Die Rückkehr der Katze Version: v1.0
RÜCKBLENDE Flughafen Sydney Felidae, gerade erst von ihren schweren Verletzungen ...
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Die Rückkehr der Katze Version: v1.0
RÜCKBLENDE Flughafen Sydney Felidae, gerade erst von ihren schweren Verletzungen genesen, hob den Lilienkelch vom Kabinenboden auf. Lazarus, jene von Landru erschaffe ne Mißgeburt, hatte ihn zu ihr zurückgebracht, dem im Kelch veranker ten Befehl gehorchend. Inzwischen war der ›Fünf-Tage-Vampir‹ tot, zu Staub zerfallen. Nur das stählerne Korsett erinnerte noch an seine im Zeitraffer verflogene Existenz. Ungesehen, wie sie gekommen war, verließ Felidae das Flugzeug. Bis auf Lazarus’ Opfer, denen niemand mehr helfen konnte, blieben alle in Warschau gestarteten Passagiere hypnotisiert, aber unversehrt auf ihren Plätzen zurück. Durchaus zu Felidaes Bedauern, die keine Zeit mehr hat te, sich um sie zu kümmern …
Was bisher geschah Beim Kampf gegen die Kreatur einer rumänischen Vampirsippe fällt Lilith ein mächtiges Artefakt in die Hände: ein Schlangenstab mit erschreckenden magi schen Eigenschaften. Als sie ihn berührt, hat sie die blutrünstige Vision einer »Dunklen Arche« – ohne viel mit dem Begriff anfangen zu können. In Tokio läßt Beth den Stab eigenmächtig dem Sammler Tomaso zukommen, der seine Herkunft bestimmen soll. Doch die Magie des Stabes zwingt den Mann, das Opferinstrument zu benutzen: Er mordet und stiehlt die Herzen der Leichen. Bevor Lilith den Sammler stoppen kann, sind die Vampire auf ihn auf merksam geworden. Zwar kann Lilith das Artefakt wieder an sich nehmen, doch Tomaso fällt in die Hände der Tokio-Sippe. In Sydney beginnt unterdessen eine Entwicklung, die an die Anfänge von Li liths »Wirken« zurückreicht: Das Haus, in dem sich die Kraft des LICHTS ma nifestiert hat, vereint die Seelen von Jeff Warner, Esben Storm und Virgil Codd zu einem unheimlichen Wesen, das nun, da die Zeit von Liliths einhunderts tem Geburtstag naht, das nachholt, was sie aus Menschlichkeit versäumte: Das Wesen sucht Liliths Opfer auf – und tötet sie, damit ihr spezieller Keim wirk sam werden kann! Gleichzeitig läuft Beth in Tokio in eine Falle der Vampire. Damit hat das Ver steckspiel ein Ende; Lilith muß erneut fliehen. Beth, von Warner/Storm/Codd aus der Gewalt der Vampire befreit, begleitet sie – nachdem unbemerkt ein Teil des LICHTS aus der Dreiheit auf sie übergegangen ist … Unterdessen sind Duncan Luther und George Romano, zwei Tote, bei deren Liliths besonderer Keim wirksam wurde, in einem schier unendlichen Korridor unter der Wüstenstadt Uruk im früheren Mesopotamien unterwegs. Die Türen des Ganges führen in vergangene Epochen, und nachdem sie bereits dem alten Ägypten Echnatons einen »Besuch« abgestattet hatten, erfahren sie nun die Be deutung der Dunklen Arche: Zeitgleich mit Noahs Arche gebaut diente sie dazu, auch das Vampirgeschlecht überleben zu lassen. Mit dem Schlangenstab wurden an Bord die menschlichen Opfer getötet. Als Luther und Romano dort ums Leben kommen, finden sie sich in Uruk wieder – am Ende des Korridors!
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter des Menschen Sean Lancaster und der Vampirin Crean na. Für 98 Jahre lag sie schlafend in einem lebenden Haus in Sydney, doch sie ist vor der Zeit erwacht. Sie muß gegen die Vampire kämpfen, die in ihr einen Ba stard sehen, bis sie sich ihrer wahren Bestimmung bewußt wird. Der Symbiont – Ein geheimnisvolles Wesen, das Lilith als Kleid dient, ob wohl es fast jede Form annehmen kann. Der Symbiont ernährt sich von Vam pirblut und verläßt seine Wirtin bis zu deren Tod nie mehr. Der Scout – Ein magisches Tattoo in Liliths linker Hand, das sie vom Körper lösen und durch dessen Augen sie sehen kann. Doch was man dem Scout zu fügt, spürt auch sie. Landru – Mächtigster der alten Vampire. Seit 268 Jahren jagt er dem Lilien kelch nach, dem Unheiligtum der Vampire, der ihm damals von Felidae gestoh len wurde. Felidae – Vampirin im Auftrag einer geheimnisvollen Macht, die Liliths Ge burt in die Wege leitete und damit einen Plan verfolgt, der die Welt der Men schen und Vampire verändern wird. Beth MacKinsey – Gleichgeschlechtlich veranlagt, hat sich die Journalistin in Lilith verliebt und ist zur Zeit deren einzige Gefährtin im Kampf gegen die Vampire. Die Vampire – Noch kennt niemand ihre wahre Herkunft, doch sie leben seit Urzeiten neben den Menschen in Sippen zusammen. Um einen neuen Vampir zu schaffen, muß ein Menschenkind schwarzes Blut aus dem Lilienkelch trin ken. Der Kodex verbietet Vampiren, sich gegenseitig umzubringen. Die Dienerkreaturen – Tötet ein Vampir einen Menschen mit seinem Biß, wird dieser ihm nicht ebenbürtig, sondern eine Kreatur, die dem Vampir be dingungslos gehorcht. Ihrerseits kann eine Dienerkreatur den Vampirkeim nicht weitergeben und wird – anders als die Ur-Vampire – mit zunehmendem Alter immer lichtempfindlicher.
Was Leben ist, vermag keine Wissenschaft zu sagen. Albert Schweitzer RÜCKBLENDE – Landru Er dachte sich tausend qualvolle Todesarten für den unbekannten rotblonden Hünen aus! Der grobschlächtige Riese hatte ihm im Treppenhaus vor Beth MacKinsays Wohnung aufgelauert*, und seit dem anschließenden kurzen Kampf zappelte Landru in den Nachwirkungen einer unge heuer heftigen magischen Entladung wie in einem flirrenden Netz, das seinen Körper lückenlos umschloß und jeden Befreiungsversuch quittierte, indem es den Vampir um ein weiteres Stück seiner Kraft beraubte. Diese Falle nährte sich aus den zunächst blinden Bemühungen, Magie mit Magie zu bekämpfen – Feuer mit Feuer. Wertvolle Minuten verstrichen, ehe Landru das Prinzip der Heim tücke durchschaute – und wirksam dagegen anging. Er hörte auf, sich zu wehren, und seine Passivität brachte die fremde Magie schon nach kurzer Zeit zum Verlöschen. Wankend stützte er sich an der nächsten Wand ab und versuchte die Benommenheit abzustreifen. Dann verschwendete er keine Zeit mehr, sondern schleppte sich die Stufen hinab und hinaus auf die Straße. Nichts! Sowohl Lilith als auch Beth MacKinsay und der Hüne waren ver
*siehe VAMPIRA 30: ›Der Hexer‹
schwunden, ohne eine verwertbare Spur zu hinterlassen. Landru versuchte es noch in der Tiefgarage und der Wohnung, aber diese vage Hoffnung, doch noch einen Anhaltspunkt auf den Verbleib des Trios – wenigstens den von Lilith – zu erhalten, wurde enttäuscht. Er drang in ein darüberliegendes Apartment ein und schnappte sich eine vor Angst zitternde alte Frau, die unablässig schrie: »Ich habe die Polizei verständigt! Die Polizei ist unterwegs …!« Sie hörte erst auf, als sie den Tod in die steifen Glieder kriechen fühlte. Auch wenn ihr Blut nur bescheidensten Ansprüchen genügte, be wegte sich Landru danach doch spürbar sicherer auf den Beinen. Es war kaum anzunehmen, daß Beth oder Lilith noch einmal hier her zurückkehren würden. Dennoch zog Landru auch diese Even tualität in Betracht und hinterließ seine Siegelmarken, um jederzeit unterrichtet zu sein. Die Siegel würden keinem behördlichen Erkennungsdienst auffal len. Sie waren unsichtbar; ein ›Verfallsdatum‹ gab es nicht. Zum zweiten Mal in seinem Dasein des Lilienkelchs beraubt, machte sich der ehemalige Kelchhüter auf den Weg zu Salem Enter prises, dem Tarnunternehmen der hiesigen Vampir-Sippe, um die Jagd nach den Flüchtigen mit deren Hilfe auszudehnen. Aber auch diese Maßnahme blieb ohne Ergebnis.
Wenige Tage nach diesen Ereignissen … Die Sonne brannte heiß, und wenn Felidae den Kopf wandte, konnte sie den zurückgelegten Weg allein durch den in der Luft schweben
den Vorhang aus Staub und Abgasen rekonstruieren. »Fahr schneller!« drängte sie. Der Fahrer des röhrenden Jeeps trat das Gaspedal so heftig durch, daß er und die rothaarige Frau kurz in die harten Sitze gepreßt wur den. Niemand sah Felidae an, daß sie gut und gerne die Ur-Ur-Urgroß mutter ihres Chauffeurs hätte sein können. Ihr Leben zählte nach Jahrhunderten, doch sie sah aus wie eine atemberaubende Schönheit Mitte der Dreißig. Im Geist ließ sie ihren Weg von Sydney über Bagdad bis hierher ans Ufer des Euphrat noch einmal Revue passieren. Anfangs hatte sie es für möglich gehalten, daß Landru sich erneut an ihre Fersen heftete. Er war ein Gegner und Störenfried, dem alles zuzutrauen war, und immer weniger verstand Felidae, warum der Kelch und die darin schlummernde Kraft ihn nicht längst ausgelöscht hatten. Er stand der Prophezeiung im Weg! Durch seine Schuld wußte Lilith immer noch nicht, wie der volle Umfang der Aufgabe, für die sie geschaffen worden war, lautete! Auch Felidae wußte es nicht. Seit sie in Diensten des LICHTS stand, war ihr immer nur jenes Wissen zuteil geworden, das sie be nötigte, um ihre Pflicht zu erfüllen. Das hatte sie getan – bis auf jenen verhängnisvollen Moment in Sydney, da Landru Liliths ›Erleuchtung‹ verhindert hatte! Es ist nicht meine Schuld, dachte sie. Auch die Verunreinigung des Kelchs ist allein Landrus Verschulden! Und so stellte sich die aktuelle Situation dar: Der Lilienkelch mußte von den Spuren befreit werden, die Land rus Mißbrauch darin hinterlassen hatte. Und dies, hatte der Kelch (das LICHT?) sie wissen lassen, konnte am besten hier nahe Uruk er
ledigt werden, wo Felidae zugleich eine weitere Aufgabe bewältigen sollte … »Wie weit ist es noch?« fragte sie. Obwohl sie diese Gegend schon einmal vor einem Jahrhundert be reist hatte, um den ›Signalberg‹ zu präparieren, konnte sie die Ent fernungen nicht sicher abschätzen. In der sandigen Wüste sah vieles ähnlich, vieles gleich aus. »Wenige Minuten«, antwortete der einheimische Fahrer. Er war jung. Felidae schätzte es nicht, sich mit Alter zu umgeben. Zwar welkte auch sie, aber fast nur innerlich – äußerlich war davon wenig zu bemerken. Verändert hatte sich ihre Art zu denken oder Ereignisse und Per sonen einzuschätzen. Vor allem ihre unsteten Jahre, als sie noch Li liths Mutter auf ihre Gebärpflicht vorbereiten mußte, hatten sie, was das anging, geprägt. Erfreulicherweise hatten aber die ›kleinen Ex plosionen des Bösen‹, wie sie es selbst nannte, darunter nicht gelit ten. Ihre Zügellosigkeit, die wilde, ungehemmte Leidenschaft, mit der sie Leiden schuf, begleiteten sie wie ehedem, als sie den Pfaffen von Llandrinwyth gestraft und seines Vergehens wegen ein ganzes Dorf hinter die Spiegel verbannt hatte. Ihre attraktive Fassade täuschte folglich nur darüber hinweg, wie sehr sie ›das Böse lebte‹ und ihre ungebrochene Vitalität daraus zog. Nur in nachdenklicheren Momenten hatte sie sich manchmal ge fragt, ob dieses süchtige Verlangen nach Befriedigung nicht auch ein Indiz sein konnte, daß sie insgeheim fürchtete, ihren Status als Günstling des LICHTS einmal zu verlieren. Offenkundiges Versagen konnte dies jederzeit ermöglichen … An einem kleinen Palmenhain rastete eine Karawane. Felidae fühl te die kühl-gelassenen Blicke einiger Männer auf dem vorüberbrau
senden Jeep ruhen. Der Lärm erschreckte die Kamele. Ein paar Kin der kamen aus dem Schatten gerannt. Dann war diese streiflichtartige Wahrnehmung auch schon wieder vorüber. Kurze Zeit später tauchte das kleine Dorf auf, das im Dunstkreis der Ausgrabungen entstanden war. Der alten Ausgrabungen – nicht derer, die ein wichtigeres Ziel verfolgten, als ein paar dürftige Mau ergrundrisse freizuscharren, um aus ihnen ein Bild aus biblischen Zeiten zu rekonstruieren. Warka nannte sich dieser Ort, wie der Fahrer Felidae belehrt hatte, heute. Das ursprüngliche Uruk war Kultstadt und -stätte der Sumerer gewesen, später, bis vor etwa 4700 Jahren, dann das Herz Babyloniens. Heute spielte dies keine Rolle mehr. Nichts von alledem. Nur was über weit längere Zeit von Sand bedeckt gewesen war, verdiente tat sächlich das Prädikat »bedeutend« … »Da vorn«, sagte Felidae irgendwann mit rauher Stimme. »Dort muß es sein …« Zugleich spürte sie ein sonderbar beengendes Gefühl – kein wirk liches Erschrecken, mehr Neugier – in der Brust. Denn dort, wo sie den Zugang zum Zeitkorridor erwartete, wimmelte es von Men schen. Keine Toten, und demnach auch keine Träger von Liliths magi schem Keim …! Was war geschehen?
* GEGENWART
›Du wirst nicht allein sein …!‹ Esben Storms Versprechen (zum Teufel, es war eins, oder?) konnte und wollte ich nicht anzweifeln, denn dies hätte in seiner Konse quenz wahrscheinlich den Tod meiner Freundin bedeutet: Beth MacKinsay, die seit den dramatischen Ereignissen von Llandrin wyth* meinen Keim in sich trägt … ›Du wirst nicht allein sein …!‹ Die Worte wirkten tröstlich, doch es blieb fraglich, ob sie je als Trost gedacht gewesen waren. Immerhin stammten sie aus dem Mund eines kaltblütigen Mörders. Alle anderen, von deren Blut ich je trank, waren offenbar bereits tot. Nicht ich hatte sie getötet, son dern jenes Monstrum, das mir in Tokio begegnet war und das sich als Zusammenschluß dreier Persönlichkeiten enttarnt hatte: Jeff Warner, Virgil Codd und – ›niemandes Freund‹ Esben Storm. Glaubte man der Aussage dieses Geschöpfes, hatte nun die ent scheidende Phase meines Lebens begonnen. Die mir prophezeiten hundert Jahre Vorbereitung auf meine ›Bestimmung‹ würden in knapp vier Monaten um sein. ›Ich bin viele. Das HAUS formte aus mir und Codd und Storm die Dreiheit, die vollendete, was du versäumt hast‹, hatte mich das We sen wissen lassen und damit den Mord an mehreren Dutzend Men schen gemeint, denen ich in der Vergangenheit Blut abgezapft hatte. Was ich von seinen weiteren Erklärungen zu halten hatte, mußte sich zeigen: ›Die Toten sind nicht tot. Sie werden gebraucht. Wie du. Gehe nach Uruk. Gehe den Weg, dem Duncan bereits folgt! Aber zu vor mußt du zum Großen Ararat, wo der Dom der Hüter liegt … Dort wird sich entscheiden, ob du in der Lage bist, deine Bestim mung zu erfüllen. Finde die Agrippa, ohne die dir der Korridor ver schlossen bliebe …‹
*siehe VAMPIRA 10/11
Uruk im ehemaligen Zweistromland, dem Alten Persien, Babylon, Sumer – und dem heutigen, von einem Diktator in Schutt und Asche gebombten Irak. Die Wiege der Menschheit, hieß es, stand dort. Und die ›Wiege der Vampire‹ – wo stand die? Warum sollte ich die verfallene Ruinenstadt eines vor Jahrtausen den verfallenen Reiches aufsuchen? Was der Dunkle Dom darstellte, wußte ich vage, seit ich an Feli daes Erinnerungen teilnahm*. Was eine ›Agrippa‹ war, nicht. Und Duncan … Mich schauderte. Wäre ich nicht Zeugin geworden, wie die Drei heit Gabriel das Leben nahm, hätte ich die Zukunft vielleicht nicht nur in düsteren Farben gemalt. Aber ich hatte es gesehen, und so mußte ich glauben, daß alle Menschen, von denen ich mich je ge nährt hatte, den unfaßbaren Kräften dieses Monstrums zum Opfer gefallen waren. Ein Monstrum, das selbst Opfer war, denn wie es aussah, war es gegen seinen Willen erschaffen worden. Nicht nur Esben Storm, der australische Aboriginal, und Jeff Warner, der Ex-Polizist, waren dar in vereint, sondern auch ein Mann, den ich nach den Vorkommnis sen im Garten der Dämmerung längst für tot gehalten hatte: Virgil Codd, einst auserkoren, mir in meinem Kampf beizustehen, doch dann mit einem Schatten** zusammengeprallt, von dem ich heute si cher glaubte, daß es sich nur um ein Stück von Duncan Luthers See le gehandelt haben konnte. Duncan hatte versucht, mich vor dem zu warnen, was kurze Zeit später aus dem Jenseits zurückgekehrt war … Vor ihm selbst!
*siehe VAMPIRA 25: ›Der Ewige Krieg‹ **
siehe VAMPIRA 17: ›Der Schattenbote‹
»Duncan …« »Duncan?« wiederholte Beth. »Du redest in letzter Zeit oft von ihm …« »Ich denke oft an ihn. Du nicht?« »Manchmal.« Was aus ihm geworden war, nachdem er uns verlassen hatte, wußte ich nicht schlüssig. Felidae, die Kelchdiebin, hatte ihn mir noch einmal gezeigt, wie er irgendwo inmitten einer Wüste im Sand gegraben hatte. Warum und wonach, hatte ich nicht erfahren. Aber nahm man die Aussagen der Dreiheit für bare Münze, befand er sich vermutlich in der Nähe Uruks. Duncan war ›vorausgegangen‹ … Aber was war mit dem Korridor gemeint, der mir ohne die Agrippa verschlossen bleiben würde? »Was ist eine Agrippa?« Beth starrte mich sekundenlang sehr eigentümlich an. Dann erwi derte sie: »Unsere Nachforschungen haben noch nicht gefruchtet, das weißt du – in unserer Lage sind erfolgreiche Recherchen nicht einfach!« Als Reporterin wußte sie, wovon sie redete. Und natürlich hatte sie recht, denn wir waren – wieder einmal – zu Flüchtlingen geworden. Die Geborgenheit versprechende Zu flucht des Schinrei-Building hatte ihre Sicherheit eingebüßt; die dor tige Penthouse-Wohnung war der Tokioter Vampirsippe bekannt. Eine Rückkehr war unmöglich geworden, und obwohl die Millio nenstadt viele Unterschlupfmöglichkeiten besaß, hatten wir uns vor zwei Tagen entschieden, ihr endgültig den Rücken zu kehren. Unklar blieb, wie weit Keynos Arm reichte, in dessen Gewalt sich Beth mehrere Tage befunden hatte. Aber die nächsten Stunden und
Tage würden darüber Auskunft geben. »Er kommt«, sagte Beth, die neben mir in der windigen Dämme rung dieses grauen Morgens stand, und wies mit dem Arm in die Richtung, aus der auch die frische, salzige Brise wehte. Das Meer selbst war noch weit. »Sei bitte nett zu ihm.« »Das«, erwiderte ich, »kommt darauf an, wie er sich anstellt.« Es war mir ernst. Bitter ernst. Wir befanden uns zweihundert Kilometer von Tokio-Zentrum ent fernt, auf einem kleinen Flugplatz bei Matsumoto. Und der Mann, der sich uns mit federnden Schritten näherte, war der Pilot, der uns außer Landes bringen sollte. Sein Judaslächeln ließ jedoch Zweifel aufkommen, ob dies tatsächlich in seiner Absicht lag …
* RÜCKBLENDE Als sie ausstieg und sich vom Jeep entfernte, spürte Felidae wieder den leisen Schmerz, der nie ganz verstummte. Er kam von hinter den Riemen, jenem ›Symbiontenstoff‹, der ihr Fleisch und ihre Knochen schnürte, um – schon seit einer kleinen Ewigkeit – die nie verheilen den Wunden zu verhüllen und den zerschundenen Körper notdürf tig zusammenzuhalten. Im Grunde, dachte sie zynisch und weil ihr gerade danach war, ist es nichts anderes als das Korsett, mit dem Lazarus seinem immer morscher werdenden Skelett künstlichen Halt verleihen wollte. Es hatte ihm wenig genützt.
