Seewölfe 185 1
Burt Frederick 1.
Es war eine Luft von eisiger Klarheit, wie sie die Seewölfe nur selten erlebt hatten...
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Seewölfe 185 1
Burt Frederick 1.
Es war eine Luft von eisiger Klarheit, wie sie die Seewölfe nur selten erlebt hatten. Der Himmel dehnte sich in kühlem Blau und ohne Wolken. Dennoch schien die Sonne ihre Kraft mit einem kaum erkennbaren Schleier zu dämpfen und die Freundlichkeit des Wetters nur vorzutäuschen. Die Temperatur war leicht angestiegen, lag aber immer noch unter dem Gefrierpunkt. Die Männer an Bord der „Isabella VIII.“ hatten rasch begriffen, daß blauer Himmel und Sonnenstrahlen allein noch keinen Anlaß gaben, sich der schweren, hinderlichen Kleidungsstücke zu entledigen. So arbeiteten sie, vermummt bis an den Hals. Ihre Atemluft kristallisierte zu rasch zerfasernden Wölkchen, und jene, die Bärte trugen, sahen ihre Manneszierde mit einer grauweißen Schicht durchsetzt, wie sie der Rauhreif an kalten Tagen auf Säumen und Sträuchern im heimischen England hervorrief. Hammerschläge und das Kreischen von Sägen hallten weit über die endlose Wasserfläche, begleitet von den rauhen Stimmen der Männer. Doch es gab niemanden, der sie hörte. Keine Menschenseele. Die graugrünen Fluten waren ihnen so fremd wie die Sonne, die hier auf seltsame Weise anders leuchtete als über vertrauten Gewässern. Anders. Dieses Gefühl hatten sie alle. Doch keiner von ihnen vermochte es genau zu beschreiben. Vielleicht lag es daran, daß sie nicht die geringste Ahnung hatten, wo sie sich befanden. Es war das Gefühl, in einer fremden Unendlichkeit verloren zu sein. Von der Welt vergessen. Die schlanke Galeone segelte auf Südkurs, vor einem handigen Nordost. Das fremde Meer hatte sich beruhigt, und die eisigen Wogen trugen nur noch kleine Schaumkronen. Aber noch saß den Seewölfen die Erinnerung an den furchtbaren Sturm in den Knochen. Der Sturm hatte das Schiff fast zerstört. Fast. Denn trotz der grimmigen Kälte hatten sie
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es abermals geschafft, dem Teufel ein Ohr abzusegeln. Ja, er hatte es oft genug versucht, sie ins Verderben zu ziehen. Aber immer wieder hatte er sich mit eingezogenem Schwanz davonschleichen müssen. Und verdammt noch mal, solange Sir Philip Hasard Killigrew Kapitän der „Isabella VIII.“ war, hatte der 'Höllenfürst keine Chance, dieses Schiff als Beute zu schlagen. Daran glaubte jeder Mann an Bord — felsenfest. Die Arbeiten, die sie noch zu bewältigen hatten, waren Schönheitsreparaturen, wie Ferris Tucker, der hünenhafte Schiffszimmermann, es nannte. Da mußten Verstrebungen der Schmuckbalustraden erneuert werden, und Pete Ballies Ruderhaus wurde überholt, damit er bei überkommenden Seen auch künftig im Trockenen stand. Das Kombüsenschott mußte neu abgedichtet, die Jakobsleiter ausgebessert werden, und eins der Beiboote erhielt neue Duchten. Edwin Carberry, der bullige Profos der „Isabella“, überwachte die Betriebsamkeit an Bord und fachte den Arbeitseifer der Männer immer dann wieder an, wenn er es für nötig hielt. Was dazu führte, daß seine Donnerstimme beinahe pausenlos über Deck hallte. Niemand aus der Crew hielt indessen das Gebrüll des Profos' für nötig. Jeder einzelne wußte, wann und wo er zuzupacken hatte. Und weil Carberrys Sprüche schon zur lieben Gewohnheit gehörten, ertrug man sie mit einem heimlichen Schmunzeln. Es war nach einem seiner unentwegten Rundgänge an Deck, als der Profos sich vor jener Gruppe aufbaute, die auf der Kuhl mit dem Beiboot beschäftigt war. Einige Atemzüge lang beobachtete er die Männer scheinbar wohlwollend, wobei er sein Rammkinn durch die Zotteln des Eisbärenfells vorschob, das er sich über die Schultern geworfen hatte. Die Männer blickten nicht auf, sondern arbeiteten unverdrossen weiter. „Warte mal, Batuti“, sagte Ferris Tucker, ließ seine Säge sinken und richtete sich auf. „So kriegst du den Zapfen nie im Leben paßgenau.“
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„Wie denn?“ Der riesenhafte GambiaNeger zog die Lippen zurück, daß seine perlweißen Zähne blitzten. „Warte, ich zeig's dir.“ Der Schiffszimmermann ging hinüber auf die andere Seite des Bootes, wo Batuti unmittelbar vor den Füßen des Profos hockte. „Diese Feile ist zu grob. Nimm die andere. Und dann mußt du sie so mit den Händen führen ...“ Ferris Tucker führte es ihm vor und drückte ihm dann die Feile in die Hand. „Wollt ihr einschlafen?“ brüllte Edwin Carberry just in diesem Moment. „Das hab ich schon schneller gesehen, ihr Kakerlaken! Wie lange gedenkt ihr euch noch an diesem verdammten Beiboot festzuhalten? Bewegt euch gefälligst, oder ich ziehe euch die Haut in Streifen von euren Affenärschen!“ Ferris Tucker zog ungewollt den Kopf ein Stück tiefer zwischen die Schultern. Dann legte er dem schwarzen Herkules die rechte Hand auf die Schulter und richtete sich langsam auf. Batuti und die anderen wechselten verstohlene Blicke. Es sah gemächlich aus, wie Ferris Tucker sich umdrehte. Doch der Blick, mit dem er den Profos musterte, strafte diesen Eindruck Lügen. Und das Kreuz des Schiffszimmermanns, ohnehin schon breit wie ein Rahsegel, wirkte durch die dicke gefütterte Jacke noch imposanter. Sein rotes Haar leuchtete im Sonnenlicht. Verblüffung malte sich in Edwin Carberrys wüstem Narbengesicht. Er öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. Und es geschah selten, daß ausgerechnet der Profos der „Isabella“ sprachlos war. Jeder der beiden Hünen sah für sich allein schon furchterregend aus. So aber, wie sie sich gegenüberstanden, war es ein Grund, den Atem. anzuhalten. „Damit eins klar ist, Mister Carberry“, sagte Ferris Tucker gedehnt. „Wie, was?“ schnappte der Profos. „Ich bin verantwortlich dafür, daß die Männer ordentliche Arbeit leisten. Und verdammt noch mal, ich lasse mir nicht ins Handwerk pfuschen. Ist das klar?“
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Carberry schluckte trocken hinunter. Sein Narbengesicht rötete sich, und er stemmte die Fäuste in die Hüften. „Kein Mensch spuckt dir in die Suppe, Mister Tucker! Verstanden? Wenn du dir das einbildest, ist das deine gottverdammte eigene Schuld.“ „So? Ist es das?“ brüllte der Schiffszimmermann zurück. „Ich sage dir eins, Mister Carberry: Zimmermannsarbeit will sauber und ordentlich erledigt sein. Wenn die Jungens wegen deiner dauernden Antreiberei zu flatterhaften Pfuschern werden, dann fällt dir eines Tages der Großmast auf die Zehen. Möchte wissen, was du dann sagst!“ „Rede nicht so einen Stuß, Mister Tucker. Ich kann es besser beurteilen, wann die Stinte einen faulen Lenz schieben oder nicht. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt, was, wie?“ Die Männer hatten mittlerweile aufgehört zu grinsen. Die Tatsache, daß sich der Profos und der Schiffszimmermann mit ihren Nachnamen und ,Mister` anredeten und das auch noch bei jedem Satz betonten, sprach für sich. Aber sie erhielten keine Gelegenheit, es zu einer wirklich ernsten Sache ausarten zu lassen. „Deck!“ ertönte eine donnernde Stimme vom Achterkastell. Alle Köpfe ruckten herum. Auch Carberry und Tucker vergaßen ihren hitzigen Wortwechsel. Ben Brighton, erster Offizier und Hasards Stellvertreter, stand breitbeinig an der Schmuckbalustrade. Wie die anderen Männer an Bord, trug er eine derbe Jacke und einen wollenen Schal, um sich vor der ungewohnten Kälte zu schützen. Ben war untersetzt und breitschultrig, sein dunkelblondes Haar vom Wind zerzaust. Pete Ballie, der stämmige Rudergänger, lugte mit verschmitzter Miene über die Schulter des Ersten. Er hatte das Ruder festgelascht und war bei den Reparaturarbeiten dabei, die sein von Ferris Tucker konstruiertes Häuschen wieder in einen wasserdichten Zustand versetzen sollten.
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„Mister Profos!“ rief Ben Brighton schneidend. Er hatte vor einer knappen Stunde das Kommando von Hasard übernommen. Nach der mörderischen Schinderei während des Orkans hatten sie alle eine Verschnaufpause verdient. Und Hasard hatte sich diese Pause als letzter gegönnt. „Sir?“ Der Profos wandte sich zum Achterkastell um. „Mister Profos“, sagte Ben Brighton mit unbewegter Miene. „Ich halte es für angebracht, daß sich die Männer ein wenig aufwärmen. Veranlasse bitte, daß der Kutscher jedem Mann an Deck eine Sonderration Rum ausgibt.“ „Jetzt sofort?“ entgegnete Carberry mit Reibeisenstimme. . „Jetzt sofort“, sagte Ben Brighton und nickte energisch. „Aye, aye“, antwortete Carberry und murmelte etwas, das keiner verstand. Er übersah den Schiffszimmermann geflissentlich und stelzte steifbeinig zum offenen Kombüsenschott. Die Männer, die dort beschäftigt waren, wichen beiseite und ließen ihre Werkzeuge sinken. „Kutscher!“ brüllte der Profos, wobei er sich leicht vornüberbeugte und die Fäuste in die Seiten stemmte. „Los, los, beweg dich! Reiß deinen Hintern vom Kochfeuer los. Hier an Deck hat es keiner so warm und gemütlich wie du.“ Der schmalbrüstige Mann, dessen richtigen Namen niemand kannte, schob seinen Kopf ins Freie. Mit seinen großen blauen Augen blickte er den Profos ungerührt an. „Was gibt es, Profos?“ „Rum. Extraration für jeden Mann an Deck. Befehl vom Ersten.“ „Sehr wohl, Profos“, sagte der Kutscher, „wird sofort ausgeführt.“ „Mann, wir sind hier nicht in einem herrschaftlichen Salon in England“, bellte Edwin Carberry. „Wir sind hier...“ Was er sonst noch über die gediegene Redeweise des Kutschers vom Stapel zu lassen gedachte, ging im Beifallsgebrüll der Crew unter. Und betont langsam schlenderten sie auf das Kombüsenschott zu. Denn die Genugtuung, daß sie nur dann
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schnell waren, wenn es einen Schluck zum Aufwärmen gab, wollten sie dem Profos denn doch nicht gönnen. Nicht alle ließen sich indessen durch die Extraration Rum in Bewegung bringen. Vorn auf der Back hockte Old Donegal Daniel O'Flynn auf einer Taurolle. Wie gebannt blickten Philip und Hasard, die Zwillinge, auf die geschickten Hände des alten Mannes. Er führte das Schnitzmesser gefühlvoll, und aus dem Stück Abfallholz, das die Söhne des Seewolfs für sich an Land gezogen hatten, entstand ein schlanker Schiffsrumpf, der dem großen Vorbild der „Isabella VIII.“ äußerst ähnlich war. „Nur den Rumpf kriegt ihr von mir“, sagte Old O'Flynn. „Die Masten und den ganzen anderen Kram fertigt ihr selbst an, verstanden.“ Er lächelte, und sein verwittertes Gesicht bildete dabei ein Meer von Falten. Sein Holzbein ruhte auf den Planken. Früher, als er noch wild und draufgängerisch gewesen war, hatte er seinen Sohn Dan mit eben jenem Holzbein verprügelt - wenn es sein mußte. Auch heute noch war der alte O'Flynn ein Kerl aus Granit und Eisen, nur ein wenig besonnener, in sich gekehrter. „Ach, Old Donegal“, sagte Hasard junior mit bittendem Lächeln, „wenn du schon einmal dabei bist ...“ „Aber du kannst es uns doch wenigstens zeigen“, wandte Philip junior ein. „Gerade die Masten und die Takelung sind doch das Schwierigste von allem.“ Old O'Flynn hob den Kopf. Er versuchte, seiner Miene Strenge zu verleihen, aber es wollte ihm nicht recht gelingen. Mit ihren acht Lebensjahren waren die Söhne des Seewolfs prachtvolle Burschen, auf die mittlerweile die gesamte IsabellaCrew stolz war. Allen voran der Kapitän der rauhen Galeone, der an seinen Sprößlingen viele Eigenschaften wiederentdeckte, die ihn selbst auszeichneten. Äußerlich glichen sich die Zwillinge wie ein Ei dem anderen, was sich auch dadurch nicht änderte, daß sie dick eingepackt waren in wärmende Jacken und Hosen. Beide waren schlank und
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schwarzhaarig, hatten scharfgeschnittene Gesichter wie ihr Vater. Und in ihren Bewegungen waren sie geschmeidig wie Katzen. Das hatten sie bei verschiedenen Anlässen eindrucksvoll unter Beweis gestellt. „Den Rumpf habe ich euch versprochen“, sagte Old O'Flynn. „Gehört ihr etwa auch zu der Sorte, die die ganze Hand will, wenn man nur den kleinen Finger gibt?“ Die beiden Jungen, die vor dem alten Mann auf den Planken kauerten, antworteten mit einem Hundeblick, der Felssteine erweicht hätte. Old Donegal Daniel O'Flynn seufzte tief. „Wißt ihr“, sagte er gedehnt, „ich habe ja nichts dagegen, euch einen Gefallen zu tun. Aber das geht nicht so ohne weiteres. Es bringt nämlich Unglück, wenn man ein einmal gegebenes Versprechen ohne Grund abändert.“ „Wieso?“ entgegnete Hasard junior mit gewollter Begriffsstutzigkeit. „Tja, das ist eben so. Es bringt nun einmal Unglück. Ich erinnere mich an einen Mann in London, der es am eigenen Leib erfahren mußte. Dieser Mann war ...“ „Aber du würdest es doch nicht ohne Grund tun, Old Donegal“, fiel ihm Philip junior rasch ins Wort. Auch die Zwillinge hatten längst erkannt, daß der alte O'Flynn jede Gelegenheit nutzte, um eine seiner Schauergeschichten vom Stapel zu lassen. Er war ein Meister in allen Registern des Aberglaubens. Jeder an Bord der „Isabella“ kannte diese besonderen Fähigkeiten des alten Rauhbeins zur Genüge. „Natürlich, du hättest ja einen triftigen Grund“, fügte Hasard junior .eilig hinzu. „Weil Philip und ich noch nicht so geübt im Basteln sind, hilfst du uns weiter. Wenn du es so siehst, bringt es bestimmt kein Unglück.“ „Ich weiß nicht“, murmelte Old O'Flynn in beginnender Hilflosigkeit. Sie wickelten ihn mal wieder um den Finger. Er konnte es voraussehen. Philip junior rieb sich heftig das linke Ohr. Dann schüttelte er den Kopf.
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„Es hört nicht auf“, sagte er, „ich habe plötzlich so einen Ton im Ohr. Ein richtiges Klingeln.“ Die Augen des alten O'Flynn begannen zu leuchten. Er beugte sich vor. „Jemand redet über dich, Junge. Das ist ein ganz sicheres Zeichen. Immer wenn es in deinem Ohr klingelt, redet jemand über dich. Viel- leicht am anderen Ende der Welt. Das ist eine der Wahrheiten, die wir Menschen niemals begreifen werden.“ Die Zwillinge sahen ihn mit großen Augen an, und der junge Philip vergaß glatt dieses Klingeln, das ihn eben noch gestört hatte. So unglaublich die Worte des alten O'Flynn auch klangen, so leicht wäre es ihm in diesem Moment gefallen, den Beweis seiner Ohrklingel-Theorie anzutreten. Denn es wurde tatsächlich über Philip junior geredet. Nur nicht am anderen Ende der Welt, sondern ganz in der Nähe. In der Kapitänskammer der „Isabella VIII.“ herrschte behagliche Wärme. Hasard hatte ein Kohlebecken aufgestellt. Feuchte Tücher, an den Deckenbalken aufgehängt, schirmten die Glut ab. Eine unerläßliche Vorsichtsmaßnahme, notwendig auf jedem Schiff, in dessen Bauch Fässer mit Schwarzpulver ruhten. Das Sonnenlicht fiel in flachen Strahlen durch die Kajütenfenster und tauchte den Raum in ein anheimelndes Licht. Hasard und Siri-Tong saßen sich gegenüber. Aus den Bechern, die auf dem Tisch standen, kräuselte feiner Dampf. Siri-Tong hatte einen Grog gebraut, den kein Schenkenwirt in Plymouth besser zustandegebracht hätte. „Du machst es dir selbst unnötig schwer“, sagte Hasard nach einem Schluck aus seinem Becher. Er stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte, legte sein Kinn auf die ineinander gefalteten Hände und blickte die Rote Korsarin sinnierend an. „Du schaffst dir Probleme, wo es gar keine gibt.“ Siri-Tong erwiderte den Blick des Seewolfs aus ihren mandelförmigen, schwarzen Augen. Ihr langes schwarzes Haar lag in samten schimmernden
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fließenden Linien auf ihren Schultern. Sie trug eine rote Bluse, ihre Lieblingskleidung, wegen der sie die Rote Korsarin genannt wurde. Dazu trug Siri-Tong höchst männliche grobleinene Schifferhosen, die jedoch die vollendete Weiblichkeit ihrer schlanken Statur in nichts zu schmälern vermochten. Ihre ungewöhnlich zarte Gesichtshaut hatte für Europäer den Hauch des Exotischen. Siri-Tong war als Tochter einer Chinesin und eines Portugiesen in Shanghai geboren worden. Mit der Crew der „Isabella“ verband sie eine gute Kameradschaft, die sich noch mehr gefestigt hatte, seit sie die Schlangen-Insel verlassen hatten. „Hasard“, entgegnete Siri-Tong leise und eindringlich. „Eine Frau sieht gewisse Dinge immer etwas anders als ein Mann. Das liegt sicher daran, daß eine Frau manchmal ihre Gefühle nicht ausschalten kann, obwohl sie genau weiß, daß kühle und berechnende Vernunft am Platz wäre. Und dieses Gefühl sagt mir nun einmal ...“ „Weißt du was?“ Der Seewolf grinste. „Warum unterbrichst du mich?“ Ein winziges Funkeln von Zorn entstand in der Tiefe ihrer Pupillen. „Weil ich auch ein Gefühl habe.“ „So? Und das wäre?“ „Nun, es besagt, daß Frauen sich offenbar allzu gern hinter angeblichen Gefühlen verschanzen. Weil sie damit verbergen wollen, daß sie zu logischen Überlegungen nicht fähig sind.“ Siri-Tong schlug mit ihrer Faust auf den Tisch. „Das, mein Lieber, macht mir eines klar: Du verstehst von der Seele einer Frau nichts, überhaupt nichts. Du hast dich jahrelang an Bord dieses Schiffes verschanzt, hast dich mit diesen Rauhbeinen von Kerlen umgeben und denkst, das sei alles, was es auf der Welt gäbe. Daß du dabei weltfremd geworden bist, hast du anscheinend nicht gemerkt!“ Siri-Tongs Wangen röteten sich leicht, während sie ihm die Worte hitzig entgegenschleuderte.
