Backcover: Im Jahre 2010 kommen gnomenhafte Aliens auf die Erde, die eigentlich nur ihre vor vier Jahrhunderten gestrand...
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Backcover: Im Jahre 2010 kommen gnomenhafte Aliens auf die Erde, die eigentlich nur ihre vor vier Jahrhunderten gestrandeten Gefährten aufnehmen wollen. Doch als die Hobbs erkennen, in welch beklagenswertem Zustand der blaue Planet ist, beschließen sie einzugreifen. Die Menschen werden aufgefordert, nach ökologischen Gesichtspunkten zu leben, andernfalls droht ihnen die Vernichtung. Nach und nach beginnen die Menschen zu verstehen, und alle, die mit den Hobbs in Kontakt treten, verändern sich auf eine rätselhafte, wunderbare Weise. »Judith Moffett ist eine großartige und kunstfertige Erzählerin. Sie haucht ihren Figuren so viel Leben ein, dass wir es bedauern, wenn ihre Geschichten erzählt sind.« LOS ANGELES TIMES BOOK REVIEW
JUDITH MOFFETT Die Rückkehr der Hobbs Science Fiction Roman Ins Deutsche übertragen von Jürgen Martin
BASTEI LÜBBE BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH : Band 24158 Erste Auflage August 1992 © Copyright 1991 by Judith Moffett All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1992 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co. Bergisch Gladbach Originaltitel: The Ragged World Lektorat: Reinhard Rohn Titelillustration: Tim White Umschlaggestaltung: Quadro Grafik, Bensberg Satz: Fotosatz Schell, Bad Iburg Druck und Verarbeitung: Brodard & Taupin La Fleche, Frankreich Printed in France ISBN 3-404-20185-X Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
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Einleitung 23. Februar 2023 Die Hobbs auf Erden Mein Name ist Nancy Sandford. Ich bin Pflanzenzüchterin und Herausgeberin einer Zeitschrift, und früher einmal habe ich an einem College Botanik unterrichtet. Und ausgerechnet mich hat sich Godfrey ausgesucht, damit ich diese Einleitung schreibe, sozusagen der Rahmen für das Buch. Godfrey, das ist der HobbsBeobachter am Rodale-Forschungszentrum in Maxatawny/Pennsylvania, der außerdem noch für mehrere über den ganzen Norden Ohios verstreute Amish-Gemeinden zuständig ist. Es gibt nur weniges, was ich für Godfrey nicht tun würde. Seinem Eingreifen vor einigen Jahren verdanke ich, dass ich noch lebe und er nahm gewiss einige Unannehmlichkeiten dafür in Kauf. Und weil Hilfe von niemandem sonst als den Hobbs kommen konnte, ist es wohl kein Wunder, dass ich, was sie betrifft, nicht objektiv sein kann. So konnte ich mir das Wortspiel meiner Überschrift einfach nicht verkneifen, was immer Sie darüber denken mögen: Aus meiner (zugegebenermaßen sehr eigenen) Sicht der Dinge drückt es nichts als die Wahrheit aus. Nicht, dass ich so weit gehen möchte, zu behaupten, dass die Hobbs in Englands grünen Gefilden das Neue Jerusalem erbaut hätten oder dass sie das eines Tages schaffen werden - doch eines muss ganz klar sein: Ich bin uneingeschränkt für die Machtübernahme, für das Experiment - okay? Ich bin es aus Überzeugung. Wer glaubt, ich hätte mich nur für eine Werbekampagne der Hobbs einspannen lassen, der mag das tun; aber ich könnte nichts anderes schreiben, selbst wenn ich wollte. Und natürlich will ich nicht. Glauben Sie mir, es geht nicht nur darum, dass ich den Tod vor Augen hatte und sie mich gerettet haben - nein; viel eher darum, dass ich, obwohl ein Mensch, mich schon vor langer Zeit den Menschen und dem, was sie denken und fühlen, entfremdet hatte, weil das Leben, das ich zu führen gezwungen war, eben kein menschliches Leben war. Es war weit weniger als das. Vor einem solchen Hintergrund ist es tatsächlich leichter, die Dinge lediglich
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aus der Sicht der Hobbs zu betrachten. Nun gut, nachdem das geklärt ist, kann es weitergehen. Was Godfrey wünschte, war ein kurzer Überblick über die Ereignisse der letzten siebzehn Jahre, eine Geschichte dieser Welt seit dem Erscheinen der Hobbs. Den meisten Lesern wird ein Großteil davon, wenn nicht alles, bekannt sein; doch Godfrey meinte, ich sollte auf jeden Fall die wichtigsten Punkte noch einmal zusammenstellen: über die Ankunft der Fremden, wie sie sich zurückzogen und dann wiederkamen, um zu bleiben - und keineswegs, um das Leben einer Melonenzüchterin zu retten, sondern das Leben auf einem Planeten überhaupt. Also, lassen Sie mich beginnen: Die Hobbs, über und über behaarte, zwergenhafte Humanoide (oder Gnomoide, wenn Sie so wollen), kehrten im Frühling 2006 zur Erde zurück, denn es war nicht das erste Mal, dass sie hier landeten. Im selben Jahr verließen sie unseren Planeten auch wieder, nachdem sie alles Erdenkliche versucht hatten, um jene Artgenossen zu finden, die sie lange Zeit zuvor zurückgelassen hatten und um derentwillen sie gekommen waren. Vier Jahre später, als das Kommando auf ihrem Schiff gewechselt hatte, kamen die Hobbs wieder. Ihre erste Tat bestand darin, zu demonstrieren, dass sie unseren Planeten in Stücke reißen konnten, wenn sie nur wollten. Für die meisten Menschen war jedoch weit erschreckender, dass sie auch über Möglichkeiten verfügten, unsere Gedanken auszuforschen und ebenso ganz nach Wunsch Erinnerungen oder gar das gesamte Gedächtnis zu löschen. (Lassen Sie mich ein wenig vorgreifen, damit es keine Mißverständnisse gibt: Die Androhung einer solchen >Gehirnwäsche< diente den Hobbs, dazu, uns gefügig zu machen, ohne Gewalt anwenden zu müssen - mit oder ohne Zerstörung der irdischen Biosphäre. Das muss man sich immer vor Augen halten. Man kann wohl kaum daran zweifeln, dass sie die Menschheit hätten ausrotten können, ohne irgendein Ökosystem auf diesem Planeten zu schädigen, zumindest keines, das von den Menschen unabhängig existierte. Niemand weiß, wie groß ihre Fähigkeiten der Suggestion wirklich sind. Da es in ihrer Macht liegt, die gesamte Menschheit unfruchtbar zu machen, warum sollten sie nicht auch einen unwiderstehlichen Todeswunsch in die Herzen aller Menschen säen können? Einige von Ihnen werden jetzt sagen, dass sie uns so gut wie ausgerottet haben - dass das Verbot, Nachkommen zu zeugen, nur
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eine Variante jenes Schicksals de r Menschheit ist, wie es in Die letzte Generation beschrieben wird, und dass wir ja nichts weiter in der Hand haben als ihr Versprechen, dass dieses Verbot eines Tages wieder aufgehoben wird. Nun ja, man hört allenthalben Klagen und Jammern darüber, was die Fremden uns angetan haben, vielleicht für uns getan haben - doch wäre es nicht einmal angebracht, dass wir uns klarmachen, was sie hätten tun können oder was sie uns alles angedroht haben, ohne es je auszuführen?) Aber wie dem auch sei - und was immer auch die Gründe waren: Jene Partei, die im Jahr 2010 das Schiff kommandierte, ließ verkünden, dass man sehr interessiert sei, die überaus drängenden Probleme dieses Planeten zu lösen. Noch immer hofften die Hobbs, Hinweise über das Schicksal jener meuterischen Besatzungsmitglieder zu finden, die man einst, in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, in Schweden und Nordengland ausgesetzt hatte, doch war für die neue Führung ein weiteres, noch wichtigeres Motiv hinzugekommen. Also ließ man sich erst einmal auf dem Mond nieder, drohte mit all seiner Macht und schickte Kundschafter, die wie die leibhaftigen sieben Zwerge aussahen, zur Erde und unter die Menschen. Nach einer mehrere Monate dauernden Periode intensiver Beobachtung verlangten die Hobbs nach Schreibkräften und diktierten ihre Anweisungen für die Bewohner der Erde. Sie ließen sie dem Generalsekretär der Vereinten Nationen überbringen, damit sie übersetzt und in allen Sprachen der Erde veröffentlicht würden. Schlangen von Papier spien die Übersetzungscomputer aus, und nun erscholl auf der ganzen Erde ein einziger Aufschrei der Empörung. Was die Hobbs da befahlen, war hart; jeden einzelnen traf es, und für viele bedeutete es den Ruin. Die Liste der Forderungen war unüberschaubar lang und detailliert, doch konnte man die Hauptgedanken leicht auf einen Nenner bringen: Wir, die Erdlinge, hatten neun Jahre Zeit, uns zu bessern. Neun Jahre, nicht mehr und nicht weniger. Sollten wir es bis zum Jahr 2020 nicht geschafft haben, die Forderungen der Fremden zu erfüllen, dann würde das Menschengeschlecht ausgelöscht werden - ohne Gnade, ohne Ausnahme. Sie sagten nicht, wie das geschehen sollte, aber niemand wagte zu bezweifeln; dass sie die Mittel besaßen, ihre Drohung wahr zu machen. (Es entspricht natürlich der menschlichen Natur, solche Dinge zu verdrängen und zu glauben, dass sie nicht wirklich diese Absicht hatten. Verdrängen, sagen die Hobbs, das sei eines der Dinge, die wir am besten können.)
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Die Menschheit sollte ihr umweltschädigendes, das ganze irdische Ökosystem bedrohende Verhalten sofort ändern, das verlangte die Direktive der Hobbs - ohne Rücksicht auf die Folgen, gleich, wieviel an Leiden, Entbehrungen und Hungersnöten über die Menschen kommen würde, ungeachtet eines Zusammenbruchs der ganzen Weltwirtschaft. Was man im Westen um 1970 aus Sorge um die Umwelt unternommen hatte, war kaum der Rede wert; die etwas beherzteren Eingriffe in den späten achtziger Jahren, als die Nachrichten über Umweltschäden immer alarmierender wurden, auch die weltweite Panik im Jahr 2000 - all das führte zu nichts, konnte Profitdenken und Egoismen nicht überwinden. Politiker machten Pläne, setzten Ziele, doch überwog allgemein das Bedürfnis, die Probleme zu verdrängen, bis man schließlich die Versuche, etwas zu ändern, ganz aufgab: So hoffnungslos war die Lage geworden, dass Abhilfe undenkbar schien. Gesetzliche Bestimmungen waren bei weitem nicht ausreichend, wenn es sie überhaupt gab. Kein Lebewesen existierte, das nicht ernsthaft bedroht war; wenn es mit den Menschen denselben Lebensraum teilte. Das galt schon im Jahr 2006 und erst recht 2010, als die Hobbs zurückkehrten. Trotzdem entschlossen sie sich zu einem letzten, verzweifelten Versuch, die Erde zu retten - zu verhindern, dass eine neue Phase der Evolution begann, mit Lebensbedingungen, die für die Hobbs ebenso unzuträglich waren wie für die Menschen. Jeder, der ihr Eingreifen nicht schätzte, wusste jedoch, dass sie das Heft in der Hand hatten: Sie gaben keine Ratschläge, sie befahlen. Und sie bemühten sich nicht einmal, höflich zu sein. So lauteten die Direktiven der Hobbs: - Die Nutzung fossiler Brennstoffe musste eingeschränkt werden und sollte schließlich ganz auslaufen; auch auf Kernenergie sollten wir verzichten. Erlaubt waren nur regenerierbare Energiequellen Holz, Alkohol oder Pflanzenöle. Strom sollte aus Wasserkraft, Wind und Sonnenlicht erzeugt werden, doch keinesfalls mit Hilfe der großen, landschaftszerstörenden Staudämme. Den Leuten in Detroit und anderswo gab man neun Jahre, um ein Auto zu entwickeln, das entweder mit Sonnenzellen betrieben wurde oder mit Wasserstoff, der durch Elektrolyse erzeugt wurde, und innerhalb neun Jahren mussten die Fahrzeuge auf den großen Autobahnen der Welt zur Verminderung der Reibung auf Schienen rollen. Kühlschränke und Klimaanlagen, die Fluorchlorkohlenwasserstoffe als Kühlmittel benutzten, durften
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nicht mehr repariert werden, wenn sie defekt waren. Die wenigen Länder, die diese chemischen Verbindungen noch herstellten, mussten sofort damit aufhören. - Alle industriellen Verfahren, bei denen giftige Abfälle entstanden, mussten aufgegeben werden. - Kunststoffe mussten biologisch abbaubar sein - alle, ohne Ausnahme, ob sie nun auf der Basis von Erdöl oder sonstwie hergestellt wurden. - Die Aufforstung abgeholzter Waldgebiete musste dramatisch beschleunigt werden, und kein einziger Quadratmeter des noch übrigen Regenwaldes durfte mehr angetastet werden. - Wasserläufe und Seen durften nicht länger verunreinigt werden, nicht mit organischen Verbindungen, nicht mit Phosphaten und Nitraten. Mit Wasser sollte sparsam umgegangen werden. - Das Versenken von Abfall in den Meeren war verboten. - Endlich wurde Ernst gemacht mit dem, was nachdenkliche Leute, die unsere Methoden der Landwirtschaft für ruinös hielten, schon seit dreißig Jahren gefordert hatten: Jeder, der ein Stück Land bestellte, ob klein oder groß, musste lernen, Boden und Natur zu pflegen, anstatt auszubeuten - denn kein Kunstdünger, kein Unkrautvernichtungsmittel und kein Pestizid war mehr erlaubt, statt dessen gab es Gründüngung und biologische Schädlingsbekämpfung. Um die Bodenerosion zu stoppen, gebot die Direktive eine schützende Bepflanzung des Brachlandes, unbebaut durfte kein Stück Ackerland liegenbleiben. Auch mit Monokulturen sollte Schluss sein. Für die Maschinen der Bauern galt ebenfalls, dass keine fossilen Brennstoffe benutzt werden durften. Jede Bewässerung, die zu Lasten des Grundwasserspiegels ging oder zur Versalzung der Böden führen konnte, musste unterbleiben. Das war mehr als nur eine Umstellung für die Landwirtschaft, es war eine Zerreißprobe. Und für die Bauern war es ein Wirklichkeit gewordener Alptraum. Dabei war noch gar nicht die Rede von den Bestimmungen, die für die gesamte Industrie und das Transportwesen galten: Waren und Produkte durften über längere Strecken nur noch mit der Bahn oder per Schiff transportiert werden. Das bedeutete nichts anderes, als dass man von der globalen zur lokalen Verteilung der Waren übergehen musste, und die Erträge der Wirtschaft fielen ins Bodenlose. Es schien, als erwarteten die Hobbs, dass die Bewohner einer jeden Region sich selbst mit allen Lebensnotwendigkeiten versorgten - in vielen Fällen ganz offensichtlich eine schiere Unmöglichkeit.
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Aber darauf nahm die Direktive keine Rücksicht. Es stand da auch nichts zu lesen, wie man mit Pflanzenextrakten Schädlinge bekämpfen konnte oder wie man aus Pflanzenöl Brennstoff herstellte. Nichts erfuhr man, wie die Katalysatoren aussehen sollten, die man dringend benötigte, wollte man verhindern, dass die geforderten Holzöfen ihrerseits zu einer neuen, gefährlichen Quelle der Luftverschmutzung wurden - oder wie man solche Öfen und Pflanzenölbrenner in ausreichender Zahl herstellen sollte, um die Wohnhäuser eines ganzen Planeten zu heizen. Es war schon eine ganze Menge, worüber die Direktive sich ausschwieg. Die Hobbs sagten, was zu tun war, das Wie überließen sie den Menschen. Genau betrachtet bedeutete die Direktive, dass man die Uhren um die Kleinigkeit von dreihundert Jahren zurückstellte. Dass die Weltbevölkerung damals um ein Vielfaches kleiner gewesen war, dass die Welt inzwischen zusammengewachsen war, dass Computernetze eine einheitliche Weltwirtschaft mit vielfältigsten Wechselbeziehungen geschaffen hatten - es zählte nicht. Dass jeder Eingriff unübersehbare Folgen haben konnte, besonders für die hochindustrialisierten Länder, dass die Direktive Not und Leiden bedeutete und für viele den Tod, nicht nur deshalb, weil medizinische Forschung und hochtechnisierte Behandlungsmethoden auf dem bisherigen Niveau nicht beibehalten werden konnten - das alles war für die Hobbs kein Thema. Überhaupt zeigten sie für die Menschen und die menschliche Gesellschaft wenig Interesse: In die Politik mischten sie sich nicht ein; Probleme des Zusammenlebens, Gewalt und Kriminalität schienen ihnen bedeutungslos. Mochten die Menschen weiter Kriege führen, solange es kein Nuklearkrieg war; tatsächlich war Krieg nicht verboten, nicht einmal ausdrücklich missbilligt. Die irdischen Regierungen sollten ihre Angelegenheiten untereinander regeln, auch wenn sie nun mit völlig neuen Gegebenheiten rechnen mussten, denn was Landwirtschaft, Industrie, Verkehr und Abfallbeseitigung betraf, war einiges zu tun, wollte man das Ultimatum der Hobbs einhalten. Ein Kuriosum sei am Rande vermerkt: Die Direktive forderte, dass in Washington, D. C., ein Institut für Zeitphysik eingerichtet wurde (allerdings wurde das Ausbildungszentrum des Instituts später nach Santa Barbara verlegt, um Probleme mit der fatalen Neigung der Hobbs zum Winterschlaf zu umgehen, die sich bei kaltem Wetter bemerkbar macht). Die Fremden, die behaupteten, die wahre Natur der Zeit zu verstehen, wollten dieses Wissen mit
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den Menschen teilen - ein Geschenk, wie sie sagten, um uns ein wenig für die von der Direktive auferlegten Entbehrungen zu entschädigen. Überflüssig, zu erwähnen, dass die Direktive der Hobbs weithin mit Empörung aufgenommen wurde, doch überwog bei weitem die Angst. Aber ich war nicht der einzige Mensch, der froh war, dass die Hobbs aufgetaucht waren. Eine Menge Leute entdeckte, dass es nicht Unmut und Groll war, was sie fühlten, sondern Erleichterung und sogar ein wenig Dankbarkeit. Die Zustände in dieser Welt waren ein Skandal; dass die Fremden das Sagen hatten, bedeutete doch, dass die notwendigen Maßnahmen zur Rettung der Umwelt, die seit Jahrzehnten nicht durchzusetzen waren, nun endlich Wirklichkeit werden konnten. Mehr als nur ein paar Außenseiter betrachteten die Hobbs deshalb als die Retter der Menschheit. Doch auch sie hatten Angst. Neun Jahre schienen eine kurze Frist, um so vieles zu ändern und um trotz der vielen Restriktionen die Probleme in Angriff zu nehmen, selbst wenn die Hobbs dabei helfen sollten. In den ersten beiden Jahren nach ihrer Rückkehr betrachtete man die Hobbs darum mit gemischten Gefühlen; vorsichtiger Optimismus und offene Besorgnis hielten sich die Waage. Dann, im Jahr 2012, erfuhren die Menschen, dass die Hobbs die ganze Zeit nur Befehle ausgeführt hatten. Eine andere Rasse mit Namen Gafr befehligte das Schiff, und sie lebten mit den Hobbs in einer rätselhaften Art Symbiose zusammen. Die dreißig Hobbs, die man vorzeiten in England und Schweden ausgesetzt hatte, waren so für ihren Ungehorsam gegenüber den Gafr bestraft worden. Die HobbsDirektive war also tatsächlich eine Direktive der Gafr. Das machte eigentlich keinen Unterschied, doch bekamen viele Menschen es erneut mit der Angst zu tun - oder der alte Groll erwachte, denn man wurde sich bewusst, in welchem Maße man sich den Fremden unterordnen musste. So kostete diese Enthüllung die Außerirdischen einiges an Unterstützung. Die Direktive hatte über den Umfang und die jährliche Zuwachsrate der Weltbevölkerung nichts ausgesagt, doch durften sich jene, denen diese Zurückhaltung eher beunruhigend erschienen war, schon im folgenden Jahr, 2013, bestätigt fühlen: Endlich zeigte sich ein Hobbs im Fernsehen, um eine wichtige Botschaft zu verlesen. Die Gafr, sagte er, seien über die bisherigen Fortschritte der Menschheit sehr unzufrieden und hätten angesichts der ewigen Streitereien unter den Nationen, der gegenseitigen
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Schuldzuweisungen die Geduld verloren. Die Vorgaben der Direktive könnten bei dem gegenwärtigen Tempo nicht bis zu dem Ultimatum des Jahres 2020 erfüllt werden. Offensichtlich nähmen die Menschen die Androhung ihrer Vernichtung nicht ernst genug, um darüber ihren Streit zu begraben und zusammenzuarbeiten. Der Sprecher der Hobbs meinte, er persönlich staune immer wieder aufs neue über die Fähigkeit der Menschen zur Selbsttäuschung, über die Leichtigkeit, mit der sie Wunschdenken an die Stelle von rationalem Verhalten setzen könnten. Die Gafr wollten jedenfalls nicht gezwungen sein, ihre Drohung wahr zu machen. Sie hätten beschlossen, einen anderen Weg zu gehen. Mit sofortiger Wirkung sei das Neun-Jahres-Ultimatum widerrufen. Stattdessen würde jeder, der nun vor dem Fernseher sitze (und das war praktisch jedermann), von diesem Augenblick an unfähig sein, sich fortzupflanzen. Von heute an in neun Monaten würde es keine Babys mehr geben -, und zwar so lange, bis die Ziele der Direktive erreicht waren. Vor diesem Fernsehauftritt wussten nur einige wenige Menschen, in welchem Maße die Hobbs das menschliche Bewusstsein durch Suggestion beeinflussen konnten. Danach wusste es jeder. Das Opfer einer Massenhypnose mit dem Resultat weltweiter Sterilität zu sein, das war für die meisten Menschen die einzige mehr oder weniger >unmittelbare< Begegnung mit den Außerirdischen. Doch gab es auch Kontakte persönlicher, ja freundschaftlicher Art, und einige Erdenbewohner, deren Leben mit Arbeit und Problemen so ausgefüllt war, dass sie für nichts anderes Augen hatten, stolperten zu irgendeinem Zeitpunkt ganz unvermutet über einen der Fremden. So wie ich zum Beispiel. So wie einige Leute, die ich kenne. Dieses Buch berichtet über das, was einige von uns erlebten, als die Hobbs auf die Erde kamen.