Und mir? Sie ging weiter auf die kraterförmige Mulde zu, die nur einen Kat zensprung von dem Fels entfernt lag, wo Felidae vor einem Jahr hundert ihr Signum in einer Höhle hinterlassen hatte: Ein fast zum Kreis gebogener Schlangenleib, an dessen Anfang und Ende jeweils ein aufgerissener Rachen drohte. »Was geht hier vor?« fragte sie einen europäisch wirkenden Mann im typischen Archäologen-Outfit. Unter dem Rand seines Sonnen huts glitzerte eine Drahtbrille mit runden Gläsern und dahinter Au gen, die mit den Jahren offenbar versucht hatten, sich der Rundung anzupassen. Felidae sah sich nicht in den schwach spiegelnden Linsen, und einen Moment spukte die skurrile Idee durch ihren Kopf, was gewe sen wäre, wenn Vampire nicht nur von spiegelndem Glas, sondern von Glas generell verleugnet worden wären. Dies hätte aus der Sicht von Brillenträgern … Felidae beendete den völlig unsinnigen Einfall, als der Gefragte bereitwillig antwortete: »Wir arbeiten drüben bei den Ruinen. Vor zwei Tagen wollte einer von unserer Mannschaft den Verrückten, die hier mit Grabungen begonnen hatten, einen Besuch abstatten. Er traf niemanden an. Dafür fand er das hier …« Er zeigte zur ungefähren Mitte der Grabungsstelle, wo die Ränder mit Brettern vor nachrutschendem Sand geschützt waren. Dort, bei dem Holzgerüst, schimmerte aber noch etwas anderes: präzise bear beitetes Gestein. Der Beginn einer relativ steil nach unten führenden Treppe. »Wieso sagen Sie ›die Verrückten‹?« »Weil sie absolut unprofessionell vorgegangen sind. Niemand weiß, wie sie überhaupt eine Erlaubnis für Ausgrabungen erhalten konnten. Und dann war es absolut verrückt, an dieser Stelle zu gra
ben. So weit ab der Ruinen konnte mit keiner ernsthaften Entde ckung gerechnet werden!« »Offensichtlich doch …« »Offensichtlich«, nickte der distinguiert auftretende Mann mit den graumelierten Schläfen, und es wirkte, als hätte er den Glauben an ein ganzes Weltbild eingebüßt – zumindest aber das Renommee sei ner ganzen Zunft. Er sprach Französisch, und Felidae hatte kaum Mühe, sich darin zurechtzufinden, auch wenn ihr einige Redewendungen des Ar chäologen nicht geläufig waren – immerhin lag es lange, lange zu rück, daß sie sich dieser Sprache zum letztenmal bedient hatte. Um gekehrt mußte ihre eigene Ausdrucksweise einigermaßen antiquiert erscheinen … »Erzählen Sie mir mehr darüber!« »Gern, aber wer –?« »Alles«, bat Felidae eindringlich. »Ich will alles darüber hören! Gab es keine – Hindernisse?« Sein Blick verschwamm, als würden sich die Pupillen von innen heraus wie die Facette eines Kameraobjektivs verschließen. »Nein. Der Zugang war frei, als wir ihn fanden. Er führt in einen Schacht«, sagte er. »In einen gewaltigen Schacht, der schnurgerade unter der Wüste zu verlaufen scheint – seine wahre Länge kennen wir noch nicht. Wir stehen ja erst am Anfang unserer Untersuchun gen. Mehr als den direkten Randbereich haben wir noch nicht betre ten.« »Nein?« wunderte sich Felidae, zeigte aber nicht, daß ihr genügsa mes Herz drei, vier Schläge mehr in der Minute vollführte. »Und es gab nichts, was den Weg versperrte? Kein … Phänomen?« »Nein.«
»Gab es Unglücksfälle?« »Nein.« Felidae schürzte die Lippen. »Welchen einstigen Zweck verbinden Sie mit der Entdeckung?« »Auch das wissen wir noch nicht. Möglicherweise wurde der Stol len als geheimer Fluchtweg von der Stadt aus angelegt, um im Falle einer Belagerung …« »Glauben Sie daran?« »Nein.« »Wie ist der Zustand des Schachtes?« »Außergewöhnlich gut. Er sieht aus, als wäre er gerade erst fertig gestellt worden. Das Material der Wände ist noch unbekannt …« Mit anderen Worten, dachte Felidae, sie wissen tatsächlich NICHTS! Sie ließ den Archäologen stehen, bestieg wieder den Jeep und wies den Fahrer an, zurückzusetzen, bis sie hinter einer Sanddüne den Blicken der Wissenschaftler entzogen waren. Dort beugte sie sich über ihren Begleiter, grub ihre Zähne in seinen Hals und trank durs tig sein Blut. Wider sonstiger Gewohnheit ließ sie ihm danach am Leben und befahl ihn, ohne sie nach Hause zu fahren, aber jeden Tag zur Mittagsstunde zurückzukehren und für eine Stunde an die ser Stelle zu warten. Wie lange sie hier aufgehalten würde, wußte sie noch nicht abzu schätzen. Dies entschied allein der Kelch, und diesen zog sie eben falls zu Rate, ehe sie den Jeep schließlich verließ. Er steckte in einer einfachen Bastumhängetasche, wie auch Felidae über dem Riemengeflecht insgesamt recht einfach und schmucklos gekleidet war. Das weit fließende Gewand hatte sie zusammen mit einem das widerspenstige kupferrote Haar bändigenden Kopftuch nach ihrer Ankunft in Bagdad erworben und sich zeitweise sogar
verschleiert. Alles nur aus dem Grund, so wenig Aufsehen wie mög lich zu erregen. Kopftuch und Schleier lagen auf der Rückbank des Jeeps, aber den Kelch umklammerte sie, als wollte sie ihn nie wieder loslassen. Stumm war die Zwiesprache, die sie mit ihm hielt, um ihm die Si tuation zu schildern. Kein Wächterwesen, dachte sie. Der Korridor ist ohne Schutz. Etwas Unvorhergesehenes muß geschehen sein. Soll ich …? Stumm erhielt sie ihre Instruktionen, die sie anschließend verblüfft in Taten umsetzte.
* Es waren insgesamt siebzehn Personen, etwa ein Drittel davon Frau en und ausnahmslos Angehörige eines französischen ArchäologenTeams, die sich rund um die Grabungsstelle, mit der sie eigentlich nichts zu schaffen hatten, aufhielten. Der Mann, mit dem Felidae zunächst gesprochen hatte, war nicht der Leiter. Ihm begegnete die Vampirin, als sie sich mit gemischten Gefühlen zum Ende der freigelegten Steintreppe hinab begab. Den Lilienkelch trug sie in der Umhängetasche bei sich. Gerard Renoir war Anfang Vierzig. Schwarzes Haar und schwarze Augen gaben ihm in Verbindung mit seiner sonnengebräunten Haut ein südländisches Flair, wie Felidae es mochte. Auch seine Stimme, mit der er sich an sie wandte, war angenehm. »Sie wollten mich sprechen? Wer sind Sie?« »Diese Entdeckung ist sensationell«, entgegnete sie. Seine Offenheit verlor sich in einem einzigen Moment. »Sind Sie von einer Zeitung?«
Felidae lachte klirrend. »Nein. Ich bin von gestern – genauer ge sagt: von vorvorgestern! Aber müssen wir uns hier unterhalten?« »Ich wüßte nicht, was dagegen spricht.« Er blieb kühl, und Felidae verkürzte die drohende Debatte mit ei nem einzigen Satz: »Keine Widerworte mehr!« Er folgte ihr zu einem kleinen Zelt, das abseits stand und aussah, als hätte es den eigentlichen Entdeckern dieses Fundes gehört. Sie waren jedoch verschwunden (mit dem Torwächter), und es gab nur einen Weg, den sie genommen haben konnten; nur eine Rich tung … »Wurden die Runen entziffert?« fragte Felidae, als sie allein hinter der Zeltwand standen. »Runen?« fragte Renoir und furchte die Stirn. »Die Runen an den Seitenwänden der Treppe und auf der Boden schwelle zum Korridor.« »Es gibt keine Runen«, erwiderte er in einem Zustand, der keine Lüge ermöglichte. Felidae mußte ihm glauben, daß nur sie in der Lage war, die Hin weise auf die Bedeutung des Korridors überhaupt zu sehen. Folglich erübrigte sich jede weitere Frage nach ihrer Entschlüsselung. Sie begriff und war sicher, daß die Toten sie hatten sehen können, vielleicht sogar lesen. »Wie weit seid ihr in den Schacht gedrungen?« fragte sie. »Nur ein kurzes Stück.« »Warum nicht weiter?« »Es ist zu gefährlich, solange wir nicht –« »Ihr werdet ihn betreten. Sofort – und alle, die sich hier herumtrei ben!« Er erzitterte. Sein schmales Gesicht schien die klaren Linien einzu
büßen, als wollte es sich unter einer unsichtbaren Kraft verformen. Dann kehrte der alte Ausdruck zurück. »Ja …« Er fragte nicht nach dem Warum. Er drehte sich einfach um und ging davon, während Felidae im Zelt zurückblieb und ihre Blicke über Utensilien schweifen ließ, die sie hier nicht erwartet hätte: Lebensmittel. Sie konnten nur für jene Unperson bestimmt gewesen sein, von der Lilith berichtet hatte: Duncan Luther, ein Mann, der ihren Keim erst erhalten hatte, nachdem er in der indischen Hauptstadt bei ei nem Überfall der Vampire ums Leben gekommen und doch Monate später ›lebendig‹ zu ihr zurückgekehrt war …* Es gab Hinweise, daß Landru hinter diesem absonderlichen Ge schehen steckte. Näheres hatte Lilith nie in Erfahrung bringen kön nen, denn Duncan Luther hatte sich von ihr abgesetzt und war, ge meinsam mit zwei weiteren Toten, hierher gekommen. Die Toten sind nicht tot, wisperte es in Felidae. Danach verflog ihr Interesse für die hier gestapelten Dinge. Von draußen drang Renoirs Stimme, der seine Leute zusammen trommelte und Weisungen erteilte. Felidaes Hand fuhr in die umgehängte Tasche. Sie schloß die Au gen, während sie vorsichtig über die rauhe Oberfläche des wie aus unzähligen Splittern zusammengefügten Kelchs strich. Jede Berührung elektrisierte sie, als wären die Seelen all der ge storbenen Kinder immer noch darin eingeschlossen und versuchten auf sie überzuspringen, ihren Körper zu übernehmen, von dem Feli dae nicht wußte, ob er je aus einem Menschenkind entstanden war. Ihr Werdegang unterschied sich drastisch von dem ›normaler‹
*siehe VAMPIRA 6: ›Blutspur‹
Vampire, denn sie war einst fertig entwickelt im Dunklen Dom er wacht. Wie 1000 Jahre vor ihr Landru – und wieder 1000 Jahre davor ein anderer Kelchhüter, dessen Name ihr nicht bekannt war … Als sie glaubte, daß genügend Zeit vergangen war, verließ Felidae das Zelt und trat in die menschenleere Wüste hinaus. Warmer Wind zerzauste ihr Haar, drang unter ihre Kleidung und streichelte das lebende Riemengeflecht, das sie vor dem Zerfall be wahrte. Jeder Schritt machte ihr bewußt, wie abhängig sie von diesem Symbionten war, der sich von ihrem Blut ernährte – aber immer nur so genügsam, daß es keine Gefahr für sie bedeutete. Sie hatte ihn damals nach ihrem Kampf mit Landru erhalten, als sie zerschmettert am Boden einer Schlucht im Berge Ararat gelegen und nur noch auf ihr Ende gewartet hatte. Das LICHT war erschienen und hatte ihr einen Symbionten über geben, wie auch Lilith – später – einen gleichartigen erhalten hatte; nur erfüllte er bei Creannas Tochter eine andere Funktion. Felidae hatte einiges, aber bei weitem nicht alles über Herkunft und Be schaffenheit dieses ›Anhängsels‹ erfahren. Am Beginn der nach unten führenden Treppe legte Felidae die restliche Kleidung ab und nahm den Kelch aus der Tasche. Das bizarre Geflecht, das ihren üppigen Busen ebenso wie andere Körperteile und sogar das Gesicht umspannte, war längst ein Teil ihres Selbst geworden. Es schnürte ihren sündigen Leib wie mit schmalen, mattschwarz glänzenden Lederstreifen, die an den Kreuz punkten von Ringen zusammengehalten wurden, die zwar wie Me tall aussahen, in Wahrheit aber auch nur anders strukturiertes Mate rial des rätselhaften Mimikrywesens waren. Die Innenflächen, die mit ihrer Haut in Berührung waren, waren keineswegs glatt wie die Oberfläche und lagen auch nicht einfach nur auf, sondern trieben
feinste, pflanzenähnliche ›Wurzeln‹ bis in die tiefsten Bereiche ihres Körpers. Sie hatten eine ähnliche Funktion wie chirurgische Fäden, die beim Vernähen klaffender Wunden an Menschen eingesetzt wurden. Nur daß diese ›Fäden‹ nie gezogen werden durften … Kein Laut drang mehr aus der Toröffnung, die unbewacht in der Tiefe gähnte und durch die Renoir mit seinem Team verschwunden war. Man würde sie vermissen und nach ihnen suchen … Später. Felidae stieg die Treppe hinab. Der Kelch erfüllte sie mit der nöti gen Zuversicht. Landrus Mißbrauch hatte auf die Macht, die in ihm wohnte, keinen nachteiligen Einfluß. Sie war gewaltig wie eh und je. Die Runen an den Seitenwänden und auf der Bodenschwelle schienen Felidae zuzuflüstern, als sie noch einmal stehenblieb, als scheute sie davor zurück, den Korridor selbst zu betreten. Sie konnte Renoir und die anderen sehen, die bereits endlos weit gewandert zu sein schienen. Von hier draußen wirkte der Korridor wie ein sich in der Ferne verjüngender und zu einem winzigen Punkt verschmelzender Tun nel. Er war nicht dunkel. Nur die Tore, die es darin gab, wirkten finster – weil sie in finstere Epochen führten. Kein Laut, kein Gesprächsfetzen drang von innerhalb des Korri dors nach draußen. Die Schwelle war der Zugang zu einer anderen Welt, die eigentlich nicht mehr existierte, weil sie Vergangenheiten angehörte. Renoir und seine Leute hatten sich zu den Anfängen aufgemacht,
aber es war ihnen nicht bestimmt, sie zu erreichen. Felidae hörte auf, sich darüber Gedanken zu machen. Sie übertrat die Schwelle. Der Kelch in ihren Händen begann zu glühen. Sein Purpur kroch von den Fingern über ihre Haut und selbst über jede Pore des Sym bionten, bis es alles, jedes Haar, aurenhaft umhüllte. Felidae blieb stehen. Ein Schritt zurück hätte genügt, den Korridor wieder zu verlassen und in die im ständigen Vorwärtsfluß befindliche Welt – das, was sie als ›Realität‹ ansehen mußte – zurückzutreten. Doch das tat sie nicht. Sie blickte nach vorn – und auf diese Weise doch ›zurück‹. Sie sah die Gruppe von Menschen kleiner und kleiner werden. Jetzt meinte sie auch, ihre schwachen Stimmen aufzufangen, ohne jedoch Inhalte zu verstehen. Felidae wußte, was gleich geschehen würde. Dennoch spürte sie keinerlei Bedauern. Es waren nur Menschen – von keinem Keim geadelt. Sie blickte versonnen durch von Purpur umschlossene Augen. Diese Augen sahen den Zug der Menschen ein allerletztes Mal. Dann schaltete der Lilienkelch den in die Ewigkeit führenden Zeit tunnel ab, mit allem, was sich ungeschützt darin befand.
* Länger als einen Tag trauerte Landru der vertanen Chance nicht nach, dann war seine Enttäuschung wenigstens soweit abgeklungen, daß er sich der neuen Situation objektiv stellen konnte: Eine Kette
von Widrigkeiten hatte nicht nur Lilith entkommen lassen, sondern ihm ein zweites Mal den Kelch, vielleicht für immer, entrissen! Felidae spielte in diesen Überlegungen nicht einmal mehr eine un tergeordnete Rolle, denn der 1268 Jahre alte Vampir war überzeugt, sich ihrer beim Kampf im Museumsdorf ›The Rocks‹ entledigt zu haben. Nein, der Kelch mußte sich in Liliths Besitz befinden. Ihre Freun din Beth MacKinsay, die Landru kurzzeitig hörig gewesen war, hat te es offenbar geschafft, Lazarus bei seiner Ankunft in Sydney in Empfang zu nehmen und den Kelch an sich zu bringen. Wie sich Beth seines Einflusses und der magischen Erkrankung hatte entziehen können, blieb Landru vorläufig ein Rätsel … »Vorbei.« Landru verließ Herak, der weiter an seinen geklonten Vampiren arbeitete. Sein Traum war es, vampirischen Nachwuchs ohne den Umweg über den Lilienkelch und das damit verknüpfte Ritual der Kelchtaufe zu schaffen; Landru mußte zugeben, daß Ho ras Nachfolger in dieser Hinsicht beachtliche Erfolge erzielt hatte. Salem Enterprises war eine hochmoderne ›Hexenküche‹, oder bes ser: ›Genschmiede‹, in der bereits der Prototyp eines neuen Vampirs heranreifte. Voller Stolz hatte Herak ihm dieses Mischwesen aus menschlicher und vampirischer DNA vorgeführt. Wie die anderen Sippenmitglie der auch, ahnte Herak nicht einmal, daß er in Landru den ehemali gen Kelchhüter vor sich hatte. Landru galt allgemein nur als Jäger nach dem verschollenen Kelch. Über seine persönlichen Beweggründe, diese Jagd aufgenommen zu haben und seit über zweieinhalb Jahr hunderten jeder noch so schwachen Fährte zu folgen, wußte nie mand Genaues, und tatsächlich interessierte es auch kaum jemanden. Das schwarze Geblüt hatte sich seit dem Entzug des Kelchs verän dert, aber Landru schien der einzige zu sein, der die Indizien des
Niedergangs bemerkte. Einmal hatte er mit dem, zu dem er jetzt von Sydney aus reiste, darüber gesprochen – und war auf Unverständnis gestoßen: Tanor, das Oberhaupt der Delhi-Sippe. Mit ihm wollte er sich erneut, aber über ein anderes Thema, bera ten. Es ging um einen Toten, der wiedererweckt und dann ver schwunden war. Um einen ›Gefallen‹, an dem sich Landru nicht lange hatte erfreu en können. Und um seinen momentan letzten Strohhalm, vielleicht doch wie der eine Spur zur verlorenen eigenen Zukunft zu finden …
* Der Versammlungsort der Vampir-Sippe lag am östlichen Ufer des Ganges in einer entweihten Moschee. Wie es allgemein Usus war, hatte man die wirklich wichtigen Bereiche unterirdisch angelegt. Der unglückliche Verlauf des vorherigen Besuchs war schuld dar an, daß Tanor, das nach alter Yogi-Sitte gekleidete Oberhaupt, Land ru nicht mit dem sonst gebotenen Respekt empfing. Vor Monaten hatte der Kelchsucher sich hier Instruktionen über den ›Gebrauch‹ des wiedererweckten Toten Duncan Luther geholt. Bei dieser Gelegenheit hatte er das Gastrecht jedoch schändlich miß braucht, den Kodex mit Füßen getreten und eine Sippenangehörige wutentbrannt getötet, nachdem er erfahren mußte, daß diese Vam pirin vom Blut des toten Luther getrunken hatte und seither einem seltsamen Schwachsinn verfallen war.* Diesen Gesetzesbruch hatte Tanor nur hingenommen, weil Land
*siehe VAMPIRA 20: ›Das zweite Leben‹
rus Drohgebärden selbst ihn geschreckt hatten. Aber verziehen hatte er es ihm nicht, das wurde vom ersten Moment an deutlich. Darauf legte Landru auch nicht den geringsten Wert. Larmoyant meinte er nach der Begrüßung lediglich: »Du bist nachtragend, Tanor. Das steht dir nicht gut zu Gesicht. Wir sollten uns wieder arrangieren.« »Was willst du?« schnarrte das Oberhaupt, das sich mit mehreren seiner Brüder und Schwestern umgeben hatte und nicht ahnte, daß es Landru in der Maske des Hüters gewesen war, der einst all diese ›Kinder‹ mit dem Kelch gezeugt hatte. »Weshalb hast du die be schwerliche Reise auf dich genommen?« »Es gibt heutzutage kaum noch ›beschwerliche‹ Reisen«, wider sprach Landru. »Vielleicht täte auch dir eine Luftveränderung gut. Du solltest die Welt sehen, wie sie wirklich außerhalb dieser drecki gen Ameisenstadt ist: Sie ist anders als die Bilder, die dir das Fernse hen zeigt.« »Ich sehe nicht fern.« »Dennoch schätze ich dich als weitsichtig, Tanor«, schmeichelte Landru. »Laß uns also ungestört miteinander reden!« Er machte eine scheuchende Geste in Richtung der umstehenden Vampire. Er erzeugte damit kaum Aggressionen und nickte enttäuscht. Es ist, wie es ist – aber nicht sein sollte, dachte er. Welche Waschlappen habe ich einst aus Tanors schwarzem Blut gezeugt? Der indische Vampir schickte seine Angehörigen fort, ohne daß es als Schwäche auszulegen war. Tanor wahrte auch jetzt sein Gesicht. Im Grunde gehörte er durchaus zu den rar gesäten Oberhäuptern, die noch etwas wie Courage besaßen, und eigentlich hätte sich Landru ihm verpflichtet fühlen müssen. »Du kommst hoffentlich nicht erneut wegen Wiederbelebten«, traf Tanor den Nagel auf den Kopf.