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Hasard konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, obwohl er wußte, daß sie dadurch nur noch mehr aufbrauste. „Immer wenn du wütend bist“, sagte er schmunzelnd, „würde ich dich am liebsten sofort in die Arme nehmen.“ „Oh, wage das nur nicht, Sir Hasard! Du würdest dein blaues Wunder erleben, und es würde dir nicht das Geringste nutzen, daß dich die königliche Lissy von England zum Ritter geschlagen hat. Ich würde mich ganz und gar nicht genieren, einen englischen ,Sir` zu ohrfeigen.“ „Nur zu. Du vergißt, daß englische ‚Sirs' die wahren Genießer sind. Eine Ohrfeige von deiner Hand wäre Anlaß genug, in höchste Verzückung zu geraten.“ Siri-Tong blies die Luft durch die Nase und blickte flehentlich zur Decke. „Es ist zum Verrücktwerden“, sagte sie zähneknirschend, „mit dir kann man nie richtig streiten.“ „Also gut. Dann sag mir jetzt endlich, was dein Gefühl ist.“ „Endlich?“ rief sie empört. „Wer hat mich denn unterbrochen? Wer hat denn vom Thema abgelenkt? Und ausgerechnet du bezichtigst mich jetzt der Schwafelei?“ „O Himmel“, seufzte Hasard, „ich schwöre dir, ich werde dich nie wieder unterbrechen.“ „Hoffentlich.“ Siri-Tong nickte grimmig. „Was ich sagen wollte, ist, daß ich mir wünschte, besser, viel viel besser als bisher, mit deinen Söhnchen zurechtzukommen.“ „Unsinn. Ich weiß nicht, wie oft ich es dir schon gesagt habe: Philip und Hasard haben dich sehr gern. Das ist so gewiß wie das Amen in der Kirche. Aber wenn du behauptest, ich verstünde das Seelenleben einer Frau nicht, so könnte ich ebenso gut behaupten, du kannst dich nicht in die Seele zweier Lausebengel hineinversetzen. Wenn du das könntest, würdest du nämlich begreifen, daß sie dich sogar bereits bewundern.“ Siri-Tong nahm einen langen Schluck und stellte den Becher mit einem Ruck auf den Tisch. „Du willst mich nur besänftigen. Aber ...“
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Aufgeregte Stimmen, die plötzlich von Deck zu hören waren, unterbrachen die Rote Korsarin. Doch ebenso wie Hasard wußte sie, daß es nicht ihr letzter Wortwechsel sein würde, der mit den Zwillingen zu tun hatte. 2. Bill, der Moses, hockte schnatternd vor Kälte im Großmars. Er mußte sich mächtig anstrengen, um die klappernden Zähne auseinanderzureißen. „Deck!“ schrie er so laut er konnte. „Laaand in Sicht!“ Dabei kümmerte es ihn herzlich wenig, daß sie unten auf der Kuhl beim Genuß ihres aufwärmenden Schluckes gestört wurden. Denn obwohl er, abgesehen von den Zwillingen, der Jüngste an Bord war, wußte Bill sehr gut, was seine Beobachtung zu bedeuten hatte. Gewissermaßen eine Sensation. Denn dieser Küstenstreifen, der dort dünn und dunstig am südlichen Horizont zu erkennen war, dehnte sich nach Westen und nach Osten, so weit das Auge reichte. Und verdammt, sie hatten alle geglaubt, daß sie wieder Kurs auf den offenen Atlantik genommen hätten. „Laaand in Sicht!“ schrie Bill abermals, daß seine Kehle schmerzte. Er empfand ein kleines bißchen Triumph dabei, als sei es ein persönlicher Erfolg, den er errungen hatte. Oder einfach die Gewißheit, als erster etwas festgestellt zu haben, womit kein anderer gerechnet hatte. Aber auch ein leises Unbehagen stieg in Bill auf. Mußte dieses Land, das dort vor ihnen lag, nicht genauso fremd und rätselhaft sein wie das Meer, auf dem sie segelten? Was erwartete sie in diesem unerforschten Teil der Welt, von dem es nicht einmal eine Seekarte gab? Ben Brighton gab dem Ausguck einen Wink, zum Zeichen, daß er seine Stimmbänder nicht länger anzustrengen brauche. Als Hasard und Siri-Tong an Deck eilten, hatte sich Ben bereits mit dem Spektiv an der vorderen Schmuckbalustrade des
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Achterkastells postiert und das Spektiv ans Auge gesetzt. Pete Ballie reckte den Hals, desgleichen die Männer, die am Ruderhaus arbeiteten. Die übrigen Männer waren auf die Back geeilt. Aber mit bloßem Auge ahnten sie den Küstenstreifen mehr, als daß sie ihn sehen konnten. Ben Brighton ließ das Spektiv sinken und übergab es seinem Kapitän. „Unser Moses hat richtig beobachtet“, sagte Ben. „Land in vier bis fünf Seemeilen. Die Sichtverhältnisse sind nicht besonders gut. Im übrigen glaube ich, daß du mit deiner Vermutung recht hattest.“ „Welche Vermutung meinst du?“ Hasard hob das Spektiv. „Daß wir den offenen Atlantik nicht so leicht erreichen würden. Das dort vorn ist nämlich keine Insel.“ Ein ausgiebiger Blick durch den Kieker genügte Hasard. Er gab das Fernrohr an Siri-Tong weiter. „Noch wissen wir nichts Endgültiges“, sagte der Seewolf. „Fest steht lediglich, daß wir uns westlich von Labrador befinden. Es ist immer noch möglich, daß es eine südwärtige Passage gibt, die uns zurück auf den Atlantik führt.“ „Warten wir ab“, entgegnete Ben Brighton, und es war in der Tat das einzige, was die Männer an Bord der „Isabella“ tun konnten – ein ungewohntes Gefühl für sie alle. Für sie, die sie stets hart zugepackt hatten, um ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, soweit das irgend möglich war. Auf ihren bisherigen Reisen, die sie in die entlegensten Winkel der Welt geführt hatten, war ihnen das bisher fast immer gelungen. Nicht einmal von dem unberechenbaren Höllenfürsten hatten sie sich je ins Bockshorn jagen lassen. Doch während sie jetzt schweigend auf den Decksplanken der Galeone verharrten, beschlich sie immer stärker jenes Unbehagen, das Bill oben im Großmars als erster empfunden hatte. Dieses Unbehagen, das genährt wurde, seit sie in die unbekannten nördlichen Breiten der Neuen Welt vorgestoßen waren. Stets waren sie auf ihren früheren, Reisen von Gefahren umgeben gewesen, und das
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würde sich wohl auch nicht ändern, solange sich die großen Nationen dieser Welt in den Haaren lagen. Doch die Gefahren, denen die Seewölfe bisher ins Auge geblickt hatten, waren greifbar und begreifbar gewesen. Einen Gegner, von dem man wußte, wie er aussah, konnte man bekämpfen, indem man sich auf ihn einstellte. Aber hier, in diesen nördlichen Zonen, schien alles anders. Allein das Klima trug eine unausgesprochene Bedrohung mit sich. Während die Männer schweigend dem Küstenstreifen entgegenblickten, hatten sie das Empfinden, daß alles an Bord auf seltsame Weise ruhiger war als sonst. Der Wind wehte mit einer seltenen Stetigkeit, und das Knarren der Takelage schien fast völlig aufgehört zu haben. Immer mehr hatte es den Anschein, als würde die „Isabella“ in eine totale, unheimliche Stille segeln. „Es gibt diese Schlünde, von denen Menschen magisch angezogen werden“, sagte Old O'Flynn, und seine Worte tropften in die Stille. „Aus so einem Schlund gibt es kein Entrinnen, und die Nachwelt wird niemals von derlei Geheimnissen erfahren. Denn es gibt keine Zeugen.“ Niemand unterbrach diesmal den alten O'Flynn. Selbst Edwin Carberry erging es nicht anders als den übrigen Männern. Ein gelinder Schauer kroch ihnen über den Rücken, verstärkt durch die bösen Vorahnungen Old Donegal Daniel O'Flynns. „Damals in der Karibik hat man so einiges gehört“, fuhr Old O'Flynn fort, während er mit unbewegter Miene zu dem Land hin starrte, das sich allmählich deutlicher abzeichnete. „Noch heute erzählt man auf Hispaniola von dem Verband jener fünf spanischen Galeonen, die am 20. Mai 1576 auf Westkurs gingen. Die Spanier gerieten in einen Sturm und verloren die Orientierung, doch jeder der Kapitäne war peinlich darauf bedacht, mit den anderen Sichtkontakt zu halten. Dann änderte sich die Lage schlagartig, als der Sturm von
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einer Stunde auf die andere in eine totale Flaute überging. Und haargenau in dieser Stunde geschah es, daß eins der Schiffe plötzlich verschwunden war. Die ,Santa Marguerita` mit ihrem Kapitän Esteban Montego. Die anderen Kapitäne gerieten in schiere Verzweiflung, weil keiner von ihnen beobachtet hatte, wo, zu welcher Minute und wie die fünfte Galeone verschwunden war. Auch stundenlange Nachforschungen ergaben nichts. Weder Wrackteile noch Beiboote oder sonstiges wurden entdeckt, was auf einen Untergang der ,Santa Marguerita` hätte schließen lassen. Die Suche wurde schließlich abgebrochen, und die vier Galeonen erreichten Spanien unversehrt. Doch ihre Kapitäne und alle Männer der Besatzungen haben nie wieder eine Schiffsplanke betreten. Sie alle zweifeln noch heute an ihrem eigenen Verstand — falls sie noch am Leben sind. Denn was sich ereignet hatte, war nicht mit rechten Dingen zugegangen. Jeder von ihnen hatte die ,Santa Marguerita` ständig im Auge gehabt. Trotzdem war das Schiff verschwunden. Dann gibt es noch eine andere Erzählung aus Hispaniola. Und zwar handelte es sich um zwei Fischerboote ...“ „Jetzt ist es genug, Old Donegal“, brummte Edwin Carberry gereizt. „Wir haben begriffen, was du meinst. Also werden wir jetzt alle mal verdammt genau aufpassen, wie dieser Höllenschlund aussieht, der sich da vor uns auftut. Und ich will nicht länger Profos auf diesem Schiff sein, wenn ich dem Gehörnten nicht höchstpersönlich in die Suppe spucke. „Spotte nicht, Profos!“ rief Old O'Flynn empört. „Es gibt Mächte, die stärker sind als wir Menschen. Man sollte sie nicht unnötig herausfordern.“ Der Profos winkte ab und lachte grollend. Die anderen Männer stimmten mit ein. Auf diese Weise gelang es ihnen, dieses seltsame Kribbeln im Rücken abzuschütteln. Verdammt, welche Wesen dieses unerforschte Land auch bewohnen mochten, sie konnten auch nur mit Wasser kochen!
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Manchmal redete der alte O'Flynn tatsächlich so überzeugend, daß ein bißchen davon hängen blieb, ob man wollte oder nicht. Hasard hatte unterdessen wieder das Spektiv an sich genommen und beobachtete aufmerksam den Küstenstrich, dem sie sich näherten. Wie er schon jetzt feststellen konnte, mußte es sich um ein ödes, nahezu flaches Land handeln. Jene Art von Felsenlandschaft, wie sie sie in Labrador vorgefunden hatten, schien es hier nicht zu geben. Hasard ließ das Spektiv wieder sinken und blickte SiriTong an. Sie fröstelte, obwohl sie sich eine Felljacke übergeworfen hatte. „Wir dürfen uns nicht entmutigen lassen“, sagte er. „Ich war mir von vornherein darüber im klaren, daß es uns niemals auf Anhieb gelingen würde, die NordwestPassage zu finden. Viele andere haben es vor uns versucht und sind gescheitert. Wir dürfen einfach nicht aufgeben.“ „Was versprichst du dir davon?“ entgegnete Siri-Tong stirnrunzelnd. „Aus dieser Gegend wirst du deiner Königin keine Reichtümer in die Schatzkammern bringen.“ „Das weiß ich.“ Er nickte. „Wir haben uns vorgenommen, das Land zu finden, das Hendrik Laas uns beschrieben hat. Dieses Land aus Eis und Schnee, das vielleicht der Schlüssel zur Nordwest-Passage ist.“ „Ich weiß nicht, ob man einem einzelnen Mann Glauben schenken sollte“, sagte SiriTong zweifelnd. „Vielleicht war es reine Phantasterei, die er von sich gegeben hat.“ „Dazu hatte er keinen Anlaß“, wandte Ben Brighton ein. „Jeder von uns ist der gleichen Meinung wie Hasard. Sonst hätten wir diese Reise niemals angetreten.“ Die Rote Korsarin zog ihre Schultern hoch und ließ sie wieder sinken. „Männliche Logik“, murmelte sie, „das ist etwas, woran man nicht vorbeikommt.“ Hasard und Ben Brighton wechselten einen Blick und lächelten. „Seht euch das an!“ rief Pete Ballie unvermittelt. „Da brennt irgendwas, wenn mich nicht alles täuscht.“ Sie hatten sich dem Küstenstrich mittlerweile bis auf weniger als zwei
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Seemeilen genähert. Jeder Mann an Bord der „Isabella“ konnte es jetzt mit bloßem Auge deutlich erkennen. Aus dem hügeligen Land stiegen mehrere schwarze Rauchfahnen auf, die in geringer Höhe vom Wind zerfasert wurden. Der Rauch konzentrierte sich auf einen Küstenabschnitt, auf den die Galeone fast haargenau zuhielt. „Eins scheint jedenfalls sicher“, sagte Ben Brighton nach einer Weile. „Ein Lagerfeuer ist das nicht.“ * Seltsame Schreie waren jetzt zu hören. Menschliche Stimmen, auf jeden Fall. Trotzdem waren es unbekannte Töne, die vom Land herüberwehten, aus dem undurchdringlich scheinenden Teppich, den die flachen Baumkronen über den sanften Wellenlinien der Hügel bildeten. Da ertönte immer wieder dieses schrille Heulen - mal abgehackt, mal lang gezogen. Es waren schaurige Laute, die an das Heulen blutrünstiger Wölfe erinnerten. Aber es gab auch jene Art von Schreien, wie sie überall auf der Welt gleich waren. Schreie, die von Menschen nur dann ausgestoßen wurden, wenn sie furchtbare Qualen litten oder gar dem Tod ins Auge sahen. Der Kampf, der sich, für die Seewölfe unsichtbar, an Land abspielte, war im übrigen von einer unergründlichen Stille begleitet. Nur in großen Abständen peitschten einzelne Schüsse. Doch es gab kein knatterndes Musketenfeuer gegnerischer Verbände und schon gar nicht das helle Klirren von Säbelklingen. . Über allem standen noch immer die schwarzen Rauchfahnen. An Bord der „Isabella“ hatte Hasard bereits seine Entscheidungen getroffen. Sie würden sich zunächst abwartend verhalten und beobachten, ohne einzugreifen. Ben Brightons Kommandostimme hallte über das Schiff. Auf der Kuhl und auf der Back entstand Bewegung. Männer enterten mit katzenhafter Gewandtheit in den Luvwanten auf. Großmarssegel und
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Fockmarssegel wurden aufgegeit. Kurz darauf ließ Ben Brighton auch das Besansegel und die Blinde bergen. Die Galeone verlor an Fahrt, hielt aber nach wie vor mit Direktkurs auf den Uferstreifen zu. Hasard beobachtete weiter mit dem Spektiv, vermochte aber noch immer keine Einzelheiten zu erkennen. Deutlich wurde lediglich, um welche Art von Landschaft es sich handelte. Bei näherer Betrachtung sah der Küstenabschnitt weniger trist aus, als es aus größerer Entfernung der Fall gewesen war. So weit das Auge reichte, erstreckte sich dichter Mischwald, der bis nahe an das Ufer reichte. Die graugrünen Wellen spülten auf einen schmalen Streifen Strand, der eher die Bezeichnung Geröllhalde verdient hätte. Das Ufer verlief keineswegs geradlinig, es gab zahlreiche Einschnitte von unterschiedlicher Breite. Nicht in jedem Fall ließ sich eindeutig feststellen, ob es sich um eine Flußmündung oder lediglich um eine Bucht handelte. Denn das Dunkel unter den Baumkronen verdeckte die Sicht bis ins Landesinnere. Der Kampfeslärm wurde zunehmend deutlicher und schien kein Ende zu nehmen. Immer häufiger waren jetzt Schmerzensschreie zu vernehmen. „Ist es möglich?“ flüsterte Siri-Tong entgeistert. „Das hört sich an, als ob auch Kinderstimmen darunter seien.“ Hasard verzichtete endgültig auf den Kieker. Er nickte, denn er hatte es ebenfalls gehört. Seine Nackenhaare sträubten sich. Was sich dort an Land abspielte, mußte grauenhaft sein. „Gei auf Großsegel und Focksegel!“ brüllte Ben Brighton. In kürzester Zeit waren auch die beiden letzten Tücher aufgegeit. Immer mehr verlor die „Isabella“ an Fahrt. Pete Ballie ließ das Steuerruder unter seinen riesigen Händen wirbeln. Die Galeone krängte leicht nach Steuerbord und beschrieb einen eleganten Bogen. Am Ankerspill standen Gary Andrews, Sam Roskill, Bob Grey und Blacky bereit.
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„Fallen Anker!“ dröhnte Ben Brightons Befehlsstimme. Wenig später dümpelte die „Isabella“ im leichten Wellengang, die Steuerbordseite zum Ufer gerichtet. Doch für den Seewolf und seine Männer sollte es nicht so schnell eine Verschnaufpause geben. Während die letzten von ihnen noch die Geitaue und Fallen belegten, meldete sich Bill mit heller Stimme aus dem Großmars. „Deck! Boote Steuerbord voraus!“ Hasard, Siri-Tong und Ben Brighton blickten in die angegebene Richtung. Unten auf der Kuhl hasteten die Männer ans Schanzkleid, und auf der Back kriegten die Zwillinge vor Staunen den Mund nicht mehr zu. Große Kanus glitten in rascher Folge aus einem der Ufereinschnitte. Fraglos handelte es sich um eine Flußmündung, wie Hasard zuvor schon vermutet hatte. An Land setzte sich der Kampfeslärm mit nahezu unverminderter Heftigkeit fort. Immer noch gellten diese Schreie, die den Seewölfen durch Mark und Bein gingen ob sie wollten oder nicht. Fünf Kanus waren es, die auf die Galeone zusteuerten. Die Boote, vermutlich aus Baumrinde gebaut, hatten einen runden Bug, der nach innen gewölbt war. Bei genauerem Hinsehen war zu erkennen, daß das Heck dieser schlanken Wasserfahrzeuge die gleiche Form aufwies. Wesentlich mehr wurde die Aufmerksamkeit der Seewölfe jedoch von jenen menschlichen Wesen gefesselt, die in den Kanus knieten und ihre Paddel in schnellem Rhythmus seitlich neben dem Boot ins Wasser stachen. Jedes Boot war mit zehn bis zwölf Männern besetzt, und sie erreichten eine erstaunlich hohe Fahrt. Diese Männer trugen hellbraune Jacken, anscheinend aus rohem Leder, deren Säume in langen Fransen ausliefen. Darunter Hosen aus dem gleichen Material. Ihre bronzehäutigen Schädel waren kahl bis auf eine schwarze Locke, die vom Hinterkopf herabhing und mit einem Stück Schnur zusammengebunden war.
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Die Boote rauschten in ungeordneter Formation heran. Im vorderen Kanu richtete sich unvermittelt einer der Männer auf. Durch sein äußeres Erscheinungsbild lenkte er sofort alle Aufmerksamkeit auf sich. Er war hochgewachsen, breitschultrig und von imposanter Statur. Im Gegensatz zu den übrigen Männern war sein Schädel nicht kahlgeschoren. Langes, blauschwarzes Haar hing ihm bis weit über die Schultern. Überdies trug er einen Kopfschmuck aus farbenprächtigen Federn, von denen jede einzelne die Länge eines Unterarms hatte. Sein Gesicht wirkte wie aus Bronze gemeißelt, selbst auf die Entfernung von mehr als einer Fadenlänge war das deutlich zu sehen. „Sieht so aus, als sei das der Häuptling“, flüsterte Siri-Tong mit einem Anflug von Faszination. „Nach allem, was man gehört hat, sollen die Indianer doch von ziemlich kleinem Wuchs sein. Aber wenn ich mir diese Burschen hier betrachte ...“ Von Land waren noch immer die furchtbaren Schreie zu hören. „Was man gehört hat, betrifft die Ureinwohner von Mittelund Südamerika“, erwiderte Hasard. „Und selbst die haben einen höchst unterschiedlichen Körperbau. In der Beziehung sind sie nicht anders als wir Europäer. Irgendwelche Sensationen darfst du hier nicht erwarten.“ Siri-Tongs Kopf ruckte herum. Ihre dunklen Augen funkelten den Seewolf an. „Was soll das heißen? Wenn das eine zweideutige Anspielung sein soll, dann ...“ Ihre Aufmerksamkeit wurde abgelenkt. Ein kurzer, weithallender Schrei ertönte bei den Kanus, die jetzt noch etwa eine knappe Fadenlänge entfernt waren. Ein Befehl, wie sich im nächsten Moment zeigte. Die Bronzehäutigen stoppten ihre Paddelarbeit, und die Kanus verhielten in einer weit auseinander gezogenen Linie. Das Boot de Häuptlings befand sich in der Mitte. Plötzlich stieß der Mann mit dem prachtvollen Federschmuck den rechten
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Arm in die Luft. Seine Handfläche wies zur „Isabella“. „Scheint so, als ob er uns etwas sagen will“, murmelte Ben Brighton gespannt. Hasard nickte nur. Sein Stellvertreter behielt recht. Jäh begann der Häuptling zu schreien. Wild gestikulierend bewegte er die Arme, schlug sich mit den Fäusten gegen die Brust, schüttelte seine Fäuste in Richtung auf die Galeone und wiederholte diese Bewegungen immer wieder. Seine Stimme klang unnatürlich schrill und stand in krassem Gegensatz zu seinem eindrucksvollen Äußeren. Seine Sprache verstand niemand an Bord der Galeone. Es waren kehlige, abgehackte Laute, die nichts mit irgendeiner europäischen Sprache gemein hatten. Auch war kein Vergleich möglich mit jenem singenden Tonfall, den die Seewölfe bei verschiedenen asiatischen Völkern gehört hatten. Die Drohgebärden des Häuptlings wurden immer heftiger. Sein Geschrei steigerte sich zu einem grellen Stakkato. Vorn, auf der Back, drehte sich Edwin Carberry kopfschüttelnd um. „Dieses Rübenschwein erwartet wohl eine Antwort, was, wie? Aber wie sollen wir ihm antworten, wenn wir sein Ziegengemecker nicht verstehen?“ Einige der Männer lachten rauh. Jetzt, da sie sahen, mit wem sie es zu tun hatten, war ihr Unbehagen verflogen. „Anscheinend möchte er, daß wir verschwinden!“ rief Hasard zurück. „Sehr freundlich sieht er jedenfalls nicht aus.“ „Wie wär's mit einer kleinen Begrüßung, Sir?“ entgegnete der Profos dröhnend und deutete auf die vordere Drehbasse an Steuerbord. Hasard streckte den linken Arm aus und wedelte abwehrend mit der Hand. „Kommt nicht in Frage, Ed.“ Ein scharfes Sirren war jäh zu hören. Hasard spürte einen Luftzug. Fast im selben Moment gab es einen dumpfen Schlag.
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Neben dem Häuptling hatte sich einer der Kahlköpfigen aufgerichtet. Jetzt ließ er den Bogen sinken, der fast mannshoch war. Hasard drehte sich um. Siri-Tong war bleich geworden, doch in ihre Miene malte sich aufsteigender Zorn. Der Pfeil steckte im Besanmast, der gefiederte Schaft vibrierte noch. Al Conroy, Stückmeister an Bord der „Isabella“, drängte sich zwischen Ben Brighton und den Seewolf. „Auf was warten wir noch, Sir? Ich verpasse denen ein Ding mit der Drehbasse, daß es ihre lächerlichen Nußschalen in Fetzen reißt! Jetzt ist es ja wohl langsam klar, daß die Burschen keine friedlichen Absichten haben.“ Drüben, im Kanu, fuhr der Gefiederte mit seinem Gezeter fort. „Nein, Al“, entschied Hasard, „diese Eingeborenen haben keine Feuerwaffen. Es wäre unfair, wenn wir unsere Überlegenheit ausspielen.“ Das Geschrei des Häuptlings brach ab. In den Kanus wurde es plötzlich lebendig. Und jetzt waren die Männer an Bord der „Isabella“ gezwungen, Hals über Kopf in Deckung zu gehen. Oben im Großmars duckte sich Bill, so tief er konnte. Scharfes Zischen zerriß die Luft. Ein Hagel von dumpfen Einschlägen prasselte in die Planken der Galeone. Von einem Atemzug zum anderen glich das Steuerbordschanzkleid einem Stachelschwein. Mehrere Pfeile sirrten tief über die Kuhl und klatschten auf der anderen Seite ins Wasser. „Big Old Shane! Batuti!“ brüllte Hasard, der sich neben Siri-Tong, Ben Brighton und den anderen hinter die Schmuckbalustrade geduckt hatte. „Zeigt es ihnen!“ Von den Kanus der Rothäute ertönte wildes Geheul. schrill und nervenzerfetzend. Ein zweiter Pfeilregen schwirrte über die „Isabella“ weg. Hasard konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß es sich bislang nur um Warnschüsse handelte. Diese bronzehäutigen Kerle beherrschten ihr
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Handwerkszeug garantiert besser, als sie vorgaben. Die Formation der Kanus löste sich jetzt auf. Offenbar versuchten sie, die Galeone in die Zange zu nehmen. In jedem Boot, so konnte Hasard durch die Verstrebungen der Schmuckbalustrade erkennen, betätigte die Hälfte der Indianer die Paddel, während die anderen unablässig ihre mörderischen Pfeile abfeuerten. Auf der Kuhl trafen Batuti und Big Old Shane in Sekundenschnelle ihre Vorbereitungen. Die Bogen, die die beiden Männer meisterhaft beherrschten, waren größer und schwerer als jene der Rothäute. Der Gambia-Neger bezog seine Position hinter den Wanten am Steuerbordschanzkleid. Der junge Dan O'Flynn kauerte neben ihm, bereit, ihn mit Pfeilen aus dem Lederköcher zu versorgen. Big Old Shane, der bärtige Schmied von Arwenack, ging nahe beim Niedergang des Achterkastells in Deckung. Hier war es Luke Morgan, der ihm die nötige Hilfestellung leisten würde. Immer noch hagelten die Pfeile der bronzehäutigen Angreifer über das Schiff. Gezielter jetzt. Fockmast und Großmast waren in Kopfhöhe mit Pfeilen gespickt. Mit Besorgnis stellte Hasard fest, daß auch der Großmars bereits diesen gefährlichen Federschmuck trug. Vorn auf der Kuhl richtete sich Batuti blitzschnell auf. Er brauchte weniger als zwei Atemzüge, um die Bogensehne zu spannen und los-schnellen zu lassen. Es gab ein vernehmliches Splittern. Knapp oberhalb der Wasserlinie bohrte sich der Pfeil in jenes Kanu, in dem der Häuptling der bronzehäutigen Meute noch immer hochaufgerichtet stand. Sofort ließ Big Old Shane den zweiten Pfeil folgen — mit der gleichen Zielsicherheit. Das Häuptlingskanu erhielt sein zweites Loch in der Baumrindenhaut, direkt in der Wasserlinie. Die Seewölfe stimmten Beifallsgebrüll an. Einen Moment geriet der Pfeilhagel der Indianer ins Stocken.
