die Luft, deckte Dächer ab, stürzte Kamine um und brachte die See in Aufruhr. Am Morgen legte sich der Sturm allmählich; nur noch vereinzelte Windböen fegten übers Land. Nichts sah mehr wie früher aus. Die Krone aus Birken war verschwunden. Mischka traute seinen Augen nicht. Riesige Bäume lagen umgestürzt und hilflos da. Mächtige Wurzelballen ragten gen Himmel. Tote Tiere waren unter abgebrochenen Ästen begraben. 58
Er humpelte nach Hause. Eine hundertjährige Eiche lag wie ein langer Arm quer über dem halben Dach des Cottages. Die beiden packten ihre Sachen ins Auto. »Keine Nacht mehr bleibe ich in diesem Haus. Ich wollte sowieso nie auf dem Land leben. Jetzt haben wir nicht einmal mehr ein Dach über dem Kopf.« »Hast du die Katze gesehen?« »Vergiß die verdammte Katze. Wir ziehen in ein Hotel.« »Das Cottage können wir vermieten. Ich will nie mehr hier wohnen.« Mischka sah sie davonfahren. Sie warfen keinen Blick zurück. Sie hatten ihn nicht gesucht. Er kletterte durch eine zerborstene Fensterscheibe und fand etwas Brot, an dem er lange herumkaute. Dann entdeckte er, daß die Tür des Kühlschranks nur angelehnt war. Auf einem Teller lag Lachs, von dem er sich mehrere Tage ernähren konnte. Er aß sogar rohen Schinken. Nur das Kreischen der Baumsägen und das Knistern rauchender Feuer waren während der letzten Herbstwochen weithin zu hören. Eines Tages näherten sich leichte, schnelle Schritte dem Cottage. »Natürlich sind noch eine Menge Reparaturarbeiten erforderlich. Das Dach ist nur notdürftig hergerichtet worden.« »Das macht mir nichts aus. Ich kann jeden Tag daran arbeiten.« Mischka wurde hochgenommen und gemustert. »Na, ist der nicht wunderschön«, sagte die junge Frau. »Gehört er zum Cottage?« »Die Besitzer erwähnten etwas... hm... von einer Katze.« »Ich behalte ihn. Ich liebe Katzen.« Mischka schaute in strahlende schwarze Augen, über denen sich schwarze Brauen wölbten. Seine Schnurrhaare zitterten. Sie war jung. Sie war nett. Ihre Finger berührten das Namensschild an seinem Hals, das in seinem dichten schwarzen Fell verborgen war. »Mischka«, las sie sanft. »Mischka, mein Mischka. Du bist der perfekte Hexenkater«, gurrte sie. »Ich habe so viel zu tun. Ich muß das Cottage anstreichen und den Garten anlegen, Bilder malen und Gedichte schreiben. Und ich liebe Spaziergänge durch die freie Natur. Du wirst mich 59
begleiten und mir alles zeigen, nicht wahr? Du kennst bestimmt jeden Zentimeter der Umgebung.« Mischka schmolz vor Zufriedenheit. Er stupste mit der Nase gegen ihr Ohr, hob die Pfote, um ihr langes, seidiges Haar zu berühren, und atmete den vertrauten Duft von weißen Blümchen ein. »Wir werden sehr glücklich miteinander sein«, flüsterte sie. »Aber das weißt du ja schon, nicht wahr? Erinnerst du dich an meinen Namen, Mischka? Ich heiße Eberesche.«
60
Die Katze von la Mancha
61
Donny stand in der Türöffnung und atmete erleichtert die eiskalte Luft ein. Er stand keck da, peitschte mit seinem langen sandfarbenen Schwanz und genoß die Freiheit. Er war die ganze Nacht eingesperrt gewesen, war in seinem schäbigen Gefängnis hin und her gelaufen und hatte sich dann unter den abkühlenden Boiler gekauert. Wie er das Geräusch der zuschlagenden Tür und die sich entfernenden Schritte seines Gefängniswärters haßte. Die Nacht war eine schlimme Zeit für ihn. Jede Nacht verbrachte er in Einzelhaft. Welche Sicherheit hatte er denn, daß man ihn morgens wieder rauslassen würde? Angenommen, er wurde vergessen? Niemand sagte es ihm. Niemand sprach mit ihm, wenn er in sein Gefängnis gebracht wurde. Es gab nicht einmal einen fröhlichen Gutenachtgruß. Die Tür wurde zugeschlagen, und in seinem Gefängnis herrschte Dunkelheit. Aber jetzt war der Morgen da, und er war ins Freie gelassen worden, damit er sich Bewegung verschaffen konnte. Das Gefühl der Freiheit explodierte mit Macht in seinem Kopf. Er war als Ritter wiedergeboren worden, der Unrecht wiedergutmachte und die Welt in Ordnung brachte. Er lauschte aufmerksam. In seinen Augen brannte das Feuer des Visionärs. Er mochte zwar alt sein, aber noch immer war er stark und gelenkig. Die Abenteuer und Mißgeschicke seiner Vergangenheit waren ihm noch lebhaft in Erinnerung. Er war über das Unrecht, das in der Welt geschah – das der Mensch dem Menschen, der Mensch der Katze, die Katze der Katze antat –, erbost. Er hatte sich geschworen, sein Leben als fahrender Ritter zu beschließen. Er würde nicht länger der magere Donny mit der langen Nase – Orientalisches Kurzhaar, getupft, oder so etwas Ähnliches – aus der Arcacia Avenue Nummer 23, London W1, sein, sondern Don Quijote von la Mancha, der furchtlose Ritter, Idealist und Visionär. Beherzt machte sich Don Quijote auf den Weg. Es war schade, daß ihm kein getreuer Knappe zur Seite stand, ein Sancho Pansa. Er hätte gern den Trost und die Unterstützung eines Gefährten gehabt, jemanden, der ihm aufhalf, wenn er niedergeschlagen worden war. Aber es gab niemanden, den er zu seinem Knappen hätte machen können. Er mußte ohne 62
Gefährten auskommen und seine Kämpfe allein ausfechten. Das struppige, getupfte und fleckige Fell gegen den Frost aufgeplustert, machte sich Don Quijote auf die Suche nach seinem Schicksal. Auf dicken Pfoten tappte er ohne mit der Wimper zu zucken über die kalte Erde. Er konnte Schmerzen ertragen. Er wünschte sich, er hätte ein Banner, das er hissen, oder einen Fehdehandschuh, den er seinem Widersacher hinwerfen könnte, ein Schwert oder eine Lanze. Aber er hatte nur Krallen und Zähne, so scharf wie Dolche. Die Arcacia Avenue war eine etwas verwahrloste Straße, die bessere Zeiten gesehen hatte. Die einst anmutigen Häuser mit Veranden waren größtenteils in Wohnungen, dubiose Anlagebüros oder Zahnarztpraxen umgewandelt worden. Autos parkten den ganzen Tag am Randstein. Städtische Müllcontainer für den Bauschutt, der durch die Umbau- und Renovierungsarbeiten entstand, waren an beiden Enden der Straße aufgestellt worden. Plötzlich entdeckten Don Quijotes Luchsaugen einen irrsinnigen Giganten, der einen verheerenden Ruf hatte. Er glühte rot im Morgenlicht und hatte seinen riesigen zahnlosen Rachen weit aufgerissen. Er würde alles verschlingen, was sich ihm auf Bißweite näherte. Der Kater duckte sich angespannt, sein langer Schwanz zuckte vor langsam wachsender Wut. Dieses Monster hatte die Straße lange genug terrorisiert. Er mußte sich ihm stellen. Mit einem Fauchen verkündete er seine Absicht und forderte den Feind zum Kampf heraus. Don Quijote sprang mit einem mächtigen Satz auf den glatten Kopf, um seine Krallen in das verwundbare Gewebe zu schlagen. Aber er kratzte nur hilflos über den Farbanstrich, rutschte ab und landete unsanft auf dem Grasstreifen. »Dumme Katze«, sagte ein vorbeigehendes Mädchen. »Was hast du damit bloß bezweckt? Das ist doch nur ein Briefkasten.« Aber Don Quijote wußte, daß es wirklich ein Monster war, das sich im letzten Augenblick in einen Briefkasten verwandelt hatte. Monster besaßen diese Fähigkeit. Don Quijote fand mühsam seine Würde wieder und wünschte sich, er trüge eine Rüstung und einen Helm. Wie sonst sollte das Mädchen wissen, daß er ein fahrender Ritter war? 63
Sie steckte einen Brief in den Rachen des Monsters. Sie würde ihn nie wiedersehen. »Du bist eine hübsche Mieze«, sagte sie. »Wo wohnst du?« Er versuchte ihr zu erzählen, daß er in einem Gefängnis lebte. Daß die einzigen Menschen, die er kannte, seine Wärter waren, und daß sich in seinem Herzen beim Zuschlagen der Tür jedesmal eine entsetzliche Leere ausbreitete. »Wer kümmert sich um dich?« Er strich um ihre zarten Knöchel und fühlte, wie glatt ihre Haut war. Konnte ein junges Mädchen sein Knappe sein? Das war ein bißchen ungewöhnlich, aber sie zupfte Hälmchen aus seinem Fell und strich es glatt. Waren das nicht die Aufgaben eines Knappen? Er dachte gerade darüber nach, als er die Streunerin sah, die am Rand des Müllcontainers entlang kroch und an einer Mülltüte schnupperte. Seine Lady... es war... es war seine Lady! Ein schönes Wesen, schmal und zerbrechlich, mit edlen Zügen. Das silberne Fell umrahmte ihr Gesicht wie eine Aura aus Mondlicht, das ihre aquamarinblauen Augen vor Leidenschaft glühen ließ. Sie streckte ihre Glieder mit einer Eleganz, die ihn erstaunte. Sie bewegte sich mit der Anmut einer Tänzerin, obwohl sie so mager war. Bei einem Sturz würden ihre Knochen zerbrechen. Er wollte sie beschützen und ihretwegen Drachen und Ungeheuer bekämpfen. Er würde sogar gegen den ›Großen Zerstörer‹ antreten. Don Quijote lief mit zur Begrüßung hochgestelltem Schwanz zu der Streunerin und wollte sich höflich vorstellen, aber das paßte ihr nicht. Fauchend und spuckend entblößte sie ihre scharfen Zähne. Er wollte ihr sagen, daß sie nichts zu befürchten habe, daß er ihr nicht weh tue. »Laß diese schmutzige Katze in Ruhe«, sagte das Mädchen. »Sie hat wahrscheinlich Flöhe.« Er war entsetzt. Sie begriff nichts. Die Streunerin war eine wunderschöne Lady, die einfach nur in der falschen Umgebung lebte. Sie sollte auf Seidenkissen schlafen und mit Leckerbissen und Sahne gefüttert werden. Don Quijote wich widerstrebend zurück. Es gab so viele Dinge, die zuerst erledigt werden mußten. In der Luft hing der 64
üble Gestank von Hexenmeistern und Zauberern. Es galt, riesige Armeen in einem mutigen, ungleichen Kampf zu besiegen. Riesen mußten gestürzt, belagerte Burgen gerettet und verhexte Könige befreit werden. Die ganze Welt bestand aus Unrecht, das gesühnt werden mußte. Und ihm blieb so wenig Zeit. Dann war da noch der furchtbarste Gegner – der ›Große Zerstörer‹. Allein der Gedanke an diesen Feind konnte das Blut in Don Quijotes Adern gefrieren lassen. Sein Fell sträubte sich unwillkürlich vor Angst – die Glut in den Augen der Bestie, die Art, wie sie die Erde kahlschor, das Brüllen ihrer entsetzlichen Stimme. Der ›Große Zerstörer‹ würde bald kommen und die Umgebung terrorisieren. Niemand war vor ihm sicher. Den ›Großen Zerstörer‹ zu töten, würde der Höhepunkt seines Rittertums sein. Dann durfte sogar seine Lady ihm ihre Bewunderung nicht verwehren. Ihr würde er diesen Sieg widmen. Er rieb sich wieder an den Knöcheln des Mädchens und versuchte, es dazu zu bringen, nett zu der Streunerin zu sein, sie vielleicht aufzunehmen, zu füttern und ihr damenhaftes Benehmen beizubringen. Er sehnte sich danach, ein Pfand der Zuneigung mit in den Kampf zu nehmen. Das Mädchen richtete sich auf, wobei ihm ein Taschentuch aus dem Ärmel fiel. Don Quijote stürzte sich triumphierend darauf und trug es fort. Das war sein Pfand. Er würde es seiner Lady zu Füßen legen, nachdem der ›Große Zerstörer‹ getötet war. »Du bist verrückt«, sagte das Mädchen lachend. »Was hast du denn vor? Willst du die Straße putzen?« Don Quijote streckte sich zu seiner vollen Größe. Er war schon eine imposante Erscheinung, wie er beleidigt mit den Schnurrhaaren zuckte. Er mochte zwar alt sein, aber er war kein Narr. »Komm mit, ich gebe dir ein bißchen Milch«, forderte sie ihn auf. »Die anderen sind alle weg. Ich habe das Haus für mich allein.« Er folgte ihr vorsichtig und hoffte, sie würde nicht merken, daß die Streunerin ihnen in ein paar Metern Entfernung 65
ebenfalls folgte. Er wußte, daß die Streunerin neugierig war, und der Hunger machte sie kühn. Das Haus war ein Gasthaus. Er traute kaum seinen Augen. Das Mädchen lebte in einem Gasthaus. Überall standen Stühle und lagen alte Matratzen herum. Genaugenommen hielt er Ausschau nach einem Schloß, aber ein Gasthaus war auch großartig. In seiner Vorstellung wurde daraus ein Schloß. »Eigentlich dürften wir hier gar nicht wohnen«, sagte das Mädchen. »Wir sind Hausbesetzer. Das Gebäude wird renoviert, aber in der Zwischenzeit steht es leer. Die anderen sind tagsüber unterwegs, doch ich arbeite erst abends als Serviererin.« Don Quyote schnupperte rum. Es gefiel ihm. Während sein Gefängnis kahl und trostlos war, wirkte dieser Ort mit den achtlos verstreuten Sachen freundlich und anheimelnd. Sie gab ihm Milch aus einer Flasche. Der Blechteller rutschte über den Boden, während er schlabberte. Dann trat er beiseite, um seine Lady trinken zu lassen, die jedoch in ihrer ungesitteten Hast die Milch verschüttete. »Du lieber Himmel«, rief das Mädchen und wischte die Milch auf. »Diese Streunerin hat sich reingeschlichen. Husch fort mit dir.« Don Quyote eilte an die Seite seiner Geliebten, die sich an die Wand drückte. Wie konnte er je zum Ritter geschlagen werden, wenn er es zuließ, daß seine Lady so unfreundlich behandelt wurde? Er hätte das Mädchen beinahe angegriffen, erinnerte sich aber doch noch rechtzeitig daran, daß sie sein Knappe war. Alles war sehr verwirrend. Könnte sie doch nur begreifen, daß die kleine graue Katze in Wirklichkeit seine Lady war. »Du meine Güte, was bist du für ein mageres Ding. Ich kann die Knochen unter deinem Fell herausstehen sehen. Da, Mieze. Hab keine Angst.« Don Quyote sah, daß das Mädchen einen Mondstrahl in der Hand hielt, als der Dosenöffner eine Dose Sardinen aufschlitzte und der kleine silberne Fisch auf einen Teller rutschte. Seine Lady sprang vor, ihre Augen funkelten, und sie verspeiste den Fisch auf anmutige Weise. Ihre Zufriedenheit machte ihn glücklich. Wie konnte er seinem Knappen nur 66
danken? Was konnte er für ihn tun? Gab es Riesen oder Ungeheuer, die getötet werden mußten? Er würde alles für dieses Mädchen tun. Im Schloß war es warm, und seine Lady schlief sofort auf einem Stapel Decken ein. Ihr Fell schimmerte im Licht des Feuers, und ihre Rippen hoben und senkten sich ruhig und gleichmäßig. Don Quijote schwindelte vor Glück. Er hatte einen merkwürdigen Kloß in der Kehle und schluckte krampfhaft. »Ich glaube, in diesem Schrank ist eine Maus«, sagte das Mädchen. »Sie hat ein paar Bücher angeknabbert.« Eine Maus! Die Jagd auf eine Maus war fast unter seiner Würde, kämpfte er doch gegen Riesen und Ungeheuer und ganze Armeen. Ein lächerliches Ansinnen. Aber er würde es für das Mädchen tun. Mit einem gezielten Schlag hatte er die Maus erledigt. Schlaff und leblos lag sie da. Sein Knappe war erfreut. Sie warf die Maus in den Mülleimer und tätschelte mehrere Male den Kopf des Katers. »Kluger alter Schlingel«, sagte sie. »Was könntest du sonst noch für mich tun?« Don Quijote aalte sich in ihrer Bewunderung. War dieses Tätscheln ein Ritterschlag? War er jetzt der Ritter vom ›Klugen Alten Schlingel‹? Ein anderer Titel hätte ihm besser gefallen. Ritter bekamen immer neue Namen, aber dieser... er hätte es vorgezogen, ›Ritter von der Erstaunlichen Tapferkeit‹ oder ›Ritter des Feurigen Auges‹ genannt zu werden. Plötzlich erstarrte er. Seine scharfen Ohren hatten ein entferntes Geräusch aufgeschnappt. Er kannte dieses Geräusch, dieses entsetzliche Poltern. Der ›Große Zerstörer‹ war auf dem Weg in die Arcacia Avenue. Er sprang aufs Fensterbrett und schaute auf die Straße hinaus. Das Geräusch wurde lauter, und eine Staubwolke hing am Horizont. Er fing an zu zittern. Sein Augenblick war gekommen. Jetzt würde er seiner Lady zeigen, wie tapfer er war – daß er ihr sein Leben opfern würde. Er lief auf die Straße hinaus und wünschte sich, er hätte ein Schwert, eine Lanze, eine schimmernde Rüstung. Aber er hatte nichts – nur Mut und ein Herz aus Gold.
67
Der ›Große Zerstörer‹ stand am Ende der Straße und scharrte mit seinen gräßlichen Füßen über den Randstreifen. Giftiger Rauch strömte aus seinem Rachen. Er stellte sich Don Quijote mit einem Brüllen, das das Kopfsteinpflaster erbeben ließ. Alle wichen dem Ungeheuer aus. Die Leute entfernten hastig Mülltonnen und alte Fahrräder. Dann gingen sie in ihre Häuser und schlossen die Fenster. Don Quijote stand mit angelegten Ohren vor Nummer 23. Aus seiner Kehle kam ein wütendes Fauchen. Er duckte sich zum Absprung, wurde aber plötzlich von einem Blinklicht geblendet. Er machte einen Satz rückwärts, blieb unverletzt, war jedoch verwirrt. Wieder setzte er zur Attacke an, aber der ›Große Zerstörer‹ schlug ihn erneut mit einem blendenden Blitz zurück. Don Quijote taumelte unter dem Anprall und fiel zu Boden. Er erhob sich schwankend, grelles Licht durchbohrte seine Netzhaut, und die Welt verschwamm vor seinen Augen. Außer sich vor Wut, krachte er gegen den ›Großen Zerstörer‹, als dieser sich dröhnend auf der Straße fortbewegte. »Schafft die Katze aus dem Weg«, schrie der Fahrer. Das Mädchen kam aus dem Schloß gelaufen und nahm Don Quijote in die Arme. Er öffnete blinzelnd die Augen und blickte in das Gesicht seines getreuen Knappen. »Du dummer alter Kerl«, sagte sie schluchzend. »Was hast du dir nur dabei gedacht? Das ist der städtische Rasenmäher, der die Randstreifen mäht und jetzt zum Park fährt. Wolltest du ihn etwa aufhalten?« Sie trug ihn hinein und legte ihn auf eine Decke. Durch einen Schleier hindurch sah er seine Lady, die ihr silbernes Fell putzte. Wußte sie, wie er ihretwegen gekämpft hatte? War sie auf seine Heldentat stolz? »Du hast dir ordentlich den Kopf gestoßen«, sagte das Mädchen. »Aber ich glaube nicht, daß etwas gebrochen ist. Du hast wirklich Glück gehabt, du dummer alter Kerl.« Allmählich kehrte er in die Realität zurück und sah die Dinge, wie sie wirklich waren. Sein Knappe zog sich für ihren Job als Serviererin um. Ein paar der anderen Hausbesetzer kamen zurück. Er und seine Lady wurden auf die Straße hinausgejagt. 68
Sie wandte ihm den Rücken zu und folgte dem Mädchen zum Restaurant. Don Quijote spazierte mit schmerzendem Kopf zu Nummer 23 zurück. Dort wartete er, bis ihm seine Wärter öffneten. Vor ihm lag eine weitere Nacht in seinem Verließ. Eine weitere Nacht in Einzelhaft. Wie konnten sie ihm das nur antun? »Donny, Donny, Donny!« rief die Frau. Sie machte die Tür einen Spaltbreit auf. Er schlüpfte mit dem Pfand seiner Lady zwischen den Zähnen hinein. »Pfui! Sieh nur, was dieser Kater hereingebracht hat. Ein schmutziges Taschentuch.« Er stand keck da und stellte sich tapfer seinen Wärtern. Er würde sich nicht einschüchtern lassen. Seine Aufgabe im Leben bestand darin, Unrecht wieder gutzumachen. Konnten sie nicht sehen, daß er Don Quijote, ›Kater von la Mancha‹, ›Ritter der Außerordentlichkeit‹ war? Nichts vermochte seinen furchtlosen Geist einzuschüchtern.
69
Mafia Mog
70
Mafia Mog war ein enorm großer Kater. Er hatte den Körperumfang eines Sumo-Ringers. Das langhaarige Fell, das sein Gesicht umrahmte, und seine Schnurrhaare verliehen ihm das Aussehen eines Mandarins mit schlaff herabhängendem Schnurr- und Backenbart. Das rostbraun gestromte Fell mit der cremefarbenen Unterwolle bedeckte Körper und Schwanz. Er hatte den schlenkernden Gang eines Löwen. Und er bedeutete Ärger. Die Nachbarn schlossen ihre Fenster und Türen, wenn sie ihn kommen sahen. Autotüren wurden hastig zugesperrt, Milch, Zeitungen und Post hereingeholt. Nichts befand sich in Reichweite von Mogs Krallen, wenn er sich schwerfällig aufmachte, Chaos zu schaffen. Eine Bürgerinitiative wurde gegründet, eine Art Nachbarschaftshilfe, um die Häuser vor Mogs Zerstörungswut zu schützen. Das Problem dabei war, daß die Nachbarn Felicia, die reizende hellhaarige junge Bibliothekarin, mochten, der der Kater gehörte. Sie hatte das winzige honigfarbene Fellknäuel aus einem Tierheim gerettet. Aber es wuchs und wuchs und wuchs. »Ihr Kater ist wirklich die Höhe«, sagte Felicias nächste Nachbarin, die in den Garten gekommen war, um die Überreste ihrer Wäsche einzusammeln. »Sehen Sie sich nur meine Strumpfhosen an. Er hat sie ruiniert.« »Er hat das Flattern wohl für eine Art Spiel gehalten. Ich ersetze Ihnen die Strumpfhose natürlich.« »Auf diese Weise werden Sie nie Ihre Hypothek abbezahlen.« »Du ungezogener Kater«, schimpfte Felicia später. »Du kostest mich ein Vermögen. Letzte Woche mußte ich die Topfpflanzen und die Stores bezahlen und jetzt Marys Strumpfhosen.« Mog sah sie mit einem leicht blöden Blick unschuldigster Ergebenheit an und schnurrte wie ein Zweitakter. Es funktionierte immer. Sie hob ihn hoch und ging schwankend unter seinem Gewicht zum Sofa. »Ich muß dich wirklich auf Diät setzen.« Das war ein Wort, das in Mogs Vokabular nicht existierte. An guten Tagen umfaßte sein Wortschatz vier Ausdrücke ICH, ESSEN, REIN und RAUS. Er verstand natürlich weitaus mehr, 71
was er sich aber nicht anmerken ließ, doch an schlechten Tagen verstand er überhaupt nichts. Mog hatte dann, wie Felicia es nannte, ›eine taube Miene‹. Jetzt setzte er seine taube Miene auf. Die Diät war keine gute Idee. Mogs Gereiztheit steigerte sich im umgekehrten Verhältnis zur Reduzierung seiner Mahlzeiten. Felicia gewöhnte es sich an, dicke Handschuhe und Gummistiefel anzuziehen, wenn sie ihn fütterte. Sonst attackierte Mog ihre Füße, schlug nach ihren nackten Zehen, während sie Dosen öffnete oder abgemessene Portionen Fisch oder Leber hackte. Dann umklammerte er mit beiden Pfoten und eisernem Griff ihr Handgelenk und zerrte das Futterschälchen herunter. Gab es keinen Nachschlag, trieb er sie knurrend und mit dem Schwanz peitschend in die Enge und terrorisierte sie so lange, bis sie nachgab. Mit großer Geistesgegenwart lenkte Felicia dann seine Aufmerksamkeit ab, indem sie Kräckerchen verstreute und sich in den ersten Stock flüchtete. »Ich weigere mich, vor meiner eigenen Katze Angst zu haben«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild im Bad, und ihr keuchender Atem schlug sich wie schottischer Nebel auf dem Glas nieder. Die Suche nach Futter wurde für Mog zu einer vierundzwanzigstündigen Obsession. Er wandte seine Aufmerksamkeit den Nachbarn zu. Er erkundete ihre Gewohnheiten und Essenszeiten. Er wußte auf die Minute genau, wann Mrs. Smith den Auflauf aus Hackfleisch und Kartoffelbrei aus dem Herd nahm und sich dann abwandte, um das Gemüse aufzutragen. Er registrierte, daß die junge Mrs. Fester am Freitagabend Pizza mit nach Hause brachte, und hatte sie aus der Schachtel gezerrt, noch ehe man Peperoni sagen konnte. Sogar Babynahrung war nicht zu verachten – er liebte geschmorte Leber, Eiercreme und Lammeintopf. In der Straße wohnten eine Menge Babys. Die waren auch immer hungrig, sogar noch hungriger, nachdem sich Mog seinen Anteil geholt hatte. Dann brüllten sie vor Schreck.