dem
»Leider«, antwortete Landru. »Er ist verschwunden.« Seine Mund
winkel zogen sich nach unten. »Aber ich hätte ihn gern zurück …« Dann informierte er Tanor über die Umstände, unter denen der Kontakt zu Duncan Luther abgerissen war. »Du fühlst ihn nicht mehr?« erkundigte sich Tanor. »Dann wurde er vernichtet, und ich kann dir auch nicht mehr helfen!« Landru schüttelte den Kopf. »Er wurde nicht vernichtet, das sagte ich doch gerade. Er verschwand. Er ging fort und kehrte nicht mehr zu denen, die er auskundschaften sollte, zurück. Ich erfuhr es von derjenigen, die später seine Rolle übernahm, und eine Weile machte ich mir keine großen Gedanken mehr über seinen Verbleib. Inzwi schen hat sich die Situation grundlegend verändert. Ich bin auf ihn angewiesen.« »Es geht immer noch um den Bastard, den Zwitter, der in Sydney erwacht ist?« Tanor kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusam men, und sein Gesicht legte sich in noch strengere Falten. »Ja.« »Du bringst sie mit dem Verschwinden des Kelchs in Zusammen hang.« »Das tue ich.« Landru wußte, daß er damit nicht zuviel über sich und seine genauen Beweggründe verriet. »Erkläre mir, warum.« »Das würde zu weit führen.« Tanors Miene gebar neue Züge, trotzdem blieb es der Phantasie überlassen, sich diesen vergeistigt wirkenden Mann als Vampir vor zustellen, der Menschen aussaugte. Landru wußte jedoch, daß Tanors Auftreten trog und das Sip penoberhaupt sehr wohl zur Grausamkeit fähig war. Nur spielte sich dieses Ausleben dunkler Gelüste im Rahmen des GESETZES ab, das Tanor für bindend betrachtete, und darum wog eine Verletzung
des Kodex für ihn vermutlich auch so unverzeihlich schwer. Es war ihm nie um die schwachsinnige Tera gegangen, die er selbst als sein ›Sorgenkind‹ bezeichnet hatte … »Warum höre ich dich überhaupt noch an?« murmelte er verson nen. »Du stehst so weit außerhalb all dessen, was unsere Rasse ver körpert, daß mir die Worte fehlen, es zu deiner Anklage zu formu lieren! Wenn ich schon sehe, wie du mit dieser Wölfin buhlst, die damals mit dir kam und mit dir ging …« »Nona?« Landrus Lächeln traf wie ein Pflock in Tanors Herz. »Sie ist eine alte Vertraute – und jung obendrein. Zumindest erscheint sie so. Du weißt nicht, was du dir entgehen läßt, wenn du es noch nicht mit einem Mischwesen getrieben hast … Aber vielleicht hattest du nie Interesse an solcher Lust. Worauf stehst du, braver alter Mann?« Tanor fletschte die Zähne. »Ich hätte gute Lust, es dir zu zeigen!« fauchte er. »Ein Zeichen von mir, und sie kehren zurück, um dich –« »Erstens«, unterbrach Landru ihn, »würdest du nie den Kodex brechen – auch nicht gegen einen Kodexbrecher. Und zweitens wür dest du damit nicht nur deinen, sondern auch ihren Untergang be schwören.« »So maßlos überschätzt du dich?« Landru lachte jetzt dröhnend, aber keinesfalls erheitert. »Willst du mich wirklich herausfordern? Dann tu es! Jetzt, sofort! Hol deine när rischen ›Kinder‹!« Tanor schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Du bist eine größere Gefahr, als ich mir je eingestehen wollte. Auf wessen Seite stehst du? Du gibst vor, zum Wohle deines Volkes zu handeln, aber die Mittel, derer du dich bedienst …« »Der Zweck heiligt die Mittel – sagen die Menschen«, erwiderte Landru gepreßt. Sein Gesicht füllte sich mit schwerem, dunklem Blut. Die Kreuznarbe auf seiner Wange, die ihm einst im Kampf zu
gefügt worden war, hob sich wie eine rohe, enthäutete Fläche ab. »Wer bist du?« fragte Tanor plötzlich dumpf gereizt. »Wer bist du wirklich?« »Wenn ich dir dies sagte, müßte ich dich anschließend töten, um mein Geheimnis weiterhin zu wahren!« »Sage es!« Landru dachte nach, was er von dem Fatalismus halten sollte, den Tanor hier offenbarte, und er kam zu dem Schluß, daß Tanor sich schon lange vor dieser Wiederbegegnung eine Menge Gedanken über ihn gemacht haben mußte … Plötzlich wurde Landru bewußt, daß er einen Fehler begangen hatte. Was er selbst als ›das fast schon übliche Geplänkel‹ betrachtet hatte, sah Tanor ganz anders. Es schien plötzlich, als hätte er Land rus Rückkehr herbeigesehnt. Er hat die Demütigung nie verwunden. Ihn giert nach Genugtuung …! Nein, dies war nicht das übliche Geplänkel. Es war eine Falle. Endgültig deutlich wurde es, als Tanor plötzlich vor Landru zu verblassen begann und damit zugab, daß er nie persönlich hierge wesen war! Der komplette Raum begann sich von Grund auf zu ver ändern. Daß sämtliche Zu- und Ausgänge versiegelt wurden, war nur ein Detail von vielen. Landru mußte erkennen, daß er die ganze Zeit nur mit einer magi schen ›Projektion‹ Tanors gesprochen hatte. Ob die anfänglich an wesenden Sippenangehörigen echt oder Farce gewesen waren, ließ sich nicht mehr bestimmen. Wenn sie real gewesen waren, dann nur, um Landrus Argwohn zu ersticken … Die veränderte Umgebung wies nun alle Merkmale eines Ortes auf, an dem Gericht gehalten werden sollte. Die Frage, über wen, stellte sich Landru nicht …
* GEGENWART Die Opferschlange war ebenso in Keynos Hand gefallen wie die Schatulle, in der sie aufbewahrt worden war: Ein Kästchen aus dem uralten, mit Menschenblut vollgesogenen Holz der Dunklen Arche … Daran mußte ich denken, als das kleine Privatflugzeug mit Beth und mir an Bord vom asphaltierten Startfeld am Stadtrand von Mat sumoto abhob und Kurs auf das koreanische Festland nahm. Von dort aus hofften wir ohne größeres Risiko einen Linienflug in die Türkei zu erreichen und dort im Gebirge nach der mysteriösen Agrippa zu suchen. ›Gehe nach Uruk. Gehe den Weg, dem Duncan bereits folgt! Aber zuvor mußt du zum Großen Ararat, wo der Dom der Hüter liegt … Dort wird sich entscheiden, ob du in der Lage bist, deine Bestimmung zu erfüllen. Finde die Agrippa, ohne die dir der Korridor verschlossen bliebe …‹ Die Worte der unheimlichen Inkarnation, die das HAUS nach To kio entsandt hatte, hallten noch in meinen Ohren. Mein Mißtrauen dem Piloten gegenüber hatte sich gelegt, nach dem ich keinerlei Anzeichen einer geistigen Versklavung und gar ei nes Pseudolebens, wie es der Vampirkeim bei Menschen verursach te, feststellen konnte. Auch daß es sich um einen echten Vampir handelte, der einst der Kelchtaufe entsprungen war, schloß ich aus. Sie witterten mich – und ich sie – in der direkten Gegenüberstellung ohne jede Schwie rigkeit. Menschen vermochten die Maske ihrer Unterdrücker nicht zu durchschauen – es sei denn, die Maske fiel. Und dann war es fast
immer zu spät … »Was ist?« fragte Beth. »Stimmt etwas nicht? Du starrst ihn die ganze Zeit an …« Ich löste den Blick vom Piloten, der direkt vor Beth saß, so daß ich schräg auf sein Profil sehen konnte. Wir unterhielten uns auf Englisch, nachdem sich herausgestellt hatte, daß er nur Japanisch sprach. Er tolerierte diese Unhöflichkeit, weil ihm nichts anderes übrig blieb. Der Pilot hatte sofort auf meine Hypnose angesprochen, was ein weiteres Indiz war, daß er nicht bereits anderweitig beeinflußt wor den war. Solche Blockaden reagierten normalerweise ›allergisch‹ auf erneute Suggestionsversuche. Im Extremfall konnte der Verstand ei nes Menschen daran zerbrechen. Wir waren wieder einmal ohne größere finanzielle Mittel und nur mit dem, was wir am Leib trugen, unterwegs. Notwendigerweise mußte ich also auf die mir in die Wiege gelegten Gaben zurückgrei fen. Dank Vorsichtsmaßnahmen, die wir kurz nach unserem Einzug ins Schinrei-Building getroffen hatten, war es wenigstens gelungen, einen ›Notgroschen‹ und die von Craven erhaltenen falschen Papie re aus einem Schließfach zu bergen, wo ich sie für den Fall der Fälle deponiert hatte. Ich schüttelte den Kopf. »Anfangs dachte ich, der Pilot wäre nicht koscher. Aber er scheint doch in Ordnung zu sein …« Beth blickte unbehaglich nach vorn, wo sie nur den schwarz be haarten Hinterkopf des Mannes sehen konnte. »Bist du sicher, daß kein Grund zur Besorgnis besteht?« Ihr Blick ging aus dem Fenster hinaus in die Tiefe, wo bereits die Küste auftauchte, das sorgfältig in Felder unterteilte Land endete und das rauhe Meer begann. »Ja«, beruhigte ich sie, obwohl auch mein klammes Unbehagen
nicht völlig wich. Das aber mochte an den Umständen insgesamt lie gen. An meiner vertrackten persönlichen Situation, die fast zwangs läufig wieder in der Sinnfrage meines Lebens gipfelte. Für Beth waren die Probleme aber kaum geringer. Sie hatte schon Sydney und alles, was ihr dortiges Leben betraf, im Sog der damali gen Ereignisse aufgegeben, ihre Arbeitsstelle, die Menschen, die ihr vertraut waren, und nun flohen wir vom zweiten Hafen, in dem sie gerade wieder begonnen hatte Fuß zu fassen. Sie war nicht nur meine intimste, sondern auch die einzige mir verbliebene Freundin – und darüber hinaus eine starke Persönlich keit. Ein paarmal hatte ich das vergessen oder aus Gedankenlosig keit ignoriert, doch ich hoffte, daß es mir in Zukunft gelingen wür de, unsere Interessen besser miteinander zu verflechten. Denn auch wenn sie es selbst glauben mochte: Ganz freiwillig begleitete Beth mich nicht auf den Wegen, die immer wieder neu auf Abgründe zu führten. Seitdem die Vampire (gewiß nicht nur Landru) ihre Identität kannten, war meine Nähe zur Lebensnotwendigkeit für sie gewor den. Sie bot Schutz und Gefahr in einem – aber ohne diese Nähe hät te sie sich nur noch ständig verkriechen können. Denn der Feind lauerte überall, und im Gegensatz zu mir vermochte Beth die täu schend echte menschliche Fassade nicht zu durchschauen! Aber noch eine andere, viel schwerwiegendere Frage drängte sich immer stärker in den Vordergrund: Was würde nach der Bewußtwerdung meiner Bestimmung – nach Ablauf der 100-Jahre-Frist – mit ihr geschehen? Inwieweit würde ich mich alter Gefühle noch verpflichtet fühlen, wenn schon jetzt bewiesen war, mit welcher Skrupellosigkeit ich ei gentlich meine Opfer hätte töten müssen, um aus ihnen eine Heer schar zu formen, die noch vor mir selbst nach Uruk aufbrechen soll
te …? Würde ich meine menschlichen Moralvorstellungen vollständig unterdrücken müssen, um diese Bestimmung zu erfüllen? Und was würde nach Vollendung meiner Aufgabe sein? Was würde aus mir – und was aus Beth und den anderen, die mir bis dahin nahestanden? »Aaahuuuuuuu …!« Der schrille Ruf, der die Flug- und Motorengeräusche mühelos übertönte, riß mich aus meinen Gedanken. Als ich aufschreckte, sah ich, daß wir uns bereits über dem offenen Meer befanden. Beth’ Hand krallte sich in meinen Arm. Im nächsten Moment setzten die Motoren stotternd aus und schien die ›Schnauze‹ des Propellerflugzeugs nach unten wegzuknicken! Die kaum weniger dramatische Wahrheit war jedoch, daß die Ma schine einfach von einem Moment zum anderen in einen fast senk rechten Sturzflug überging. »Kamikaze …!« schrie der Pilot. Und wie ein ›göttlicher Wind‹ sausten wir tatsächlich der immer schneller heranwachsenden Wasserfläche entgegen, auf der wir aus diesem Winkel nicht wesentlich sanfter als auf einer Betonpiste auf schlagen würden. Alles ging rasend schnell. Vage zuckte der Gedanke durch mein Hirn, daß ich mich retten konnte. Ich mußte nur eine Scheibe einschlagen und die Tür gegen den Winddruck aufstemmen, um mich zu transformieren und auf ledrigen Schwingen in Sicherheit zu bringen! Mitnehmen konnte ich dabei niemanden … Bevor der Gedanke zur einzigen Überlebensmöglichkeit gerann, setzten die Motoren wieder ein und riß der Pilot mit debilem Ge
sichtsausdruck das Ruder der Maschine bis zum äußersten Anschlag an sich – wodurch das Flugzeug in einem unmöglichen ›Halb-Loo ping‹ knapp über den Wellen nach oben gerissen werden konnte! Im buchstäblich letzten Augenblick! Beth hing immer noch totenbleich an meinem Arm, als ich mich nach vorn beugte, die offene Hand um die Kehle des Piloten legte und zudrückte. »Was – sollte – das?« fragte ich in aller Schärfe. Seine Antwort schürte mein Verlangen, ihm den Kehlkopf zu zer quetschen. Aber damit wäre auch das Schicksal von Beth besiegelt gewesen, denn weder sie noch ich hätten das Flugzeug heil irgend wo gelandet. »Ein Jux«, kicherte er, als würde er diese Erklärung selbst glauben. »Sie müssen wahnsinnig sein!« stieß Beth hinter ihm aus und ball te die Fäuste, als wollte sie sich auch noch auf ihn stürzen. »Völlig übergeschnappt. Sie hätten uns umbringen können …« »Unsinn.« Sein Röcheln veranlaßte mich zwar, die Hand zu lo ckern, sie aber dort zu lassen, wo sie war. »Wer hat Ihnen den Auftrag zu diesem … Jux erteilt? Keyno? Ein anderer Vampir?« Es war unerheblich, daß ich mit diesen Fragen mein zuvor getroffenes Urteil über ihn wieder selbst revidierte. Je mand mußte ihn zu einem solchen Manöver aufgehetzt haben – auch wenn er es im letzten Moment abgebrochen hatte. »Es war kein … Auftrag. Es geschah … spontan!« Ich glaubte ihm nicht. Nicht mehr. Doch als ich seinen Willen bei seite fegte, um ihn zur Nennung der wahren Beweggründe zu zwin gen, blieb er immer noch bei seiner Version. »Welcher ›Jux‹ ist als nächstes geplant?« Er zuckte die Achseln. »Ich weiß jetzt, daß Sie … keinen Humor …
verstehen.« Obwohl sich mein Gefühl nicht verbessert hatte, ließ ich ihn los. Er rieb sich den Hals, und Beth seufzte: »Dieser Verrückte hätte uns um ein Haar umgebracht! Wenn die Propeller nicht sofort ange sprungen wären …« Ich betonte nicht, daß ich mich vermutlich hätte retten können, sondern nickte düster. »Wie lange brauchen wir bis zum Festland?« »Bei diesem Wetter ist mit keiner Verzögerung zu rechnen. Sie ha ben gebucht, und ich werde meine Verpflichtungen erfüllen. Es tut mir wirklich leid, wenn ich Sie erschreckt haben sollte. Meine japani schen Kunden sind immer ganz begeistert von dieser Einlage …« »Sie machen das öfter?« »Ich war Kunstflieger, bevor ich umsattelte«, fand er eine neue, noch abstrusere Entschuldigung. »Mit Kunst ist kein Geld zu ma chen. Man muß die niederen Instinkte der Menschen bedienen.« Beth ballte die Fäuste, als wollte sie sich gleich ihrer niederen In stinkte bedienen. Erst ein kurzer Blickwechsel mit mir konnte ihre Rachegelüste unterdrücken. Im nächsten Moment schaltete der Pilot die Motoren zum zweiten Mal ab, zog den Zündschlüssel, öffnete das Seitenfenster und streck te den Arm hinaus, um im nächsten Moment die Finger zu spreizen und den Schlüssel loszulassen – NEIN! Es blieb nur eine Möglichkeit, die Katastrophe anzuwenden. Der Symbiont spürte, was ich von ihm erwartete, und im nächsten Moment bildeten sich Medusenfäden auf der Oberfläche des Mimi krykleids. Sie peitschten an Beth vorbei auf den ungeschützten Nacken unseres Piloten zu, wo sie seine Haut durchbohrten. Als un
abwendbares Verhängnis für ihn – und als letzte Hoffnung für Beth. Die Fäden suchten und fanden ihr Ziel mit traumwandlerischer Si cherheit: das fremde Gehirn. In der nächsten Sekunde übernahm der Symbiont – und damit ich – die Kontrolle über den Selbstmordkandidaten. Die Hand mit dem Schlüssel öffnete sich nicht!