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1 1990 Erinnerungen an die Zukunft Ich stolperte in die Dunkelheit, weg von dem Wagen, Und stand im Schein des Schlusslichts vor dem Bündel - eine Hindin, nicht lange tot; Sie war fast steif, fast schon erkaltet. Ich zerrte sie beiseite; ihr Leib war dick. William Stafford, >Traveling Through the Dark< Jener Tag war nur ein weiterer unschöner, grauer Tag am Ende eines hässlichen Oktobers, und was ich zu tun hatte, machte es nicht besser: Die Prüfungsarbeiten zur Semestermitte mussten korrigiert werden. An solchen Tagen lohnte uns unser winziger Holzofen alle die Umstände, die wir seinetwegen in Kauf genommen hatten: das Abnehmen der Holzverkleidung über der Feuerstelle, das Wiedermontieren, nachdem das vorgeschriebene Isoliermaterial angebracht war - sonst hätte uns die Baupolizei nicht erlaubt, den Ofen anzuschließen. Vom Feilschen mit den Holzhändlern, die einen übers Ohr hauen wollen, will ich gar nicht reden. Die Männer, die ihn aufgestellt hatten, konnten es kaum glauben: Das sei nicht nur der kleinste Ofen, den sie je installiert hätten, nein, einen solchen Winzling hätten sie überhaupt noch nie gesehen. Passendes Feuerholz musste eigens bestellt werden, aber der Kleine heizte phantastisch und sah einfach zu niedlich aus. Normalerweise wechselten mein Mann und ich uns ab, wenn es darum ging, wer das Sofa vor dem Ofen als Arbeitsplatz benutzen durfte, doch wer immer einen Stapel Arbeiten zu korrigieren hatte, hatte natürlich den Vortritt. Es war hier nicht nur unglaublich gemütlich, das ständige Hantieren und Justieren, um die richtige Brenntemperatur von vierhundert Grad einzuhalten, war auch eine willkommene Ablenkung und machte die eintönige Arbeit erträglich. So hatte ich früh an diesem Oktobermorgen meinen Anspruch auf den Ofenplatz angemeldet. Ich hatte den Aschenkasten geleert,
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Holz und Material zum Anfeuern hereingetragen, bis die Holzkiste gefüllt war; ich rieb das Ofenfenster blank, stapelte Scheite in den Brennraum, stellte Luftklappe und Katalysator ein, und als es gar nicht mehr anders ging, holte ich tief Luft und setzte mich mit einem Stapel Aufsätze aus meinem Kurs über zeitgenössische amerikanische Lyrik auf das Sofa, während rote Flammen anheimelnd hinter der Glasscheibe züngelten. Um die ersten beiden Arbeiten zu überstehen, braucht es eine Menge Selbstdisziplin, ja finstere Entschlossenheit; danach verfällt man in eine Art Trance, was die Sache erleichtert. Matt war an diesem Tag außer Haus. Hin und wieder stocherte ich in der Glut, legte Holz nach, justierte Luft- und Ofenklappe, schrieb Anmerkungen auf den Rand einer Seite oder unten auf das letzte Blatt eines Aufsatzes. Das Telefon klingelte nur einmal: Ein Student, der seine Hausarbeit am Montag nicht abgegeben hatte, fragte nach dem Weg, um sie vorbeibringen zu können. Das war die einzige Unterbrechung, und als ich mir schließlich eine Pause gestattete, da hatte ich schon fünf Arbeiten geschafft - ein Viertel des Kurses und eine hervorragende Bilanz für einen Vormittag. Noch zwei, versprach ich mir, dann darfst du bis heute Abend alles stehen und liegen lassen. Aber an der ersten Arbeit, die ich nach dem Lunch in die Hand bekam, war etwas faul. Es begann ganz normal mit der Beantwortung einer der vier Multiple-choice-Fragen, die ich dem Kurs am Montag vorgelegt hatte; auf der zweiten Seite nahm es jedoch eine höchst seltsame Wendung. Ganz unvermittelt las ich von Kernkraftwerken und einer zukünftigen Katastrophe und brach mit einem lauten Stöhnen ab, als die Rede darauf kam, dass nur Invasoren aus dem Weltall uns daran hindern könnten, uns selbst zu vernichten. Invasoren aus dem All! Ich sah nach dem Namen auf der Arbeit und stöhnte wieder. Terry Carpenter, das war der Junge, der nun auf dem Weg hierher war, um mir die verspätete Hausarbeit zu bringen. Das ließ mir nicht sehr viel Zeit, um zu überlegen, was zu tun war. Ich blätterte zur ersten Seite zurück und las noch einmal, Wort für Wort, während ich leise vor mich hinfluchte. Es ist an einer sehr leistungsorientierten Universität keineswegs ungewöhnlich, dass Studenten der unteren Semester in der Zeit der Zwischenprüfungen, wenn sich Hausarbeiten und Klausuren häufen, in eine psychische Krise hineinschlittern - besonders, wenn sie ohnehin nicht sehr robust sind. Ich wusste von Fällen, in denen
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Studenten mit Selbstmord drohten. Das ist wirklich alles andere als ungewöhnlich, aber man glaubt und hofft natürlich, dass es nicht in einem der eigenen Kurse passiert - denn die Zeit der Zwischenprüfungen ist für die Dozenten nicht weniger mühsam als für die Studenten. Was man sich daher am wenigsten wünscht, ist zusätzliche Arbeit, die ein Student mit Problemen allerdings stets mit sich bringt. Man muss nach den Ursachen forschen, die Sache überdenken, Abhilfe schaffen. Man kann es nicht ignorieren, würde es auch nicht ignorieren wollen aber am liebsten wäre es einem, wenn das Problem gar nicht erst auftauchen würde. Das Thema, das Terry sich ausgesucht hatte, war eine vergleichende Gegenüberstellung des wundervollen Gedichts >Der Elch< von Elizabeth Bishop, das von den Reisenden in einem Bus berichtet, die sich auf der Fahrt von Neuschottland nach Boston plötzlich einer Elchkuh gegenübersehen, mit William Staffords viel kürzerem Gedicht > Reise durch die NachtReise durch die Nacht< hatte ich meinen Studenten am Tag der Klausur zum ersten Mal vorgelegt. Die Gemeinsamkeiten der beiden Gedichte - die nächtliche Reise, das Gegenüber von Maschine und Tier, Mensch und Tier, die starken emotionalen Reaktionen der Menschen und so weiter - legten ganz selbstverständlich nahe, jedes Gedicht aus der Perspektive des anderen zu betrachten, obwohl die Unterschiede in Länge, Tonfall, Inhalt, Form und Absicht des Autors beiden ein ganz eigenes Profil gaben. Dieses Thema war mir von Anfang an als das einfachste und interessanteste von allen vieren erschienen. Aber etwas daran musste Terry Carpenter völlig aus der Fassung gebracht haben: > ...oben am Berg die Bäume waren alle tot, verdorrt, verkrüppelt, die Hirsche von der Strahlung vernichtet, so dass der Fremde auf seiner Seite der Linse keinen einzigen sehen konnte, und als der Hirsch dann vor mir auftauchte, wurde mir ganz elend zumute, denn all diese Kraft und Schönheit würde zu nichts führen, wie ausdauernd er auch den Weibchen nachstellte. Die Kitze würden alle sterben: Irgendwann in der Linie seiner Nachkommen würde alles enden, denn verdammt waren sie, durch unsere Dummheit zu sterben, und dieser bedauernswerte prächtige Hirsch, vergeudet waren seine Kraft und Schönheit ...< Seite um Seite ging es so weiter, in diesem beinahe poetischen Stil, nur Kommas gliederten die Sätze, es wirkte seltsam entrückt und
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suggestiv. Nein, das war nicht der Stil, der zu einem Studenten wie Terry Carpenter passte. Obwohl ich die Arbeit nun schon zum dritten Mal las, schweiften meine Gedanken immer wieder ab; unmöglich, sich auf den Sinn dieses Textes zu konzentrieren wenn man hier überhaupt von einem >Sinn< reden konnte. Zweifellos hatte Terry sein Thema verfehlt, aber was weiter hatte das alles zu bedeuten? Ein Blick auf den Ofen ließ mich aufspringen; während ich mir über Terrys Aufsatz den Kopf zerbrochen hatte, war die Anzeige des roten, runden Thermometers auf 275 Grad zurückgegangen. Ich zog die Handschuhe an und stocherte hastig in der Glut; ich musste eine gleichmäßige Schicht herstellen, auf die ich kleinere Holzstücke und Späne streuen konnte, damit sich genug Hitze für die größeren Scheite entwickelte. Dann schloss ich die kleine Eisentür, machte die Luftklappe auf und wartete, dass das Feuer wieder in Gang kam. Zeit, um mir ins Gedächtnis zu rufen, wie denn Terrys Stimme am Telefon geklungen hatte; so sehr ich mich bemühte, mir war nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Aber ich hatte es ja so eilig gehabt, den Hörer wieder wegzulegen, dass mir wohl nichts aufgefallen wäre, was sich nicht schon über die Maßen beängstigend angehört hätte. Überhaupt war mir an Terry Carpenter noch nie etwas aufgefallen. An seinen Leistungen war nichts auszusetzen; das einzige Mal, da ich ihn bisher benoten musste, hatte er eine Zwei bekommen. Er war auch nie bei mir in der Sprechstunde gewesen und hatte bis heute nie etwas getan, was meine Aufmerksamkeit erregte. Ich musste feststellen, dass ich absolut nichts über diesen Jungen wusste. Ich ließ den Ofen sein, warf die Handschuhe in die Holzkiste und rief im Büro meines Mannes an: Er war nicht da. Dann versuchte ich es im Sekretariat unseres Lehrstuhls und erfuhr, dass die Frau Professor noch den ganzen Nachmittag in einer Ausschusssitzung sein würde, und bevor ich noch darum bitten konnte, einmal nach der Akte von Terry Carpenter zu sehen, hörte ich, wie draußen eine Autotür zugeschlagen wurde. Terry und ich erreichten gleichzeitig die Haustür, jeder auf seiner Seite. Ein großes, blitzblankes Auto, dessen Motor noch lief und unnötig Benzin vergeudete, hatte sich hinter meinen zehn Jahre alten Toyota in die Auffahrt gequetscht. Als ich öffnete, sagte Terry gutgelaunt »Hi!«, drückte mir einen Umschlag in die Hand und hatte sich schon wieder zum Gehen gewendet, als er noch sagte: »Tut mir leid, Sie zu Hause zu stören. Und entschuldigen Sie, dass ich
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nicht rechtzeitig abgegeben habe.« Aber er wirkte keinesfalls zerknirscht, sondern erleichtert, und ein wenig müde - wie jeder andere Student auch, der glücklich ist, eine lästige Arbeit endlich erledigt zu haben. Er trug Jeans und einen teuren Cordmantel. Die Haare waren ungekämmt, er hatte sich nicht rasiert - typische Symptome einer durchgearbeiteten Nacht. Wenn man die Umstände bedachte, dann hätte er nicht normaler aussehen können. Auch die Eile, mit der er verschwinden wollte, war durchaus normal. Fast hätte ich ihn gehen lassen - aber ich konnte den Eindruck dieses rätselhaften Textes nicht einfach ignorieren. »Wollen Sie nicht kurz hereinkommen? Ich habe einige Fragen zu Ihrer Klausur.« Ich sagte es mehr wie einen Befehl als eine Bitte. »Oh ...«, erwiderte Terry, »okay, geht in Ordnung«, aber sein Lächeln verschwand. »Ich werde wohl besser den Motor abstellen. Der Wagen gehört einem Freund«, fügte er fast verlegen hinzu, als hätte er eben meinen alten Toyota bemerkt. Er trat ein. Ich schloss die Tür, ging in die Küche, füllte den Elektrokocher mit Wasser, schaltete ein. »Tee?« fragte ich kühl und geschäftsmäßig, während Terry seinen Mantel auszog und über einen Stuhl warf. »Danke, ja ... Ist etwas mit meiner Arbeit nicht in Ordnung?« »Darauf komme ich gleich.« Unter lautem Klappern suchte ich Tassen, Löffel und alles andere zusammen, um die Pause zu überbrücken. Das Wasser kochte, ich goss so rasch wie möglich den Tee auf, stülpte die Haube über die Kanne und trug das schwere Tablett hinüber ins Wohnzimmer. Nun konnte ich dem Problem nicht länger ausweichen. »Setzen Sie sich.« Ich ließ mich in die andere Sofaecke fallen, nahm die oberste Arbeit vom Stapel und sah ihm fest in die Augen. »Also, Terry: Es wäre das beste, wenn Sie mir die Wahrheit sagen. Hatten Sie irgendwelche Drogen genommen, als Sie das geschrieben haben?« »Großer Gott, nein!« Er setzte sich kerzengerade auf, offensichtlich erschrocken - aber noch immer konnte mein geschultes Auge keine Auffälligkeiten an ihm entdecken; jeder andere Student, dem man ohne Vorwarnung so etwas an den Kopf geworfen hätte, hätte ähnlich reagiert. »Das heißt, wenn Sie so wollen, Kaffee natürlich. Ich habe fast die Nacht durchgemacht, um die Hausarbeit abzuschließen. Aber warum fragen Sie das?« »Haben Sie jemals LSD genommen? Tut mir leid, dass ich so indiskret bin, aber ich muss es wissen.« »Na ja, einmal. Das war noch an der High School.« »War es ein Horrortrip?«
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»Nein, überhaupt nicht. Ich hatte nur wissen wollen, wie das ist, und ich habe es nie wieder getan.« »Nie wieder?« Jetzt war er wirklich beunruhigt; er lehnte sich gegen die gepolsterte Seitenlehne des Sofas, weit weg von mir, und schüttelte den Kopf. »Warum stellen Sie mir solche Fragen? Was hat das mit meiner Klausur zu tun?« »Das hoffte ich von Ihnen zu hören.« Ich reichte ihm seine Arbeit. Rasch überflog er das erste Blatt, dann das nächste; ich sah zu, wie seine Augen über die Zeilen huschten, während sich seine Stirn runzelte und das Gesicht erbleichte. Er las die dritte Seite, warf mir eine kurzen, entsetzten Blick zu und begann dann die vierte. Plötzlich sah er auf und ließ die Blätter auf den Schoß sinken. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll ... Ich verstehe das nicht.« »Erinnern Sie sich, das geschrieben zu haben?« »N-nein ... Ich fühlte mich sehr schlecht am Montag, ich hatte schon zwei Nächte kaum geschlafen. Es schien mir auch, als würde ich eine Erkältung ausbrüten.« »Aber Sie haben es geschrieben, ja?« Ich ließ nicht locker, ich musste es wissen. Aufgeregt sagte Terry: »Aber ja, ich habe es geschrieben ... ich meine, ich muss es geschrieben haben, weil es meine Handschrift ist. Aber mein Gott, ich erinnere mich nicht daran!« »Gut. Aber wie wollen Sie es dann erklären?« Er sah aus, als würde er gleich losheulen. »Nun ..., vielleicht ging es mir noch viel schlechter, als ich damals dachte. Ich weiß nicht, vielleicht hatte ich Fieber oder so.« »Aber jetzt geht es Ihnen besser?« »Bevor ich das hier gelesen habe, ging es mir gut, tatsächlich. Ich habe Montagnacht eine Menge Schlaf nachgeholt.« Ich dachte eine Weile nach, während Terry in seiner Sofaecke kauerte und der Tee vor sich hinzog, ohne dass jemand ans Abgießen dachte. »Also gut. Gehen wir davon aus, dass Sie sich ans Schreiben nicht erinnern können - aber erkennen Sie den Inhalt wieder? Ich meine, ist es vielleicht etwas, was Sie gelesen haben, ein Science-fiction-Roman vielleic ht oder ein Film im Fernsehen?« »Das ist das Unheimlichste daran«, sagte er heiser. »Irgendwie kommt es mir bekannt vor. Ich hatte ... einen Traum. Ich denke, es muss ein Traum gewesen sein!« »Wann war das?« »Irgendwann am Wochenende. Ich hatte es völlig vergessen, bis
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Sie mir das hier gezeigt haben.« »Terry, ich fürchte, das ist eine ernste Sache«, sagte ich. »Sind Sie vielleicht überarbeitet? Oder gibt es private Probleme?« Er erwiderte nichts, aber warum sollte er ausgerechnet mir davon erzählen? »Was auch immer das Problem ist, ich schlage vor, dass Sie sich an den Gesundheitsdienst der Universität wenden. Sie zeigen ihnen diese Arbeit, sagen, dass Sie ein Blackout hatten und es geschrieben haben, ohne davon zu wissen.« Ich hielt inne. Terry hörte gar nicht mehr zu; er hatte sich vornübergebeugt, die Ellbogen auf den Knien, und hielt sich mit beiden Händen den Kopf. Auch ich musste mich vorbeugen, um ihn überhaupt verstehen zu können: »Vielleicht ist es wirklich passiert, im Park ... o Gott, ich glaube, mein Kopf zerspringt!« »Sie wollen doch nicht sagen, dass das mit den Außerirdischen wahr ist?« Ich bereute sofort, was ich da sagte. Terry schaukelte stärker, er wimmerte beinahe lautlos: »Könnte ich ... haben Sie vielleicht Aspirin oder so etwas? Ich kriege meine Gedanken nicht mehr zusammen.« »Ich werde es holen. Können Sie es mit Tee einnehmen? Gießen Sie doch schon mal ein, ja? Der Tee müsste so weit sein.« Ich lief nach oben zum Arzneischrank und war auch schon wieder zurück, das Flaschen mit den Tabletten in der Hand. Nachdem Terry sich bedient und an seinem Tee genippt hatte, sagte ich: »Okay, ich muss mich für meine Bemerkung entschuldigen. Aber sagen Sie mir doch, was Sie mit >Park< gemeint haben - was war das für ein Park?« »Der Naturpark nördlich von hier. Ich werde versuchen, es Ihnen zu erklären, aber mir ist so komisch ... ich bringe es einfach nicht zusammen ...« Er würgte plötzlich und sprang auf. »Ich glaub', ich muss mich über ... Wo ist die Toilette?« Er stürzte aus dem Zimmer, während ich ihn in die richtige Richtung dirigierte. »Es muss mich wirklich ganz schön erwischt haben«, sagte er, als er langsam wieder die Treppe hinuntergekommen war, »das passiert mir sonst nie. Kann ich noch ein paar Tabletten haben?« Er versuchte mühsam, zu lächeln. »Die anderen waren wohl nicht lange genug vor Ort, um etwas ausrichten zu können.« Ich gab ihm noch zwei Tabletten. »Trinken Sie langsam. Also gut, zurück zum Park, wenn Sie sich in der Lage fühlen, zu reden.« Terry ließ sich gegen die Lehne sinken und wendete mir das Gesicht zu, ein hübsches Gesicht trotz des grünlichen Schimmers und der Bartstoppeln. »Also, ich war dort am frühen