72
Es funktionierte. Eine Mutter konnte sich nicht gleichzeitig mit brüllenden Kindern und wilden Katzen befassen. Mog stolzierte mit Eiercreme an den Schnurrhaaren nach Hause und überlegte, wie er diese Form der Erpressung ausweiten könnte. Am nächsten Morgen gab ihm Felicia die – in seinen Augen beleidigende – Portion, die aus einem halben Löffel Katzenfutter und drei Tropfen Milch mit Wasser bestand. Er spazierte über die Schälchen, verschüttete die Milch und hinterließ eine klitschige Pfütze auf dem Boden. Felicia fuhr ihn wütend an. »Jetzt muß ich das wegputzen, ehe ich zur Arbeit gehe, du Scheusal. Ich werde zu spät kommen.« Mog reckte seine Nase in die Luft und stakste beleidigt davon. Es war nicht seine Schuld. Es war ihre Schuld! Auf ihrer Türschwelle schüttelte er alle Gewissensbisse ab und startete seinen Terrorfeldzug in den Geschäften. Der Supermarkt lag gleich an der nächsten Ecke, und er mußte keine Straße überqueren, um hinzukommen. Mog schnupperte vorsichtig im Hinterhof herum. Er befand sich auf fremdem Territorium. Überall lagen schwarze Plastiksäcke und Lattenkisten, die verlockend nach Futter rochen. Er schlenderte in den Supermarkt, als würde ihm das Geschäft gehören, und ließ sich nur vorübergehend von der Vielzahl von Füßen und Einkaufswagen einschüchtern. Innerhalb von ein paar Wochen beherrschte er den Laden. Er mußte nur über ein paar Regale springen und Pakete, Dosen und Flaschen runterwerfen. Dann wurde er für seine Mühe belohnt, indem er zusammen mit einem halben Brathähnchen zur Hintertür rausgesetzt wurde. Der Bilderrahmer nebenan stellte Mog vor ein größeres Rätsel, bis er entdeckte, daß er mit einem Schälchen Milch davon abgehalten wurde, Bilder, die auf dem Tresen lagen, zu zerkratzen. Der Fischladen war ein Kinderspiel. Die Verkäufer schrieen etwas von Hygienevorschriften und verscheuchten ihn mit einem ansehnlichen Stück Schellfisch. Im Porzellangeschäft überkam ihn ein leiser Anflug von Schuldgefühl. Die Chancen waren so ungleich verteilt. Die 73
Verkäufer konnten ihn wegen des kostbaren Porzellangeschirrs, das bei jedem Luftzug in den Regalen klirrte, nicht einfangen. »Komm her, hübsche Mieze«, lockten sie ihn mit leisen, vor Panik bebenden Stimmen. »Nimm den köstlichen Biskuit, das Stückchen Zucker...« Mog lief leichtfüßig über Ausstellungsstücke, bis ihm ein Schinkensandwich angeboten wurde. Dann sprang er vom Regal und floh mit seiner Beute. Woolworth erwies sich als ein zu hoch gestecktes Ziel. Er marschierte die Gänge rauf und runter, fand jedoch keine Angriffsfläche. Er stahl sich davon, schwor dem gerissenen jungen Manager fauchend Rache, Krieg ohne Ende und plante Guerilla-Überfälle. Im Vergleich dazu war die schicke Boutique eine prima Sache. Mog setzte sich auf ein teures, schwarzes Abendkleid im Schaufenster und hinterließ überall seine cremefarbenen Härchen, während er nachdenklich an den Knöpfen kaute. Die Verkäuferinnen warfen verzweifelt ihre manikürten Hände hoch, eilten hinaus, um ihm geräucherten Lachs und ein Sicherheitsschloß für die Tür zu kaufen. Gelang es ihm irgendwo nicht, sich Zutritt zu verschaffen, fand er heraus, wie die Alarmanlage ausgelöst wurde. Das war sehr effektvoll. Nach dem fünften Fehlalarm an einem Morgen liefen die Bankangestellten Amok. Sie opferten ihren Lunch und lockten Mog mit einer Fährte, bestehend aus Kartoffelchips, Schweinepasteten und Hüttenkäse, vom Grundstück. Mog war nicht dumm. Er merkte, daß seine Katzentür geschrumpft war, und es fiel ihm zusehends schwerer, sich hindurchzuzwängen. Also wartete er vor der Haustür auf Felicias Rückkehr aus der Bücherei und begrüßte sie mit unaufrichtigem Schnurren und stürmischem Knöchelreiben. »Ich verstehe nicht, warum du nicht abnimmst«, sagte sie und stellte den Kessel auf den Herd, um sich eine Tasse Tee zu machen. »Du frißt doch kaum etwas.« Mog stimmte zu. Von dem wenigen, das er fraß, hätte keine Fliege überleben können. Er schleppte sich kraftlos zur Küche und war fast zu schwach, seinen prächtigen Schwanz hinter sich 74
herzuziehen. Er pflanzte seinen mächtigen Körper entschlossen vor dem Kühlschrank auf und wartete darauf, daß Felicia die Milch herausholte, um hineinzuspringen. Felicia ersann einen Kompromiß. Sie wollte Milch für ihren Tee haben. Mog wollte sein Abendessen. Im Kühlschrank war auch ihr Abendessen, ein paar saftige Scheiben kaltes Huhn. Stieg Mog auch nur ein Hauch davon in die Nase, würde er sich in eine wilde Dschungelkatze verwandeln, die eine ganze Sippe imaginärer hungernder Jünger zu füttern hatte. »Ach, schau nur«, sagte sie beiläufig. »Wie ungeschickt von mir. Jetzt habe ich ein Stück englischen Kuchen fallen lassen.« Als sich Mog auf die Sultanine stürzte, machte Felicia einen Satz zur Kühlschranktür und holte innerhalb von drei Sekunden die Milchflasche heraus. Sie lehnte sich keuchend gegen den Tresen. »Das nimmt ja groteske Formen an«, murmelte sie. Am späten Abend war Mog zum Bersten vollgestopft und hatte seine Mafia-Rolle abgelegt. Er ließ sich neben Felicia aufs Sofa plumpsen, reckte alle vier Beine in die Luft und schlief ein. Felicia drückte ihr Gesicht in sein weiches Fell, weil sie wußte, daß er in diesem entspannten Zustand nicht angriffslustig war. Felicia seufzte. Mog war ein Paradox. Im Schlaf sah er so harmlos aus. Der kritische Augenblick kam, als Felicia eines Tages mit einer schlimmen Erkältung zu Hause blieb. Mog mußte die geschrumpfte Katzentür benutzen. Er hatte eine erfolgreiche Tour durch alle Geschäfte beendet und seine Bestechungsprämien kassiert. Er schwankte nach Hause, fauchte grimmig Hunde an, erschreckte ein Rotkehlchen zu Tode und verwüstete den Inhalt eines Einkaufskorbs, der leichtsinnigerweise für kurze Zeit in einem offenstehenden Auto zurückgelassen worden war. Mog steckte den Kopf und die Vorderpfoten durch die Klappe und strampelte heftig, um seinen dicken Wanst hindurchzuzwängen. Er versuchte es mit einem Rückzug. Er setzte seine ganze Kraft für einen mächtigen Ruck nach vorn 75
ein. Nichts passierte. Er hatte nur ein unangenehm enges Gefühl um seine Mitte herum, das ihm die Luft zum Atmen raubte. Mog steckte fest. Felicia entdeckte ihn, als sie nach unten kam, um ihre Wärmflasche zu füllen und sich ein heißes Getränk zuzubereiten. Sie drehte sich schnell um, damit Mog nicht sah, wie sie lachte. Sie wußte, daß Katzen, vor allem so stolze Kater wie Mog, es haßten, ausgelacht zu werden. Sie zog Handschuhe an, steckte ihre Pyjamabeine in Gummistiefel und packte ihn in der Mitte. »Wag ja nicht, mich zu kratzen, sonst lasse ich dich die ganze Nacht da drin stecken«, drohte sie. »Jetzt... eins, zwei, drei... schieb.« Am nächsten Morgen brachte sie Mog trotz ihrer Erkältung in einem Drahtkorb zum Tierarzt. Mog bearbeitete den Draht mit Zähnen und Krallen. Er spuckte Gift und Galle und fauchte alle zitternden Tiere im Wartezimmer an. Der Tierarzt wurde bei Mogs Anblick blaß und wich in eine Ecke des Behandlungszimmers zurück. »Großer Gott«, sagte er. »Sie haben Mafia Mog hergebracht.« Felicia sah ihn verwirrt an. »Verzeihen Sie bitte, das verstehe ich nicht.« »Das ist der Kater, der die ganze Umgebung terrorisiert. Kein Geschäft ist von seinen teuflischen Erpressungen verschont geblieben. Er übt auf die verängstigten Verkäufer in der ganzen Hauptstraße Druck aus.« »Bestimmt irren Sie sich«, sagte Felicia. »Er ist... er ist ein sehr liebenswerter Kater«, fügte sie hinzu und wich schnell Mogs Krallen aus. »Er muß nur unbedingt auf Diät gesetzt werden.« »Bestimmt finden wir eine gepolsterte Zelle für ihn«, meinte der Tierarzt. Als er Felicias tränende Augen sah, reichte er ihr ein Taschentuch. »Ich habe eine Erkältung«, sagte sie. »Nehmen Sie Vitamin C«, schlug er vor. »Fünfhundert Milligramm.«
76
Die Mitglieder der Bürgerinitiative dachten, Mog sei in eine Strafkolonie im Hinterland von Australien verbannt worden. Sie plünderten ihre Vereinskasse und feierten mit Sherry und Garnelenkräckern eine Party. Felicia besuchte Mog zweimal am Tag. Zuerst weigerte er sich, sie anzusehen, und tat so, als würde er sie nicht erkennen. Er kehrte der Welt den Rücken zu. Seine gepolsterte Zelle war ein Apartment mit Zentralheizung und hatte einen Auslauf mit einem Baum. Die Rechnung würde beträchtlich sein. Mog hatte seine Decke zerkaut und saß mit verletzter Miene inmitten der Fetzen. »Er muß lernen, daß unsoziales Verhalten nicht akzeptiert wird«, sagte James Hadlow, der Tierarzt. »Was macht Ihre Erkältung?« Felicia sah James beinahe so oft wie Mog, und die beiden diskutierten ausführlich Mogs asoziales Verhalten. James studierte Tierpsychologie – ›die Wissenschaft der Natur‹ –, und Mog faszinierte ihn, doch nicht nur er, sondern auch die zarte Besitzerin mit dem feinen Haar und den kornblumenblauen Augen, die jetzt von Sorgen getrübt waren. »Würde ich Sie nicht kennen, Felicia«, sagte James, »würde ich annehmen, daß es Mog an Zuwendung und zärtlich liebender Fürsorge mangelt.« »Es mangelt ihm an Zuwendung? Ach, tatsächlich?« empörte sich Felicia. »Ich überhäufe das undankbare Tier mit Zuneigung.« »Das weiß ich. Deswegen muß es für sein Verhalten einen anderen Grund geben.« Mog kehrte nach zwei Wochen strikter Diät schlank und fit nach Hause zurück. Er fühlte sich stark genug, um Woolworth ins Auge zu fassen. Felicia überlegte argwöhnisch, ob dieser neue, schlanke Mog vorhatte, seine Mafiamethoden wiederaufzunehmen. Er tat es. Die Geschäftsleute, die sich während seiner Abwesenheit in Sicherheit gewiegt und in ihrer Aufmerksamkeit nachgelassen hatten, erlebten einen spektakulären Tag. Mog verbreitete absoluten Terror im kommerziellen Zentrum der Hauptstraße. 77
Sogar der Geschäftsführer von Woolworth kapitulierte, als Mog das gesamte Sortiment von Trockenfrüchten und Nüssen über den Boden verstreute. Als Felicia nach Hause kam, wurde sie mit Beschwerden überhäuft. Mog hatte auch mehrere Saatgutkästen umgeworfen, in einer frisch betonierten Zufahrt Fandango getanzt und im Gartenteich eines Nachbarn gefischt. Felicia rief in ihrer Verzweiflung James an. »Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.« »Geben Sie mir eine Stunde Zeit«, sagte er. Felicia wartete voll Sorge. Sie liebte ihren Kater. Sie wollte nur, daß er ein bißchen sanftmütiger und fügsamer wäre. Die abendliche Stille wurde plötzlich vom Dröhnen eines starken Motorrads zerstört. Es hielt vor Felicias Haus. Ein Riese in engen schwarzen Lederhosen und einer schwarzen, mit Ziernägeln beschlagenen Jacke stieg von der Maschine. Er bot einen furchteinflößenden Anblick in seinen mit Sporen bestückten schwarzen Lederstiefeln und mit dem mächtigen schwarzen Helm mit Visier, das sein Gesicht verdeckte. Mog starrte den Riesen entsetzt an, drehte sich um und wollte fliehen. Aber der Riese war schneller. »O nein, du bleibst hier«, sagte er mit unheimlich zischender Stimme und packte Mog mit zwei Händen, die in Lederhandschuhen steckten. »Wenn du dich in Zukunft nicht anständig benimmst, wirst du da rein gesteckt.« Der Riese öffnete die Satteltaschen der starken Maschine und zeigte Mog das dunkle, höhlenartige Innere. Mog schauderte bei dem Gedanken an diese schattigen Höhlen. »Das ist die Strafbank für Erpresser, für Kater mit kriminellen Aktivitäten, die es nicht wert sind, einer netten jungen Frau wie Felicia zu gehören.« Mog duckte sich furchtsam. »Und wenn du weiterhin ein solch asoziales Verhalten zeigst, werde ich dich ohne Gewissensbisse zu einer Stunde Einzelhaft täglich in dieser Tasche verurteilen.« Mog erstarrte. Er war zutiefst beunruhigt, denn er zweifelte nicht daran, daß dieser schwarze Lederriese mit einem Helm 78
anstelle eines Kopfes seine Drohung wahr machen würde. Er fühlte einen Schimmer von Respekt für dieses Wesen. »Ab sofort übernehme ich das Kommando«, brummte der Fremde. Mog ließ den Kopf hängen. James setzte in Felicias Küche den Helm ab und akzeptierte eine Tasse Tee. »Mog braucht Autorität«, sagte er. »Sie waren immer zu nett zu ihm. Jetzt weiß er, daß ein großer, schwarzer, in Leder gekleideter Riese das Kommando hat. Vielleicht ändert sich sein Verhalten. Ich kann mir diese Klamotten jederzeit von meinem Bruder leihen.« »Ich bin beeindruckt«, sagte Felicia. »Ich habe mir viele Gedanken über Mogs Verhalten gemacht. Ich glaube, er langweilt sich und ist einsam.« James betonte leicht das Wort einsam. »Er braucht Gesellschaft. Obwohl Katzen Einzelgänger sind, halte ich es für besser, wenn sie zu zweit sind.« »Sie meinen, ich soll mir noch eine Katze zulegen?« »Ich glaube, ein lebhaftes kleines Kätzchen würde Mog auf Trab halten. Dann wäre er so damit beschäftigt, sein Territorium zu verteidigen, daß ihm keine Zeit mehr für seine Raubzüge bliebe.« »Das tue ich. Ich hätte gern noch ein Kätzchen.« »Auch Tierärzte sind einsam. Ich glaube, ich habe mich in Sie verliebt, Felicia«, sagte James zögernd. »Ich kann es mit zwei Katzen aufnehmen, auch wenn eine davon Mog ist.« Er vermochte dem Impuls nicht zu widerstehen, sie in die Arme zu nehmen. Sie schmiegte sich mit einem erleichterten Seufzer an ihn. Schon seit einiger Zeit hatte sie sich nach seiner Nähe gesehnt. Mog fragte sich, welche Auswirkungen diese Turtelei für ihn haben würde. Er hatte das unbestimmte Gefühl, daß es mit seinen Mafiamethoden für immer vorbei war, aber davon ließ er sich nicht beirren. Er hatte plötzlich große Lust auf eine Spazierfahrt mit diesem absolut irren Motorrad, allerdings nicht in einer Satteltasche. O Mann, wäre das eine Wucht. 79
Das Band
80
Der schwarze Kater zitterte unter der vom Salzwasser durchtränkten Taurolle, wo er sich in stummem Elend verkrochen hatte. Das Boot hob und senkte sich in alle Richtungen auf eine Übelkeit erregende und beunruhigende Weise. Der Wind peitschte Regen in sein Gesicht und trieb ihm Tränen, deren Ursache er nicht kannte, in die Augen. Es war eine kahle, schubförmige Anhäufung von Felsen mit einer Kalksteinebene, die von einer dünnen Erdschicht bedeckt war und keinen Schutz vor Winterwinden bot. Salz trocknete in der Sommersonne in zwei großen Lagunen, und das Wasser auf der Insel war braun und salzig. Das Land stieg an der Spitze und am Absatz des Schuhs an, und auf den Hügeln blühte wilder Rosmarin. Es gab Wildschweine und Esel dort, aber keine Katzen. Für Katzen war es unmöglich, den Kanal mit der reißenden Strömung, der die kleine Insel von den größeren, bewohnten Inseln trennte, zu überqueren. Die erste Katze kam auf einem Boot über Los Freos, die rauhe Meerenge zwischen Ibiza und Frumentum, wie die Römer die kleinere Insel genannt hatten. Es war ein einheimisches Fischerboot, das vom Kurs abgekommen und in die Gegenströmung zwischen Riffe geraten war, die unter Wasser darauf lauerten, das alte hölzerne Boot zu zerschmettern. Das Boot geriet in das ruhigere salzige Gewässer in der Nähe der Salzlagunen. Der Kater spitzte die Ohren und zuckte mit seinen Schnurrhaaren. Er roch Land. Er hatte die Seefahrt satt. Für ein paar mickrige Essensreste hatte er hart gearbeitet, um das Boot von Mäusen freizuhalten. Er erspähte am Horizont einen Landstreifen, flach und windgepeitscht, und sprang ohne zu zögern über Bord. Der Kater versank in den aufgewühlten Wellen, tauchte mit hektisch schlagenden Pfoten wieder auf – eine schlanke schwarze Ottergestalt, die ums Überleben kämpfte. Im selben Sturm gefangen, bereitete sich ein Piratenschiff auf die Landung in der Bucht am südlichen Ufer vor. Der Bug scharrte über die Felsen in den seichten, trügerischen Untiefen. Die Männer sprangen in die wirbelnden 81
Fluten und schwammen ans Ufer. Der Kapitän der Korsaren hatte eine Katze, die in seiner Kabine lebte und sie frei von Mäusen hielt. Der Korsar blieb zögernd auf dem knarrenden, schwankenden Deck stehen; er hatte kein Gefühl für Menschen – er tötete skrupellos –, aber er hatte einen Horror vor dem Wassergrab und wollte die hübsche grau gestreifte Katze davor bewahren. Einem Impuls folgend, kehrte er in seine Kabine zurück und steckte die Katze in sein pluderiges Hemd. Als er mit letzter Kraft ans Ufer kroch, traf ihn eine mächtige Welle im Rücken. Er stürzte und fiel mit dem Kopf auf einen Felsen. Die Katze, kämpfte sich unter dem erdrückenden Gewicht seines Körpers hervor. Dann raste sie über den Sand, kletterte über die niedrigen Klippen, bis sie unter den knorrigen Ästen eines Olivenbaums Zuflucht fand. Als sie sich von dem Schock des Schiffbruchs erholt hatte, machte sie sich wagemutig auf den Weg in die Hügel und erkundete ihre neue Umgebung. In einem Abhang entdeckte sie eine enge, schräg nach unten führende Höhle und kroch neugierig, aber vorsichtig hinein. Sie konnte in der Dunkelheit sehen. Nach ein paar Metern fast senkrechten Abstiegs erreichte sie einen ebenen Tunnel, der zu einer kühlen und trockenen Höhle führte. Verdorrtes Farnkraut knisterte unter ihren Pfoten. Völlig erschöpft schlief sie lange. Als sie aufwachte, sah sie in der Dunkelheit der Höhle zwei glitzernde gelbe Augen, die sie anfunkelten. Eine magere schwarze Gestalt näherte sich ihr. Fünfundsechzig Tage später überkam sie eine unendliche Müdigkeit, und sie tappte rastlos in der Höhle umher. Sie kratzte das trockene Farnkraut zusammen und trat es fest. Sie fing leise an zu fauchen und sah sich aufgeregt und verwirrt um. Ihr merkwürdiger Zustand war ihr unbegreiflich. Der schwarze Kater beobachtete verstört ihre Rastlosigkeit. Zwischen ihnen gab es zarte Bande, aber er ging trotzdem auf die Jagd. Es gab ganze Kolonien kleiner jadegrüner Eidechsen, die sich auf den Felsen sonnten. Er zählte sie zwar nicht zu seinen Lieblingsspeisen, aber sie waren langsam und somit eine leichte Beute.
82
Später würde er im seichten Gewässer Fische fangen. Das Meer war jetzt wärmer, und es machte ihm nichts aus, wenn seine Pfoten naß wurden oder er ins Wasser fiel. Er wurde allmählich zu einer Meerkatze. Er war ein kräftiger Schwimmer und konnte mit einem Schlag seiner Pfote mit den spitzen Krallen einen Fisch fangen und dessen Kopf an einem Fels zerschmettern. Das Leben auf der Insel tat den beiden schiffbrüchigen Katzen gut. Sie waren wohlgenährt, und ihr Fell hatte einen silbrigen Glanz angenommen. Ihre Ernährung war abwechslungsreicher als die Schiffskost; sie jagten Vögel, Insekten, Mäuse und Fische. Trockenes Heidekraut lag zwischen dem Farnkraut. Die Katze streckte sich, zerdrückte die kleinen, süß riechenden Blüten und wartete. Heftige Krämpfe durchzuckten ihre Flanken, und sie zog leise fauchend ihre Krallen ein. Als der Kopf des ersten Kätzchens hervorquoll, setzte sie sich auf und preßte das winzige Wesen heraus. Sie leckte es mit ihrer rauhen Zunge ab und entfernte die Fruchtblase, damit das Junge atmen konnte. Sie verschlang die Plazenta und kaute an der Nabelschnur. Als sie fertig war, ruhte sie eine Weile, aber es dauerte nicht lange, bis die Krämpfe wieder einsetzten und noch ein Kätzchen zum Vorschein kam. Nachdem der Wurf von vier Jungen versorgt war, putzte sich die frischgebackene Mutter, rollte sich um die winzigen Wesen und schlief ein. Noch nie war sie so müde gewesen. Der Kater kam mit einer Seebarbe im Maul zurück. Er hielt die Kätzchen für Ungeziefer und hätte sie aufgefressen, hätte ihn die Katzenmutter nicht fauchend und kratzend davon abgehalten. Erschrocken über ihre Wildheit, wich er zurück. Sie entriß ihm heißhungrig einen Teil des Fischs. Jedesmal, wenn er in die Höhle zurückkam, mußte sie das Leben ihrer Jungen verteidigen. Die Kätzchen fingen an, herumzukriechen, zu maunzen und an ihrer Mutter zu saugen. Der Kater sah mit großen, neugierigen Augen zu. Er nahm sich vor der Katze in acht, die mit ihren 83
Krallen nach ihm schlug, sobald er nur sein Maul öffnete. Aber mittlerweile hatte er die Wesen als Katzen anerkannt. Ein Kätzchen war schwarz wie er, zwei fahl gestreift wie die Mutter, und eins sah ganz anders aus. Dieses letzte Kätzchen hatte ein helles Fell mit schwarzen Flecken und spitze, dreieckige Ohren. Es stammte wohl in indirekter Linie vom Spanischen Luchs, einer iberischen Festlandkatze, ab. Sobald die Kätzchen alt und kräftig genug waren, um allein gelassen werden zu können, kam die Katze aus der Höhle. Es war jetzt Sommer, und sie machte sich, ihrem Instinkt folgend, auf die Suche nach den Eiern von Seevögeln, die ihren entkräfteten Körper starken würden. Sie reckte sich wohlig in der wärmenden Sonne, und ihre Beine trugen sie schnell durch Stechginster und wilden Rosmarin zu den Klippen, wo die Seevögel nisteten. Bald strotzte sie wieder vor Kraft, und die Kätzchen tummelten sich abenteuerlustig in der Sonne. Kämpfend, beißend und kratzend tobten sie umher. Gemeinsam gingen sie auf die Jagd. Vier magere, junge Katzen streiften meistens nachts durch die Pinienwälder und dichtes Gestrüpp, fingen Kaninchen und Nagetiere und verbrachten die Tage träge und schlafend auf den Felsen. Die Katze des Korsaren und der Kater des Fischers paarten sich wieder, und als ein neuer Wurf fordernder Kätzchen geboren wurde, hatte die Katze ihre ersten Kinder schon fast vergessen. Die Jungen hatten andere Höhlen gefunden. Das Familienband war zerrissen. Sie war eine gute Mutter, beschützend und fürsorglich, und lehrte ihre Jungen das Jagen. Aber die Kätzchen des dritten Wurfs überlebten nicht. Sie fraß die Neugeborenen, um das Protein nicht zu vergeuden. Kurz vor der Geburt hatte ein wolkenbruchartiger Regen die Höhle überflutet. Sie hatte unbequem auf einem schmalen Sims gekauert, wo sie sich weder bewegen noch umdrehen konnte. Ein Junges nach dem anderen war erstickt. Sie wußte, daß noch ein Kätzchen herauskommen mußte.
84
Die Krämpfe wurden schwächer, als sie in der feuchten, tropfenden Dunkelheit preßte, aber das Junge blieb stecken. Sie begann müde zu werden. Der Kater kam noch einmal zurück. Er merkte sofort, daß etwas nicht stimmte, und machte kehrt. Er paarte sich mit der schwarzgefleckten Katze mit den spitzen Ohren, die danach zur flachen Ebene und zu den Sanddünen in der Nähe der Salzlagunen floh. Ihre langen Schnurrhaare zuckten in der salzigen Luft. Sie überfiel Sturmschwalben in ihrem aus Schilfgras gebauten Nest und schob dieses in ein Loch in den Dünen. Dort hatte sie es warm und trocken. Sie schnappte nach ein paar glänzenden Insekten und rollte sich in der sandigen Höhle ein. Ihre Schlitzaugen glitzerten im Sonnenlicht. Sie hatte kein Bedürfnis mehr nach dem Kater. Die ersten Siedler waren Bauern, die durch die Aussicht auf ein friedliches Leben auf der kleinen Insel – fernab von Invasoren und Piraten – hergelockt worden waren. Die Katzen saßen auf einem Felsvorsprung der Klippen, die die Salzlagunen umschlossen, und beobachteten, wie die Männer Landwirtschaftsgeräte und Säcke mit Saatgut ausluden. Die Männer nannten die Insel Frumentum, als sie entdeckten, daß in diesem Klima und trotz der dünnen Erdschicht guter Weizen wachsen würde. Als die Bauern und Fischer kleine Dörfer bauten, wurden die Wildkatzen immer weiter in die Hügel verdrängt. In der Ebene wurden Steinwälle errichtet, und aus den ehemaligen Regenrinnen wurden Myriaden von Trampelpfaden, die kreuz und quer über die Insel führten, über die die Bauern ihre Maultiere trieben. Für die wildlebenden Katzen wurde es auch immer schwieriger, am Ufer, wo jetzt Boote lagen und Männer Tag und Nacht arbeiteten, zu fischen. Die Katzen beschränkten sich auf nächtliche Beutezüge, blieben tagsüber in den Hügeln und beobachteten aus Verstecken die Frauen, die Kräuter und Feuerholz sammelten. Die Katzen zeigten sich nicht. Sie hatten kein Vertrauen zu diesen lauten, zweibeinigen Wesen. Die landwirtschaftliche 85
Nutzung der Insel veränderte auch das Jagdverhalten der Katzen. In die Hügel zurückgedrängt, verlernten sie allmählich das Fischen. Sie wurden sehr wild und hungrig. Manchmal überfielen sie einen Bauernhof und raubten Geflügel oder einen Wurf Ferkel. Also holten die Bauern zum Schutz ihrer Tiere unsaubere, knurrende Bestien von der Nachbarinsel und ließen sie frei herumlaufen. Die Katzen haßten diese rauhen, kläffenden Kreaturen mit den gelblichen Zähnen. Die Wildkatzen bewiesen eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit, als man vom Weizenanbau zum Tourismus überging. Für die Bauern bedeutete es viel weniger Arbeit, einfach die Sonne und die Strände zu vermarkten. Zunächst beobachteten die Katzen von ihren Felsen aus nur die Fähren, die aus dem Hafen von Ibiza herüberkamen. Los Feros war noch immer eine unberechenbar rauhe Meerenge, und die Urlauber schwankten mit weichen Knien an Land und warfen ihre Lunchpakete weg. Anfangs folgten ihnen die Wildkatzen aus der Ferne, wurden jedoch immer kecker. Sie waren große Katzen, mit langgestreckten und mageren Körpern, grau gestreiftem, getupftem oder schwarzem Fell, großen, spitzen Ohren und spitzen Gesichtern. Sie entwickelten einen Geschmack für Brötchen, Käse und Schinken. Ihr Leben änderte sich. Sie machten sich an die Touristen heran, bezogen ihre Sommerresidenz in der Nähe der drei Betonhotels, sonnten sich auf Klimaanlagen, durchwühlten Küchenabfälle und bettelten auf den Terrassen der Bungalows für Selbstversorger. Sie waren nicht zahm genug, um sich berühren zu lassen, aber scharwenzelten um die Touristen herum wie korrupte Höflinge auf einem Hofball im 17. Jahrhundert. Wenn die Urlauber im Oktober abreisten, kehrten die Katzen in die Hügel in ihre Höhlen zurück. Sie nahmen ihre alten Jagdgewohnheiten wieder auf und schüttelten jeden Hauch von Domestikation ab. Vor ihrer Rückkehr in die Hügel machten sie einen Wettlauf über die Hauptstraße von San Francisco Javier, der winzigen Hauptstadt der Insel. Das wurde zu einem jährlich wiederkehrenden Ritual. 86
Nur wenige Menschen sahen die Katzen. Der staubige Marktplatz war verlassen, bis auf ein paar alte Frauen, die mehrere schwarze Röcke übereinander trugen und steife Strohhüte auf den Köpfen hatten. Sie saßen vor den Cafés, ohne von Amateurfotografen belästigt zu werden. Jane war eine der letzten Urlauberinnen, die abreiste. Sie war Studentin der Archäologie, und auf der Insel gab es eine Vielzahl von historischen Stätten. Sie wünschte, Angus würde mehr Interesse dafür aufbringen. Er wollte seine Urlaubstage nur auf seinem Surfbrett und abends beim Tanzen in der Disko verbringen. »Die Höhlen von D’en Xeroni sind spektakulär«, sagte sie an ihrem ersten Morgen auf der Insel. »Begleitest du mich?« »Ich grabe nicht in Höhlen«, antwortete er und grinste über seinen Witz. »Und 1403 wurde auf La Mola ein Kloster errichtet, das jetzt allerdings nicht mehr existiert.« »Na und? Also ist da nichts mehr zu besichtigen. Komm mit an den Strand. Dort spielt sich das Leben ab.« Jane fragte sich wieder einmal, warum sie ihren Urlaub mit Angus verbrachte. Er sah zwar gut aus, war unterhaltsam und in den Künsten der Liebe erfahren, aber das war schon alles. Manchmal haßte sie sich selbst. Am letzten Nachmittag ihres Urlaubs stritten sie sich, und Jane machte sich auf den Weg zu einer versteckten Höhle in den Hügeln. Angus weigerte sich, sie zu begleiten. Er war wild entschlossen, braun wie eine Haselnuß nach Hause zurückzukehren. Sie marschierte an alten Feigenbäumen vorbei, die ringsum von Stöcken gestützt wurden und wie mittelalterliche Pavillons aussahen, in deren Schatten alte Legenden erzählt wurden. Windmühlen und runde Wachtürme waren weitere stumme Zeugen der Vergangenheit. Jane liebte diese Relikte, denn es gab kaum schriftliche Aufzeichnungen. Die Menschen auf der Insel sprachen einen einheimischen katalanischen Dialekt, der so archaisch war wie die Hügel.