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Batuti und Big Old Shane wechselten blitzschnell ihre Stellung und richteten sich zwei Schritte von ihrer ursprünglichen Position entfernt wieder auf. Von den Kanus ertönte geiferndes Geheul. Dort, wo Batuti und Big Old Shane sich eben noch befunden hatten, krachten Pfeile fast gleichzeitig ins Schanzkleid oder sirrten haarscharf darüber hinweg. Der schwarze Herkules und der Schmied von Arwenack ließen sich nicht beirren. Wieder feuerten sie ihre Pfeile ab, und wieder war es das Häuptlingskanu, dessen Perforation in hübscher Regelmäßigkeit fortgeführt wurde. „Al!“ rief Hasard halblaut. Der schwarzhaarige Stückmeister hastete heran. Zahlenmäßig waren die Rothäute überlegen. Doch sie schienen mittlerweile begriffen zu haben, daß sie sich dem fremden Schiff nicht ohne Schwierigkeiten nähern konnten. Das Boot des Anführers drehte ab und hatte bereits Schlagseite. Zwei weitere Pfeile von Big Old Shane und Batuti ließen noch mehr Wasser hineinsuppen. „Der Kerl hat bestimmt schon nasse Füße“, flüsterte Ben Brighton grinsend. Er zog den Kopf ein, als ein Pfeil unmittelbar über ihm in die Schmuckbalustrade schlug.' „Gehacktes Blei“, sagte Al Conroy grimmig. „Das ist die einzige Sprache, die die Halunken verstehen werden.“ „Ein bißchen Feuerzauber genügt“, entgegnete Hasard. „Ohne Blei, verstanden?“ „In Ordnung, Sir. Wird sofort erledigt.“ Al Conroy kroch auf den Niedergang zu, froh, endlich seine Schwarzpulverkünste unter Beweis stellen zu können. Die Indianer hatten mittlerweile ihr Vorhaben aufgegeben, die Galeone einzukreisen. Zwei Kanus, die versucht hatten, an die Backbordseite zu gelangen, waren nach Steuerbord zurückgekehrt, wo sie mit massiertem Pfeilhagel ihren Stammesbrüdern Unterstützung gaben. Auf der Back ertönte ein Fluch. Gary Andrews hielt sich die linke Schulter. Sein
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Gesicht war schmerzverzerrt, als er sich auf den Decksplanken krümmte. Ed Carberry untersuchte ihn rasch. „Nur ein Streifschuß!“ brüllte er zum Achterkastell hin. „Die Zwillinge!“ rief Siri-Tong besorgt. „Die beiden müssen da weg, verdammt noch mal. Warum denkt denn kein Mensch daran!“ „Bringt die Jungen unter Deck!“ befahl Hasard mit Donnerstimme. Dann hastete er geduckt zum Niedergang und erreichte mit einem Satz die Planken der Kuhl. Ein Pfeil zupfte am Ärmel seiner Jacke. Er spürte den Luftzug und hörte den klatschenden Einschlag irgendwo im Holz hinter sich. Augenblicklich lag er flach. Die Kerle schienen sich auf ihn eingeschossen zu haben und begriffen offenbar, daß er so etwas wie der Häuptling auf diesem Schiff war. Sam Roskill und Bob Grey bugsierten vorsichtig die Zwillinge in das Schott zum Mannschaftslogis. Die beiden Männer deckten die Jungen dabei mit ihrem eigenen Körper. Hasard spürte ein Gefühl der Wärme in sich aufsteigen. Verdammt, er konnte nicht anders, er mußte einfach stolz sein auf diese Männer, die für ihn durchs Feuer gingen. Al Conroy schob sich vorsichtig wieder an Deck. Matt Davies und Jeff Bowie, die beiden Männer mit den Hakenprothesen, halfen ihm dabei, seine Utensilien aus der Pulverkammer auf die Kuhl zu schleppen. Hasard richtete sich halb auf und bewegte sich mit der gebotenen Vorsicht auf den Stückmeister zu. Immer noch zischten die elenden Pfeile tief über die Kuhl weg. Al, Matt und Jeff hantierten eifrig. Im Handumdrehen waren die kleinen Abschußgestelle aufgebaut. Die mit Schwarzpulver und allerlei Teufelszeug gefüllten Raketen waren an Holzstangen befestigt, die in den Gestellen mit einem Winkel von etwa 45 Grad nach Steuerbord zeigten. Überall an Deck waren Wassereimer aufgestellt. Aber noch schien diese
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Vorsichtsmaßnahme der kampferprobten Crew unbegründet. Hasard hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als der erste Glutschweif über Deck fauchte. Das Feuer raste jenseits des Großmastes über die Planken und wurde vom Backbordschanzkleid gestoppt. „Jetzt reicht es!“ brüllte Edwin Carberry von der Back. „Jetzt schießen diese Kakerlaken auch noch Brandpfeile. Wenn ihr sie nicht gleich zur Räson bringt, nehme ich sie höchstpersönlich auseinander. Dann ziehe ich denen die Haut in Streifen von ihren roten Affenärschen!“ Und der Profos war der Drehbasse an Steuerbord schon sehr nahe. Batuti und Big Old Shane schossen mit geradezu stoischer Ruhe einen Pfeil nach dem anderen ab. Mit verbissener Wut waren sie drauf und dran, ihr Meisterwerk zu vollbringen. Al Conroy hielt die Lunte an die ersten beiden Raketen. „Wie wär's damit?“ fragte Jeff Bowie grinsend und streckte dem Seewolf eine Höllenflasche entgegen. „Her damit“, sagte Hasard kurzentschlossen und nahm auch noch die zweite, die Matt Davies ihm reichte. Der zweite Brandpfeil der Indianer knallte gegen den Großmast. Stenmark und Will Thorne waren mit Löschwasser zur Stelle und hatten die Glut beider Pfeile in Sekundenschnelle erstickt. Hasard robbte zurück zum Schanzkleid an Steuerbord. Die Handgranaten waren das Werk von Ferris Tucker. Flaschen, mit Pulver, Nägeln und Blei gefüllt. Die Lunte war durch den dicht abschließenden Korken geführt. Zwei Raketen orgelten mit vernehmlichem Zischen nach außenbords. Hasard zündete die Lunte seiner ersten Höllenflasche. Rasch fraß sich die Glut auf den Korken zu. Der Seewolf wartete und zählte die Sekunden. Das Geschehen überschlug sich. Batuti stieß einen Triumphschrei aus. Die Indianer antworteten mit wildem Geheul, eher verzweifelt.
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Kurz nacheinander krachten zwei Donnerschläge über den Kanus. Grelle Feuerbälle platzten auseinander, und ein Funkenregen in allen schillernden Farben des Regenbogens ergoß sich über die bronzehäutigen Kahlköpfe. Augenblicklich erstarb ihr Geheul. Hasard richtete sich blitzschnell auf. Keinen Moment zu spät. Denn eins der Kanus hatte sich der Galeone bis auf dreißig Yard genähert. Hasard schleuderte die Höllenflasche. Die Lunte zog eine dünne Rauchfahne hinter sich her. Dann klatschte die Flasche zum Greifen nahe vor dem Kanu ins Wasser. Drei, vier Raketen aus Al Conroys Arsenal schwirrten nacheinander los. Hasard brauchte nicht mehr in Deckung zu gehen. Er zündete die zweite Höllenflasche in aller Seelenruhe. Die Männer im Häuptlingskanu paddelten wie wild in Richtung Ufer. Es nutzte ihnen nichts mehr. Ihr Boot hatte beträchtliche Schlagseite und war kurz vor dem Kentern. Der Chief mit dem prächtigen Federschmuck kauerte verstört zwischen seinen Kriegern. Jäh schoß eine Fontäne aus dem Wasser. Unmittelbar vor dem Boot, das sich zu vorwitzig an die Galeone herangewagt hatte, detonierte die Höllenflasche knapp unter der Wasserlinie. Die weißschäumende Fontäne stieg mannshoch empor, begleitet von einem dumpfen Donner. Die Männer im Boot schrien vor Entsetzen auf, als sie von der Druckwelle außenbords geschleudert wurden. Ihr Kanu kenterte und zeigte den Seewölfen seinen in hervorragender Handwerksarbeit gefertigten Kiel. In rasender Reihenfolge detonierte jetzt das chinesische Feuer über den Köpfen der Rothäute, die in panischer Angst erstarrten. Die Vielfalt des Funkenregens hätte Al Conroys chinesische Lehrmeister in Verzückung geraten lassen. Die Indianer lehrte dieses furchterregende „fliegende Feuer“ nichts anderes als das Fürchten. Das Kanu des Häuptlings kenterte endgültig. Gurgelnd und schreiend
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tauchten die kahlköpfigen Männer ins Wasser. Ihre Bogen schwammen auf der Oberfläche. Der Anführer der Meute verlor seinen prächtigen Federschmuck. Er verzichtete darauf, das Zeichen seiner Würde zu retten. Zu unheimlich war der weithallende Donner der Explosionen, die Al Conroy in hübscher Reihenfolge inszenierte. Hasard schleuderte die zweite Höllenflasche, dosierte aber seine Muskelkraft so, daß das Ding weit genug von den fliehenden Indianern entfernt ins Wasser klatschte. Die drei noch intakten Kanus nahmen die Schwimmenden auf, auch den Häuptling. In den überladenen Booten paddelten die Männer wie wahnsinnig, als säße ihnen der Leibhaftige im Nacken. Die Detonation der zweiten Höllenflasche schickte ihnen ihr urwelthaftes Gebrüll hinterher, und Al Conroys letzte Raketen bewirkten endgültige Demoralisierung bei den eben noch wild entschlossenen Angreifern. Die Männer an Bord der „Isabella“ hätten sich aufgerichtet. Und sie stimmten jenen Ruf an, der schon manchen Gegner zum Zittern gebracht hatte. „Ar - we - nack! Ar - we - nack!“ Der alte Kampfruf derer von Arwenack war in diesem Fall fast überflüssig, spiegelte aber um so mehr den Triumph der Seewölfe. Es wurde still über dem eiskalten Wasser. Auch an Land war kein Laut mehr zu hören. 3. Sie hatten Gary Andrews gegen eine Taurolle gebettet und seinen Oberkörper entblößt. Der Pfeil hatte eine blutige Furche in die linke Schulter des hageren Mannes gerissen. Edwin Carberry deutete auf die Narbe, die sich quer über Andrews' Brust zog. „Nun kriegst du noch einen hübschen Kratzer dazu. Das steht dir nicht schlecht, mein Junge. Die Ladys in Plymouth
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werden entzückt sein, wenn sie dich das nächste Mal sehen.“ Gary Andrew verzog das schmale Gesicht zu einem Lächeln. Es gelang ihm nicht recht, denn die tiefe Fleischwunde schmerzte höllisch. „Red nicht soviel, Edwin“, sagte die _Rote Korsarin, die vor dem Verwundeten kniete und die blutige Schulter bereits untersucht hatte. „Sorg lieber dafür, daß ich heißes Wasser und saubere Tücher kriege.“ Sie entkorkte eine Flasche hochprozentigen Rum, die sie aus der Kapitänskammer mitgebracht hatte. „Schon gut, Madam“, sagte Gary Andrews verlegen, „es ist ja nur ein Kratzer.“ „Was steht ihr herum, ihr Stinte!“ herrschte der Profos die Männer an, die einen Halbkreis um den hageren blonden Mann gebildet hatten. „Habt ihr nicht gehört? Los, los, bewegt euch! Heißes Wasser, saubere Tücher! Tempo, Tempo, oder ich reiße euch den Arsch auf, daß ihr ...“ „Mister Carberry!“ rief Siri-Tong schneidend. Mehr nicht. Der Profos verschluckte sich fast. Und schwieg. Sam Roskill und Bob Grey hasteten zur Kombüse. Unten auf der Kuhl waren die übrigen Männer mit Aufräumungsarbeiten beschäftigt. Nennenswerten Schaden hatte es nicht gegeben, abgesehen von dem Pfeilgestrüpp, mit dem die Galeone gespickt war. Hasard, der mit Ben Brighton an der Schmuckbalustrade des Achterkastells stand, drehte einen der Pfeile zwischen den Fingern. „Sieh dir das an, Ben“, sagte er mit unverhohlenem Staunen. „So primitiv diese Eingeborenen auch sein mögen, sie verstehen ihr Handwerk. Das ist Pinienholz, sauber geschnitten und ausbalanciert.“ Ben Brighton nahm den Pfeil entgegen, der länger als ein Männerarm war. Die nadelscharfe Spitze bestand aus geschliffenem Stein, die Federn am anderen Ende waren präzise zurechtgestutzt.
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„Das hat eine Menge Arbeit gekostet“, sagte Ben, „und sie müssen gutes Werkzeug haben.“ Er legte die Mitte des Schafts auf seine Zeigefingerkuppe, und der Pfeil schwebte in der Waagerechten. Unvermittelt ertönte Bills Stimme aus dem Großmars. Er harrte noch immer dort oben aus. „Deck! Da tut sich was an Land!“ Die Männer unterbrachen ihre Arbeit und liefen zum Schanzkleid. Hasard setzte den Kieker ans Auge. Er brauchte nicht lange zu suchen, um zu entdecken, was Bills Aufmerksamkeit erregt hatte. Bill stellte seine Fähigkeiten immer mehr unter Beweis, und es zeigte sich, daß seine Augen fast genauso gut waren wie die Dan O'Flynns, der früher stets den Posten als Ausguck übernommen hatte. Es war so etwas wie eine Abordnung, die sich dort am geröllübersäten Uferstreifen versammelt hatte – regungslos und stumm. Hasard ließ das Blickfeld des Spektivs auf jedem einzelnen der Männer verweilen. Drei waren es, die im Vordergrund standen, nahe am Wasser, das mit auslaufender Gischt über die Gesteinsbrocken leckte. Einer dieser Männer sah ganz und gar europäisch aus. Er trug eine dicke Pelzjacke, die- die Breite seiner Schultern übermäßig betonte. Seine Beine steckten in dunkelbraunem Leder. Bis zu den Knien trug er hochgeschnürte Leggins, die aus breiten Lederstreifen gewickelt waren. Sein Gesicht war scharfgeschnitten und braungebrannt, unter der breiten, topfförmigen Pelzmütze lugten schwarze Haare hervor. Seine nervige Faust hielt ein Steinschloßgewehr, dessen Vorderschaft auf seiner rechten Schulter ruhte. Zweifellos war es diese Waffe gewesen, deren Schüsse während der Kämpfe an Land zu hören gewesen waren. Die beiden anderen Männer waren Indianer, offensichtlich Häuptlinge, denn sie waren ähnlich gekleidet und herausgeputzt wie jener, der aufrecht inmitten der Angreifer im Kanu gestanden hatte.
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Hinter diesen drei Männern verharrten etwa ein Dutzend weitere im Halbkreis. Sie alle hatten kahle Schädel mit jener seltsam aussehenden Locke, die wie ein Quast vom Hinterkopf herabhing. Hasard setzte das Spektiv ab. „Sieht so aus, als seien die da drüben zu Salzsäulen erstarrt“, meinte Ben Brighton. „Oder hast du irgendein Lebenszeichen von ihnen erkennen können?“ „Nein“, entgegnete der Seewolf, „aber gerade deshalb werden wir beide jetzt an Land gehen. Laß ein Beiboot abfieren, Ben.“ „Nur wir beide?“ sagte Ben Brighton verblüfft. „Bei allem Wohlwollen gegenüber diesen Rothäuten - ist das nicht ein bißchen wenig?“ „Wir nehmen vier Mann mit“, entschied Hasard, „aber nur du und ich gehen an Land.“ Ben Brighton nickte. Er hatte Hasards Absicht verstanden. Die Eingeborenen sollten spüren, daß sie in friedlicher Absicht kamen. Ben kommandierte Donegal Daniel O'Flynn, Stenmark, Luke Morgan und Smoky für das Beiboot ab. Hasard holte eine Lederschatulle aus der Kapitänskammer. Dann stieg er gemeinsam mit Ben Brighton zu den anderen in die Jolle, die bereits abgefiert war. Während sie mit zügigen Schlägen zu pullen begannen, waren Siri-Tong und ihre Helfer noch damit beschäftigt, Gary Andrews' Wunde zu versorgen. Die Zwillinge waren an Deck zurückgekehrt und blickten sehnsüchtig ihrem Vater nach, den sie am liebsten begleitet hätten. Nur Arwenack, der Schimpanse und Sir John, der buntgefiederte Arara-Papagei, ließen sich nicht blicken. Den unangenehmen Temperaturen in diesen Breiten zogen sie die Behaglichkeit des Mannschaftslogis vor. „Moment mal“, sagte Ben Brighton, als sie sich erst wenige Schläge von der „Isabella“ entfernt hatten. Mit dem Bootshaken fischte er das bunte Ding aus dem Wasser, das dicht vor dem
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Bug der Jolle in den Wellen gedümpelt hatte. Es war der gefiederte Kopfschmuck des Häuptlings. Ben strich ihn glatt und legte ihn zu seinen Füßen auf die Planken. Die Männer pullten weiter. „Dafür würde der Kerl dich in Stücke reißen, wenn er es sehen könnte“, sagte Dan O'Flynn grinsend. „Aber er kann nun mal nicht“, antwortete der erste Offizier schmunzelnd. Von der Achterducht aus beobachtete Hasard die Gruppe der Männer an Land. Sie waren jetzt bereits mit bloßem Auge deutlich zu erkennen. Und sie hatten sich noch nicht vom Fleck gerührt. Aus den Bäumen hinter ihnen stieg noch immer feiner Rauch auf. Nicht mehr zu vergleichen aber mit den mächtigen schwarzen Wolken, die die Seewölfe zuvor beobachtet hatten. Die Gruppe an Land rührte sich auch dann noch nicht, als der Kiel der Jolle auf Grund knirschte. Ben Brighton sprang als erster ins seichte Uferwasser und zog das Boot ein Stück weiter an Land. Hasard folgte ihm. Die Schatulle hielt er in der rechten Hand. Ben und er trugen keine Waffen. Wohlweislich hatten sie darauf verzichtet. Hasard erhob die freie Hand zu einem freundschaftlichen Gruß. Ben tat es ihm nach. Drei Schritte von den beiden Häuptlingen und dem Europäer entfernt verharrten sie. Unvermittelt trat letzerer einen Schritt vor. Seine Miene war freundlich, doch ernst. „Veuillez agréer mes salutations tres respectueuses, messieurs“, sagte er mit dunkel klingender Stimme. „Bitte nehmen Sie meine aufrichtigen Grüße entgegen. Vous étes Anglais? Sie sind Engländer?“ Er deutete zu der Galeone, die die britische Flagge gesetzt hatte. „Oui, monsieur“, erwiderte Hasard. Er stellte erst Ben Brighton und dann sich selbst vor. „Sir Philip Hasard Killigrew“, korrigierte Ben, denn Hasard hatte seinen neu erworbenen Titel kurzerhand unter den Tisch fallen lassen.