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Sonntagmorgen. Ich dachte, dass mir vielleicht etwas zu der Hausarbeit einfallen würde - es war schrecklich, die ganze Zeit habe ich überlegt, was ich nur schreiben sollte. Stundenlang saß ich am Samstag am Schreibtisch. Dann habe ich einige Stunden geschlafen, und als ich aufwachte, war es fünf Uhr. Und plötzlich hatte ich das Gefühl, ich müsste einmal aus der Stadt heraus vielleicht konnte etwas frische Luft meine trübe Stimmung verscheuchen, verstehen Sie? Ich lieh mir das Auto meines Zimmergenossen und fuhr zum Park. Kurz davor hielt ich an einer Imbißbude, holte mir Kaffee und eine Tüte Blaubeer-Muffins. Dann ließ ich das Auto stehen und spazierte durch die Gegend, während es allmählich hell wurde.« »Warum soviel Aufhebens um die Zwischenprüfung? So schlimm ist das doch gar nicht.« »Ich weiß nicht. Nur hatte ich noch zwei andere Klausuren in der letzten Woche und eine Hausarbeit, die am Freitag abzugeben war. Vielleicht war ich einfach ausgebrannt, hatte keine Ideen mehr. Letzte Nacht setzte ich mich dann hin und schrieb - das war es schon.« »Einen Augenblick, bitte.« Ich war aufgestanden, um nach dem Ofen zu sehen. Doch dann besann ich mich anders, nahm den Umschlag zur Hand, den er mir gebracht hatte, und zog das Bündel Blätter heraus. Ich überflog die Arbeit - ein ganz normaler Aufsatz; keine Außerirdischen, keine Katastrophen. »Gut. Sie waren also im Park. Wo hatten Sie das Auto abgestellt?« »Unten am Bach, am Parkplatz von Sycamore Mills. Kennen Sie die Gegend? Ich war dort oft mit meinem Vater, als ich noch klein war. Wir wohnten damals hier draußen, er arbeitete in der Stadt. Er liebte diesen Park über alles und konnte sich am Rotwild nicht sattsehen. Es ist wirklich merkwürdig, aber ich war dort seit vielen Jahren nicht mehr, nicht, seit meine Eltern sich getrennt haben aber ich kannte noch alle Wege und wusste genau, wie man von der Hauptstraße dort hinkommt.« Hier spitzte ich nun die Ohren: Das hörte sich ganz so an, als hätte da ein zufälliges Erlebnis an ein Kindheitstrauma gerührt - ein seelischer Schock also? Ich sagte: »Ich bin sehr oft dort, es ist eine meiner liebsten Laufstrecken. Sie sind also von Sycamore Mills aus die Straße am Bach entlanggegangen. Und was dann?« »Nun, ich blieb auf der Straße, solange sie dem Bach folgt, bis der markierte Weg beginnt« - er sah mich an, und ich nickte; es war der sogenannte >Weiße Wegwirklich< vorgegangen war: ein großer Mensch, ein kleiner Fremder, die zusammen in eine Vergangenheit blickten, die für sie nicht (mehr) erreichbar war. Das alles, sagte ich mir insgeheim, würde Wasser auf die Mühlen der Psychiater sein; ich durfte mir kein Wort davon entgehen lassen. »Deshalb sagte ich - und ich fühlte mich wirklich wie ein kompletter Idiot: >Aber he, Sie können doch nicht riskieren, in die Vergangenheit einzugreifen.< >Tun wir nichtmein Freund wird deine Erinnerung auslöschen. Tut mir leid, es muss sein. Ich hätte das Ganze eigentlich gar nicht machen dürfen, außerdem haben wir noch den falschen Tag erwischt. < Er schien darüber sehr enttäuscht zu sein. Also frage ich: >Was hätten Sie nicht machen dürfen?Ich bin am Institut für Zeitphysik und habe meinen Freund hier, der Abteilungsleiter und mein Chef ist, zu diesem Experiment überredet, weil ich für jemand in meiner Verwandtschaft, der in ein paar Monaten siebzig wird, ein Geburtstagsgeschenk basteln wollte. Es war wirklich eine tolle Idee für ein Geschenk!< Wissen Sie, er wollte etwas filmen, was dieser Jemand vor vielen Jahren genau in diesem Park erlebt hatte.«« »Das ist eine phantastische Geschichte, mindestens so phantastisch wie die Entschuldigungen der Studenten, wenn sie eine Arbeit zu spät abgeben.« Terry grinste. »Und nie kann man sicher sein, ob nicht die unglaublichste Geschichte die einzig wahre ist! Aber als ich das gehört hatte, sagte ich mir: Guter Mann, du kannst mir viel erzählen, mach nur so weiter. Aber er begann ganz selbstverständlich, das Experiment zu erklären - dass man das Zeitfenster an jenem Ort installieren muss, an dem das Ereignis passierte, das man sehen möchte; dass sie wussten, dass es nur schwerlich funktionieren würde, weil sie es nicht auf den Tag genau justieren konnten, sondern nur auf eine Spanne von mehreren Tagen. Er wusste also, dass sie entweder Tage zu früh oder zu spät kommen würden, und trotzdem war er schrecklich enttäuscht: Er hatte nur einen Versuch, denn der Aufwand für ein solches Zeitfenster ist gewaltig: Man benötigt eine Menge Energie, um auch nur dreißig Jahre in die Vergangenheit blicken zu können. Aber zurück zu diesem Geburtstagsgeschenk. Dieser Jemand hatte ihn wieder und wieder in diesen Park geschleppt, wo sie mit
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dem Fernglas das Rotwild beobachteten; und jedes Mal musste er sich anhören, dass einmal an Halloween, als es gerade dämmerte, hier vor diesem Felsen ein Hirsch und eine Hirschkuh auftauchten und sich paarten. Er hatte vorgehabt, diese Szene zu filmen, so, wie es sich damals ereignet hat! Ohne dabei gesehen zu werden, natürlich; kein Wunder, dass er zu Tode erschrak, als er mich da sitzen sah. Es war ihm gar nicht recht, wenn man Leuten am Gedächtnis herummanipulieren musste, er war ein netter Mensch«, sagte Terry. »Ich mochte ihn wirklich, obwohl ich die ganze Zeit dachte, er würde mir etwas vormachen.« Was mich betraf, so fügte sich hier Detail an Detail, alles passte zusammen; aufschlussreich auch dieses Motiv des Blicks in die Vergangenheit als Geschenk, als eine geschenkte Erinnerung. Eigentlich nur um etwas zu sagen, machte ich den Einwand, dass die Technik dieses Zeitfensters doch wohl reichlich unvollkommen sein musste; angenommen, sie wären mitten in das Picknick einer Kirchengemeinde geplatzt, hätten sie dann das Gedächtnis all dieser Leute bearbeitet? War es notwendig, dass sie das Zeitfenster präzise an den Ort des Ereignisses brachten, das sie beobachten wollten? Wenn ja, dann war diese Technik doch wohl von sehr beschränktem Nutzen, vor allem, wenn eine zeitliche Feinabstimmung sich als unmöglich erwies. Terry runzelte die Stirn. »Weiß ich doch. Es sieht aus, als ... aber normalerweise scheinen sie besser damit zurechtzukommen. Dieses eine Mal hatten sie wohl über den Daumen gepeilt. Aber Lee sagte, dass der eigentliche Grund ...« »Der junge Mann hieß Lee?« »So nannte ihn der Fremde. Er sagte, dass sie das Zeitfenster genau an den Ort bringen müssten, es ist das Prinzip, das auch für Spukhäuser gilt - das nämlich Zeit und Ort verknüpft sind. Man kennt das doch: Da erscheint ein Geist in der Kleidung des siebzehnten Jahrhunderts in der Bibliothek des Herrenhauses, oder Menschen, die gewaltsam ums Leben kamen, tauchen immer wieder am Ort ihres Todes auf, als wollten sie es einfach nicht glauben. Solche Dinge ... Wir beide«, sagte er mit einem Schmunzeln, »dürften das eigentlich noch gar nicht wissen - nicht, bevor die Fremden es uns gesagt haben. Diese Zeitspielerei ist der Zaubertrick, mit dem sie uns beeindruckten. Wir hatten es noch nicht herausgefunden, als sie auftauchten - wir werden es nicht herausgefunden haben, wenn sie auftauchen, müsste ich sagen.« »Und wann wird das sein?« »Recht bald schon, nehme ich an. Kurz bevor wir uns selbst in
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die Luft jagen. In weniger als dreißig Jahren, denn sie befanden sich ja dreißig Jahre in der Zukunft; das heißt, sie befinden sich dreißig Jahre in der Zukunft.« Er lachte. »Die Schwierigkeiten fangen schon bei der Grammatik an. Aber noch einmal zu diesem Geschenk; Sie werden nicht kommen, bevor es nicht einen Unfall in einem Kernkraftwerk gegeben hat. Dieser ganze Landstrich wird ebenso schlimm radioaktiv verseucht sein wie in Tschernobyl. Die meisten Leute werden davonkommen, aber die Tiere, die Vegetation, der Boden werden absterben. Tot werden natürlich auch alle Tiere im Park sein, auch das Rotwild. Alle werden sie sterben.« In meiner Brust verkrampfte sich etwas, denn diesen Teil von Terrys Geschichte konnte man nicht so leicht abtun. Aber ich ließ mich nicht von dem abbringen, was ich inzwischen als Grundmotiv ausgemacht zu haben glaubte: Selbstverständlich musste das herrliche, unschuldige Wild in dem Paradiesgarten von Terrys Kindheit sterben; alles verging, eine Welt zerbrach, als Terrys Familie auseinanderfiel. Ich fragte ihn, ob dieser Lee ihm gesagt hätte, in welchem Kernkraftwerk denn dieser Unfall geschehen würde, und war nicht überrascht, als er wieder die Stirn runzelte und sagte: »Ich glaube nicht.« »Aber Sie hatten doch solche Angst«, kam es mir plötzlich in den Sinn, »warum sind Sie da nicht einfach weggelaufen? Sie hätten sich doch leicht in die Büsche schlagen können.« Terry machte ein erstauntes Gesicht. »Auf diese Idee bin ich überhaupt nicht gekommen ... ich denke, dass ich einfach zu neugierig war, dass die Faszination weit größer war als die Angst. Vielleicht hat mich dieser Hobbs dazu gebracht, dass ich bleiben wollte, ohne dass es mir bewusst war. Das ist gut möglich.« »Der Hobbs? Ist das der Außerirdische?« »Lee sagte, sie hätten schon vor langer Zeit einige Leute hier zurückgelassen, und sie hatten vor, sie nach einem Jahr abzuholen, aber dann gab es Schwierigkeiten mit ihrem Schiff. Und als sie schließlich zurückkehrten, da waren ihre Leute alle tot, und die Menschheit war in das Industriezeitalter eingetreten und hatte mit der Raumfahrt begonnen. Also machten sie eine Bestandsaufnahme der Zustände auf der Erde, und einige von ihnen wollten hierbleiben und uns helfen, unsere Probleme zu lösen. Und kurz bevor sie kamen, da ging das Kraftwerk in die Luft. Also sind sie einfach gelandet und haben die Dinge hier in die Hand genommen.«
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Erwartungsvoll sah er mich an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Das war nun wirklich nicht originell, ein Deus ex machina, dazu dieser groteske Name: Hobbs. »Aber wie dem auch sei«, sagte er schließlich, »irgendwie brachten sie eine Art Jalousie für das Zeitfenster zustande, dass sie für das Wild nicht mehr zu sehen waren. Dann sagte der Außerirdische, ich solle mich hier in dem Sattel zwischen den beiden Hauptteilen des Felsens verkriechen, und ich gehorchte; ich war wie hypnotisiert, so dass ich nur reglos dahockte, sicher einige Stunden lang. Und deshalb bin ich überzeugt, dass sie wirklich das waren, was Lee behauptete. Und ich sah auch den Hirsch kommen und hier herumtoben; das ging ihnen wirklich unter die Haut. Sie haben es gefilmt. Das war immerhin fast so gut wie das, weswegen sie eigentlich gekommen waren. Dann begannen sie mit den Vorbereitungen, um das Zeitfenster wieder abzubauen, aber erst mussten sie noch meine Erinnerung löschen.« Ich musste mir einen Ruck geben, um wenigstens noch einen Einwand anführen zu können. »Lee hat in der kurzen Zeit eine ganze Menge geredet. Wann hat er dir all das erzählt - während du hypnotisiert warst?« »Nein, vorher, während sie die Jalousie errichtet haben. Ich hatte das Gefühl, dass der Hobbs überhaupt nicht einverstanden war, aber er sagte nichts. Es kam mir vor, als hätte Lee noch nie mit jemandem aus der Vergangenheit geredet. Als er merkte, dass der Hobbs verärgert war, da wurde Lee ziemlich nervös; er hatte Angst, dass er zuviel gesagt hatte - aber warum eigentlich? Wenn sie doch ohnehin vorhatten, meine Erinnerung daran zu löschen? Aber ich redete mir die Zunge wund, um sie davon abzubringen. Ich sagte, wer ihnen denn das Recht gäbe, Leute für einige Stunden zu hypnotisieren und anschließend ihr Gedächtnis zu blockieren, und das alles wegen eines Geburtstagsgeschenks? Man hat schließlich Rechte, nicht wahr?« »Und was meinte er dazu?« »Er sagte, dass die Hobbs sich aus den Grundrechten nicht viel machten. Meistens liefe es bei ihnen darauf hinaus, dass der Zweck die Mittel heilige. Und sie hätten eben nun mal das Sagen, und überhaupt, wenn ich das Geburtstagskind kennen würde, dann würde ich verstehen, warum ausgerechnet dieser Hobbs erlaubt hatte, dass sie den Film zu drehen versuchten. Er hat sich bestimmt zwanzigmal entschuldigt, ich sah ihm an, dass es ihm unangenehm war. Wirklich, er war ein netter Kerl.«
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Schweigend saß ich da, Terry tat mir aufrichtig leid. Seine phantastische Geschichte um Hirsche, Familienangehörige, Geburtstagsgeschenke und verschüttete Erinnerungen bot ein völlig klares, wenn auch verfremdetes Bild seiner eigenen Situation. »Ich bin sicher, dass diese Blockade meines Gedächtnisses funktioniert hätte«, fuhr er fort »wenn ich nicht am nächsten Tag die Klausur geschrieben hätte. Die Hirschkuh!. Verstehen Sie? Weil genaugenommen das, was passierte - was passieren soll -, das ist, was das Gedicht von Stafford beschreibt. Tote Hindinnen und Kitze, die durch die Unachtsamkeit der Menschen nie geboren werden. Technik, die die natürliche Umwelt zerstört, weil sie nicht völlig beherrschbar ist. Das ist im Grunde dasselbe Thema.« Er seufzte und lächelte dabei. »Ich bin froh, dass ich mich erinnert habe. Niemand wird mir jemals glauben. Sie denken, das alles hätte mein Unbewusstes ausgebrütet ... mein Vater, die Scheidung und so weiter, nicht wahr?« Ich schrak zusammen, als ich mich durchschaut sah, und Terry lachte: »Mir ist auch klar, warum jeder das denken muss, mindestens so lange, bis die Hobbs gelandet sind! Aber ich schwöre bei Gott, es ist genauso passiert, wie ich es gesagt habe.« Was hätte ich darauf antworten sollen? Ich versuchte meine Verlegenheit darüber, dass er mich durchschaut hatte, zu verbergen, indem ich begann, die Reste unseres Picknicks zusammenzuräumen. Es war höchste Zeit, sich auf den Heimweg zu machen; es würde längst dunkel sein, bevor wir das Auto erreichten. »Und außerdem«, sagte er mit ganz leisem Spott, »einiges paßt ja wirklich nicht ins Bild, nicht wahr? Dieser Jemand, für den das Geburtstagsgeschenk gedacht ist, müsste eigentlich ein männlicher Verwandter sein, ein Onkel vielleicht. Denn brauchte man nicht eine Figur, die man als Stellvertreter meines Vaters interpretieren kann? Und warum hat der Außerirdische, der Kleine, mein Gedächtnis blockiert, der doch eigentlich eine Projektion von mir selbst sein müsste? Außerdem, glauben Sie nicht, dass der Junge...« Aber ich hörte nicht mehr zu. Wie betäubt starrte ich vor mich hin. »Terry«, unterbrach ich ihn, »dieser Jemand, dieses Geburtstagskind, war eine Frau?« »Ja, habe ich das nicht gesagt?« »Dann muss ich es überhört haben.« Jetzt begann auch Terry zu begreifen. Was für eine verrückte Idee! Auge in Auge standen wir da und dachten beide dasselbe, unfähig, uns der Magie dieses
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kühnen Gedankens zu entziehen. »Ich denke, heute ist Halloween«, sagte ich, und gleichzeitig fragte Terry: »Und wann haben Sie Geburtstag?« Aber bevor einer von uns noch antworten konnte, da hörten wir schon das Laub rascheln. Damit nun endlich das geschah, was längst erinnert worden war, kam die Hindin den Hang heraufgerast, dicht gefolgt von einem zweiten, größeren stattlicheren Schemen, der sie nun einholte. Sie verharrten, er schnüffelte, leckte und besprang sie dann mit einem einzigen Satz. Mit einem solchen gewaltigen Satz warf er sich auf sie, dass ihr die Vorderbeine einknickten und seine Hinterbeine für einen Augenblick in der Luft hingen. Und dann waren sie wieder auf und davon, so schnell, dass wir wohl nicht ein einziges Mal geatmet, nicht eine Bewegung gemacht hatten, bis sie im Dämmerlicht über dem Hang wieder verschwunden waren.