87
Die kurvige Straße führte zum höchsten Punkt der Insel hinauf. Sie kletterte durch Stechginster und wilden Rosmarin. Jane zerdrückte das Kraut zwischen ihren Fingern und atmete den Duft ein. Unter ihr erstreckte sich die schmale Insel mit den Sandstreifen an den Küsten. La Sabina und die Salzlagunen waren weit entfernt. Es war so ruhig und schön; sie wünschte, Angus wäre bei ihr. An der Rezeption hatte man Jane erklärt, daß die Höhle am Rand der Straße nach dem Café Mirado liege. Der sehr schmale Eingang sei schwer zu finden. Jane brauchte diese Zeit ohne Angus. Morgen würden sie nach London zurückkehren, und sie war verwirrt. Sie wollte über die Menschen nachdenken, die einst ihr isoliertes Leben auf dieser Insel verbracht hatten – und sie suchte nach Antworten für ihre Probleme. Das einsame Café stand unter verkrüppelten Kiefern am höchsten Punkt des Hügels. Sie wurde allmählich müde und hatte nicht vor, bei Sonnenuntergang noch in den Hügeln herumzuspazieren. Ein kleiner Junge spielte auf den Stufen des Cafés. »Möchten Sie etwas trinken, Señorita?« fragte er. »Wenn ich aus der Höhle zurückkomme«, sagte sie. Sie wäre beinahe an der Höhle vorbeigegangen. Die Öffnung war nur ein Spalt im felsigen Abhang neben der Straße. Der Eingang war nicht zugewachsen, aber mit Müll überdeckt. Jane räumte Coladosen und Zigarettenschachteln weg. Sie musterte den Felsspalt. Er sah nicht vielversprechend aus. Sie zwängte sich rückwärts hindurch und verlor sofort den Boden unter den Füßen. Die aufsteigende Panik unterdrückend, suchte sie nach einem Halt und schob sich dann vorsichtig weiter in die Öffnung, die sich zu ihrer Erleichterung zu einem Tunnel erweiterte, in dem sie auf Ellbogen und Knien rutschte. Schließlich verlief der Gang beinahe eben, und sie kroch weiter, um eine Stelle zu finden, an der sie sich umdrehen konnte. Das Licht ihrer Taschenlampe flackerte über Felsenwände, und endlich war eine Höhle zu erkennen. Die Stille war unheimlich, aber Jane hatte nicht das Gefühl, allein zu sein. Nichts deutete darauf hin, daß die Höhle je von einem menschlichen Wesen bewohnt worden war, doch sie 88
wirkte weder öde noch leer. Ihre Sinne waren hellwach, und ihre Nerven prickelten. Sie ließ das Licht der Taschenlampe durch die Höhle wandern, das plötzlich von zwei winzigen Punkten reflektiert wurde. Sie ging vorsichtig darauf zu, und auf einem Sims in der Tiefe der Höhle nahm etwas kleines, graues Gestalt an. Sie kletterte hoch und entdeckte eine helle grau gestreifte Katze. Erschöpft und zitternd lag sie da. »Hallo«, sagte Jane sanft. »Was ist denn mit dir los?« Sie fuhr mit der Hand über die Flanke des Tiers. Dieser Leib hatte viele Junge geboren, und die Katze lag ganz offensichtlich in den Wehen. Jane sah ein Junges mit dem Hinterteil voran herausragen. Es steckte fest. Die Atemzüge der Katze waren flach, ihr Fell naß, als hätte es kürzlich geregnet. Wahrscheinlich versuchte sie seit Stunden, vielleicht seit Tagen, das Junge herauszupressen. Jane legte die Taschenlampe auf einen über ihr befindlichen Sims und richtete den Strahl auf die Katze. Ihr gesunder Menschenverstand sagte ihr, daß sie mit ein bißchen tatkräftiger Hilfe das Leben der Katzenmutter und vielleicht auch das des Jungen retten konnte. Sie nahm ein Taschentuch aus ihrer Gesäßtasche und legte es sanft über den winzigen herausragenden Körperteil. Bei dieser Berührung hob die Katze ihren Kopf und starrte Jane mit ihren gelben Augen an. Erinnerungen an einen dunkelhaarigen Menschen regten sich in ihrer Verwirrung aus Schmerz und Angst. Ein Mann hatte sie einst in sein pluderiges Hemd gesteckt und war mit ihr in die tosenden Wellen gesprungen. Er hatte sie gerettet. Dieser Mensch roch anders, sprach aber mit sanfter Stimme. In ihrem Leid wurden der Korsar und das Mädchen zu einer Person, und die Katze fühlte seinen Herzschlag und die Wärme seiner feuchten Brust. Jane packte das Junge mit zwei Fingern fest, aber sanft. Sie wußte, daß sie es erst vorsichtig herausziehen durfte, wenn die Katze preßte. »Komm schon, kleines Mädchen«, drängte sie. »Nur noch einmal pressen.« Aber die Katze bewegte sich nicht. Jane sah in dem schmalen Lichtstreifen bloß das Junge. »Gib nicht auf«, flüsterte sie »Bitte, Mieze...« 89
Angestrengt lauschte sie auf das Atmen der Katze, hörte aber nur ihre eigenen Atemzüge. In dem trüben Licht konnte sie jetzt nur noch ihr Taschentuch erkennen. Die Taschenlampe kippte um, und der Strahl flackerte über die Decke der Höhle. Jane gelang es gerade noch, sie aufzufangen. Ihr Taschentuch flatterte zu Boden. Schweiß tropfte ihr übers Gesicht. Sie mußte das Junge herausholen, sonst würden beide sterben. Aber sie brauchte Licht. Mit vorsichtigen Bewegungen häufte sie Steine auf dem Sims auf, um die Lampe festzuklemmen. Der Lichtstrahl fiel auf den schmalen Felsvorsprung, wo die graue Katze gelegen hatte. Er war leer. Da war nichts mehr. Jane richtete den Lichtstrahl auf den Boden, um nachzuschauen, ob die Katze heruntergerutscht war. Aber sie sah nur ihre Füße und verdorrtes Heide- und Farnkraut, das der Wind hereingeweht hatte. Mit zitternder Hand hielt sie die Lampe fest. Auf dem Sims entdeckte sie etwas Weißes. Sie betrachtete es näher und erkannte ausgebleichte, winzige Knochen. Das kleine Skelett lag hier unberührt seit Jahrhunderten. Jane wich zurück. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Sie verstand das nicht. Ihre Hand hatte eine lebende Katze, echtes Fell berührt und echten Schmerz gefühlt. Sie hatte sich das nicht eingebildet. Und für ein paar Augenblicke hatte zwischen ihr und der Katze ein seltsames Band existiert. Jane machte sich langsam auf den Rückweg. Das spätnachmittägliche Sonnenlicht war warm und angenehm. Angus saß am Straßenrand. Er hatte zwei Dosen Cola dabei. »Hast du jetzt genug von den Höhlen?« fragte er grinsend. Mit einem dankbaren Lächeln flüchtete sie sich in seine tröstenden Arme. »Wie gut, daß ich mich nicht habe davon abhalten lassen, gerade diese Höhle zu erforschen«, sagte sie. »Sie ist etwas ganz Besonderes.« Ihre Hand umschloß das Taschentuch in ihrer Hosentasche. Es war feucht. Und am nächsten Tag, als sie für die Heimreise packte, entdeckte sie auf dem weißen Stoff ein paar silbergraue Haare. 90
Seltsame Gäste auf dem Dachboden
91
Etwas fiel in Jodies ausgestreckte Hand. Sie stieß einen Schrei aus. Es war eine kleine braune, pelzige Maus, und doch war es keine richtige Maus. Sie haßte Mäuse. Wäre sie nicht vor Angst erstarrt, hätte sie das Ding von sich geschleudert. In diesen ersten Augenblicken unbeschreiblichen Entsetzens starrte sie das Wesen nur an. Ein winziges, teddybärartiges Gesicht starrte furchtlos zurück. Die kleine Nase begann zu zucken. Das Wesen klammerte sich an ihre gewölbte Handfläche. Die gefalteten Membranen an den beiden Seiten des Körpers vibrierten. Es war keine Maus. Es war eine Fledermaus. »Pfui!« kreischte Jodie voller Abscheu. Mehr noch als Mäuse haßte sie Fledermäuse. Sie verfingen sich im Haar, und Jodie hatte langes kastanienbraunes Haar. Außer ihrem dumpf schlagenden Herzen konnte sie noch etwas hören. Sie schaute näher hin. Die winzige Fledermaus zwitscherte. Piepsende und zischende Laute, die entweder Ärger oder Erschrecken bedeuteten, kamen aus dem winzigen Mund. Das Wesen in ihrer Hand hatte zweifellos Empfindungen, die es auszudrücken vermochte. Diese Erkenntnis war so überraschend, daß Jodies Angst schwand. Wie konnte sie vor einem so winzigen Wesen Angst haben, daß sich bestimmt auch vor ihr fürchtete. Und, was noch absurder war, dieser Winzling ärgerte sich über sie. Die Fledermaus war so klein, daß es mit Sicherheit ein Junges war. Es mußte etwas geschehen, und wenn sie noch soviel Angst davor hatte. Nachdem Jodie vorsichtig die leiterartige Treppe vom Dachboden hinuntergeklettert war, setzte sie die Fledermaus behutsam in einen Teekannenwärmer. Winzige Krallen suchten sofort in der hellen Wolle Halt. »Bleib da drin«, sagte Jodie. »Ich muß jemanden anrufen. Schließlich weiß ich nicht, was ich mit dir anfangen soll.« Es erforderte mehrere Anrufe, bis ein Sachverständiger gefunden war. Jodie telefonierte mit dem Zoo, der Naturschutzbehörde und wurde schließlich mit der FledermausGruppe verbunden. Sie hatte nicht gewußt, daß es so etwas wie eine Fledermaus-Gruppe gab. 92
»Können Sie mir helfen? Ich habe etwas Komisches auf meinem Speicher gefunden – eine Fledermaus, die jetzt in meinem Teewärmer sitzt.« »Berühren Sie das Tier nicht«, bellte eine tiefe Stimme. »Natürlich berühre ich es nicht«, erwiderte Jodie, über den Ton, in dem der Mann mit ihr sprach, empört. »Ich finde Fledermäuse scheußlich. Glauben Sie etwa, ich fange diese Tiere zum Spaß? Sie fiel einfach in meine Hand. Könnten Sie bitte kommen und sie mitnehmen?« »Lassen Sie mich eins klarstellen: Fledermäuse sind nicht scheußlich. Für das Fangen dieser Tiere können Sie mit einer Geldstrafe bis zu zweitausend Pfund belegt werden. Für den Umgang mit Fledermäusen, auch wenn Sie sie nur fotografieren wollen, ist eine Genehmigung erforderlich.« »Niemand wird mich mit einer Geldstrafe von zweitausend Pfund belegen«, sagte Jodie entrüstet. »Die Fledermaus ist einfach in meine Hand gefallen. Und ich habe nicht die Absicht, das Tier zu fotografieren, auch wenn es ein Junges ist.« »Ich komme sofort zu Ihnen. Stören Sie die anderen nicht. Die Mutter muß auf dem Speicher sein.« Jodie erstickte einen Aufschrei. »Die anderen? Sie machen wohl Witze?« Sie war vor ein paar Wochen in dieses alte Haus, das einmal als Getreidespeicher gedient hatte, gezogen. Es war ihr Traum, diese schwierige Aufgabe, ein altes Haus nach ihren Vorstellungen zu gestalten, um sich damit einen Namen als Innenarchitektin zu machen und mit einem bebilderten Beitrag in einer dieser versnobten Fachzeitschriften zu glänzen. Jodie verdiente gut mit der Umgestaltung von Mietskasernen in geräumige Großraumbüros, deren Farbgestaltung eine harmonische Arbeitsatmosphäre schuf. Durch die sorgfältige Auswahl von Bildern und Pflanzen verlieh sie den Räumen ihre persönliche Note, von der die Auftraggeber sehr angetan waren. Auch ihr Arbeitgeber, Geoffrey Donnelly, drückte seine Zufriedenheit aus. »Sie verschaffen uns mehr Aufträge als die anderen«, sagte er in väterlichem Ton, betrachtete jedoch bewundernd ihr kastanienbraunes Haar. »Vielleicht mache ich Sie zu meiner Partnerin.« 93
Auf den Tag kann ich lange warten, dachte Jodie. Deswegen war dieses alte Haus etwas Besonderes. Ihr schwebte eine Vision von Zwischenstockwerken, einer Wendeltreppe und Decken mit indirekter Beleuchtung und Punktstrahlern vor. Dieses Haus bot unbegrenzte Möglichkeiten. Oben gab es zwei runde, unten ein längliches Zimmer und eine achteckige Kammer, die zu einem Badezimmer umgebaut werden konnte. Die Schwachstelle des Hauses war die schmale, feuchte Küche mit der Spüle aus Stein, die wohl noch aus dem Mittelalter stammte. Jodie hatte beim Kauf dieses Hauses nicht an Fledermäuse gedacht. Mäuse, Holzwürmer, Spinnen – dagegen konnte sie mit Fallen, Besen und chemischen Mitteln vorgehen. Die kleine Fledermaus krabbelte wie ein neugieriges Baby im Teewärmer herum. Jodie verspürte ein starkes Verlangen, den winzigen pelzigen Kopf mit einem Finger zu streicheln, erinnerte sich aber an die Drohung des Mannes am Telefon und steckte die Hände in ihre Jeanstaschen. Um ihre Nerven zu beruhigen, kochte sie sich Kaffee. Sie wünschte, der Fledermausbetreuer würde sich beeilen. Vielleicht war das Tier hungrig. Endlich kam der Fledermausbetreuer. Er war groß, hatte ein hageres Gesicht und eine schroffe Art. Er sah aus wie jemand, der sein halbes Leben in dunklen Höhlen zubrachte. »Matthew Brand«, sagte er. »Sie haben mich wegen der Fledermaus angerufen.« »Haben Sie eine Lizenz?« entgegnete sie und versteckte hinter ihrer eigenen Schroffheit ihre Ängstlichkeit. »Natürlich«, konterte er und ging mit großen Schritten an ihr vorbei ins Haus. »Für den Umgang mit Fledermäusen braucht man eine besondere Ausbildung.« »Was für ein Aufwand wegen eines wilden Tieres.« »Zum Schutz dieser vom Aussterben bedrohten Tierart ist kein Aufwand zu groß, das kann ich Ihnen versichern. Die Menschen betrachten Fledermäuse als Schädlinge und rotten sie auf brutale Art aus. Die Veränderungen in der Umwelt vertreiben sie von ihren natürlichen Nistplätzen, und die 94
Verwendung von chemischen Mitteln und Insektiziden rotten sie aus.« Er warf einen argwöhnischen Blick auf die Fotoausrüstung in Jodies chaotischem Wohnzimmer. »Hoffentlich haben Sie keine Aufnahmen gemacht.« »Natürlich nicht«, protestierte Jodie mit einem Stöhnen. »Ich restauriere dieses Haus und mache Fotos vom ursprünglichen und dann vom renovierten Zustand für Publikationen.« »Ach, Sie sind Journalistin«, sagte er mürrisch, als hätte er unter zuviel Medieninteresse zu leiden gehabt. »Nein. Ich bin Innenarchitektin«, korrigierte ihn Jodie. »In einem Teewärmer, sagten Sie?« »Wie bitte?« »Die Fledermaus.« Sie führte ihn in die enge Küche. Was für ein schönes Motiv für ein Foto, dachte sie flüchtig. Die kleine Fledermaus spähte mit runden, neugierigen Augen über den Rand des gehäkelten Teewärmers und stieß erstaunlich kräftige Schreie aus. »Das Junge schreit, weil es allein ist und hofft, daß seine Mutter kommt und es rettet. Nein, Sie dürfen kein Foto machen«, fügte er hinzu, als könnte er ihre Gedanken lesen. Der Betreuer wußte ohne Zweifel, was er tat. Jodie beobachtete fasziniert, wie zart er das kleine Wesen anfaßte und untersuchte. Ihr entgingen nicht die drahtigen, schwarzen Haare an seinem Handgelenk. Auch Geoffrey Donnelly war dunkelhaarig, aber er übte auf sie trotz seiner beharrlichen Annäherungsversuche keine Faszination aus. »Die Fledermaus scheint unverletzt zu sein. Wie gut, daß sie vorsichtig mit dem kleinen Wesen umgegangen sind. Es ist hungrig und braucht dringend Flüssigkeit. Haben Sie einen Pinsel?« »Einen Pinsel?« wiederholte Jodie wie ein Idiot. »Einen feinen Pinsel für Wasserfarben, keinen fünf Zentimeter breiten wie für Temperafarben.« Jodie fand im Handumdrehen in dem Chaos ihren Malkasten und reichte Matthew Brand einen feinen Pinsel. Er vermengte Milch mit Wasser und befeuchtete mit der Pinselspitze leicht das Mäulchen der Fledermaus. Nach einem 95
kurzen Zögern, öffneten sich die winzigen Kiefer, und die kleine Fledermaus saugte die Flüssigkeit auf. Jodie betrachtete erstaunt die nadelspitzen Zähnchen. »Geben Sie ihr auch feste Nahrung?« »Ja, Mehlwürmer.« Jodie würde übel. »Hoffentlich füttern Sie sie nicht hier...« »Oder Dosenfutter für Katzen. Nimmt die Mutter ihr Junges nicht wieder an, muß ich mich um das Tier kümmern. Außerdem muß ich mir den Schlafplatz der Fledermäuse ansehen.« »Ich könnte das Junge solange tränken«, sagte Jodie. Er schaute sie an, als hielte er sie für unfähig, eine derart delikate Operation auszuführen. »Ich werde es nicht berühren, selbst wenn es sich in meinem Haar verfängt.« »Das ist ein Legende«, brummte er. »Fledermäuse können sehr gut sehen. Nur weil sie so schnell fliegen, glauben die Menschen, es bestehe die Gefahr, daß sie sich in ihrem Haar verfangen.« Er schien kurz nachzudenken und sah dann Jodie in die braunen Augen. »Na gut. Geben Sie ihr die Flüssigkeit tröpfchenweise, und ertränken Sie den Winzling nicht in Milch.« Jodie blickte wütend hinter Matthew Brand her, der zum Dachboden hinaufstieg, und wandte dann ihre ganze Aufmerksamkeit dem kleinen teddybärartigen Gesicht zu, das sie voller Vertrauen anschaute. Ihr Herz schlug einen Purzelbaum. Das ist lächerlich, dachte sie. Ich hasse Fledermäuse. »Hier, trink, Kleines«, sagte sie sanft und träufelte einen Tropfen in das winzige Maul. Wie Geoffrey über mich lachen und rüde Witze machen würde, dachte sie. »Ja, auf Ihrem Speicher sind Fledermäuse«, sagte Matthew Brand, als er mit Spinnweben in seinem dunklen Haar und Schmutzflecken im Gesicht wieder herunterkam. »Ihr Dachboden ist ein wunderbarer Schlafplatz. Wenn wir Glück haben, holt die Mutter heute nacht ihr Junges.« 96
Jodie schauderte. Vielleicht sollte sie Geoffrey anrufen und mit ihm irgendwohin zum Essen gehen. Sie hatte keine Lust, sich einem ganzen Schwarm Fledermäuse auszusetzen. Aber sie wollte Geoffrey auch nicht zu weiteren Annäherungsversuchen ermutigen. Matthew legte eine umwickelte Wärmflasche in einen Schuhkarton, setzte die Fledermaus hinein und trug sie auf den Speicher. Die Aufregungen des Nachmittags hatten Jodie erschöpft, und sie war frustriert, weil ihre Arbeit liegengeblieben war. »Das sind Zwergfledermäuse«, erklärte Matthew. »Die kleinste Fledermausart in Großbritannien und leicht zu zähmen.« »Ich hätte lieber eine Katze.« »Solange die Fledermäuse hier sind, dürfen Sie keine Katze, haben. Katzen fangen Fledermäuse. Und Sie dürfen auch keine chemischen Mittel zur Behandlung des Holzes verwenden.« »Aber ich will einen Teil des Dachbodens entfernen und diese schönen Balken freilegen lassen. Dann wird eine Wendeltreppe eingebaut, die zum Mezzanin hinaufführt.« Matthews hageres Gesicht verfinsterte sich. »Sie können den Dachboden nicht verändern. Damit würden Sie den Schlafplatz der Fledermäuse zerstören«, sagte er düster. »Aber das ist mein Haus.« »Es gehört jetzt nicht mehr Ihnen allein. Fledermäuse sind sehr scheue, sanfte Wesen, die nur in Ruhe gelassen werden wollen. Sie sind weder schädlich, noch greifen sie Menschen an. Außerdem sind sie äußerst nützlich, weil sie Holzbohrer vertilgen. Fledermäuse können in einer Nacht dreitausend Insekten vernichten.« »Bisher waren sie aber nicht sehr effektiv«, entgegnete Jodie, die sich in die Enge getrieben fühlte. »Außerdem würde mir dieses nächtliche Treiben auf die Nerven gehen. Ich will mir mit diesem Umbau einen Namen als Innenarchitektin schaffen, weil ich keine Lust habe, mein Leben lang Großraumbüros aufzumöbeln.« »Es tut mir leid, wenn diese Fledermäuse Ihre Karriere durcheinanderbringen. Aber könnten Sie wirklich ruhigen 97
Gewissens den Lebensraum dieser harmlosen kleinen Kreaturen zerstören?« »Das ist nicht fair«, sagte Jodie wütend. »Sie stempeln mich zur Mörderin ab.« »Das wären Sie. Fledermäuse sind die Superstars der Tierwelt. Wollen Sie diesen Schwarm zum Tode verurteilen?« Jodie kam sich wie eine Verbrecherin vor. Sie machte sich und diesem unverfrorenen Fledermausbetreuer Kaffee und verstreute überall Bohnen. Verflucht sei der Kerl! Warum mußte er ihren Traum zerstören? »Ich komme morgen früh wieder, um zu sehen, ob die Mutter ihr Junges angenommen hat«, sagte er, als er ging. Jodie hörte die ganze Nacht Geräusche, piepsende Schreie und Geflatter. Sie zog sich ihren Schlafsack über die Ohren und rollte sich auf dem bequemen Sofa ein, konnte aber lange Zeit nicht einschlafen. In ihrer Vorstellung sah sie flinke kleine Schatten im Mondlicht umherhuschen. Sie dachte an das geheime Leben der Fledermäuse auf dem Dachboden, wie sie kopfüber von Balken und Mauern hingen und sich in Risse und Höhlen quetschten. »Eigentlich verlangen sie nicht viel«, murmelte sie und schlief endlich ein. Die Fledermäuse blieben. Sie hätte Matthew Brands vernichtende Mißbilligung nicht ertragen. Am nächsten Morgen erzählte sie ihm, daß sie ihre Umbauplane geändert habe und der Dachboden erhalten bleibe. Sein scharfer, funkelnder Blick war das Opfer wert, aber Jodie folgte nur einem uralten Instinkt. Sie fühlte sich zu Matthew Brand hingezogen. Ohne sie auch nur einmal berührt zu haben, hatte er es geschafft, daß sie sich seiner sehr intensiv bewußt war. Wenn es Fledermäuse auf ihrem Speicher bedurfte, um ihn in ihre Nähe zu locken, würde sie lernen, Fledermäuse zu mögen. »Was ist mit dem Jungen?« »Es war nicht zu spät. Die Mutter hat es wieder angenommen. Fledermäuse bekommen jeweils nur ein Junges, weshalb es für eine Kolonie schwierig ist, zu überleben.« 98
»Da bin ich aber froh«, sagte Jodie, »denn ich bin immer nur am Wochenende hier, und das würde wohl nicht ausreichen, um das Kleine mit Futter zu versorgen.« »Möchten Sie mehr über Fledermäuse erfahren?« fragte Matthew plötzlich. Sie hätte seinetwegen einen Kopfstand gemacht. »Ja«, antwortete sie tapfer. »Nächstes Wochenende zeige ich Ihnen andere Schlafplätze. Dafür brauchen Sie einen Regenmantel, Gummistiefel, eine Taschenlampe und einen Helm.« Es war das erste von vielen feuchten und unbehaglichen Wochenenden. Jodie kletterte in Glockentürmen und auf Speichern herum, erforschte Höhlen und Minen. Einmal ließ Matthew sie den pelzigen Kopf einer komisch aussehenden Fledermaus mit langen Ohren streicheln, deren Flughaut eingerissen war. Das Fell war weich wie Eiderdaune. Sie bewunderte die winzigen Stiche, mit denen der Tierarzt den Riß vernäht hatte. Jodie fing an, die kleine Familie auf ihrem Dachboden zu mögen. Jetzt war sie nie mehr allein. Es gefiel ihr, ihre Freunde damit zu schockieren, daß sie erzählte, sie habe Fledermäuse auf dem Speicher. Sie stießen entweder Horrorschreie aus oder wollten die Tiere sehen. »Ich glaube, das Landleben ist Ihnen zu Kopf gestiegen«, sagte Geoffrey ärgerlich. »Warum geben Sie es nicht wieder auf? Sie konzentrieren sich nicht mehr auf Ihre Arbeit. Erst letzte Woche wollten Sie einem Kunden einreden, Bäume an die Wände seiner Büros malen zu lassen.« »Die Schreibkräfte hatten nur Ausblick auf die Wand eines Lagerhauses.« »So geht das nicht weiter, Jodie.« Der Winter kam, und da britische Fledermäuse keine Zugtiere sind, mußte Jodies Familie auf dem Speicher Winterschlaf halten. Ihr fehlten die vertrauten nächtlichen Geräusche. Matthew hatte ihr erklärt, daß sie ohne Nahrung den Winter überdauern konnten.
99
Eines Nachts wachte Jodie in dem runden Zimmer, das jetzt ihr behagliches Schlafzimmer war, auf und hörte die ihr bekannten Geräusche. Die Fledermäuse regten sich, obwohl sie noch Winterschlaf halten sollten. Es war eine frostige Nacht. Schnee bedeckte die Landschaft. Sie rief sofort Matthew an. »Etwas stimmt nicht«, sagte sie. »Die Fledermäuse fliegen herum.« »Das kann nicht sein«, erwiderte er und war hellwach, obwohl es noch lange vor Morgengrauen war. »Ich bilde mir das nicht ein. Ich höre sie deutlich.« Eine Weile war es still, während der Matthew nachdachte. »Welche Arbeiten hast du in letzter Zeit am Haus vornehmen lassen?« »Neue Leitungen und eine Feuchtigkeitsisolierschicht wurden verlegt. Und die Zentralheizung ist eingebaut worden.« »Zentralheizung!« brüllte er ins Telefon. »Die Fledermäuse denken, es ist Frühling. Sie werden verhungern. Jetzt gibt es keine Nahrung für sie. Stell sofort die Heizung ab.« Als Matthew an die Tür klopfte, öffnete ihm eine dick vermummte Gestalt. Jodie hatte drei Pullover, eine Strickmütze und Pelzhandschuhe an, zitterte aber trotzdem vor Kälte. Er nahm sie in die Arme. »Ich liebe dich«, sagte er zärtlich. »Du hast wegen der Fledermäuse die Zentralheizung abgestellt.« »Ich muß verrückt sein«, erwiderte Jodie und preßte ihre Wange an sein unrasiertes Gesicht. Oben, im dunklen Gebälk, registrierten winzige Nerven den Temperaturabfall und signalisierten Winterschlaf. Das Kontrollsystem funktionierte. Ein Stockwerk tiefer geriet die Situation zusehends außer Kontrolle. Matthew küßte Jodie auf eine Weise, die Hitze durch ihren Körper strömen ließ. Sie spürte das Pochen seines Herzens auch durch drei Pullover hindurch. »Ich beantrage eine Erlaubnis«, sagte er. »Welche wäre dir lieber, mein Schatz, die Heiratserlaubnis oder eine Erlaubnis, als Fledermausbetreuerin zu arbeiten?« »Natürlich die der Fledermausbetreuerin. Wie lange dauert es, bis eine Lizenz erteilt wird?« 100
»Ungefähr zwei Jahre«, seufzte er, drückte sein Gesicht in ihr kastanienbraunes Haar und atmete den süßen Duft ihrer Haut ein. Jodie folgte der Stimme ihres Herzens, schmiegte sich in seine Arme und konnte ihr wahres Verlangen nicht länger verbergen. »Wenn das so ist«, murmelte sie, »sollten wir Prioritäten setzen und beide Genehmigungen beantragen.«
101
Der Fuchs (Eine wahre Geschichte)
102
Der Leuchtturm in Gringley-on-the-Hill ist der höchste Punkt in Nottinghamshire. Er erhebt sich über das flache Land dieser Grafschaft und der angrenzenden, Lincolnshire und Yorkshire. Das Licht des Turms verkündete alle wichtigen Neuigkeiten – Kriege, Krönungen, königliche Geburten. Rhoda hatte von ihrem Zuhause aus oft das entfernte Leuchten gesehen und war von Ehrfurcht ergriffen gewesen, daß so großartige Ereignisse in der Welt passierten. In dieses Dorf, Gringley-on-the-Hill, war die achtjährige Rhoda geschickt worden. Das war das große Ereignis ihres Lebens. Sie sollte bei ihrem Onkel und ihrer Tante Arrand auf deren Farm, die ihr Onkel auf dem Grundbesitz des Herzogs von Portland gepachtet hatte, wohnen. In der Familie war es Brauch, Tanten und Onkel mit dem Nachnamen anzureden, und Rhoda hätte sich niemals eine Vertraulichkeit erlaubt. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie die Vornamen ihrer Verwandten kannte. Sie war als Trösterin dorthin geschickt worden, ein schmächtiges Mädchen mit langem dunkelbraunem Haar, das glatt herabfiel und ihr ernstes junges Gesicht wie ein seidener Vorhang umrahmte. Lizzie Arrand, die einzige Tochter des Farmers und seiner Frau, die ungefähr in Rhodas Alter gewesen war, war an einem Fieber gestorben. Deshalb war Tante Arrand Rhodas Gesellschaft sehr willkommen, denn das Mädchen half ihr über den traurigen Verlust ihrer Tochter hinweg. Rhoda war von ihrem Zuhause in Gunthorpe, einem kleinen Dorf am Fluß, sechs Meilen entfernt, zu Fuß nach Gringley-onthe-Hill gegangen. Als sie sich der Farm näherte, blieb sie stehen, um durch das Eisengitter in den Garten des Pfarrhauses zu schauen und die Pfauen zu bewundern. Noch nie habe ich so schöne Vogel gesehen, dachte sie, als die Pfauen ihr schillerndes Gefieder ausbreiteten. Der Pfarrei gegenüber lag das Farmhaus, in dem Rhoda leben würde. Von dort aus würde sie die Pfauen täglich bewundern können. Das war ein erfreulicher und aufregender Gedanke. Das Farmhaus war ein zweistöckiges Ziegelgebäude, an das sich ein Schafspferch, ein Kuhstall und Schweineställe anschlossen. Die Küche mit ihrem gefliesten Fußboden, den 103
getünchten Ziegelwänden, die so dick waren, daß sich ein Kind im Wandschrank verstecken konnte, und dem großen Schiebefenster, auf dessen Sims Pflanzen und Zierstücke standen, war das Herz des Farmhauses. Der große Holztisch war fast weiß geschrubbt, die Sitzbank mit der hohen Rückenlehne hatte einen Sockel, um die Füße vor Zug zu schützen. Es gab einen Holzstuhl und einen dreibeinigen Hocker, einen Flickenteppich als Kaminvorleger und den alles dominierenden Kochherd. Der Herd war ein enormes schwarzes Ungetüm und hatte an der einen Seite des Feuerrosts einen Boiler und an der anderen den Ofen. Dieser Herd fiel Rhoda sofort auf, als sie, in ihren besten Raglanmantel eingehüllt, das Haar unter einer wollenen Schottenmütze versteckt, das Haus betrat. »Wie ich sehe, bewunderst du meinen Herd«, sagte Tante Arrand. »Dein Gesicht spiegelt sich im Metallrahmen, den ich stets auf Hochglanz poliere. Das kannst du in Zukunft am Samstag tun.« Rhoda erwiderte nichts, weil sie überlegte, wo sie schlafen würde. In Lizzies Zimmer? Hoffentlich nicht. Später entdeckte sie, daß ihre Tante das kleine Fenster in Lizzies Zimmer Tag und Nacht offenließ, weil es auf den Friedhof hinausging, wo Lizzie begraben lag, und sie den Gedanken, ihre Tochter auszusperren, nicht zu ertragen vermochte. Tante Arrand wies Rhoda ein anderes Zimmer zu, aus dessen winzigem Fenster sie die weiten rotbraunen Felder ihrer Heimat sehen konnte. Sie sehnte sich nach dem Wind, dem flachen Land und den langen geraden, von Geißblatt und Feldblumen gesäumten Straßen zurück. Zum wöchentlichen Arbeitsablauf auf der Farm gehörte das gründliche Putzen der Küche am Samstag. Der Herd wurde mit Graphit geschwärzt und wie der Metallrahmen auf Hochglanz poliert, daß man sich darin spiegeln konnte. Der geflieste Boden wurde gescheuert, bis er glänzte. Diese Arbeiten waren beschwerlich, und Rhoda mußte helfen. Der Holztisch wurde für das Backen der wöchentlichen Ration Brot hergerichtet. Rhoda liebte den Backtag Sie liebte den Duft des quellenden Hefeteigs und sah ihrer Tante gern dabei zu, wie sie mit ihren 104
kräftigen Schlägen den Teig zurechtknetete. Und sie liebte die krustigen braun gebackenen Laibe, die dampfend aus dem Ofen geholt und in langen Reihen auf den Tisch gelegt wurden. Tante Arrand buk nie weniger als zwei Dutzend Laibe, zusätzlich zu Brötchen, Teegebäck, englischen Kuchen, Fruchttörtchen und manchmal großen Obstkuchen. Die Brötchen waren für den Tee am Samstagnachmittag bestimmt. Die Teemahlzeit am Samstag war etwas Besonderes. Onkel Arrand brachte geräucherten Hering vom Markt mit, und die flachen runden, tellergroßen Brotfladen wurden dick mit hausgemachter Butter bestrichen. An einem Samstagmorgen Anfang November fieberte Rhoda vor Erwartung. Ihre Tante hatte ihr gesagt, daß ein Jagdtreffen stattfinden würde. Ein derartiges Ereignis hatte Rhoda noch nie zuvor erlebt. Es war ein sonniger, frostiger Morgen, und die Bäume leuchteten in den Goldtönen des Herbstes. Onkel Arrand hatte eine Holzkiste an die Mauer, die den Farmhof vom Kirchhof trennte, gestellt, damit Rhoda das Jagdtreffen beobachten konnte. Zitternd vor Kälte und Aufregung stand sie auf der Kiste. Die mächtigen, schimmernden Pferde mit ihren Reitern versammelten sich vor dem White Hart Inn auf der Hauptstraße. Die Reiter trugen rote Jagdröcke, und die Damen sahen in ihrer grünen oder schwarzen Reitkleidung sehr elegant aus. Die Meute von ungefähr dreißig Jagdhunden tobte schwanzwedelnd vor Aufregung über die bevorstehende Jagd umher. Das Geräusch einer sich nähernden Kutsche löste erwartungsvolle Spannung aus. Die Hunde begannen zu kläffen, denn die Ankunft dieses Gefährts bedeutete das Startsignal für die Jagd. »Was passiert denn jetzt?« fragte Rhoda neugierig. Tante Arrand war in den Hof gekommen, um frische Luft zu schnappen. Die Hitze in der Küche war beinahe unerträglich. Sie hatte schon viele Jagdtreffen erlebt, fand das Ereignis aber noch immer beeindruckend. »Das ist die Kutsche Ihrer Ladyschaft, der Herzogin von Portland«, antwortete sie. »Schau genau hin, damit dir nicht 105
entgeht, wie die Herzogin direkt aus der Kutsche auf ihr Pferd steigt.« Rhoda beobachtete mit großen Augen, wie sich die fürstliche Gestalt in bauschigen Röcken und mit schwarzen Schleiern vorm Gesicht geschickt in den Sattel schwang. »Was trinken die Reiter jetzt, Tante?« »Das ist der Bügeltrunk.« »Was ist ein Bügeltrunk?« »Du stellst zu viele Fragen, Mädchen. Sie reiten bald davon, also komm rein. Wir haben noch genug zu tun.« Aber Rhoda blieb noch eine Weile auf ihrer Kiste stehen. Die Reiterschar setzte sich in Bewegung, die Hufe der Pferde klapperten über das Kopfsteinpflaster, und dann ertönte das Jagdhorn des Jagdherrn. »Oh, wie aufregend«, sagte Rhoda. »Ja, aufregend ist so eine Jagd schon«, erwiderte Tante Arrand. »Aber nicht für den Fuchs.« Tante Arrand war keine große Frau. Sie trug eine dunkle Bluse zu einem langen Rock und darüber eine gestärkte weiße Schürze. Ihr ergrauendes Haar war in einem straffen Knoten im Nacken zusammengefaßt. Ein Häubchen aus Baumwolle hinderte widerspenstige Haarsträhnen daran, ihr ins Gesicht zu fallen, das von der Hitze des Ofens gerötet war. Rhoda trug ein Wollkleid, darüber eine saubere Schürze und hatte lange Wollstrümpfe und Stiefel an. Außer diesem Kleid besaß sie noch eins für die Schule und ein Sonntagskleid. Der Tag verging mit Hausarbeit und Brotbacken. Die knusprigen Laibe auf dem Holztisch waren ein großartiger Anblick. Rhoda hatte auch einen Laib geformt, der zwar etwas kleiner und unförmiger war, weil er nicht in den Brotkorb gepaßt hatte, aber sie war trotzdem stolz darauf. Stolz wie ein Pfau, dachte sie. Das Feuer, das zum Brotbacken angefacht worden war, brannte jetzt langsam nieder. Die Tür der Backröhre stand offen, damit der Ofen auskühlen konnte. Tante Arrand saß auf der Sitzbank und legte die Füße auf einen Stuhl. Sie seufzte vor Erleichterung. »Mach uns eine Tasse Tee, Mädchen. Die haben wir verdient«, sagte sie. »Dein 106
Laib sieht gut aus. Eines Tages wirst du einem jungen Mann eine treffliche Frau sein, Rhoda.« Rhoda wandte sich ab und setzte den Teekessel auf. Ihr Leben war schon verplant. Sie würde in einem, der großen Häuser die Stelle eines Hausmädchens antreten und mit achtzehn oder so einen Farmer oder einen Farmarbeiter heiraten, der Geld für ein eigenes Stück Land sparte. Aber Rhoda hatte andere Gedanken im Kopf, obwohl sie erst acht Jahre alt war. Sie las gern, sie erfand gern Geschichten, sie mochte Zahlen und konnte schneller als ihre Lehrerin rechnen. Im Leben gab es doch bestimmt mehr Möglichkeiten, als Herde zu putzen und Fußböden zu schrubben. Es war schon spät am Nachmittag. Tante Arrand hatte gerade die Brotlaibe in die tiefen Wandschränke geschoben, als sich draußen ein heftiger Tumult erhob. Rhoda lief zum Fenster. Die Jäger waren zurückgekommen und versammelten sich auf ihrem Hof. Die Reiter zügelten ihre mit den Hufen stampfenden Pferde, die mit bebenden Flanken und schnaubenden Nüstern dastanden. Die Jagdhunde rasten kläffend über den Hof. Rhoda schnappte erstaunt nach Luft. Ihre Augen weiteten sich, und sie betrachtete fasziniert die farbenprächtige Szene. Dieser Anblick war sogar noch berauschender als der der Pfauen. »He, was soll das?« rief Tante Arrand. »Was haben die Jäger auf unserem Hof zu suchen?« Sie hatte sich gerade vom Tisch abgewandt, als ein völlig durchnäßter, erschöpfter und verdreckter Fuchs im Türrahmen auftauchte. Er sah die beiden Menschen mit einem verzweifelten Blick aus seinen bernsteinfarbenen Augen an. Sein schmutziger rostroter Schwanz fegte kraftlos über den Boden. Rhoda hielt den Atem an. Der Fuchs trottete an ihr vorbei und sprang in die Backröhre. Tante Arrand schlug blitzschnell die Tür zu und stellte sich davor. In diesem Augenblick spürten die Jagdhunde die Fährte wieder auf und kamen kläffend in die Küche gerannt.