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„Mein Name ist Pierre de Neuville“, entgegnete der schwarzhaarige Mann, der etwa einen halben Kopf kleiner war als der Seewolf, doch von nicht minder imposanter „Statur. „Meine Freunde und ich sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet. Sie haben uns aus allergrößter Not geholfen. Es gibt vieles, was wir Ihnen erklären müssen.“ Sein Englisch hatte einen starken französischen Akzent, aber er beherrschte die Sprache hervorragend. Die Häuptlinge standen mit unbewegten Mienen da. Ob sie den Wortwechsel verstanden, war an ihren Gesichtern nicht abzulesen. „Wir haben uns nur zur Wehr gesetzt, Monsieur de Neuville“, sagte Hasard. „Etwas anderes blieb uns letzten Endes nicht übrig.“ „Nennen Sie mich Pierre, bitte.“ „Nun gut, Pierre. Was uns am meisten bewegt, ist die Frage, wo wir uns befinden. Wir sind mit unserem Schiff in einen schweren Sturm geraten und haben jegliche Orientierung verloren. Offen gesagt, wir hatten gehofft, wieder den offenen Atlantik zu erreichen.“ De Neuville zog die Schultern hoch. „In der Beziehung kann ich Ihnen keine Hoffnung machen, Messieurs. Dieses Land ist riesengroß und so gut wie unerforscht. Ich weiß noch nicht sehr viel. Aber ich glaube mit Gewißheit sagen zu können, daß es von hier aus keine südwärtige Passage zum Atlantik gibt. Nach allem, was uns bislang bekannt ist, handelt es sich hier, westlich von Labrador, um eine gewaltige Bucht. Meine Landsleute, die vor mir hier waren, haben sie die ,Bucht der Häuptlinge' genannt. Das ergab sich zufällig. Weil nämlich die ersten Weißen, die dieses Land betraten, ein großes Häuptlingstreffen erlebten. Sie müssen wissen, daß zahlreiche Stämme aus dem Volk der Algonquin in den küstennahen Gebieten der Bucht leben.“ Der Franzose wandte sich zur Seite. „Entschuldigen Sie, ich glaube es ist an der Zeit, daß ich Ihnen meine Freunde vorstelle – Oskenonton, Häuptling der Huronen, und Mowhemeho, Häuptling der Odjibway aus dem Volk der Algonquin.“
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Beim Klang ihrer Namen warfen die beiden Stammesführer stolz den Kopf in den Nacken. Doch es war keine Geste von Arroganz, denn beide Männer zeigten ein Lächeln, das man durchaus als höflich und wohlwollend bezeichnen konnte. Oskenonton war ein hochgewachsener, schlanker Mann mit scharfgeschnittenem Gesicht. Einen erstaunlichen Kontrast zu seiner bronzefarbenen Haut bildeten seine klaren blauen Augen. „Ich schließe mich den Grüßen an, die mein Freund Pierre de Neuville bereits ausgesprochen hat, Messieurs“, sagte der Hurone in einem erstaunlich wohlklingenden und fehlerfreien Französisch. „Auch Grüße von Mowhemeho“, sagte der Odjibway-Häuptling gleichfalls auf Französisch, doch mit einem kehligen, gutturalen Akzent. Mowhemeho war nur wenig kleiner als Oskenonton und hatte ein breites, gutmütiges Bauerngesicht mit dunklen Augen. Hasard erwiderte die Grüße der Häuptlinge auf Französisch und öffnete die Lederschatulle vor ihren Augen. Zwei prachtvolle goldene Armringe, beide mit je einem Topas besetzt, nahm er heraus. „Messieurs“, sagte Hasard, „erlauben Sie mir, Ihnen dies als Gastgeschenk zu überreichen. Es handelt sich um Schmuckstücke, die die Spanier Ihren Landsleuten im südlichen Amerika geraubt haben. Spanien und England sind miteinander verfeindet. Wir haben solche Dinge erbeutet, und ich bitte Sie, diese Stücke stellvertretend für Ihre Brüder in Mittelund Südamerika entgegenzunehmen. Betrachten Sie es als ein Zeichen, daß wir Engländer nicht mit jener Ausbeutung einverstanden sind, wie sie von den Spaniern betrieben wird.“ Pierre de Neuville übersetzte für Mowhemeho. Die Sprache der Odjibway klang abgehackt und hart. Beide Häuptlinge lächelten, nahmen die kostbaren Gastgeschenke entgegen und verneigten sich mit sichtlicher Freude. „Ich habe auch noch etwas“, sagte Ben Brighton und zog den nassen
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Federschmuck hinter seinem Rücken hervor. Jäh verfinsterten sich die Mienen von Oskenonton und Mowhemeho. Sie wichen zurück, als handele es sich um ein tödliches Gift, das der Erste Offizier der „Isabella“ ihnen anbot. De Neuville wurde verlegen. „Verstehen Sie es nicht falsch, Messieurs. Den Federschmuck eines feindlichen Häuptlings zu besitzen, bedeutet, daß man ihn getötet hat. Niemals würde ein Hurone oder ein Algonquin so etwas als Geschenk annehmen.“ „Was tun wir dann damit?“ Ben Brighton zuckte mit den Schultern. „Sie müssen den Federschmuck verbrennen“, entgegnete der Franzose. „Es darf nichts davon übrig bleiben.“ „Gut. Wir erledigen das an Bord.“ Ben schleuderte den Kopfputz zurück zum Boot. Dan O'Flynn fing das Ding geschickt auf. Oskenonton und Mowhemeho schienen erleichtert. Sie betrachteten die Armringe und wechselten Worte in jener Sprache, die Pierre de Neuville offenbar fließend beherrschte. „Sie werden als Gäste willkommen sein“, sagte er, „aber zuvor muß ich Ihnen einiges erklären, Messieurs. Wir bedauern es sehr, daß Sie durch einen traurigen Zufall in eine kriegerische Auseinandersetzung gerieten. Die Menschen, die hier leben, sind im Grunde friedliebend, sind Jäger, Fallensteller und Fischer. Erst als die Irokesen ihre blutigen Eroberungszüge begannen, wurden die Algonquin gezwungen, sich zur Wehr zu setzen.“ „Und welche Rolle spielen die Huronen?“ fragte Hasard interessiert. „Sie wurden von den Irokesen vertrieben“, antwortete Pierre de Neuville. „Wie viele andere, waren Oskenonton und seine Sippe lange auf der Flucht. Hunderte von Meilen. Ihre Heimat an den Nordufern des SanktLorenz-Stroms mußten sie aufgeben. Es half ihnen bisher wenig, daß sie sich mit meinen Landsleuten, den Franzosen, verbündeten. Frankreich ist noch nicht stark genug in diesem fernen Land. Gegen
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den Expansionsdrang der mächtigen Irokesenstämme konnte noch niemand etwas ausrichten. Oskenonton wurde von Mowhemeho und den Bewohnern seines Dorfes Paspahegh freundschaftlich aufgenommen. In der Nähe des Dorfes errichteten die Huronen ein Notlager. Das war vor wenigen Wochen. Oskenonton hat die Odjibways von vornherein darauf hingewiesen, daß es Schwierigkeiten geben könne, weil sie von Häuptling Thayandanega und seinen Kriegern verfolgt würden. Thayandanega gehört dem Stamm der Seneca an. Das ist eins der mächtigsten Irokesenvölker. Mowhemeho beharrte trotz der zu erwartenden Gefahr auf seiner Gastfreundschaft,. und dann geschah es vor zwei Tagen. Die Irokesen tauchten auf wie aus dem Nichts. Wir haben uns mit allen Mitteln zur Wehr gesetzt, aber wir konnten nicht verhindern, daß das Notlager der Huronen in Flammen aufging. Nur Ihnen, Messieurs, haben wir es zu verdanken, daß nicht auch noch das Dorf Paspahegh vernichtet wurde. Odjibways und Huronen haben zahlreiche Tote zu beklagen, auch Frauen und Kinder. Nur durch das plötzliche Erscheinen Ihres Schiffes wurden Thayandanega und seine Krieger von ihrer Kriegstaktik abgelenkt. Die Menschen, die den Kampf überlebten, verdanken Ihr Leben Ihnen, Messieurs. Aber Sie haben sich auch einen Todfeind geschaffen. Thayandanega wird diese Demütigung niemals vergessen.“ „Wir hätten diese Meute mit Stumpf und Stiel ausrotten können“, sagte Ben Brighton. „Die Burschen sind nur deshalb noch am Leben, weil Hasard stets auf Fairplay bedacht ist. Dabei hätten die Irokesen keine Sekunde gezögert, uns das Lebenslicht auszublasen, wenn sie an uns herangekommen wären.“ Pierre de Neuville nickte grimmig. „Sie haben sie noch nicht richtig kennengelernt, Messieurs. Alle friedliebenden Stämme in diesem Land zittern vor der Grausamkeit und Mordlust der Irokesen. Und ich sage das wahrhaftig nicht, um Huronen oder Algonquin in ein besseres Licht zu rücken.“
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„Die Irokesen hatten keine Feuerwaffen, als sie uns angriffen“, entgegnete Hasard. „Kein anständiger Mensch hätte es fertiggebracht, sie mit gehacktem Blei in Stücke zu schießen.“ Pierre de Neuville klopfte lächelnd auf den Schaft seines Gewehrs. „Ich bin der einzige, der hier über so eine gute Freundin verfügt. Und ich gestehe ohne Scham, daß ich auf Irokesen schieße. Sie werden es noch verstehen, das schwöre ich Ihnen, Messieurs.“ Mowhemeho sagte etwas in seiner gutturalen, abgehackten Sprache und blickte dabei abwechselnd den Seewolf und den Franzosen an. „Ja, richtig“, sagte Pierre, „Mowhemeho möchte wissen, wie dieses faszinierende Schauspiel möglich war. Er nennt es ,fliegendes Licht', was letztlich die Irokesen in die Flucht schlug. Ich muß sagen, auch für mich war es beeindruckend, wie Sie diesen Feuerzauber veranstaltet haben.“ „Wir haben das aus dem Fernen Osten mitgebracht“, antwortete Hasard. „Es ist keine Kunst, nur ein bißchen Spielerei.“ „Unsere Höllenflaschen sind keine Spielerei“, fügte Ben Brighton hinzu. „Das, was diese Schurken davon zu spüren kriegten, war nur ein kleiner Vorgeschmack. Al Conroy, unser Stückmeister, wird Ihnen das alles genau erklären, Pierre.“ „Danke.“ De Neuville lächelte und wandte sich Mowhemeho zu. Es folgte ein kurzer Wortwechsel in der Sprache der Odjibways. Mowhemeho schüttelte mehrmals den Kopf, runzelte die Stirn und zuckte mit den Schultern. Dann redete Oskenonton auf ihn ein, und gestikulierend begannen die beiden Häuptlinge ein anhaltendes Palaver. Pierre de Neuville wandte sich wieder Hasard und Ben Brighton zu. „Mowhemeho kann nicht begreifen, was der Ferne Osten ist. Ich habe ihm gesagt, daß es ein Land auf der anderen Seite der Welt sei, daß die Algonquin einfache Leute sind. Die Huronen haben eine wesentlich höher entwickelte Kultur.“
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Oskenonton und Mowhemeho beendeten ihr Palaver. Der Hurone trat auf den Seewolf zu. „Gehen wir jetzt ins Dorf, Monsieur“, sagte er auf Französisch. „Sie und Ihre Männer sind herzlich eingeladen, unsere Gäste zu sein. Wenn Sie uns bitte folgen wollen ...“ Hasard wußte, daß er eine solche Einladung nicht abschlagen durfte, obwohl er keine Lust verspürte, sich allzu lange an Land aufzuhalten. „Ich schlage vor, Sie und Monsieur Brighton begleiten uns gleich jetzt“, sagte Pierre de Neuville. „Lassen Sie die Schiffsbesatzung folgen.“ „Einverstanden“, entgegnete Hasard. Ben Brighton drehte sich zum Boot um. „Smoky!“ „Ben?“ Der bullige Decksälteste richtete sich auf. „Teil vier Mann ein, die als Wache an Bord bleiben. Der Rest macht sich landfein. Die Leute hier wollen uns bewirten. In spätestens einer Stunde will ich euch in ordentlichem Aufzug sehen.“ „Aye, aye!“ brüllte Smoky zurück. „Die Zwillinge auch?“ „Selbstverständlich“, antwortete Hasard, „Siri-Tong wird auf sie achtgeben.“ „Aye, aye!“ rief Smoky, noch einmal. Dan O'Flynn sprang mit einem federnden Satz über das Dollbord und schob die Jolle ins tiefere Wasser. Dann pullten die vier Männer mit kraftvollen Schlägen auf die „Isabella“ zu. Mowhemeho befahl zweien seiner Krieger, am Ufer zurückzubleiben, damit sie später die Seewölfe in Empfang nehmen konnten. Vier Krieger, mit Bogen und Streitäxten ausgerüstet, gingen voraus. Die beiden Häuptlinge folgten ihnen mit würdevollen Schritten. Pierre de Neuville begleitete Hasard und Ben Brighton, und die restlichen Krieger bildeten die Nachhut. Unter dem dichten Laub der Bäume verlor die Sonne ihre ohnehin spärliche Kraft. Der Wald bestand aus Ulmen von kraftvollem Wuchs. Es war unschwer zu erkennen, daß die Indianer ihre Kanus aus den Rinden dieser Bäume konstruierten.
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Der Bodenbewuchs war niedrig und bestand überwiegend aus Farn und Moos. Nur stellenweise gab es dichteres Buschwerk. „Was hat Sie hierher verschlagen, Pierre?“ erkundigte sich Hasard, während sie einen geradlinig verlaufenden Pfad entlangschritten. Der Wald war still. Die Fauna schien in diesen Breiten äußerst spärlich zu sein. „Da gibt es nicht viel zu berichten“, erwiderte De Neuville. „Sicher haben Sie von meinem Landsmann Jacques Cartier gehört, der vor mehr als fünfzig Jahren den Sankt-Lorenz-Strom hinauffuhr. Damals fingen sie an, mit den Indianern Handel zu treiben, und letztere bezahlten in Naturalien. Unter anderem waren das Biberpelze.“ „Richtig“, sagte Hasard, „ich habe davon gehört. Es heißt, daß die Franzosen ganz verrückt nach diesen Pelzen seien.“ „Man hat sie Cartier förmlich aus der Hand gerissen, als er nach Frankreich zurückkehrte. Es wurde nämlich festgestellt, daß sich die Haare des Biberpelzes hervorragend zur Herstellung von Filz eignen. Seitdem hat Frankreich begonnen, diesen Handel in großem Umgang aufzuziehen. Erste Handelsstationen wurden am SanktLorenz-Strom errichtet. Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte sind immer mehr Männer landeinwärts gezogen, um die Indianer bei der Beschaffung von Biberpelzen als Verbündete zu gewinnen. Nun, ich bin einer dieser Männer. Im übrigen stamme ich aus Dieppe in der Normandie. Drüben, in der Alten Welt war ich Fischer, bevor ich mich einer Reise anschloß, die einer von Cartiers Nachfolgern unternahm. Da ich keine Familie habe, bin ich für das freie Leben in dieser Wildnis hervorragend geeignet.“ „Wie lange sind Sie schon hier?“ wollte Ben Brighton wissen. „Im Dorf Paspahegh sind es jetzt zwei Jahre. Aber alles in allem lebe ich schon fünf Jahre in diesem kalten Land. Man muß es kennen, um es zu mögen.“
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„Gibt es geographische Aufzeichnungen über diese Bucht?“ fragte Hasard. Pierre schüttelte den Kopf. „Nicht daß ich wüßte. Ich habe die Bucht der Häuptlinge auf dem Landweg erreicht. So lange, wie ich bei den Odjibways lebe, so lange war ich zuvor auch unterwegs. Inzwischen habe ich hier die besten Freunde gewonnen, die ich jemals in meinem Leben hatte.” Brandgeruch war jetzt zu spüren. Die Männer brachen ihr Gespräch ab. Vor ihnen lichtete sich der Wald, und wenig später standen sie vor einem Bild der Zerstörung. Von Hütten, die offenbar erst im Bau gewesen waren, standen nur noch verkohlte Gerippe. Der Boden der Lichtung war mit schwarzer Asche bedeckt. „Alles, was Oskenonton und seine Sippe besaßen, ist verbrannt“, erklärte Pierre de Neuville. „Sie haben notdürftig in Zelten gelebt, die sie Wigwams nennen, und hatten damit angefangen, sich feste Häuser zu bauen, wie sie es aus ihrer Heimat gewohnt sind. Nichts ist ihnen davon geblieben. Aber das allein wäre nicht so schlimm, daß sie es nicht verkraften könnten. Sie werden noch sehen, Messieurs.“ Hasard und Ben Brighton wechselten einen stummen Blick. So unterschiedlich die Länder dieser Welt auch waren, so sehr ähnelten sich doch die Menschen, wenn sie Haß und Feindseligkeiten freien Lauf ließen. Sie setzten ihren Weg durch den Wald fort. Nur etwa eine halbe Meile betrug die Entfernung bis zu dem Dorf, das von seinen Einwohnern Paspahegh genannt wurde. Unwillkürlich verharrten Hasard und Ben Brighton am Waldrand. Was sie vor sich sahen, stand in krassem Gegensatz zu jenen- Berichten, die sie über die Indianer in den tropischen Breiten der Neuen Welt gehört hatten. Das Dorf lag am Nordende eines langgestreckten Sees; der sich am südlichen Horizont vor dem Hintergrund bewaldeter Hügel verlor. Die Ufer des Sees
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waren verschilft, an Land wogte hohes Gras im sanften Wind. In den Schilffeldern gab es mehrere kleine Buchten, in denen Kanus lagen. Diese Boote waren jedoch wesentlich kleiner als jene, mit denen die kriegerischen Irokesen die „Isabella“ angegriffen hatten. Das flache Grasland an den Seeufern erstreckte sich auf zweihundert bis dreihundert Yard Breite und wurde von den Ulmenwäldern umsäumt, die für dieses Land so typisch zu sein schienen. Paspahegh bestand aus mehr als dreißig Rundhütten, die in geraden Linien aufgereiht waren. Dächer und Wände der Hütten waren aus Ulmenrinde säuberlich zusammengefügt. Ordnung schien im übrigen der beherrschende Zustand in dieser Indianersiedlung zu sein. Es gab keine herumliegenden Abfälle, Unrat oder sonstige Zeichen menschlicher Nachlässigkeit. Der Ort wirkte wie ausgestorben. Nirgendwo war eine Menschenseele zu sehen. Oskenonton und Mowhemeho gaben dem Franzosen ein knappes Handzeichen. Pierre de Neuville nickte. „Wenn Sie bitte folgen wollen, Messieurs“, wandte er sich an Hasard und Ben Brighton. „Ich kann es Ihnen leider nicht ersparen. Meine Freunde wollen Ihnen demonstrieren, für was Sie sich mit der Bezwingung von Thayandanega eingesetzt haben.“ „Das kann ich verstehen“, entgegnete Hasard. Während sich die Krieger absonderten und dem Mittelpunkt des Dorfes zustrebten, gingen Ben Brighton und er gemeinsam mit den beiden Häuptlingen und dem Franzosen auf den östlichen Ortsrand zu. Erst als sie die letzte Reihe der Rundhütten hinter sich ließen, hörten sie die Laute — ein leises, vielstimmiges Schluchzen und Wimmern. Unartikulierte Laute, von denen sich nicht sagen ließ, ob es Wortfetzen waren oder nur Silben, die keine andere Bedeutung hatten, als grenzenlosen Schmerz auszudrücken.
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Es waren ausnahmslos Frauen, die dichtgedrängt am Boden kauerten. Ihre dicke Fellkleidung machte sie zu einer gleichförmigen Schar des Jammers. An die hundert Frauen mochten es sein, die hier zu leiser Klage versammelt waren. Es gab nicht jenes herzzerreißende Geschrei, wie es die Klageweiber anderer Völker anzustimmen pflegten. Die Trauer dieser Huronen- und Odjibway-Frauen war subtiler, fast so, als wollten sie den Schmerz für sich behalten. Die Häuptlinge gingen voraus, bis an den Rand der Trauergemeinschaft. Hasard und Ben Brighton stockte der Atem. Die Toten waren auf Reisigholz gebettet, dicht nebeneinander, in dem Grauen ihrer Sterblichkeit zu körperlicher Nähe vereint. Keine Decken verhüllten die geschundenen Körper, nichts ersparte den Lebenden die Gewißheit über die furchtbaren Qualen, die mit den letzten Atemzügen dieser Menschen einhergegangen waren. Ben Brighton mußte sich abwenden. Sein Gesicht war kalkweiß. Und auch Hasard spürte ein beklemmendes Gefühl in der Magengegend. Nicht nur Krieger hatten im Kampf gegen die Irokesen ihr Leben gelassen. Auch Frauen und Kinder waren brutal niedergemetzelt worden. Im Tode lagen sie vereint, auf furchtbare Weise verstümmelt. Jene, die sie umgebracht hatten, waren mit ihrem Tod nicht zufrieden gewesen. Sie hatten sich in einem wahren Blutrausch unvorstellbaren Trieben hingegeben, zu denen kaum ein Raubtier fähig sein konnte. „Mein Gott“, sagte Hasard mit belegter Stimme. Auch er mußte sich jetzt abwenden. „Wenn ich das gewußt hätte ...“ Pierre de Neuville übersetzte es für die beiden Häuptlinge. „Wir verstehen die Gedanken des weißen Mannes“, erwiderte Oskenonton auf Französisch. Sie überließen die Frauen ihrer Trauer. „Ich denke, Sie können es jetzt verstehen“, sagte Pierre de Neuville leise, während sie dem Zentrum des Dorfes zustrebten. „Für mich ist nur ein toter Irokese ein guter
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Irokese. Was Sie Fairplay nennen, ist diesen Bestien gegenüber unangebracht.“ „Vielleicht hätten wir sie nicht lebend entkommen lassen sollen“, murmelte der Seewolf nachdenklich. „Thayandanega wird es Ihnen niemals danken, falls er Ihnen noch einmal gegenüberstehen sollte. Die Irokesen sind Perfektionisten in der Kunst, einen Menschen langsam und qualvoll sterben zu lassen. Sie töten ihre Gefangenen Stück für Stück, und das dauert Stunden oder gar Tage. Einzelheiten darüber kann ich Ihnen wohl ersparen.“ Im Zentrum des Dorfes Paspahegh gab es ein großes Langhaus, das gleichfalls aus. Ulmenrinde gebaut war. Das solide Gebäude war etwa dreißig Yards lang und zehn Yards breit. Drinnen hatten sich die Krieger der Huronen und der Odjibways versammelt. 4. Die Sonne stand tief über den Wäldern im Westen. Das Licht des späten Nachmittags warf lange Schatten. Auf der spiegelglatten Wasseroberfläche des Sees glitzerten Reflexe, wenn Fische emporschnellten. Die beiden Jungen standen vor einer der Rundhütten und betrachteten einen hölzernen Rahmen, der an zwei senkrechten Pfählen aufgehängt war. Zwischen den Verstrebungen des Rahmens war ein halbfertiger Knüpfteppich gespannt, dessen leuchtende Farben ein bizarres Muster bildeten. „Frauenarbeit“, sagte Philip junior, und es klang nicht besonders begeistert. „So was ist ziemlich schwierig“, entgegnete Hasard junior. „Sag bloß nicht, daß du das fertigkriegen würdest.“ „Will ich auch nicht. Meinetwegen kann es so schwierig sein, wie es will. Auf jeden Fall ist es nichts für Männer.“ „Die Frau, die du später mal kriegst, tut mir jetzt schon leid. Ein Mann sollte sich auch mal für das interessieren, was eine Frau tut.“ Philip junior lachte und versetzte seinem Bruder einen Stoß gegen die Schulter.
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„Du sprichst aus Erfahrung, was?“ „Blödsinn!“ „Nein, nein, ich weiß genau, woher du deine Anwandlungen hast. Ich erinnere mich an diese kleine dicke Polly Malone, die immer bei Doc Freemont am Gartenzaun stand und durch die Latten starrte. Die war mächtig hinter dir her. Manchmal hat sie stundenlang dagestanden, nur um einen Nasenzipfel von dir zu sehen. Kannst du dir denken, warum?“ „Keine Ahnung.“ Hasards Ohren röteten sich leicht, und er betrachtete das TeppichKnüpfwerk noch intensiver als zuvor. „Ich will's dir sagen“, Philip kicherte. „Die dicke Polly hat nämlich keinen anderen abgekriegt. Glaubst du, ein normaler Bursche würde sich mit so einer überfütterten Nudel abgeben?“ Hasard wirbelte herum. „Soll das heißen, ich wäre nicht normal, du Stint?“ „Ha!“ schrie Philip mit ausgestrecktem Arm. Gleichzeitig wich er zurück. „Also gibst du zu, daß du was mit ihr hattest! Also gibst du es zu!“ Hasard warf sich mit einem Satz auf ihn. Im nächsten Moment wälz- ten sich die beiden Jungen auf dem weichen Erdboden zwischen zwei Rundhütten. Philip kicherte ununterbrochen, was seinen Bruder noch mehr aufstachelte. Zweimal schaffte Hasard es, Philip auf den Rücken zu werfen und sich mit den Knien auf seine Oberarme zu hocken. Aber jedesmal kam Philip wieder frei, und die Balgerei begann von neuem. Dabei entfernten sie sich Yard um Yard von den Rundhütten. Unvermittelt hörten sie Schritte, leise Schritte. Die beiden Jungen hielten inne, rappelten sich auf und klopften sich den Staub aus der Kleidung. Der Krieger, der vor ihnen stand, war groß und muskulös. Er hatte diesen häßlichen kahlen Schädel wie alle anderen, und die herabhängende Skalplocke sah nach den Begriffen der Zwillinge mehr als komisch aus. In einem Rohhautstrick, den er um die Hüfte geschlungen hatte, steckte ein Kriegsbeil. In der rechten Hand hielt er
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einen Bogen. Der Lederköcher mit den Pfeilen hing auf seinem Rücken. Der Krieger sagte drei, vier Worte. Seine Stimme war rauh und kehlig. Dazu bewegte er energisch die Hand. „Ich glaube, wir sollen das Dorf verlassen“, flüsterte Philip seinem Bruder zu. „Das ist es, was er meint.“ Hasard nickte. „Also halten wir uns besser daran. Sonst kriegen wir womöglich noch Ärger.“ Gehorsam trotteten sie zurück bis vor das Langhaus, in dem sich die Crew der „Isabelle“ gemeinsam mit den Indianern versammelt hatte. Erst jetzt zog sich der Krieger wieder zurück auf seinen Posten, den die Jungen nicht kannten. „Stinklangweilig hier“, sagte Philip mißmutig und zog mit der Schuhspitze einen Strich in den Erdboden. „Warum gehst du nicht rein zu den Männern? Du bist doch so sehr für Männersachen.“ „Da ist es auch langweilig. Was die Indianer sagen, kann man nicht verstehen, und Dad und die anderen reden doch nur mit dem Franzosen.“ Hasard nickte zustimmend. „Ich versteh gar nicht, wieso hier keine anderen Jungen zu sehen sind.“ „Ich glaube, die haben alle Order gekriegt, sich in ihre Hütten zu verkriechen. Irgendetwas stimmt hier nicht. Frauen sind auch nicht zu sehen.“ Die Zwillinge wußten nicht, daß die von Oskenonton und Mowhemeho aufgestellten Posten strikte Anweisung hatten, die beiden Söhne des Seewolfs nicht zu jener Stelle vordringen zu lassen, an der die Toten zur Ruhe gebettet waren. Pierre de Neuville hatte die Häuptlinge um diese Order gebeten, und sie hatten Verständnis dafür gezeigt, denn auch die Kinder der Odjibways und ihre überlebenden Altersgenossen aus der Sippe der Huronen wurden nicht zu den Toten gelassen. „Ich habe eine Idee“, sagte Hasard unvermittelt. „Und die wäre?“ Philip hob den Kopf. Sein Interesse erwachte. Hasard deutete zum
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See hin. Am Ende der Gasse zwischen den Rundhütten befand sich eine der kleinen Buchten, in der mehr als ein halbes Dutzend Kanus lagen. „Es hätte bestimmt keiner was dagegen, wenn wir so eine Nußschale mal ausprobieren.“ Philips Augen leuchteten auf. „Nicht schlecht, die Idee. In so einem Ding sind wir noch nie herumgeschippert.“ Den Gedanken in die Tat umzusetzen, war nur eine Frage von Minuten. Lautlos schlichen die beiden Jungen an den Hütten entlang. Dabei verharrten sie in kurzen Abständen an den Wänden aus Ulmenrinde, um sich zu vergewissern, daß sie nicht beobachtet wurden. Und unbehelligt erreichten sie die kleine Bucht. Hasard schlüpfte als erster in eins der Kanus. Das leichte Ding schwankte bedrohlich, aber Hasard schaffte es mühelos, die Balance zu halten. Philip löste das Rohhautseil, mit dem das Boot an einem Pfahl festgebunden war. Dann folgte er seinem Bruder. Beide ergriffen sie eins der Paddel. Es gab keine Duchten, wie sie es von den Beibooten der „Isabella“ kannten. Aber sie hatten die angreifenden Irokesen genau beobachtet, und so wußten sie, daß die Indianer sich im Kanu hinknieten, wenn sie paddelten. Hasard hockte sich vorn ins Boot, und Philip übernahm den Platz achtern. Da sie kein Gebrüll in dieser gutturalen Odjibway-Sprache hinter sich hörten, wußten sie, daß niemand sie gesehen hatte. Die Posten hatten offenbar Anweisung, mehr auf das Ufergelände als auf den See zu achten. Einer kleinen Rundfahrt über die stille Wasserfläche stand also nichts mehr im Wege. Die beiden Jungen fanden rasch heraus, daß sie haargenau im Takt paddeln mußten, wenn sie das Boot auf geradlinigem Kurs halten wollten. Sie stellten ebenso fest, daß man es auch vom Heck aus allein fortbewegen konnte, indem man nämlich das Paddel durch geschickte Drehbewegungen gleichzeitig als Steuerruder verwendete.