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2 1994 - 2007 Ein Hobb im Moor 1 Elphi erwachte in diesem Frühling als erster, und das hieß, dass er auch der erste war, der den leichten Verwesungsgeruch bemerkte. So entsetzlich er sich auch fühlte, wenn er aus dem Winterschlaf erwachte, zwang er sich doch, von seinem Lager aufzustehen und die Runde zu machen, um zu sehen, wer von den alten Hobbs während dieses Winters gestorben war. Er torkelte durch die dunkle Höhle. Noch würden seine Hände nicht gehorchen, wenn er jetzt versuchte, ein Streichholz anzuzünden. Aber das brauchte er auch nicht, Hobbs waren Nachtwesen. Außerdem benutzten sie diese Höhle schon seit fast hundert Jahren zum Überwintern. Tarn Hole und Hasty Bank lagen nebeneinander, noch in tiefem Schlaf versunken. Mit Hodge Hobb schien alles in Ordnung zu sein ... auch mit Broxa ... und Scugdale. Oh! ... Woof Howe Hobb war es also. Um sich zu vergewissern, sah Elphi auch noch nach Hart Hall, denn es konnte ja mehr als ein Toter sein, dann ging er zu seiner Koje zurück. Er musste jetzt nachdenken. Man musste Woof Howe aus der Höhle schaffen, und zwar schnell. Wenn Elphi eine Aufgabe hatte, konnte er am besten das Gefühl der Leere in seinem Innern verdrängen, das bald der Trauer und dem Schmerz weichen würde. Alle zehn oder zwanzig Jahre mussten sie nun von einem der ihren Abschied nehmen. Ihre endlos lange Verbannung schien sich unaufhaltsam einem Ende zu nähern, nicht weil man sie rettete, wie sie immer gehofft hatten, sondern weil es bald keine Verbannten mehr gab. Sieben waren noch übrig von den fünfzehn, die man hier ausgesetzt hatte, und das Ende war abzusehen. Wieder zwang Elphi sich, aufzustehen; solche Gedanken waren einfach sinnlos, waren immer schon sinnlos gewesen. Er brauchte etwas zu trinken, musste essen. Der große Stein, der den Höhleneingang den Winter über verschlossen hatte, war ein ernstes Hindernis. Für ihre Größe waren die Hobbs sogar im hohen Alter geradezu unglaublich stark,
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doch hätte Elphi unter normalen Umständen nicht versucht, den Stein allein beiseite zu schieben - denn das monatelange Fasten hatte ihn geschwächt. Aber schließlich hatte er es geschafft und konnte seinen Kopf mit der gebotenen Vorsicht hinaus in die Welt recken. Es war Anfang April, Frühling, und vor ihm lag die Heide- und Moorlandschaft von Nord-Yorkshire. Obwohl er sich sehr schwach fühlte, spürte er einen freundlichen Schauder, als ihm der frische Wind ins Gesicht blies. Der Wind war kräftig und eisig kalt, aber Kälte hatte den Hobbs noch nie etwas ausgemacht, und es war nicht der Kälte wegen, dass Elphi rasch die Leiter wieder hinunterkletterte, um eine Art Kleidungsstück zu holen - etwas, in das er sich hüllen konnte, das die Augen eines späten Wanderers täuschen konnte, der in den letzten Stunden vor Einbruch der Nacht vielleicht noch hier oben unterwegs war, auch wenn damit kaum zu rechnen war. Danach wuchtete er den schweren Stein wieder über den Eingang, als wollte er den Geruch nach Tod hier einschließen und hinter sich lassen, und machte sich auf den Weg. Auf allen vieren lief er los und bahnte sich, noch immer steif und ungelenkig, seinen Weg durch das schneeverkrustete Heidekraut. Er folgte einer Spur, die Schafe getreten hatten, während er aufpaßte, dass er nicht auf einen Bauern stieß, der die im Moor weidenden trächtigen Schafe einsammelte, um sie zum Werfen auf den Hof zu bringen. In den Jahren, in denen die Hobbs etwas länger als gewöhnlich schliefen, konnte es vorkommen, dass sie auf ihren ersten Streifzügen auf einen Bauern oder einen Hund trafen - und weder Bauer noch Hund waren durch die Verkleidung der Hobbs so leicht zu täuschen. In solchen Fällen lebten sie gezwungenermaßen als die Nachtwesen, die sie eigentlich waren. Aber die Schafe, die Elphi sah, würden noch eine gute Woche auf der Weide bleiben, bevor man sie in die Pferche trieb; das war beruhigend. In dieser ungemütlichen Jahreszeit war auch kaum ein Wanderer unterwegs, und von den Archäologen, die im letzten Sommer bei den prähistorischen Siedlungen von Danby Rigg gegraben hatten, war nichts zu sehen. Vielleicht würde es viel leichter sein, den guten Woof Howe loszuwerden, als er sich das vorgestellt hatte - nicht wie damals, als sie Mitte April erwachten und den toten Kempswithen fanden und es überall in der Gegend von Menschen und Hunden nur so wimmelte. Die einzigen Menschen, denen er jetzt am späten Nachmittag noch begegnen konnte, waren auf dem Weg zu ihren Herden, um den Tieren Heu zu bringen, und weil ihre Traktoren und Autos laut genug waren, dass
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man sie meilenweit hörte in dieser offenen Landschaft, brauchte er keine Entdeckung zu fürchten. Die Hunde in dieser Gegend wussten Bescheid über die Hobbs, das war klar, nicht anders als sie Bescheid wussten über Moorhühner und Hasen, doch kamen sie nur selten hierherauf, wenn sie nicht Schafe hüten mussten. Zumindest blieben sie pflichtbewußt bei der Herde. Lästig waren jene Hunde, die der eine oder andere Wanderer frei laufen ließ, ob sie nun auf Zuruf gehorchten oder nicht. Sie konnten wirklich lästig werden. Im August und September, wenn das Heidekraut das Moor mit einem üppigen, dicken Teppich aus purpurnen Blüten überzog und eine Flut von Touristen sich in die Landschaft ergoß, dann ließen die Hobbs bei Tage nicht einmal ihre Nasenspitzen sehen. Aber das war alles andere als angenehm, obwohl sie auch bei Nacht mit traumwandlerischer Sicherheit zurechtkamen, denn zwischen April und November pflegten die Hobbs kaum zu schlafen, und es gab tatsächlich mehr als genug zu tun. Dann war da noch die Moorhuhnjagd, die jedes Jahr am 12. August begann und noch andauerte, wenn Elphi und seine Freunde sich längst in ihre Höhlen zum Schlafen gelegt hatten ... Natürlich hatte der Touristenstrom im August auch seine guten Seiten. In jedem Sommer konnten die Hobbs Beute machen, und sie hatten gute Verwendung für das, was die Besucher achtlos wegwarfen oder liegenließen. Im August war es, als täte sich eine Goldgrube auf: Halstücher, Wollsocken, Schokoladenriegel, kleine Notizblöcke, Bleistifte und Kugelschreiber, Landkarten, Gummibänder und Sicherheitsnadeln, Rollen mit Nylonschnur, vierzehn Schweizer Offiziersmesser in fünfzehn Jahren, Reiseführer, Comics, frische Batterien für die drei Transistorradios und die fünf Taschenlampen, die sie besaßen. Keine Sommernacht, in der sie nicht alle unterwegs waren und die Wanderwege wie den Lyke Wake Walk und den Cleveland-Weg absuchten, jeder mit einem großen Beutel versehen, um die Fundstücke nach Hause zu tragen. Nun aber musste Elphi sich zuerst einmal etwas zu essen besorgen. Glücklicherweise konnten er und seinesgleichen so gut wie alles essen, was sie in die Hände bekamen. Besonders wussten sie die Kaninchen dieser Gegend und im Frühling die jungen Lämmer zu schätzen, aber sie verschmähten auch nicht ein vom Auto überfahrenes Schaf. Aber da im Moment nichts dergleichen in Aussicht stand, musste sich Elphi mit jenem Moorhuhn zufriedengeben, das er aufgeschreckt hatte. Er brach ihm das
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Genick, zerlegte es und aß es auf der Stelle auf. Doch er achtete auf saubere Arbeit und verteilte sorgfältig die Federn so, dass es nach einem Fuchs aussah. Endlich war er satt und konnte wieder einigermaßen denken; er lief noch ein, zwei Kilometer bis zu einem Fluß, wo er sich die blutigen Hände wusch und zum ersten Mal seit mehr als vier Monaten trank. Inzwischen war er schon nicht mehr so steif. Seine Hände und die breiten Füße bewegten sich mit der gewohnten Ausdauer und Schnelligkeit über den verharschten Schnee, ohne Spuren zu hinterlassen, mit denen jemand etwas anfangen konnte. Immer noch auf allen vieren, beschleunigte er jetzt sein Tempo. Was also sollten sie mit Woof Howe Hobb machen, damit nie ein Mensch erfuhr, dass er jemals existiert hatte? Verbrennen wäre das beste. Aber ein Feuer im Moor war eine ernste Sache. Es würde bemerkt werden, man würde nachschauen. Der Rauch wäre über eine große Entfernung zu sehen, und die Parkwächter waren wachsam. Wenn nicht ein hilfreicher Nebel seinen Mantel darüberbreiten würde ... aber die Hobbs riskierten fast nie ein Feuer, und außerdem war ihr Torfvorrat in der Höhle viel zu klein, um eine Leiche zu verbrennen, auch wenn es nur die eines kleinen Hobbs war. Elphi hatte plötzlich Woof Howe vor Augen, wie er auf einem Haufen schwelender Torfstücke brannte, und etwas in ihm verkrampfte sich. Er verscheuchte das Bild. Sie mussten eine Stelle finden, an der sie Woof Howe begraben konnten, ohne dass ihn jemand je entdeckte. Aber wo? Er verfluchte sich selbst und die anderen, dass sie nie einen Plan entwickelt hatten, um mit einem solchen Problem fertig zu werden. Dass sie davor zurückgeschreckt waren, verdammte nun ausgerechnet ihn dazu, ganz allein eine Lösung zu finden, wenn nicht einer der anderen noch rechtzeitig erwachte. Elphi wurde ganz ärgerlich bei dem Gedanken, wie mühsam ihr Leben in den letzten hundertfünfzig Jahren geworden war. In der guten alten Zeit hätte sich niemand über ein paar merkwürdige Knochen aufgeregt. Damals mussten die Leute nicht alles wissen; es war ihnen klar, dass die Welt voller Wunder und Geheimnisse war. Aber heute war es zur Sicherheit der noch lebenden Hobbs notwendig, dass sich ein verstorbener Kamerad buchstäblich in Luft auflöste. Bei Kempswithen hatten sie es geschafft, indem sie ihn in kleine Stücke zerteilt hatten, die sie in den Nächten über ein Gebiet von gut tausend Quadratkilometer Moorlandschaft ausstreuten. Keiner von ihnen würde so etwas gern noch einmal machen, es sei denn, es wäre die einzige und letzte Möglichkeit.
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Darüber dachte Elphi nach, während er von der Flußböschung aus über die Landschaft blickte. Bald war es Abend. Die Luft war ungewöhnlich klar; weit im Nordwesten sah man den Roseberry Topping mit seinen Gipfelgraten, wie das Spiralmuster auf einer Kugel Softeis (Elphi kannnte das, er hatte es in einer Zeitung gelesen, die ein Radfahrer weggeworfen hatte), und überall zwischen dem Gipfel und dem Westerdale-Moor erstreckte sich nichts als Heide - schneebedecktes Buschwerk, Meile um Meile. Sie hob und senkte sich wie eingefrorene Wogen eines Meeres, ein Meer der Trostlosigkeit, das auf seltsame Weise zugleich atemberaubend schön war. Der Schnee hörte ungefähr da auf, wo der Flickenteppich der Felder und Weiden von Danby Dale und Westerdale begann. Dazwischen konnte man verstreut die Höfe erkennen, kleine Grüppchen von Steinhäusern. Elphi hatte die beiden ersten Jahrhunderte seines Exils dort unten auf verschiedenen Höfen in Danby Dale und Great Fryup Dale verbracht. Diese Täler hier und der Streifen Ödland darüber, das war nun seine Heimat. Er konnte sich kaum erinnern, je etwas anderes gesehen zu haben. Wie sehr sich auch er nach dem rettenden Schilf sehnte, so mochte er doch eigentlich den Anblick dieser Landschaft nicht mehr missen, und das Moor selbst liebte er mit einer Inbrunst, die ihn erstaunte. Alle Hobbs liebten es, mit Ausnahme von Hob o' Hurst und Tarn Hole Hobb. Und Woof Howe war es kaum anders gegangen als ihm selbst. Elphi sog die klare, eisige Luft in sich ein und drehte sich einmal in die Runde, um alles in sich aufzunehmen, was er von hier aus sehen konnte. Dass vom Meer her Nebel aufzog, ein breites, geschlossenes Band, darüber brauchte er sich nicht zu sorgen. Er ließ sich wieder auf die Hände hinab, ein Vierfüßler, doch einer mit einem großen Problem vor Augen. Sie könnten Woof Howes Leiche vielleicht aussetzen, fiel ihm plötzlich ein, auch so würde sie mit der Zeit verschwinden. Es war nicht ungefährlich, aber durchführbar, wenn man eine geeignete Stelle fand und wenn sie die Leiche tagsüber versteckten. Elphi hielt sich jetzt nordwestwärts, bewegte sich sehr schnell, nun, da jede Steifheit aus seinen Gliedern geschwunden war. Zielsicher bahnte er sich seinen Weg dort entlang, wo das kratzige Heidekraut am wenigsten widerspenstig war. Er würde sich zwei oder drei Stellen anschauen, bevor er zur Höhle zurückkehrte, um nachzusehen, ob nun auch einer der anderen aufgewacht war.
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Jenny Shepherd betrachtete auf ihrer Wanderung die heraufziehende Nebelwand kaum weniger gelassen. Einige Jahre war es her, dass sie sich auf ihrer ersten Tour durch Yorkshire in einem wirklich dichten Nebel verirrt hatte. Eine ganze Zeit irrte sie damals umher, um dann zu begreifen, in welche Gefahr sie geraten war. Aber der Weg über das Große und Kleine Hograh-Moor war kaum zu verfehlen. Weniger aufgeweicht hätte man sich gewünscht, was sich da wie ein schlammiges Bachbett braun durch die dünne Schneedecke zog. Und Jenny war schon oft genug hier gewesen, um genau zu wissen, wo sie sich befand. Bis zur Jugendherberge würde sie es auch im Dunkeln schaffen, und überhaupt war sie für jedes erdenkliche Wetter gerüstet. Der Weg führte nun steil eine Flußmündung hinunter zu einer kleinen Brücke aus Stein. Spontan beschloss Jenny, hier zu rasten, wo sie etwas vor dem unermüdlichen, schneidenden Wind geschützt war. Sie ließ den Rucksack von der Schulter gleiten, lehnte ihn gegen die Brückenmauer und holte zwei Schaumstoffkissen heraus, eines für den Boden, eines, um den Rücken vor dem kalten Gemäuer zu schützen. Dann kramte sie eine Thermosflasche, eine kleine Tüte Studentenfutter, die Proviantdose mit dem halben Sandwich, eine hauchdünne Decke aus metallbeschichteter Isolierfolie und einen weiten, grünen Nylonponcho hervor. Nicht, dass sie nicht warm genug angezogen war: Unter ihrer wasserabweisenden Nylonhose trug sie eine Cordhose, darunter lange Unterhosen aus weicher Wolle sowie mehrere Pullover unter ihrem Parka - aber so ein Poncho würde den Wind abhalten und sie vor der Feuchtigkeit des Nebels schützen. Jenny schüttelte die Isolierfolie auseinander und wickelte sich ein. So eingemummt ließ sie sich umständlich nieder und rückte die Sitzkissen zurecht. Die Thermosflasche mit Tee war noch halbvoll; sie schraubte den Deckel ab und trank aus der Flasche. Sie vergaß nicht, nach jedem Schluck den Deckel wieder aufzusetzen, damit der Inhalt nicht abkühlte. Dann nahm sie sich das Sandwich vor. Bequem gegen die Brücke gelehnt, saß Jenny und aß; einen ihrer Handschuhe hatte sie dazu abgestreift. Sie genoß diese Rast sehr. Der Bach plätscherte unter dem Brückenbogen hindurch, der Wind blies, allerdings nicht in die Richtung, wo Jenny saß. Jenny schien ein Stück dieser Landschaft zu sein, wie sie reglos da kauerte, fast benommen von dem Gefühl vollkommener Zufriedenheit. Als die ersten feinen Nebelfäden über ihr auftauchten, da vergrößerte das nur ihr Wohlgefühl; sie blieb sitzen - bald wäre es
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Zeit, aufzubrechen, aber sie zögerte, den Zauber dieses Augenblicks zu brechen. Nicht weit von ihr kam ein Schaf die Uferböschung hinunter, ein schwarznasiges Schaf, eine Rasse aus den Bergen hier. Ein Swaledale? Ein Herdwick vielleicht? Nein, Herdwick-Schafe züchtete man im Lake District. Fast gelangweilt beobachtete sie das Tier, wie es mit kleinen Sprüngen hinunterkletterte, ganz selbstverständlich und ohne Hast, denn hier war es zu Hause. Jenny sah zu, wie es näher kam, kleine Steine lostrat - und musste ganz unvermittelt an den Albinohirsch in jenem Park bei ihr zu Hause in Pennsylvania denken: Bei flüchtigem Hinsehen hätte man das Tier auch für eine Art Hirsch oder eine Ziege halten können. Wandte es sich ab, dann sah man den kurzen Schwanz, dann wieder zeigte es den typischen Kopf des Rotwilds mit den spitzen Ohren. Jenny hatte auf ihren Wanderungen durch die Berge Englands schon eine Menge Schafe gesehen. Das hier war ein höchst eigenartiges Schaf. Waren die Beine zu dick? Lag es an den Bewegungen? Der Nebel wurde immer dichter, die herumwirbelnden Schwaden machten es auch nicht leichter, zu sagen, was sie da vor sich hatte. Sie strengte sich an, sie wollte es wissen. Für einen Augenblick lichtete sich der Nebel ein wenig, und erschrocken fuhr sie zusammen, als sie erkannte, dass dieses Schaf etwas in der Schnauze trug. Jenny hatte sich merklich bewegt, und dabei schwenkte das Schaf den Kopf und richtete seine stumpfen, toten Augen auf sie. Es erstarrte, wirbelte dann herum und jagte die Böschung wieder hinauf. Als es herumfuhr, gab es einen kurzen, bellenden Keuchlaut von sich und ließ das Bündel aus der Schnauze fallen. Jenny versuchte eilends auf die Beine zu kommen, schälte sich aus dem Kokon der Isolierdecke und kletterte die Böschung entlang. Was das Schaf hatte fallen lassen, war ins eisige Wasser gerollt; mit zusammengebissenen Zähnen tauchte sie die Hand ein und zog das Ding heraus. Es war ein totes Moorhuhn mit einem gebrochenen Genick. Jenny Shepherd wusste trotz ihres Namens nur sehr wenig über Schafe. Aber dass sie auf der Weide zu grasen pflegten und nicht etwa Fleischfresser waren, das war jedem Kind klar. Jenny schauderte, sie ließ den toten Vogel wieder in den Bach fallen und steckte die Hand in ihre Jacke. Sie hatte das Gefühl, dass hier etwas sehr Sonderbares vorgegangen war, und ihre gute Laune war dahin.