107
Die Hölle brach los. Rhoda war in Sekundenschnelle auf dem Hocker und raffte vor den Hunden mit ihren schmutzigen Pfoten und geifernden Schnauzen ihre Röcke. Die Meute beschnüffelte alles in der Küche, auch das frischgebackene Brot auf dem Tisch. Vor der Hitze, die der Ofen ausstrahlte, wich sie allerdings zurück. Tante Arrand blieb vor dem Herd stehen. Der Jagdherr kam mit großen Schritten in die Küche und schäumte vor Wut. Er drängte sich durch die Hundemeute und klatschte mit der Reitgerte ungeduldig gegen seinen Oberschenkel. »Wo ist dieser verdammte Fuchs?« bellte er wie einer der Hunde. »Er ist hier drinnen. Ich habe ihn reinlaufen sehen. Sprich, Frau. Wo ist er?« »Halten Sie Ihre dreckigen Hunde von meinem Brot fern«, entgegnete Tante Arrand und überging die Frage. »Ich will nicht, daß eine Meute Jagdhunde mein Brot beschnüffelt. Und sehen Sie sich bitte meinen Fußboden an!« »Zur Hölle mit deinem Fußboden, Frau. Wo ist der Fuchs? Die Hunde wissen, daß er hier drin ist. Sie riechen ihn«, brüllte der Jagdherr. »Meine Nichte Rhoda und ich haben heute morgen zwei Stunden den Fußboden geschrubbt. Sehen Sie ihn sich jetzt an! Wir müssen noch einmal die Küche putzen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie endlich Ihre Hunde raustreiben würden«, empörte sich Tante Arrand. Ein Jugendlicher stand in der Türöffnung. Es war Farrow Gabertus, der zum erstenmal an der Jagd teilnahm. Sein Gesicht würde mit dem Blut des Fuchses beschmiert werden, wenn die Jäger ihn fingen. Seine Augen glänzten vor Aufregung. Farrow blickte zu dem Mädchen auf dem Schemel, das seine Röcke gerafft hatte und festhielt. Er hatte es schon öfter gesehen, wie es über den Zaun des Kirchhofs spähte und die Pfauen betrachtete. Er wußte, daß sie Rhoda Robinson hieß, aus Gunthorpe gekommen und hier war, um ihrer Tante Gesellschaft zu leisten. Er wußte alles. Er war wißbegierig. »Wir haben den ganzen Tag diesen Fuchs gejagt«, schrie der Jagdherr wütend. »Und Sie denken nur an Ihren Küchenboden!« 108
Er drehte sich um und sah Rhoda auf dem Schemel stehen. Ihr weiches dunkles Haar hing ihr über die Schultern, und ihre klaren braunen Augen sahen ihn mit einer Direktheit an, die für ein Kind ungewöhnlich war. »Nun denn, junge Dame, vielleicht hast du mir etwas zu sagen, nachdem diese Frau nur über ihren Fußboden reden kann. Bestimmt hat ein aufgewecktes kleines Ding wie du gesehen, wohin der Fuchs gelaufen ist.« Der Jagdherr war ein hochgewachsener Mann, aber der Schemel verlieh Rhoda Größe, und sie hielt seinem Blick stand. »Komm schon, Mädchen. Hast du deine Zunge verschluckt? Vielleicht bringt dich das zum Sprechen.« Er holte aus seiner Westentasche einen Penny, den er Rhoda hinhielt. Er funkelte, als wäre er verzaubert. Rhoda betrachtete ihn – und sah vor ihrem geistigen Auge, was sie damit kaufen könnte: ein Buch, eine Haarschleife, ein Stück Spitze für ein neues Taschentuch, aber hauptsächlich das Buch. »Komm schon, Mädchen. Rede endlich. Was ist mit dir los? Bist du taub?« Die magische Vision verblaßte, und statt dessen sah Rhoda den schönen, erschöpften Fuchs mit den verzweifelten Augen vor sich. Sie stellte sich das entsetzliche Gemetzel durch die Jagdhunde hier in der Küche vor. Sie schürzte die Lippen und preßte die Zähne fest zusammen. Aus ihrem Mund würde kein Wort kommen. »Dumme Weiber! Meine Geduld ist am Ende«, bellte der Jagdherr. Tante Arrand wich nicht von ihrem Platz vor dem Herd. Ihr wurde immer heißer. Schweißtropfen glänzten trotz der kalten Luft, die zur Tür hereinkam, auf ihrer Stirn. »Anscheinend ist uns der Fuchs entwischt, Sir«, sagte Farrow. Seine Stimme quiekste und kippte um. Er war wohl gerade im Stimmbruch. Rhoda hielt den Blick gesenkt, damit er das amüsierte Funkeln in ihren Augen nicht sehen konnte. »Hol’s der Teufel! Wir haben einen ganzen Tag vergeudet. Ich weiß nicht, was Ihre Ladyschaft dazu sagen wird. Komm mit, Farrow.« 109
Der Jagdherr marschierte durch die Hundemeute hindurch, die seinem Befehl widerstrebend folgte, zur Küche hinaus. Noch immer schnüffelnd und kläffend liefen die Hunde hinter ihm her. Tante Arrand wartete, bis alle Reiter fort waren. Mit dem Schürzenzipfel wischte sie sich über Gesicht und Hals. »Besser ein gebratener Fuchs im Ofen als ein Gemetzel in meiner Küche«, sagte sie ruhig. Sie trat beiseite und öffnete die Ofentür. Es würde kein hübscher Anblick sein. Ein wunderschöner rostfarbener Fuchs sprang heraus und schüttelte sich. Der Pelz war getrocknet, und er hatte den Schmutz abgeputzt. Ohne den beiden einen Blick zuzuwerfen, lief er mit federndem Gang zur Küche hinaus, quer über den Hof und über die Felder von Gringley-on-the-Hill in den dahinterliegenden Wald. »Nein, so was!« rief Tante Arrand aus. »Und er hat sich nicht einmal bedankt.« Aber sie lachte. Es war das erstemal, daß Rhoda ihre Tante seit Lizzies Tod hatte lachen sehen. »Komm runter vom Schemel, Mädchen. Wir müssen die Küche noch einmal putzen.« Als Onkel Arrand mit dem Raucherhering vom Markt zurückkehrte, mußte auch er über die verrückte Geschichte lachen. »Der Fuchs wird es dir danken, indem er heute nacht deine Gänse stiehlt«, sagte er zu seiner Frau. Aber das passierte nicht. Tante Arrand verlor keine einzige Gans – weder in dieser noch in einer anderen Nacht. Rhoda lebte zeitweise noch bei drei anderen Tanten. Sie war hochbegabt und immer Klassenerste. Mit fünfzehn kam sie zu Tante Arrand zurück. Sie war groß geworden und brauchte nicht mehr auf eine Kiste zu steigen, um das Jagdtreffen zu beobachten. Ihr Haar hing noch immer glatt herunter, aber bald würde sie es hochstecken müssen. Manchmal durfte sie zusammen mit ihrem Onkel auf dem Karren zum Markt fahren. Und an diesem Sommertag wollte sie Einkäufe für ihre Tante erledigen. Rhoda trug ein blaues 110
Baumwollkleid und eine frisch gestärkte weiße Schürze. Ehe sie vom Karren stieg, steckte sie sich ein Gänseblümchen hinters Ohr. Zwischen den Marktständen wimmelte es von Menschen und Tieren. Ein Mann spielte auf einem Dudelsack. Zigeuner verkauften handgearbeitete Wäscheklammern und Brunnenkresse. Rhodas Augen leuchteten vor Aufregung. Da merkte sie, daß ein junger Mann sie anstarrte. Er war groß und schlaksig und hatte von der Arbeit im Freien ein gebräuntes Gesicht. Sein Blick drückte aus, daß er sie kannte. Er kam zum Karren, und Rhodas Pulsschlag beschleunigte sich. Ihr Onkel hatte ihr den Rücken zugewandt und unterhielt sich mit einem Farmer. »Hallo«, sagte der junge Mann. »Du bist das kleine Mädchen, das den Penny nicht angenommen hat. Beobachtest du noch immer die Pfauen?« Rhoda errötete. Jetzt wußte sie, wer er war. Er war Farrow Gabertus. Größer, breitschultriger und mit einer tiefen Stimme und starkem Lincolnshire-Akzent. Sie schwieg. Es gab nichts zu sagen. Er sah sie keck und mit belustigt funkelnden Augen an. »Ich wußte, daß der Fuchs in der Küche war«, fuhr er grinsend fort. »Ich habe ihn durchs Fenster gesehen. Er ist in den Backofen gesprungen.« Rhoda holte tief Luft. »Warum hast du dann nichts gesagt?« fragte sie, als sie endlich ihre Stimme wiedergefunden hatte. »Ich hatte die Wahl«, antwortete Farrow. »Was wünschte ich mir mehr, das Mädchen oder den Fuchs?« Er streckte ihr seine kräftige Hand hin und half ihr vom Karren. Ihre weiche Hand paßte in seine wie in einen Handschuh. Sie konnte sich dem Charme seines Lächelns nicht entziehen. Ihr war zumute wie damals, als sie zum erstenmal das prächtige Gefieder der Pfauen gesehen hatte. »Allerdings mußte ich es mir zweimal überlegen, Rhoda«, fügte er hinzu. Die Füchse kamen oft zum Hügelkamm und blickten zur Farm hinunter. Aber einer erinnerte sich an das Geschehene und jagte das Rudel mit einem kurzen Bellen in die Hügel zurück. 111
Whittington
112
Niemand weiß wirklich, ob ich existiert habe oder nicht. Meine Geschichte gehört zu einem Sammelsurium von Sagen, in denen Katzen entweder Glücksbringer oder Unglücksboten sind. Meine Knochen wurden in seiner Gruft gefunden. Eigentlich waren es keine Knochen, sondern eher mumifizierte Überreste, aber darüber denke ich nicht gern näher nach. Ich war viel größer als die niedlichen, vor dem offenen Kamin liegenden und fernsehenden Katzen des 20. Jahrhunderts. Ich hatte längere Beine und einen größeren Körper, der mehr einem kleinen Hund ähnelte. Mein Fell war schwarzbraun. Mein Aussehen hätte kein Kalenderblatt geziert. Richard Whittington, in dessen Grabstätte ich gefunden wurde, war ein freundlicher, fleißiger und wohltätiger Mann. In seinem Testament bestimmte er, daß an seinem Todestag jeder Mann, jede Frau und jedes Kind einen Penny bekomme, und jede Woche sollten an die armen Menschen in den schauderhaften Gefängnissen von London vierzig Shilling verteilt werden, bis die Summe von fünfhundert Pfund aufgebraucht sei. Und mehr, viel mehr... Er bekleidete dreimal das Amt des Oberbürgermeisters von London, was für eine Katze allerdings von geringer Bedeutung ist. Ich weiß nur, daß er unter der extremen Kälte im Winter des Jahres 1422 sehr gelitten hat, als sogar die Themse zufror, und im März des Jahres 1423 während einer Grippeepidemie gestorben ist. Wir haben nicht immer im Frieden nebeneinander geruht. Im Jahre 1666 zerstörte eine Feuersbrunst und im Jahre 1944 eine Bombe die Kirche, und einmal raubte ein Geistlicher die Bleiplatten, die meinen armen Herrn in seinem Grab schützten. Richards Leben begann nicht im Reichtum. Er mußte für Kost und Logis hart arbeiten. Kurz vor seiner Geburt befand sich England in einem desolaten Zustand. Die Pest, der Schwarze Tod, hatte die Bevölkerung vor allem in den Städten drastisch dezimiert. Das war vor meiner Zeit gewesen, sonst hätte ich mit den Ratten aufgeräumt. Manchmal noch höre ich die Totenglocken. Damals war mehr Arbeit da als Männer, die sie erledigen konnten. Politiker brauchten bei Wahlen keine Arbeitslosen113
zahlen aufzuführen. Ganz im Gegenteil. Es gab nicht genug Maurer, Lehrlinge, Dienstboten oder Landarbeiter. Frauen mußten auf den Farmen arbeiten. Jeder Versuch, den Armen eine Ausbildung zukommen zu lassen, wurde unterbunden. Richard Whittington entstammte dem Landadel. Er war der dritte Sohn von Sir William Whittington of Pauntley and Solers Hope aus Herefordshire – ein Junge, der auf Coberley Hall eine unglückliche Kindheit verbracht und keine Zukunftsaussichten hatte. Vielleicht rührte sein Mitgefühl für die Hilflosen und Armen daher, weil seine Jugend so traurig gewesen war. Als dritter Sohn hatte er keinen Anspruch auf ein Erbe und begab sich nach London, um eine Lehrstelle bei dem Seiden- und Textilienhändler Sir Ivo Fitz Waryn zu bekommen, der nur Söhne aus achtbaren Familien annahm. Als dieser ihn anstellte, schätzte sich der verwirrte, erst dreizehn Jahre alte Junge deshalb überaus glücklich. Er mußte zwei Shilling und Sixpence bei Antritt und weitere drei Shilling und vier Pence bei Abschluß seiner Lehre – sieben Jahre später – zahlen. Deswegen war der Penny, den er für mich auf einem Straßenmarkt zahlte, ein hoher Preis für eine Katze. Ich kann mich an diesen Jahrmarkt noch erinnern. Hitzewellen waberten über der Stadt an diesem heißen, feuchten Tag. Oh, es war so heiß. Der Jahrmarkt fand in einer Seitengasse am Fleet River statt. Händler und müßige Spaziergänger drängten sich zwischen den Ständen. Die Bierverkäufer machten gute Geschäfte und löschten den Durst der Londoner mit Bier, das aussah und roch, als bestünde es zur Hälfte aus Flußwasser. Der Gestank, den alle diese Menschen und Tiere verströmten, war unglaublich. Im Binsenkorb war es erstickend heiß, und ich war am Verdursten. Es gab auch kaum Schatten, weil mich der Händler in die pralle Sonne vor die Körbe mit Welpen, Hühnern und Singvögeln gestellt hatte. Ich war erst ein paar Wochen alt. Richard war nach der Erledigung eines Botengangs auf dem Rückweg zum Haus des Textilienhändlers, als er ein klägliches Maunzen hörte.
114
»Dieses Kätzchen stirbt«, sagte er, blieb stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Retten Sie’s, Sir. Sie haben ein freundliches Gesicht.« »Ja, vielleicht habe ich ein freundliches Gesicht, aber mein Zuhause ist weit weg, auf dem Land. Ich bin Lehrling hier in London.« »Eine Katze mehr in der Küche Ihres Meisters schadet bestimmt nicht. Hält Mäuse und Ratten in Schach.« Dick dachte an die Pest und nahm eine kleine Münze aus seinem Geldbeutel. »Einen Penny«, sagte der Händler, der das Mitgefühl in den Augen des Jungen sah. »Einen Penny für ein Kätzchen, das mir unter den Händen wegsterben wird?« Ich öffnete mein trockenes, rosafarbenes Mäulchen zu einem schwachen Protestschrei. Ich wollte nicht sterben. Sekunden später hatte ein Penny den Besitzer gewechselt. In jenen Tagen war das eine Menge Geld. Sogar Richard dachte daran, was er für einen ganzen Penny hätte kaufen können. Er goß ein bißchen Wasser aus einem Lederbeutel in seine Mütze und drückte mein Gesicht hinein. Sollte ich jetzt ertränkt werden? Meine Gedanken verschwammen. Aber das Wasser erquickte mich, kühlte mein Fell, und bald leckte ich gierig mit meiner kleinen ausgetrockneten Zunge. Nie werde ich den Geschmack des Wassers aus der Mütze meines neuen Herrn vergessen, das nach seiner Haut, seinem Haar und seinem Schweiß schmeckte. Er steckte mich unter sein Hemd und trug mich zum Haus des Textilienhändlers. Dort lebte ich in der Küche und verdiente meinen Unterhalt durch das Fangen von Mäusen. Mein Fell wurde dicht und glänzend, und obwohl ich keinen Namen hatte, wußte jeder, daß ich Richards Katze war. Im Haus wohnten noch andere Lehrlinge, und einer von ihnen war ein unfreundlicher Bursche, der mir Tritte versetzte, wenn niemand hinsah. Er hatte ein gemeines Gesicht mit einer spitzen Nase und einem verkniffenen Mund und war auf Dicks freundliches Wesen und seinen beruflichen Erfolg eifersüchtig. 115
Ich verstand nichts von Spekulationsgeschäften. Mein Leben drehte sich ums Essen, Schlafen, Jagen und das Vergnügen, ein paar Minuten mit Richard das Garnspiel zu spielen und mich von ihm streicheln zu lassen. Den Lehrlingen wurde die Möglichkeit gegeben, etwas in ein Geschäft zu investieren, wie zum Beispiel Anteile an einem Handelsschiff zu erwerben, das von England aus in fremde Länder segelte. Richard wurde eine Beteiligung an der Unicorn angeboten, die bald nach Nordafrika auslaufen würde. Da er jedoch über keine Mittel verfügte, konnte er die Chance nicht nutzen. Aber der boshafte Lehrling, der Richard und mich um das Vergnügen beneidete, das wir miteinander hatten, heckte einen Plan aus. Ich schlief gerade vor dem herunterbrennenden Küchenfeuer, als mir plötzlich ein Sack übergestülpt wurde. Ich wehrte mich mit Zähnen und Krallen, doch der Sack wurde zugebunden und fortgetragen. Ich schrie nach Richard, aber er konnte mich nicht hören. Wahrscheinlich war er meilenweit entfernt und arbeitete für seinen Herrn, während ich an einen fremden Ort verschleppt wurde. Meine neue Umgebung schwankte und schlingerte so stark, daß mir übel wurde. Der Gestank war widerlich. Es roch nach Salz und... diesen Geruch kannte ich... nach Ratten. Ein Matrose hörte mein klägliches Maunzen und ließ mich aus dem Sack. Bald war ich der Liebling der Schiffsmannschaft. Obwohl ich mein altes Leben vermißte, machte ich das Beste aus der neuen Situation und rottete die Ratten aus. Mit großer Zufriedenheit sah ich zu, wenn die toten Biester über Bord geworfen wurden. »Ist das nicht Whittingtons Katze?« sagte jemand, der mich an der Zeichnung meines Fells und an meinem Heldenmut erkannte. »Er war zu arm, um einen Anteil zu erwerben. Wie mir scheint, hat er sich mit seiner Katze an diesem Geschäft beteiligt.«
116
Das Handelsschiff legte an der Küste Nordafrikas an. Der Kapitän lud den König und die Königin des Landes zum Essen an Bord. Doch zusammen mit der illustren Gesellschaft kamen auch ungebetene Gäste aufs Schiff. Als dem königlichen Paar der Fleischgang serviert wurde, huschten Ratten mit gierig funkelnden Augen durch die Kajüte. »Hol die Katze!« brüllte der Kapitän entsetzt und peinlich berührt. Aber das Königspaar beobachtete hingerissen, wie geschickt ich die Ratten fing und mit einem Nackenbiß tötete. Der König wollte mich kaufen und bot als Preis eine große Schatulle voller Edelsteine. »Unser Land wird von Ratten geplagt. Dieses seltsame Tier ist unbezahlbar«, sagte die Königin und berührte sanft meinen Kopf. Der Kapitän erklärte, daß er mich nicht verkaufen könne, weil ich von Richard Whittington als Beteiligung an den Handelsgeschäften eingesetzt worden sei. Schließlich einigte man sich darauf, daß ich an Land bleiben sollte, bis das Schiff von der Handelsreise entlang der Küste zurückkehrte und die Heimfahrt antrat. Ich wußte nichts von diesem Handel, sondern merkte nur, daß ich wieder einmal an einem mir unbekannten, feuchten Ort Ratten ausrotten mußte. In diesem fremden Land fand ich allerdings einen süßen Trost – eine kleine wilde grau gestreifte Katze, mit der ich eine neue Dynastie gründete. Die Zeit der Abreise rückte näher, und ich verabschiedete mich von meinen herumtobenden Kätzchen. Das Königspaar vergaß nicht, dem Kapitän das Schatzkästchen auszuhändigen, der es in seinen Safe stellte. Als wir endlich in London einliefen und die Themse hinauffuhren, zitterte mein Fell vor Aufregung. Ich konnte es nicht mehr erwarten, Richard und mein Zuhause wiederzusehen. Kaum hatte das Schiff angelegt, sprang ich ans Ufer und raste mit hocherhobenem Schwanz die Leadenhall Street hinauf. Aber mein Herr war nicht da. Ich konnte ihn nirgends finden.
117
Alice Fitz Waryn, die Tochter des Händlers, weinte leise vor sich hin. »Er ist fort«, schluchzte sie immer wieder in mein Fell. »Und ich bin daran schuld.« Ich befreite mich aus ihren Armen, nahm die Witterung auf und folgte Richards Spur. Schließlich fand ich ihn ein paar Meilen außerhalb Londons, am Fuß des Highgate Hill, wo er neben einem Meilenstein saß. Traurig hatte er den Kopf in die Hände gestützt. »Es ist hoffnungslos«, stöhnte er. »Ich werde für sie nie gut genug sein. Ihr Vater wird niemals in eine Heirat einwilligen.« Wie konnte ich, ein Kater, ihm sagen, daß auch seine Liebste um ihn weinte und daß der Kapitän ein Schatzkästchen für ihn in Verwahrung genommen hatte? Ich konnte mich nur an seinen Knöcheln reiben, sein Kinn anstupsen, meine Pfoten auf seine Knie stemmen und schnurren. In meiner Hilflosigkeit schickte ich ein Stoßgebet zum Himmel. »Nun, Kater, wenigstens freust du dich, mich wiederzusehen«, sagte Richard geistesabwesend und streichelte mich liebevoll. »Du hast mir so gefehlt.« Dann hörten wir die Glocken der Kirche St. Mary le Bow, deren fröhlicher Klang in unseren Ohren widerhallte und uns eine Botschaft übermittelte. Glocken waren die Stimme Gottes auf Erden. Und der Rest ist Geschichte. Richard eröffnete mit zweiundzwanzig sein Geschäft in London und verkaufte Samt und Damast, Seide und Wollstoffe an die Reichen. Die königliche Familie zählte zu seinen Stammkunden. Er diente drei Königen – Richard II., Henry IV. und Henry V. Mit dem Verkauf von zwei Gewändern aus Gold an den König und Hochzeitskleidern für zwei Töchter von Henry IV. legte er den Grundstein zu seinem Vermögen. Er wurde Bankier des Königs, lieh ihm riesige Summen und finanzierte mehrere Kriege. Er heiratete seine Alice und wurde dreimal Oberbürgermeister von London und im Jahre 1416 Parlamentsmitglied. Richard war ein guter Mann, der ungeheure Macht besaß – im Handel – wie in der Politik.