* RÜCKBLENDE Die Kammer war quadratisch. Ihr Grundriß maß kaum mehr als zwanzig mal zwanzig Meter, die Höhe etwa fünf Meter. Es gab nur einen Weg hinein und wieder hinaus. Und das einzige, was sich darin befand – umgeben von nackten Wänden aus sorgfäl tig eingepaßten Steinblöcken –, war Felidae. Und natürlich der Kelch. Er wob immer noch seinen purpurnen Mantel wie eine dritte Haut um seine Besitzerin und deren Symbion ten. Doch dann erlosch der Purpur, wie zuvor der ganze Korridor ver schwunden war, und Felidae konnte die Kellerkühle spüren, die diesen Ort unter der glühend heißen Wüste erfüllte. In der gegenüberliegenden Wand, die es zuvor nicht gegeben hat te, weil dort der Korridor begonnen und sich bis in unbestimmbare Ferne fortgesetzt hatte, existierte in zwei Metern Höhe eine kleine Nische, von der Felidae sofort wußte, was sie zu bedeuten hatte. Form und Größe waren eindeutig. Trotzdem zögerte die Vampirin und ließ zunächst die Atmosphäre
des Raumes, der Ähnlichkeit mit einem Mausoleum hatte, auf sich wirken. Felidae lauschte vergeblich in die Grabesstille; keine Wortfetzen drangen mehr an ihr Ohr. Nichts, was sich innerhalb des Korridors befunden hatte, konnte der Löschung entgangen sein! Löschung? Das Problem war, daß Felidae selbst kaum etwas über den Zeit strom wußte, der irgendwann von irgendwem an diesem Ort instal liert worden war. Natürlich konnte ein Tunnel in vergangene Epochen nicht aus Stein gefertigt sein wie der Treppenabgang und das Tor, sondern nur aus Magie; eine Projektion sozusagen, die Felidae nun abge schaltet hatte wie einen Projektor. Die ›lineare Verbindung‹ zwi schen tiefster Vergangenheit und der Gegenwart hatte damit aufge hört zu existieren – und mit ihr alles, was sich darin befunden hatte. Um die Pflicht des verschwundenen Wächters zu erfüllen, hatte Felidae die Archäologen auf diese Weise eliminiert, und es gab nichts, was sie wieder hätte zurückbringen können! Und die, die den Korridor zuvor betreten hatten – die Toten? Was war mit ihnen? Wenn sie nicht eines der Tore links und rechts des Tunnelverlaufs durchquert und sich zur Zeit irgendwann in der Vergangenheit auf gehalten hatten, waren zweifellos auch sie ausgelöscht worden. Gewiß ein herber Verlust für Lilith Eden, die mehr für Duncan Lu ther zu empfinden schien, als gut für sie war. Aber Felidae kannte solche Skrupel nicht; für sie war Luther … Ihre Gedanken wurden vom Lilienkelch unterbrochen. Sie erhielt neue Instruktionen. Eine Stimme, nur für sie hörbar und von jenem unwiderstehlichen femininen Reiz des LICHTS durch drungen, weihte sie in die weiteren notwendigen Handlungen ein.
Felidae nahm den Kelch und ging damit zur gegenüberliegenden Wand. Dort setzte sie ihn paßgenau in die muldenartige Vertiefung, so daß er halb mit dem Stein zu verschmelzen schien. Die andere Hälfte ragte erhaben in den Raum. Felidae sah, wie sich erst die unmittelbare Umgebung des Kelchs, dann alle Wände, die Decke und der Boden verfärbten und wie in dunkle Glut gehüllt wirkten. Aber es war nur der magische Purpur, der überall hin kroch. Dort, wo der Eingang lag, schob sich ein schweres steinernes Tor aus der Bodenschwelle in unsichtbaren Führungen nach oben und schloß lückenlos ab. Nur noch die purpurne Glut, die mit keinerlei Hitze verbunden war, schuf Helligkeit. Einen Moment lang drohte Trostlosigkeit über Felidae zusammen zustürzen; sie kam sich vor wie lebendig eingemauert. Doch dann setzte sich das Wissen um die Notwendigkeit dieses Geschehens durch. Dieser Ort war einer der wenigen auf Erden – vielleicht sogar der einzige –, an dem sie vor Landrus Nachstellun gen sicher war und ungestört abwarten konnte, bis die Prophezei ung sich erfüllen würde. Sie kehrte dem Kelch den Rücken, und rückwärts lehnte sie sich gegen die steinerne Wand, die sie aufnahm wie zuvor ihn. Es bedurfte keiner Vertiefung. Felidaes Körper drang in das zähe, aber nachgiebige Material ein, bis sie ebenfalls nur noch zur Hälfte herausragte. Dann erstarrte die Masse und betonierte sie in dieser Haltung ein, daß sie nicht mehr imstande war, sich aus eigener Kraft daraus zu lösen. Der Purpur strömte jetzt wie fetter Rauch aus allen Richtungen, bis er die Kammer als dichtes Gas erfüllte. Der Blick zum wiederver schlossenen Tor blieb aber immer gewahrt.
Felidae starrte unentwegt dorthin. Sie vermochte die Augen nicht zu schließen. Sie blickte geradeaus, als wartete sie nur auf eines: Daß sich das Tor, von außen betätigt, wieder auftat, und daß diejenige kommen würde, auf die es ankam …
* Er hat die ganze Zeit nur mit mir gespielt – mit MIR! Landru stand da wie die Statue eines finsteren Götzen. Aus seinem scharf geschnittenen Gesicht sprangen die Kraft und der heillose Zorn selbst den heimlichsten Betrachter an. Wie eine alte Haut streifte er die Maske der Zivilisation ab. Sein seriöses Hector-Lan ders-Inkognito, mit dem er Menschen zu blenden vermochte, hatte ausgedient. Das lackschwarze, streng zurückgekämmte Haar unterstrich die unbarmherzige Note, die sich in seinen Zügen einzunisten begann. Augen von stechender Tiefe starrten dorthin, wo Tanors dreidimen sionales Trugbild gerade verblaßt und durch einen Richterstuhl er setzt worden war. »Billige Taschenspieler-Tricks!« Landru schüttelte seine kurze Er starrung ab. Langsam drehte er sich um seine eigene Achse und er richtete dabei reflexartig einen unsichtbaren Schild. Dabei wünschte er sich den Kelch herbei, um mit dessen absoluter Macht die Mo schee unter- und oberirdisch in Schutt und Asche zu legen. Tanor hatte ihm eine tödliche Kränkung zugefügt – aber offenbar hatte er diesen Fehler bei Tanor schon lange vorher begangen. Die Tür, durch die Landru gekommen war, wurde von einem ›Vorhang‹ versperrt, der aussah wie eine breite Bahn ständig flie
ßenden Blutes. Dasselbe traf auch auf die anderen Ausgänge zu. »Bin ich dein Gefangener?« herrschte er Tanor an, der in diesem Moment auf dem Stuhl wie auf einem Thron materialisierte. »Mehr als das«, erhielt er zur Antwort. »Das Urteil über dich wur de bereits in deiner Abwesenheit verhängt. Ich wußte, daß du wie derkommen würdest … Einer wie du kehrt immer wieder an den Ort seiner Schandtaten zurück, bis man ihn endlich ausmerzt – und das wird nun geschehen! Hier und jetzt! Und nichts, kein noch so eitles Geschwätz, keine noch so leere Drohung wird dies verhin dern. Deine Zeit ist um!« »Du redest doch nicht nur von dem, was ich dieser Schwachsinni gen zufügte …« Landru verriet nicht, ob und in welchem Maße ihn Tanors Worte beunruhigten. »Nein. Ich rede auch davon, daß bis heute niemand weiß, wer du tatsächlich bist, woher du kamst, welche Ziele du verfolgst und was wir für dich bedeuten«, erwiderte Tanor ebenso gelassen. Er hatte die Arme auf die Stuhllehnen gestützt. »Ich rede davon, daß du seit Jahrhunderten überall auf der Welt auftauchst und tust, als müßte sich dir jede Sippe unterordnen. Du kränkst die Oberhäupter und bedrohst sie, indem du dich auf deine vorgebliche Überlegenheit be rufst! Du warst nie irgendwo willkommen, immer nur gelitten. Aber du hast den Bogen überspannt. Ich lasse mich nicht vor meiner eige nen Sippe bloßstellen – nie mehr! Du wirst sterben! Ich werde den Kodex einmalig brechen, damit du es nie wieder vermagst, und die se Schuld werde ich gern auf mich laden, denn danach werden alle Sippen aufatmen können. Niemand muß mehr die Scherben kitten, die du bei deinen ›Auftritten‹ hinterläßt. Und kein räudiges Wolfs weib wird je wieder in diesen Hallen geduldet. Der Bann wird sie treffen, wie jeden anderen, der sich künftig auf dich berufen mag …! « »Du weißt nicht, was du sagst! Du hast nicht die Macht, mich zu
–« Tanor hob die Hand. Nicht nur diese Geste, auch was sonst gesch ah, zwang Landru unter eine eiserne Knute. Er schrie auf – zunächst mehr aus Überraschung als aus Schmerz. Aber schon im nächsten Moment änderte sich dies, als sein Körper in Flammen zu stehen schien und er einsehen mußte, daß sein magi scher Schutzschild bereits unter dieser ersten Attacke zusammenge brochen war. Um ihn herum waberten Licht und Luft. Gestalten erschienen. Sie umringten Landru wie meditierende Mönche in weit fallenden, schwarzen Gewändern, die Köpfe unter Kapuzen verhüllt. »Meine Sippe«, schnitt Tanors Stimme durch den Schmerz, »hat mit mir entschieden. Das Urteil war einhellig, und jeder, der es mit mir fällte, trägt nun das Seine dazu bei, dich deiner Strafe zuzufüh ren! Du magst stark sein, Landru, aber eine Gemeinschaft ist einem Einzelnen immer überlegen. Laß uns den Beweis antreten …!« Landru krümmte sich bereits unter der nächsten Welle, die nicht nur seinen Körper, sondern auch seinen Geist durchlief. Er begriff. Daß er sterben würde. Daß er tatsächlich Tanor und die Macht einer einmütigen Sippe unterschätzt hatte! Die Worte des Vampirs auf dem Richterstuhl hatten es auf den Punkt gebracht: Er, Landru, benahm sich immer noch wie zu Zeiten seines Hüter-Daseins – wie damals, als der Kelch in seinen Händen jeden kleineren Frevel stützte und tolerierte … DAS WAR VORBEI. So viele Urteile hatte er über andere gefällt, und nun widerfuhr es
zum erstenmal ihm, daß über seinen Kopf hinweg entschieden wor den war, wie seine Zukunft aussehen sollte. Finster. Schwarz. LEER. Er hatte sich nie Gedanken über das Danach gemacht. Was von ihm bleiben würde, wenn er zu Staub zerfiel. (NICHTS!) Die Antwort, die er sich jetzt darauf gab, war desillusionierend und Ansporn zugleich. Sie besagte, daß er etwas tun mußte, um die ses NICHTS zu verhindern. Doch sie zermalmten jede Gegenwehr schon im Ansatz. Tanor, der alle Vorgänge zu steuern schien, blieb wachsam – weil auch er sich fürchtete. Er wußte, was es für ihn und alle Beteiligten bedeuten würde, wenn sie versagten … Aber sie versagten nicht. Sie überschütteten Landru mit Energien, die ihn lähmten und quälten und sein Bewußtsein ganz allmählich von innen, aus seinem verborgensten Kern heraus zermürbten, aushöhlten und seinen Wil len brachen. »Wer bist du?« schwebte über alledem Tanors Frage. Offenbar wollte er die erkennbare Schwäche des Verurteilten ausnutzen, um die Rätsel um Landrus Identität zu lüften. Die Wahrheit, von der er hoffte, sie könnte kläglich sein, sollte die Entstehung eines Mythos über den Tod hinaus verhindern. »Das wirst … du nie … erfahren!« Wer bist du? … bist du … du …? Es hörte nicht auf.
Landru preßte die Stirn gegen den Boden und zog die splitternden Fingernägel darüber. Blut sickerte aus den Nagelhöfen. Er versuchte eine Transformation. Seine Umrisse verschwammen wie die Reflexi on eines Menschen auf bewegtem Wasser. Er gebar die flüchtige Im pression eines grauen Wolfs, der den Rachen aufriß, ohne daß ein Ton entstand. Dann krümmte sich erneut nur der Vampir Landru mit entmenschter Grimasse am Boden. Er bettelte nicht – er BRÜLLTE. Aus seinem Innersten brach angestautes Gefühl, die Qual einer langen, letztlich vergeblichen Suche – und des Versuchs, seinen ver lorenen Status als Hüter zurückzuerringen! … bist du … bist du …? Der Ring um ihn schien sich enger zu ziehen. Ironie des Schicksals, daß Gehirne, die er selbst einst für Tanor ge tötet, geformt und wiederbelebt hatte, sein eigenes Gehirn verbrann ten. Und letztlich tatsächlich noch die schützende Kruste um seine Identität aufbrachen. … ich war ein Reisender in Sachen Tod und Leben. Wohin ich kam, wur de ich mit Respekt empfangen. Aber nie erblickte ein Vampir das wahre Ge sicht des Hüters. Nie. Dies durfte nicht geschehen. Der Kelch und ich wan derten von Ort zu Ort in – so glaubte ich damals – nie endender, finsterer Wallfahrt …
* GEGENWART Beth starrte in dem schwankenden Flugzeug stumm vor sich hin.
Vielleicht erschütterte sie der Anblick der Medusenfäden, die eine Brücke zwischen dem Piloten und mir schlugen. Vielleicht war es auch die Summe der Ereignisse seit Beginn unseres Starts aus Mat sumoto. Auch mir war nicht zum Reden zumute. Dicht über dem Wasser, manchmal so tief, daß es aussah, als be rühre das starre Fahrwerk die Wellenkämme, jagte die kleine Ma schine durch die Nacht. Der Mann hinter dem Steuer konnte nicht mehr anders als mir ge horchen. Auf wessen Geheiß er uns aber zweimal beinahe zum Ab sturz gebracht hätte, verriet er auch weiterhin nicht, und dafür gab es nur eine einzige Erklärung: Er wußte es nicht! Beruhigend war diese Erkenntnis kaum. Sie hatte mich zudem ver anlaßt, unser ursprüngliches Ziel auf der Südspitze der koreani schen Halbinsel leicht zu verlegen, denn dort wartete mit hoher Wahrscheinlichkeit eine weitere unschöne Überraschung. Ich verstand nicht, wie man uns – trotz aller Vorsicht – erneut hat te aufspüren können. Doch das allein bedrückte mich nicht. Auch Beth war – ähnlich wie damals, als die magische Pest sie mir zum Feind gemacht hatte – zum Unruheherd meiner Seele geworden. Nach meiner Begegnung mit der Dreiheit hatte sie urplötzlich und reichlich konfus vor Gabriels Eigentumssuite gestanden. Wie sie den Weg dorthin gefunden hatte, daran erinnerte sie sich nicht. Alles, was sie noch wußte, drehte sich um ihre Gefangenschaft bei den Tokioter Vampiren, wo Keyno, das Sippenoberhaupt, erkannt hatte, daß sie meinen Keim in sich trug. Nachdem er feststellte, daß sie nicht von ihm hypnotisierbar war, wollte er sie töten, um sie in eine mir hörige Dienerkreatur zu ver wandelt, deren Bestreben es gewesen wäre, zu mir zurückzukehren. Über diesen makabren Umweg hatte er versuchen wollen, meiner
habhaft zu werden. Warum er Beth dann aber doch ungeschoren hatte ziehen lassen, oder wie ihr der Ausbruch aus ihrem Kerker gelungen war – dar über schwieg sie sich aus. Meine geheime Befürchtung war, daß sich das, was ich bereits mit Duncan durchgemacht hatte, nun in einer anderen Variante wieder holen könnte: Benutzte jemand Beth, um jederzeit über meinen Aufenthaltsort informiert zu sein? Obwohl sie nachweislich lebte und atmete und keine Kreatur war …? Ich hatte sie nicht darauf angesprochen, weil ich sie nicht noch mehr quälen wollte, als sie es bereits selbst tat. Jeder kurze Blick in ihre unsteten Augen verriet, wie sehr sie unter ihrer Gedächtnis lücke litt. Im Schlaf hatte sie mehrfach von einer Keiji gesprochen, an die sie sich aber im Wachzustand nicht mehr erinnern konnte. Aber zwei fellos hing der Name mit der Marter und den Mißhandlungen zu sammen, die sie in ihrer Gefangenschaft erlitten hatte. Vor uns tauchte im Grau des Morgens die südkoreanische Küste auf, und wir flogen unverantwortlich tief, um den Luftüberwa chungssystemen zu entgehen. Eine legale, offizielle Einreise konnten wir vergessen. Uns blieb nur noch der heimliche, illegale Weg in ein Land, das unser Sprung brett in die Türkei werden sollte. Momentan schien es bis dorthin aber noch ein langer, steiniger Weg. Zumal ich keine genaue Vorstellung hatte, wie ich die Weiter reise gestalten sollte, um nicht auch hier gefährliche Aufmerksam keit zu erregen. Alles, was ich wollte, war, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Und daß sich die Fäden meines Symbionten aus dem
fremden Körper, dem fremden Hirn zurückzogen.
* Dort, wo wir schließlich landeten, existierte keine reguläre Piste, nur eine – aus der Luft betrachtet – scheinbar ebene Wiese in der Nähe einer kleinen Stadt. Eine plötzliche Bodenwelle brachte die bereits holprig im Auslauf befindliche Maschine noch zum Kippen. Die linke Tragfläche brems te den Aufprall und knickte dabei ab. Der Propeller fräste sich ins Erdreich und schleuderte es mit einem ersterbenden Geräusch in die Lüfte. Kurz darauf hörte auch der andere Propeller auf sich zu drehen. Die Symbiontenfäden schnellten in mein hautenges Kleid zurück; der Pilot sackte kraftlos in sich zusammen. Als ich mich zu ihm beugte, stellte ich fest, daß er bewußtlos war. »Worauf wartest du«, drängte Beth, die – auch von meinem Ge wicht – durch die Schräglage nach unten gedrückt wurde. Ich wuchtete die Ausstiegsluke auf meiner Seite auf und kletterte, selbst noch benommen, auf den Rahmenholm. Von dort aus sprang ich hinunter auf die Wiese. Beth folgte mir dichtauf. Es war ein milder Morgen. Der Wind schien hier weniger böig als in Matsumoto zu wehen. Aus nicht allzu großer Ferne kam das typi sche Geräusch einer dicht befahrenen Schnellstraße. Zu dieser frü hen Stunde schienen schon viele Menschen unterwegs zu ihrer Ar beit zu sein. Plötzlich schrie Beth auf, und als ich herumwirbelte, sah ich dort, wohin sie zeigte, gerade noch etwas federnd auf dem Boden landen.