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Nervös blickte sie auf die Uhr. Am besten machte sie sich allmählich auf den Weg. Die rutschige Böschung hinauf kehrte sie zur Brücke zurück und packte hastig ihre Sachen zusammen. Vor ihr lagen noch sieben Kilometer offenes Moor, bis sie eine feste Straße erreichte, und der Nebel würde sie einiges an Zeit kosten. Bevor sie den Rucksack schulterte, nahm sie noch ihre Taschenlampe aus einer der Außentaschen. Elphi rannte über das Moor. Wie konnte man nur so unvorsichtig sein! Schlimm genug, dass er diesen Wanderer nicht gleich bemerkt hatte - aber es hätte ja noch gutgehen können, wenn er nicht den Kopf verloren hätte! Wer war denn schon sicher, was er da im Nebel, bei Anbruch der Dämmerung, gesehen hat ... Aber das Moorhuhn fallen zu lassen, das war einfach unverzeihlich. Einhundertfünfzig Jahre lang hatte ihre unablässige Wachsamkeit und Geistesgegenwart ihnen ein Leben im Verborgenen gesichert und er hatte beides vermissen lassen. Dass er gerade aus dem Winterschlaf erwacht war, dass Kummer und Sorgen ihn bedrückten, dass Wanderer im Moor zu dieser Jahreszeit und Stunde noch seltener waren als ein Sonnenstrahl am Himmel - das alles war keine Entschuldigung für solche Tölpelhaftigkeit. Jetzt hatte er nicht ein großes Problem, sondern zwei. Das alte Männchen stöhnte laut auf und blickte sich wie hilfesuchend um, aber da war niemand, der ihm helfen konnte. In einem großen Bogen lief er die Strecke zurück, die er gekommen war, so dass er den Weg einen knappen Kilometer östlich der Steinbrücke kreuzen musste. Dass dort keine Fußspuren im Schnee waren, bedeutete, dass der Wanderer in diese Richtung nach Westerdale ging und bald auftauchen würde. Er kauerte sich ins Heidekraut und wartete; Minuten später, als ein dunkler Schatten aus dem Nebel auftauchte, trat er aus dem Gebüsch und stellte sich ihm aufgerichtet in den Weg. Er fühlte sich mehr als seltsam, denn seit fast zweihundert Jahren hatte er nicht mehr von Angesicht zu Angesicht mit einem Menschen gesprochen. Mit heiserer, unsicherer Stimme sagte Elphi: »Bleiben Sie stehen, Mann, und versuchen Sie nicht, wegzulaufen!« Und als ein lautes, erschrockenes »Oh!« von dem Wanderer kam, sagte er noch: »Ich werde Ihnen nichts tun, aber Sie müssen jetzt mit mir kommen.« Sein Yorkshire-Dialekt war so unglaublich breit, dass die Worte wie klebriger Brei aus dem Mund zu quellen schienen. Der Wanderer stand steif und starr vor ihm auf dem Weg. »Was
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... ich ... ich kann Sie nicht verstehen!.« Eine Frau! Und eine Amerikanerin! Elphi wusste, wie sich ein amerikanischer Akzent anhörte, er kannte ihn vom Radio - aber er hatte noch nie im Leben mit einem Amerikaner gesprochen. Was hatte denn eine Amerikanerin in dieser Jahreszeit hier zu suchen? Aber er konnte seine Verblüffung überwinden und bemühte sich nun um eine bessere Aussprache. »Ich sagte, Sie müssen mit mir kommen. Haben Sie keine Angst, und versuchen Sie nicht, wegzulaufen. Es wird Ihnen nichts geschehen.« Die Frau schnappte nach Luft. Sie war offensichtlich zu Tode erschrocken, dann krächzte sie: »Wer, um Himmels willen, sind Sie?« Um das zu verstehen, brauchte sich Elphi nur vorzustellen, was die Frau da vor sich auf dem Weg sah: ein kleines, nacktes, greisenhaftes Etwas, das über und über behaart war. Er beeilte sich zu sagen: »Ich werde es Ihnen erklären, ja, aber nicht jetzt. Wir haben noch eine schöne Strecke zu gehen.« Jetzt kam Leben in die Frau. Sie zerrte und nestelte hektisch unter ihrer weiten Hülle herum, dann fiel ein unförmiger Rucksack zu Boden. Elphi war schon auf dem Sprung, aber anstatt zu fliehen fragte sie: »Haben Sie eine Pistole?« »Eine Pistole?« Jetzt war Elphi verblüfft. »Nein, aber wenn Sie ... wenn Sie nicht freiwillig gehen, dann werde ich Sie tragen. Aber anders wäre es mir lieber. Also, kommen Sie?« »Das ist doch verrückt!« Die Frau starrte Elphi an, der ihr den Weg versperrte, dann starrte sie auf ihren Rucksack. Ganz offensichtlich rechnete sie sich ihre Chancen aus, mit oder ohne an dem Wegelagerer vorbeizukommen. Plötzlich packte sie den Rucksack an einem der Schulterriemen und stürzte auf ihn los. »Geh aus dem Weg!« Aber Elphi gab nur ein Knurren von sich und schüttelte den Kopf. »Mistress, kommen Sie jetzt!« befahl er verzweifelt, und mit einem Satz zu ihr hin ergriff er mit seiner großen, knotigen Hand ihr Handgelenk. »So, versuchen Sie doch, ob Sie stärker sind!« Aber die Frau wehrte sich nicht, und am Ende blieb Elphi nichts anderes übrig, als sie hochzunehmen und den matschigen Weg entlangzutragen. Sie zeterte unablässig; nach hundert Metern setzte er sie ab und ging zurück, um den Rucksack zu holen, während sie sich ihr Handgelenk rieb. Er schulterte ihn, und ohne weitere Diskussion machten sie sich auf ihren Weg durch den Nebel.
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Als sie die verlassene Kohlengrube erreichten, die den Hobbs als Winterquartier diente, hatte Jenny schon lange aufgehört, irgend etwas zu denken. Recht bald hatte sie jede Furcht vor Elphi verloren, aber mit diesen verstörend seltsamen Geschehnissen fertig zu werden, das war mehr, als sie geistig verkraftete. Sie fühlte sich gedemütigt und erschöpft. Schon in jenem Augenblick, als Elphi in seinem schmuddeligen Schaffell vor ihr aus dem Nebel auftauchte, hatte sie einen langen Tag hinter sich gehabt. Die Stunden, die sie sich nun noch durch dieses nebelnasse Heidekraut quälen musste, hatten sie völlig ausgelaugt. Es gab keinen Gedanken mehr außer dem Vorsatz: Diesen Marsch zu überleben. Als er ihr von Mal zu Mal schwerer fiel, die Stiefel mit den anhaftenden Klumpen Morast überhaupt vom Boden zu heben, da stolperte sie nur noch, und immer öfter fiel sie. Und jedesmal half ihr ihr Entführer, dieses seltsame, zwergenhafte, keineswegs ungefährliche Wesen, freundlich auf - ganz offensichtlich ohne seine unglaublichen Kräfte in Anspruch nehmen zu müssen. Anfangs waren ihr die Zirkusplakate im Bahnhof von Middlesbrough in den Sinn gekommen, die sie beim Umsteigen aus dem Zug von London gesehen hatte; vielleicht war der Kleine ein Clown, einer dieser bedauernswerten Mißgebildeten, die man im Zirkus zeigte. Aber das war ihr doch recht unwahrscheinlich erschienen. Später, als wieder einmal ein Moorhuhn aufflog und der Zwerg sich pfeilschnell darauf stürzte und ihm das Genick brach, gab sie den Gedanken an den Zirkus endgültig auf. Vielleicht war er aus einer Heilanstalt entflohen. Aber genaugenommen wirkte er nicht im geringsten bedrohlich. Jenny hatte jedoch längst aufgehört, sich über ihn den Kopf zu zerbrechen, als sie ihn schließlich sagen hörte: »Da wären wir, meine Liebe.« Sie sah, wie er sich bückte, um den Stein vom Höhleneingang wegzuschieben, da gaben ihre Knie nach, und sie sank einfach zur Seite auf das Heidekraut. Als Jenny erwachte, drang gedämpft eine Radiostimme an ihr Ohr. Sie lag auf einer harten Unterlage, sorgsam in ein Schaffell eingewickelt; es war so herrlich warm, dass sie einfach liegen blieb, um das wohlige Gefühl auszukosten. Die Radiostimme wirkte so normal, so alltäglich - aber nur so lange, bis sie völlig wach war und die Erinnerung zurückkehrte, dann ließ das Adrenalin ihren
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Puls rasen. Sie schien in einer Höhle zu sein, die nicht groß war, und schwach von einer kurzen, weißen Kerze erleuchtet wurde. Die Kerze stand in einem Aluminiumschälchen, wie sie für kleine Kuchenportionen verwendet wurden. Das Radio war nicht zu sehen. Jemand hatte sie entkleidet; statt eines Nachthemds trug sie nur ihren dünnen Leinenschlafsack. Langsam und beklommen drehte Jenny den Kopf, um sich umzusehen; sie musste sich darüber klarwerden, was hier vorging. An allen Wänden standen solche Schlafbänke; auf jeder konnte man eine Gestalt ausmachen ... Sieben waren es; alle schliefen, und alle glichen jenem Zwerg, der sie entführt hatte. Als Jenny das sah, begann sie nach Luft zu schnappen; die Furcht, die während des Marsches verflogen war, hatte sie wieder fest im Griff. Wo war sie? Was erwartete sie hier? Was, zum Teufel, hatte das alles zu bedeuten? Die erste Erklärung beunruhigte sie am meisten: dass sie den Verstand verloren hatte, dass das, was sie seit ihrer abgebrochenen Therapie unbewältigt mit sich herumschleppte, nun die Oberhand gewonnen hatte. Vielleicht war nicht der kleine Mann aus einer Anstalt geflohen - vielleicht war sie mehr oder weniger auf dem Weg dorthin. Nun gab es in Jennys Seelenleben durchaus den einen oder anderen schwachen Punkt, aber eigentlich neigte sie weder zu Halluzinationen, noch litt sie an Verwirrtheitszuständen, wie sie als Spätfolge von Drogenkonsum auftreten können. Aber wenn es sonst keine vernünftige Erklärung gab ... Doch konnte man eine Verunsicherung dieser Art am besten überwinden, wenn man sich entschlossen den greifbaren und drängenden Problemen zuwandte. Es war kalt in der Höhle, und ihre Blase drohte zu platzen. An einer Wand befand sich eine Leiter, die in einem Loch in der Decke verschwand, und weil kein anderer Eingang zu existieren schien, durfte sie annehmen, dass es dort nach draußen ging. Sie warf das Schaffell von sich, wand sich aus dem Schlafsack und humpelte barfuß über den steinernen Boden; aber in dem Loch war nichts als gähnende Schwärze. Da oben konnte keine Öffnung sein. Jenny war gefangen. Also, dann musste sie etwas finden - einen Eimer, eine Schüssel, gleich was! Beim Herumtasten entdeckte sie ihren Rucksack im Schatten der gegenüberliegenden Wand. Darin war ein Topf aus weichem, dünnen Plastik, den Jenny wie von Sinnen hervorwühlte,
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um sich dann endlich zu erleichtern. Sie zitterte danach ganz entsetzlich, riß darum ein Bündel Kleider und etwas zu essen aus dem Rucksack und eilte zurück in ihr Bett. Es war ja nicht viel, was sie sich als Kleiderreserve eingepackt hatte: ein Paar Wollsocken, Unterwäsche, Pantoffeln und ein Baumwollpullover. Keine Hose, keine Schuhe; so ausgerüstet würde sie im Moor nicht weit kommen. Doch zog sie dankbar das wenige an, was sie gefunden hatte, und fühlte sich bald besser. Als nächstes stand Jenny noch einmal auf und kletterte die Leiter ganz hinauf; aber das Loch am Eingang war mit einem Stein verschlossen, der viel zu schwer war, um ihn beiseite zu schieben. Das Radio stand in einer Art Küchenschrank ohne Türen, ein winziges Transistorgerät in einem Gehäuse aus rotem, geriffelten Kunststoff. In großen goldenen Buchstaben stand darauf: >Das beste für den Haushalt - nur aus der Drogerievon denen gemeinhin die Rede geht, dass sie noch in dieser Gegend lebenVergiß nicht die Milch für den Hobb. Er hat über Nacht mehr geschafft als zwei Männer an einem ganzen Tag.< So erfuhren wir, dass die Leute Bescheid wussten, wer ihnen da half. Wir konnten unser Glück nicht fassen. Natürlich hatten wir alle die Geschichten von Hexen und Elfen gehört, abergläubisch wie die Leute damals waren, und hin und wieder erzählte jemand von kleinen Wesen, den Hobbs - halb Elfe, halb Kobold -, die manchmal freundlich und hilfsbereit waren, ein andermal neckisch und boshaft. Deshalb stellten sie eine Schale Milch vor die Tür, denn wenn sie es vergaßen, dann würde der Hobb seinen Schabernack mit ihnen treiben, anstatt sich erkenntlich zu zeigen.« »Das war auch in Skandinavien ein weitverbreiteter Brauch - eine Schüssel Haferbrei für den tomte hinauszustellen«, warf Jenny ein. »Ach ja? Schön ... sicher haben sich die Katzen und Füchse über die Milch gefreut, bevor wir kamen. Also, wir schnappten begierig alles auf, was uns über die Hobbs zu Ohren kam, und je mehr wir hörten, desto besser wussten wir, was wir zu tun hatten. Wir hatten verdammtes Glück, dass wir in diese Rolle paßten. Wir ähnelten den Menschen, obwohl wir genausogut auf allen vieren wie auf zwei Beinen gehen können; wir waren auch damals kleiner als die meisten Menschen, obwohl sie nicht so groß waren wie heute. Das bedeutete, dass es nicht so schlimm war, wenn wir zufällig einmal gesehen wurden: Das war sehr wichtig. Es hatte in dieser Gegend lange Zeit nicht viel über die guten Taten der Zwerge zu berichten gegeben, so wurden die Menschen immer neugieriger und stellten uns nun ihrerseits nach - aber ich will nicht vorgreifen. Nach einigen Jahren hatten wir uns über alle Täler ausgebreitet. Bestimmte Höfe, bestimmte Plätze wurden als verwunschen bezeichnet, weil dort der Sage nach ein Hobb hauste; mit der Zeit fanden wir heraus, wo das war, und einer von uns machte sich dann auf, um dort zu wohnen und sich gemäß der Überlieferung zu verhalten. Nicht alle von uns taten das, manche fanden einen Hof,
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der ihnen gefiel und machten ihn zu ihrem Revier. Aber was die alten Sagen angeht, so glaubten die Leute beispielsweise, dass ein Zwerg mit Namen Hobb Hole Hobb, der in einer Höhle an der Küste bei Runswick lebte, den Keuchhusten heilen könnte, also ging einer von uns dorthin, um Hobb Hole Hobb zu spielen, und die Mütter brachten ihre kranken Kleinen und riefen nach ihm, dass er sie gesundmachen solle. Und er tat, was er konnte.« »Und was konnte er wirklich?« »Nicht übermäßig viel, aber mehr als gar nichts. Er erreichte, dass das Kind sich besser fühlte, und das war ein Schritt auf dem Weg zur Heilung, wenn es nicht schon zu krank war.« »Durch Kräuter und Zaubertränke?« »Nein, nicht doch - allein durch Suggestion. Einfach, aber wirksam, o ja! Es gab auch eine Sage von einem Hobb in Farndale, einer von der neckischen Sorte, und es schien uns, als sollten wir diese Seite unseres Charakters nicht vernachlässigen; deshalb schickten wir von Zeit zu Zeit einen der unsrigen dorthin, damit er heimlich die Kühe aus dem Stall trieb, die Milch verschüttete oder einen Karren auf dem Scheunendach deponierte und sonst auf jede erdenkliche Weise lästig fiel. So hielten wir den alten Glauben am Leben. Es hätte nicht funktioniert, wenn wir die Leute hätten glauben machen wollen, alle Hobbs wären mit einem Mal gutmütig und fromm wie Lämmer geworden, so gut kannten wir die Menschen. Die Leute in den Tälern pflegten zu sagen: >Dem Zwerg zu geben bringt dir Glück, doch gibt er nicht in jedem Fall auch dir zurück!< Wir wollten, dass sie auch weiter so dachten. Doch wir mochten die Menschen, denen wir dienten, obwohl die Gafr und die Leute in dieser Gegend doch sehr verschieden waren. Die Bauern in Yorkshire waren zu jener Zeit so etwas wie das Salz der Erde. Sie waren uns gute Herren, und wir dienten ihnen nahezu zweihundert Jahre lang.« Jenny räkelte sich behaglich und beugte sich näher zu Elphi; die Geschichte fesselte sie. »Haben Sie jemals mit Menschen gesprochen, von Angesicht zu Angesicht? Haben Sie je Freunde unter den Menschen gehabt, denen Sie schließlich die Wahrheit gesagt haben?« »Nein, meine Liebe. Wir hatten keine Freunde unter den Menschen, obwohl wir uns einigen wenigen tatsächlich zeigten. Wir sprachen auch nur selten mit Menschen. Wir waren der Meinung, dass es für uns lebenswichtig sei, in ihren Augen einer fremden, geheimnisvollen Welt anzugehören dem Reich des
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Übersinnlichen. Aber hin und wieder gab es schon Begegnungen. Ich werde Ihnen von einem dieser Vorfälle erzählen. Viele, viele Jahre wohnte ich dort, wo der Sage nach Hobb Garth zu Hause war, nicht weit vom Great Fryup Dale, auf dem Gut einer Familie namens Stonehouse. Dort gab es einmal einen Thomas Stonehouse, der Schafe hielt. Nun, ich rede von der Zeit so um 1760 herum, und Tommy kam, nachdem er sich jahrelang abgemüht hatte, endlich ein bißchen voran. Aus irgendeinem Grund zerstritt er sich mit einem Nachbarn, der Matthew Bland hieß und ein übler Kerl war. Eines Nachts sah ich Bland heranschleichen, ein Loch in die Umzäunung reißen und Tommys Schafe heraustreiben. Tommy war den ganzen folgenden Tag im Regen unterwegs, um die Tiere aufzusammeln, aber er hatte wenig Glück; er fand nur fünf seiner vierzig Schafe. Und ich sagte mir: Das ist ein Job für den Hobb! Am nächsten Morgen waren alle vierzig Schafe wieder im Pferch, und der Zaun war mit neuen Pfosten und Brettern geflickt. Aber das ist noch nicht die ganze Geschichte: Als ich hörte, dass Tommy mit einer Erkältung im Bett lag und so über jeden Verdacht erhaben war, kam ich herbeigehuscht und ließ die Rinder von Bland laufen. Endlich konnte ich einmal ein boshafter Zwerg sein! Der alte Bland war vierzehn Tage lang damit beschäftigt, die Tiere einzusammeln. Und natürlich hatte Tommy zu dieser Zeit mit Fieber und Schüttelfrost im Bett gelegen, und jedermann wusste es; aber Bland kam erneut, riß die neuen Pfosten wieder um, damit die Schafe davonliefen - so wütend war er, dass er einfach irgend etwas tun musste. Da Tommy noch immer zu krank war, um sich selbst um die Schafe zu kümmern, kamen die Nachbarn, um sie für ihn einzutreiben. Aber die meisten waren auf die Höhen gelaufen, wo ein so dichter Nebel lag, wie wir ihn gestern erlebt haben: Keines wurde gefunden. Aber natürlich sammelte der gute Zwerg sie in der Nacht ein und trieb sie nach Hause, wo er den Zaun ein weiteres Mal ausbesserte. Vergessen Sie nicht, meine Liebe, dass Kunststückchen dieser Art, die den Bauern als Wunder erschienen, für uns einfach sind, denn wir können nachts sehr gut sehen, und bei der niedrigen Schwerkraft hier haben wir Bärenkräfte. Nun, vier von Tommys Schafen waren im Nebel in einen Steinbruch gestürzt und hatten sich das Genick gebrochen; sie waren unwiederbringlich verloren. Sobald er einigermaßen bei Kräften war, ging er hinaus aufs Feld, um zu sehen, was von seiner Herde übrig war, und um Heu zu machen für seine Tiere - es war zu