118
In seinem Testament verfügte er einen allgemeinen Schuldenerlaß. Mit seinem Erbe wurden das Whittington College, ein Krankenhaus und Armenhäuser gebaut, im Gefängnis von Newgate menschenwürdige Zustände geschaffen, das St. Bartholomew’s Hospital in Smithfield und das Rathaus renoviert und Bibliotheken eingerichtet sowie ein neues Tor – West Gate – in der Stadt London gebaut. Damals lebte ich schon nicht mehr, aber meine Nachkommen dienten ihm gut. Richard Whittington hatte ein Haus in Gloucester besessen. Während Renovierungsarbeiten im Jahre 1862 fand man die Statue eines Jungen, der eine Katze im Arm hielt. Sie wurde unter dem Steinfußboden des Kellers entdeckt. Jetzt liegen wir vereint in einer Gruft in der wiedererbauten St. Michael Paternoster Royal Church in der Paternoster Lane. Eine Frau, die Katzen liebt, ist kürzlich gekommen und hat ihre Hand auf den kalten Stein gelegt. Ich spürte, wie die Wärme ihrer Liebe in mein steifes, uraltes Fell strömte. Sie sprach leise und sanft: »Ich bin überzeugt, daß du gelebt hast.« Ich wollte ihr von allem berichten, aber wie konnte ich ihren Geist erreichen? Wie konnte ich ihr meine Geschichte erzählen und ihr Beweise von meiner Existenz geben? Ich versuchte es dennoch. Und meine Gedanken ließen sie diese Worte finden.
119
Topper
120
Als Emma Carlisle in das Stone Bank Cottage einzog, wußte sie nicht, daß Topper mit einzog. Das Stone Bank Cottage war kein traditionelles Rosen-um-die-Tür-Cottage, sondern eher ein normales Steinhaus mit einem steilen Schieferdach, und es stand an einem abgelegenen Feldweg. Die Beschreibung des Grundstücksmaklers entsprach genau den Gegebenheiten. Das Cottage hatte winzige Zimmer, primitive Sanitäreinrichtungen und einen Garten mit Charakter – was bedeutete, daß er von Unkraut überwuchert war. Von Topper jedoch war keine Rede gewesen. Emma hatte monatelang nach einem Schlupfwinkel gesucht. Nachdem sie ein Jahrzehnt für einen Verlag gearbeitet hatte, griff sie sofort zu, als ihr sechs Monate unbezahlter Urlaub angeboten wurde. Es war die perfekte Gelegenheit, endlich das Buch – eine Geschichte des Strickens – zu schreiben, für das sie schon lange Unterlagen zusammentrug. Es war hoffnungslos, ein Buch in Angriff zu nehmen, solange sie in ihrem kleinen Apartment in London wohnte. Da gab es zu viele Ablenkungen – Freunde, die anriefen und zu Besuch kamen, Filme und Premieren, die nicht versäumt werden durften. Emma wußte, daß sie sich völlig von der Umwelt abkapseln mußte. Das Stone Bank Cottage lag so abgeschieden auf dem Land, daß keiner ihrer Freunde auf die Idee verfallen würde, ganz zufällig vorbeizukommen. Ihre Liebesaffäre mit dem Stricken hatte im Teenageralter begonnen, als eine schlimme Grippe sie ans Bett fesselte. Gelangweilt und rastlos hatte sie in ihrem Zimmer gelegen und konnte wegen ihrer Kopfschmerzen nicht einmal lesen. Ihre Mutter hatte ihr zwei Stricknadeln und ein Knäuel Wolle in die Hand gedrückt. »Strick ein Quadrat für eine Decke, Emma. Der Frauenverein macht Wolldecken für Flüchtlinge. Nimm sechsunddreißig Maschen auf, und strick ein sechzehn Quadratzentimeter großes Viereck«, hatte ihre Mutter vorgeschlagen. »Ich soll sechsunddreißig Maschen aufnehmen? Du machst wohl Witze«, hatte Emma matt erwidert. »Ich weiß doch gar nicht, wie das geht.« 121
»Was bringen sie euch eigentlich in der Schule bei?« Ihre Mutter griff nach den Stricknadeln und der Wolle und nahm die erste Masche auf. »Schau zu.« Nachdem Emma einmal angefangen hatte, konnte sie nicht mehr aufhören. Als sie von der Grippe genesen war und wieder aufstehen durfte, wurde das Stricken zu einer Sucht. Sie fertigte nicht nur ein Quadrat, sondern achtzehn an und erfand immer neue Muster. Danach wurde sie nur noch selten ohne Stricknadeln angetroffen. Sie bekam einen Studienplatz an der Kunstakademie und belegte ein Seminar für Design und Kunsthandwerk. Ihre Lieblingszeitschrift veranstaltete einen Strickwettbewerb, den Emma mit einem einfachen Muster für einen mexikanischen Poncho gewann. Als sie im Verlag ihren Preis abholte, erwähnte sie beiläufig, daß sie auf der Suche nach einem Job sei. Mehrere Wochen später bekam sie ein Schreiben, in dem ihr eine Stelle in der Leserbriefabteilung angeboten wurde. Emma griff sofort zu. Im Verlauf der Jahre brachten ihr harte Arbeit und Tüchtigkeit beruflichen Erfolg. Als Emma zur Lektorin für die Sparte Kunsthandwerk befördert wurde, stieß sie auf das Wort cnyttan. Es war der anglosächsische Ausdruck für Stricken, Binden oder Knüpfen. Dieses Wort entfachte eine Flamme in ihrem Herzen. Plötzlich wurde daraus die Geschichte von Generationen von Frauen, die Kleidung für ihre Männer und Familien anfertigten. Emma verbrachte jede freie Minute mit dem Studium von Büchern, Illustrierten und Zeitschriften und suchte nach den Ursprüngen des Strickens und der Entwicklung von Mustern. Emma unterschrieb den Mietvertrag für das Stone Bank Cottage und packte den Inhalt ihres Aktenschranks, in dem sie über Jahre hinweg Unterlagen und Notizen gesammelt hatte, in Kartons. Sie borgte sich eine elektrische Schreibmaschine, kaufte einen großen Vorrat an Kaffee und Fertigsuppen und begab sich in ihren Schlupfwinkel, um dort zu überwintern. An ihrem ersten Abend im Cottage richtete sie sich einen Teller voller Käsetoasts her und ließ sich auf dem Fußboden 122
nieder, um den enormen Stapel Papiere, den sie mitgebracht hatte, durchzusehen. Das Stricken war älter als schriftliche Geschichtsüberlieferungen und hatte damit begonnen, daß die Menschen Grashalme zu Nestern, Matten und Körben verflochten. Die Schotten hatten als erste Wolle benutzt. Poch, poch. Emma blickte von einem faszinierenden Foto von gestrickten Wollsocken aus dem 4. Jahrhundert auf. Poch, poch. Da war wieder dieses Geräusch. Wahrscheinlich klopfte ein Ast gegen die Fensterscheibe. Sie mußte sich erst an die ländlichen Geräusche gewöhnen. Emma fing an, ein paar Paragraphen des Cappers’ Act von 1571 umzuschreiben. Dieses Gesetz hatte verfügt, daß jede Person, die älter als sechs Jahre war (ausgenommen Dienstmädchen, adelige Damen und Herren, Ritter und Gentlemen, die Grundbesitz im Wert von zwanzig historischen Mark besaßen), an Sonn- und Feiertagen eine dicke Wollmütze, die in England angefertigt worden war, tragen mußte. Ein Verstoß gegen dieses Gesetz wurde mit einer Geldstrafe belegt. Es war schwierig, diesen alten Gesetzestext in einfachem Englisch zu formulieren, und so überhörte Emma die nächsten ungeduldigen Pochgeräusche. In Gedanken versunken und auf der Suche nach passenden Formulierungen, blickte sie sich um und schaute in zwei untertassengroße Augen, die sie durch die Fensterscheibe anstarrten. Ein dicker kleiner Körper hüpfte über den äußeren Fenstersims und pochte mit unverhohlener Neugier an die Scheibe. Es war ein Waldkauz. Emma war kein Landmensch, und für sie gehörten alle Eulenarten zu den Wesen mit den scharfen Schnäbeln, die sich im Flug auf wehrlose Mäuse stürzen und diese verspeisen. Aber das kleine Wesen hier ähnelte überhaupt nicht den Raubvögeln ihrer Vorstellung. Es bibberte vor Neugier und verlangte eingelassen zu werden, als wäre das die normalste Sache der Welt. Emma öffnete vorsichtig das Fenster und spähte hinaus. »Flieg weg«, sagte sie. Der Waldkauz hüpfte sofort herein, setzte sich auf die Rücklehne des Sofas und sprang dann mit einem Satz auf den 123
Fußboden, wo er mit schräg geneigtem Kopf prüfend den Stapel Papiere betrachtete. Nick, nick, sehr interessant, deutete er an. Er pickte mit dem Schnabel ein Blatt auf und begann es zu zerreißen. »Nein, bitte nicht! Das ist eine wichtige Abbildung.« Emma griff nach der Zeichnung einer Strickmaschine, die von William Lee im Jahre 1589 entwickelt worden war, und steckte sie in einen Karteikasten. Der Kauz flog beleidigt und erstaunt über Emmas asoziales Verhalten auf die Stehlampe. »Huhu«, schimpfte er. Emma gab ihm ein leeres Blatt Papier. »Das darfst du zerreißen.« Der Kauz streckte vorsichtig eine Kralle aus und pickte mit dem Schnabel danach, um zu prüfen, ob es eine Falle war. Nachdem er festgestellt hatte, daß dem nicht so war, zerriß er es in winzige Schnitzel, die auf den Teppich schwebten. »Wie ich sehe, haben Sie Topper bereits kennengelernt«, sagte eine Stimme am offenen Fenster. »Soll ich ihn entfernen, ehe er in Ungnade fällt?« Emma war froh, daß die Stimme kühl und distanziert klang. Bis zur Fertigstellung ihres Buchs sollten Männer in ihrem Leben keine Rolle spielen. »Topper? Wollen Sie damit sagen, daß diese Kreatur, die mein Zuhause in Stücke reißt, tatsächlich einen Namen hat?« fragte sie ebenso kühl. »Natürlich hat er einen Namen. Er steht weit oben auf der Evolutionsleiter, weit über den Regenwürmern und dergleichen. Außerdem ist es nicht Ihr Zuhause, sondern meins. Ich bin Daniel Masters, der Besitzer dieses Cottage.« Er bückte sich, um, ohne um Erlaubnis zu bitten, unter dem niedrigen Türbalken hindurch einzutreten. Er war ein schlanker, schlaksiger, dunkelhäutiger Mann, der sich schwer auf einen Stock stützte. »Ich hatte keine Ahnung, daß Sie hier sind«, sagte Emma. »Der Makler hat mir erzählt, Sie würden den Himalaja besteigen.«
124
»Ich habe mit einer Gruppe Australier den Annapurna in Nepal bestiegen, bin aber unglücklicherweise abgestürzt und habe mir ein paar Knochen in meinem Fuß gebrochen.« Das klang nach Untertreibung. Sein Fuß steckte in einem Gips, über den er eine Socke gestülpt hatte. »Wie schrecklich«, sagte Emma. »Möchten Sie Ihr Cottage zurückhaben?« »Nein. Sie können in Stone Bank bleiben. Ich erhole mich bei meiner Mutter im Gartenhaus. Es ist Topper, um den ich mir Sorgen mache.« »Sie machen sich Sorgen um einen Kauz?« »Topper ist verwirrt. Ich habe ihn als Jungvogel bekommen, und seitdem lebt er bei mir. Während meiner Vorbereitungen für die Expedition habe ich ihn dazu ermutigt, sein freies Leben im Wald wiederaufzunehmen. Ich habe nicht geglaubt, daß jemand das so abgelegene Stone Bank mieten würde. Da ich jetzt zurück bin und das Cottage bewohnt ist, glaubt Topper, er könne nach Hause kommen.« Topper flog auf die Schulter des hochgewachsenen Mannes und rieb seinen gelbbraunen Kopf an Daniels Kinn. »Er hat Heimweh«, fügte Daniel hinzu und streichelte das flaumige Gefieder. »Ich habe keine Zeit, Kindermädchen für einen heimwehkranken Kauz zu spielen«, sagte Emma und klaubte emsig Blätter vom Boden auf, wobei ihr das Haar übers Gesicht fiel. »Sie müssen andere Vorkehrungen treffen.« »Das ist schade. Ich glaube, Topper hat Gefallen an Ihnen gefunden. Im Gartenhaus kann er nicht leben. Meine Mutter hat Katzen.« »Reden Sie ihm gut zu«, sagte Emma. »Vielleicht finden Sie zu einem Kompromiß. Ich kann Ihnen wirklich nicht helfen.« Daniel Masters blieb auf dem Weg nach draußen noch einmal stehen. Er schien nur widerstrebend zu gehen. »Übrigens... sollte Lucinda anrufen, sagen Sie ihr bitte, ich sei noch beim Bergsteigen.« Emma hockte sich auf ihre Fersen. Sie hatte Stone Bank gemietet, um Ruhe und Einsamkeit zu finden, und mußte schon jetzt mit Besuchen vom hinkenden Hausherrn, mit Anrufen von 125
Lucinda und dem Klopfen eines zweibeinigen Reißwolfs am Fenster rechnen. »Das ist ein bißchen zuviel verlangt«, sagte sie. »Ich bin hierhergekommen, um ein Buch zu schreiben, aber mir scheint, ich muß einen Kauz verhätscheln und Nachrichten von Ihrer Freundin entgegennehmen.« »Exfreundin«, verbesserte er und verschwand. Nach dem Aufwachen am nächsten Morgen genoß Emma erst einmal den Luxus, nicht ins Büro gehen zu müssen. Gleich darauf kamen ihr Daniels kantige Gesichtszüge in den Sinn. Hatte er neben seinem gebrochenen Bein auch ein gebrochenes Herz? Emma drehte sich noch einmal um; das ging sie nichts an... oder doch? Poch, poch. Topper bat höflich darum, eingelassen zu werden. Er war von seinem nächtlichen Streifzug durch die Wälder zurückgekommen und saß auf dem Fenstersims. »Verschwinde«, sagte Emma. »Bitte.« Der Kauz flog auf die Frisierkommode und entdeckte eine Schachtel mit Papiertaschentüchern. Er schrie vor Freude und fing an, sie einzeln zu zerreißen. Um seine Füße bildete sich ein Berg rosafarbener Fetzen. Schließlich tappte er mit einem Schnabel voller Papierschnitzel über die Steppdecke und verstreute sie überall. Dann drückte er mit seinem Körper eine Vertiefung ins Kissen, legte seinen flaumigen Kopf neben Emmas und blinzelte verschlafen. Emma war von diesem Vertrauensbeweis eines wilden Tieres wie verzaubert. »Okay, du kannst bleiben«, sagte sie sanft. »Aber du mußt mein Arbeitsmaterial in Ruhe lassen.« Topper blinzelte noch einmal zufrieden und schlief kurz darauf tief und fest. Solange Emma Topper mit Papier und Bindfaden versorgte, die er zerfetzen konnte, verschonte er ihre Unterlagen. Er war jedoch ein Hamsterer und stahl Stifte, Haarklammern und alles Glitzernde, um damit zu spielen. Er versteckte seine Schätze auf einem Sims über den Vorhängen, zusammen mit schimmligen 126
Brotkrusten und Käserinden, die er für regnerische Tage zurückgelegt hatte. »Wie kommen Sie mit Ihrem Buch voran?« fragte Daniel. Er lehnte auf seinen Stock gestützt am Gartentor. Topper nahm auf der Steinstufe ein Sonnenbad und breitete seine Flügel aus, deren Gefieder in der Sonne in allen Regenbogenfarben schillerte. »Überhaupt nicht«, sagte Emma. »Ich vergeude viel zuviel Zeit damit, Mäuse für Topper zu fangen.« »Stellen Sie die Fallen so auf, wie ich es Ihnen gezeigt habe?« »Es ist einfach ekelhaft. Ich ziehe es vor, Leber zu hacken.« Emma streichelte das weiche Gefieder zwischen Toppers Ohren. Sie fürchtete sich nicht länger vor ihm. Er hatte nur einmal aus Versehen mit dem Schnabel ihren Finger geritzt. Da dieser scharf wie eine Rasierklinge war, merkte sie, wie sehr Topper darauf achtete, sie nicht zu verletzen. »Hat Lucinda angerufen?« Daniel verschwendete seine Worte nicht. »Ist das von Bedeutung?« fragte sie zurück, ohne nachzudenken. »Bestimmt haben Sie sich schon ein dutzendmal danach erkundigt. Sie wird nicht anrufen. Warum geben Sie nicht auf?« Emma biß sich vor Verlegenheit auf die Zunge. Die imaginäre Lucinda war eine weitere Störung ihrer Arbeit gewesen. Immer wieder hatte sich ihr die Vision einer gertenschlanken und eleganten Frau, die so gut zu diesem Mann paßte, aufgedrängt. Daniels Augen ruhten eine Weile auf ihr, und Emma kam sich wie eine Gefangene vor. »Denken Sie so darüber?« »Es tut mir leid, ich hätte das nicht sagen dürfen«, entgegnete Emma. »Schließlich kenne ich die Umstände nicht. Entschuldigen Sie bitte. Ich sollte mich nur um meine Strickerei kümmern.« »Ich kann Ihnen versichern, daß Ihre Strickarbeit weit weniger kompliziert ist als mein gegenwärtiges Leben«, sagte er trocken. Ehe sich Emma diese Andeutung erklären konnte, war Daniel gegangen. Jetzt war sie auch nicht klüger. Dieser Mann war aufreizend und faszinierend. Ein Mann aus den Bergen. 127
Sie verweigerte sich den Gefühlen, die auf sie einstürmten. Das ist ja lächerlich, dachte sie. Weder Mann noch Kauz durften Emotionen in ihr wecken. Sie wollte absolut unabhängig sein. Als das Wetter besser wurde, arbeitete Emma im Garten, wo sie ihre Kapitel zusammenstellte. Mit ein paar Stofflappen zum Zerreißen hielt sie Topper davon ab, Dummheiten zu machen. Nebenbei zupfte er Grashalme aus, schaute zum azurblauen Himmel hoch und betrachtete die treibenden Wolken. »Hörst du ein Rufen?« fragte sie. »Möchtest du deine Flügel ausbreiten und davonfliegen?« In Toppers großen dunklen Augen lag eine durchdringende Intensität, und Emma wurde plötzlich mit schneller schlagendem Herzen bewußt, warum das Band zwischen diesem Vogel und dem Mann so stark war. Beide sehnten sich nach der Freiheit und gehörten in die Wildnis. Topper sehnte sich nach dem Wipfel einer Birke, Daniels Ziel waren die furchteinflößenden Höhen eines eisigen Berges. Lucinda hatte keine Chance. Topper begann ärgerlich mit der Zunge zu schnalzen. Dann hüpfte er auf und ab, drehte den Kopf hin und her und stieß wütende Schreie aus. »Was ist denn los?« Emma war beunruhigt. Noch nie hatte sie den Kauz so verärgert und aufgebracht gesehen. Eine Frau kam vom Gartenhaus her zum Cottage. Daniel ging an ihrer Seite. Sie trug ein Seidenkostüm und einen breitkrempigen Schlapphut, der ihren porzellanartigen Teint vor der Sonne schützte. »Das ist also dein niedlicher kleiner Kauz, Liebling«, sagte sie gelangweilt. »Ist er nicht süß.« Sie streckte anmutig ihre Hand aus und gab vogelartige Töne von sich. Daniel stand mit maskenhaft starrem Gesicht einen Schritt hinter ihr. Emma wußte sofort, daß sie Lucinda war. »Was für ein hübsches kleines Ding«, gurrte Lucinda weiter. »Du bist in allem, was du tust, so originell. Wahrscheinlich kommen wir deswegen so gut miteinander aus. In jeder Hinsicht«, fügte sie Emmas wegen hinzu. 128
Emma erstarrte innerlich vor Empörung. Sie machte sich daran, ihre Manuskriptseiten einzusammeln, um ins Haus zu gehen, als Topper plötzlich aufflog. Die Füße mit den rasiermesserscharfen Krallen nach vorn gestreckt, flatterte er auf Lucindas Kopf zu und zielte auf ihr Gesicht. Emma reagierte blitzschnell. Sie schleuderte den schweren Ordner nach dem Kauz und erwischte ihn mitten im Flug. Er machte eine Sturzlandung im Gras. Wütend attackierte er Emmas Manuskript; seine Federn flogen wie wirbelnder Schnee in alle Richtungen. Lucinda umklammerte schreiend Daniels Arm und drückte schutzsuchend ihr Gesicht an seine Schulter. »Du bist doch nicht verletzt«, sagte er. »Ich bringe dich ins Gartenhaus zurück Topper mag dich wohl nicht.« »Diese Bestie, diese Bestie!« rief sie schluchzend. »Diese gräßliche kleine Bestie. Ich weiß nicht, warum ich hergekommen bin. Ich weiß nicht, warum ich mich mit dir noch abgebe.« An diesem Abend saß Emma verloren auf dem Fußboden des Wohnzimmers, von zerfetzten Manuskriptseiten umgeben, und versuchte die Arbeit von Jahren zu retten. Topper hockte auf der Stehlampe, beäugte sie neugierig und schüttelte von Zeit zu Zeit, über die Torheit der Menschen verwundert, seinen flaumigen Kopf. »Ich bin sehr böse auf dich«, sagte Emma. »Wie konntest du nur so garstig sein? Du darfst Menschen nicht angreifen, auch wenn sie alberne Dinge über dich sagen.« Topper nickte und tappte über den Rand des Lampenschirms. Er stieß einen heiseren Pfiff aus. Das war seine Art, sich zu entschuldigen. »Mir tut es auch leid«, sagte Daniel von der Tür her. Er war allein. »Es war meine Schuld, daß Lucinda herkam. Ich hätte wissen müssen, daß Topper sie nicht mögen würde.« Er hatte einen Leimtopf und eine Rolle Klebeband in den Händen. »Darf ich Erste Hilfe leisten?« Sein Gesicht hatte jede Starrheit verloren, so als wäre eine große Last von ihm genommen. Er hatte ein umwerfendes Lächeln. 129
Emma wußte, daß er nur bis zur völligen Heilung seines Fußes hierbleiben würde. Niemand konnte ihn halten. Wie Topper würde er in die Wildnis zurückkehren. »Ich könnte Hilfe gebrauchen. Topper hat beim Zerfetzen meines Manuskripts ganze Arbeit geleistet.« »Wir fangen damit an, die Blätter zuerst nach Farben zu sortieren, dann trennen wir Fotos und Muster. Anschließend kleben wir jede Seite auf ein Blatt Papier, wie ein Puzzle. Währenddessen können Sie mir alles über Ihr Buch erzählen.« »Dafür brauche ich eine Ewigkeit...« »Ich habe jede Menge Zeit.« Emma erwiderte sein Lächeln. Daniel würde in einem Whitby-Guernsey-Pullover gut aussehen. Sie hatte genau das richtige Muster dafür – falls sie es finden konnte –, nach dem Pullover für die Männer der schottischen Fischereiflotte gestrickt worden waren. Ideal fürs Bergsteigen. Vielleicht würde er ihn mitnehmen. Topper erwachte kurz vor der Abenddämmerung aus tiefem Schlaf. Emma sah den Kauz in die Ferne starren, als würden ihn die Wälder rufen. Mit einem mächtigen Stoß seiner kräftigen Füße schwang er sich in die Lüfte und entschwand in Richtung Bäume. »Er ist fort«, sagte sie, und ihre Stimme stockte. Mit Tränen in den Augen sah sie den Kauz in die aufsteigende Dunkelheit fliegen. »Wenn Sie ihn fliegen lassen, kommt er wieder zurück«, entgegnete Daniel dicht an ihrer Seite. Wollte er ihr damit etwas mitteilen? Emma hoffte es. Sie hoffte, daß es für beide – Kauz und Mann – galt.
130
Die Hexe von Watford
131
Die Frau, die für eine Hexe gehalten wurde, lebte in der Nähe von Watford, einem großen Dorf, das sich zu einer Kleinstadt mauserte und jährlich Wiesen und Weiden fraß. Elise schlenderte in ihren langen schwarzen Kleidern, mit wehendem rabenschwarzem Haar und von ihren beiden Katzen gefolgt, durch die Geschäfte. Eine Katze war schwarz wie die Nacht, mager und sehnig, die andere war ein fröhliches, gestromtes, wuscheliges Wesen – aber diese Augen, die glitzerten wie Smaragdsplitter. »Bleibt hier sitzen«, sagte Elise zu den beiden Katzen vor dem kleinen Lebensmittelladen. Und die Katzen setzten sich folgsam. Aber nicht für lange. Dann standen sie auf, streckten sich und suchten in ein paar Zentimeter Entfernung einen Platz, der ihnen besser gefiel. Wenn Elise mit Taschen voller klappernder Dosen herauskam, begrüßten sie sie mit Freudenschreien, als wäre sie ein Jahr oder noch länger weggewesen. »Meine braven Miezen«, sagte sie dann und streichelte nacheinander die beiden samtigen Köpfe. »Meine ganz braven Miezen. Jetzt gehen wir nach Hause.« Ohne auf die lüsternen Blicke träger Hunde zu achten, spazierten die Katzen hinter Elise her zu ihrem Cottage. Einige glaubten, daß sich die verfallene Hütte bewegte, sich näher zu den Bäumen schob und wieder weg, aber niemand war sich dessen sicher. Die Hütte war früher eine Schmiede gewesen. Die jetzt erkaltete Esse gab es noch. Doch die Leute meinten, manchmal in der Nacht das Flackern von Feuer zu sehen. Die Dorfbewohner sprachen dauernd über Elise und ihre beiden Katzen, über das sich bewegende Cottage und das glühende Feuer. Sie sprachen auch über Elises Einkaufsgewohnheiten. »Katzenfutter, Katzenleckereien und Katzenkräcker.« »Hering und Fischköpfe.« »Milz und Lunge.« »Aber was ißt sie? Manchmal kauft sie eine Orange.« Die Ladeninhaber schüttelten die Köpfe. Vielleicht aß Elise keine gewöhnlichen Nahrungsmittel und verzauberte den Hering in Räucherlachs. 132
Die Leute bemerkten auch etwas anderes Geheimnisvolles. Elise verschwand manchmal tagelang – mit ihren Katzen. Alle verschwanden. Das Cottage stand dann leer und verschob sich hin und wieder um ein paar Meter. Jetzt befand er sich näher am Pfad. Und Blumen blühten, wenn andere Gärten längst im Winterschlaf versunken waren. Ihre Blumen blühten zu den merkwürdigsten Zeiten: Narzissen im Herbst und Tulpen im Winter. Das Gras mähte sie nie. Unkraut gedieh nur in der Nacht und verdorrte am Morgen. Die beiden Katzen wußten, was die Menschen dachten. Sie wußten, daß Elise ein sehr ernstes Problem hatte und sich nicht auf ihre Aufgaben konzentrierte. Zweimal hatte sie vergessen, das Wachsen des Grases aufzuhalten, und morgens waren die Halme dreißig Zentimeter hoch und die Brennesseln ein undurchdringliches Gestrüpp gewesen. Die Katzen saßen da und sahen einander an. Wie konnten sie Elise helfen? Sie kauten nachdenklich an Grashalmen und starrten zu den Spatzen hinauf, die frech in den Bäumen zwitscherten. Es war ein Tag, um etwas zu unternehmen, aber ohne Elise waren sie mehr oder weniger lustlos. Elise saß vor ihrem Spiegel, malte Lidstriche um ihre Augen und legte neun silberne Ringe aus ihrer Sammlung an. Sie trug immer neun. Das war ihre magische Zahl. Sie sah wie eine schwarze Hexe aus, war aber tatsächlich eine weiße Hexe. Sie kannte weder Bosheit noch Feindseligkeit. Im Grunde genommen war sie unheilbar romantisch, doch da sie eine Hexe war, fiel es ihr schwer, jemanden zu finden, den sie lieben konnte. Elise verdiente ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Liebestränken auf Jahrmärkten im ganzen Land. Jeder Trank wurde individuell gemischt und gebraut. Bei jedem Liebeskranken, der sie konsultierte, zog sie alle Aspekte der Beziehung und andere obskure Merkmale – wie die Form der Nase und die Länge der Finger – in Betracht und verabreichte dem Paar den passenden Trank. Das erforderte eine Menge Überlegungen und großes Können. Mit Hexerei hatte das nichts zu tun. 133
Während Elises Abwesenheit verschwanden die Katzen im Wald. Ratsuchende kamen und gingen. Die meisten waren mit der Wirkung des verabreichten Liebestranks zufrieden und schickten Elise Dankschreiben und Einladungen zu Hochzeiten. Der Postbote brachte gern Briefe zu ihrem Cottage, weil es auf dem Pfad dorthin nie regnete. »Wenn mein Trank nicht wirkt, liegt das nicht an mir«, erklärte sie stets ihren Kunden. »Dann stimmt die Beziehung nicht. Eine Verbindung soll nicht zustande kommen, und es ist besser, einen anderen Partner zu suchen.« Niemand konnte dagegen Einwände erheben. Im Alter von neun Jahren entdeckte Elise, daß sie eine Hexe war. Mit dieser Erkenntnis ging sie nicht leichtfertig um, sondern erkannte darin ihre Bestimmung. Eine Katze hatte ihr diese Berufung bewußt gemacht. Sie hatte das verletzte Tier im Rinnstein gefunden. Ihre Tränen benetzten das hilflose Wesen. Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Als sie das verschmutzte braune Fell streichelte, verwandelten sich ihre Tränen in Kristalle, und die Katze bewegte sich in ihren Armen. Das kleine pochende Herz beruhigte sich, und Elise fühlte, wie Wärme und heilende Wellen den Körper durchströmten. Sie senkte den Kopf und blies ihren Atem in das Fell, aus dem feiner, sprühender Staub aufstieg. Die Katze stupste Elises Ohr mit ihrer feuchten Nase an. In ihrem Kopf formten sich seltsame Gedanken. Es war, als würde die Katze zu ihr sprechen, und sie verstand jedes Wort. Neun Tage später wurde Elises Haar rabenschwarz. Ihre Mutter schien das nicht zu merken, was sehr seltsam war. Vielleicht hatte sich der Blick ihrer Mutter getrübt, damit sie wegen der Veränderung, die ihre Tochter durchmachte, nicht beunruhigt würde. Neun Monate später – Elise war in ihrer Schulklasse – schwebte sie plötzlich ein paar Zentimeter über dem Boden. Das geschah während einer Geschichtsstunde über die alten Griechen, die absolut langweilig war. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Während der ganzen Stunde hüpfte sie wie ein Jo-Jo auf und ab, bis ihr schwindlig wurde. 134
Das passierte ihr danach oft, aber nur, wenn sie sich zu Tode langweilte. Dann entdeckte Elise, daß sie Gegenstände bewegen konnte. Zuerst nur kleine Dinge wie Löffel oder Essig- und Ölfläschchen auf dem Tisch. Es verwirrte ihre Eltern, wenn sie nach einer Gabel griffen, die plötzlich woanders lag. Dann gab sich Elise nicht mehr mit diesen Kleinigkeiten ab, sondern verrückte das ganze Cottage, weil ihr der Ausblick nicht mehr gefiel oder um mehr Sonne zu bekommen. Elise brauchte dringend Wärme. Deswegen trug sie auch mehrere Kleider übereinander und zündete in kalten Nächten Feuer im Kamin an. Die Katzen schmiegten sich nachts an Elise, um sie warm zu halten, aber das reichte nicht. Die Hitze ihrer Körper taute sie nur teilweise auf. Es war, als würde sie ihre Heilkräfte in einem geistigen Tiefkühler speichern, deren Elektrizität von ihrer Körperwärme produziert wurde. Manchmal bildeten sich Eiskristalle auf ihrer Haut. Ihr Stoffwechsel war so langsam, daß sie kaum Nahrung brauchte. Elises Schwierigkeiten hatten auf einer Tagung für Heiler angefangen. Alle möglichen Spezialisten waren anwesend, auch Reflexologisten und Aromatherapeuten. Ein Kamerateam vom regionalen Fernsehsender machte Aufzeichnungen für eine Reportage über Heiler. Elise wurde von einem sehr langweiligen jungen Mann mit Beschlag belegt, der von ihrem langen dunklen Haar fasziniert war. Er schwafelte unaufhörlich über verschiedene Auren und multidimensionale Erfahrungen. Elise schaltete ab. Sie war eine pragmatische, realistische Hexe und fühlte sich bei Dingen, die sie nicht verstand, unwohl. Gerade als sie dachte, ihr würden die Beine vor Langeweile einknicken, sah sie einen Mann auf sich zukommen, der sich mit den Ellbogen einen Weg durch die Menge bahnte. Sie wußte, daß er zu ihr wollte, weil ihr Name auf seiner Stirn geschrieben stand. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er zu dem jungen Mann und schob ihn beiseite. Dazu wandte er sich Elise zu. »Ich bin Mark E. Redford, der Regisseur dieser Fernsehsendung Würden Sie
135
das bitte noch einmal machen? Wir hatten nicht die richtige Kameraeinstellung.« »Was soll ich noch einmal tun?« fragte Elise matt. »An die Decke gehen.« Die Katzen wußten, daß auf der Tagung etwas schiefgelaufen war, als Elise sie an diesem Abend aus dem Wald lockte. Zum Abendessen gab sie ihnen eine Orange und verschob das Cottage innerhalb einer Stunde zweimal. Die beiden warfen einander Blicke zu, die Bände sprachen. »Ich habe mich verliebt«, erzählte sie ihren Katzen, hob die Fellknäuel auf ihren Schoß und streichelte sie versonnen. »In ein menschliches Wesen. Und er ist ausgerechnet Fernsehregisseur. Ohne Liebestrank, ohne Zauberspruch, nicht einmal eine Prise Schwarzwurz. Das Problem dabei ist, daß er sich kein bißchen für mich als Frau interessiert. Er will nur, daß ich Zaubertricks für sein blödes Programm mache. Natürlich habe ich mich geweigert. Aber das hat ihn nur noch entschlossener gestimmt. Er heißt Mark E. Redford. Ach du meine Güte...«, jammerte sie. »Das sind die ersten drei Buchstaben von Merlin...« Die Katzen zerzausten mit den Krallen ihr schon wirres Haar und stupsten mit den Nasen in ihr Gesicht. Beide merkten, daß Elises Körper wärmer war. An diesem Abend zündete sie den Kamin nicht an, blieb aber lange auf und mischte einen sehr speziellen Trank. »Ingwer für Reisen, Ringelblume für Herrschaft... nein, nein ich will ihn nicht beherrschen. Seine Augen sind so grau wie das Mitternachtswasser aus der Quelle. Und etwas purpurner Fingerhut als Stimulans. Eberesche ist ziemlich gut, aber so gierig. Samen vom Lorbeerbaum, damit ihm nichts passiert... und Gewürznelken aus Persien für die Begierde.« Mark Redford stand – ohne sein Team – am nächsten Morgen auf der Türschwelle des Cottage. Er betrachtete voller Erstaunen die Kirschblüten und rosafarbenen Blütenblätter, die aufs Gras nieder schwebten, obwohl sich kein Lüftchen regte.