Vereinzelt standen Obstbäume über die Wiese verstreut, und aus dem Wipfel eines dieser Bäume war eine imposante Wildkatze her abgesprungen, die sich uns jetzt langsam in geduckter Haltung und mit leisem Imponiergefauche näherte. Ein Luchs, den unsere lärmende Ankunft offenbar auf seinem Ru heplatz aufgeschreckt hatte. Verwunderlich war nur, daß er ein Halsband trug, als wäre er irgendwo ausgebrochen. »Keine abrupten Bewegungen!« flüsterte ich Beth zu. »Wir ziehen uns ins Flugzeug zurück und warten ab, bis –« Das geschmeidige Tier ließ uns keine Zeit zum Rückzug. Plötzlich jagte es mit geschmeidigen Sprüngen auf uns zu. Als letzten Aus weg, einen Kampf zu vermeiden, öffnete ich meine linke Hand und aktivierte den Scout. »Lauf weiter!« rief ich Beth zu. »Ich versuche ihn aufzuhalten!« Aus dem Tattoo löste sich die magische Fledermaus, und augen blicklich überschnitten sich in meinem Hirn zweierlei Wahrneh mungen. Während der Schemen auf den Luchs zuflog, sah ich durch meine und seine Augen. Es handelte sich bei weitem um keine ›Wunderwaffe‹, denn was dem Scout zugefügt wurde, bekam auch ich zu spüren. Das einzige, was ich mit ihm erreichten konnte, war, Verwirrung zu stiften. Aber diesmal funktionierte es nicht! Die Wildkatze zeigte weder Verblüffung noch die geringste Spur von Erschrecken. Mit einem gewaltigen Satz katapultierte sie sich vom Boden ab und schnappte nach dem Schemen. Ich konnte ihn nicht mehr ausweichen lassen. Lange, scharfe Kral len bohrten sich in das halbstoffliche Gewebe des Scouts – und es war, als würden die Krallen meine Haut in Fetzen reißen. Ich schrie auf. Eine Sekunde lang wurde mir schwarz vor Augen, und dann …
Nein, der erwartete Angriff der Raubkatze blieb aus. Stattdessen klang eine Stimme auf und goß beißenden Spott über mich. Eine Stimme sagte: »Immerhin hast du gelernt, es zu benutzen – wenn auch nicht gerade meisterlich.« Der Scout kehrte zu mir zurück, und ich blickte dorthin, wo sich mir nicht mehr der Luchs, sondern eine hochgewachsene rothaarige Frau näherte. »Felidae!«
* RÜCKBLENDE Felidae verlor jegliches Gespür für Zeit und Raum. Und für sich selbst. Einzementiert in den Wandbereich unterhalb des Kelchs war sie umgeben von wispernder Bewegung, von Schatten, die aus dem Purpur kamen, der die Kammer erfüllte. Noch niemals zuvor hatte sie sich so ausgeliefert gefühlt. Sie war immer eine Dienerin des LICHTS gewesen, aber die eigene Ohn macht war ihr noch nie so klar geworden wie jetzt, zur Bewegungs losigkeit verdammt, an einem Ort unter der Erde, wo sie das einzig Lebendige war … Falsch! Falsch? Erinnere dich des Symbionten! Sei nicht so undankbar … Sie vermochte nicht zu unterscheiden, woher diese Ermahnung kam. Ob vom LICHT, vom Kelch oder dem lebenden Geflecht selbst,
das sich um und durch ihren Körper zog. Danach herrschte wieder lange Zeit einsames Schweigen. Die Fra gen, die Felidae bestürmten, blieben ohne Antwort. Warum bin ich hier? Welche Rolle habe ich inne? Was geschieht mit dem Lilienkelch? Zumindest die Antwort auf die letzte Frage erahnte sie: Der Lilien kelch erneuerte sich an diesem Ort. Etwas in diesem Gewölbe nahm sich seiner an, reinigte ihn – und gab ihm vielleicht auch neue An weisungen … Der Purpur umwob Felidae wie das klebrige Netz einer Spinne. Je länger sie in der Wand gefangen war, desto älter, ausgelaugter, spröder fühlte sie sich. Wie die Mumie, die sie dem wahren Alter nach hätte sein müssen. Zwischen den matten Schlägen ihres Herzens meinte sie zu erken nen, wie die Wand ihre Kraft absorbierte. Wie alles aus ihr heraus strömte, als würde ihre Energie benötigt, um einen anderen Prozeß als ihr Leben in Gang zu bringen oder zu halten … Hatte sie ihren Sinn erfüllt? War dies der Ort, an dem sie zugrun de gehen würde? Was war mit dem Symbionten, der sich kaum regte, der alles sto isch erduldete, obwohl es ihn genauso anging? Selbst einfachste Gedanken fielen Felidae immer schwerer. Ihre Augen blieben immer offen, als gäbe es die schützenden Lider überhaupt nicht mehr. Müde starrte sie auf den immer gleichen Punkt: das geschlossene Tor. Würde es sich je wieder heben? Wann? Wenn Lilith eintraf? Würde sie überhaupt kommen? Felidae verfiel mehr und mehr in Agonie. Sie würde das Eintreffen
gewiß nicht mehr erleben. Ihr mumienkalter Körper würde … Der sie umgebende Purpur gerann und schuf ein Bild von surrea ler Schärfe, das Felidae schlagartig ernüchterte, hellwach machte. Lautlos senkte sich das steinerne Tor in den Boden! Zunächst war dahinter nichts zu erkennen. Bis jemand über die Schwelle trat. Lilith? Wieviel Zeit war draußen inzwischen vergangen? Es war nicht Lilith. Die Gestalt, die wachsam ins Purpur trat, war ein Mann, der Felidaes träges Herz wieder wie rasend schlagen ließ. Vor Panik und Entsetzen. Denn der Mann war Landru! Aus angstgeweiteten Augen starrte Felidae ihrem Todfeind entge gen, hilflos gefangen im Fels. Sie war ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Keine Sekunde zweifelte sie daran, daß er die Chance nutzen und sie töten würde. Doch seltsamerweise schien Landru sie gar nicht zu sehen. Sein Blick war auch nicht auf die Felswand gerichtet, in der sie halb ein geschlossen stand, sondern ging wie in weite Ferne. Irgend etwas stimmte nicht. Langsam bekam Felidae ihre rasenden Gedanken wieder unter Kontrolle. Jetzt bemerkte sie auch, daß Landrus Körper seltsam un wirklich schien, fast, als fehle ihm ein letztes Quentchen Substanz, um wirklich zu sein. Dann aber durchrann sie wieder ein kalter Schauer. Landru durch querte den kurzen Eingangsbereich des Korridors und kam direkt auf sie zu! Ihre Muskeln spannten sich, versuchten sich vergeblich aus der Umklammerung des Steins zu lösen. Und dann war der mächtigste der Vampire heran. Er schien direkt
durch Felidae hindurch zu starren – als sehe er statt ihrer den Korri dor. Aber das war unmöglich. Sie hatte die »Projektion« abgeschal tet. Landru setzte seinen Weg unbeirrt fort, kam näher und näher – und trat durch Felidae hindurch. Als existiere sie gar nicht. Einen Sekundenbruchteil später begriff Felidae. Nicht sie, sondern Landru existierte nicht! Er war ein Trugbild, ge schaffen vom LICHT! Aber wozu? Dann sickerte auch diese Erkenntnis in ihr Gehirn, und sie er schauerte abermals. ICH HABE EINEN AUFTRAG FÜR DICH, sagte das LICHT.
* GEGENWART Unsere letzte Begegnung lag Wochen zurück: als Felidae mir das magische Tattoo vermacht hatte, damit ich Lazarus’ Spur nach Polen aufnehmen konnte. Eigentlich hätte ich den Scout erst nach Vollendung meiner Reife erhalten sollen, doch die Not hatte Felidae veranlaßt, dem vorzu greifen. Aber sie konnte mich nicht mehr im Gebrauch des Tattoos unterweisen. Den Umgang damit hatte ich mir selbst mühsam an eignen müssen. Nun stand die Diebin des Kelchs wieder vor mir, und alles, was ich dabei empfand, war Unbehagen und Furcht, denn unsere Begeg nung würde einen tiefen Einschnitt in mein bisheriges Leben bedeu ten. Sie würde nun nachholen, was Landru in Sydney vereitelt hatte: Ich mußte aus dem Lilienkelch trinken, um die volle Erkenntnis zu
erlangen, zu welchem Zweck ich einst aus der verbotenen Verbin dung einer Vampirin und eines Sterblichem hervorgegangen war! Sie war gekommen, um mir meine Menschlichkeit zu nehmen! Inzwischen wußte ich es. Die Dreiheit hatte meine seit langem glimmenden Ahnungen durch ihr brutales Morden bestätigt: Auch ich hätte nie Skrupel haben dürfen, Menschen zu töten. Es war allein meiner ›Unreife‹ zu verdanken, daß ich diejenigen, von deren Blut ich mich ernährte, geschont hatte. »Ich freue mich«, sagte Felidae, obwohl ihre Haltung eigentlich Unnahbarkeit ausdrückte, »daß du dir zu helfen wußtest – nicht nur, was das Tattoo anging.« Der Schmerz, den sie dem Scout zugefügt hatte, war abgeklungen; statt dessen verfluchte ich das lähmende Gefühl, das mich stets in Felidaes Nähe überkam, vielleicht weil ich einfach zuviel Wissen über ihre verruchten Taten besaß. Ich hatte den unglücklichen Wer degang meiner Mutter schließlich hautnah nacherlebt.* »Du willst sagen«, fragte ich rauh, »daß der Pilot uns auf dein Ge heiß hin fast umgebracht hätte?« »Gab er sich wenigstens Mühe?« Ich preßte die Lippen zusammen. Die Frage stellte endgültig klar, daß Felidae die Anstifterin sein mußte – nicht aber, wie sie hatte wissen können, daß wir ausgerech net diesen Mann auswählen würden und – noch unmöglicher – wo hin ich ihn mit Symbiontenhilfe manövrieren würde! Kam dieses Wissen von ihrem Symbionten? Schon in Sydney hatte sie bewiesen, daß ein Kontakt zwischen den beiden Mimikrywesen existierte. Nein.
*siehe VAMPIRA 15: ›Ich, Creanna‹
Es war einfach nicht glaubhaft, daß Felidae hier – auf einer Wiese irgendwo in Südkorea – auf die Ankunft unserer Maschine gewartet hatte – und außerdem noch die Zeit fand, zuvor drüben in Japan den Menschen zu manipulieren, den wir auch nur zufällig ausge sucht hatten! Aber wie auch immer: Nun stand sie vor mir, zum Greifen nah. Ihr kupferfarbenes Haar reflektierte die ersten Strahlen der im Osten über dem Horizont aufgehenden Sonne. Wie schon bei unserer ers ten Begegnung hatte der Symbiont eindrucksvolle Mordwerkzeuge an ihren Armen entstehen lassen, die wie ›organisches Silber‹ glänz ten. Die Riemen, die sich über ihrer Nasenwurzel kreuzten, schienen tiefer in die Haut eingebettet zu sein als früher. Auch an anderen Stellen fiel dies auf. Mancherorts sah es aus, als hätte sich das leben dige Geflecht regelrecht ins Fleisch hineingeschnitten. Ich nahm an, daß es mit den neuen Verletzungen zu tun hatte, die Landru ihr im Museumsdorf zugefügt hatte. Als er sie dort zurück ließ, hatte sie kaum noch eine Überlebenschance gehabt. Aber sie war zäh wie das Tier, das sie sich zu ihrem Sinnbild erko ren hatte. Hatte sie auch die neun Leben, die man einer Katze nach sagte? »Wo ist der Kelch?« fragte ich. »Dich dürstet nach ihm?« spottete sie. »Nach meinem Blut?« »Wo ist er?« »Nicht hier.« Ihre Antwort erleichterte mich maßlos. »Wo dann?« »Fern von hier.« Ich atmete noch tiefer ein und aus. »Ich verstehe nicht. Ich dachte …«
»Ich bin vor der Zeit gekommen«, unterbrach sie mich, »weil ich die Zukunft gesehen habe. Eine mögliche Zukunft.« Sie lächelte karg. »Ich war in Uruk, in der Vorkammer des Korridors. Dort wurde mir eine Vision zuteil, die bewies, daß Landru den Korridor noch vor dir entdecken und betreten wird … wenn er nicht daran gehindert wird.« »Woher sollte er von Uruk wissen?« fragte ich. »Ich weiß selbst erst seit kurzem –« Sie unterbrach meinen Redefluß erneut. »Das war der Vision nicht zu entnehmen. Aber er muß auf eine falsche Fährte gelockt oder zu mindest beschäftigt werden! Er darf den Plan nicht erneut gefähr den – nicht in diesem Stadium!« »Wie könnte ich ihn beschäftigen, ohne mich selbst aufzuhalten? Ich muß zum Ararat. Jeff Warner – du weißt, was aus ihm, Codd und Storm geworden ist? – forderte mich auf, zum Dunklen Dom zu gehen und die ›Agrippa‹ zu bergen, ohne die ich meine Aufgabe nicht erfüllen könne …« »Du hast danach Zeit, dich darum zu kümmern. Wenn du meinen Plan erfüllst, wird Landru keine Kraft erübrigen können, um weiter hin dem verlorenen Kelch nachzujagen. Präge dir meine Worte gut ein, denn ich werde dich bald wieder verlassen. Ich wurde nur ge schickt, dir das Szenario zu schildern, das verhindert werden muß – unter allen Umständen!« »Geschickt?« »Sagt dir der Begriff Nexius etwas?« fuhr Felidae ungerührt fort. Ich verneinte. Diesen Namen, oder was immer es war, hatte ich nie gehört. »Vor Zeiten, als die Kultur der Pharaonen in ihrem Zenit stand, gab es drei Personen, deren Wirken eine große Gefahr für die Alte Rasse bannte: ein Hermaphrodit namens Harlorki, ein Pharao, der
unter dem Namen Echnaton in die Geschichte einging, und eine Vampirin, deren Schönheit legendär war: Nofretete.« Ich gab nicht zu erkennen, was Felidaes eilig hingeworfene Worte in mir auslösten. Natürlich hatte auch ich von dieser Nofretete ge hört, aber daß sie eine Vampirin gewesen sein sollte … »Damals wurde, ähnlich wie heute, Einfluß ausgeübt, indem Köni ge und Gottkönige in die loyale Gefolgschaft der Vampire aufge nommen wurden – oder Vampire selbst diese Posten bekleideten. Schon damals gab es den Lilienkelch und seinen Hüter, nur daß er Harlorki und nicht Landru hieß. Auch Harlorki hatte das Amt für 1000 Jahre inne, und in dieser Spanne beschwor er durch eine fehl geschlagene Kelchtaufe unermeßliche Gefahr für alle Vampire her auf. Eine Gefahr, die zwar besiegt, aber nie völlig beseitigt werden konnte: den Nexius.« »Was ist der Nexius? Ein mißgestalteter Vampir?« »Er hat keine bindende Gestalt«, sagte Felidae. »Damals war er eine unkontrolliert wachsende, amorphe Masse, fähig, viele Gestal ten anzunehmen – ähnlich unserer Symbionten, aber bedeutend ge fräßiger.« »Wovon ernährte er sich? Ebenfalls von schwarzem Blut der Vam pire?« »Das Blut war automatisch dabei, denn er verschlang seine Beute gänzlich. Nur unter größten Anstrengungen und vielen Verlusten gelang es damals, seiner habhaft zu werden. Auf Harlorkis Rat hin ließ Echnaton eine unterirdische, auf der Spitze stehende Pyramide als Gefängnis für dieses unersättliche Wesen erbauen. In diesem Kerker befindet es sich noch heute, und wenn es gelänge, den Nexi us freizusetzen, wäre nicht nur Landru gefordert, sondern alle Vam pire!« »Wie sollte es jahrtausendelang überlebt haben, eingesperrt, ohne
Nahrung und ohne Luft?« fragte Beth und trat neben mich. Ich hatte sie beinahe vergessen. Felidae betrachtete sie geringschätzig, und noch herablassender sagte sie: »Es hat überdauert. Ich weiß es aus derselben Quelle, die mir sagte, wann und wo ich auf euch treffen würde, nachdem ich zwei Tage zuvor in Matsumoto jenen Mann aufsuchte, der euer Flugzeug steuern würde …« Das hörte sich an wie alles vorherige: zu phantastisch, um glaub würdig zu sein. Aber Felidae stand hier. Sie hatte gewußt, wo sie uns finden konnte. »Die Maschine hätte abstürzen können …«, warf ich ein, und ihr Nicken bestätigte dies. »Es war ein Test. Ich mußte wissen, ob du in kritischen Situationen schnell und überlegt zu handeln verstehst. Hättest du versagt, wäre deine eigentliche Aufgabe zu schwer für dich gewesen.« So simpel diese Logik klang, war sie es in Wirklichkeit nicht, und erst recht nicht die Konsequenz, die daraus erwuchs. »Alles wäre umsonst gewesen? Hundert Jahre vertan?« Sie hob fragend die Brauen. »Oh, ich bin sicher, du hättest über lebt. Das LICHT ist geübt darin, selbst zerschmetterte Körper wieder zusammenzufügen.« Für einen Moment ging ihr Blick wie in weite Ferne. »Aber es war interessant zu sehen, ob du deine kleine Freun din im Stich lassen würdest. Ich muß sagen, in diesem Fall hast du mich enttäuscht.« Ich funkelte sie wütend an. »Du machst es einem leicht, dich zu hassen.« »Du haßt mich nicht«, erwiderte sie ungerührt, und erstaunlicher weise hatte sie wahrscheinlich recht damit.