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Beginn des Frühlings, ich erinnere mich noch sehr gut daran. Damals waren wir etwas früher als gewöhnlich aufgewacht. Ich hatte Tommy aufbrechen sehen und folgte ihm. Und als ich merkte, wie sehr ihn der Verlust der vier Tiere bekümmerte, da sprach ich ihn auf der Straße an und sagte ihm, er solle sich keine Sorgen machen, das mit den Schafen würde in Ordnung gehen, er werde schon sehen, wenn die Zeit zum Werfen käme - denn ich wusste, dass die meisten Muttertiere Zwillinge trugen. Er hielt mich für irgendein altes Männchen, das wohl nicht ganz richtig im Kopf war. Aber später, als alles so geschah, wie ich gesagt hatte, war die Geschichte in aller Munde - und es hieß auch, dass es Matthew Bland nichts bringen würde, Tommy Stonehouse Streiche zu spielen, denn der Hobb war sein Freund, und wenn der Hobb wiedergibt ... Es war wirklich ein Glück, dass wir damals so früh aufgewacht waren. Aber dass wir einen Bauern so direkt ansprachen, war wirklich selten. Häufiger kam es vor, dass die Leute ihrerseits den Kontakt suchten und verstohlen aus dem Hause schlüpften, um uns bei der Arbeit zu belauschen. Oder man kam, um uns wegen einer Erkrankung um Hilfe zu bitten. Es gab zum Beispiel eine Geschichte von einem Hobb, der in einer Höhle in den Wäldern von Mulgrave hausen sollte. Die Leute streckten ihre Köpfe in das dunkle Loch und riefen, »Hobthrush, Hobthrush, wo bist du?Ich bind' mir grad' den linken Schuh und bin bei dir - im Nu!< Nun, so weit wollten wir doch nicht gehen, aber von Zeit zu Zeit schlüpfte einer von uns in die Höhle, um etwas zurückrufen zu können, wenn jemand vorbeikam. Meistens waren es Kinder. Eigentlich hatten die Leute vor den Hobbs keine Angst. Aber, wie ich schon sagte, wir hielten es für angebracht, den Glauben an unsere Zugehörigkeit zum Elfenvolk zu unterstützen. Da gab es so einen alten Kerl. Gray hieß er, der drüben in Bransdale seinen Hof hatte; er hatte ein zweites Mal geheiratet, und diese Frau vergaß, am Abend die Schale Milch vor die Tür zu stellen. Und Hodge Hobb, der dieser Familie seit Generationen schon zur Seite gestanden hatte, zog sich zurück und kam niemals wieder auf diesen Hof. Eine andere Familie, die Oughtreds, auf einem Gut in der Nähe von Upleatham, verlor ihren Hobb, weil er starb. Das war Hobb Hill Hobb, der sich bei einem Fehltritt in einem Grubenschacht zu Tode stürzte; es war der erste Todesfall seit jenem schlimmen ersten Jahr. Kempswithen hörte, wie die Oughtreds die Sache besprachen, es musste doch einen Grund
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geben, warum ihr Hobb gegangen war - und sie kamen zu dem Schluss, dass es daran liegen müsse, dass einer der Arbeiter seine Jacke an die Worfelmaschine gehängt und sie dort vergessen hatte: Der Zwerg hatte geglaubt, dass das ihm galt, und jedermann wusste doch, dass man denen vom Elfenvolk keine Kleider anbieten darf, weil sie das als Beleidigung betrachteten. Nun gut, wir hatten schon überlegt, ob nicht ein anderer von uns zu jenem Hof gehen und dort leben sollte, aber so ließen wir das besser sein. Und als die neue Magd drüben in Hart Hill dem Hobb nachspürte und eines Nachts sah, wie er ohne einen einzigen Fetzen auf dem Leib das Getreide drosch, nähte sie ihm ein Hemd und ließ es in der Scheune liegen. Da wussten wir, dass es auch hier Zeit zum Rückzug war. Es war ganz lustig, wie man sich auf Hart Hill den Kopf zerbrach: War der Hobb beleidigt, weil er ein Hemd bekommen sollte oder weil es aus grobem Tuch anstatt aus feinem Leinen war? Das haben wir alles mitbekommen, denn sie haben sich monatelang mit dieser Frage beschäftigt. Das Mädchen wurde entlassen. Wir versuchten den Leuten bei all diesen Gelegenheiten klarzumachen, dass man den Hobb nicht beleidigen und nicht stören durfte, und das bewährte sich sehr gut. So ließ es sich aushalten, auch wenn wir noch immer auf Rettung hofften. Wir lebten überall hier, in allen Tälern, im Norden wie im Süden. Und hin und wieder tauchten wir auch an den anderen Orten auf, die man mit Hobbs in Verbindung brachte, wie der Mulgrave-Höhle und Obtrush Rook oberhalb Farndale. Das war kein übles Leben. Aber eines schönen Tages wurde alles anders. Das ist nun vielleicht hundertfünfzig Jahre her. Schwer zu sagen, was genau passierte, aber mehr und mehr verloren die Menschen den Glauben an das Wunderbare, vertrauten immer weniger dem, was Großvater erzählte, der die Elfen auf der Hochebene von Fairy Cross mit eigenen Augen hatte tanzen sehen, waren auch keineswegs mehr überzeugt, dass bei Obtrush Rook ein Zwerg hauste. Und allmählich wurde auch uns klar, dass das Zwergspielen nicht mehr so ungefährlich wie früher war. Sogar in dieser Gegend gab es nun Leute, die den Dingen auf den Grund zu gehen suchten, und sie waren durchaus geneigt, ganz unverfroren ihre Nase auch in unsere Angelegenheiten zu stecken. So begann ein langsamer, aber stetiger Rückzug aus der Welt der Menschen. Obwohl wir nicht länger befürchten mussten, als Satansbrut verfolgt zu werden, war unsere Taktik, im Verborgenen zu bleiben, so lange erfolgreich gewesen, dass wir sie nicht
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aufgeben wollten. Aber zum ersten Mal seit langem ertappten wir uns wieder öfter bei dem Gedanken an das Schiff und machten uns Hoffnungen, dass es doch noch zurückkehrte. Aber ich fürchte, dass das Schiff verlorengegangen ist, und ich sage Ihnen auch, warum ich das glaube. Die Gafr haben eine Technik entwickelt, die es ermöglicht, in die Vergangenheit zu blicken. Es ist wie ein Fenster; man bringt es an einen bestimmten Ort, und wenn man durch dieses Fenster blickt, kann man alles sehen, was an diesem Ort je geschehen ist. Und wen immer man durch dieses Fenster beobachtet, der kann auch von der anderen Seite herüberblicken. Das ist der Clou, meine Liebe. Es ist eine teure Angelegenheit, aber nicht ganz so schlimm ist es, wenn man nur in die jüngste Vergangenheit blickt, und deshalb hätten sie längst ein solches Zeitfenster benutzt, um nach uns zu sehen, wenn sie je zurückgekehrt wären. Seit wir hier gelandet sind, hat es keinen Tag gegeben, an dem sich nicht einer von uns an der Stelle, wo man uns abgesetzt hat, umschaute, damit wir auf keinen Fall das Fenster übersehen, wenn sie mit uns Kontakt aufnehmen wollen. > ... wurden leider aufgehalten stop kommen in spätestens dreihundertsiebzig Jahren stop bis bald!< Nein, kein Telegramm - ein vertrautes Gesicht würde man sehen, ein Gesicht in einem Fenster, das aus der Zukunft zu uns spricht. Eben ein Zeitfenster! Aber es kam keine Botschaft, und wir zogen uns allmählich aus den Tälern in die Hochmoore zurück; wir hausten in den Höhlen, die wir schon immer für den Winterschlaf benutzt hatten, und richteten uns darauf ein, ausschließlich hier oben zu leben. Wir lernten Moorhühner und Hasen zu fangen, sammelten Eier und Beeren, anstatt uns an den Vorräten der Bauern zu bedienen. Oh, wir sind gute Jäger, und wir liebten die Moore schon immer, aber es war trotzdem eine harte, schwierige Zeit - als wären wir ein zweites Mal in die Verbannung geschickt worden. Ich erinnere mich, wie ich einmal ein Schaf melkte, weil ich etwas Milch haben wollte - bis mir klar wurde, dass es nicht die Milch war, was ich mir wünschte, sondern die übliche Schale Milch vor der Haustür als Anerkennung für meine Dienste. Ich vermisste den Herrn, dem ich dienen konnte und der zu schätzen wusste, was ich für ihn tat. Aber es kamen noch schlimmere Zeiten. Es gibt Gruben in den Mooren, so lange es hier Menschen gibt; aber bald nachdem wir uns in die Moore geflüchtet hatten, begann man in Rosedale in großem Maßstab Eisenerz zu schürfen, und sie
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bauten eine Eisenbahn über die Berge von Rosedale und Farndale, um es hinunter zum Güterbahnhof von Battersby zu schaffen. Wahrscheinlich kennen Sie diese Route, denn heute ist sie nur noch ein Fußweg, der Teil des Lyke Wake Walk ist. Aber in der Mitte des letzten Jahrhunderts strömten die Menschen geradezu in die Hochmoore, um die Bahn zu bauen. Einige wohnten hier sogar in eigens errichteten Hütten, solange gebaut wurde. Und noch mehr Menschen strömten herbei, um in den Gruben von Rosedale zu arbeiten. Es war vorbei mit unserer Ruhe, und ständig waren wir in Gefahr, entdeckt zu werden. Das war die Zeit, als wir anfingen, uns mit Schaffellen zu tarnen, wenn wir tagsüber draußen waren. Es war Kempswithens Idee, er war ein cleverer Bursche. Die Felle aufzutreiben war nicht schwierig; es kommt oft genug vor, dass ein Schaf aus ganz natürlicher Ursache ums Leben kommt, und es ist auch einfach, sie zu töten, obwohl wir nie mehr als ein Schaf aus der Herde eines Bauern töteten. Es fiel uns schwer, so die Leute zu bestehlen, aber was hätten wir machen sollen? Ohne die Möglichkeit, sich auch am Tag frei bewegen zu können, wären wir verloren gewesen. Dieser Trick funktionierte sehr gut, denn fast alle Gruben- und Eisenbahnarbeiter kamen von außerhalb und kümmerten sich nicht um herumlaufende Schafe, außerdem waren wir sehr vorsichtig. Aber der Lärm, der Rauch, die Unruhe - all das trieb uns in die Flucht, bis kein Hobb mehr an den alten, überlieferten Orten zu finden war. In die ödesten Gegenden der Moore gingen wir und setzten unsere ganze Energie ein, um nur zu überleben. Es war eine trostlose Zeit. Und kaum waren die Erzlager erschöpft, die Eisenbahn wieder abgebaut, da begann der Zweite Weltkrieg, und im Rudland Rigg oberhalb Farndale übte die Armee. Panzer dröhnten über Obtrush Rook und walzten alles platt, und nicht anders war es im Fylingdales-Moor, wohin wir vor den Bergleuten und der Eisenbahn geflüchtet waren.« »Fylingdales, wo jetzt die Frühwarnstation errichtet wurde?« »Ja. Während des Kriegs schafften es ein paar Flugzeuge bis hierher, und auf einige der Dörfer fielen Bomben. Wir haben das meiste davon verschlafen, glücklicherweise - es war um diese Zeit, dass wir diese Höhle fanden, eine alte Kohlengrube, zu der uns ein Fuchsloch führte. Aber es war kein erholsamer Schlaf. Das Schlimmste war, dass wir keinen Herrn hatten, dem wir uns nützlich erweisen konnten - das machte uns tatsächlich krank, und wir alterten zusehends. Zwei von uns starben noch vor Ende des Kriegs, ein dritter bald darauf. Und noch immer ließ das Schiff auf
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sich warten.« Eine Frage quälte Jenny, die sie endlich loswerden musste. »Aber warum habt ihr euch nicht fortgepflanzt? Hättet ihr Nachwuchs gehabt, dann wäre vielleicht eine lebensfähige Gemeinschaft entstanden. Dann verliert man nicht so leicht den Mut!« »Nein, meine Liebe. Nicht auf diesem Planeten. Das war nicht möglich, das wussten wir von Anfang an.« »Warum war es unmöglich?« Aber Elphi schüttelte sehr bestimmt den Kopf; das war ein Thema, über das er offensichtlich nicht reden wollte. Vielleicht schmerzte es so sehr. »Nun gut, dann seid ihr also noch acht?« »Sieben«, sagte Elphi. »Als ich gestern aufwachte, sah ich, dass Woof Howe tot war. Dass ich Ihnen so einfach in die Arme gelaufen bin, kam daher, dass ich mir den Kopf darüber zerbrochen habe, was wir mit der Leiche anfangen sollen.« Jenny warf einen erschrockenen Blick über die Reihe von Betten; sie fragte sich, in welchem wohl eine Leiche lag. Aber etwas anderes beunruhigte sie noch mehr. »Soll das heißen, dass man in den letzten hundertfünfzig Jahren nie einen von euch überraschte, als er unaufmerksam war - bis auf dieses eine Mal, gestern?« Elphi lächelte. »O nein, meine Liebe; der eine oder andere von uns hat sich schon einmal ertappen lassen, das ist sicher ein dutzendmal geschehen, besonders seit der Zeit, als man die Gruben in Rosedale auszubeuten begann. Eine ganze Reihe von Leuten hat schon hier gesessen, wo Sie jetzt sitzen, und zugehört, so wie Sie auch. Und sie haben dieselbe Geschichte gehört, die ich Ihnen jetzt erzählte. O ja, das können Sie mir glauben! Einmal haben wir acht Menschen gerettet, deren Zug in einer Schneewehe steckengeblieben war, und mehr als einen Wanderer haben wir aufgelesen, der sich schon im letzten Stadium der Unterkühlung befand - und dazu kommen noch jene, von denen wir uns überrumpeln ließen.« Die Augen in dem Greisengesicht, wie Inseln zwischen den Strähnen aus weißem Haar, blickten sie forschend an. Jennys Befürchtungen wuchsen. »Und keiner von ihnen hat je davon berichtet? Das kann ich nicht glauben.« »Meine Liebe, keiner von ihnen hat auch nur den Funken einer Erinnerung daran behalten! Würden wir denn so viel Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen, um im Verborgenen leben zu können, nur um dann jedem Fremden, der uns über den Weg läuft, unsere Geschichte in aller Breite zu erzählen? Doch sicher nicht.
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Es vertreibt die Zeit, unterhält unsere Gäste - aber alle vergessen sie, was sie hier erlebt haben. Auch Sie werden es vergessen, das dürfen Sie mir glauben, doch wird Ihnen kein Haar gekrümmt werden. Ihr einziges Problem wird sein, dass Sie sich wundern werden, was nur aus diesem Tag Ihres Lebens geworden ist.« Jenny hatte ihre Notration bis auf den letzten Krümel aufgegessen und lag unter ihr Schaffell gekuschelt. Beim Schein einer neuen Kerze wartete sie auf Elphi, der bald zurückkommen musste. Er hatte ihr nicht erlaubt, nach oben zu klettern und ihre trockenen Kleider zu holen. »Tut mir leid, meine Liebe, aber heute haben wir keinen Nebel. Wenn Sie diesen Ort je Wiedersehen würden, dann würden Sie ihn auch erkennen - außerdem macht es mir nicht das geringste aus, das alles für Sie zu besorgen.« Also wartete sie, gefangen hinter dem schweren Stein, der den Eingang verschloss, und überlegte verzweifelt, wie sie Elphi davon abbringen konnte, ihr die Erinnerung an dieses Abenteuer zu rauben. Ihm zu versprechen, niemals auch nur ein Sterbenswörtchen verlauten zu lassen, hatte nichts bewirkt. (»Das versprechen sie alle, aber wie könnten wir dieses Risiko eingehen? Versetzen Sie sich in meine Lage!« Sie zermarterte ihr Hirn: Was könnte sie ihm anbieten, damit er im Austausch dafür ihr die Erinnerung ließe? Nichts, gar nichts fiel ihr ein. Das, was sich die Hobbs wünschten eine andere Gesellschaftsordnung auf diesem Planeten, das GafrSchiff, das sie abholte, das Yorkshire, wie es drei Jahrhunderte zuvor gewesen war -, all das lag nicht in ihrer Macht. Jenny musste feststellen, dass sie Elphis Geschichte glaubte. Sie glaubte ihm, dass er von einem anderen Planeten stammte, dass er ihr nichts tun würde und dass er in der Lage war, ihr Gedächtnis zu manipulieren - so mühelos, wie sie selbst eine Schiefertafel mit einem feuchten Tuch blankwischen konnte. Die Macht der Suggestion. Je mehr er erzählte, desto mehr war sie überzeugt, dass er die Wahrheit sagte; bald hatte diese Überzeugung Angst und Skepsis besiegt. Daran war nichts auszusetzen, es war besser, als befürchten zu müssen, unwiderruflich verrückt geworden zu sein. Und plötzlich hatte sie eine Idee. Sie sprang aus dem Bett, huschte über den Steinboden zu ihrem Rucksack und wühlte wild in einer der Taschen. Kaum einige Sekunden, nachdem sie wieder unter das Schaffell geschlüpft war und dalag, wie Elphi sie verlassen hatte, kam er die Leiter hinunter.