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„Bleiben wir lieber dicht am Ufer“, sagte Hasard. Er rutschte hin und her, weil ihm die Knie auf den harten Spanten aus gebogenen Ästen schmerzten. „Wieso das?“ entgegnete Philip. „Hast du etwa Angst?“ „Red keinen Unsinn. Merkst du nicht, wie leicht diese Nußschale ist? Wenn stärkerer Wind aufkommt, könnte es passieren, daß wir abgetrieben werden.“ „Hm, na gut, meinetwegen.“ Hasards Vorschlag entsprechend, fuhren sie dicht an den Schilffeldern entlang in südlicher Richtung. Die Rundhütten des Dorfes blieben hinter ihnen zurück und waren bald nicht mehr zu sehen. Unvermittelt hielt Hasard inne und wandte sich um. Das Boot begann sich zu drehen, da Philip nicht sofort reagiert und das Paddel noch eingetaucht hatte. „He, was soll das?“ schrie er. „Sag gefälligst vorher Bescheid, wenn du den Kurs ändern willst.“ Er tunkte das Paddel noch einmal ins Wasser und steuerte gegen. „Ich meine nur, wir sollten vielleicht umkehren“, sagte Hasard. „Du weißt, welchen Aufstand sie immer gleich veranstalten, wenn sie uns nur mal für einen Moment aus den Augen verlieren.“ Aus der Drehbewegung heraus glitt das Boot gegen den Rand des Schilffeldes. Ein leises Rascheln war zu hören. Hasard erstarrte vor Schreck. Seine Augen weiteten sich voller Angst. „Was ist heute bloß los mit dir?“ murmelte Philip kopfschüttelnd. „Hast du die Hosen voll oder ...“ Seine Stimme erstickte in einem Gurgeln, als sich plötzlich eine derbe Hand auf seinen Mund legte. Und nun erschrak auch Philip zu Tode. Aus den Augenwinkeln heraus sah er einen muskulösen bronzehäutigen Arm, der sich um seinen Oberkörper geschlungen hatte. Hasard wollte schreien. Er schaffte es nicht mehr. Aus dem Schilf tauchte ein zweiter Krieger auf. Kahlköpfig, mit grausamem Lächeln. Das Wasser reichte den Kerlen nur bis zu
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den Hüften, und die Kälte schien ihnen nicht das. Geringste anzuhaben. Mühelos zogen sie das Kanu zu sich heran und zerrten die beiden verzweifelt zappelnden Jungen an Land. Das Boot kenterte. Kieloben trieb es langsam auf den See hinaus. * Das Trockenfleisch stammte von Caribous, wie Pierre de Neuville berichtet hatte. Aufgeweicht war es ungewöhnlich zart und von feinem Aroma. Dazu gab es eine Art Mehlbrei, für den Pierre nur einen unaussprechlichen Namen in der Odjibway-Sprache kannte. Siri-Tong hatte es am meisten beeindruckt, daß diese Eingeborenen keineswegs auf dem Fußboden hockten und auch in dieser Haltung aßen. Nein, sie hatten Tische und Sitzbänke, und die besaßen sie nicht etwa deshalb, weil der Franzose ihnen gesagt hatte, wie man so etwas baute. Diese Indianer verfügten über eine Menge Kenntnisse, erstaunliche Kenntnisse, die frei von jedweden europäischen Einflüssen waren. Denn Pierre de Neuville war der erste weiße Mann, den das Dorf Paspahegh jemals gesehen hatte. Anders bei den Huronen, die weiter südlich im Gebiet diesseits des St.-Lorenz-Stroms lebten. Sie waren bereits Verbündete der Franzosen, die dort ihre ersten Handelsstationen errichtet hatten. Das Langhaus, das den Dorfbewohnern sonst als Versammlungsraum diente, war angefüllt vom Stimmengewirr der Männer. Zwischen den Seewölfen und den Indianern entstanden erste Gespräche, die allerdings überwiegend mit Gesten geführt wurden. Englisch verstand keiner der Indianer, und die wenigen Brocken Französisch, die die Männer der „Isabella“ beherrschten, reichten gerade aus für eine mühsame Verständigung mit den Huronen, die wesentlich wortgewandter. waren als die Odjibways. Siri-Tong unterbrach Hasard, der mit Pierre de Neuville in, eine angeregte Unterhaltung über die Entwicklung der
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französischen Handelsbeziehungen zur Neuen Welt vertieft war. „Ich werde kurz nach dem Rechten sehen“, sagte die Rote Korsarin, „es ist so verdächtig ruhig draußen.“ Hasard drehte sich um und lächelte. „Ich weiß. Das ist immer ein schlechtes Zeichen. Wenn sie still sind, hecken sie etwas aus.“ Siri-Tong erwiderte sein Lächeln, stand auf und schlüpfte durch den fellverhangenen Ausgang des Langhauses ins Freie. Einen Moment blickte sie suchend nach allen Seiten. Dann ging sie auf und ab, wobei sie in jede einzelne der Gassen zwischen den Rundhütten spähte. Schließlich formte sie die Hände zu einem Trichter vor dem Mund. „Philip! Hasard!“ Sie rief es mehrmals. Keine Antwort. Wahrscheinlich hatten sich die beiden kleinen Teufelsbraten wieder irgendwo versteckt und versuchten, einen Schabernack mit ihr zu treiben. Zornig preßte Siri-Tong die Lippen aufeinander und lief an dem Langhaus vorbei zum südlichen Ende des Dorfes. Hier wiederholte sie ihre Rufe. Abermals ohne Erfolg. Aus dem Schatten einer der Rundhütten am Ortsrand löste sich unvermittelt die Silhouette eines Kriegers. Es war ein großer, breitschultriger Mann mit der üblichen Skalplocke, die wie ein Fremdkörper hinten an seinem kahlen Schädel hing. Die Rote Korsarin hatte mittlerweile gelernt, Huronen von Odjibways zu unterscheiden. Erstere waren von wesentlich größerem und schlankerem Wuchs. Offenkundig also, daß es sich bei diesem hier um einen Huronen handelte. Eindrucksvolle Muskeln spielten unter den Fransen seiner ledernen Jackenärmel. „Madame?“ sagte der Krieger freundlich. Sein Gesicht war wie aus Bronze gemeißelt. „Oh, vous parlez Francais?“ entgegnete Siri-Tong überrascht. „Sie sprechen Französisch?“ „Trés peu, Madame“, antwortete der Hurone. „Sehr wenig.“
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„Ich suche die beiden Jungen“, fuhr die Rote Korsarin in der Sprache fort, die dieses Volk von Pierre de Neuville und seinen Landsleuten zu lernen begann. „Entweder haben die beiden sich versteckt, oder sie haben angefangen, auf eigene Faust die Gegend zu erforschen.“ Der Hurone runzelte die Stirn. Er hatte nicht alles verstanden, aber immerhin genug, um zu wissen, was zu tun war. „Cherchons“, sagte er kurzentschlossen, „suchen wir.“ Ohne Siri-Tongs Antwort abzuwarten, drehte er sich um und setzte sich mit langen federnden Schritten in Bewegung. Die Rote Korsarin folgte ihm notgedrungen. Sie wußte nicht, wie sie ihm verdeutlichen sollte, daß man ei, ne Suche besser organisierte und nicht einfach aufs Geratewohl losmarschierte. Aber andererseits kannte der Mann vermutlich die Gegend genau und wußte, wo man zuerst suchen mußte. Siri-Tong hatte Mühe, Schritt zu halten. Sie ertappte sich dabei, wie sie die Bewegungen des hochgewachsenen Kriegers beobachtete. Obwohl das Gras bis zu den Knien reichte, bewegte er sich nahezu geräuschlos. Unvermittelt blieb er stehen. Sie waren kaum hundert Yards vom Dorfrand entfernt. Er streckte den Arm aus und zeigte auf den See. „Dort, Madame.“ Siri-Tong blickte in die angegebene Richtung und erschrak. Das Kanu trieb kieloben in der Mitte des Sees. „Um Himmels willen“, sagte sie fassungslos, „Sie meinen, daß Philip und Hasard mit dem Boot ...“ „Huronen und Odjibways kein Kanu genommen“, entgegnete der Krieger in abgehacktem Französisch. „Ist aber Kanu aus Paspahegh.“ Wortlos setzte er seinen Weg fort, ging jetzt dicht am Ufer entlang und spähte suchend in das Schilfdickicht. Nach etwa zwanzig Yards verharrte er abermals. „Dort!“ Er zeigte in die wogenden Halme. Gleichzeitig zog er die Streitaxt aus dem
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Rohhautseil, das um seine Hüfte geschlungen war. Siri-Tong konnte in dem Schilf beim besten Willen nichts entdecken, was auffällig gewesen wäre. Jeder Halm sah so aus wie der andere. Unwillkürlich tastete sie jedoch nach dem Entermesser, das sie bei sich trug. Die Haltung des Huronen hatte sich merkwürdig gespannt. Er wandte sich ab und ging langsam landeinwärts, wobei er suchend in das Gras spähte. Siri-Tong folgte ihm. Wenn es eine Spur gab, so konnte sie auch diese nicht erkennen. Sie erreichten den Waldrand. Der Hurone setzte seinen Weg fort. Im Halbschatten unter den Baumkronen war es kälter als draußen in der Sonne. Siri-Tong begann zu frösteln. Doch es war nicht nur die Temperatur, die das bewirkte. Absolute Stille umgab sie. Der Hurone bewegte sich jetzt völlig lautlos, er schien nahezu über den Boden zu gleiten. Einmal drehte er sich kurz um und legte warnend den Zeigefinger an die Lippen. Siri-Tong bemühte sich, so wenige Geräusche wie möglich zu verursachen. Aber sie mußte sich eingestehen, daß der hünenhafte Krieger ihr in dieser Beziehung weit überlegen war. Siri-Tong zog das Entermesser. Eine instinktive Regung veranlaßte sie dazu. Plötzlich stoppte der Hurone seine Schritte, als sei er gegen eine unsichtbare Wand geprallt. Siri-Tong wich ein Stück beiseite, denn er versperrte ihr das Blickfeld. Im selben Moment krallte sich etwas Eisiges um ihr Herz. Dort vorn hockten sie nebeneinander auf einer kleinen Lichtung. Mit großen Augen blickten sie herüber, ihre Gesichter waren unnatürlich bleich. Kein Wort drang über ihre Lippen. Die Rote Korsarin kam nicht mehr dazu, weitere Einzelheiten zu registrieren. So sah sie nicht, daß den Jungen die Arme auf den Rücken gefesselt waren. Der Hurone geriet in jähe Bewegung. Ein urwelthafter Schrei entrang sich seiner Kehle. Er warf sich nach vorn.
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Das Kriegsbeil, das er eben noch in der Hand gehalten hatte, schwirrte durch die Luft, über die Köpfe der Zwillinge weg. Es gab einen flirrenden Lichtreflex. Ein dumpfer Schlag folgte. Dann ein markerschütternder Schmerzensschrei. Aus dem Gebüsch hinter den Jungen schraubte sich eine Gestalt hoch. Seltsam verkrampft. Ein Indianer. Die Streitaxt hatte ihm den Schädel gespalten. Sein Schrei erstarb, noch bevor er zu Boden sank. Einen Sekundenbruchteil war Siri-Tong vor Grauen wie erstarrt. Der Hurone rollte sich auf dem Baden ab und schnellte federnd wieder hoch. Abermals zerriß dieses furchtbare schwirrende Geräusch die Luft. Dann ein Klatschen. Der Hurone schien von einer unsichtbaren Faust getroffen zu sein. Ein Zittern lief durch seinen muskulösen Körper. Dann sank er hintenüber, ohne noch einen Laut von sich zu geben. Ein Kriegsbeil hatte ihn auf die gleiche grauenhafte Weise getötet, mit der er eine Sekunde zuvor den scheinbar unsichtbaren Gegner ausgeschaltet hatte. Der Roten Korsarin blieb keine Zeit, sich von dem Entsetzen zu erholen. Plötzlich wurde es im Unterholz rings um die Lichtung lebendig. Bronzehäutige Gestalten tauchten auf und drangen mit gutturalen ' Lauten auf die junge Frau ein. Sie erwachte aus ihrer Erstarrung und entsann sich des Entermessers. In dem Durcheinander sah sie noch, daß zwei der Krieger die Zwillinge wegzerrten und sie am Schreien hinderten. Dann war sie von der Meute umzingelt. Siri-Tong kämpfte mit der Verbissenheit einer Löwin. Ihr Entermesser blitzte, und einer der kahlköpfigen Kerle sank mit einem gurgelnden Schrei zu Boden. Doch im nächsten Moment traf ein Hieb ihren Arm. Das Entermesser entfiel ihren kraftlosen Fingern. Ihr blieb keine Zeit mehr, zu schreien. Nicht einmal mehr Verwunderung darüber, daß diese Bestien sie nicht sofort töteten.
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Ein harter Schlag ließ sie in einen nachtschwarzen Abgrund stürzen. 5. Bills Zähne klapperten zum Gotterbarmen. Vom Steuerbordschanzkleid aus blickte er in die untergehende Sonne, deren Strahlen nur noch geringe wärmende Wirkung hatten. „Junge, Junge“, sagte Big Old Shane väterlich und klopfte ihm auf die Schulter. „Du solltest lieber in die Kombüse verschwinden und dich am Feuer aufwärmen.“ Der Moses schüttelte energisch den Kopf. „Nein, Sir, vielen Dank. Das war der verdammte Wind, der mich zum Frieren gebracht hat. Jetzt habe ich die Sonne von vorn, und das ist die gesündeste Art, sich aufzuwärmen.“ „Komische Logik, das“, murmelte Big Old Shane achselzuckend. „Na, warte mal einen Moment.“ Er wandte sich ab und stapfte mit schweren Schritten über die Kuhl. Bill blickte mit verträumten Augen zum Uferstreifen. Sicher, morgen würde auch er mit an Land gehen. Er war freiwillig an Bord geblieben, denn er mußte sich erst einmal von den harten Stunden im Großmars erholen. Aber morgen würde er mit dabei sein, um zu sehen, was für eine fremde Welt es war, die sie hier angesteuert hatten. Der Schmied von Arwenack kehrte zurück. „Hier, Bill, trink das.“ Bill drehte sich um. Sein Blick wurde mißtrauisch, als er den Krug sah, den ihm der bärtige Riese entgegenhielt. „Aber Sir, das ist ja Rum!“ Bill rümpfte die Nase, als er den Duft des hochprozentigen Karibik-Produkts witterte. „Was willst du damit sagen?“ grollte Big Old Shane. „Daß ich - ich meine, ich kann doch keinen Rum ...“ „Ist dir kalt oder nicht?“ „Ja, Sir, aber ...“ „Bist du ein Mann oder nicht?“
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Bill schluckte. Dann straffte er sich und warf d Kopf in den Nacken. „Selbstverständlich, Sir.“ „Na also. Dann mußt du dich beizeiten daran gewöhnen. Hin und wieder ist dir ein Schluck von dem Zeug gestattet. Wenn es angebracht ist, verstehst du? Etwas besseres gibt es nicht, um sich von innen aufzuwärmen. Aber laß dich nur nicht in Versuchung bringen, das Zeug jeden Tag in dich hineinzukippen. Das läßt den Verstand in deinem Kopf schrumpfen. Hast du das begriffen?“ „Ich glaube ja, Sir.“ „Gut. Etwas zu kennen, genügt, mein Freund. Alles, was zur Gewohnheit wird, ist meistens von Übel. Und nun runter damit!“ Bill setzte den Krug an die Lippen und nahm einen ersten Schluck. Augenblicklich hatte er das Gefühl, das Höllenfeuer des Leibhaftigen sei ihm durch den Schlund geronnen. Er hustete, rang nach Atem und wurde krebsrot im Gesicht. „Bist wohl doch noch kein Mann“, sagte Big Old Shane und grinste. Bill gab sich einen Ruck und bezwang das Höllenfeuer, das ihn von innen zu zerfressen schien. Mit Todesverachtung setzte er den Krug erneut an und schluckte. Seine Augen weiteten sich jäh. Er erstarrte. „Was, zum Teufel, ist jetzt los?“ knurrte Big Old Shane. „Haut es dich etwa aus den Stiefeln?“ Bill ließ den Krug ruckartig sinken. „Sir, um Himmels willen, sehen Sie doch!“ Er reckte den freien Arm nach Steuerbord voraus. Und schlagartig begriff auch Big Old Shane, daß es keineswegs der Rum war, der den Moses aus der Fassung gebracht hatte. Vier Kanus waren es, die unter peitschenden Paddelschlägen heranjagten. Fast bis auf zwei Fadenlängen hatten sie sich schon genähert. Die kahlköpfigen Krieger mußten sich mucksmäuschenstill verhalten haben, als sie aus der Flußmündung aufgetaucht waren. „Verdammte Hundesöhne!“ knurrte der ehemalige Schmied von Arwenack. „Ihr
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könnt es nicht lassen, wie? Aber diesmal gibt es kein Pardon für euch, darauf könnt ihr Gift nehmen.“ Bill wirbelte herum, ließ den Krug auf eine Taurolle fallen, daß der kostbare Rum überschwappte. Mit langen Sätzen hastete der Moses zum Kombüsenschott. Big Old Shane verharrte nur noch einen Moment, bis er Gewißheit hatte. Der keifende Häuptling war diesmal nicht dabei. Jedenfalls stand er nicht aufrecht im Boot wie zuvor. Anscheinend hatte er seine Leute losgeschickt, damit sie für ihn die Suppe auslöffelten. Nun, sie sollten sich gründlich damit verrechnen. Eineinhalb Fadenlängen waren sie noch entfernt. Shane stieg zur Back hinauf und klarierte die Drehbasse an Steuerbord. Ein scharfes Zischen zerriß die Luft. Gleich darauf gab es dieses Klatschen, das sie an Bord der „Isabella“ nun schon zur Genüge kennen gelernt hatten. Big Old Shane zuckte unwillkürlich zusammen. Er drehte sich um und sah einen zitternden Pfeil, der sich in den Fockmast gebohrt hatte. Shane stieß einen Fluch aus. Die Entfernung war noch zu groß für einen präzisen Bogenschuß. Aber diese bronzehäutigen Teufel waren trotzdem verdammt gut, wenn sie es verstanden, ihn auf diese Distanz fast zu erwischen. Geduckt lud er die Drehbasse fertig. Über das Schanzkleid hinweg sah er sie, wie sie unaufhaltsam paddelten, als wollten sie die Wache auf der Galeone allein durch ihre Verbissenheit überwältigen. Keine Frage, daß sie irgendwo gelauert und beobachtet hatten, daß der größte Teil der IsabellaCrew an Land gegangen war. Auf der Kuhl wurde es lebendig. Al Conroy und Gary Andrews eilten auf die Back. Sie schleppten Pulver und Munition. Gary hatte sich zusätzlich eine Muskete unter den gesunden Arm geklemmt. Sein Schulterverband unter der dicken Jacke ließ ihn breitschultriger erscheinen. Sie legten das Zeug neben der Drehbasse ab.
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„Diesmal kommen sie nicht so billig davon“, erklärte Big Old Shane grimmig. „Es ist mir egal, was Hasard sagt. Wir lassen uns von diesen Satansbraten nicht mit Pfeilen spicken.“ „Hasard wäre der letzte, der dafür kein Verständnis hätte“, entgegnete der schwarzhaarige Stückmeister. „Immerhin sieht die Lage jetzt ein bißchen anders aus.“ Die Indianer-Kanus waren auf eine Fadenlänge heran. Nach grober Schätzung waren es mehr als dreißig Krieger, die es diesmal auf die Galeone abgesehen hatten. „Übernimm du das“, sagte Big Old Shane und deutete auf die Drehbasse. Er hielt sich geduckt, denn die Gefahr, von einem Pfeil durchbohrt zu werden, wuchs von Sekunde zu Sekunde. Al Conroy lächelte kalt. Jeder an Bord kannte seine Fähigkeiten. Alles, was mit Pulver und Blei zu tun hatte, beherrschte er meisterhaft. „Dem alten O'Flynn und dem Moses habe ich ein paar Höllenflaschen in die Hand gedrückt“, erklärte er, während er sich hinter der Drehbasse langsam aufrichtete. Gary Andrews hatte mittlerweile die Muskete geladen. Bill schleppte ein Kupferbecken mit glimmender Holzkohle herauf und hastete zurück auf die Kuhl. Al Conroy zog eine Lunte aus der Tasche und hielt sie in die Kohlenglut. Funken begannen zu sprühen. Wieder dieses Zischen. Kurz nacheinander sirrten zwei Pfeile über die Männer weg. Der Stückmeister riß die Drehbasse in Anschlag. Anvisieren und Zünden waren Sache eines Atemzugs. Das Zündkraut sprühte grelle Funken. Die Galeone lag ruhig. Selten hatte Al Conroy so hervorragende Voraussetzungen für seine Schüsse. Die Kanus liefen enorme Fahrt und hatten sich bereits auf fast eine halbe Fadenlänge genähert. Brüllend entlud sich das Rohr der Drehbasse. Weißlich rot leckte die Glut des Mündungsfeuers. Das gehackte Blei orgelte den Angreifern gebündelt entgegen,
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rauschte vor dem Bug des mittleren Kanus ins Wasser und riß eine mehr als sechs Fuß hohe Fontäne empor. Gellende Entsetzensschreie wurden laut. Noch unter der kalten Dusche, die auf sie niederprasselte, drehten die Irokesen ab. Nicht so die drei anderen Kanus. Mit wilder Entschlossenheit hielten die Krieger ihren Kurs, peitschten die Paddel in rasendem Rhythmus in die eisgrauen Fluten. Die, die abgedreht hatten, versuchten es mit ihren Bogen. Ein Pfeilhagel schwirrte tief über das Schanzkleid der „Isabella“. Fluchend gingen die Männer in Deckung. Big Old Shane hatte die Muskete von Gary Andrews entgegengenommen. Blitzschnell richtete er sich auf und hatte die Waffe im selben Atemzug in Anschlag. Al Conroy hatte sich die glimmen-, de Lunte zwischen die Zähne geklemmt, wischte das Rohr und lud die Drehbasse in fieberhafter Hast nach. Big Old Shane drückte ab. Die Muskete peitschte hell. Im Kanu der Bogenschützen riß einer der Krieger die Arme hoch. Sein Schrei versiegte in einem Gurgeln, als er über Bord kippte. Das demoralisierte die anderen wenigstens für Minuten. In ihrem Boot entstand Durcheinander, Geschrei. Sie schienen uneins darüber, ob sie angesichts der Feuerwaffen des weißen Mannes zum Direktangriff übergehen oder die Galeone mit gezielten Pfeilschüssen beharken sollten. Die drei anderen Kanus waren unterdessen der „Isabella“ bedrohlich nahe. Bestenfalls noch ein Steinwurf trennte sie von der Bordwand. „Zeigt es ihnen!“ brüllte Gary Andrews zur Kuhl hinunter. „Los jetzt!“ Er schnappte sich die Muskete, die Big Old Shane ihm entgegenwarf und zückte das Pulverhorn. „Ar - we - nack!” schrie der alte O'Flynn. Er robbte dicht an das Schanzkleid heran und schleuderte zwei Höllenflaschen, die Bill vorbereitet hatte. Al Conroy schnellte hinter der Drehbasse hoch, schwenkte das Rohr nach rechts
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unten und stieß die Glut der Lunte in das Zündkraut. Drei ohrenbetäubende Detonationen hallten kurz nacheinander. Old O'Flynn hatte die Sekunden höllisch genau abgezählt. Beide Höllenflaschen explodierten in der Luft. Nägel und gehacktes Blei schwirrten den Angreifern um die Ohren. Al Conroys Schuß zerschmetterte den Bug des vorderen Kanus wie ein Spielzeug. Die Schreie der Irokesen gellten durch den Nachhall der Detonationen. Das beschädigte Kanu sank rasch. Die bronzehäutigen Männer, die noch am Leben waren, stürzten in wirrem Durcheinander in das eisige Wasser. Schwimmend versuchten sie, die Galeone zu erreichen. Ihr wilder Kampfeswille war ungebrochen. Sie schienen sich innerlich gründlich genug auf die verheerende Wirkung jenes Feuerzaubers eingestellt zu haben, mit dem ihnen die weißen Männer begegneten. Die beiden intakten Kanus schossen auf die Galeone zu. Die kahlköpfigen Krieger stimmten ein schrilles Geheul an. Es ging den Männern an Bord durch Mark und Bein. Weiter entfernt traten wieder die Bogenschützen in Aktion. Big Old Shane nahm die Muskete, die Gary Andrews nachgeladen hatte. Dicht am Schanzkleid brachte er die Waffe in Anschlag und richtete den Lauf nach rechts. Mit fliegenden Fingern lud Al Conroy die Drehbasse von neuem. Old O'Flynn schleuderte seine beiden nächsten Höllenflaschen. Sie flogen bereits über die Köpfe der Krieger weg, denn die Kanus waren jetzt unmittelbar an der Bordwand. Die ersten Pfeile umschwirrten den riesenhaften Schmied von Arwenack. Dennoch ließ er sich nicht beirren. Mit. Todesverachtung visierte er an. Die Höllenflaschen detonierten brüllend. Ihr todbringender Inhalt erwischte zwei oder drei der Schwimmenden. Gurgelnd versanken sie.