»Dieses Wesen«, lenkte ich ab, »wird auch mich gefährden, wenn ich es befreie.« »Du mußt Vorkehrungen treffen, damit dies nicht geschieht. Die Pyramide ist mit mehreren magischen Siegeln abgesichert. Sonst hätte sich der Nexius längst selbst befreit.« Beth legte ihre Hand um meinen Arm, als wollte sie mich ihrer Unterstützung versichern, obwohl ich eigentlich damit rechnete, daß sie mich davor warnen würde, Felidae zu vertrauen. Auch ihr Blick ließ alles offen. Es war meine Entscheidung. »Wann in der Zukunft wird Landru in diesen geheimnisvollen Korridor eindringen?« fragte ich, um weitere Details bemüht. »Er darf ihn nie betreten«, erwiderte Felidae, ohne die Frage zu be antworten. »Was muß ich tun?« fuhr ich fort. »Und wo?« »Die Pyramide ist mit drei magischen Siegeln geschützt«, offen barte mir die Vampirin. »Um ihren Standort zu erfahren und die Schutzzauber zu beseitigen, mußt du zunächst ein Pergament in dei nen Besitz bringen, das Harlorki der Nachwelt hinterließ, das durch widrige Umstände jedoch in Vergessenheit geriet. Es wurde in einer hohlen Katzenstatue aus Ebenholz aufbewahrt.« »Eine Katzenstatue? Wie sinnig!« Felidae ging nicht darauf ein. »Das Pergament enthält in altägyptischen Hieroglyphen den unge fähren Standort der Pyramide …« »Ungefähr?« »Ein Vampir wird keine Schwierigkeiten haben, den genauen Standort zu bestimmen, sobald er auch nur in die Nähe kommt. Der Inhalt des Kerkers ist dann für ihn zu spüren.«
»Und dennoch blieb die Pyramide all die Zeit unentdeckt?« »Zum zweiten«, fuhr Felidae fort, »enthält das Pergament einen Code in einer alten ägyptischen Geheimschrift, aus dem hervorgeht, wie das erste der magischen Siegel beschaffen ist.« »Vermag ich diese Geheimschrift zu lesen?« »Ich hoffe es. Normalerweise müßtest du jede Schrift und Sprache beherrschen.« »Kennst du das Versteck des Pergaments?« fragte ich weiter. Ihre Lippen zwischen den Kreuzriemen öffneten sich, und ernst erwiderte sie: »Die Statue wird im Ägyptischen Museum von Kairo aufbewahrt, irgendwo unter hunderttausend anderen Funden aus der Pharaonenzeit …«
* RÜCKBLENDE »Steh auf!« sagte Tanor. Landru hätte gehorcht, wenn er es gekonnt hätte. Aber seine Kräf te versagten. Als er den Kopf hob, sah er, daß nur noch das Sip penoberhaupt bei ihm war. Wenige Schritte von ihm entfernt stand er und blickte auf ihn herab, ohne Herablassung. Die anderen waren verschwunden. Und mit ihnen der Druck in Landrus Schädel. »Welche Teufelei … hast du jetzt … im Sinn?« mahlte seine Zunge. »Keine«, antwortete Tanor. »Es tut mir leid.« »Es tut …?« »… mir leid«, bestätigte er noch einmal. »Ich wußte es nicht – nie
mand wußte es.« »Wovon redest du?« Landru stützte die Hände auf den Boden. Diesmal gelang es ihm, wenigstens den Oberkörper aufzurichten. Die Schwäche war noch tiefgreifender als damals in den Tempeln des Himalaya, als eine fremde Magie ihn vorübergehend in einen Greis verwandelt hatte.* »Von dir. Von deinem Schicksal«, erwiderte Tanor. Die Geste sei ner Hände wirkte etwas linkisch, zugleich aber auch tröstlich. Ein eigenartig schwebendes Gefühl bemächtigte sich Landrus. Er verstand, daß er unter den Attacken alles preisgegeben hatte, was nie jemand erfahren sollte. »Wer außer dir weiß es noch?« fragte er rauh. Die Erschütterung beflügelte seine fast erloschenen Kräfte. Torkelnd kam er auf die Beine. »Alle, die dabei waren. Aber sie werden – wie ich – schweigen.« Landru riß die Augen auf und lachte hysterisch. »Warum sollten sie? Hör auf, dich an meinem Schicksal zu weiden! Töte mich! Ich ertrage die Demütigung keine Sekunde länger …!« Tanor schüttelte das kahlgeschorene Haupt. »Du hättest dich mir anvertrauen können … aber vermutlich hätte ich an deiner Stelle nicht anders gehandelt.« Landrus Lachen wurde noch bitterer. Er machte einen tastenden Schritt auf Tanor zu und ballte die Fäuste, als wollte er ihn dadurch zwingen, mit dem Gerede aufzuhören und EIN ENDE ZU MA CHEN! »Niemand kann sich in mich hineinversetzen! Auch du nicht! Was hast du vor?« Tanor kam ihm furchtlos entgegen und legte seine Hände sanft
*siehe VAMPIRA 8: ›Die Blutbibel‹
um Landrus Fäuste. »Ich war verletzt, gekränkt – deshalb reifte der Plan, dich für dein selbstsüchtiges Verhalten zu bestrafen. Aber ich weiß jetzt, wie du wurdest, was du bist – und ich sehe mit dir die Notwendigkeit, die alte Ordnung wiederherzustellen. Dafür benötigen wir den Kelch – und dich!«
»Nachdem meine Identität enthüllt ist«, wehrte Landru ab, »könnte ich nie wieder das Hüteramt bekleiden.« »Wir werden sehen. Zunächst geht es um den Lilienkelch. Wäh rend du …«, Tanors Miene veränderte sich nicht, »… schliefst, ver suchte ich, deine Bitte zu erfüllen.« »Welche Bitte?« »Den Aufenthaltsort des Wiederbelebten ausfindig zu machen.« Auch diese Ankündigung weckte Landrus Lebensgeister nicht merklich. Dafür bedurfte es eines anderen Stoffes. Tanor schien dies gewußt und Vorbereitungen getroffen zu haben, den Mangel zu beheben. Im Hintergrund entstand Bewegung. Eine blutjunge, rehäugige Schönheit betrat, ihrer Gewänder beraubt, den Raum und ging mit verzücktem Lächeln geradewegs auf Landru zu, der ihren Reizen keinen Blick schenkte, sondern sich in explodierender Begierde auf sie stürzte und sie mit sich zu Fall brachte. Ohne auf Tanors Gegenwart zu achten, grub er seine Zähne in ih
ren Hals, aus dem kein Laut des Erschreckens oder der Pein drang, nur belebender, kostbarer Saft … Als er nach einer Weile von ihr abließ und sich erhob, waren seine Bewegungen bereits merklich sicherer. Das Mißtrauen, mit dem er Tanor bedachte, stand jedoch immer noch zwischen ihnen. Das Sippenoberhaupt trat an ihm vorbei, beugte sich hinab und brach das Genick des Opfers, als wäre dies nicht mehr als ein sich ziemender Akt der Höflichkeit. »Ist es dir gelungen?« wollte Landru wissen, ohne das Gespräch noch einmal umständlich aufzurollen. Inzwischen hegte er Erwartungen, die prompt enttäuscht wurden. »Leider nein«, sagte Tanor. »Diese Fährte führt ins Nichts. Duncan Luther existiert nicht mehr, auch wenn es dir schwerfällt, dies zu glauben. Er muß erneut – und diesmal endgültig – zu Tode gekom men sein!« »Es gibt keine andere Erklärung?« »Keine, die ich dir bieten könnte. Hör auf, dich daran zu klam mern. Es muß andere Wege geben, den Verbleib des Kelchs und sei ner neuen Besitzerin herauszufinden!« Landrus Augen beschatteten sich. »Wenn du mir meine Geschich te entrissen hast, weißt du auch, daß ich mehr als zweieinhalb Jahr hunderte hinter der ersten Diebin herjagte. Noch einmal diese Span ne, davon bin ich überzeugt, bleibt uns nicht.« »Das weiß ich«, sagte Tanor. »Aber es ginge bedeutend schneller, wenn sich alle Sippen an der Jagd beteiligten!« »Um meine Demütigung komplett zu machen?« »Um unsere Zukunft zu sichern!« entgegnete Tanor. »Ist dein Stolz wichtiger als das?« Landru schwieg. Er fühlte sich in eine ungewohnte und ungeliebte
Position gedrängt. »Nein«, sagte er schließlich. »Aber es würde der Sache keinen Ge fallen tun. Das weiß ich, weil ich weiter blicke als du – auch wenn du mir dies als reinen Egoismus und überdies als Überschätzung meiner Bedeutung auslegen kannst!« »Wovon redest du?« »Ich rede davon, daß es schlimm ist, wenn du und deine Sippe meine Identität kennen und um mein früheres Wirken wissen. Aber noch schlimmer wäre es, geriete dieses Wissen in Umlauf.« »Warum?« Tanor blieb äußerlich besonnen. »Weil wir an die Zeit danach denken müssen; an die Zeit, nachdem der Lilienkelch wieder in der Hand unseres Volkes ist! Dann muß es wieder ein Regulativ geben, eine neutrale Person, die damit von Ort zu Ort, von Sippe zu Sippe reist, um das wahre Leben zu spenden. Um Kelchtaufen durchzuführen! Wer außer mir käme dafür in Fra ge?« Tanor hob die Hand und strich flüchtig über die geschlossenen Augen, als könnte und müßte er eigene Erschöpfung damit vertrei ben. »Ein anderer … Hüter?« »Es wird keine anderen Hüter mehr geben!« sprach Landru aus, wovon er tatsächlich felsenfest überzeugt war. »Die Ära der Hüter ist vorbei. Ich war der letzte, und wenn ich sterbe, folgt niemand mehr! Die Mächte, unter deren Schutz wir einst lebten, haben sich gegen uns gewandt – das und vieles andere wurde mir in der langen Zeit meiner vergeblichen Suche klar! Sie selbst stecken hinter dem, was geschieht, und mit hoher Wahrscheinlichkeit ist auch der Ba stard ihrem Willen entsprungen. Er und die falsche Hüterin, die mich einst im Dunklen Dom ablöste – es zumindest vorgab. Aber sie wäre nie von dort entkommen und hätte sich nicht so lange verbergen
können, wenn der Kelch und die ihm innewohnende Macht es nicht zugelassen hätten.« »Ich verstehe, was du meinst«, erwiderte Tanor. »Aber wenn dies alles ist, wie du sagst, würde es überhaupt keinen Unterschied ma chen, ob wir den Kelch zurückgewännen oder nicht – er würde uns ohnehin nicht mehr dienen …« Landru schüttelte den Kopf. »Doch, ich weiß, das würde er. Ich habe meinen Status behalten – es gibt nur diese Erklärung, warum mich der Kelch, warum mich die Macht im Dunklen Dom nicht ein fach auslöschte. Beide hatten mehrfach die Gelegenheit dazu!« »Du verläßt dich auf dünnes Eis …« »Es ist das einzige, was uns an Hoffnung bleibt!« sagte Landru, dem keine Schwäche mehr anzumerken war, obwohl sie – natürlich – noch vorhanden sein mußte. Aber das fremde Blut hatte geholfen. »Ich werde darüber nachdenken …« Tanor wandte sich ab, hielt dann aber noch einmal inne und sagte, ohne zurückzuschauen: »Du bist frei. Du kannst gehen, wohin es dich zieht. Aber hinterlasse eine Möglichkeit, dich überall und zu jeder Zeit zu erreichen, denn ich werde weiterhin nach deinem verlorenen ›Mündel‹ forschen.« »Wie erfahre ich, wie du dich in der anderen Sache entschieden hast?« fragte Landru. »Du wirst es erfahren. So lange kannst du dir des Schweigens mei ner Sippe gewiß sein – uneingeschränkt!« Landru nickte. Tanor hatte keinen Grund mehr, ihn zu täuschen. Seltsamerweise empfand Landru keine wahrhaftige Demütigung über die Entschleierung seiner Identität und die Art, wie ihm hier mitgespielt worden war. Die Erleichterung, jemanden gewonnen zu haben, der sein Geheimnis nach Jahrhunderten der alleinigen Bürde teilte, überwog. Was nicht hieß, daß dies so bleiben mußte …
»Ich werde«, sagte Tanor zum Abschied, »auch nach anderen Hin weisen forschen, die dir auf der Suche nach dem Kelch und seinem jetzigen Besitzer helfen könnten. Vielleicht gibt es Dinge, die außer dem Unheiligtum in unmittelbarer Verbindung zu dem Wechselbalg stehen.« Tanor schien auf eine Erwiderung zu warten, doch als Landru ge dankenversunken schwieg, wandte er sich ohne ein weiteres Wort ab und ließ ihn allein.
* Tage später Ali El-Fustat döste, obwohl der Lärm an diesem Ort selten ver stummte. Die Gewalt schwang in jedem Ton mit – und auch andere Nuancen des Terrors, die niemand, der damit täglich in Berührung kam, noch richtig beachtete. Dieser Ort war eine Hölle. Und hier zu arbeiten war eine fast ebenso schlimme Strafe wie darin leben zu müssen. Ali hatte es ausgerechnet: zu 40 bis 50 Pro zent, je nach Schichtverlauf, war er selbst ein Gefangener. Er haßte seinen Job, aber ohne ihn hätte er sich in das Heer der Bettler einreihen müssen, deren Hölle noch heißer war. Er schreckte von einem Geräusch auf, das sich von den gewohnten Klängen unterschied. Der Aufseher hob den Kopf. Auf dem Tisch vor ihm stand eine Lampe, die trübes Licht verbrei tete. Es gab noch eine Deckenleuchte, aber deren Glühbirne war vor ein paar Tagen kaputt gegangen, und bislang hatte sich noch nie
mand gefunden, der Ersatz besorgt und sie ausgetauscht hätte. Ali El-Fustat nahm die Füße vom Tisch. Manchmal verirrte sich eine Taube durch das offene Fenster. Die Gitter stellten kein Hinder nis dar. Aber es blieb still. Das typische Gurren, das eine Bereicherung des heimischen Speiseplans hätte bedeuten können, blieb aus, obwohl der Aufseher gemeint hatte, von Flügelschlag geweckt worden zu sein. Offenbar hatte er es nur geträumt. Er hustete, denn er litt an chronischer Bronchitis, und sofort stimmte irgendwo in der Nähe einer der Häftlinge ein, um ihn nach zuäffen. Sekunden später ein zweiter, bis der ganze Trakt zu dröh nen schien. Ali hatte aufgehört, sich darüber zu ärgern. Menschliches Gefühl wurde in diesen Mauern systematisch ausradiert. Auch die Aufse her stumpften ab; es war die einzige Möglichkeit, den regelmäßigen Zwangsaufenthalt überhaupt zu ertragen. Der Hustenreiz ließ erst nach, als Ali bereits die Tränen in den Au gen standen. Er nahm die kleine Flasche, die unter der Lampe auf dem Tisch stand, und zählte sich ein Dutzend Tropfen in den unge waschenen Messinglöffel. Als sich die ölige Substanz in seinem Mund verteilte und die Kehle hinunterrann, wurde es besser. Dann verlangte jemand das Strafregister. Ali erstarrte kurz, beugte sich dann aber nach vorn, zog eine Schublade auf und holte das speckige Buch heraus, in dem die Na men und Vergehen aller in seinem Bereich untergebrachten Männer zu lesen waren. Draußen husteten sie immer noch, aber es ließ allmählich nach. Die Tür stand einen Spalt offen, und die Uhr an der Wand forderte eigentlich zu einer Runde auf.
Ali blieb sitzen. Er spürte den Atem in seinem Nacken, aber kein Verlangen, sich umzudrehen. Ab und zu kam die Aufforderung, umzublättern. Dann raschelte Papier, denn seine Finger gehorchten, und seine Augen lasen, als wüßte er nicht längst, welcher Abschaum hier kaserniert wurde. Er wußte es. Als er um seine Meinung gefragt wurde, wer die übelste Schandtat begangen hatte, schien sich seine Ansicht mit der des Fragestellers zu decken. Etwas bohrte sich in sein rechtes Schlüsselbein; aber nicht besorg niserregend. Es war in Ordnung. Kurz darauf erhob sich Ali, nahm den Drahtring voller Schlüssel vom Haken und ging hinaus auf den Gang. Als man ihn bemerkte, entstand ein Tumult, wie er ihn selbst hier nicht gewöhnt war. »Nettes Haustierchen hast du da«, johlten und lästerten sie. Ali lief steif, als hätte er einen Stock verschluckt. Nicht einmal drehte er den Kopf zur Seite, wo Blechnäpfe gegen die Stäbe schep perten und das Geschrei immer wüster wurde. Er machte sich keine Sorgen. Alles war in Ordnung. Ganz am Ende des Gangs blieb er stehen. Aus einem Impuls her aus wollte er die Zelle aufschließen, aber ein Befehl belehrte ihn, daß dies nicht nötig war. Der Druck auf seiner Schulter verschwand. Ali drehte sich um und ging in seine Wachstube zurück. Das Ge gröle begleitete ihn mit unverminderter Lautstärke.
Es war in Ordnung. Alles war gut …
* Ich landete auf der nackten Brust des stoppelbärtigen Mannes, der mit geschlossenen Augen auf seiner Pritsche lag und tat, als könnte ihn aller Lärm nicht am Schlaf hindern. Ich wußte, daß er sich verstellte. Er hatte den Wärter täuschen wollen; aber mich täuschte er nicht. Ich spreizte die Krallen und bohrte sie in die dünne, nachgiebige Schicht über seinen Rippen. Fluchend fuhr er auf. Meine Schwingen entfalteten sich und peitschten durch die Luft. Noch während er sich im Dunkel der Schatten zu orientieren ver suchte, nahm ich meine wahre Gestalt an. Verblüfft hielt er inne. Ich las vieles in seinem Gesicht. Angst war nicht darunter, wohl aber der Mangel an Phantasie, der ihm geholfen hätte, das, was er vage im Finstern erkennen konnte, zu begreifen. Mich. »Du hast ein hilfloses kleines Kind getötet?« fragte ich. Er riß die Augen noch weiter auf. Dann ballte er seine Fäuste so heftig, daß ich die Knöchel knacken hörte. »Wer – bist du?« Er hatte keine angenehme Stimme, aber er war auch kein angeneh mer Mensch. »Ich heiße Lilith«, erwiderte ich. »Deinen Namen kenne ich. Du heißt Gamal. Den Rest ersparen wir uns.«
»Imshi!« keuchte er, als sickerte allmählich der Zorn in seine im mer noch anhaltende Überraschung. »Verschwinde!« »Nachdem ich mich gestärkt habe«, erwiderte ich. »Gestärkt?« »Ich leide Hunger. Eigentlich ist es eher Durst. Seit Tagen wagte ich nicht mehr, ihn zu stillen. Weißt du, was das heißt?« Er kam auf mich zu. Seine Augen gewöhnten sich schnell an die Schatten, aber viel mehr als meinen Schemen konnte er sicher nicht erkennen. Dennoch genügte ihm dies, sich überlegen zu fühlen, denn er nahm zu Recht an, daß ich allein gekommen war. Das ›Wie‹ rückte dabei merklich in den Hintergrund seiner Neu gier. »Aib! Du mußt verrückt sein!« sagte er kehlig. »Ich werde …« »Du wirst meinen Durst stillen«, fiel ich ihm ins Wort. Seine Augen flackerten. »Warum hast du nach – dem Kind gefragt?« krächzte er plötzlich. »Weil es der Grund ist, daß ich dich aussuchte.« Er überlegte. Sein Mund öffnete sich zweimal vergebens, ehe beim dritten Mal Worte heraussprudelten. »Ich habe es nicht getan! Ich sitze unschuldig hinter Gittern!« Mir wurde nicht ganz klar, weshalb er es sagte. Warum er stehen geblieben war und die Arme noch einmal senkte. Doch dann warf er sich mir mit einem jähen Satz entgegen und schloß die Hände mit solcher Aggressivität um meine Arme, daß ich annehmen mußte, er wollte mir die Knochen im Leib brechen. Sein Atem roch süßlich und verdorben. »Törichte mara!« rief er gepreßt. »Närrisches Weib! Ich werde dich –«
»– speisen«, sagte ich, ohne einen Zentimeter von der Stelle zu rücken. »Hast du das Kind getötet?« Diesmal ließ ich keine Ausflucht mehr zu. Und keine Lüge. »Ja!« keuchte er. »Und davor vergewaltigt?« In seine Augäpfel strömten die Schatten des Bösen, eines Triebs, der mich erzittern ließ. »Ja!« keuchte er. »Warum?« »Ich … weiß … es … nicht …« Das entschuldigte nichts. Ich streifte seine Hände ab, fuhr mit gespreizten Fingern in sein Haar und riß ihm den Kopf in den Nacken. Er stöhnte. Sein Hals spannte. Der Puls zuckte sichtbar unter seiner Haut. Aber es kostete Überwindung; zu tun, weshalb ich gekommen war. Mich ekelte. Trotzdem tat ich es. Ich hatte ihn gewählt, weil ich immer noch damit rechnen mußte, daß die Dreiheit sich auch meine neuen Opfer holte. Daß Unschuldi ge starben, um einen nie von mir gewollten Plan zu erfüllen … Dieser hier war nicht unschuldig. Trotzdem ließ ich ihm sein schmutziges Leben. Ohnmächtig sank er zu Boden, als ich mit ihm fertig war und die Zelle in der Flederm ausgestalt verließ, in der ich gekommen war. Beth schlief, als ich in unser Hotelzimmer zurückkehrte. Der Flug nach Kairo war anstrengend gewesen …
* »Hast du Kairo nicht erblickt, so hast du die Welt nicht gesehen.« Muhammed Abu Hamed, 1457 Kairo, Nile Hilton Hotel Beth weckte mich mit einer sanften Berührung ihrer Hand, die sich unter meine Achselhöhle grub. »Ich wurde irgendwann wach – du warst nicht da …« »Nein«, erwiderte ich. »Ich hatte mich etwas umgesehen.« Sie schwieg, als wüßte sie genau, worüber ich sprach. »Hast du … es bekommen?« fragte sie schließlich. »Ja.« Dabei hatte ich das Gefühl, mein Innerstes revoltierte bei der blo ßen Erinnerung an den Ort und den Mann, den ich besucht hatte. »Erzähle.« Ich schüttelte den Kopf. »Es ist vorbei. Was ich mir holte, wird ei nige Zeit reichen.« »Und dann?« Ich zuckte die Schultern. »Von wem hast du es dir geholt?« Der Klang ihrer Stimme verriet, daß wir – ohne darüber zu spre chen – beide unabhängig voneinander zum gleichen Schluß gekom men waren: Wessen Blut auch immer ich mir einverleibte, ich liefer
te ihn der Gefahr aus, daran zu sterben. Die einzige Ausnahme schien Beth zu sein. Die Dreiheit hatte sie verschont – um mir wenigstens eine Verbündete zu lassen, wie ich hoffte. Nicht aus Mitleid also, sondern aus eiskaltem Kalkül. Mit Beth erhöhte sich offenbar meine Chance, die gestellten Aufgaben zu erfüllen. Nach weiterem Drängen erzählte ich ihr von meinem Gefängnis besuch. »Ich hatte es mir einfacher vorgestellt«, schloß ich. »Aber es war widerlich. Dieser Kerl …« Ich verstummte. Beth schmiegte sich enger an mich. »Du hättest vorher mit mir re den sollen – oder ich eher mit dir. Immerhin merke ich schon einige Zeit, was dich bedrückt.« »Bin ich so leicht durchschaubar?« »Manchmal.« »Es hätte auch nichts geändert«, erwiderte ich. »Wahrscheinlich läuft es darauf hinaus, daß ich mich ändern muß. Daß ich so werde, wie Felidae mich wünscht …« »Ich kenne deine Ängste.« »Das hilft mir leider auch nicht weiter.« »Das ist die falsche Einstellung.« »Und was wäre die richtige?« »Es muß nicht so kommen, wie du befürchtest. Vielleicht machst du dir ganz unnötig Sorgen um das, was nach dem Bewußtwerden deiner Bestimmung mit dir geschieht.« »Glaubst du das wirklich?« »Ja!« »Ich wünschte, ich könnte deine Zuversicht teilen. Aber ich spüre täglich deutlicher, daß es überhaupt nicht um mich geht. Daß nie ge plant war, mir Gewissenskonflikte zuzugestehen. Ich sollte ein
Werkzeug sein – und das bin ich. Ich renne von einem Ort zum ande ren, nur weil eine Macht, über die ich wenig weiß, es so bestimmt. Wir sind hier, weil Felidae es sagte – davor waren wir unterwegs in die Türkei, weil mir auch dies befohlen wurde! Ich möchte mich da gegen auflehnen, aber ich kann es nicht! Zumindest was das angeht, hat meine ›Erziehung‹ funktioniert: Ich gehorche. Blind!« »Es dient der Sache«, sagte Beth. »Welcher?« »Die geheime Herrschaft der Vampire zu beenden!« »So scheint es. Aber nicht einmal dafür gibt es eine Gewähr! All diese Widersprüche: Es sind Vampire, die ihre eigene Demontage vorantreiben! Es ist der Kelch, der plötzlich, statt vampirisches Leben zu spenden, dies verweigert …!« Beth beugte sich vor und küßte meinen nackten Arm. Ein sehr an genehmes Gefühl, was offenbar meinem Symbionten nicht entging, denn er verwandelte sich spontan in ein verführerisches Dessous, als wüßte er bereits, wohin diese Zärtlichkeiten führen würden. Selbst war ich mir darüber nicht sicher. Es fiel schwer, die Sorgen auszublenden. Was war in Tokio mit Beth passiert? Wieso hatten Keynos Hypnoseversuche bei ihr nicht gefruchtet, obwohl ich selbst in der Vergangenheit nie Mühe hatte, suggestiv auf sie einzuwirken? Und wie war sie aus der Gefangenschaft ent kommen? Sanft befreite ich mich aus ihrer Umarmung und setzte mich auf. Die Decke rutschte bis zu meinem Nabel, und Beth starrte erregt auf die Spitzen meiner Brüste, die sich durch das hauchdünne, matt schwarze Symbiontengewebe drückten. Ohne den Blick zu wenden fragte sie: »Was ist?«
»Laß mich etwas versuchen.« »Gern …« »Nicht, was du meinst. Ich möchte probieren, ob ich noch in der Lage bin, dir meinen Willen aufzuzwingen …« Ihre Augen glommen. Die Haftschalen waren unsichtbar, aber vor handen. »Zwing mich …!« Es klang wie: »Fessle mich!« Ohne es in diesem Moment zu wollen, befiel auch mich ein span nendes Gefühl der Vorfreude. Trotzdem konzentrierte ich mich zu nächst auf den angekündigten Versuch. Wie ausgeprägt meine magische Potenz war, wußte ich bis heute nicht schlüssig. Es war mir ungeheuer schwergefallen, die Transfor mation in eine Fledermaus zu erlernen, aber letztlich sagte dies we nig über die Kraft aus, die in mir steckte, ohne daß ich sie bislang zu wecken vermochte. Auch in dieser Hinsicht schienen mir die ›Erfah rungen‹ zu fehlen, die mein verfrühtes Erwachen zunichte gemacht hatte. »Vergiß, wo wir sind«, sagte ich. »Geh zurück in deiner Erinne rung zu dem Moment, als diese Vampirin in Keynos Residenz den Dolch auf dich richtete! Was geschah danach?« Beth schürzte die Lippen. Unbewußt. Sie starrte durch mich hindurch auf einen imaginären Punkt. Gefangen. In Trance. Es gab keinen Zweifel, daß meine Hypnose anschlug! »Ich stand … an deiner … Tür! Dieser … Suite …« »Davor! Was geschah davor? Versuche dich zu erinnern!« »Ich … weiß … es … ni-« »Versuche es!« Sie öffnete den Mund. Ich sah ihre Zunge, die sich wie unter
Krämpfen wand. Beth ballte die Fäuste. Ihr Puls ging schneller, ihr Atem flog. »Ein Genick … brach!« »Wessen Genick?« »Keyndras!« »War das die Vampirin, die dich zur Dienerkreatur machen sollte?« »Ja!« »Was geschah weiter? Wer brach ihr Genick?« Ihre Lippen vibrierten, als würde das Blut darin pulsieren. »Wer?« drängte ich. »Sssssstoorm …« »Storm? Esben Storm?« »Ja!« Rauh und hart klang ihre Stimme, als spräche eine Fremde. »Half er dir auch – zu entkommen?« »Jaaa …!« Es reichte. Ich brach meinen Versuch ab.