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Das alte Männchen ließ in einer Hand das Eimerchen für ihre Notdurft baumeln, in der Beuge des anderen Arms hielt er ihre Kleider; diesmal ließ er den Eingang der Höhle offen, so dass Licht und Kälte eindrangen. Das Brausen des Windes war zu hören. Er trug wieder sein Schaffell. »Wird Zeit, dass sie sich anziehen, denke ich - wir wollen Sie zur gleichen Tageszeit an derselben Stelle des Wegs wieder abliefern.« Er ließ den Blick besorgt über die Betten gleiten und schien dabei zu seufzen. Jennys Cordhose und die Wollsocken waren so gut wie trocken, ihre Pullover, die langen Unterhosen und die Stiefel noch etwas feucht. Sie wickelte sich aus dem Schaffell und machte sich daran, sich anzuziehen. »Da ist noch etwas, was ich gern wüßte«, sagte sie. »Wie kommt es, dass ein Hobb so einfach den Hof verlassen kann, auf dem er hundert Jahre gelebt und gearbeitet hat?« Elphi sah sie aus seinen glanzlosen Augen milde an. »Uns geht es um das Dienen an sich, verstehen Sie? Es gab ja immer noch andere Bauern, die einen heimlichen Helfer brauchen konnten. Dass wir das Leben in den Tälern ganz und gar aufgeben mussten, das hat uns schon bekümmert.« Das hieß doch, dass ihnen die Leute, denen sie dienten, im Grunde gleichgültig waren. Was sie taten, taten sie nicht aus Freundschaft; vielleicht kannten sie dieses Gefühl nicht einmal. Hatte er das nicht früher gesagt? »Warum laßt ihr nicht einfach das Versteckspiel? Zeigt euch doch den Menschen! Was würden die Leute nicht alles geben, um von eurer Existenz zu wissen!« Elphi schien das gleichermaßen zu belustigen und traurig zu machen. »Nein, meine Liebe. Das sollten Sie vergessen. Erstens müssen wir hierbleiben und warten, ob das Schiff zurückkehrt, solange noch einer von uns am Leben ist. Zweitens lieben wir diese Moore und möchten sie nicht verlassen. Drittens - wir haben hier auf der Erde so lange im Verborgenen gelebt, dass wir gar nicht mehr anders können, dazu sind wir zu alt. Und viertens würden die Menschen, uns nie mehr in Ruhe lassen. Das wissen Sie sehr gut.« Damit hatte er recht; mit der Ruhe wäre es vorbei, selbst wenn man für die anderen Punkte eine zufriedenstellende Lösung fand. Jenny selbst ging es ja nicht anders, auch sie war nicht willens, ihn in Ruhe zu lassen. Es hatte keinen Sinn. Als sie sich zur Leiter wandte, hielt sie der alte Hobb am Arm fest. »Ich fürchte, Sie werden das hier überziehen müssen«, sagte er entschuldigend. »Sie werden noch etwas sehen können, aber nicht so viel, als dass sie den Ort wiedererkennen werden.« Bei diesen Worten hatte er die Arme gehoben und ließ nun eine
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Kapuzenmaske über ihren Kopf fallen, die er um den Hals locker zusammenschnürte. »Zuletzt musste ein Ladenbesitzer aus Bristol das tragen. Er hat mehr gesehen, als er sehen durfte, und war an einem schönen Sommernachmittag unser Gast.« »Wann war das? Letzten Sommer?« »Zwischen den beiden Kriegen, meine Liebe.« Jenny war gehorsam stehengeblieben, bis er die Kapuze befestigt hatte. Als er beiseite trat, fragte sie durch das grobgewebte Tuch: »Wer ist denn der Tote?« Stille. Dann: »Woof Howe Hobb.« »Was werdet ihr mit ihm anfangen?« »Ich weiß es noch nicht ... Ich habe gehofft, dass die anderen bald aufwachen, aber der Geruch ... Es stört mich so sehr, dass ich nicht länger warten kann. Ich glaube nicht, dass Sie es schon riechen können.« »Kann man sie nicht einfach wecken?« »Nein, sie müssen von allein aufwachen.« Jenny holte tief Luft. »Warum lassen Sie mich nicht helfen, wenn sonst keiner da ist?« Nun folgte eine wirklich lange Pause, und Jenny schöpfte Hoffnung. Aber schließlich sagte Elphi: »Sie können mir helfen, darüber nachzudenken, während wir gehen. Ich gebe zu, dass ich für einen brauchbaren Ratschlag sehr dankbar wäre, aber ich muss Sie bis zum späten Nachmittag zu jenem Weg gebracht haben.« Und damit schob er sie vor sich her die Leiter hinauf. Draußen vor der Höhle konnte man unmöglich reden. Nach der Totenstille zuvor erschien ihr der unablässig auf sie einstürmende Wind betäubend laut. Diesmal trug Jenny ihren Rucksack selber, und mit der Kapuze über dem Gesicht nahm sie allein schon das Gehen völlig in Anspruch; sie war es müde, weiter mit Elphi zu diskutieren. Es dauerte eine ganze Zeit, bis Elphi sagte, dass sie die Kapuze abnehmen könne. Sie sollten ein paar Minuten verschnaufen. Es gab nichts, worauf man sich setzen konnte, nur Heidekraut und Blaubeersträucher, weshalb Jenny ihren Rucksack abnahm und sich auf ihn hockte; sie wünschte, sie hätte nicht ihren ganzen Proviant schon aufgegessen. Es war ein schöner Tag; die tiefstehende Sonne stand völlig klar über der buschigen, schneebedeckten Heidelandschaft, der Himmel war blau und weit, dass man auch die fernen Hügelketten noch deutlich unterscheiden konnte. Elphi lief eine Strecke voraus, um sich umzusehen. Nur Rücken
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und Kopf ragten aus dem Gebüsch, und aus einiger Entfernung glaubte man wirklich ein Schaf zu sehen, so erstaunlich gut ahmte er auch dessen Bewegungen nach. Sie sagte es ihm, als er zurückkam. »O ja, es ist eine gute Tarnung, das hat sich oft gezeigt. Und wir konnten uns damit eine Menge Ärger ersparen. Aber man kann die Bauern hier nicht so leicht täuschen. Sie kennen ihre eigene Herde genau, sie wissen, wo sie gerade weidet und wo die anderen Herden sind. Die Tiere entfernen sich nicht weit vom angestammten Platz. Deshalb müssen wir auf einer bestimmten Route etwa ein Fell mit einer blauen Markierung an der linken Seite tragen, auf einem anderen Gang eines mit einem roten Fleck an der Schulter - sonst würden wir auffallen, und das ist das letzte, was wir wollen.« »Tot oder lebendig«, meinte Jenny vielsagend. Er sah sie scharf an. »Ist Ihnen etwas eingefallen?« »Ja ... Könnte man die Leiche nicht in diesen vielen verlassenen Gruben und Steinbrüchen verstecken? Unter einem Haufen Geröll etwa?« Elphi sagte: »Man interessiert sich heute wieder für die alten Erzgruben. Wir haben das schon verworfen, als Kempswithen starb.« »Was habt ihr mit ihm gemacht? Sie haben es mir nicht gesagt.« »Nichts, was wir noch einmal machen wollen.« Es schien, als schauderte Elphi. »Ist es nicht so«, sagte Jenny langsam, »dass es hier im Frühling leicht brennt? Da war eine Warntafel am Bahnhof, wie gefährlich das sei und dass das Torf wochenlang brennen würde, wenn es sich erst mal entzündet hat.« »Das können wir nicht machen!« Er war ehrlich erschrocken. »Nein, so ein Brand ist eine schreckliche Sache! Auf dem verbrannten Boden würde fünfzig Jahre lang und länger nichts mehr wachsen.« »Aber man brennt doch von Zeit zu Zeit die alte Heide ab, das haben Sie mir selber gesagt.« »Das ist ein kontrolliertes Abbrennen, unter ständiger Beobachtung.« »Oh.« Eine Zeitlang saßen sie schweigend da, während Jenny nachdachte und Elphi geduldig wartete. »Aber wie wär's damit: Ich weiß, dass man eine Menge Skelettreste von ausgestorbenen Tieren in einer Höhle irgendwo am Rand des Parks gefunden hat, aber noch nie hat man dergleichen aus einem Moortümpel gefischt, weil die Säure im Schlamm alles zerfrißt. Ich hab' einen
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wissenschaftlichen Artikel darüber gelesen. Könntet ihr euren Freund nicht in einem Sumpfloch versenken?« Elphi schien sehr interessiert zu sein. »Ja ... Das könnte gehen. Niemand sticht mehr Torf bis in die Tiefe, und in den Sümpfen lohnt sich auch das Weiden nicht. Die Wanderer machen einen Bogen darum. Die einzigen Leute, die sich für die Sumpfteiche interessieren, kommen wegen der Wildblumen, und dafür ist es jetzt noch zu früh.« »Gibt es nicht auch im umzäunten Gelände von Fylingdales, das man nicht betreten darf, Sumpfteiche?« Elphi stöhnte leise und wiegte den Kopf. »Ach je, Woof Howe konnte diese öde Gegend nicht ausstehen. Aber die Blumen hätten ihm gefallen.« »Hat man nicht kürzlich innerhalb des Sperrgebiets einige seltene Pflanzen gefunden, weil sie dort nicht abgeweidet werden können?« »Nun, das ist richtig«, sagte Elphi vor sich hin. »Ich habe davon reden hören. Man wird die Stelle, wo die Andromeda wächst und noch eine andere Art der Rosmarinheide in Ruhe lassen.« Er sah nach der Sonne. »Schön, Sie haben mir sehr geholfen, meine Liebe. Und nun sollten wir es zu Ende bringen. Es ist höchste Zeit. Es wäre mir auch recht, wenn Sie die Karte zur Hand nehmen und Ihr Regentuch überziehen würden.« »Mein was?« »Dieses grüne Ding mit der Kapuze, das Sie über allem ändern getragen haben, als ich Sie traf.« »Ach, der Poncho.« Sie suchte ihn heraus, hob dann den Rucksack und schwang ihn über die Schulter. Sie klinkte die Gurte ein und brachte es fertig, den Poncho überzuwerfen und ganz auszubreiten, dass er auch den Rucksack bedeckte, obwohl der Wind daran zerrte. Das alles dauerte seine Zeit, und als sie schließlich die Druckknöpfe an den Seiten zusammengeheftet hatte, da war Elphi ziemlich nervös geworden und trat von einem Bein aufs andere. Jetzt stand sie ihm gegenüber und sah ihm in die Augen. Der Wind blies ihr ins Gesicht. »Wenn ich dazu beigetragen habe, euer Problem zu lösen, wie wär's dann, wenn Sie mir bei meinem Problem auch helfen würden?« »Und das wäre?« »Ich möchte, was ich hier erlebt habe, nicht vergessen; und ich möchte zurückkommen und Sie Wiedersehen.« Das war zu viel für Elphi. Er stöhnte und wackelte mit dem Kopf. Unvermittelt fasste er sich und richtete sich zu voller Größe auf.
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»Wollen Sie mich zwingen, zu lügen? Was Sie wünschen, kann unmöglich sein. Ich habe es Ihnen erklärt.« »Ich schwöre, dass ich niemandem etwas sagen werde, kein einziges Wort!« Doch als Antwort begann Elphi von neuem zu jammern und zu stöhnen, und Jenny gab es auf. »Schon gut, vergessen wir's. Wo bringen Sie mich hin?« Elphi ließ sich auf alle viere sinken, er zitterte ein wenig, doch seine Stimme klang völlig normal, als er antwortete. »Auf den Wanderweg durch das Große Hograh-Moor, wo wir uns getroffen haben. Gleich dort drüben, sehen Sie? Die Steinmale?« Und tatsächlich konnte man fast am Horizont eine Reihe winziger Kegel erkennen. »Gehen Sie jetzt vor mir her, bis Sie auf den Weg stoßen.« Jenny setzte sich gehorsam in Bewegung. Es war ein mühsames Gehen; jeder Schritt bedeutete, das Bein erst einmal aus dem schneebedeckten Gestrüpp zu befreien. Doch hatte sie nun den Wind im Rücken. Dann stieß sie auf eine Schafspur, die in ihre Richtung führte; sie folgte dem Trampelpfad, bis er zur Seite schwenkte. Sie fand einen anderen, und so ging es weiter, bis sie schließlich den schmalen Wanderweg erreicht hatte. Sie blieb stehen, um zu verschnaufen und die Aussicht zu genießen, dann machte sie sich wieder nach Osten auf, wo sie die Jugendherberge von Westerdale erwartete. Eine halbe Stunde ging sie, ohne an etwas anderes zu denken als an die fremdartige Schönheit dieser Landschaft und an das warme, aber miserable Abendessen, das sie in Westerdale bekommen würde. Dann schreckte sie auf, sie hatte überhaupt nicht bemerkt, wie sich der Nebel verflüchtigt hatte. Sie zog den im Wind flatternden Poncho aus, rollte ihn zusammen und griff nach hinten, um ihn unter die Rucksacklasche zu schieben. Dann nahm sie die Karte wieder zur Hand und versuchte sich zu orientieren. Wenn dieser Hang auf der anderen Seite des Tals der Kempswithen war, dann war es nicht mehr weit bis zur Landstraße nach Westerdale. In einer Stunde vielleicht würde sie in der Jugendherberge sein, dort gab es ein heißes Bad und etwas zu essen. Das üppigste Abendessen, versprach sie sich, das sie kriegen konnte. »Sie haben Glück, dass die Saison noch nicht begonnen hat«, sagte der Herbergsvater. »Wir haben Sie gestern erwartet. Im Sommer hätten wir jetzt kein einziges Bett mehr frei. Aber so haben
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wir nicht viele Gäste, also ist das kein Problem. Möchten Sie zu Abend essen?« »Ich war für den fünften angemeldet«, sagte Jenny etwas ärgerlich. »Da bin ich mir ganz sicher, denn am fünften hat meine Schwester Geburtstag.« »Genau. Und der fünfte war gestern, heute haben wir den sechsten.« Er legte seinen dicken Zeigefinger auf den Kalender, der hinter ihm an der Wand hing. »Donnerstag, der sechste April. Einverstanden?« »Es ist Mittwoch, der fünfte«, sagte Jenny geduldig wie zu einem Kind. Sie hielt ihm die Armbanduhr entgegen, damit er Wochentag und Datum ablesen konnte. Er blickte auf ihre Uhr. »Wenn Sie's genau wissen wollen, hier steht: Donnerstag, der sechste. Aber es ist schon in Ordnung, wir haben ein Bett für Sie. Wollen Sie auch etwas zu essen?« Jenny starrte auf die beiden quadratischen Fensterchen auf dem Zifferblatt ihrer Uhr; sie fühlte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. »Entschuldigung, das war ein Irrtum ... Ja, ich möchte etwas essen.« Einige halbwüchsige Jungen, die in der Schlange hinter ihr warteten, starrten sie neugierig an. Sie nestelte an ihren Stiefeln, konnte sich endlich von ihnen befreien und schwang sie in das Schuhgestell; dann schulterte sie ihr Gepäck und machte sich, mühsam beherrscht, auf den Weg zu dem Schlafraum, den man ihr zugewiesen hatte. In dem leeren Raum suchte sie sich ein Bett aus und setzte sich; den Rucksack ließ sie neben sich auf dem Boden liegen. »Ich bin am dritten von Cambridge aufgebrochen«, sagte sie laut vor sich hin, »und habe zwei Nächte in York verbracht. Dann bin ich heute morgen in den Zug nach Middlesbrough gestiegen, nahm den Anschlusszug nach Whitby und bin bis Kildale gefahren. Von dort bin ich über die Berge nach Westerdale gelaufen. Wie und wo konnte mir ein ganzer Tag abhanden kommen?« Dann holte sie ihre Platzkarte für den D-Zug hervor. Die Reservierung galt für den dritten. Der Schaffner hatte kontrolliert und die Fahrkarte abgestempelt; niemand im Zug, der ihr den Platz streitig gemacht hätte. Es war unmöglich, dass sie sich im Tag irrte. Doch auf ihrer Uhr, die vor zwei Tagen Montag, den dritten April gezeigt hatte, war nun zu lesen: Donnerstag, 6. April. Wo war der fehlende Tag? Niemand war da, der ihr darauf hätte antworten können, und in dem Schlafsaal war es kalt. Das half Jenny in die Welt der
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Tatsachen zurück: Was sie jetzt brauchte, war heißes Wasser, etwas zu essen, saubere Socken, ihre Pantoffeln und noch einige Decken für ihr Bett. Sie zog ihren Rucksack heran, öffnete ihn und nahm Handtuch und Seife heraus. Doch ihre Socken zum Wechseln waren schmutzig, sie musste sie längere Zeit getragen haben: Feine Heidekrautästchen stecken in den Maschen, und feucht waren sie obendrein noch. Die kleinen Reste Erika erinnerten Jenny daran, dass auch die Socken, die sie anhatte, juckten. Sie fuhr mit dem Finger in jene Socke, doch was da störte, war nicht Heidekraut, sondern ein kleines, mehrfach gefaltetes Stückchen Papier. Mit zitternden Händen breitete Jenny das Zettelchen aus und strich es auf dem Schenkel glatt. Es war die Hülle eines Lipton-Teebeutels, auf deren Innenseite mit einem Kugelschreiber einige Sätze geschrieben waren. Es war ihre eigene Handschrift. Da stand: Hobb namens ELFY (?) - begegnet mir im Nebel, zwingt mich, mit in seine Höhle zu kommen - tarnt sich als Schaf - lebt mit sechs anderen in der Höhle sie sind Außerirdische - er wird es aus meinem Gedächtnis löschen, aber VERSUCHE, ZU ERINNERN Danby-Hochmoor? Bransdale? Farndale? VERSUCHE, ZU ERINNERN, UNBEDINGT!! Diese Sätze, die sie in größter Eile geschrieben haben musste, sagten ihr überhaupt nichts. Was sollte das heißen: ein Hobb? Aber sie hatte es eigenhändig geschrieben, da gab es keinen Zweifel. Jetzt war sie wieder da, wo sie angefangen hatte ... der sechste April. Donnerstag, nicht Mittwoch. Jenny faltete den Zettel zusammen und verstaute ihn sorgfältig in ihrer Brieftasche. Systematisch durchsuchte sie den Rucksack. Der Notproviant war ebenso verschwunden, wie ihre Taschenlampe und die Kerzen. Die Bluse, die sie noch eingepackt hatte, und die frische Unterwäsche waren schon getragen. Der kleine Aluminiumtopf des Essgeschirrs, den sie immer sofort wusch, damit der Schmutz nicht antrocknete, war auf der Unterseite schwarz vor Ruß. Irgendetwas Unerhörtes war geschehen, und sie hatte vergessen, was es war. Sie war dazu gebracht worden, es zu vergessen, wenn man es nach der Botschaft auf dem Zettel beurteilte. Also gut, sagte sie sich, während sie ungewaschen und mit schmerzenden Gliedern auf dem harten Bett hockte. Sie hatte