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Ein Kanu stieß gegen die Beplankung. Mit katzenhafter Gewandtheit kletterte einer der Krieger auf die Schultern eines anderen. Zwischen seinen Zähnen klemmte der Stiel seines Kriegsbeils. Seine Hände näherten sich der Pforte im Schanzkleid der Kuhl. Big Old Shane feuerte. Der Krieger wurde zurückgeschleudert, wie von einer Riesenfaust getroffen. Mit einem markerschütternden Schrei kippte er von den Schultern des anderen. Sein Schrei endete, als er kopfüber in die Fluten tauchte. Shane mußte in Deckung gehen, denn ein wütender Pfeilhagel sirrte jetzt über die Back. Und das Geheul der Irokesen an der Bordwand wurde schriller und geifernder. „Verdammt“, sagte Big Old Shane, „jetzt wollen sie es wissen, diese roten Teufel!“ Al Conroy preßte die Lippen zusammen, daß sie einen Strich bildeten. Er hatte die Drehbasse nachgeladen und richtete sie bereits auf das Schanzkleid der Kuhl. „Old O'Flynn! Bill!“ brüllte er. „Zurück, auf die Back!“ * Im Dorf Paspahegh entstand aufgeregtes Geschrei. Noch bevor die Männer das Langhaus verlassen und nach dem Rechten sehen konnten, flogen die Felle zur Seite, mit denen der Eingang verhängt war. Ein breitschultriger Odjibway-Krieger stürmte herein, stoppte keuchend seine Schritte und redete wild gestikulierend auf die versammelte Runde ein. Hasard und seine Männer verstanden kein Wort. Doch Pierre de Neuville sprang ruckartig auf. „Sie greifen wieder an!“ rief er. „Dieser Krieger hat am Ufer Wache gehalten. Vier Irokesen-Kanus sind unterwegs zu Ihrem Schiff, Hasard!“ Der Seewolf unterdrückte einen Fluch. „Siri-Tong ist noch nicht zurückgekehrt“, entgegnete er besorgt. „Und meine Söhne ...“
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„Sehen wir nach!“ Pierre de Neuville stürmte als erster ins Freie. Hasard und die anderen folgten ihm. Draußen verharrten sie, während die Seewölfe, Huronen und Odjibways eilends aus dem Langhaus drängten. In den Gassen zwischen den Hütten sahen sie Indianerfrauen, die in ihre Behausungen hasteten. Die Krieger, die am Rand des Dorfes Wache gehalten hatten, liefen hin und her und stießen abgehackte Befehle aus. Frauen und Kinder hatten es gelernt, wie sie sich bei einem feindlichen Angriff verhalten mußten. Für die friedliebenden Odjibways mußte es eine bittere Erfahrung sein, die sie dies gelehrt hatte. Pierre de Neuville wechselte knappe Worte mit den beiden Häuptlingen. Oskenonton und Mowhemeho nickten und gaben Anweisungen an die umstehenden Krieger. Männer trabten los. Hasard schüttelte den Kopf. Von Siri-Tong und den beiden Jungen war nicht einmal ein Jackenzipfel zu sehen. „Sie suchen nach den dreien“, erklärte der Franzose, „seien Sie unbesorgt, Hasard. Sie können sich nicht in Luft aufgelöst haben.“ Der Seewolf preßte die Lippen aufeinander. Er kannte seine Söhne. Der Teufel mochte wissen, was sie wieder ausgebrütet hatten. Allzu oft juckte ihnen eben das Fell, und wieder einmal zeigte sich, daß man sie praktisch keine Sekunde unbeaufsichtigt lassen durfte. Detonationen rollten wie Donner über die Baumkronen. Die beiden Häuptlinge schrien Befehle. Krieger liefen zu den kleinen Buchten, wo die Kanus vertäut lagen. Hasard faßte einen schnellen Entschluß. Über der Sorge um seine Söhne und SiriTong durfte er sein Schiff nicht vergessen. Zu groß war die Gefahr, daß die Irokesenmeute die „Isabella“ in Brand steckte. Und dann saß er fest. Hier, am Ende der Welt. „Ed! Dan!“ sagte Hasard energisch. Der Profos und der junge O'Flynn traten auf ihn zu.
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„Eins schwöre ich dir, Sir“, grollte Carberry, „diesmal werden wir diesen irokesischen Stinten die Haut in Streifen von ...“ „Ihr beide bleibt hier“, unterbrach ihn Hasard, „kümmert euch um die Suche nach Siri-Tong und den beiden Jungen. Und wenn ihr dabei auf Irokesen trefft, hast du Gelegenheit genug, ihnen deine Spezialbehandlung angedeihen zu lassen, Ed.“ „Aye, aye, Sir“, erwiderte der Profos, und an seiner sauren Miene ließ sich ablesen, daß es ihm nicht schmeckte. Dan O'Flynn grinste in sich hinein. Wieder einmal waren es die beiden Lausebengel, die für unnötigen Ärger sorgten. Und dann auch noch Siri-Tong! Himmel, das war ein Fressen für den Profos, der sich normalerweise durch nichts in der Welt davon abhalten ließ, seine geliebte „Isabella“ zu verteidigen. Wenigstens Philip und Hasard konnten sich darauf gefaßt machen, daß ihnen „Mister Carberry“ gehörig den Hosenboden strammziehen würde. Hasard gab Ben Brighton einen Wink und lief als erster los. Edwin Carberry und Dan O'Flynn blieben weisungsgemäß zurück. Die Seewölfe setzten sich in Bewegung. Pierre de Neuville blieb an der Seite von Ben Brighton. In Gruppen waren die Huronen und Odjibways bereits unterwegs. Jeweils zwei von ihnen hatten eins von den leichten Kanus geschultert. Der Vorteil dieser einfachen Wasserfahrzeuge war jetzt deutlich. In diesem Land, wo Flüsse und Seen und Hügel einander abwechselten, brauchte man solche Boote, die man auf die Schultern nehmen und zum nächsten Wasserlauf transportieren konnte. Sie brauchten weniger als zehn Minuten bis zum Ufer der großen Bucht. Ein kurzer Blick genügte für die Männer, um die Lage zu erfassen. Von den vier Kanus war eins zerschossen. Die kläglichen Reste trieben auf der Wasseroberfläche. Ein zweites Kanu hielt sich auf Bogenschußweite von der „Isabella“. Die kahlköpfige Besatzung des
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Bootes beharkte das Vorkastell der Galeone mit Pfeilen. Dorthin hatten sich offenkundig die Männer zurückgezogen, die an Bord als Wache zurückgeblieben waren. Der Grund für diesen Rückzug war nicht minder deutlich. Die beiden anderen Kanus klebten an Steuerbord, und die Rothäute versuchten mit verbissener Wut, über das Schanzkleid aufzuentern. Noch waren Big Old Shane und die anderen in der Lage, dies zu verhindern. In kurzen Abständen peitschten immer wieder Musketenschüsse über die weite Wasserfläche. Aber es war bestenfalls eine Frage von Minuten, bis die Roten enterten. Wenn die Männer an Bord der „Isabella“ nicht rasch Hilfe erhielten, würde es den Irokesen tatsächlich gelingen, an Deck zu gelangen. Denn die Pfeilschüsse der anderen, die wohlweislich auf Distanz blieben, waren von unerhörter Präzision. Die ersten Huronen und Odjibways warfen ihre Kanus ins seichte Uferwasser. Jeweils fünf, sechs Mann besetzten ein Boot. Anfeuernde Rufe waren zu hören. Unter peitschenden Paddelschlägen jagten die leichten Boote durch die eisiggrauen Fluten. Hasard brauchte keine Anweisungen zu geben. Jeder seiner Männer wußte, welcher Handschlag zu tun war. Glücklicherweise lagen die beiden Jollen unbeschädigt am Ufer. Wären die Irokesen raffinierter gewesen, hätten sie zunächst die Posten am Ufer ausgeschaltet, die Boote zerstört und dann die Galeone angegriffen. So dachte der Seewolf. Doch er konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen, daß Häuptling Thayandanega wohlweislich auf eine solche Taktik verzichtet hatte. Pierre de Neuville lud seine Muskete, bevor er zu Hasard ins Boot stieg. Ben Brighton führte das Kommando in der zweiten Jolle. Doch auch dort waren Worte überflüssig. Die Seewölfe bewiesen, daß sie eine eingespielte Mannschaft waren, die das Miteinander jahrelang im Kampf gegen Tod und Teufel geprobt hatte.
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Insgesamt ein halbes Dutzend Kanus aus dem Dorf Paspahegh war es, das den Beibooten der Galeone vorauseilte. Die Männer des Seewolfs pullten mit kraftvollen Zügen. In rasantem Rhythmus schnitten die Riemenblätter ins Wasser. Der Wellengang war gering. Rasch gewannen die Jollen an Fahrt. Voraus stimmten die Huronen und Odjibways ein gellendes Kriegsgeheul an. Hasard und Pierre de Neuville richteten sich im Heck des Bootes auf. Der Seewolf zog seinen Radschloß-Drehling aus dem Gurt. Die prunkvollen Beschläge der schweren Pistole funkelten im matten Licht der späten Sonne. Das Kanu mit den irokesischen Bogenschützen drehte ab. Sie versuchten, Distanz zu gewinnen, indem sie die „Isabella“ backbords umrundeten. Zwei Bootsbesatzungen aus dem Dorf Paspahegh reagierten sofort, änderten ihren Kurs und jagten jetzt auf das Heck der Galeone zu. Die Männer auf dem Vorkastell bekamen Luft. Der mörderische Pfeilhagel, der sie bislang in Deckung gezwungen hatte, war versiegt. Da tauchte die riesenhafte Statur Big Old Shanes auf, der seine Muskete hob. Und Al Conroy brachte seine Drehbasse in Schußposition. Jetzt, endlich, konnte er es riskieren, den Irokesen an Steuerbord die Kanus unter dem Hintern wegzuschießen. „Pullt, Männer!“ brüllte Ben Brighton im Nachbarboot. Auch er war jetzt von der Achterducht aufgesprungen. „Laßt sie nicht entwischen!“ Big Old Shanes Muskete peitschte. Ein Irokese, der eben im Begriff war, sich zur Stückpforte im Schanzkleid emporzuhieven, kippte mit einem Schrei nach hinten weg. Al Conroys Drehbasse brüllte auf. Grellrot leckte die Feuerzunge aus dem Rohr. Es war ein Meisterschuß. Die Kanus wurden zerfetzt wie welkes Pergament, ohne daß die Beplankung der Galeone auch nur einen Kratzer erlitt. Vielstimmiges Geschrei war die Reaktion. Nur noch wenige Kahlköpfe mit schwarzen
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Skalplocken blieben über der Wasseroberfläche. Nägel und gehacktes Blei hatten eine verheerende Wirkung gezeitigt. Schwimmend versuchten die drei oder vier Überlebenden, sich zu retten. Doch sie schwammen den Huronen und Odjibways geradewegs in die Arme. „Sieht so aus, als ob wir zu spät kommen“, sagte Hasard. Seine Augen waren schmal. Diesmal empfand, er kein Mitleid mit den Irokesen. Was er in Paspahegh gesehen hatte, war genug, um Gefühle solcher Art auszuschalten. „Unser bloßes Erscheinen hat genügt“, entgegnete Pierre de Neuville lächelnd. „Sonst war es immer umgekehrt. Schon der Anblick einer Irokesenhorde reichte hierzulande, um jedermann in Angst und Schrecken zu versetzen.“ Auf dem Vorkastell der Galeone hatte Al Conroy die Backbord-Drehbasse geladen geschickt und blitzschnell, wie es nur seine pulvergeschwärzten Finger zustandezubringen vermochten. Die schwere Waffe brüllte in dem Moment, als der Bug des letzten noch intakten Irokesen-Kanus hinter dem Ruderblatt des schlanken Schiffes auftauchte. Und abermals bewies der Stückmeister, daß er in seiner Zielsicherheit nicht zu überbieten war. Das Kanu flog auseinander, als sei unter seinem Kiel eine Höllenflasche explodiert. Der größte Teil der Drehbassen-Ladung mußte das Boot unter der Wasserlinie getroffen haben. Vor den beiden Jollen der Seewölfe blitzten die Kriegsbeile der Huronen und Odjibways. Jene Irokesen, die sich schwimmend zu retten versuchten, wurden von gnadenlosen Hieben getroffen. Ihre Todesschreie vermischten sich mit dem Geheul derer, die achteraus von der Galeone in die eisigen Fluten sanken. Und auch dort waren die beiden Kanus der Huronen und Odjibways zur Stelle. Keiner der Krieger aus dem Dorf Paspahegh kannte Erbarmen mit den Feinden, die auf
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so unvorstellbar grausame Weise im Behelfslager der Huronen gewütet hatten. Innerhalb von Minuten wurde es still. Kanus und Jollen glitten mit mäßiger Fahrt auf die Galeone zu und gingen längsseits. „Die verdammten Kerle haben uns mächtig ins Schwitzen gebracht!” rief Big Old Shane, der mit den anderen am Schanzkleid stand. „Euch darf man eben nie allein lassen“, entgegnete Hasard erleichtert. Die Männer in den Jollen lachten, und auch aus ihrem Gelächter klang Erleichterung. „Gehen wir an Bord“, wandte sich der Seewolf an Pierre de Neuville. Der Franzose nickte, lächelte und deutete mit einer knappen Handbewegung auf die Huronen und Odjibways, die unschlüssig in ihren Kanus hockten. Ihre Blicke zur Galeone waren fast verstohlen und scheu. „Das Schiff ist ihnen unheimlich“, erklärte Pierre de Neuville, „sie haben Angst vor dem fliegenden Licht, das aus dem Bauch des großen Kanus geschleudert wird.“ Hasard lachte. „Dann sollen sie sich an Bord umsehen, Pierre. Ich denke, das wird ihnen die Angst nehmen. Sagen Sie es Ihnen.“ De Neuville nickte, wandte sich seinen eingeborenen Freunden zu und fing an, in dieser abgehackten, gutturalen Sprache zu reden. Nach wenigen Silben wurde er jäh unterbrochen. Es war Bills Stimme, die so grell und aufgeregt klang, wie die Seewölfe es noch nie zuvor gehört hatten. „Seht! Um Himmels willen, seht doch! Dort in der Flußmündung!“ Die Köpfe der Männer ruckten herum, und selbst die Indianer, die die Worte nicht verstanden hatten, begriffen doch den Sinn. 6. Es war wie ein grausamer Stich, der Hasard traf. Feurige Lohe breitete sich jäh in seinem Magen aus und schien ihn von innen
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zerfressen zu wollen. Er hatte das Gefühl, als setzte sein Herzschlag aus. Keiner der Männer brachte auch nur ein Wort hervor. Fassungslosigkeit versiegelte ihre Kehlen und schnürte ihnen die Luft ab. „Mon Dieu“, flüsterte Pierre de Neuville tonlos. „Dieser Teufel! Das ist kein Mensch mehr. Das ist eine zweibeinige Bestie.“ Herausfordernd langsam glitt das große Kanu aus der Flußmündung. Von weiteren Booten, die im Schatten der Baumkronen zurückblieben, waren lediglich schemenhafte Umrisse zu erkennen. Sie standen im Bug des großen Kanus. Philip und Hasard, deren Gesichter nur als bleiche Flecken zu sehen waren. Siri-Tong, deren langes schwarzes Haar im sanften Wind emporwehte. Und Thayandanega, hinter ihnen. Er trug keinen Federschmuck, und sein scharfgeschnittenes Gesicht schien so deutlich von Haß und höhnischem Triumph erfüllt, als sei er zum Greifen nahe. Hasard wußte, daß dieser Eindruck nur seiner Phantasie entsprang. Aber es war ein Eindruck, für den man nicht viel Vorstellungskraft brauchte. Unter geradezu gemächlichen Paddelschlägen schob sich das Kriegskanu des Häuptlings näher heran. Bis auf etwa zwei Fadenlängen. Dann, auf ein herrisches Handzeichen Thayandanegas, zogen die Krieger die Paddel ein. Es herrschte Totenstille. Das leise Ächzen und Knarren der Takelage war für die Seewölfe eine Geräuschkulisse, die sie ohnehin kaum noch wahrnahmen. Den beiden Jungen und Siri-Tong waren die Arme auf den Rücken gefesselt worden. Damit sie nicht schreien konnten, hatten die Rothäute ihnen Lappen in den Mund gestopft. Jeff Bowie war es, der das aussprach, was alle dachten. „Verdammt noch mal“, sagte er gedämpft, „warum laden wir nicht unsere Musketen und knallen diese roten Hundesöhne einfach ab! Zwölf Musketen und zwölf
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Mann, die gleichzeitig schießen. Damit haben wir sie ausgeschaltet, bevor sie auch nur einen Finger rühren können.“ „Sei still, Jeff!“ rief Ben Brighton halblaut. „Du weißt genau, daß wir nichts tun können, aber auch gar nichts. Wir sind es, die keinen Finger rühren dürfen. Dir ist doch wohl klar, daß sie einen der Jungen oder Siri-Tong massakrieren, sobald sie auch nur eine verdächtige Bewegung von uns erkennen.“ Jeff Bowie sagte nichts mehr. Auch die anderen schwiegen. Die Beklemmung hatte sie gepackt wie eine übernatürliche Gewalt. Der Seewolf starrte mit flammenden Augen zu dem großen Kanu. Unbändiger Zorn und unbezwingbare Angst um das Leben derer, die ihm am liebsten waren, kämpften in ihm. Einen Moment dachte er an den Radschloß-Drehling - diese seltene Waffe. Sechs Kugeln in rascher Folge. Wenn er nahe genug heran war, konnte er damit sechs Gegner blitzschnell ausschalten... Nein, das Risiko war zu groß. Er verwarf den Gedanken. Es waren zu viele in dem Kanu des Irokesen-Häuptlings. Unvermittelt hallte ein Schrei herüber. Nur ein kurzer, abgehackter Schrei. Es war Thayandanega, der diesen Schrei ausgestoßen hatte. Hasard und die anderen begriffen nicht sofort. Aber dann sah der Seewolf, wie sich die Haltung des Franzosen gespannt und sein Gesicht sich geradezu erschreckend verhärtet hatte. „Was bedeutet das?“ fragte Hasard leise. „Franzose“, entgegnete de Neuville gepreßt. „So hat er mich gerufen. Ich werde ihm antworten.“ Bevor Hasard noch etwas einwenden konnte, schrie Pierre zurück. Es war eine Sprache, die ähnlich klang wie die der Odjibways, und doch mußte es eine andere Sprache sein. Jenes Idiom vermutlich, das Huronen und Irokesen gleichermaßen verwendeten. „Was haben Sie gesagt?“ fragte Hasard hastig.