* »Was – ist passiert?« Schweiß stand auf Beth’ Stirn. Wie nach einem schweren Traum und dem ebenso schweren, abrupten Erwachen daraus. Es lag an mir, nun sie in die Arme zu nehmen und zu beruhigen. Als sie er fuhr, was ich ihrem Unterbewußtsein entlockt hatte, wirkte auch sie wie von einer Zentnerlast befreit. »Es war ein abscheuliches Gefühl, nicht sicher zu sein, ob ich nicht
…« Sie brach ab und schluckte. »Ich stand schon einmal auf der an deren Seite …« Ich beugte mich vor und setzte weich die Lippen auf ihren war men Mund. Sofort überrollte mich – uns beide! – eine lange entbehr te Lust. Beth’ Kopf tauchte an mir herab, und sie schmiegte, während ihre Hände über meinen Rücken strichen, das Gesicht zwischen meinen Busen. Auch der Stoff dort hielt sie nicht ab, mich zu kosen und mich durch den Symbionten hindurch zu suchen … Sie zog mich wieder herab auf das Bett und schob das, was uns trennte, beiseite. Dann fühlte ich ihre erst gehauchten, dann drän gender und feuchter werdenden Küsse auf meiner hungrigen Haut. Ich strich durch ihr Haar. Ich streichelte ihren Nacken und ließ mich einfach treiben, während ihre Zunge tiefer glitt, über meinen Nabel leckte, kurz darin innehielt und die Spur dann weiterzog bis hinab zu meinem Schoß. Zu dem feinen dunklen Flaum, der dort wuchs, durch den sie mit ihrer Nase wühlte, ehe ich den Zungen muskel dort zu spüren bekam, wo er die höchste Wirkung erzielte. Wo er die verborgene Perle berührte, sacht um sie herum spielte und mich alle Wonnen durchleben ließ, die eine Frau einer anderen Frau bereiten konnte – auch ohne daß es zum Äußersten kam. Die Liebe mit Beth war anders als die mit einem Mann; vor allem ging es nicht darum, einen Mann nachzuahmen. Ich konnte selbst nicht erklären, warum unsere Gefühle auf einer anderen Ebene ab zulaufen schienen, als dies im Zusammensein mit dem anderen Ge schlecht der Fall war. Aber ich wollte es auch gar nicht erklärt haben. Später erhoben wir uns beide mit einem angenehmen Nachlassen von innerer Spannung und traten – züchtig verhüllt – auf den Bal kon hinaus. Im Duty Free des Flughafens hatten wir mehrere Klei
der für Beth erworben; eines davon streifte ich spaßeshalber über den Symbionten, der sich davon nicht aus der Ruhe bringen ließ. Er bildete sich einfach wieder zu einer Art Dessous zurück. Der Tag war jung. Eine goldene Sonnenscheibe schob sich über den dunstigen Horizont. Selbst bis hierher trieben die Pfefferschwaden aus den nahegelege nen Bazaren, doch die meisten anderen orientalischen Wohlgerüche wurden bereits von Luftverpestern übertüncht. Das Treiben in den Straßen wirkte erheblich chaotischer als bei un serer späten Ankunft am Vortag. Die Nacht hatte ein Labyrinth be schönigt, das nun, in praller Morgenhitze, vor Lärm, Leben und Schmutz schier überquoll. Endlose Fahrzeugkarawanen wälzten sich durch die Gassen; vielerorts lag der Verkehr wegen Überlas tung brach, daß man sich fragen mußte, warum sich all diese Leute nicht lieber zu Fuß zu ihren Zielen aufmachten. Aber auch das Heer der Passanten erinnerte an das hektische Treiben in einem Ameisen haufen. Hier wie dort gab es eine Ordnung – nur erschloß sie sich für einen Betrachter mit unseren Vorstellungen nicht. »Welche Gegensätze …« Beth spähte wie ich über die nicht klar er kennbar abgegrenzten Viertel der Stadt, in denen sich himmelwärts strebende Hochhäuser und Lehmhütten wie aus der Pharaonenzeit abwechselten. Dazwischen die Relikte einer großen Vergangenheit. »Alt-Kairo.« Beth wies mit ausgestrecktem Arm auf den koptisch geprägten, ältesten Teil der Stadt. Vom Balkon aus nicht sichtbar zog der Nil hinter unserem Hotel vorbei. Er teilte die Stadt, wenn auch nur optisch. In Wahrheit war er der einzige Grund, weshalb es Kairo überhaupt – und immer noch – gab. Von unserem Standort aus betrachtet erhob sich das Ägyptische Museum zur linken Hand, während sich direkt vor uns eine Dreh
scheibe des täglichen Lebens befand: der Tahrir-Platz mit Busbahn hof, Metrozugang, Geschäftsstraßen, Bürogebäuden und dem Mo gammaa, dem Zentrum der ägyptischen Verwaltung und dem Sitz der Arabischen Liga. »Die Statue mit dem Pergament zu finden wird angesichts der vie len Exponate bestimmt nicht einfach werden«, sagte Beth, deren Blick ebenfalls an dem langgestreckten Museumsgebäude mit der in der Mitte aufgesetzten Kuppel hängengeblieben war. »Bestimmt nicht«, entgegnete ich. »Trotzdem werden wir es zu nächst als simple Besucher versuchen.« Sie nickte. Nach einer Weile und nachdem ihr Arm sich wieder um meine Taille geschlungen hatte, meinte sie, ohne den Blick vom Midan ElTahrir zu nehmen: »Ich wollte dir noch etwas sagen.« »Ja?« »Du mußt dir das nie wieder antun …« »Wovon redest du?« »Von Ekel. – Solange ich da bin, kannst du aus mir … trinken.« Dieses Angebot, hier und jetzt, kam unerwartet. »Bist du dir dessen sicher?« Sie schwieg. Sie schwieg, doch sie nickte. Und im nächsten Moment verwandelte sich unser Idyll in einen Alptraum.
* Von hinten legte sich ein Arm wie eine stählerne Klammer um mei
nen Hals. Mit einem heftigen Ruck, der mir fast den Kehlkopf zer quetschte, wurde ich von der Balkonbrüstung zurückgerissen und ins Zimmer gezerrt. Die Überraschung lähmte mich, und aus den Augenwinkeln sah ich, daß Beth das gleiche Schicksal erlitt. Ihr Schrei erstickte unter ei nem brutalen Würgegriff. Nach wenigen Sekunden war klar, daß wir es mit keinem Überfall ›normaler‹ Gegner zu tun hatten. Letzte Gewißheit erhielt ich durch die Reaktion des Symbionten. Aus dem Mimikrykleid züngelten Medusenfäden und umschlangen das Wesen, das mich festhielt. Keinen Atemzug später ging ein unheilvoller Schrei durch das Zimmer, und der Griff um meinen Hals lockerte sich. Ich rammte die Ellenbogen nach hinten und wand mich aus der nachlassenden Umklammerung. Der Schrei wurde zu einem Röcheln. Als ich herumfuhr, sah ich in ein entgleisendes Gesicht, aus dessen Mundwinkeln schwarze Rinnsale quollen und dessen Augäpfel von innen durchbohrt wurden. Die Ausleger des Symbionten sprossen daraus wie die ersten zarten Triebe einer schrecklichen Pflanze. Der Vampir riß den Rachen auf. Seine Eckzähne waren gewaltig, aber als er den Kopf auf mich zustoßen wollte, erbrach er plötzlich einen ganzen Schwall seines eigenen Blutes. Ich sah dem Treiben des Symbionten nicht länger zu, sondern stieß mit meinen Händen durch das wie schwerelos wirkende Ge spinst der haarfeinen Tentakel und umfaßte den kantigen Schädel des Mannes. Ein Ruck, und alle vergebliche Gegenwehr endete. Das Genick brach. Der Kopf zerfiel unter meinen Händen zu Staub.
Eine Weile hingen die Medusenfäden noch wie abwartend in der Luft; dann bildeten sie sich zurück. Ich fuhr herum. Der weibliche Vampir, der Beth in seinen Klauen hielt, hatte dem Untergang seines Komplizen mit einer Mischung aus Faszination und Grauen zugeschaut. Die Finger um die Kehle meiner Freundin formten messerscharfe, überlange Nägel, die sich jetzt in mühsam bezähmter Wut millime tertief in die Haut zu bohren begannen. »Bleib stehen!« fauchte das Wesen, das seine Menschlichkeit auf dem Altar der Kelchtaufe geopfert hatte und damit mindestens 270 Jahre alt sein mußte. Ein Wesen, dessen Erfahrung meiner eigenen eigentlich hätte überlegen sein müssen. Entsprechend ernst nahm ich die Drohung, noch bevor sie mit Worten untermauert wurde. »Ich töte sie, wenn du noch einen Schritt näherkommst – und zü gele dein … Tier!« Sie meinte den Symbionten. Ich blieb stehen. Alles andere hätte Beth büßen müssen. Die Vam pirin hatte sie außer Reichweite gezerrt, bis hinüber zur Tür, die auf den Korridor führte. »Das kann ich nicht versprechen«, sagte ich, während ich zugleich begütigend die leeren Hände zeigte. »Nicht versprechen?« Die Stimme war eine einzige Disharmonie. »Es gehorcht nicht immer …« »Dann töte es!« »Das kann ich nicht.« »Du lügst!« Blut quoll unter den aufgesetzten Nagelspitzen hervor. Beth starr
te mir stöhnend in die Augen. »Ich lüge nicht! Es ist eine Art … Parasit.« Ich sprach das Wort aus, obwohl ich ahnte, daß es ein Fehler war. Der Symbiont ließ es mich spüren, indem er mir seine tausend mit Widerborsten versehenen Zähne ins Fleisch senkte. Ich ließ den Schmerz vorübergehen. Die Vampirin schien zu überlegen. »Wer bist du?« fragte sie schließlich. »Mein Zwilling folgte dir, seit du das Zuchthaus verlas sen hast.« Das Zuchthaus … Ich wollte es nicht glauben, daß mein erster Ausflug im nächtli chen Kairo bereits die örtliche Sippe aufgeschreckt hatte. »Dein Zwilling?« versuchte ich Zeit zu schinden, die ich nicht hat te. Der Todesimpuls mußte sich bereits in die Gehirne aller hiesigen Vampire gebohrt haben. Sie würden sich zum Tatort begeben, um herauszufinden, was geschehen war. Daran gab es keine Zweifel. »Wir sahen verschieden aus. Aber wir entsprangen als Kinder demselben Schoß, zur selben Zeit …« »Das muß lange her sein …« »Schweig! Du hast ihn getötet! Dafür wirst auch du sterben! Aber zuerst will ich wissen, wer du bist – und weshalb du gekommen bist!« »Du kannst mich nicht töten«, behauptete ich. »Du hast gesehen, was mit deinem … Bruder geschah!« Grausamkeit schwang in ihrem Lachen. »Ich sah auch, was diese hier –«, mehr Blut rann über Beth’ Hals, »– dir für Wonnen bereitet hat … Du scheinst wie ich zu sein – aber auch ganz anders! Das Menschenweib ist dir wichtig, und solange ich sie als Pfand habe …« Sie wußte, daß ich verstanden hatte.