136
Elise hatte beim Erwachen das Gefühl gehabt, eine Kirschblüte zu sein, und deswegen hatte sie den Baum zum Blühen gebracht. Als sie Mark vor ihrer Tür stehen sah, hätte sie vor Verlegenheit beinahe das Cottage verschoben. Wahrscheinlich hatten die Ingwerdünste auch aus der Ferne gewirkt. »Machen Sie sich keine Sorgen, Elise«, versuchte er sie sogleich zu beruhigen. »Ich bin allein gekommen. Keine gräßlichen Kameras lauern in den Büschen. Sagen Sie, blüht Ihr Kirschbaum nicht ein bißchen früh?« »Nein. Es ist schon zehn Uhr«, antwortete sie und wickelte noch einen schwarzen Schal um ihre Schultern. »Kommen Sie herein. Ich mache uns einen Kaffee aus Löwenzahn.« Sie dachte an ihren Trank, der über Nacht in einem Kristallglas gestanden hatte und fertig war. »Nette Katzen«, sagte er, als die beiden seine Schuhe inspizierten und höflich am Saum seiner Jeans schnupperten. »Wie heißen sie?« »Das weiß ich nicht. Sie haben es mir nicht verraten. Ich weiß nicht, wer sie früher gewesen sind.« »Wer sie gewesen sind?« »Ja. In einem anderen Leben.« »Ihre Katzen reden mit Ihnen?« fragte er, ohne eine Spur von Überraschung in der Stimme durchklingen zu lassen. »Ja.« Elise sah ihn erstaunt an. »Tun das nicht alle Katzen?« Er fuhr sich mit der Hand durch sein unordentliches braunes Haar. »Dabei fällt mir ein... die Katze meiner Mutter ist sehr gesprächig.« »Dann haben Sie nicht richtig zugehört«, sagte Elise. Die Katzen saßen ein paar Meter entfernt und sahen dem Paar beim Kaffeetrinken zu. Ihnen gefiel dieser große komische Mensch, der die ersten drei Buchstaben von Merlin in seinem Namen hatte, und wenn Elise ihre Karten richtig ausspielte, könnten sie Kinder haben, die Lana, Iain und Norc hießen. Mark schien der richtige Mann für Elise zu sein. Und zutiefst in seinem Herzen war er von dem, was er sah, fasziniert. Auch der Kaffee aus Löwenzahn schmeckte nicht übel. Aber er hatte Angst vor Elises ungewöhnlichen Kräften. Die beiden saßen 137
stundenlang im Garten und redeten. Als Elise das Cottage so drehte, daß sie auch noch die letzten Strahlen der Herbstsonne genießen konnten, wäre Mark beinahe in sein Auto gesprungen und davongerast. Seine Hand zitterte leicht. »Ich muß jetzt gehen«, sagte er. Flucht stand auf seiner Stirn geschrieben. »Sie werden eine gute Fahrt haben«, sagte sie. »Auf dieser Strecke gibt es keine Staus.« Zu seiner Überraschung kam er tatsächlich ohne Verzögerung voran, was für diesen Abschnitt der Autobahn ungewöhnlich war. Elise fiel in einen Kaufrausch. Sie kaufte mehrere schwarze Kleider, eine Seidenbluse, einen weiten, bestickten Rock, einen Schal, so hauchdünn wie eine Spinnwebe. Noch nie war sie so extravagant gewesen. Mark kam wieder. Trotz seiner Befürchtung, sie könnte ihn in eine einen Meter achtzig große Kröte verwandeln, zog es ihn unweigerlich zu ihr hin. Elise wußte um seine Ängste, was sie so unglücklich machte, daß sie es nicht länger ertragen konnte und das Cottage mitten in den Wald rückte. Die Katzen sahen sich entsetzt an. Bedeutete das, daß sie in Zukunft kein Katzenfutter aus dem Lebensmittelladen mehr bekamen? Mußten sie in Zukunft ihr Abendessen selbst fangen? Welche Fähigkeiten besaßen sie denn? Sie beherrschten ein paar Tricks, aber die waren nicht besonders hilfreich. Sie konnten auftauchen und verschwinden, ohne daß es jemand merkte. Sie konnten sich für eine kurze Zeitspanne in die Vergangenheit zurückversetzen und mit zitternden Schnurrhaaren längst vergessene Ereignisse noch einmal durchleben und sich über die Komplexität der menschlichen Evolution wundern. »Was soll ich nur tun?« fragte Elise und drückte ihr Gesicht an ihre weichen Bäuche. »Mark vertraut mir nicht. Er hat Angst, ich könnte ihm etwas antun.« Die beiden Katzen sprangen von ihrem Schoß. Sie hatte ihr Fell mit Tränen benetzt. Elise hatte noch nie geweint. Hexen
138
weinten nicht. Das war ernst zu nehmen. Es war eine Katastrophe. Die beiden Katzen hörten Marks Auto schon aus der Ferne, noch ehe er in den Feldweg einbog. Sie liefen ihm entgegen. Zwar hatten sie noch keinen festen Plan gefaßt, doch sie wußten, daß sie etwas unternehmen mußten. Es war einer der Tage, an dem sie den Boden nicht berührten, sondern über den Zaun liefen, dann von Ast zu Ast sprangen und in einem Baum an der Biegung auf Mark warteten. In dem Augenblick, als das Auto unter dem Baum hindurch fuhr, sprangen beide herunter und prallten gegen die Windschutzscheibe. Das Auto schleuderte, krachte in eine Hecke und rutschte seitwärts von der Straße, überschlug sich und landete im Graben. Die Räder drehten sich weiter. Die Katzen saßen entsetzt über das, was sie angerichtet hatten, da. Sie begannen ihr zerzaustes Fell zu putzen, als wären sie nur unbeteiligte Zuschauer. Elise hatte das Quietschen der Bremsen gehört und kam barfuß aus dem Wald gelaufen. Mark hing über dem Lenkrad. Blut strömte von seiner Stirn. Nichts stand darauf geschrieben. Elise zögerte keine Sekunde. Sie stellte das Auto wieder auf den Weg. Als sie Mark vom Fahrersitz gezogen hatte, fing er an, sich stöhnend zu bewegen. »Bitte stirb nicht«, flüsterte sie und wischte ihm zart mit Minzblättern das Blut ab. »Ich liebe dich so sehr. Meine Kräuter werden diesen Schnitt heilen. Es wird nicht einmal eine Narbe zurückbleiben, mein Liebling.« Elise rückte das Cottage so blitzschnell wieder an seinen ursprünglichen Standort, daß ein Kamin im Wald zurückblieb. Ihr Haar nahm allmählich einen matten Braunton an, und ihr Körper wurde so warm, daß sie ihre Schals und langen Röcke ablegen mußte. Unkraut schoß nur noch einmal in die Höhe, und der Kirschbaum zeigte sich in winterlicher Kahlheit. »Elise, was ist passiert?« stöhnte Mark. »Ich bin gekommen, um dir zu sagen, daß ich ohne dich nicht leben kann. Es macht mir nichts aus, daß du eine Hexe bist.«
139
Elise lachte fröhlich. »Wie bist du nur auf den Gedanken gekommen, ich könnte eine Hexe sein?« sagte sie mit funkelnden Augen. »Du hast zuviel ferngesehen.« Später fragte sich Elise oft, was eigentlich passiert war, doch sie konnte sich nicht daran erinnern. Die Katzen wußten es. Es war der neunte Tag des neunten Monats gewesen. Elise hatte von ihrer Liebe zu einem Menschen gesprochen. Unter diesen Umständen war es einfach unmöglich, daß sie weiterhin eine Hexe blieb. Die Katzen warteten geduldig. Sie setzten ihre Hoffnungen auf die kleine Lana.
140
Ein Tag Angst (Eine wahre Geschichte)
141
Sie kam zum Abendessen nicht herein, aber darüber machte ich mir keine Sorgen. Sie kam oft zu spät und zog es vor, allein und mit Würde zu speisen, ohne daß die drei jungen Kätzchen Bocksprünge über sie hinweg machten oder die junge Mutter ihr einen Klaps auf die Nase gab, oder der große rote Rufus ihr die besten Bissen vom Teller stahl. Jede halbe Stunde rief ich abwechselnd an der Haustür und der Gartentür »Clover, Clover.« Der Nieselregen würde ihr langes Fell völlig durchnässen. Jedesmal, wenn ich nach ihr rief, rechnete ich damit, daß sie wie ein Otter zur Tür herein schlüpfte. Ihr Fell war so dunkel, daß sie mit den Schatten verschmelzen konnte, und oft glitt sie zwischen meinen Füßen hindurch, während ich noch nach ihr rief. Den Abend verbrachte ich mit Tippen und Fernsehen und Spielen mit den Kätzchen. Zwischendurch rief ich immer wieder nach Clover. Der Garten versank in Dunkelheit. Irgendwo da draußen, in der feindseligen Nacht, war Clover, weigerte sich, mich zu hören, verschloß ihre Ohren vor meinen Rufen und drehte ihre hochnäsige Nase in eine andere Richtung. Wahrscheinlich war die Ankunft von drei Kätzchen zusammen mit der saugenden Mutter, die selbst erst neun Monate alt war, zuviel für Clover gewesen. Wie Flüchtlinge waren sie plötzlich ohne Ankündigung über die Türschwelle gekommen. Ein unüberlegter Telefonanruf hatte Clovers Leben grundlegend verändert. Dabei machte ihr schon Rufus sehr zu schaffen, der bei allem der erste sein wollte – der erste rein, der erste raus – und fauchte, wenn sie es wagte, mit ihrer kleinen persischen Nase ihm auch nur einen Zentimeter voraus zu sein. Clover kannte ihren Platz. Sie duckte sich, wich zurück, dunkel und ergeben wie ein arabisches Sklavenmädchen oder ein viktorianisches Dienstmädchen, das dem löwenköpfigen Sultan, dem Herrn des Hauses, seine rechtmäßige Herrschaft einräumt. Die Ankunft der winzigen miauenden Kätzchen, die überall herumkrabbelten, mußte für Clover ein Schock gewesen sein. 142
Und dazu die Mutter, ein mageres Wesen, das zusammen mit ihrem Wurf ausgesetzt worden war. Plötzlich beherrschten die Neuankömmlinge Clovers Küche, in der eine Kiste zum Schlafen und ein Katzenklo aufgestellt wurden. Clover und Rufus starrten die Eindringlinge niedergeschmettert an. Beide fauchten immer wieder. Alle machten um die großen Katzen Theater. Clover und Rufus wurden wegen der neuen Familie keineswegs vernachlässigt. Ganz im Gegenteil. Beide wurden noch mehr liebkost, gestreichelt und verwöhnt. Clover versteifte jedoch ihren Rücken, wenn ich sie im Arm hatte. Sie ließ sich nicht so leicht beschwichtigen. Rufus hingegen gab nach. Er wurde der geliebte Onkel, putzte die Kätzchen und war zeitweise Kissen für müde kleine Körper. Er genehmigte der saugenden Mutter acht Mahlzeiten am Tag und reihte sich geduldig für seine Portion ein. Und er wurde dicker. Clover beobachtete diese Kapitulation mit Spott. Wo war jetzt die männliche Dominanz? Eine kokette kleine silberne Teenager-Mumm tauchte auf, und er wurde zu Wachs in ihren Pfoten. Als die Kätzchen größer und agiler wurden, mußten neue Taktiken angewandt werden. Alle sechs auf einmal zu füttern war, als wollte man dem Durchgehen einer Herde wilder Büffel mit einer Feder Einhalt gebieten. Die erwachsenen Katzen saßen zwar geduldig da, während ich Futter hackte und Teller füllte, aber die Kätzchen benahmen sich nicht so gesittet. Sie sprangen auf die Arbeitsfläche, purzelten überall herum, kratzten und stritten sich und stahlen mir das Futter unter der Gabel weg. Das Füttern machte mir Kopfzerbrechen. Wir führten Schichten ein. Die drei erwachsenen Katzen bekamen ihr Futter, während die Jungen in den Garten zum Spielen verbannt wurden. Manchmal fraß Clover allein, und das war ideal. Ihr kehliges Schnurren zeigte, wie sehr sie eine zivilisierte Mahlzeit zu 143
schätzen wußte. Ihr Futterschälchen ist mit einer Apfelblüte verziert. An diesem Morgen hatte sie ihr Frühstück zusammen mit der ganzen Meute zu sich nehmen müssen. Obwohl sie wie gewöhnlich als letzte, an der Reihe war, hatte ihr das Gedränge und Geschiebe der gierigen Kätzchen, die nach jedem Bissen schnappten, wohl sehr zugesetzt. Ohne zu warten, ob es einen Nachschlag gab, hatte sie sofort verlangt, rausgelassen zu werden. Ich habe sie den ganzen Tag nicht gesehen, was ungewöhnlich ist. Meistens spaziert sie zwischendurch herein und sucht sich ein weiches Bett für ein Nickerchen. Und als sie zum Abendessen nicht auftauchte, begann ich vor Unruhe zu flattern. Um Mitternacht stand ich im Regen im Garten, mein Nachthemd klebte naß an meinen Knöcheln. Ich rief und rief, klapperte mit der Keksdose und ließ den Lichtstrahl der Taschenlampe durch den Garten schweifen. Clover ist ein Leckermäulchen und liebt Kekse. Kein feuchtes Fell strich um meine Beine, keine scharfen Krallen verhakten sich in meinem Morgenrock, kein kaltes Schnäuzchen schnurrte in mein Ohr. Von der Haustür zur Gartentür und wieder zurück – so ging das eine weitere Stunde. Leg dich ins Bett, sagte ich mir. Clover hat ein Eichhörnchen gefangen und macht ihr Verdauungsschläfchen in einer warmen Höhle. Sie schmollt und spielt die Unnahbare. Sie hat sich in eine Garage oder eine Gartenhütte einsperren lassen. Sie hat ihr Heim verlassen und führt bei dieser reichen Familie zwei Straßen weiter ein verhätscheltes Leben. Die Katzenfänger haben sie erwischt, und aus ihrem langen Fell wird ein Hut gemacht. Sie ist überfahren worden und liegt stöhnend im Rinnstein. Ein Fuchs hat sie geschnappt. Mein Bett war kalt und leer. Niemand putzte sich geräuschvoll alle vierzig Minuten und tappte auf meinen Füßen herum. Kein langer Körper lag ausgestreckt quer auf der Decke, während ich mich an die Bettkante quetschte. Keine Pfoten, deren scharfe 144
Krallen sich durch die Bettdecke bohrten, stapften auf meinem Bauch herum. Nichts. Clover war fort. Ich träumte von ihr. Ich träumte, ich hätte sie reglos, blutend und verletzt im Gras einer Wiese gefunden. Ich zog meinen Pullover aus, wickelte sie darin ein und trug sie hastig zum Tierarzt. Im Unterhemd lief ich ins Sprechzimmer. »Bitte, bitte«, flehte ich am Empfang. »Meine Katze ist schwerverletzt. Sie müssen ihr helfen.« Der Tierarzt hatte eine große Nadel in der Hand. »Ich muß sie in Schlaf versetzen, um sie untersuchen zu können«, sagte er. »Nein, tun Sie’s nicht. Geben Sie ihr keine Injektion. Geben Sie ihr noch eine Chance.« Ich weinte, weil ich glaubte, er wolle sie für immer einschläfern. Ich kniete neben Clover auf dem Fußboden. Ihre großen bernsteinfarbenen Augen baten mich um eine weitere Chance. Als ich aufwachte, wußte ich sofort, daß ich heute nach ihr suchen mußte. Vierundzwanzig Stunden Abwesenheit war genug. Ich würde die Wiesen am Ende des Gartens absuchen. Ich würde alle Nachbarn anrufen und sie bitten, in ihren Garagen und Gartenhäusern nachzusehen. Ich würde ein Foto von Clover (sie ist so schön) ans Gartentor hängen. Ich würde Fotos und Suchmeldungen im ganzen Dorf verbreiten. Ich würde die Polizei anrufen. Bei dem Gedanken, was alles zu tun war, verließ mich mein Mut. Ich mußte sie finden. Wäre sie verlorengegangen, würde ich mir das nie verzeihen können. An dieser Schuld hätte ich mein Leben lang zu tragen. Ein kleines schmutziges Gesicht spähte um die Türkante und sprang dann auf mein Bett. Sie war naß, völlig verdreckt, und Kletten hingen in ihrem feuchten und stachligen Bauchfell. Sie lief über mein Bett und hinterließ eine zufriedenstellende Fährte von Schmutz und Blättern.
145
»Clover! Clover!« Ich vergrub, sprachlos vor Erleichterung, mein Gesicht in ihrem Fell. »Wo, um Himmels willen, bist du gewesen?« Sie drehte sich ein paarmal um sich selbst und rollte sich dann an meiner Seite zu einer feuchten Kugel zusammen. Sie warf mir einen flüchtigen, ziemlich selbstgefälligen Blick zu. Clover hat den ganzen Tag auf meinem Bett den Schlaf der Erschöpften geschlafen. Ich schlich mich alle paar Stunden zu ihr hoch, wie eine ängstliche Mutter. Wo war sie gewesen? War sie meilenweit durch dichtes, regennasses Gestrüpp gelaufen, um dann ihre Meinung zu ändern und wieder zurückzukommen? Hatte sie, still und aufmerksam, in einiger Entfernung vom Haus gesessen und darauf gewartet, daß eine Kiste voller Kätzchen hinausgetragen wird? Ich knie mich neben das Bett und reibe mein Gesicht am weichen Fell ihres Kopfes. Dabei denke ich an meinen Traum. Jetzt erkenne ich diese Augen, die um eine zweite Chance flehten. Es sind meine Augen.
146
Die Glaskatze
147
Manchmal war die Glaskatze da, und manchmal schien sie nicht da zu sein. Das hing vom Licht, vom Wetter und vom Hintergrund ab. Deswegen wurde sie die Glaskatze genannt. Sie hatte keinen anderen Namen. Regen war immer sichtbar. Ein schwacher, diagonaler Dunstschleier, der nie das Fell durchdrang, die Katze aber in Nebel hüllte. Niemand wußte, wie lange die Katze schon im Haus war. Der eine sagte, ein Jahr, der andere, seit gestern, und wieder ein anderer – was der Wahrheit am nächsten kam –, die Katze sei am Tag ihres Einzugs gekommen. Das war ein Streitpunkt in der Familie. Die drei stritten dauernd – ein Charakterzug dieser Familie, eine Art verbale Bindung. Nancy, die Tochter, ein schmächtiges, zurückhaltendes Mädchen, das adoptiert worden war und wie die Katze aus dem Nichts aufgetaucht zu sein schien, stritt überhaupt nicht. Sie war ein stiller Mensch und machte nur selten den Mund auf. Aber dieses Schweigen war ihr aufgezwungen worden. »Diese verdammte Katze hat gestern mein Hemd zerrissen«, sagte Reg, der Sohn, der den direkten, geheimnisvollen Blick der Katze nicht leiden konnte. Nancy hob eine Braue. Sie glaubte ihm nicht. Ihre kornblumenblauen Augen unter den dunklen Brauen waren sehr ausdrucksvoll. Ihr Teint war so durchsichtig wie ein Gemälde von Renoir. Eine Infektion in der Kindheit hatte ihre Stimmbänder beschädigt. Damals war ihr gesagt worden, sie solle sechs Monate lang nicht sprechen. Als die Zeit vorbei war, kam es ihr einfacher vor, überhaupt nicht mehr zu reden. Sie hatte seit Jahren kein Wort gesagt. »Nancy!« Das war eine strenge Rüge. »Dieser Blick gefällt mir nicht. Dieses Mädchen kann mit den Augen Bände sprechen, wenn es will.« Nancy zuckte zusammen. Die Glaskatze auch. Nancy war sich nicht sicher, ob die Katze taub war. Manchmal schien sie nicht zu hören, wenn die Familie stritt, obwohl die lauten Stimmen in der ganzen Nachbarschaft zu vernehmen waren. Nancy hob die Katze an ihr Gesicht, streichelte mit dem weichen Fell ihre Wange und fand in der sanften Berührung der 148
Pfoten Trost. Zufrieden schnurrend, versuchte die Katze nach ihren Haarsträhnen zu haschen. Nancy sah einen Regenbogen und merkte, daß die Farbe der gestreiften Vorhänge durch das Fell hindurch sichtbar war. »Muß ich die ganze Arbeit hier machen?« schrie Mrs. Burrows aus der Küche. Ihr Mann, der einen grünen Pullover trug und darin aussah wie ein Frosch, rekelte sich in einem grünen Sessel. »Bin ich die einzige, die Tee kochen kann? Da ist der Wasserkessel. Da ist die Teekanne. Da ist die Milch.« Sie knallte die Gegenstände auf den Tisch. Nancy zuckte zusammen und drückte die Katze fester an sich. »Das nennst du Tee?« konterte Mr. Burrows. »Spülwasser schmeckt ja besser. Hast du die Teebeutel wieder zweimal verwendet?« »Wann gibt’s was zu essen?« fragte Reg und schaute nicht einmal von seinem Bodybuilding-Magazin auf. »Müssen wir immer darauf warten? Ich bin am Verhungern.« »Warten? Warten? Wer wartet? Ich nicht. Ich weiß, wo das Essen steht.« »Ich muß mir also selbst etwas holen? Ist das die neue Regel? Hast du eine Kopie dieser Regeln? Ich hätte sie gern schriftlich.« »Du kannst plötzlich lesen? Na, das ist aber ein Fortschritt. Du solltest es den Nachbarn erzählen, Plakate aufhängen und im Radio verkünden.« Nancy schauderte. Sie mußte dieses Zuhause verlassen, falls man dieses Irrenhaus ein Zuhause nennen konnte. Sie vermochte das Leben hier nicht länger zu ertragen. Aber wo sollte sie hingehen und wann? Und konnte sie die Glaskatze mitnehmen? Oh, Katze, dachte sie in das perlenfarbige Ohr hinein. Was soll ich nur tun? Es muß doch eine Fluchtmöglichkeit geben. In der Nacht war die Katze dunkel. Ihr Fell absorbierte die Dunkelheit, und sie wurde ein Schatten der Nacht. Wenn Nancy von der Abendschule zurückkam, wurde sie von der Katze
149
erwartet. Niemand außer der Katze kam ihr entgegen. Alle waren zu beschäftigt. Mr. Burrows analysierte kritisch das Fernsehprogramm, Mrs. Burrows kritisierte die Analysen. Reg war in seinem Zimmer mit Bodybuilding beschäftigt, wozu er ein Tonband, ein Videogerät und einen Spiegel brauchte. Nancy lernte in der Abendschule Stenographie und Schreibmaschine schreiben. Sie wußte noch nicht, wie es ihr gelingen würde, aber sie war fest entschlossen, sich ihren Weg in die Freiheit zu tippen. In ihrer Vorstellung stand ihre Schreibgeschwindigkeit in direktem Zusammenhang mit der Schnelligkeit ihres Auszugs. Als sie das Gartentor öffnete, kam die Katze aus den Schatten und schmiegte sich wie ein sehniges Band um ihre Knöchel. Sie hatte weder Anfang noch Ende. »Mach die Tür zu!« Alle drei Burrows überschrieen die heulenden Motoren eines Autorennens im Fernsehen. »Nancy hat sie zugemacht.« »Woher kommt dann der Zug? Ist das ein Sandsturm aus der Wüste?« Nancy stand verwirrt in der Diele Sie hatte die Tür geschlossen. Trotzdem blies ein Wind durch den Flur und raschelte in den getrockneten Blumen an der Wand. Nancy machte sich ein heißes Getränk und schlich dann mit ihren Büchern und der Glaskatze in ihr Zimmer hinauf. Sie würde eine Stunde Stenografieübungen machen. Mittlerweile schaffte sie sechzig Wörter in der Minute. Die Glaskatze rollte sich auf dem Fenstersims ein und verschmolz mit dem Hintergrund, aber Nancy konnte die leichten Atemzüge hören, die wie eine Brise auf winzigen Flügeln herüberwehten. Sie war sich der Anwesenheit der Katze stets bewußt, auch wenn sie unsichtbar war. Die Katze konnte sie unmöglich zurücklassen, aber wie sollte sie in einem möblierten Zimmer, mit einem Job und beschränkten Verständigungsmöglichkeiten zurechtkommen? Ich brauche eine gute Fee, wie Aschenputtel, vertraute sie dem Nachthimmel an und richtete ihre Gedanken auf den hellsten Stern. Auf die Kutsche und die Kleider kann ich 150
verzichten. Auch den gutaussehenden Prinzen kannst du behalten. Ich brauche nur eine Fluchtmöglichkeit. Die Glaskatze streckte sich, vom Mondlicht durchflutet, das das Fell in Silber verwandelte, im Schlaf. Sie hatte alle Gedanken, die Nancy je gedacht hatte, gehört. Sie hätte längst weggehen können, war aber dem Mädchen zuliebe geblieben. Oft hatte der Wind gelockt und wollte sie mitnehmen. Auch der Regen mit seinen funkelnden Kristalltropfen hatte gerufen. Und vor allem die freundliche Dunkelheit. Die Nacht war eine ständige Verlockung, zog sie in ihre Schatten und zeigte ihr eine herrliche, ungeahnte Freiheit. Aber die Katze konnte noch nicht gehen. Nur Nancy liebte sie, wenn die anderen schrieen, ließ sie ein, wenn sie hinausgeworfen worden war, liebkoste sie, wenn ihr tagelang niemand Aufmerksamkeit schenkte. Während die Familie unten vor dem Fernseher saß und lautstark die Programme kommentierte, arbeitete Nancy in ihrem Zimmer. Die Glaskatze tappte vorsichtig über ihre Bücher und Blätter. Sie setzte sich liebend gern auf alles, was Nancys Aufmerksamkeit fesselte. Wie ein Briefbeschwerer aus Glas saß sie auf Zeitungen, Büchern, Strickzeug, Nähsachen und Bügelwäsche. Der Lehrer in der Abendschule sagte Nancy, ihre Fertigkeiten seien so weit fortgeschritten, daß sie sich eine Stelle suchen könne. »Vielleicht wird es schwierig werden, die richtige Art von Arbeit für dich zu finden«, fügte der Lehrer behutsam hinzu. Nancy nickte und wandte den Kopf ab, damit der einfühlsame Lehrer nicht ihre Verzweiflung sehen konnte. Die Zeitung vom Vortag lag ungelesen auf dem Fußboden ihres Zimmers. Die Glaskatze hatte sich darauf eingerollt, war so hell, so glänzend, daß Nancy fast die Buchstaben durch sie hindurch lesen konnte. Sie setzte sich neben die Katze auf den Boden und streichelte geistesabwesend das hauchdünne Fell, während ihr Blick über eine Anzeige wanderte. Erst beim zweiten Hinsehen begriff sie die Bedeutung der Worte. Eine Hilfsorganisation für Taubstumme suchte eine Sekretärin, die 151
bereit war, die Zeichensprache zu erlernen, weil das Personal gehörlos war. Nancy stieß keuchend ihren Atem aus. Dazu war sie imstande. Auch wenn sie nicht sprach, konnte sie für die Taubstummen das Ohr sein und die Worte niederschreiben oder tippen. Sie schnitt die Anzeige aus und schrieb sofort eine Bewerbung. An dem Tag, an dem Nancy auszog, verschwand die Glaskatze. Sie ging an einem trüben Tag, als es in Strömen goß, fort; sie löste sich wie Rauch oder ein Nebelschleier auf. Nancy war traurig, wußte aber, daß sie der Katze ihre Freiheit nicht verwehren konnte, vor allem jetzt nicht, da sie ihre Freiheit gewonnen hatte. Als Nancy in dem winzigen Apartment über den Büros der Hilfsorganisation in London eine Kiste auspackte, schlossen sich ihre Finger um einen glatten, runden Gegenstand. Nancy öffnete ihre Hand, in der eine kleine Glaskatze, für immer in kristallenem Schlaf zusammengerollt, lag. Ein Keuchen entrang sich ihrer Kehle. Ein Ton, der sich eines Tages zu einem Wort formen würde. Sie drückte die Glaskatze, die merkwürdigerweise nicht kalt, sondern warm war, gegen ihre Wange.