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Pierre de Neuville lächelte grimmig. „Ich habe ihn gefragt, was er will. Keine Sorge, Hasard, ich werde nichts ohne Ihre Zustimmung tun. Aber ich denke, ich bin der einzige, der hier den Dolmetscher spielen kann.“ Thayandanega antwortete nach Sekunden, die endlos lang schienen. Seine Stimme klang unangenehm schrill. Einige der Männer in den Jollen schüttelten sich. Das geifernde Organ dieses Irokesen bereitete ihnen körperliches Unbehagen. Die Ansprache Thayandanegas endete. Zur Unterstreichung seiner Worte schüttelte er die Faust. „Er will ein Palaver“, erklärte Pierre de Neuville, „er will mit Ihnen und mit mir verhandeln, Hasard. Nicht mit Oskenonton und Mowhemeho. Die sind für ihn nicht würdig, daß man überhaupt den Blick für sie erhebt. Das hat er ausdrücklich betont.“ „In Ordnung.“ Hasard nickte. „Er soll sein Palaver haben.“ Er schob. den RadschloßDrehling zurück unter seinen Gurt. „Pullt, Männer! Wir statten diesem sauberen Häuptling einen Besuch ab. Aber reißt euch zusammen. Kein falsches Wort, keine falsche Bewegung. Ihr wißt, was davon abhängt.“ Die Männer nickten schweigend. Sie stießen die Jolle ab und stemmten sich in die Riemen. Hasard und Pierre de Neuville ließen sich auf die Achterducht sinken. Der Seewolf wußte, daß er sich auf seine Männer verlassen konnte. In jedem von ihnen kochte die Wut so wie in ihm selbst. Aber sie waren in der Lage, sich selbst zu beherrschen, wenn es sein mußte. Das hatten sie mehr als einmal bewiesen. Oft genug hatten sie in mörderischen Situationen am eigenen Leib erfahren, daß das eigene oder das Leben eines anderen von der Selbstbeherrschung abhängen konnte. So war es auch jetzt. Hasard atmete tief durch. Nein, sie waren keine primitiven Rauhbeine, diese Männer, mit denen er die entscheidendste und beste Zeit seines Lebens verbrachte. Sie waren allesamt
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Kerle, die das Herz auf dem rechten Fleck hatten und neben der Muskelkraft auch noch über Verstand verfügten. Das gab es wahrhaftig nicht auf allen Schiffen, die unter irgendeiner Flagge dieser Welt segelten. Als sie auf etwa zwanzig Yards heran waren, ertönte abermals einer dieser gellenden Schreie aus dem Häuptlingskanu. „Wir sollen ihm nicht zu nahe auf den Pelz rücken“, erklärte Pierre de Neuville. Hasard gab seinen Männern ein Handzeichen. Sofort hielten sie inne, und die abbremsende Wirkung der Riemenblätter ließ das Boot zum Stillstand gelangen. Langsam richtete sich der Seewolf auf. De Neuville folgte seinem Beispiel, ließ die Muskete jedoch zu seinen Füßen liegen. Wieder spürte Hasard dieses Würgen in der Kehle. Er las die nackte Angst und den flehentlichen Ausdruck in den Augen seiner Söhne. Bei Siri-Tong waren es eher Verzweiflung und Selbstverachtung, denn die Rote Korsarin hatte zu kämpfen gelernt wie ein Mann und dem Tod oft genug ins Auge geblickt. Hasard ahnte, was sich abgespielt haben mußte. Es konnte nur so sein, daß SiriTong blindlings in eine Falle getappt war. Er schluckte trocken und mußte sich eisern zwingen, Ruhe zu bewahren. „Sagen Sie diesem Häuptling, Pierre, daß ich mich über sein Verhandlungsangebot freue.“ De Neuville übersetzte. Die bronzenen Gesichter der IrokesenKrieger waren starr und ausdruckslos. Thayandanegas Statur wirkte aus der Nähe noch mächtiger. Er war größer und breitschultriger als ein DurchschnittsEuropäer. Hasard und den meisten Männern von der „Isabella“ war er jedoch bestenfalls ebenbürtig. Das scharfgeschnittene Gesicht des Häuptlings hatte harte Furchen. Nur die dunklen Augen schienen in diesem Gesicht zu leben. Ein loderndes Feuer glomm in der Tiefe seiner Pupillen. Ein Feuer, daß von unbändigem Haß geschürt wurde.
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Thayandanega antwortete, nachdem der Franzose geendet hatte. Wieder übersetzte Pierre. „Er sagt, daß er die weißen Fremdlinge aus tiefster Seele verachte. Aber er will den Kampf mit Ihnen nicht fortsetzen, Hasard. Vorausgesetzt, Sie sind bereit, sich nicht länger in Dinge anderer einzumischen. Er sagt, er sei seinerseits bereit, die Gefangenen freizulassen.“ „Er verlangt also die Nichteinmischung als Gegenleistung? Sagen Sie ihm, daß er meine Söhne und Siri-Tong sofort freigeben soll. Dann können wir weiterreden.“ Pierre übersetzte es in die Irokesensprache. Diesmal verzog Thayandanega das Gesicht zu einer verächtlichen Grimasse. Und er spie die Worte förmlich aus. Pierre de Neuville wurde blaß und preßte die Lippen aufeinander. „Was ist?“ drängte Hasard. „Natürlich will er mit uns Katz und Maus spielen, stimmt's?“ Pierre schüttelte den Kopf. „Nein, das ist es nicht. Er stellt eine andere Bedingung. Er verlangt, daß ich mich selbst ausliefere. Zug um Zug gegen die Gefangenen.“ Pierre hielt inne. Er konnte nicht weitersprechen. Hasard glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Und den Männern in seinem Boot erging es kaum anders. Fassungslos wandten sie sich um, als könnten sie auf diese Weise besser erforschen, welch eine Bestie dieser Häuptling war. „Rückzug“, flüsterte Smoky, der dem Seewolf am nächsten saß. „Rückzug, und dann finden wir eine Möglichkeit, wie wir diesem roten Hurensohn den Hals umdrehen, ohne daß ...“ Hasard unterbrach ihn mit einer kaum merklichen Handbewegung. Auf keinen Fall durften sie sich jetzt zu einer Unbedachtsamkeit hinreißen lassen. Jetzt erst recht nicht. Er legte dem Franzosen die Rechte auf die Schulter. „Pierre“, sagte er leise, „wir werden niemals auf einen solch teuflischen Handel eingehen. Wir müssen Zeit gewinnen. Fordern Sie Bedenkzeit.“ Hasard glaubte,
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in den Mundwinkeln des Häuptlings ein hämisches Grinsen zu erkennen. Thayandanega wußte die Geste zu deuten, durch die der Seewolf dem Franzosen zu verstehen gab, daß er nicht allein und verlassen dastehen würde. Und nur das die Tatsache, daß andere Menschen einen seelischen Schmerz empfanden - schien dem Irokesen schon ein mächtiges inneres Vergnügen zu bereiten. Pierre übersetzte, stockend diesmal. Thayandanega nickte, grinste jetzt erkennbar breit und verschränkte die Arme über der Brust. Dann stieß er einen kehligen Schwall von Worten aus. De Neuville deutete mit dem Daumen über seine Schulter. „Wir haben Zeit, bis die Sonne hinter den Bäumen versunken ist. Dann soll ich eins der Odjibway-Kanus nehmen. Allein. Sie werden die Frau und die beiden Kinder in das Kanu setzen und zum Schiff zurückkehren lassen. Wenn wir aber nicht auf die Bedingungen eingehen, werden sie zuerst einen der beiden Jungen ...“ Pierre unterbrach sich und senkte den Blick. Er biß sich auf die Unterlippe, daß ein Blutstropfen hervorquoll. Hasard fühlte den ohnmächtigen Zorn wie eine alles verzehrende Flamme in sich hochsteigen. Dieses Gefühl, machtlos zu sein, war schlimmer als einem zehnfach überlegenen Gegner in ehrlichem Kampf gegenüberzustehen. „Schlagen Sie diesem Schweinehund vor, mich als Austauschgefangenen zu nehmen“, sagte der Seewolf mit vibrierender Stimme. „Das wird er niemals akzeptieren. Er will mich. Keinen anderen. Denn er weiß verdammt genau, daß ich den Widerstand der Huronen und Odjibways gegen ihn organisiert habe. Wenn ich nicht mehr da bin, wird es für ihn leicht sein, die beiden Stämme zu unterwerfen.“ „Schlagen Sie es ihm vor“, wiederholte Hasard. „Verdammt noch mal, ich verlange es!“ Er war nahe daran, die Beherrschung zu verlieren. Wieder waren seine Gedanken bei der sechsschüssigen Pistole. De Neuville folgte Hasards Aufforderung.
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Die Reaktion des Irokesen-Häuptlings war auch ohne Übersetzung unmißverständlich. Er stieß ein abfälliges Lachen aus und schüttelte den Kopf, wobei er die Lippen zu einem Wulst aufeinanderpreßte. Dann stieß er den rechten Arm zu einer herrischen Bewegung vor. Und der Klang seiner Worte war voller Spott. „Er sagt, wir sollen endlich mit unserem Palaver anfangen. Viel Zeit hätten wir nicht mehr.“ Pierre de Neuville senkte den Kopf. Hasard gab den Befehl, das Boot zu wenden. Mit zügigen Riemenschlägen kehrten sie zur „Isabella“ zurück. Hinter ihnen verharrten die Irokesen in stoischer Ruhe. Vor allem Thayandanega war es, in dessen Augen unverändert das Feuer des Hasses loderte. * Hasard hatte die Lage geschildert. Sie waren in den Beibooten geblieben. Noch war die Lage zu unklar, um einen ernsthaften Schritt zu unternehmen. „Kommt überhaupt nicht in Frage, so was“, sagte Al Conroy vom Schanzkleid der Kuhl herab. „Wir können doch nicht einfach einen Menschen ausliefern.“ „Ihr vergeßt, daß es meine Entscheidung sein muß“, entgegnete Pierre de Neuville, „außerdem steht mein Leben gegen das von einer Frau und zwei Kindern.“ Einen Moment herrschte Schweigen. Jeder hing seinen Gedanken nach. Und jeder wußte doch, daß er nicht anders gesprochen hätte als dieser aufrechte Franzose. Aber da gab es diesen grausamen Zwiespalt. Menschenleben gegen Menschenleben aufzuwiegen — das war etwas, von dem niemand überzeugt sein konnte. Auf dem geröllübersäten Uferstreifen tauchte eine Gruppe von Männern auf. Huronen und Odjibways, die weitere Kanus mitgebracht hatten. Oskenonton und Mowhemeho waren dabei. Und Edwin Carberry und Dan O'Flynn. Sie mußten angenommen haben, daß ihre Suche
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vergeblich war. Spätestens jetzt mußten sie in schmerzhafter Deutlichkeit erkennen, wie sehr sie mit dieser Annahme recht gehabt hatten. Die Stentorstimme des Profos dröhnte zur Galeone herüber. „Zum Donnerwetter noch mal, auf was wartet ihr denn noch? Daß diese roten Kanalratten vom Blitz getroffen werden? Oder was, wie? Ich schwöre euch, ich werde diesen Kakerlaken zeigen von wo der Wind weht!“ Carberry war im Begriff, sich eins der Kanus zu schnappen. Dan O'Flynn verharrte zögernd, während sich die beiden Häuptlinge vor den Profos stellten und auf ihn einredeten. „Bleib, wo du bist, Profos!“ brüllte der Seewolf donnernd. „Das ist ein Befehl!“ Die Irokesen-Krieger waren in dem Kanu aufgesprungen und hielten ihre fast mannshohen Bogen in den Fäusten. Ihre Haltung war sichtlich gespannt. Und Thayandanega selbst zog langsam eine Streitaxt unter seiner rohledernen Jacke hervor. Die schmale Klinge blitzte im späten Sonnenlicht. „Mon Dieu, jetzt ist Schluß damit“, sagte Pierre de Neuville unvermittelt. Seine Stimme klang fest und energisch. „Ich kann dieses Theater nicht mehr ertragen. Ich gehe.“ Er drehte sich um und rief den Kriegern aus Paspahegh etwas zu. Sechs bronzehäutige Männer stiegen wortlos in die anderen Kanus um und schoben das leere Boot auf die Jolle des Seewolfs zu. Hasard packte den Franzosen am Arm. „Pierre, ich lasse das nicht zu. Wir finden eine andere Lösung. Wir haben genügend Waffen an Bord, um die Irokesen auf einen Schlag kampfunfähig zu schießen.“ De Neuville bückte sich und zog das leere Kanu heran. Er drehte sich noch einmal zu dem Seewolf um. „Machen Sie sich nichts vor, Hasard. Um einen Überraschungsangriff zu starten, müßten Sie und Ihre Männer erst einmal an Bord gelangen. Bevor Sie das geschafft haben, wird Thayandanega seine Drohung in die Tat umsetzen. Wollen Sie so
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leichtfertig das Leben eines .Ihrer Söhne aufs Spiel setzen?“ Hasard schüttelte den Kopf. „Ein paar von meinen Männern sind noch an Bord.“ Er deutete zum Schanzkleid hinauf, wo sich Big Old Shane, Al Conroy und die anderen herüberlehnten. „Sie werden die Musketen vorbereiten, die wir brauchen. Unser Stückmeister wird die zielgenauesten Waffen heraussuchen. Er ist ein hervorragender Fachmann.“ „Hören Sie auf, Hasard.“ Es klang beinahe bissig. Wilde Entschlossenheit funkelte in den Augen des Franzosen. „Ich habe meine Entscheidung getroffen, verstehen Sie? Niemand wird mich daran hindern. Sie müßten mich schon totschlagen. Und dann wäre das Leben der Frau und der Kinder erst recht keinen Pfifferling mehr wert.“ „Pierre, seien Sie doch vernünftig“, versuchte Hasard es abermals. „Ich bin vernünftig“, entgegnete De Neuville rauh, „und eins dürfen Sie nicht vergessen, Hasard: Ich habe meinen Aufenthalt in diesem Land freiwillig gewählt. Ich habe gewußt, weiche Risiken mich erwarten. Ihre Söhne aber und auch die Frau sind ungewollt in dieses Verhängnis geraten. Ich könnte es niemals ertragen, daß sie meinetwegen von den irokesischen Teufeln zu Tode gemartert werden. Adieu, mein Freund. Es war mir ein wertvolles Erlebnis, Sie kennenzulernen.“ Hasard konnte nicht antworten. Die Größe dieses Mannes war überwältigend. Der Seewolf schwor sich in diesem Moment, alles zu tun, um das Leben Pierre de Neuvilles zu retten — wenn es noch eine Chance gab. Ja, wenn Siri-Tong und die Jungen in Sicherheit waren, würde er ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben versuchen, diesen aufrechten Mann zu retten. Pierre ließ sich bereits in das schwankende Kanu sinken. Er blickte noch einmal zu Hasard auf und schien dessen Gedanken lesen zu können. „Ich bitte Sie nur um eins, Hasard. Veranlassen Sie nichts, wodurch mein Entschluß sinnlos werden würde. Gefährden Sie das Leben der Gefangenen
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nicht durch einen vorschnellen Befehl, weil Sie glauben, mir helfen zu müssen. Ich werde in Frieden sterben, wenn ich weiß, daß die drei am Leben bleiben.“ Hasard nickte nur. Er brachte noch immer kein Wort hervor. Und er sah, wie Smoky sich verstohlen umdrehte. Dieser harte, raubeinige Bursche, der sich seinen Rang als Decksältester immer wieder mit den Fäusten erkämpfen mußte, wischte mit dem Handrücken über seine Augen. In den Gesichtern der übrigen Männer war zu lesen, daß sie alle von ähnlichen Gefühlen bewegt wurden. Hasard verspürte den Drang zu schreien, seine ganze Wut und seine Verzweiflung hinauszuschreien, seine Empörung über diesen menschenunwürdigen Handel. Aber er schwieg, und er haßte sich selbst dafür. Pierre de Neuville nahm eins der Paddel und trieb das Kanu auf das offene Wasser hinaus. Er drehte sich nicht mehr um. Er war in diesen Minuten der einsamste Mann, den Hasard jemals in seinem Leben gesehen hatte. 7. Thayandanega hatte noch immer die Arme vor der Brust verschränkt. Sein Grinsen hatte etwas teuflisch Fratzenhaftes. Scheinbar gelassen beobachtete er das herannahende Kanu. Pierre de Neuville stoppte seine Paddelschläge so rechtzeitig, daß die Irokesen sein Boot nicht packen und zu sich heranziehen konnten. „Ich bin unbewaffnet“, sagte er in der Sprache der Irokesen. Thayandanega lachte abfällig. „Du bist wie ein Stinktier, das dem Bären gegenübertritt. Dem Bären ist es gleich, was das Stinktier sagt. Nur den Gestank kann der Bär nicht ertragen.“ „Gib die Gefangenen heraus, Thayandanega“, entgegnete Pierre mit mühsam erzwungener Beherrschung. Seine Nerven vibrierten bis in die letzte Faser. Es war nicht sein eigenes Leben, um das er bangte. Er kannte die Irokesen und befürchtete, daß sie in letzter Minute noch
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eine ihrer Teufeleien ausheckten und nicht nur ihn, sondern auch die Frau und die Jungen töteten. Der Häuptling lachte abermals voller Geringschätzung. Sein blauschwarzes schulterlanges Haar schimmerte im schwächer werdenden Sonnenlicht. „Erst wollen wir dich haben, weißes Stinktier.“ „Nein.“ Pierre schüttelte energisch den Kopf. „Das ist gegen die Vereinbarung. Ich liefere mich nur aus, wenn ich weiß, daß die Gefangenen in Sicherheit sind.“ Thayandanega überlegte einen Moment. „Nun gut“, sagte er dann, „der Bär gewährt dem winselnden Skunk eine Bitte.“ Er bückte sich und brachte ein zusammengerolltes Rohhautseil zum Vorschein. Mit geschickten Fingern knüpfte er blitzschnell eine Schlinge und schleuderte sie in das Kanu des Franzosen. Das Ende des Seils behielt Thayandanega in seiner bronzehäutigen Faust. Pierre de Neuville preßte die Zähne aufeinander. Langsam richtete er sich auf. „Was soll das?“ „Leg dir die Schlinge um den Hals, Stinktier. Dann lassen wir die Gefangenen in dein Kanu übersteigen. Dadurch haben wir Gewißheit, daß - du uns nicht entwischst.“ Pierre zögerte sekundenlang. Aber die angsterfüllten Blicke der Kinder und der Frau gaben den Ausschlag. Er mußte sich auf diese Niedertracht' einlassen. Es gab keine andere Wahl. Er hob die Schlinge auf und schob sie langsam über seinen Kopf. Die rechte Hand hielt er vor seine Kehle, zum Schutz gegen eine plötzliche List des Irokesen. Thayandanega zog. Die Schlinge schloß sich, und Pierre spürte den Druck des Rohhautseils in seinem Nacken und auf seiner Handfläche. Er mußte sich bemühen, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Breitseits glitt sein Boot an das große Kriegskanu heran. Pierre sah die harten, maskenhaften Gesichter der Irokesen aus nächster Nähe. Ein Schauer lief über seinen Rücken.
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Thayandanega stieß einen barschen Befehl aus. „Steigen Sie in mein Kanu“, übersetzte Pierre, indem er sich an die Rote Korsarin wandte. Sie antwortete mit einem gurgelnden Laut. Einer der Krieger durchtrennte ihr die Handfesseln mit der messerscharfen Schneide seiner Streitaxt. Pierre de Neuville fühlte sich wie ein gedemütigter Hund an der Leine, als er sich bückte und das Kriegskanu packte, damit die Kinder und die Frau sicher herübersteigen konnten. Dabei sah er das Gesicht eines der Krieger unmittelbar vor sich. Der Irokese verzog seine Mundwinkel zu einem hämischen Grinsen. Er strömte den durchdringenden Geruch eines Öls aus, mit dem seine Haut zum Schutz gegen die Kälte eingerieben war. Siri-Tong half zuerst den Jungen in das kleinere Kanu. Den Zwillingen wurden die Fesseln nicht abgenommen. „Bitte richten Sie Sir Hasard etwas aus“, bat Pierre de Neuville, nachdem auch die Rote Korsarin in seinem Kanu angelangt war. Siri-Tong blickte ihn aus großen Augen an. Langsam ließ sie sich auf den Boden des Bootes sinken und nahm zögernd und behutsam eins der Paddel in die Hand, als handele es sich um einen unbekannten Gegenstand, dessen Funktion sie nicht erahnte. Dabei konnte sie den Blick nicht von dem Franzosen wenden. „Sagen Sie ihm“, fuhr Pierre fort, „daß er auf mich keine Rücksicht nehmen soll, sobald Sie und die Jungen in Sicherheit sind. Er soll die Irokesen erbarmungslos zusammenschießen lassen, bevor sie das Weite suchen können. Und keine Angst, der Häuptling versteht die französische Sprache nicht.“ Die Rote Korsarin nickte zum Zeichen, daß sie verstanden hatte. Ihr schmales Gesicht war kreidebleich. Thayandanega straffte das Seil mit einem Ruck. Harte Fäuste packten zu und zerrten Pierre de Neuville in das Kriegskanu. Er rang nach Atem, als sie ihn auf den Platz
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im Bug schleuderten, wo zuvor die Jungen und Siri-Tong gestanden hatten. Die Rote Korsarin tauchte das Paddel ein. Dabei bewegte sie sich wie in Trance. * Hasard konnte nicht glauben, daß es Wirklichkeit war, als er seine Söhne und Siri-Tong in die Arme schloß. Mehr denn je fühlte er sich in der Schuld des Mannes, der dies ermöglicht hatte. Eilends wurden sie ihrer Fesseln und Knebel befreit und an Bord gebracht, wo ihnen das wärmende Kombüsenfeuer helfen sollte, die durchgestandenen seelischen und körperlichen Quälen zu überwinden. Die Irokesen waren unterdessen mit Pierre de Neuville in der Flußmündung den Blicken der Seewölfe entschwunden. An Bord der „Isabella“ blieben die Männer jedoch keineswegs untätig. Al Conroy hatte von Hasard sechs Helfer erhalten. Sie arbeiteten mit fieberhafter Hast in der Pulverkammer, bereiteten Höllenflaschen vor und füllten Pulverhörner, die anschließend mit trockenen Lappen umwickelt wurden. Das Schwarzpulver in diesen Breiten nicht feucht werden zu lassen, war ein äußerst schwieriges Unterfangen. Der Stückmeister übernahm es persönlich, jene Musketen auszuwählen, die er für die besten hielt. Edwin Carberry und Dan O'Flynn hatten in einem der Kanus die Galeone erreicht. Auch die beiden Häuptlinge Oskenonton und Mowhemeho und die Krieger von den Stämmen der Huronen und Odjibways waren an Bord gegangen. Staunend, fast furchtsam, sahen sie sich auf der Kuhl um, betasteten das harte Holz, aus dem die „Isabella“ gebaut war und strichen vorsichtig- über metallene Gegenstände, die sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatten. Aber es war keine Zeit für Besichtigungen und Erklärungen. „Oskenonton wird Sie begleiten, Sir Hasard“, sagte der Huronen-Häuptling. „Mit mir werden einige ausgewählte
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Männer gehen. Wir sind es unserem Freund Pierre de Neuville schuldig. Mowhemeho und seine Krieger bleiben im Dorf, verstärkt durch Krieger aus meinem Volk. Wir dürfen Frauen und Kinder nicht noch einmal einem Überraschungsangriff der Irokesen preisgeben.“ Der Seewolf antwortete auf Französisch. „Ich danke Ihnen, Häuptling. Wir werden im Schutz der Dunkelheit vorgehen, und zwar mit nur einem Beiboot. Es müssen genügend Männer zur Bewachung des Schiffes zurückbleiben.“ Oskenonton nickte verstehend. Kaum merklich kerbte ein grimmiges Lächeln seine Mundwinkel. „Wir kennen diese Taktik des weißen Mannes dank unserer Freundschaft mit den Franzosen. Aber die Irokesen kämpfen nicht bei Nacht. Niemals.“ „Dann werden sie es eben lernen“, mischte sich Edwin Carberry grollend ein. „Etwas hätte ich noch gern geklärt, Hasard, Sir. Die beiden kleinen Strolche haben es verdient, daß man ihnen den Hosenboden strammzieht, wenn du mich fragst.“ „Einverstanden“, antwortete Hasard, „ihre Strafe brauchen sie. Aber erst müssen sie sich erholen. Und dann wirst du das mit dem Hosenboden übernehmen, Ed.“ Der Profos strahlte über sein ganzes wüstes Narbengesicht. Nicht, daß er Gefallen daran fand, den Zwillingen eine Tracht Prügel zu verabreichen. Nein, er hatte eine besondere väterliche Art entwickelt, ihnen den rechten Weg zu weisen. „Du mußt allerdings aufpassen“, fügte Hasard todernst hinzu, „daß Siri-Tong dir nicht die Augen auskratzt.“ Die Männer brachen in schallendes Gelächter aus. Das Strahlen des Profos schwand. Nachdenklich kratzte er sich am Hinterkopf. „Hm, ja, vielleicht lassen wir die Sache doch lieber auf sich beruhen.“ „Wir reden später darüber“, entschied Hasard. Mit knappen Anweisungen teilte er seine Männer ein. Im Westen war die Sonne bereits hinter den Baumkronen versunken. Das
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Tageslicht wich rasch zunehmender Dämmerung. Al Conroy und seine Helfer schleppten die Ausrüstung an Deck, die dann mit Hilfe der übrigen Crew im Beiboot verstaut wurde. Hasard stieg als letzter in das Boot. Auf seinen Säbel verzichtete er. Für das, was vermutlich vor ihnen lag, waren Entermesser und Radschloß-Drehling besser geeignet. Mit ihm im Beiboot waren Ferris Tucker, der die mächtige Zimmermannsaxt zu seinen Füßen liegen hatte, Al Conroy, der mit letzten fürsorglichen Handgriffen an der Persenning zupfte, die Waffen und Pulver vor Spritzwasser schützen sollte. Außerdem Batuti, Matt Davies, Jeff Bowie, Smoky, Stenmark, Blacky, Dan O'Flynn, Sam Roskill und Bob Grey. An Bord der „Isabella“ führte Ben Brighton das Kommando. Ausreichende Wachen waren aufgestellt, denn diesmal sollten die Irokesen weniger Glück haben, falls sie es noch einmal mit einem unverhofften Angriff versuchten. Alle Lampen auf der Galeone waren gelöscht worden. Die Dunkelheit hatte sich rasch über das unwirtliche Land gesenkt. Ohne die wärmenden Strahlen der Sonne waren die Temperaturen weiter abgesunken. Oskenontons Kanu, mit fünf HuronenKriegern bemannt, übernahm die Führung. Ihre Paddelschläge waren fast unhörbar. Hasard gab ein halblautes Kommando. Die Männer an Backbord stießen die Jolle ab. Dann tauchten die Riemenblätter ins Wasser, zunehmend rhythmischer. Es gelang ihnen, mit der gleichen Behutsamkeit zu rudern wie die Huronen ihr Kanu vorantrieben. Mowhemeho und die restlichen Krieger waren schon vor Einbruch der Dunkelheit an Land zurückgekehrt: Hasard, der auf der Achterducht der Jolle saß und die Ruderpinne fest im Griff hatte, achtete sorgsam darauf, das Kanu Oskenontons nicht aus den Augen zu verlieren.