»Du willst nicht, daß sie stirbt, oder?« fuhr sie fort. »Nein.« »Dann töte das Tier!« »Es ist kein Tier, und ich kann es nicht!« Sie lächelte selbst wie ein seltsames Tier, als sie sagte: »Dann war ten wir!« Ich wußte, was sie meinte. Es dauerte knappe zehn Minuten, bis die anderen eintrafen, und ich fand bis dahin keine Gelegenheit, das Blatt zu wenden. »Vorsicht!« mahnte Beth’ Peinigerin, als die Tür aufging und sie ben Personen den Raum betraten. »Sie hat getötet. Mit einem … ich weiß nicht, was es ist. Sie trägt es am Körper! Es sieht aus wie ihre Kleidung …« Eine der hereindrängenden Gestalten verwandelte sich, wie ich es noch nie bei einem Vampir beobachtet hatte: Sein Körper behielt das menschliche Aussehen, doch auf den Schultern saß plötzlich ein Ha bichtkopf, dessen Schnabel verständliche Laute gebar: »Ich habe von dir gehört. Du bist Lilith. Du stiftest überall Verwirrung und richtest Unheil an …« »Nicht mehr als ihr«, antwortete ich, ohne mich von der Stelle zu bewegen. »Ich habe auch von deinem Tötungsinstrument gehört«, fuhr der Habicht-Mann fort. »Du kannst es nicht ablegen?« »Nein.« »Weshalb bist du in Kairo? Wenn auch nur ein Bruchteil der Ge rüchte über dich wahr ist, hat es immer einen Grund, wenn du ir gendwo auftauchst.« Ich hätte widersprechen können. Aber sie hatten Beth – und be stimmt war ihre Geduld bereits jetzt auf die Probe gestellt. Lange
würde ich sie nicht mehr hinhalten können, und je länger dies alles dauerte, desto wahrscheinlicher war, daß sie Mittel und Wege ersan nen, wie sie uns beiden beikommen konnten. Ich war nicht unbesiegbar. Auch nicht mit Unterstützung des Symbionten. Beth zuckte merklich zusammen, als ich sagte: »Ich kam, um mir eine noch mächtigere Waffe gegen euresgleichen zu holen.« »Eine Waffe … gegen uns …?« Der Habichtkopf übte auf seine Art eine Faszination aus, der ich mich kaum entziehen konnte. Schon seine Größe trug dazu bei. Aber auch das leuchtende Gefieder, der eindrucksvolle Schnabel (und die Tatsache, daß menschliche Laute daraus drangen) und ganz beson ders die Augen des Vampirs, den ich bei seiner Ankunft nur flüchtig beachtet hatte. Ich nickte. Der Schnabel klaffte auseinander, und ich sah das einzige wirklich Abstoßende an dieser Maske: die Zunge. Sie war klein und von ei nem gelblichen Schleim überzogen, der bei jeder Bewegung Fäden zog wie flüssiger Kunststoff. »Und du hoffst sie hier zu finden? In Ägypten?« »In dieser Stadt«, sagte ich. »Was für eine Waffe ist das?« Ich setzte mein Zögern bewußt an diese Stelle. »Warum sollte ich dir das verraten?« fragte ich, als die Nervosität seiner Begleiter be reits spürbar wurde, er selbst aber immer noch den Schein wahrte. Die Tücke des Habichtkopfes war, daß sich darauf nicht die ge ringste verwertbare Regung lesen ließ. »Ich könnte darüber nachdenken«, sagte er, »deine Begleiterin schnell sterben und dich möglicherweise sogar gehen zu lassen …«
»Das glaube ich nicht.« Dünne Nickhäutchen schlossen sich kurz über seinen Augen, mit denen er mich ständig abwechselnd fixierte. »Du mußt es nicht glauben«, sagte der Vampir. »Wir werden uns jetzt zurückziehen. Wenn du uns folgst, stirbt diese Frau!« »Wenn ihr das tut, sterbt ihr ebenfalls!« drohte ich. Einen Moment lang grinste mich, wie in einer Doppelbelichtung, das wahre Gesicht meines Gegenübers an. »Dann sterben wir alle. Warten wir es ab …« Er wandte sich zum Gehen. »Stopp!« Er hielt inne. »Ja?« »Ich vertraue dir. Aber ich verlange, daß auch sie –«, ich deutete auf Beth, »– geschont wird, wenn ich dir ermögliche, diese Waffe in deinen Besitz zu bringen! Wir würden das Land unverzüglich verlas sen und nie mehr zurückkehren!« »Natürlich würdet ihr das …« Er fuhr mit seinen Händen durch das Gefieder. »Zunächst möchte ich dennoch wissen, um was für eine Art Waffe es sich handelt!« »Etwas Ähnliches wie das, was ich am Körper trage«, sagte ich langsam. »Etwas Lebendiges?« Ich nickte. »Etwas Wandelbares?« »Möglicherweise. Die Details finden sich an einem geheimen Auf bewahrungsort.« »Wo?« Beth hatte aufgehört mir zu signalisieren, daß ich es nicht verraten
sollte. Es war unsere einzige Chance, eine andere Situation oder gar eine andere Umgebung zu erreichen. »Im Ägyptischen Museum.« Der Habichtkopf stieß ein undefinierbares Geräusch aus. »Wir ken nen das Museum. Gäbe es unter den Ausstellungsstücken etwas, auf das deine Beschreibung zuträfe, wäre es uns nicht entgangen!« »Die Waffe befindet sich nicht selbst dort. Nur ein Pergament, aus dem ihr Aufbewahrungsort hervorgeht!« »Du bluffst!« »Ich sage die Wahrheit!« Sein Auge heftete sich auf Beth. »Sagt sie die Wahrheit?« »Ja …« Der gequälte Ton weckte das Verlangen, ihr zu helfen. So fort! Nicht erst, wenn es vielleicht zu spät war …! Aber die Vernunft siegte. »Wir werden deine Angaben überprüfen«, sagte der Habichtkopf. »Beschreibe uns das Pergament!« »Ich will dabei sein, wenn es gefunden wird!« »Du wirst dabei sein – also?« Ich beschrieb die Statue, in deren hohlem Innern das gefährliche Schriftstück einst versteckt wurde. Als ich aufhörte zu reden, wußte ich, daß nun eine Vorentschei dung darüber fallen würde, ob Beth dieses Zimmer lebendig oder als Leiche verlassen würde. Und über vieles andere mehr …
*
Bis zum Abend und Einbruch der Dunkelheit stand fest, daß sich unter den knapp 120.000 ausgestellten Kunstgegenständen, die das Alte Reich bis hin zur Spätzeit dokumentierten, zwar etliche Katzen mumien befanden, aber keine, die ein Geheimdokument in ihrem Innern barg. Als ich schon glaubte, daß damit das Todesurteil gesprochen wäre, überraschte mich der Habicht-Mann mit der Ankündigung: »Es gibt eine letzte Möglichkeit. Nicht alle Fundstücke können ausgestellt werden. Dafür reicht der Platz im Museum nicht. Vielleicht werden wir in den Magazinen fündig. Das ist der letzte Aufschub, den ich dir gewähre … Gehen wir!« »Gehen?« Ich blickte von dem Stuhl auf, in den ich mich gesetzt hatte, nachdem feststand, daß der Habicht-Vampir seine Sippenan gehörigen aussenden würde, um das Museum abzusuchen. Beth war immer noch bei mir, und ihre Lage hatte sich kaum ver bessert. Auch sie durfte sitzen, aber hinter ihr kauerte noch immer die nicht müde werdende weibliche Bedrohung, die ihre Klauen um die Kehle meiner Freundin geschlossen hatte. Zwei andere männliche Vampire waren außerdem anwesend. »Wenn uns jemand weiterhelfen kann, so ist es der Verwalter der Magazine! Wir gehen zu ihm. Alle. Auch das Pfand nehmen wir mit!« Mir war unklar, wie eine Prozession wie die unsere ohne Aufruhr durch das Hotel und den Vorplatz gelangen sollte. Doch es gelang. Man ließ mir alle Bewegungsfreiheit, wohl wissend, daß ich nichts riskieren würde, was Beth gefährden konnte. Minuten später erreichten wir ein Tor an der Rückseite des wuch tigen Museumsgebäudes. Zwei der Vampire widmeten sich dem Schloß, und kurz darauf schwang das Tor auf, und die Prozession wanderte weiter. Durch eine hohe Tür gelangten wir in einen An
bau. Beth ging es nicht gut. Es schien, als hielte nur noch die fremde Klaue sie aufrecht. Ihre Füße stolperten über den Boden. Als ihr das dunkle Tuch, mit dem man sie verhüllt hatte, wieder abgenommen wurde, sah ich, daß das komplette Dekollete ihres Kleides blutver schmiert war. Beth erhielt bereits jetzt einen Vorgeschmack auf das, was ihr drohte, wenn sich die Statue als Fantasiegebilde herausstell te. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Wie ich Felidae kannte, war nicht auszuschließen, daß sie mir eine Fehlinformation zugespielt hatte oder selbst einer solchen aufgeses sen war. Aber es gab auch noch eine andere Möglichkeit, die ebenso in der Katastrophe enden mußte: Möglicherweise gab es die Statue mit dem Pergament – aber jemand hatte aus schlichter Nachlässigkeit versäumt, sie zu katalogisieren … »Hier ist niemand«, sagte ich betreten. Ohne eine Erwiderung näherte sich der Habicht-Mann einer Trep pe und legte das gefiederte Haupt schief, als würde er in die Tiefe lauschen. »Doch«, sagte er schließlich und flog geradezu die gewendelten Stufen hinab. Die anderen Vampire und ihre Geisel folgten. Das Schlußlicht bildete ich. Am schlimmsten erging es wieder Beth, die als einzige in der zu nächst herrschenden Dunkelheit nichts sehen konnte. Erst am Ende der Treppe und nach dem anschließenden Marsch durch einen dunklen Gang fiel endlich Licht durch eine offene Tür. Als ich den dahinterliegenden riesigen Raum mit Regalreihen rechts und links betrat, hatten die Vampire die Situation bereits fest
im Griff. Drei Männer in staubigen Kitteln standen starr wie die Ge genstände, über die sie wachten. Der Älteste von ihnen antwortete gerade auf die Frage des Ha bichts: »Ich werde nachsehen …« Roboterhaft trottete er zu einem Schreibtisch, auf dem ein dickes Buch lag. Offenbar eine Art Oberverzeichnis über die hier aufbe wahrten Schätze. Der Vampir mußte ihm eine Beschreibung der gesuchten Katzen statue gegeben haben, und immer häufiger äugte eines der Ha bichtaugen jetzt zu mir herüber. Ich wußte nicht, was er sich von der ›Waffe‹ erhoffte, über die ich mit ihm gesprochen hatte. Ob er sie nur haben wollte, um sie für alle Zeiten unschädlich zu machen, oder was sonst … Nach sorgfältiger Lektüre seiner Eintragungen kehrte der un scheinbare Verwalter dem Schreibtisch den Rücken und suchte aus einem angrenzenden Regal einen von vielen alphabetisch geordne ten Aktenordnern heraus, in dem er wiederum ausgiebig blätterte, bis er schließlich innehielt, die Spangen öffnete, einen Zettel heraus nahm und mit ihm zu dem Habichtkopf zurückkehrte. »Das könnte es sein …« Ich wußte nicht, ob ich Erleichterung empfinden sollte. Im Grunde rannte mir die Zeit davon, denn wenn die Statue erst gefunden war … »Führe uns!« sagte der riesige Schnabel, und der Archivar setzte sich nach einem erneuten Blick auf seinen Zettel in Bewegung. Die beiden Helfer blieben zurück, ohne eine Miene zu verziehen. Durch finstere Gänge, zu deren beiden Seiten sich manchmal noch ungeöffnete Kisten stapelten, gelangten wir durch Verbindungstü ren in noch abgelegenere unterirdische Bereiche, wo mehr und mehr kleinere Dinge in nummerierten Regalfächern aufbewahrt wurden.
Schließlich erreichten wir eine separate Kammer, die überhaupt keine Regalordnung mehr aufwies. Nur an der Tür stand eine sechs stellige Kennzeichnung, und dahinter lagerten die Dinge einfach wild über den mit Preßspanplatten ausgelegten Boden verteilt. Als wir eintraten, verursachte jeder Schritt ein Knarren. Eine trübe Lampe flammte auf, aber schon vorher sah ich, daß wir richtig waren. Unter den achtlos in einem offenen, schmucklosen Sarkophag ge stapelten Dingen befand sich auch die hölzerne, mit verblichenen Farben verzierte, kniehohe Nachbildung einer sitzenden Katze. Ich wartete, bis alle das Stück bemerkt hatten – und alle Aufmerk samkeit für Momente ihm galt. Dann nutzte ich unsere vielleicht allerletzte Chance.
* Mit einem gewaltigen Sprung überwand ich die Distanz zum An führer der Vampire und riß ihn zu Boden. Wäre er aufmerksam gewesen wie bisher, hätte er mein Vorhaben vorausgeahnt. Aber das, was der Anblick der Statue versprach, lenk te ihn ab. So sehr, daß sich die Ausleger meines Symbionten unter das Gefie der seines Kopfes gebohrt hatten, bevor er die geringste Gegenwehr mobilisieren konnte. Und dann war es zu spät. Ich sah, wie die Klaue an Beth’ Kehle den finalen Streich ausführen wollte. Der Schnabel des Habichtkopfes klaffte auf und krächzte: »Nein!
Nicht …!« »Was – heißt das?« fragte die Vampirin, in deren Gewalt Beth sich befand. »Wir – verhandeln!« Seine Worte erzeugten Unglauben. »Warum sollten …?« »Wir verhandeln!« bekräftigte ich schnell, um zu verhindern, daß die Vampirin eine Kurzschlußhandlung beging. »Ich lasse ihn am Leben – und ihr laßt mich mit meiner Freundin gehen!« »Ohne die Statue?« fragte einer der beiden männlichen Vampire, die unruhig neben dem Lagerverwalter standen. Ich zögerte. In diesem Moment erreichte mich ein Gefühl, wie ich es noch nie zuvor empfunden hatte. Es strömte aus dem Symbionten auf mich über, und es enthielt eine Mitteilung. »Ohne die Statue«, sagte ich nach kurzem Stocken. Die Medusenfäden verwandelten den Habichtkopf in eine gehor same Marionette. »Wir lassen uns darauf ein!« keuchte er. »Sie ist eine Betrügerin!« sagte der Vampir, der bisher geschwie gen hatte. »Töten wir erst die blonde Frau – dann sie!« »Ich halte mich an die Abmachung«, sagte ich. »Ich lasse euer Oberhaupt frei, sobald ihr meine Freundin loslaßt!« »Vertraut ihr!« sagte der Schnabel (in dem die monströse Zunge lag, die ich nach Belieben steuerte). »Sie entkommt nicht von hier, wenn sie falsches Spiel treibt.« »Sie wird dich töten!« »Nein!« Eine Weile schwebte Stille über der Kammer. Die Katzenstatue schien in Vergessenheit zu geraten.
»Sie soll das Tier aus dir zurückziehen!« »Erst läßt du deine Klaue von ihrer Kehle!« diktierte ich meine Be dingung. Ich versuchte den Blicken meiner Freundin auszuweichen. Es hätte mich nur noch mehr verunsichert, als die Botschaft des Symbionten dies schon getan hatte. Die Klaue fiel. Beth stürzte vor der Vampirin zu Boden. Ein Seufzer verriet ihre Kraftlosigkeit. Sie versuchte auf mich zuzurobben, aber die harte Stimme eines der Vampire ließ sich in der Bewegung gefrieren. »Nein! Erst hältst du dein Versprechen!« Ich wußte, was davon abhing, daß ich den Symbionten richtig ver standen hatte. Aber es blieb ohnehin keine Alternative. Die Medusenfäden schnellten unter das Kleid zurück, das ich am Leib trug. Sekunden später taumelte der Habicht-Mann nach vorn. Beth begann wieder auf mich zuzukriechen, begleitet von hämi schen Bemerkungen der Vampirin, die sie immer noch als ihr siche res Opfer betrachtete. Als sie sich hinabbeugen wollte, hielt der Habicht sie zurück. »Laß sie!« fauchte er scharf. Das Unverständnis der anderen war ihm sicher. Sie drängten sich um ihn, und ich eilte zu Beth, um mich um sie zu kümmern. Gleichwohl achtete ich auch auf die Vampire. Und in diesem Augenblick geschah es. Aus dem Körper des Habicht-Mannes, dessen Gesicht sich jetzt in einer magischen Unruhbewegung zurückverwandelte, peitschten schwarze Fäden, die im Nu alle ihn umstehenden Vampire mit um
sponnen hatten und sich durch ihre abwehrend hochgerissenen Arme oder andere Körperstellen bohrten. Der Symbiont hatte sich nicht wirklich unter mein Kleid zurückge zogen, sondern war mit dem Habicht-Mann gegangen. Binnen Sekunden brachte er vier Vampire zum Verdorren. Sie zer fielen zu Staub und ließen nur ihn zurück, der amöbenhaft zu mir zurückfloß …
* »Die Statue ist leer!« stöhnte Beth. »Haben wir das alles umsonst mit gemacht?« Der vierfache Todesimpuls ließ uns nicht viel Spielraum. Die hölzerne Katzenstatue war innen hohl – aber jemand hatte sie vor unbestimmbarer Zeit gewaltsam aufgebrochen, wie die Spuren an der Unterseite bewiesen. Ich wandte mich dem Archivar zu, der offenbar nicht darin unter schied, wer ihm in seinem Zustand Befehle erteilte. »Wer konnte an die Statue gelangen?« fragte ich. »Es gibt ein Verzeichnis über Entleihungen«, sagte er dumpf. »Wo?« Er führte uns zurück, woher wir gekommen waren, und stöberte in derselben Akte wie vorhin, bis er einen Zettel fand. »Eine Ausleihung«, sagte er. »Vor zwei Jahren.« »Von wem?« Er reichte mir den Zettel. »Die Adresse steht darauf …« Ich riß ihn aus seiner Hand, legte Beth’ Arm über meine Schulter und drängte sie zur Treppe. »Laß uns verschwinden …!«
El-Ammein … Mehr als den Namen des Entleihers hatte ich noch nicht gelesen. Ich hoffte, daß wir später Zeit für dieses Mehr bekamen …
* Uruk Alles ging gut, bis sie von ihrer Reise nach Asien zurückkehrte. Felidae hatte getan, was der Kelch ihr befohlen hatte, nachdem die Vision von Landrus Erscheinen über sie hereingebrochen war. Nun erreichte sie wieder die verlassene Grabungsstelle, neben der eine losgerissene Plane im Wind flatterte. Das Verschwinden des Archäologenteams hatte noch keine er kennbaren Folgen gezeitigt – möglicherweise waren in Felidaes Ab wesenheit aber bereits Nachforschungen erfolgt und mangels Er folgs wieder beendet worden. Die Umgebung des Signalbergs wirkte verlassen. Auch von den Toten, die Lilith erwähnt hatte, war noch keiner eingetroffen. Das Symbol im Signalberg, das Felidae überprüfte, war unberührt. Alles ging gut, bis sie die Treppe erreichte, die hinunter zum Stein tor führte, das sich hinter ihr erneut geschlossen hatte. Zweiundzwanzig Stufen. Als Felidae den Fuß auf die erste setzte, ging es wie ein Schlag durch ihren Körper. Leise schrie sie auf. Ihr … Herz … Die nächste Stufe, der nächste Schlag.
Nirgends war eine Gefahr ersichtlich. Sie war ganz allein an die sem Ort, an dem die Angst zu wuchern begann, obwohl sie ihren Auftrag zur vollen Zufriedenheit erfüllt zu haben schien. Die Beben kamen mitten aus ihrem Herzen. Rhythmusstörungen von seismischer Stärke. Jede Stufe eine Erschütterung, die ihren Körper zum Wanken brachte. Immer schwerer fiel es ihr, das Gleichgewicht zu halten. Felidaes Denken trübte sich, als vergifte etwas ihr Gehirn. Schwarzes Blut wartete auf den nächsten Takt, der es transportie ren sollte. Der Takt … kam. Und die nächste Stufe … Etwas knisterte. Felidae suchte den Kontakt zu ihrem Symbionten. Doch die Rie men schwiegen, als wären auch sie durch die Schläge paralysiert worden. Das Ende der Treppe. Felidae stürzte ihm fast entgegen. Das Verlangen, auf die Knie zu fallen und das Gewicht des Körpers über alle viere zu verteilen, wurde übermächtig. Schwarze Nebel wogten vor ihrem Blick. Etwas knisterte lauter. Ihre … Haut? Ihre faltige, trockene, sich vom Fleisch schälende Haut …? Felidae fiel nach vorn und prallte gegen das Tor, das sich rum pelnd in die Tiefe senkte. Dahinter gähnte scheinbar die Endlosig keit des Korridors. Er war wieder – da? Felidae hob den Kopf, obwohl er ihr zentnerschwer vorkam. Sie
blickte geradeaus, weil sie nichts mehr von ihrer dorrenden Haut se hen wollte, in die das Alter wie ein Blitzschlag schoß. Ihre Hände, die Knie, die Füße berührten das kühle, seltsame Ma terial des Zeitkorridors. Sie versuchte dahinter zu sehen. Auf die Wand, wo sie den Kelch zurückgelassen hatte. Tatsächlich glaubte sie ihn umrißhaft schimmern zu sehen. Warum? fragten ihre erblindenden Augen. Dann ging ein Ruck durch ihren Körper, anders als jene Schläge, die sie auf dem Weg herab begleitet hatten. Ein Ruck, als wäre die Sehne eines Bogens gerissen und hätte die Spannung genommen. Felidae fiel kraftlos nach vorn – und dann zur Seite. Das nächste Band löste sich aus seiner Verankerung. Schmerzlos. Aber nur, weil Felidaes Körper längst taub geworden war. Sie rollte auf den Rücken. Ihre Glieder zuckten unkontrolliert, während der künstliche Halt, der sie seit dem Diebstahl des Kelchs am Leben hielt, überall von ihr abfiel. Schon nach kurzer Zeit lag sie in einem Zustand da, daß eine ein zige Bewegung genügt hätte, sie zerspringen zu lassen. Das, wovor sie sich immer gefürchtet hatte, war geschehen. Aber – WARUM? Die Kreuzriemen schnellten von ihrem Gesicht. Ein Windhauch – und der Schädel würde zerspringen, die Wunde das Gesicht teilen … Sie glaubte zu hören, wie er sich entfernte. Sie glaubte zu sehen, wie der Symbiont, der sie so lange Zeit be gleitet und bekleidet hatte, sich davonmachte.
Wie er amöbenhaft und mit wahnsinnigem Tempo dem Ende des Korridors, dem Anfang der Zeit entgegenstrebte. »Warum?« Es war das letzte Wort, das dieser Körper formte. Die Erschütterung bildete Sprünge und Spalten und riß Felidae in den Untergang. Aber noch im Sterben erfuhr sie, daß eine neue Aufgabe auf sie wartete. Daß sie einen verwaisten Platz einnehmen und auf andere Weise ewig leben würde. Immer an einem bestimmten Punkt der Zeit. Ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Stets im Wimpernschlag der Gegenwart. Die Zeit würde ihr Gefängnis sein. Und ihr Blut. Sie würde hausen in diesem Schacht, jenseits alles Irdischen. Wachen und warten. Ohne Ungeduld … ENDE
Der Nexius von Robert deVries Seit über 3.300 Jahren ruht er in seinem steinernen Gefängnis unter dem Wüstensand, eingeschlossen vom Pharao Echnaton im Auftrag der Alten Rasse. Seit über 3.300 Jahren wirken die magischen Siegel, bannen ein amorphes Wesen, das sich einst von Vampiren ernährte und prak tisch unzerstörbar ist. Bis heute. Um von den Geschehnissen in Uruk abzulenken, erhält Lilith den Auftrag, die Kreatur zu befreien. Doch eine Gruppe Grabräuber hat die umgedrehte Pyramide bereits entdeckt …