152
Stachelschweinchen (Eine wahre Geschichte)
153
Sie nannten die hübsche Katze Raketchen. Es war ein seltsamer Name, aber die Katze hatte einen Raketenangriff im Zweiten Weltkrieg überlebt und wurde in den schwelenden Ruinen eines zerstörten Hauses in Romford gefunden. Eine Familie hatte Mitleid mit ihr und gab ihr ein Heim. »Sie muß Raketchen heißen«, sagten sie. Bei Kriegsende, etwa zur gleichen Zeit, als Raketchen ihren ersten Wurf von drei Kätzchen gebar, verloren Vater und Sohn ihre Arbeitsstellen. Es herrschte eine schlimme Wirtschaftskrise, und Arbeit war kaum zu finden. Acht Mäuler waren zu füttern – zwei Erwachsene, zwei Kinder, eine Katze und drei Junge. Aber die Mutter war keine Frau, die händeringend vor Verzweiflung zu Hause saß. Wenn es für die Männer keine Arbeit gab, würde sie eine Anstellung finden. Die Suche dauerte wochenlang, während die Familie Hunger litt. Schließlich kam die Arbeit in Form eines riesigen Stapels braunen Papiers und eines großen bernsteinfarbigen Klumpens ins Haus. Der Klumpen war fester Leim. Aus diesem Material wurden Einkaufstaschen für einen Verkaufsstand auf dem Markt von Romford hergestellt. »Das ist unsere Arbeit«, sagte die Mutter zu ihrer Familie, die mit offenen Mündern dasaß. »Wir stellen Einkaufstaschen in Heimarbeit her.« Raketchen rollte sich auf die Seite, damit ihre gierigen Jungen trinken konnten. Wenigstens brauchte sie nicht zu arbeiten. Es war Sklavenarbeit. Jeder mußte helfen. Die Mutter erklärte die Vorgehensweise. Das Papier wurde oben einmal gefaltet, dann in der Mitte und an den Seitenrändern zusammengeklebt. Das untere Viertel wurde hochgeklappt, und anschließend begann das komplizierte Über-Kreuz-Falten, das den Zwickel der Einkaufstasche bildete. Der Zwickel war so schwierig zu falten wie ein Papierdrachen ohne Flügel. Doch bald beherrschten sie die Handgriffe im Schlaf. Raketchen und ihre Jungen sahen dieser Heimarbeit in der Küche neugierig zu. Sie durften nicht mit dem Papier spielen und den Leim nicht anrühren. Jeder Bogen Papier bedeutete Geld, und jede verpfuschte Tasche war eine kleine Katastrophe. Die Katzen sahen zu, wie der Leimklumpen in einem großen 154
Topf schmolz, und fragten sich, ob dieser ekelhafte, nach Fischknochen riechende Brei ihr Abendessen war, was sie nicht hofften. Raketchen säugte noch immer ihre Jungen und war permanent hungrig. Während sie geduldig wartete, träumte sie von Futter. »Pfui, was für ein widerlicher Gestank«, sagte die kleine wuschelköpfige Tochter und rümpfte die Nase. »Woraus besteht das Zeug?« »Daran wage ich nicht zu denken«, antwortete ihre Mutter und rührte im großen Topf. Beim Zerklopfen des Leimklumpens mit einem Hammer hätte sie sich fast die Handgelenke verstaucht. Nun mußten die Klumpenteile zusammen mit Wasser im Topf schmelzen, bis der Leim flüssig war. »Geh jetzt ins Bett, Marion. Wir lassen den Leim über Nacht abkühlen.« Sie hob den schweren Topf vorsichtig vom Herd und stellte ihn auf den Boden. Dampf überzog ihr Gesicht und ihr Haar. Müde strich sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Der Leim würde am Morgen abgekühlt sein, und dann konnten sie den nächsten Stapel Einkaufstaschen zusammenkleben. Es war ein langer Tag gewesen, und sie war müde. Trotzdem nahm sie sich noch Zeit, um Raketchen einen Teller Milch hinzustellen und die dicken, an den Bauch ihrer Mutter geschmiegten Kätzchen zu streicheln. Sie wollte noch vor dem Frühstück mit der Arbeit anfangen. Marion würde ihr helfen. Sie war ein braves Mädchen und hatte flinke Hände. Das grau-weiße Kätzchen war das kleinste und lebhafteste des Wurfs. Es hielt nie still, zappelte dauernd und hüpfte überall herum. Jetzt öffnete es ein kornblumenblaues Auge und zuckte mit der winzigen rosafarbenen Nase über den fischigen Geruch. Es war sich nicht ganz sicher, ob es den Geruch köstlich finden sollte oder nicht. Es mußte einen Blick in den Topf werfen. Mit hocherhobenem Schwänzchen, gespitzten Ohren und vor Aufregung zitternden Schnurrhaaren sprang es zu dem Topf, beschnüffelte ihn und fragte sich, was wohl darin war. Die Familie saß im Wohnzimmer. Damals gab es noch kein Fernsehen. Der Vater las die Zeitung, der Sohn spielte Karten, 155
und Marion wollte gerade zu Bett gehen. Sie war schon gewaschen und hatte ihren Pyjama an. Es war ein ruhiger Abend. Keine Sirenen ertönten. Deswegen war niemand auf das Geheul aus der Küche vorbereitet. Es war ein unheimlicher Schrei, der ihnen einen Schauder über den Rücken jagte. »Was, zum Teufel, ist denn das?« »Es kommt aus der Küche.« »Schnell... da ist etwas passiert.« Alle rannten in die Küche. Das Geheul wurde lauter. Raketchen umklammerte mit ihrer Vorderpfote den Rand des Leimtopfs und schrie mit weit aufgerissenem Mäulchen und vor Angst starrem Blick. Das kleinste Kätzchen steckte bis zum Hals im Leimtopf und zappelte hilflos. Es quiekste erbärmlich. Die Mutter zögerte keine Sekunde. Sie fischte das Kätzchen aus der heißen Flüssigkeit, ließ es in den Spülstein plumpsen und drehte das Wasser auf. Ihre Hände brannten, und die Haut färbte sich rot. »Ach du meine Güte! Wie sollen wir nur diesen Leim aus deinem Fell kriegen«, sagte sie und krempelte sich die Ärmel hoch. »Jetzt ist Badezeit für dich, mein Kleines. Hör auf zu heulen, Raketchen. Dein Junges ist in Sicherheit.« Marion hob die Katzenmutter hoch, damit sie das Kätzchen, das im Spülstein kauerte, sehen konnte. »Schau, da ist dein Junges.« Marion holte die Seifenflocken. Seife und Seifenflocken waren rationiert und daher kostbar, aber das war ein Notfall. Sie stand auf Zehenspitzen am Spülstein und half, das Kätzchen mit Wasser zu bespritzen und das zitternde Bündel festzuhalten. Das Kätzchen war zu verschreckt, um sich zu wehren. Es konnte sich kaum bewegen, weil Pfoten und Fell verklebt waren. Die blauen Augen waren vor Angst weit aufgerissen, und aus dem winzigen rosafarbenen Mäulchen kamen piepsende Töne, wie von einem Vogel. »Wie gut, daß es nicht kopfüber reingefallen ist«, sagte die Mutter. »Es scheint nichts geschluckt zu haben, und es kann auch richtig atmen.« 156
Das Kätzchen wurde mehrmals in lauwarmem Wasser gebadet und abgespült. Das dichte Fell hatte es vor Verbrennungen geschützt. Der Spülstein war mit Leim und Haaren verklebt und das Wasser eine graue, schmierige Brühe. Marion schnupperte an ihren runzligen Fingern und ihrem nassen Pyjama. »Hoffentlich rieche ich morgen in der Schule nicht so, sonst lachen mich die anderen aus.« »Du mußt erzählen, daß du dein Kätzchen aus einem Leimtopf gerettet hast«, sagte ihre Mutter. »Das wird ihnen die Sprache verschlagen.« »Mein Kätzchen?« Marion zögerte. »Darf ich es denn behalten Mummy?« Marion hatte sich das kleinste Kätzchen gewünscht, aber nicht darum zu bitten gewagt. Sie wußte, daß Geld knapp war, und es gab schon genug Mäuler zu füttern. Es war wohl ein Versprecher gewesen. Sie tupfte das Kätzchen sanft mit einem Handtuch ab und setzte es auf den Boden. Es wankte auf streichholzdünnen Beinen zur Katzenmutter, schüttelte die Pfoten, und das nasse Schwänzchen schleifte über das Linoleum. »Wir werden sehen. Laß es jetzt schlafen, damit es den Schrecken überwindet. Komm mit, mein Mädchen. Auch für dich ist es höchste Zeit, ins Bett zu gehen.« Das Kätzchen lag die ganze Nacht an den Körper der Mutter geschmiegt, wo das Fell in der Wärme trocknete. Es war von dieser schrecklichen Tortur völlig erschöpft. Beim Frühstück sprach die Familie über die Rettungsaktion, ohne daß die Mutter viel Aufhebens um ihre verbrühte Hand machte. Raketchen säugte ihre Kleinen in der Küchenecke. Marion ging in die Knie und streichelte die zufrieden schnurrenden Fellknäuel. »Mum! Da sind nur die zwei größeren!« Der Leimtopf war über Nacht zugedeckt worden, und kein Kätzchen hätte hineinklettern können. Sie suchten überall – unter dem Tisch, in den Schränken und hinter Kommoden. 157
In der dunkelsten Ecke der Küche fanden sie schließlich das Kätzchen. Es zitterte erbärmlich. Das Fell war zu steifen nadelspitzen Stacheln getrocknet – wie bei einem Stachelschwein. Die Katzenmutter hatte das Junge von den zarten Warzen an ihrem Bauch vertrieben. »Das überrascht mich nicht«, sagte die Mutter. »Diese Stacheln sehen aus, als wären sie sehr schmerzhaft. Und ich dachte, wir hätten alles rausgewaschen.« Sie hob das Kätzchen auf. Dieser Leim war ein ziemlich starkes Zeug. »Wie können wir unserem Stachelschweinchen nur helfen?« Marion sah ihre Mutter ängstlich an, weil sie glaubte, da sei nichts mehr für das Kätzchen zu tun. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie wußte, daß ihre Mutter mehr als genug Arbeit hatte. Den Haushalt, Einkaufen, Kochen und diese Einkaufstaschen zu falten und zusammenzukleben. Ihre Mutter seufzte. Und ihre kleine Tochter flehte um Hilfe für ein halbtotes Kätzchen. »Hol mir mein Shampoo«, sagte sie energisch. »Es steht unter dem Waschbecken.« Während der nächsten drei Tage hatte die Operation Shampoo höchste Priorität. Das Kätzchen wurde laufend im Spülstein mit Shampoo eingerieben, abgewaschen, mit Milch aus einer Pipette gefüttert und wieder gewaschen. Das kostbare Shampoo wurde völlig aufgebraucht. Jeder Waschvorgang – sie hatten längst aufgehört, mitzuzählen – entfernte ein bißchen mehr von dem schrecklichen Zeug, und sie mußten mit dem winzigen Kätzchen sehr vorsichtig umgehen. Dazwischen wurde gegessen, und es wurden Einkaufstaschen geklebt. Schließlich war auch die letzte Spur von Leim aus dem Fell gewaschen, und als es trocken war, fühlte es sich samtweich an wie zuvor. Raketchen nahm das quieksende, saubere Kätzchen wieder in die Familie auf, nachdem sie es argwöhnisch beschnuppert hatte. Stachelschweinchen ertrug die Waschungen klaglos und ohne sich zu wehren, weil es irgendwie wußte, daß die Bäder sein mußten.
158
Die beiden anderen Kätzchen wurden weggegeben. Doch es kam überhaupt nicht in Frage, daß Stachelschweinchen nach diesem Abenteuer die Familie verließ. »Es klebt an uns«, sagte der Sohn. Stachelschweinchen wuchs zu einer schönen grau und weiß gestromten Katze heran. Sie hatte ein sehr liebevolles Wesen, als wüßte sie, daß ihr das Leben gerettet worden war. Schließlich bekam sie eigene Kätzchen. Aber die drei Tage, an denen sie ununterbrochen gebadet worden war, vergaß sie nie. Sie entwickelte eine absolute Aversion gegen Wasser und mied es wie die Pest. Sie weigerte sich, bei Regen nach draußen zu gehen. Im Garten machte sie immer einen weiten Bogen um den Goldfischteich. Die Tage der Heimarbeit vergingen, und das Leben veränderte sich. Marion wurde eine bekannte Schriftstellerin für Kindergeschichten und behielt ihr Stachelschweinchen in liebevoller Erinnerung.
159
Die stacheligen Damen
160
Die andere Hälfte des Hauses hatte seit mehr als einem Jahr leergestanden. Jules störten weder die nackten Fenster noch der ungekehrte Pfad, aber die verwilderten Brombeersträucher, das wuchernde Unkraut und Gras waren eine Herausforderung, der er nicht widerstehen konnte. Er hatte es sich angewöhnt, auf nette Art und Weise das fremde Grundstück zu betreten, indem er den vernachlässigten Rasen mähte und die trennende Hecke stutzte. Bald war kaum noch zu erkennen, wo der eine Garten endete und der andere begann. Ränder verwischten sich, und Pflanzen breiteten sich aus. Jules’ Leben bestand aus krassen Gegensätzen. Vier Tage in der Woche führte er in London das hektische Leben eines Börsenmaklers, doch die Wochenenden verbrachte er in der Doppelhaushälfte des Steincottage mit Schieferdach im Grünen, um zu entspannen, zu lesen und im Garten zu arbeiten. Als in der anderen Gartenhälfte plötzlich ein ›zum VerkaufSchild‹ stand, war er verstimmt und beunruhigt. Ihm gefiel es, beide Gärten zu pflegen. Er mochte den Frieden und die Stille. Er wollte keinen Nachbarn haben. Er war neugierig auf den neuen Besitzer, aber niemand im Spotted Dog schien etwas zu wissen. »Ich habe gehört, es ist jemand, der was mit Dallas zu tun hat«, sagte Old Jim, der in Wolken von Pfeifenrauch eingehüllt in seiner Ecke am Kamm saß. »Dallas?« »Na, diese Fernsehserie mit Joanie Collick..« »Joan Collins? Meinen Sie Denver?« »Hab ich doch gesagt«, brummte Old Jim. Jules war nicht klüger, als er in seinen Sportwagen stieg, um ins Cottage zurückzufahren. Er würde zu dem neuen Besitzer höflich, aber distanziert sein. Er würde von Anfang an klarstellen, daß er keinen Eingriff in seine Privatsphäre wünsche und nicht der Typ sei, von dem man sich eine Tasse Zucker ausleihen könne. Die Straße zu dem abgelegenen Cottage war sehr kurvenreich, weswegen er seine Geschwindigkeit auf dreißig Stundenkilometer drosselte. Trotzdem mußte er hart auf die Bremse treten, als hinter einer besonders scharfen 161
Haarnadelkurve plötzlich mitten auf der Straße ein Auto stand. Er kam nur ein paar Zentimeter von der hinteren Stoßstange entfernt zum Stehen. Er kurbelte sein Fenster herunter und lehnte sich hinaus. »Was, zum Teufel, machen Sie denn da?« schrie er wütend. »Tut mir leid«, ertönte eine Stimme. »Fußgänger überqueren die Straße.« Jules spähte in die von Scheinwerfern erhellte Dunkelheil vor dem anderen Auto. Er konnte niemanden sehen. Ungeduldig ließ er den Motor aufheulen und wartete, daß der Wagen vor ihm weiterfuhr. Dann drückte er auf die Hupe. »Die Straße ist noch nicht frei«, sagte die körperlose Stimme. Schließlich setzte sich das Auto mit knirschenden Gängen und stotterndem Motor in Bewegung. Jules sah, daß es ein uralter Morris war, der längst auf den Schrotthaufen gehörte. Da es keine Möglichkeit zum Überholen gab, fand er sich damit ab, daß er dem Auto bis zum Cottage folgen mußte. Als Jules durch den Schrei einer Eule in der unheimlichen Dunkelheit für den Bruchteil einer Sekunde abgelenkt war, stoppte der Schrotthaufen vor ihm plötzlich, und er mußte zum zweiten Mal hart bremsen. Er stieß die Tür auf und schwang seine langen Beine aus dem Wagen. Jetzt würde er diesem vertrottelten Fahrer die Meinung sagen. Im selben Augenblick wurde die Fahrertür des anderen Autos aufgemacht, und in Jules’ Scheinwerferlicht trat eine Vision in Gelb. Unter der weiten, breitschultrigen Jacke war ein helles Seidenkleid zu sehen. Kurzgeschnittenes kornfarbenes Haar wehte im Wind. Jules erhaschte einen Blick auf schlanke Beine in absurd hohen Stöckelschuhen, die um das Auto herumgingen. »Denver«, flüsterte Jules. »Entschuldigen Sie bitte«, fügte er laut hinzu und folgte der Gestalt. »Ist das eine Art Spiel?« »Sprechen Sie bitte leise. Er ist völlig verängstigt. Sie haben ein sehr empfindsames Gehör.« »Wer?« »Igel. Sie sind fast blind, haben dafür aber ein ausgesprochen gutes Gehör und einen ausgeprägten Geruchssinn.« 162
Jules traute seinen Ohren nicht. »Wollen Sie mir etwa sagen, daß ich zweimal mein Leben – ganz zu schweigen von meinem teuren Wagen – in Gefahr gebracht habe, wegen... wegen eines Igels?« Sie sah ihn mit unglaublich blauen Augen an. »Könnten Sie mit dem Gedanken leben, einen zerquetschten Igel auf dem Gewissen zu haben?« fragte sie eisig. »Ohne weiteres«, antwortete er. »Monster«, sagte sie. »Wie würde es Ihnen gefallen, wenn eine Straße über den Pfad, den sie immer benutzt haben, um zu Ihrem bevorzugten Busch oder Ihrer Hecke zu kommen, gebaut würde?« »Diese Straße existiert schon seit Jahren, obwohl sie erst letztes Jahr neu geteert wurde. Wollen Sie mir etwa weismachen, daß sich dieser... hm... Igel daran erinnert, daß hier einmal ein Pfad war?« »Dieses Wissen steckt wahrscheinlich in seinen Genen. Diese kleinen Wesen bevölkern die Erde schon seit zwanzig Millionen Jahren.« »Hat das kleine Wesen endlich die Straße überquert?« fragte Jules mit kaum verhohlener Verachtung. »Ich möchte noch vor der Morgendämmerung nach Hause kommen.« »Dieser hier ist vor Schreck erstarrt. Diese Haltung ist ihre natürliche Verteidigung. Sehen Sie, er hat sich zu einer Kugel zusammengerollt.« Jules schaute näher hin. Ein kleiner runder Hügel lag einen knappen Meter vor den Vorderrädern auf der Asphaltdecke. Die Wehrlosigkeit rührte ihn flüchtig. »Vielleicht könnten wir mit größter Vorsicht seitlich daran vorbeifahren?« Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu, streckte die Hand in ihr Auto und holte ein viereckiges Kopftuch heraus. Mit unendlicher Vorsicht bedeckte sie damit die Stacheln und trug den Igel in den Schutz der dichten Hecke. »So, jetzt verschwinde«, sagte sie sanft und drehte sich zu Jules um. »Es tut mir leid, daß ich Sie aufgehalten habe.« »Ach, ich wollte nur zu einer Party«, entgegnete er schulterzuckend. 163
»Sagten Sie nicht, Sie seien auf dem Heimweg?« fragte sie, startete den Motor und fuhr davon. Jules wachte am nächsten Morgen spät auf. Fremde Geräusche zerrissen die Landluft und dröhnten ihm in den Ohren. Er wankte, in die Bettdecke gehüllt, zum Fenster und rieb sich die Augen. Die Denver-Lady stand auf einer Leiter und putzte Fenster, während aus einem kleinen Kofferradio auf dem Sims der Wetterbericht, die Hitparade und Nachrichten plärrten. Jules stöhnte. Er hatte richtig geraten. Sie war seine neue Nachbarin. Mit seiner friedlichen Lebensweise war es vorbei. Sie war groß und schlank, trug Bluejeans und ein bauschiges Hemd. Ein Stirnband hielt ihr das Haar aus dem Gesicht. Jules empfand bei ihrem Anblick nicht den leisesten Anflug von Freude. Sie sah zu Jules, der unrasiert und mit zerzaustem Haar grimmig auf ihr Radio deutete. »Ich habe Ihr Auto erkannt«, sagte sie und drehte den Apparat leiser. »War es eine nette Party?« »Toll«, antwortete er und wußte, daß sie ihn hatte heimkommen hören, obwohl er eine Zeitlang in der Gegend herumgefahren war. »Ich bin Jules Brandon. Offensichtlich sind wir Nachbarn.« »Ursula Sloane. Sissy für meine Freunde.« Sie deutete auf ihren geschnittenen Rasen. »So sehr ich Ihre nachbarschaftliche Fürsorge zu schätzen weiß«, sagte sie, »wünsche ich nicht, daß mein Gras geschnitten und meine Hecken gestutzt werden. Für städtische Vorgärten habe ich nichts übrig. Würden Sie also freundlicherweise Ihren Rasenmäher und Ihre Heckenschere nur in Ihrem Garten benutzen?« »Wollen Sie ihn zubetonieren lassen?« fragte Jules forsch. »In Denver gibt es doch nur betonierte Patios.« »Nein. Ich lasse alles wild wachsen«, erwiderte Sissy. »Wie kommen Sie auf Denver?« fügte sie verwirrt hinzu. »Arbeiten Sie nicht fürs Fernsehen?« »Ja, aber nicht für Denver. Ich bin Produktionsassistentin. Wir drehen hauptsachlich Dokumentarfilme. Und Sie?« 164
»Ich bin Börsenmakler.« »Dachte ich’s mir doch«, sagte sie und fuhr fort, ihr Fenster zu putzen. »Die Merkmale dieses Berufs sind unverkennbar.« Diese Äußerung ging Jules ärgerlicherweise nicht aus dem Kopf, als er nach London fuhr und sich fragte, was seine neue Nachbarin in seiner Abwesenheit anstellen würde. Sissy zog mit Sack und Pack und einem Videogerät ein. Als er am Wochenende zurückkam, hingen Vorhänge an den Fenstern, standen Blumen in den Kästen, und der Türklopfer aus Messing war auf Hochglanz poliert. Sissy machte ein Picknick mit Stereomusik auf ihrem ungeschnittenen Rasen. »Trinken Sie eine Tasse Kaffee mit mir«, rief sie ihm zu. »Sie sehen völlig fertig aus.« »Danke«, sagte er und setzte sich in seinem gutgeschnittenen Stadtanzug ins Gras. Sissy sah in den farblich aufeinander abgestimmten Shorts und Hemd wie ein Pfirsich aus. »War ich letztes Wochenende grob zu Ihnen? Wenn ja, entschuldige ich mich dafür. Das lag nur an dem ungewohnten... Krach.« »Krach? Daran kann ich mich nicht erinnern.« Sie goß ihm aus einer roten Emailkanne Kaffee in einen Becher. Diese Frau ist voller Widersprüche, dachte er. Sie sieht wie Denver aus, benimmt sich aber wie ein Country- und WesternGirl. Er wußte nicht, was er von ihr halten sollte. »Was macht Ihre Arbeit?« »Ich habe mir für den Umzug zwei Wochen Urlaub genommen«, sagte Sissy. »Während der vergangenen sechs Monate haben wir wie die Sklaven geschuftet. Sie wissen gar nicht, wie wundervoll das für mich ist, ein eigenes Dach über dem Kopf, nachdem ich jahrelang nur in Hotels und Mietwohnungen gelebt habe.« »Ich wohne seit einem Jahr hier. Es ist sehr ruhig und friedlich.« Er betonte das letzte Wort leicht und kam sich gemein vor. Schließlich trank er ihren Kaffee. »Mögen Sie keine Gartenarbeit?«
165
»Es geht nicht darum, ob ich gern im Garten arbeite oder nicht. Ich habe einfach nicht die Absicht, in die Natur einzugreifen. Mein Garten ist ein Schutzgebiet«, erklärte sie. Wie auf ein Stichwort hin kam in diesem Augenblick ein Junge mit einem Pappkarton in den Händen den Pfad herunter. Er blieb vor Sissy stehen. »Sind Sie die Dame, die Igel mag?« fragte er. »Ja«, antwortete Sissy und schaltete das Radio aus. »Ich bringe Ihnen einen«, sagte der Junge. »Ich habe ihn in der Stadt entdeckt, wo er herumlief. Mein Dad meinte, er würde dort sterben.« »Stimmt«, sagte Sissy, nahm den Kartondeckel ab und schnappte nach Luft. Jules schaute ihr über die Schulter. Es war ein komischer und gleichzeitig mitleiderregender Anblick. Über der langen, spitzen Schnauze des Igels steckte ein Joghurtbecher, der von seinen spitzen Stacheln durchbohrt worden war. »Ach, das arme Ding«, sagte Sissy. »Erdbeere«, bemerkte Jules, der das Etikett las. Der Igel raschelte mit seinen Stacheln und schnaubte in den Becher. »Was für ein knuddeliges kleines Wesen.« »Ich werde Knuddel gleich befreien. Ich hole nur schnell meine Schere. Wahrscheinlich hat er Hunger.« Knuddel war im Handumdrehen von dem Becher erlöst und beschnupperte mit seiner feuchten schwarzen Nase einen Teller mit Fleischpastete. Er kletterte mit den Vorderpfoten auf den Tellerrand, fing schmatzend an zu fressen und beschmutzte alles mit Fleisch und Soße. »Was für niedliche Tischmanieren«, sagte Jules und zog sich hastig zurück. »Haben Sie einen Maschendraht übrig?« fragte Sissy. »Ich möchte ihr ein Gehege bauen.« »Ihr?« »Es ist ein Igelweibchen. Ich habe lange genug Dokumentarfilme gedreht, um das Geschlecht eines Igels bestimmen zu können.« 166
Später am Abend hörte Jules, wie Sissy seinen Maschendraht an Pfosten nagelte. Er wollte sich eine seiner Lieblingssendungen ansehen, aber der Lärm machte es ihm unmöglich. »Dieses Geklopfe ist entsetzlich«, schrie er zu ihr hinüber. »Ich schlage so oft daneben«, sagte sie und lutschte an ihrem verletzten Daumen. »Das tue ich nur, um einen friedlichen Abend verbringen zu können«, stöhnte er und griff nach einem Hammer. Knuddel gewöhnte sich ohne viele Umstände an ihr neues Heim. Ihr wurde alles geboten, was sie brauchte – eine dichte Hecke, in der sie sich eingraben und ein Nest zum Schlafen bauen konnte, einen unerschöpflichen Vorrat an Schnecken, saftigen Würmern und Insekten, Restaurantservice, bestehend aus Milch und Brot. Von Zeit zu Zeit wußte sie auch eine Dose Hundefutter zu schätzen. Knuddel nahm zu, und ihre Stacheln bekamen einen cremefarbenen Schimmer. Sissy brachte Knuddel ins Haus, um ihre Reaktion zu beobachten. Der Igel bekam Angst, rollte sich auf dem Küchenfußboden zu einer Kugel zusammen und blieb drei Stunden lang in dieser Abwehrstellung. Erst nach mehreren Versuchen wurde Knuddel zutraulicher und fing an, ihre neue Umgebung zu erforschen. Knuddel war auch eine Meisterin im Entkommen. Sie scharrte hartnäckig sechs lange Stunden ein Loch durch die Erde unter dem Maschendrahtzaun, doch nur, um sofort von Jules zurückgebracht zu werden. Das passierte innerhalb von drei Tagen dreimal. Jules trug den in ein Handtuch gewickelten Igel vorsichtig zu Sissy. »Das ist zuviel«, sagte er. »Ich komme mir allmählich wie ein Taxidienst vor.« Sissy schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln. »Wir wär’s, wenn Sie nächstes Wochenende mit mir zum Abendessen ausgingen?« schlug Jules plötzlich zu seiner eigenen Überraschung vor. »Ich müßte aber um halb elf wieder zu Hause sein.« »Um halb elf? Warum?« 167
»Um Knuddel zu füttern. Sonst geht sie woanders hin.« »Heißt das, Sie müssen wegen eines Igels pünktlich zurück sein?« fragte Jules fassungslos. »Wir könnten statt dessen hier essen«, antwortete Sissy ausweichend. »Ich koche uns etwas Gutes.« »Ich werde wegen eines Igels versetzt. Ich bringe den Wein mit.« Es wurde ein großartiges Essen. Der Schmorbraten und der chinesische Blattsalat waren köstlich, und das Sorbet war ein Traum. Und Sissy sah in ihren enganliegenden cremefarbenen Hosen und der lockeren Plisseebluse zum Anbeißen aus. Jules sehnte sich nach einem gemütlichen Abend, er wollte den guten Rotwein austrinken und hinterher eine Tasse Kaffee genießen. Da ertönte im Garten plötzlich ein unheimliches Schnauben und Grunzen. Sissy rannte zur Hintertür. »Es ist Knuddel«, rief sie. »Ihr ist was passiert.« Jules folgte mit dem Glas in der Hand und war nicht gerade erfreut darüber, daß ihre Unterhaltung von einem grunzenden Igel unterbrochen wurde, aber er kannte Sissy mittlerweile gut genug, um ihre Prioritäten zu akzeptieren. In der Dunkelheit konnten sie Knuddels schattenhafte Gestalt auf dem Gras erkennen. Dann merkten sie, daß es zwei dunkle Schatten waren, wovon einer Knuddel umkreiste und dabei diese merkwürdigen, grunzenden Tone ausstieß. Knuddel drehte sich um sich selbst und ließ den Eindringling nicht aus den Augen, schnappte und stieß nach ihm, wenn er ihr zu nahe kam. »Knuddel hat einen Liebhaber«, sagte Jules. »Meinen Sie wirklich?« fragte Sissy zweifelnd. »Igel sind Einzelgänger.« Knuddels scharfe Stacheln waren abwehrbereit aufgerichtet. Der Freier hatte keine Chance, setzte aber hartnäckig seine Bemühungen fort. »Sie glauben also, das sei ein ziemlich normales Verhalten?« fragte Sissy, noch immer zweifelnd. »Ziemlich normal für einen Igel, würde ich sagen«, antwortete Jules und umkreiste Sissy langsam, wobei er sie ansah. Aber sie
168
war anderweitig zu sehr in Anspruch genommen, um es zu bemerken. »Wir sollten sie besser allein lassen«, meinte sie und errötete leicht. »Ich finde es nicht richtig, ihnen zuzuschauen.« »Die beiden sind ein bißchen wie wir«, bemerkte Jules. »Was wollen Sie damit sagen?« fragte Sissy und stellte ihre Stacheln auf. Auch zwischen ihnen hatte bereits eine Art defensives Umkreisen stattgefunden. Jules ertappte sich manchmal dabei, daß er mit einem Teller voller Futter im Garten klapperte, wenn Sissy in London war. Und Sissy hatte zugestimmt, ein Merkblatt über Lärmbekämpfung zu lesen. Sie steckte eine Musikkassette in ihr Stereogerät. »Haben Sie etwas gegen sanfte Musik einzuwenden, um diesen schrecklichen Lärm zu übertönen?« Erst um drei Uhr morgens verstummte das Schnauben und Grunzen. Weder Sissy noch Jules hatte schlafen können. Da ihre Betten an der Zwischenmauer der beiden Cottages standen, trennten sie nur Zentimeter. Manchmal bildete sich Sissy ein, Jules atmen hören zu können. Seufzend dachte sie, daß alles viel einfacher zu sein schien, wenn man ein Igel war. Am nächsten Morgen war nur eine Stelle zu sehen, wo das Gras platt gedrückt war. Beide Igel waren verschwunden. Aber Knuddel kam am Abend zum Fressen zurück. Etwas später tauchte, sich wie ein Panzer durchs Unkraut wühlend, der zweite Igel auf. Er hatte den Weg ins Haus entdeckt, fand aber nicht wieder hinaus. Knuddel ignorierte ihn völlig. »Hallo, du sonderbarer Kauz«, begrüßte Sissy ihn und stellte einen zweiten Teller auf den Boden. Der Igel rollte sich sofort zu einem stacheligen Ball zusammen. Er blieb reglos liegen, während Sissy seine Milch austrank. »Das ist lächerlich«, sagte Sissy grinsend. »Ihr zwei kennt euch doch, oder?«
169
Ein paar Wochen später wog Sissy Knuddel auf der Küchenwaage. »Sie hat zugenommen«, erzahlte sie Jules. »Bestimmt ist sie trächtig.« Jules kam sich lächerlich vor, weil er sich freute. Das kleine Wesen rollte sich manchmal auf Sissys Schoß ein. Die Schnecken waren aus Jules Garten verschwunden, was bestimmt Knuddels unersättlichem Appetit zu verdanken war. »Ich hoffe, das wird nicht wieder ein so lärmendes Ereignis«, sagte Jules. »Knuddel wird ein Nest bauen«, erklärte Sissy. »Mit ihren spitzen Stacheln kämmt sie das Heu und macht ein gemütliches Nest für ihre Jungen.« Eines Abends wollte Knuddel nichts fressen. Sie watschelte zu dem Nest, das sie aus Heu und Blättern gemacht hatte. Jules und Sissy lauschten den leisen, schnaubenden Tönen, die aus dem Brombeerstrauch kamen. Knuddels Gefährte war nicht da. Wahrscheinlich stöberte er nach seinem Abendessen. Jules nahm Sissys Hand. Er sehnte sich danach, ihr zu gestehen, wie sehr er sie mochte, wie sehr er ihren verwilderten Garten und wie sehr er ihr glitzerndes Denver-Aussehen liebte, unter dem sich ein weiches Herz verbarg. »Schafft Knuddel das allein?« fragte Sissy ängstlich. »Gib ihr Zeit«, sagte Jules und drückte ihre Hand. »Wenn sie morgen früh noch schnüffelt und schnaubt, holen wir den Tierarzt.« Aber Knuddel meisterte im Gegensatz zu dem menschlichen Paar die Situation perfekt. Am nächsten Morgen schlief sie fest, und ihre drei Kleinen mit den winzigen weichen weißen Stacheln schmiegten sich eng an ihren Bauch. Die Igeljungen waren fast zwei Wochen alt, ehe sie zum erstenmal ihre Nasen aus dem Nest steckten, um ihre Umgebung zu erkunden. Knuddel schien es nichts auszumachen, als Sissy die drei hochhob. Sie stießen schrille, piepsende Protestschreie aus. Jules verschenkte seinen Rasenmäher und versetzte den Maschendrahtzaun, um den verwilderten Garten für die 170
zunehmende Bevölkerung zu vergrößern. Er machte Sissy nicht direkt einen Heiratsantrag – es war kaum mehr als ein Vorschlag, daß die Trennmauer zwischen den beiden Cottages eigentlich nur ein Ärgernis sei, das man doch entfernen könne? Sissy flog in seine Arme. Ihre Augen leuchteten wie Sterne. Die beiden bemerkten eine Veränderung im Verhalten ihrer Igel, als die Herbsttage kühler wurden. Die Tiere schienen mehr zu schlafen und weniger nach Futter herumzustöbern. Eines Abends war der Garten leer. Sissy stand da, rief und klapperte mit den Futtertellern, aber kein kleiner dunkler Hügel wanderte aus dem Gestrüpp. Kein kleiner Panzer wälzte durch das hohe Gras. Keine Jungen, die Nasen schnüffelnd auf der Erde, folgten ihrer Mutter. »Sie sind alle fort«, schluchzte Sissy. Jules nahm sie in den Arm. »Nur für den Winter, Liebes. Jetzt halten sie in ihrem behaglichen Nest Winterschlaf und zehren von dem Fettvorrat, den sie sich dank deines guten Futters angefressen haben. Und im Frühling wachen sie wieder auf.« »Kehren sie dann zurück?« »Vielleicht. Aber wir werden hier sein, und darauf kommt es an.« Ein frostiger Wind wehte durch den kahlen Garten, doch Sissy war nicht kalt. Eine andere stachelige Dame hatte ihr behagliches Nest gefunden. Und sie wußte, daß Jules mit ihr auf das Ende des Winters und die Rückkehr der Igel warten würde.