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Sie näherten sich der Flußmündung. Lautlos. Die bleiche Sichel des Mondes spendete nur einen Hauch von fahler Helligkeit, gerade so viel, daß auf zehn, fünfzehn Yards noch die schattenhaften Umrisse des Kanus zu erkennen waren. Der Fluß war kaum mehr als dreißig Yards breit. Dichter Wald zu beiden Seiten und weit herüberhängende Baumkronen verstärkten die Dunkelheit noch. Hasard drehte sich nur kurz um. Die „Isabella“ war schon wie von einem schwarzen Vorhang verdeckt. * Die Strömungsgeschwindigkeit des Flusses war beträchtlich. Deshalb geriet die Riemenarbeit, bei der sie zudem noch übermäßigen Wert auf Geräuschlosigkeit legen mußten, zu einer schweißtreibenden Angelegenheit. Keiner der Seewölfe spürte jetzt noch die Kälte. Etwa zwei Stunden mochten vergangen sein, seit sie aufgebrochen waren. Unvermittelt wuchs die Silhouette des Huronen-Kanus auf sie zu. Hasard ließ die Riemen einholen. Das Kanu glitt längsseits. Nur das Weiße in den Augen der Krieger war zu erkennen. „Wir sind in ihrer Nähe“, flüsterte Oskenonton auf Französisch. „Woher wissen Sie das?“ fragte Hasard verblüfft. Er war selbst nicht gerade unerfahren, aber er hatte bis jetzt weder ein Geräusch gehört noch einen Lichtschein sehen können. „Irokesen spürt man“, entgegnete der Häuptling. „Wir müssen uns jetzt trennen, Sir Hasard.“ „Was schlagen Sie vor? Können Sie eine Entfernung schätzen?“ Oskenontons Zähne blitzten in der Dunkelheit, als er lächelte. „Das ist unmöglich. Aber unser Volk kennt die Irokesen. Thayandanega hat sicherlich ein Lager aufgeschlagen. Dafür gibt es zwei Gründe. In einem feindlichen Gebiet verkriecht sich der Irokese, dann fürchtet er die Nacht. Der zweite Grund ist Monsieur de Neuville. Thayandanega wird keine Zeit verlieren wollen, mit der Marter
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zu beginnen.“ Oskenonton schwieg einen Moment, als müsse er seinen Zorn herunterschlucken, bevor er weiterreden konnte. „Meine Krieger und ich werden uns auf der anderen Seite des Flusses vorwärtsbewegen. Wenn Sie zustimmen, bitte ich Sie, das Ufer an dieser Seite zu übernehmen.“ „Einverstanden“, sagte Hasard knapp. Alles weitere lief im Handumdrehen ab. Während das Kanu lautlos zum jenseitigen Ufer glitt, gingen die Männer der „Isabella“ an Land. Dan O'Flynn vertäute die Jolle an einem Baumstamm. Al Conroy blieb bis zuletzt im Boot und folgte den anderen erst, nachdem er Waffen, Höllenflaschen, Lunten und Pulverhörner verteilt hatte. Mit dem Kanu hatten Oskenonton und seine Krieger einen entscheidenden Vorteil. Sie konnten den Wasserweg benutzen, unmittelbar in Ufernähe, unter dem Schutz der weit überhängenden Baumkronen. Mit der Jolle war das nicht möglich. Hasard teilte seine Männer in zwei Gruppen ein. Bei ihm blieben Ferris Tucker, Batuti; Al Conroy und Matt Davies. Der Schiffszimmermann hatte seine Axt über die Schulter gelegt. Batuti trug den Bogen über dem Rücken. Alle übrigen Männer waren neben Entermessern und Höllenflaschen mit einer Muskete ausgerüstet. Lediglich Hasard verzichtete auf eine Langwaffe, da er den Radschloß-Drehling bei sich trug. Die zweite Gruppe wurde von Smoky geführt. Unter seinem Kommando standen Dan O'Flynn, Bob Grey, Jeff Bowie und Sam Roskill. Die Anweisungen des Seewolfs waren knapp und präzise. Smokys Gruppe verschwand im Wald. Geräuschlos. Der weiche Boden und das spärliche Unterholz halfen ihnen dabei. Ihre Order lautete, etwa zwanzig Yards entfernt parallel zum Ufer vorzudringen. Indessen blieb Hasard mit seinen Männern dicht am Ufer. Sie gaben Smoky einen knappen Zeitvorsprung, damit sie auf gleicher Höhe blieben. Dann setzte sich
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auch die Gruppe des Seewolfs in Bewegung. Der Wald war ungewohnt still. Nur vereinzelt schrien Nachtvögel. Hier gab es nicht das vielfältige Leben, zu dem nachts der Dschungel in tropischen Breiten erwachte. Hier schien die Welt tot zu sein, stumm und abweisend. Die Kälte erdrückte alles Leben bis auf ein Minimum. Hasard hatte die Führung übernommen. Die Männer folgten ihm dichtauf. In der Dunkelheit konnten sie fast die eigene Hand nicht vor Augen sehen. Plötzlich stieß Batuti einen scharfen Zischlaut aus. Hasard stoppte seine Schritte sofort und wandte sich halb um. Ferris Tucker und die anderen prallten fast aufeinander, so abrupt war der riesenhafte Gambia-Neger stehen geblieben. „Hört!“ flüsterte Batuti. Hasard horchte atemlos wie die anderen auch. Er wußte, daß Batuti über ein ungewöhnlich gutes Gehör verfügte. Eine Gabe, die ihm in seinem afrikanischen Heimatland die Natur in die Wiege gelegt hatte. Und sie mußten sich alle mächtig anstrengen, um selbst herauszufinden, was dem schwarzen Herkules aufgefallen war. Ein Geräusch, das so schwach war, daß man es für das leise Säuseln des Windes in den Baumkronen halten konnte. Ein monotoner Singsang. Hasard klopfte Batuti auf die Schulter. „Weiter!“ Zügig setzten sie ihren Weg fort, achteten aber noch sorgfältiger darauf, nicht das leiseste Geräusch zu verursachen. Wenig später verharrten sie abermals. Der Singsang war deutlicher geworden. Das matte Schimmern eines fernen Lichtscheins war jetzt zu erkennen. „Oskenonton hat recht gehabt“, flüsterte Hasard, „verlieren wir keine Zeit mehr.“ Während sie weiter vordrangen, bewegte sie alle nur der eine Gedanke: Würden sie noch rechtzeitig zur Stelle sein? Konnten sie noch verhindern, daß die Irokesen den todesmutigen Franzosen bis aufs Blut quälten?
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Ein Sichtkontakt mit den anderen Gruppen war unmöglich. Sie konnten sich nur darauf verlassen, daß sich sowohl Oskenonton als auch Smoky etwa auf gleicher Höhe befanden. Der Lichtschein wurde stärker. Schon war das Flackern zu erkennen, wie es nur von den Flammen eines Feuers herrühren konnte. Der monotone Gesang hatte den gleichen kehligen Klang wie die Sprache der Indianer. Mit jedem Schritt wuchs die Anspannung der Männer. Jede falsche Bewegung, jeder ungewollte Laut konnte Pierre de Neuville das Leben kosten. Falls er überhaupt noch am Leben war. Der Wald wurde lichter. Nach wenigen Schritten verharrten die Männer regungslos. Zum Greifen nahe waren die kegelförmigen Wigwams, die als scharfgezeichnete Silhouetten den Blick auf die Mitte des Lagerplatzes verwehrten. Nur noch wenige Baumreihen trennten die Seewölfe von diesen Wigwams, die die Irokesen als eine Art Kriegslager aufgeschlagen haben mußten. Möglicherweise handelte es sich hier um den Stützpunkt, von dem aus sie ihre blutigen Angriffe auf das Dorf Paspahegh gestartet hatten. Die Reihe der Wigwams reichte bis nahe ans Flußufer, wo in den Ausläufern des Feuerscheins die Kanus lagen. Kieloben, an Land gezogen. Unvermittelt erblickte Hasard die Silhouette eines Mannes, fast mit dem äußersten Wigwam zur Linken verschmolzen. Ein Posten, zweifellos. Aber er wandte dem Wald den Rücken zu. Das, was in der Mitte des Lagerplatzes geschah, mußte seine Aufmerksamkeit zu sehr fesseln. Hasard ließ seinen Blick an den kegelförmigen Behausungen entlanggleiten. Dort, waldeinwärts, gab es wahrscheinlich einen weiteren Posten. Zu sehen war er jedoch nicht - eine Aufgabe, die Smokys Gruppe zu bewältigen hatte. Hasard schlich auf Batuti zu und flüsterte ihm ins Ohr.
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„Du siehst den Posten, nicht wahr? Schaffst du es so, daß er keinen Laut mehr von sich geben kann?“ Batuti entblößte nur sein perlenweißes Gebiß, und das Weiß seiner Augen leuchtete. Wortlos lehnte er seine Muskete gegen einen Baumstamm, nahm den Bogen vom Rücken und legte einen der Pfeile auf die Sehne, dessen Schaft länger als ein Männerarm war. Mit raubtierhafter Gewandtheit bewegte sich Batuti ein Stück vorwärts, bis er eine gute Schußposition gefunden hatte. Dumpfe Trommeln mischten sich jetzt in den Singsang der Irokesen. Mit dem stakkatohaften Rhythmus steigerte sich auch das Tempo des Gesanges. Hasard hatte den Eindruck, daß die Trommeln dazu dienten, die Stimmung aufzupeitschen. Vor dem hellen Hintergrund des Feuerscheins sah er Batutis riesenhafte Statur. Der schwarze Herkules spannte den Bogen. Es gab ein kurzes, schneidendes Zischen, als der Pfeil von der Sehne schnellte. Mehr war nicht zu hören. Trommeln und Gesang schluckten alle anderen Geräusche. Die Silhouette des Postens bewegte sich nicht. Erst nach Sekunden, unendlich langsam, bewegte sich der Körper des Mannes zur Seite, vom Wigwam weg. Auch der Aufschlag auf den Boden ging im Trommel-Gedröhn unter. „Vorwärts!“ rief Hasard halblaut. Sie verloren keine Sekunde mehr. Ferris Tucker brachte Batutis Muskete mit und drückte sie ihm in die Hand, nachdem er seinen Bogen geschultert hatte. In weit auseinandergezogener Linie pirschten sie sich an die Wigwams heran. Noch auf halbem Weg spähte Hasard nach rechts. Etwas flirrte durch den Halbschatten. Dann waren die Silhouetten von fünf Männern zu erkennen, die ebenfalls zu den Wigwams vordrangen. Kein Geräusch. Bob Grey hatte das besorgt. Er war der beste Messerwerfer in der „Isabella“-Crew. Von dem zweiten Posten drohte also keine Gefahr mehr.
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Unbehelligt erreichte der Seewolf einen der Wigwams. Rasch blickte er nach beiden Seiten. Auch die anderen waren im Schatten der primitiven Behausungen untergetaucht. Jeder von ihnen wußte, was er zu tun hatte. Doch bevor das möglich war, mußten sie sich einen Überblick über die Lage verschaffen. Vorsichtig spähte Hasard an der Rohhaut-Wand des Wigwams vorbei. Unmittelbar davor hockten die Männer dichtgedrängt am Boden. Ihre kahlen Schädel glänzten im Feuerschein. Die Flammen loderten an mehreren Stellen, ringförmig um das Zentrum des Platzes. Auch die Irokesen hatten sich in einem Kreis gruppiert. Hasard bemerkte all dies mehr unterbewußt. II Sein Herz begann schmerzhaft zu hämmern, als er den Blick auf die Mitte der Lichtung konzentrierte. Zwei doppelt mannshohe Pfähle waren dort in den Boden gerammt. Pierre de Neuville hing zwischen diesen Pfählen. Mit gespreizten Armen und Beinen hatten sie ihn festgebunden. Etwa fußhoch hing er über dem Erdboden. Sein Oberkör- per war nackt, von blutigen Striemen übersät. Aber noch immer hatte er den Kopf stolz erhoben, wenn auch sein Gesicht leichenblaß war. Was sie bislang mit ihm angestellt hatten, vermochte Hasard nicht zu erkennen. Aber allein die Lage, in der Pierre sich befand, mußte grausame Schmerzen verursachen. Dünne Rohhautseile, mit denen Hand- und Fußgelenke festgeschnürt waren, hielten sein ganzes Körpergewicht. Thayandanega tauchte unvermittelt in Hasards Blickfeld auf und bewegte sich mit würdevollen Schritten auf den Gemarterten zu. Der Häuptling mußte irgendwo am Boden gehockt haben. Der Rhythmus der Trommeln steigerte sich. Die Stimmen der Irokesen wurden schriller. Zwei Yards vor Pierre de Neuville blieb Thayandanega stehen. Mit einem wilden Ruck griff er unter seine Lederkleidung und streckte dann den rechten Arm aus.
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Die breite Klinge seines Messers schien im Feuerschein zu glühen. Die Trommeln peitschten den Rhythmus zur Raserei. Langsam, unendlich langsam, bewegte sich der Irokesen-Häuptling auf den Gefangenen zu. Das funkelnde Messer wies auf Pierre de Neuvilles Bauch. Das Grauen packte den Seewolf. Er erinnerte sich an das, was Pierre ihm gesagt hatte. Die Irokesen waren Meister darin, einen Menschen zu Tode zu quälen. Sie verstanden es, die Marter stunden-, ja tagelang hinauszuziehen. Wie von einer unaufhaltsamen Macht gezogen bewegte sich das Messer auf die ungeschützte Haut des wehrlosen Mannes zu. Die Stimmen der Irokesen näherten sich einem schrillen Diskant, von den Trommeln zur Raserei getrieben. Hasard zog die schwere Pistole, spannte den Hahn und visierte an. Er konnte sich auf die unübertroffene Präzision dieser Waffe verlassen. Das Radschloß schnurrte. Hasard drückte ab. Der Flint klickte auf das Reibrad und sprühte Funken. Im nächsten Moment donnerte der Schuß. Die Hölle brach los. Der Irokesen-Häuptling schien in die Höhe zu wachsen. Seine Arme flogen empor. Das Messer wirbelte in hohem Bogen durch die Luft. Dann ging er im jähen Gewühl unter. Der schrille Gesang versiegte, die Trommeln waren schlagartig verstummt. Die Krieger quirlten durcheinander. Doch nur wenige Atemzüge lang. Von allen Seiten peitschten die Musketen der Seewölfe. Todesschreie gellten. Hasard jagte auch die weiteren fünf Kugeln seines Drehlings in das Durcheinander. Tödlich getroffene Krieger sanken in sich zusammen, behinderten die anderen, die versuchten, sich dem Gegner zu stellen, den sie noch nicht erkennen konnten. „Ar — we — nack!“ brüllte der Seewolf. Er stieß die Pistole unter den Gurt und riß das Entermesser aus der Scheide.
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Und die anderen stimmten in den alten Schlachtruf ein. „Ar — we — nack! Ar — we — nack!“ Wie Donner brauste es über die roten Krieger hinweg. Mit erhobener Blankwaffe stürmte der Seewolf als erster auf die Lichtung. Von allen Seiten drangen seine Männer auf die Irokesen ein. Der Stahl der Entermesser blitzte im Flammenschein. Noch immer ließen die Seewölfe ihren donnernden Kampfruf hören. Einige der Irokesen versuchten, zum Flußufer zu fliehen. Aber dort empfing sie ein mördersicher Pfeilhagel. Oskenonton und seine Krieger befanden sich mit ihrem Kanu am jenseitigen Flußufer. Unter ihren gutgezielten Bogenschüssen gelang es keinem der Irokesen, auch nur eins der Kanus zu Wasser zu bringen. Hasards Entermesser zischte. Erbarmungslos hieb er zu. Unbändige Entschlossenheit trieb ihn voran. Nur noch wenige Schritte trennten ihn von den Pfählen, zwischen denen Pierre de Neuville wehrlos hing. Aber diese wenigen Schritte bedeuteten eine unüberwindlich scheinende Wand muskulöser, hünenhafter Krieger, die sich nur zu rasch von ihrem Schreck erholten und jetzt wußten, daß sie um ihr nacktes Leben kämpften. Hasards Entermesser zerschmetterte den Griff einer Kriegsaxt. Im nächsten Moment sank der Mann, der dazugehörte, nach hinten weg. Zwei andere stolperten über ihn. Der Seewolf ließ sie das Gleichgewicht nicht wiederfinden. Sein Weg wurde freier. „Ar —we —nack!“ dröhnte es mit zunehmender Lautstärke. Unter Hasards Entermesser wichen die Irokesen auseinander. Er erhielt Luft, sah, daß auch seine Männer sich mehr Bewegungsfreiheit verschafften. Überall flirrten die Blankwaffen. Und Ferris Tucker schwang die Zimmermannsaxt hoch über seinem Kopf.
Die Bucht der Häuptlinge
Die Huronen hatten aufgehört, Pfeile abzufeuern, um die Seewölfe nicht zu gefährden. Hasard zerschmetterte den letzten Widerstand zweier Irokesen, die sich unter seinen Hieben herumwarfen und davonrannten. Es war wie ein Zeichen. Jene Krieger, die noch am Leben waren, suchten ihr Heil in der Flucht. Hasard stürmte voran. Besorgnis stieg in ihm auf. Dann ließ er das Entermesser sinken, als er vor Pierre de Neuville stand, Der Franzose blickte ihn aus großen, fassungslosen Augen an. Die furchtbaren Schmerzen hatten sein Gesicht gezeichnet. Aber er lebte. Ferris Tucker war zur Stelle. Viermal rasch hintereinander fuhr seine Axt mit dumpfen Schlägen in das Pfahlholz. Die Rohhautseile zerplatzten. Hasard ließ seine Waffe fallen und fing Pierre auf, der selbst nicht mehr in der Lage war, sich aufrecht zu halten. Dan O'Flynn tauchte auf. Dann Sam Roskill, Smoky und Matt Davies. Sie halfen, den zerschundenen Mann zum Flußufer zu tragen. Vereinzelte Schüsse peitschten noch. Al Conroy hatte einige Musketen nachgeladen, und sie schickten den fliehenden Irokesen Kugeln nach. Doch der zusammengeschmolzene Haufen der roten Krieger würde keine Neigung verspüren, sich noch einmal zu einem Gegenangriff zu formieren. Oskenontons Kanu hatte das Ufer erreicht. Die Huronen betteten Pierre de Neuville behutsam in das Boot. Er hatte die Augen geschlossen und war ohne Bewußtsein. Die Qualen waren selbst für einen Mann von seiner Härte zuviel gewesen. Gemeinsam mit Hasard ging Oskenonton auf die Waldlichtung, wo noch immer die Flammen loderten. Die leblosen Körper der Irokesen waren verkrümmt. Dann fanden sie den Häuptling. Thayandanega lag auf dem Rücken. Seine Augen waren blicklos zum Nachthimmel gerichtet. Oskenonton schwieg lange und blickte mit unbewegter Miene auf den
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Mann hinunter, der unendliches Leid über den Stamm der Huronen gebracht hatte. „Vielleicht können wir jetzt in Frieden leben“, sagte Oskenonton leise, „aber wir werden bei Mowhemeho und seinem Volk bleiben. In unsere Heimat können wir nicht zurückkehren. Dort haben die Irokesen die Herrschaft ergriffen. Und wo es Irokesen gibt, gibt es Männer wie Thayandanega.“ Hasard antwortete nicht. Der Häuptling der Huronen wandte sich ab, nachdem er dem Seewolf einen langen Blick zugeworfen hatte. Und Hasard las all das in diesem Blick, was Oskenonton nicht aussprechen konnte. Es gab nichts mehr zu tun an diesem Ort. Zeit zur Rückkehr. * Der strahlende Sonnenschein des neuen Tages ließ abermals die Kälte vergessen. Sie hatten sich im Langhaus des Dorfes Paspahegh versammelt. Dort hatten die Frauen der Huronen und Odjibways ein Lager für Pierre de Neuville bereitet. Die Mittel, mit denen sie ihn versorgten, waren aus Kräutern bereitet, doch von erstaunlicher Wirkung. Nach den wenigen zurückliegenden Stunden war Pierre bereits wieder bei klarem Bewußtsein. Er blickte zu Hasard auf, der vor seinem Lager stand. Neben dem Seewolf sah er Siri-Tong und die beiden Jungen, die dem hochgewachsenen Kapitän der „Isabella“ so sehr ähnelten. Und auch alle übrigen Männer der Crew waren zur Stelle. „Für uns wird es Zeit“, sagte Hasard, „wir haben eine Reise ins Ungewisse vor uns.
Die Bucht der Häuptlinge
Jeder Mann an Bord der ,Isabella` wäre froh, wenn sie uns begleiten würden, Pierre.“ Der Franzose bewegte lächelnd den Kopf. „Sie wissen, daß ich das nicht kann. Ich muß die Pflicht erfüllen, die ich meinem Land schuldig bin. Aber bessere Zeiten liegen vor uns. Wenn Frankreich erst einmal ausreichende Handelsposten aufgebaut hat, und wenn Truppen geschickt werden, dann haben auch die Auseinandersetzungen zwischen den Irokesen und den anderen Stämmen ein Ende. Verlassen Sie sich darauf, Hasard. Frankreich wird uns nicht im Stich lassen.“ „Ich weiß“, sagte der Seewolf, „bevor wir Abschied nehmen, möchte ich Ihnen danken, Pierre, auch im Namen von SiriTong und meinen Söhnen.“ „Nein, nein, ich bin es, der in Ihrer Schuld steht.“ Hasard lächelte und reichte ihm die Hand. Siri-Tong und die Jungen taten es dem Seewolf nach. Dann wandten sie sich rasch ab, denn sie wußten alle, daß ein Abschied um so schmerzlicher wurde, je länger man ihn hinauszögerte. Ein langer Geleitzug von Huronen und Odjibways brachte die Seewölfe zurück zur Küste. Eine Stunde später setzte die Galeone Segel. Ein handiger Südwest blähte das Tuch, und die „Isabella VIII.“ ging mit rauschender Fahrt auf Nordkurs. Die Indianer standen noch immer am Wasser, als das stolze Schiff kaum noch über der Kimm zu erkennen war...
ENDE