171
Der Wandteppich
172
Die Katze saß auf dem Teppich. Der Teppich hing an der Wand. Die Wand bebte, als Granaten am Rand des zerbombten Dorfes einschlugen. Es war der dritte Tag des Bombardements, und häßliche Risse spalteten wie Blitzeinschläge die weißgetünchten Wände. Julie kauerte unter dem stabilen Tisch, die Katze im Arm. Die Katze war ein bemerkenswert schöner schwarzer Kater, der Schwarzer Kerl hieß, weil niemandem ein besserer Name eingefallen war. Sie hatte ihn, von den Kämpfen und Bombardierungen völlig verstört und halb verhungert, entdeckt. Mit wildem Blick hatte er jeden, der versuchte, ihn anzufassen, angeknurrt und angefaucht. Julie hatte ihn nicht angerührt. Sie liebte Katzen, aber ihr Beruf als Fernsehreporterin ließ es nicht zu, daß sie eine Katze zu sich nahm. Ständig war sie in der ganzen Welt unterwegs, um über Konflikte, Kriege oder Naturkatastrophen zu berichten. Daher war es unmöglich, eine Katze zu halten, denn andernfalls hätte sie dauernd Freunde bitten müssen, diese zu füttern. Und solche Freunde hatte sie nicht. Deswegen hatte sie auf ihren Reisen als Ersatz stets irgendwelche Katzendinge bei sich. Sie besaß eine Katzenbrosche und Katzenohrringe (wundervoll schlanke silberne Siamkatzen), einen Schal mit niedlichen Kätzchen drauf und ein großes Baumwollsweatshirt mit einer pluderigen Perserkatze auf der Vorderseite. Und den Teppich. Julie hatte den Teppich in einer schmutzigen Bude auf einem Markt in Marrakesch entdeckt. Die aufgestickte schwarze Katze hatte ihr zugezwinkert, und das seidige Fell hatte durch den Dreck und Staub hindurchgeschimmert. Sie feilschte nicht einmal mit dem Händler um den Preis, der alt und arm war, während es ihr in materieller Hinsicht an nichts mangelte. »Woher haben Sie den Teppich?« hatte sie den Mann gefragt. Aber er hatte nur mit den Schultern gezuckt, den Teppich eingerollt und mit einer Schnur zusammengebunden. Als Julie den Schwarzen Kerl im Schutt entdeckte, war seine Ähnlichkeit mit der Katze auf dem Teppich der Grund, daß sie ihn unbedingt retten wollte. Zwischen Aufnahmen und Interviews mit Soldaten, Guerillas und weinenden 173
Bauersfrauen, die ihre Söhne verloren hatten, brachte sie dem Kater Futter, legte es in seine Nähe und sprach mit leiser, warmer und einfühlsamer Stimme auf ihn ein. In einer sternenlosen Nacht, als die Geschütze schwiegen und die Soldaten schliefen, folgte er ihr. Die Stille schien sein verstörtes Gemüt zu besänftigen, und er ließ sich von ihr in die Arme nehmen. Sie brachte ihn ins Haus, streichelte seinen schmalen Kopf und redete mit ihm die ganze Nacht. Seine seltsamen grünen Augen starrten sie mit einem Ausdruck von Verzweiflung an. »Ich kümmere mich um dich«, sagte sie und teilte mit dem Kater ihr Corned beef. »Wir kommen schon durch, du und ich. Mach dir keine Sorgen. Dieser Krieg dauert nicht ewig.« Der Schwarze Kerl schien ihre Worte zu verstehen. Er schlief neben ihr, und manchmal fühlte sie in der Nacht, wie sein weiches Fell ihre Haut streichelte. In ihren Träumen dachte sie, daß die Katze, die auf dem Teppich saß der an ihrer Wand hing, aus der unendlichen Einsamkeit gekommen war, um jetzt ihr Bett mit ihr zu teilen. Julie dachte nicht an ihre Rückkehr nach London. Sie wußte, daß sie den Schwarzen Kerl nicht in diesem zerstörten Dorf lassen konnte. Das wäre zu grausam. Aber die englischen Quarantänebestimmungen... Würde der Schwarze Kerl die lange Trennung aushalten? Gerade als sie versuchte, sein verfilztes Fell zu kämmen, traf sie der Schmerz. Sie preßte die Hand gegen ihre Seite und atmete tief durch – wie der Arzt ihr geraten hatte –, bis der Schmerz verebbte. Die großen weißen Götter im Guy’s Hospital konnten nicht feststellen, woher er kam. Sie hatte unzählige Tests, Röntgenaufnahmen und alle möglichen Untersuchungen über sich ergehen lassen. »Ich mache mir keine Sorgen«, sagte sie zu dem Schwarzen Kerl und griff wieder nach dem Kamm, der zu Boden gefallen war. »Eines Tages werden die Schmerzen aufhören. Schmerz ist schließlich auch nur relativ.« Die Katze saß auf dem Teppich. Der Teppich hing an der Wand. Die Steinwand reflektierte die grellen, in die Hütte einfallenden Sonnenstrahlen in einer Myriade von 174
Regenbogenlichtern. Am Strand plätscherten die Wellen träge über den Sand. Die schwarze Katze lag zusammengerollt auf einem Kissen und atmete leise und tief. Sie träumte von vergangenen Zeiten, als sie im hohen Gras an den herrlichen Klippen eines anderen Meeres Jagd auf Libellen gemacht hatte. Sie zuckte vor Aufregung mit den Pfoten, zeigte ihre scharfen Krallen, fühlte das Kratzen der rauhen Borke an den empfindlichen Nervenenden und roch den harzigen Geruch des Waldes. Joab spielte mit den spitzen Ohren der Katze, und kraulte sie mit seinen langen braunen Fingern. Es war ein guter Tag gewesen. Er war hundertmal wie ein Fisch in die Tiefen des klaren Wasser getaucht und hatte Perlmuscheln vom Grund des Golfs geholt. »Heute abend gibt es eine gute Mahlzeit, kleine Yassy«, sagte er. »Wenn es kühler wird, für dich und mich. Aber vorher muß ich mich um andere Dinge kümmern. Ich muß einen bedeutenden und wichtigen Mann im Dorf aufsuchen.« Joab steckte die Perle in die Falten seines braunen Gewands, schlüpfte in seine Sandalen und machte sich auf den Weg über den langen Sandpfad zu den Häusern mit den flachen Dächern in der Nähe des Brunnens. In der Abenddämmerung tätigte der Händler seine Geschäfte mit den Tauchern. Er hätte die Taucher gern angestellt, ihnen einen Wochenlohn gezahlt und alle Perlen behalten. Aber Joab zog es vor, weiterhin selbständig zu arbeiten, obwohl bedrohliche Gerüchte kursierten. Unter dem Sand sei flüssiges Gold entdeckt worden, und bald würden es riesige Maschinen aus dem Wüstenboden pumpen und der Bevölkerung immensen Reichtum bescheren. Er glaubte nicht daran. »Ahlan wa sahlan.« »Ahlan beek.« »Masa il-khair.« »Masa in-nur.« »Was hast du für mich, Joab?« fragte der Händler aus den Schatten, als die Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht waren. Er hatte ein sehr dunkles Gesicht, und die Kopfbedeckung aus rot 175
kariertem Stoff war verrutscht. Eine junge Frau neben ihm hatte ihr Gesicht verhüllt, aber nicht ihre blitzenden Augen. In Joabs Kopf knirschten hölzerne Wasserräder, und er vergaß den Zweck seines Besuchs. »Na, komm schon. Laß mich nicht warten.« »Ich besitze eine Perle, in ’effendiah. Eine Perle für einen Scheich, einen Prinzen oder sogar einen König.« »Zeig sie mir.« Joab zögerte. Er vertraute weder dem Händler noch der jungen Frau, die ihn nicht aus den Augen ließ. Er wollte nur die Perle verkaufen und in seine Hütte am Meer zurückkehren. Yassy wartete auf ihn. Er hatte immer Angst, sie könnte weglaufen oder ihm gestohlen werden, wenn er zu lange abwesend war. Niemand hatte je sein Leben geteilt, und die Katze füllte diese große Leere. »Zeig sie mir, du Narr!« Joab holte die Perle hervor. Die glänzende Kugel auf seiner Handfläche schillerte in allen Regenbogenfarben. Die Perle war nicht milchigweiß, sondern leicht rosa gefärbt, als hätten die Finger der Morgendämmerung sie berührt. Joab hörte die Frau nach Luft schnappen. Er spürte förmlich ihre Gier, die ihm die Perle entreißen wollte. Aber die Perle war nicht für sie bestimmt. Wenn ihm der Händler einen guten Preis zahlte, würde sie eines Tages den Hals einer Prinzessin oder den Finger eines arabischen Prinzen schmücken. Das Angebot kam zögernd und war miserabel. Joab war kein Narr. Er wußte, daß die Perle viel wertvoller war, und schüttelte den Kopf. »La, la«, sagte er. »Das ist nicht genug.« »Itfaddal!« schrie der Händler, als Joab die Perle in seinen Kaftan zurücksteckte. »Imshi!« Joab ließ der Ärger des Händlers ungerührt. Er verneigte sich höflich und ging zu seiner einsam gelegenen Hütte am Meer zurück. Der Qur’an sagte, daß jeder Handel fair zu sein habe, und ihm war nicht der Preis für den wahren Wert der Perle geboten worden. »Ma ’alesh«, sagte er zu der Katze, als sie das Abendessen aus gebackenem Fisch teilten. »Es macht nichts.« 176
Er glättete den Teppich an der Wand und erwiderte das Zwinkern der seidenen Katze. Seine Eltern hatten ihm den Teppich hinterlassen. Er war sein Erbe. Nie würde er ihn verkaufen, auch dann nicht, wenn seine Lungen zum Tauchen zu schwach wurden. Aber am nächsten Tag, als er wieder im klaren Wasser des Arabischen Golfs tauchte, kamen der Händler und die Frau in seine Hütte und suchten überall nach der Perle, die sie schließlich in der kunstvollen Stickerei des Teppichs fanden. Da sprang Yassy dem Händler auf die Schulter und schlug ihm ihre Krallen in den Nacken. Mit einem Aufschrei riß er die Katze herunter und schleuderte sie zu Boden. Die Frau trat Yassy in die Rippen. Während Yassy das Fell über ihrer gebrochenen Rippe leckte, wurde die Perle von einer schmierigen Hand zur nächsten im Spinnennetz der gierigen Händler weitergereicht. Joab trauerte nicht um die Perle. Aber er weinte um Yassy, berührte sie sanft, denn jede Bewegung bereitete ihr Schmerzen. Er konnte nicht verstehen, wie jemand einem so kleinen Wesen weh zu tun vermochte. Er legte Yassy behutsam in die Sonne, deren Wärme ihre Wunden heilte, aber er fand nie wieder eine so große und so schöne Perle. Die Arbeiter kamen mit Baggern und hoben ein tiefes Loch für einen Hafen für die Tanker aus. Joab beobachtete mit großem Erstaunen, wie sich diese Monster tief ins Meer gruben und Unmengen von Muscheln und Sand ans Ufer schaufelten. Ihm war nicht bewußt, daß diese Maschinen sein Leben zerstörten. Er ahnte nicht, daß er eines Tages sogar den Teppich würde verkaufen müssen, um zu überleben. Der kalte Wind peitschte über die Yorkshire-Moore, als wäre er vom Teufel besessen. Emily Jane ging über das rauhe Gelände. Ihr schwarzer Rock flatterte um ihre Beine, und sie mußte mit einer Hand ihre Haube und mit der anderen ihr Schultertuch festhalten. Ihre Schwestern hatten ihr gesagt, sie solle an diesem Tag nicht ausgehen, aber sie brauchte frische Luft. Das Pfarrhaus erstickte sie. 177
Es hatte so viele Beerdigungen gegeben. Und die nächste würde die ihre sein, das wußte sie. Der Himmel sagte es ihr. Die Wolken schrieben ihren Namen in den Himmel. Der Regen peitschte eine stechende Botschaft in ihr Gesicht. Doch sie hatte keine Angst, denn sie hieß den Tod mehr willkommen als das Leben. Blackie lief neben ihr her. Er war vom Kopf bis zu den Pfoten schwarz, lebhaft, verspielt und stets zu Streichen aufgelegt. Der Kater mochte alle Schwestern gleich gern, wußte aber, daß seine Zeit mit Emily bald zu Ende sein würde. Emily liebte ihr Leben im Moor, die abgelegenen Weiler in den Hügeln waren grau vor Einsamkeit. Die rauhe Luft tat weh in ihren geschwächten Lungen, und ihr Atem rasselte manchmal vor Schmerz, aber ihr starker Charakter verdrängte diese Unannehmlichkeiten. Kein Arzt sollte ihr Vorschriften machen, noch Arzneien oder Pillen verschreiben. Ihr Husten und ihre Erkältung waren hartnäckig, und das Stechen in ihrer Brust erschwerte ihr das Atmen. Sie wurde so dünn, daß ihr die Kleider wie Sackleinen vom Leib hingen. »Ich werde dich bald verlassen«, sagte sie zu dem Kater, der mit hocherhobenem Schwanz neben ihr herging. »Ich möchte nicht länger auf dieser kalten Erde verweilen. Kommt die Stunde meines Todes, so werde ich meinem Schicksal unerschrocken gegenübertreten. Ich empfinde kein Selbstmitleid, nur Bitterkeit, weil ich Ungetanes ungetan lassen muß. Ich weiß, daß noch so viel in mir steckt. Ach, Blackie...« Sie nahm den Kater in die Arme. »Wann werde ich diese wilden Hügel wiedersehen? Wo ist meine Jugend geblieben?« Blackie sprang davon, jagte durch das Farnkraut und das purpurne Heidekraut. Dann machte er plötzlich kehrt und rieb seinen Kopf an ihrem abgetretenen schwarzen Stiefel. »Ich muß mit aller Kraft weiterarbeiten«, sagte sie und vergrub ihr Gesicht in seinem weichen Fell. »Ich darf nicht müßig sein.« So schrieb sie mit ihrer kleinen Hand Worte der Liebe, Lust und Leidenschaft, während ihre Haut vor Fieber brannte und ihre ausgemergelte Gestalt im Geist über die rauhe Erde stolperte. 178
Ihre Kräfte erlahmten mehr und mehr, und die Krankheit streckte sie nieder. Keeper, ihre grimmige und getreue Bulldogge, ließ sie nicht allein. Er lag auf einem Teppich vor ihrem Bett. Aber Blackie konnte nicht an ihrer Seite bleiben. Er mußte über die wilden Moore jagen. Er lief für Emily und brachte ihr in seinem Fell den Duft des Farnkrauts und Tautropfen mit, die wie Diamanten in seinen Schnurrhaaren funkelten. Ende Dezember, als der Frost das Moor mit eisigem Griff packte, wich das Leben aus Emily. Keeper litt und heulte an ihrem Totenbett. Doch Blackie lief mit dem Wind und trug ihren Geist ins wilde, kahle Moor, wo er immer frei sein würde. Die Katze saß auf dem Teppich. Der Teppich würde bald zu Ehren ihres Mannes, Sir Rob Hulsh, der in Kürze vom siegreichen Kampf gegen die spanische Armada zurückkehren würde, an der Wand hängen. Genevieve machte die letzten Stiche, glättete hier und dort ein paar Fäden und küßte das liebliche Gesicht der schwarzen, seidenen Katze. »Bald kommt er nach Hause«, flüsterte sie lächelnd. »Und du bist mein Geschenk für ihn.« Sie erinnerte sich an die Nacht, als in allen Leuchttürmen entlang der Küste von South Devon Feuer angezündet worden waren. Die Lichter flackerten von den Klippen und alarmierten die Bevölkerung, daß die unbesiegbare Flotte spanischer Schiffe über den Kanal gesegelt kam. Genevieve hatte gewußt, daß sich ihr Mann sofort der englischen Flotte unter dem Kommando von Lord Howard von Effingham anschließen würde. Er mußte seine Farm in Devon sich selbst überlassen. »Meine liebste Geney«, hatte er ihr zugeflüstert und sie fest umarmt. »Ich hasse es, in den Krieg zu ziehen, aber ich muß es unseres Sohnes wegen und zur Rettung von England tun.« Genevieve konnte kaum sprechen. Dieser gutaussehende Mann mit dem rabenschwarzen Haar war der Mittelpunkt ihres Universums. Sie lebte nur für ihn, für seine zärtlichen Worte und seine leidenschaftlichen Umarmungen. Was ein Glück, daß sie ihren jungen Ehemann liebte und von ihm wiedergeliebt wurde. Ihre Schwestern waren in Ehen, die nur aus politischen 179
Gründen geschlossen worden waren, gefangen. Aber Genevieve und Rob hatten aus Liebe und gegen den Willen ihrer Eltern geheiratet. Als jüngste von drei Schwestern bekam Genevieve bloß eine kleine Mitgift und kein Land. »Ich will nur dich«, hatte er gesagt und sie an einem Tag im bitterkalten Winter des Jahres 1586 auf den warmen, duftenden Heuboden getragen. »Es ist mir egal, ob du ein Schwein oder nur einen Beutel mit deinen Habseligkeiten mitbringst. Mein Entschluß steht fest.« »Aber du brauchst Geld für deine Farm«, hatte sie milde protestiert. »Du solltest eine reiche Witwe heiraten.« »Dies ist der einzige Reichtum, den ich mir je nehmen werde«, sagte er und vergrub sein Gesicht in ihrem schimmernden Haar. Im Frühjahr lief Genevieve durch das weiche Gras der Wiesen in Devon. Sie war maßlos glücklich. Endlich konnten ihre Eltern die Einwilligung zur Heirat nicht länger verweigern. Rob und sie würden rechtzeitig vor der Geburt ihres Sohnes Hochzeit feiern. Aber im Land kursierten die beunruhigenden Gerüchte, daß Philip II. einen Angriff auf England plane. Es wurde von einer riesigen Flotte, die aus über hundertdreißig Schiffen mit schwerem Geschütz bestehe, gesprochen. Genevieve konnte weder malen noch zeichnen, aber sie konnte sticken. Ein Porträt ihres gutaussehenden Ehemannes kam nicht in Frage, also begann sie statt dessen einen Gobelin mit einer Katze zu sticken, deren Fell so rabenschwarz wie Robs Haar war und deren leuchtend blaue Augen ebenso blitzten und zwinkerten wie seine Augen. »Der Teppich ist bei deiner Rückkehr fertig«, sagte sie und unterdrückte mit eisernem Willen ihre Tränen. Er mußte mit ihrem Lächeln im Herzen in den Kampf gegen die Armada ziehen. Rob küßte seine Frau, dann seinen Sohn und legte seine Hand auf die Flanke der seidenen Gobelinkatze. »Das ist mein Versprechen. Ich werde unversehrt aus dem Kampf zurückkehren.«
180
Und er hielt sein Versprechen Genevieve erfuhr, daß viele der feindlichen Schiffe beschädigt worden waren und nach Dünkirchen segelten. Die englische Flotte war auf dem Weg nach Hause. Sie hängte den fertigen Gobelin an die Wand, damit ihn Rob sofort sah, wenn er eintrat. Ein Südweststurm braute sich über dem Meer zusammen und peitschte die Wellen donnernd gegen die Klippen. Genevieve lauschte mit Angst im Herzen dem Heulen des Sturms. »Gibt es Neuigkeiten?« fragte sie den Diener, der mit aschfahlem Gesicht in die Halle kam. »Eine spanische Galeone treibt in der Nähe von Hope Cove ans Ufer. Es ist ein Lazarettschiff und hat viele Verwundete an Bord. Sir Rob fährt mit hinaus, um das Schiff sicher in den Hafen zu steuern.« »Nein!« schrie sie. »Nicht Rob. Er muß nach Hause kommen.« Sie warf sich ein dickes Umhängetuch über die Schultern und lief in den Sturm hinaus. Ihre Füße glitten auf der nassen Erde aus, und der Regen peitschte ihr Gesicht. Bei jedem Atemzug, den sie tat, verspürte sie einen Stich in ihrer Seite. Trotzdem kletterte sie zum Bolt Tau hinauf, wo sie in die neblige Bucht hinuntersehen konnte. Das Segelschiff mit den großen Masten wurde von den mächtigen Wellen hin und her geworfen. Durch die Gischt konnte sie den Namen entziffern: San Pedro el Mayor. Genevieve lief den Pfad zur Bucht hinunter und hielt nach einem großen Mann mit dichtem rabenschwarzem Haar Ausschau. Jeder Atemzug war eine Qual, und ihr Herz drohte zu bersten. Dann sah sie ihn. Er wurde von zwei Matrosen durch die tosenden Wellen getragen. Sein Körper war zwischen den Felsen und dem Rumpf des gestrandeten Schiffes zerquetscht worden. Es war kein Leben mehr in ihm. Sein stolzer Kopf fiel nach hinten, sein Haar bedeckte wie Strähnen schwarzer Seide sein Gesicht, das keine Ähnlichkeit mehr mit Rob hatte. Wahnsinnig vor Verzweiflung, stürzte sich Genevieve ins Meer, und eine mächtige Welle hob sie hoch und schleuderte sie 181
gegen einen gezackten Felsen. Ein entsetzlicher Schmerz durchbohrte ihre Seite, und ihr Schrei hallte weit in die Zukunft. »Es gibt keine physische Ursache für diesen Schmerz«, sagte der Arzt und legte das Dossier mit den Testergebnissen und Röntgenaufnahmen beiseite. »Sie sind eine sehr gesunde junge Frau. Ein bißchen erschöpft vielleicht...« »Wollen Sie damit sagen, daß es Phantomschmerzen sind?« fragte Julie. »Schmerzen, die ich mir nur einbilde?« »Nein, damit will ich nicht sagen, daß Sie sie sich einbilden. Ich bin überzeugt, daß sie echt sind. Aber es könnten Phantomschmerzen sein. Nach einer Amputation hat der Patient oft Schmerzen in dem Glied, das nicht mehr vorhanden ist.« Julie schauderte. »Also könnte der Schmerz in einem Teil meines Körpers sein, der nicht mehr existiert?« Das war ein beängstigender Gedanke. Der Arzt warf ihr einen verwirrten Blick zu. »Vielleicht könnten Sie darüber einen Beitrag fürs Fernsehen machen...« Julie betrat ihr Londoner Apartment und faßte den Entschluß, sich nie wieder untersuchen zu lassen, um die Ursache ihrer Schmerzen festzustellen. Der Schwarze Kerl stand auf und streckte sich träge. Er hatte auf der Mikrowelle, seinem Lieblingsplatz, gelegen. Er sah sehr gut aus. Die monatelange hervorragende Ernährung und Pflege hatten seinem Fell einen seidigen Schimmer verliehen. Er sprang zu Boden, um Julie zu begrüßen. Sie ging in die Hocke und fuhr mit den Fingern durch sein dichtes Fell. Als die Granate das Haus traf, hatte sie nur ihn retten können. Sie war vor den Panzern geflohen und hatte alles zurückgelassen, sogar den Teppich. Die Katze saß auf dem Teppich. Der Teppich hing an der Wand. Einer anderen Wand, einer Wand von der aus die seidene Katze beobachten und warten konnte...
182