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jedoch etwas, an das sie sich halten konnte. Warum sollte sie dem misstrauen, was sie selbst geschrieben hatte? Sie zog es vor, an sich zu glauben, dann würde man schon sehen, auch wenn es Jahre dauern sollte. Es dauerte tatsächlich Jahre, aber Jenny gab nicht auf. Sie kam nun häufig in den Nationalpark von Nord-Yorkshire, wann immer die ungewöhnlich heißen Sommer und die Semesterferien ihr Gelegenheit boten. Und sie lernte die Moore dort so gut kennen, wie man einen Landstrich als Tourist nur kennen lernen konnte. Mit jedem Urlaub liebte sie dieses rauhe Land ein wenig mehr. Bald war sie regelmäßiger Gast auf einem Hof in Danby Dale, wo Zimmer an Touristen vermietet wurden, und nie wieder war sie gezwungen, in der Jugendherberge von Westerdale zu übernachten. Der Wunsch, das Geheimnis jenes fünften Aprils, des verlorenen Tages in ihrem Leben, zu enträtseln, blieb unvermindert bestehen, ohne dass dies zum Glück zu einer fixen Idee wurde. Das bestärkte Jenny in dem Glauben, dass sie jenen Zettel aus Angst vor dem Vergessen bekritzelt hatte, nicht aus Angst vor dem, was sie vergessen hatte. Aber Elphis Fähigkeiten der suggestiven Beeinflussung waren phänomenal. So sehr Jenny es auch versuchte, sie bekam das verlorene Ende des Fadens nicht wieder zu fassen. Sorgfältig trug sie zusammen, was sie über Hobbs erfahren konnte, und das war eine Menge (einschließlich der korrekten Schreibweise von Elphi, denn von diesem Hobb war in den alten Geschichten oft die Rede). Und Jenny machte es sich auch zur Aufgabe, so viel wie nur möglich über jene Menschen zu erfahren, die glaubten, von Außerirdischen entführt worden zu sein und mit ihnen gesprochen zu haben. Viele dieser Leute hatten das Ereignis verständlicherweise nicht ohne ein seelisches Trauma überstanden, und unaufhörlich quälte sie, dass ihnen der größte Teil der Erinnerung daran verloren gegangen war. Jenny folgte ausschließlich ihrem Beispiel und absolvierte einige Hypnosesitzungen; aber entweder war sie vom Nutzen nicht überzeugt genug, oder Elphis Fähigkeiten waren einfach zu überlegen - jedenfalls konnte sie sich hinterher an nicht mehr erinnern als zuvor. So sehr sie sich auch bemühte, der gewünschte Erfolg blieb aus. Es musste schon das Gafr-Schiff zurückkehren, um ihrem
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Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. 2 Das Auftauchen des riesigen Schiffs im Sonnensystem war das Ereignis des Jahrhunderts, wenn nicht des Jahrtausends. Diesmal blieb das Raumschiff nicht verborgen. Noch bevor es die Umlaufbahn des Mars gekreuzt hatte, waren ihm die Teleskope auf der Spur. Jenny war nicht weniger erschrocken und aufgeregt als jedermann, und wie jedermann staunte sie darüber, dass die Fremden sich in hervorragendem amerikanischem Englisch an die Menschen wandten, um die Einzelheiten der Landung zu besprechen. Merkwürdigerweise kam es Jenny nicht in den Sinn, dass diese Fremden, die unzweifelhaft Außerirdische waren, irgend etwas mit jenen rätselhaften Fremden zu tun hatten, nach denen sie so lange schon suchte. Die Botschaft auf der Teebeutelhülle hatte über Gafr oder ein Raumschiff nichts gesagt, und vielleicht hatte dieser Teil von Elphis Geschichte sich Jennys Unbewusstem weniger stark eingeprägt als das, was er über ihren Überlebenskampf im Verborgenen berichtet hatte. Aber in dem Augenblick, als sie in ihrem Wohnzimmer vor dem Fernseher sah, was da nach der Landung auf dem John-F.Kennedy-Flughafen aus dem Zubringerschiff stieg und von der UNDelegation begrüßt wurde, traf es sie wie ein Blitz. Für Sekunden schien ihr Herz stillzustehen, so groß war der Schock. Wie gelähmt saß sie da, bis es sie förmlich aus dem Sessel riss: »Elphi!« brüllte sie. Sie schrie es dem Bildschirm zu, und alles, was sie so lange vergeblich gesucht hatte, stand ihr wieder klar und deutlich vor Augen. Aber das Lachen und Weinen im hysterischen Wechsel dauerte nicht lange, sie fasste sich schnell; eine Minute später telefonierte sie schon mit ihrem Lehrstuhl, gleich danach rief sie in England an. Am nächsten Morgen stand sie in der Schlange der Stand-byPassagiere nach London, am darauffolgenden Morgen schlief sie tief und fest in dem D-Zug, der sie durch die verwaschen graue Winterlandschaft nach York brachte. Zu dieser Zeit wusste schon die ganze Welt, dass etwa dreihundertfünfzig Jahre zuvor die Fremden schon einmal auf der Erde gewesen waren und einige ihrer Kameraden in der schwedischen Provinz Skane und in Nordengland abgesetzt hatten: Technische Probleme hatten dazu geführt, dass sie nicht planmäßig
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zurückkehren konnten. Die Zeitdilatation tat ein übriges, dass sie nun reichlich spät kamen. Die Fremden waren sehr bekümmert, dass es keinerlei Lebenszeichen ihrer gestrandeten Kameraden gab; natürlich konnte man das nach so langer Zeit auch nicht erwarten. Aber sie würden sich gerne selbst auf die Suche machen. Weil im Fylingdales-Moor das Frühwarnsystem installiert war, sahen gewisse Regierungen gar nicht gern, dass die Fremden sich in Yorkshire umschauen wollten. Man überlegte also, die Besucher aus dem All erst einmal nach Skane zu führen. Beim Anblick der Fremden hatte jeder Schwede sofort an die berühmten tomte-Bilder von John Bauer und Harald Wiberg denken müssen, was man als Indiz dafür betrachtete, dass die auf der Erde Ausgesetzten zumindest einige Zeit überleben konnten und der schwedischen Landbevölkerung in früheren Zeiten nicht unbekannt waren, auch wenn es keinen eindeutigen Beweis für ihre Existenz gab. Die Delegation bestand aus fünf Hobbs, die alle akzentfrei amerikanisches Englisch sprachen und wie Elphi aussahen, wenn auch weniger heruntergekommen. Die Sprache hätten sie mittels der Radiosendungen erlernt, die sie schon weit draußen im Raum aufgefangen hatten, sagten sie, nicht ohne hinzuzufügen, dass sie wirklich großes Sprachtalent besäßen. Wie um das zu beweisen, fingen sie nach wenigen Tagen schon an, ganz passabel schwedisch zu sprechen. Nie ließen sie ein einziges Wort über die Gafr verlauten, die oben auf dem Mond in ihrem Riesenschiff warteten. Jenny hätte nicht genau sagen können, warum sie jetzt unbedingt in Yorkshire sein wollte. Einerseits schien es ganz logisch, ein Versuch, ihre lange, quälende Suche zum Abschluss zu bringen. Auf der anderen Seite war es unsinnig, denn sie wusste beim besten Willen nicht, wie sie die Höhle der Hobbs finden konnte, in der sie jene vierundzwanzig Stunden verbracht hatte, die ihrem Gedächtnis abhanden gekommen waren. Wenn Elphi und seine Freunde noch am Leben waren, dann wussten sie, dass das Schiff zurückgekommen war - sie hätten es im roten Transistor mit dem Reklameaufdruck oder irgendeinem anderen mitbekommen, das ein müder Wanderer auf dem Lyke Wake Walk hatte liegenlassen. Dass man nichts von ihnen gehört hatte, machte es unwahrscheinlich, dass einer der Hobbs tatsächlich noch am Leben war. Ein kalter, durchdringender Märzwind fegte über den Bahnsteig von Danby, als sie aus dem klapprigen Zug stieg. John Dowson stand schon bereit, um sie und ihr Gepäck in Empfang zu nehmen.
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Ihm gehörte der Hof, der zu ihrem Stützpunkt für die Streifzüge durch Yorkshire geworden war. »Schön, Sie wieder zu sehen!« rief er. »Wir sind froh, dass wir das so kurzfristig einrichten konnten!« Fünfzehn lange Jahre kannte sie nun schon John und seine Frau, und etwas erschrocken sah Jenny, dass John ein alter Mann geworden war. Sie selbst war ja erst in den besten Jahren. Möglich, dass sie nach diesem Mal nicht mehr so oft hierherkommen würde. »Wir dachten, dass es was mit diesen Weltraumleuten zu tun hat«, bemerkte John in seiner freundlichen, bedächtigen Art, als sie dann im Landrover talaufwärts fuhren. »Da könntest du recht haben.« Jenny starrte aus dem Fenster. Gierig sog sie das Bild dieser Landschaft in sich auf. »Die Regierung will sie nicht in Fylingdales haben«, knurrte er. »Was glauben die Dummköpfe in Whitehall denn? Dass sie irgend etwas über unsere militärischen Anlagen erfahren könnten, was sie nicht schon wissen?« »Sind die Leute hier nervös wegen dieses Theaters, John?« »Ich schätze eher, sie genießen es. Wir sind nicht oft in den Nachrichten.« Er verlangsamte das Tempo, weil die Straße in zwei scharfen Kurven um einen Kirchhof führte. »Glauben die Leute hier denn, dass in den Tälern einige der ausgesetzten Außerirdischen lebten?« John ließ sich mit der Antwort viel Zeit. »Einige schon. Es sind nicht viele, die beschwören würden, dass es unmöglich ist. Das hier war früher ein sehr einsamer Landstrich, kaum jemand kam auf die Berge. Da oben kann es alles mögliche gegeben haben. Wurde auch viel erzählt von Hexen und Elfen.« Er lachte leise in sich hinein. »Macht ihr euch Gedanken darüber, du und Rita?« John bremste wieder ab und ließ den Landrover vorsichtig über einen Weiderost rollen. »Kann man nicht sagen. Scheint so direkt nichts mit uns zu tun zu haben. Kann mich nicht erinnern, dass ich mir bisher darüber den Kopf zerbrochen hätte. Aber immerhin gibt es hier welche, die das tun. Ein Kerl hat gestern abend im Pub behauptet, er hätte als Kind einige dieser kleinen Männchen oben in den Bergen gesehen. Sicher, die Leute sagen so manches, wenn sie erst ein paar Gläser getrunken haben. Aber wieso redet er erst jetzt davon, wenn es schon dreißig Jahre her ist?« Als Jenny sich so weit gefasst hatte, dass sie ihre Stimme wieder in der Gewalt hatte, fragte sie: »Wer war das denn, kennst du ihn?« »Ja, Frank Flintoft war der Bursche. Sein Vater ist ein Freund von mir, hat einen Hof drüben in Westerdale. Der liebe Frank war
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schon immer ein Träumer, obwohl er sein Handwerk versteht. Sein Hof liegt in der Nähe von Swainby, da, wo der Nationalpark anfängt. Er war auf der Universität, hat sein Examen gemacht und kam dann hierher zurück. Das tun nicht viele, weißt du. Wenn sie einmal weg sind, dann bleiben sie auch weg. Aber er scheint ein wenig auf einer rosa Wolke zu schweben mit seinen verrückten Ideen - keine Chemie, kein Kunstdünger und keine Unkrautvertilger. Trotzdem läuft es ganz gut bei ihm; seine Zuchtlämmer bekommen fast jedes Jahr einen Preis. So, da wären wir.« Sie bogen in die steile Auffahrt ein, die hinauf zur Talseite des Hauses führte. »John«, sagte Jenny so ruhig sie nur konnte, »mit diesem Frank würde ich ganz gern mal reden. Könntest du das für mich arrangieren?« »Du kannst heute abend das Auto haben, wenn du willst. Frank wird bestimmt zu Hause sein, er ist keiner von denen, die mehr als einen Abend in der Woche in der Kneipe sitzen. Wir sollten bloß vorher anrufen.« Jenny sah nachts nicht gut; auch zu Hause fuhr sie bei Dunkelheit nur Strecken, die sie kannte. Dennoch machte sie sich in Rita Dowsons kleinem Auto auf den Weg: vierzig Kilometer über steile, kurvige Straßen bis zu dem Dorf Swainby. Dort starrte sie sich fast die Augen aus den Höhlen, um die Wegmarken zu finden, an denen sie Frank Flintofts Hof erkennen sollte. Er kam schon beim ersten Klopfen, ein hagerer Mann in ihrem Alter mit einem sehr anziehenden, wettergegerbten Gesicht, das aber merkwürdig kindlich wirkte. Er hatte widerspenstiges, graues Haar, die rauhen Hände und die bedächtige Sprache eines Bauern, nicht anders als John Dowson, aber seine blauen Augen blickten ungewöhnlich wach und lebhaft. Er schien allein zu sein. Jenny kam sofort zum Thema. »Ich habe von John gehört, was Sie über die im Moor ausgesetzten Fremden gesagt haben. Stimmt es, dass Sie ihnen vor dreißig Jahren begegnet sind?« »Nicht ganz achtundzwanzig Jahre, aber im übrigen ist es nur zu wahr.« »Haben Sie etwas dagegen, wenn sie mir die ganze Geschichte erzählen?« »Keineswegs. Aber bitte, verraten Sie mir vorher, was Sie daran so interessant finden.« »Ich denke, Sie haben es schon erraten«, sagte Jenny, und ihre Stimme überschlug sich. Sie schluckte. »Ich habe sie auch gesehen. Vor zwölf Jahren, genau um diese Zeit.« Frank Flintoft starrte Jenny an, als hätte er auf eine solche
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Begegnung Zeit seines Lebens gewartet, als könnte er sich kaum zurückhalten, sie in die Arme zu schließen. Dann breitete sich ein strahlendes Lächeln über sein Gesicht. »Mein Gott, was für ein Tag! Warten Sie, möchten Sie etwas trinken? Die Geschichte wird eine Weile dauern, und ich fürchte, Sie werden etwas zum Aufwärmen brauchen.« Es war tatsächlich kalt in diesem Haus. »Aber bitte nur Tee - ich sehe in der Nacht schon schlecht genug.« »Gut. Am besten gehen wir in die Küche.« In der Küche war es geringfügig wärmer als im Wohnzimmer. Frank schaltete ein elektrisches Heizgerät ein, das in einen gekachelten Kamin eingebaut war, schob zwei Stühle heran und begann, während er am Wasserhahn hantierte und die Teeutensilien aus dem Regal holte, ohne Umschweife mit seiner Geschichte. »Ich war über Ostern von der Universität nach Hause gekommen, und hatte einen Freund aus Cornwall mitgebracht. Kurz bevor wir wieder nach Cambridge zurückfuhren, hatten wir die Idee, noch einmal den Lyke Wake Walk zu sehen. Das war noch, bevor der Weg durch das Wheeldale-Moor aussah wie die Landebahn eines Flughafens. Der Hof, der Bill Cowley gehörte, ist übrigens nur ein Steinwurf von hier entfernt. Er war derjenige, der 1955 den Marsch durchs Moor erfunden hat und auch die Regeln aufstellte: vierzig Meilen in vierundzwanzig Stunden durch, und zwar auf den eigenen zwei Beinen. Nun, Sie können sich denken, wie so etwas auf einen Zwanzigjährigen wirkt. Mein Freund und ich, wir waren begeistert von unserer Idee. Trotzdem war es eine unentschuldbare Dummheit. Wir zogen mit den Sachen los, die wir auf dem Leib trugen, und in den Rucksäcken hatten wir einige Brote, ein paar Schokoladeriegel und eine Feldflasche. Ungefähr nach der Hälfte der Strecke gerieten wir in einen dieser verrückten Schneestürme, die es nur im Frühling gibt. Wir kämpften uns tapfer voran, aber das Schneetreiben war so dicht, dass wir schon nach kurzer Zeit nicht mehr wussten, wo wir waren. Ich weiß noch, es war weniger Angst, was ich fühlte, sondern Wut: Wut über meine Dummheit. Ich hatte doch mein ganzes Leben hier verbracht; ich wusste, dass man mit so etwas rechnen musste, und hatte nun Toby in diese Lage gebracht. Nun, wir nahmen den Kompass in die Hand und zogen weiter. Es gibt da oben keinen Unterschlupf, der auch nur einen Pfifferling wert ist. Ich weiß noch, dass ich irgendwann ein Stück Schokolade in den Mund schob, aber es schmolz nicht. Und da kriegte ich es mit der
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Angst zu tun: Jetzt waren wir wirklich in Schwierigkeiten. Was danach passierte, davon weiß ich kaum noch etwas. Irgendwann kam ich zu mir und fand mich zusammen mit Toby in einer Höhle wieder. Um uns herum hatten sich vielleicht ein Dutzend Hobbs versammelt. Wir waren einige Stunden dort unten. Sie sorgten dafür, dass wir uns aufwärmen konnten, sie fütterten uns mit uralten Keksen, und erzählten uns ihre Geschichte - dass sie von einem anderen Planeten stammten, dass man sie zur Strafe für einige Zeit hier ausgesetzt hatte, dass aber nie jemand gekommen war, um sie abzuholen. Und sie erzählten, sie wären die Hobbs aus den alten Sagen, und wir hätten verdammtes Glück gehabt, weil sie Winterschlaf zu halten pflegten und erst ein paar Wochen zuvor aufgewacht seien. Schließlich legte sich der Sturm, und die kleinen Kerle schaufelten den Höhleneingang frei. Dann verbanden sie uns die Augen und zogen uns in einer Art Schlitten aus Fell über den Schnee. Sie trugen auch sonderbare Schneeschuhe, um über den Schneewehen nicht einzusinken. Sie brachten uns zur Straße, die ein ganzes Ende von ihre Höhle entfernt sein musste - zumindest dauerte die Fahrt recht lange. Die Straße war schon geräumt, als wir dort ankamen; wir brauchten ihr nur zu folgen, um aus dem Moor nach Castleton zu kommen und meine Eltern anzurufen. Die waren natürlich außer sich; sie hatten die Polizei alarmiert und die Parkwächter, aber keiner von denen hatte irgendetwas unternehmen können, solange sich der Sturm nicht gelegt hatte. Niemand konnte sich erklären, wie wir überlebt hatten. Toby und ich wussten nicht mehr als alle anderen auch; wir erinnerten uns nur daran, dass wir das Bewusstsein verloren und am folgenden Tag wieder zu uns kamen, als wir uns im tiefen Schnee eine Spur zur Landstraße nach Castleton Rigg bahnten. Mein ganzes Leben lang habe ich an dieser Geschichte herumgerätselt. Aber dann, als ich vorgestern den Fernseher eingeschaltet habe, da kam die Erinnerung wieder, als ich diese fünf Hobbs sah - wie Schuppen fiel es mir von den Augen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, wem ich es sagen sollte. Toby ist vor zehn Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, und für meine Eltern bin ich auch so schon verrückt genug. Aber ich musste darüber sprechen, so verzweifelt wünschte ich mir das, dass ich im Duke of Wellington mehr trank als gut war und die Geschichte herausposaunte.« »Und Gott sei Dank«, sagte Jenny, »wie hätte ich sonst davon
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erfahren sollen.« Dann berichtete sie von ihrem Erlebnis mit den Hobbs. »Ich frage mich die ganze Zeit schon, warum sie nichts von den Gafr gesagt haben«, schloss sie. »Vielleicht, weil die Hobbs kleiner und sprachlich geschickter sind als ihre Meister; also können sie sich zum einen besser verständlich machen, zum anderen wirkten sie weniger bedrohlich auf uns.« Das Thema interessierte Frank. »Oder es gehört zu ihren Pflichten im Dienst der Gafr, bei solchen Gelegenheiten die Verhandlungsdelegation zu stellen - vielleicht auch wollen sie vermeiden, irgendwelche Assoziationen an eine Versklavung durch die Gafr in uns zu wecken.« »Vielleicht sind die Gafr absolut nicht menschenähnlich. Das wäre ein Grund! Kann doch sein, dass sie aussehen wie große Schleimklumpen mit Gesichtern, dass die Milch im Euter sauer wird.« »Aber ist es nicht logisch, einen Hobb auf die Suche nach einem Hobb zu schicken? Oder ist ...« »Moment mal, Frank!« unterbrach ihn Jenny. »Wann genau habt ihr diese leichtsinnige Tour auf dem Lyke Wake Walk unternommen - in welchem Monat?« »Es war um die Zeit, in der die Schafe werfen, die dritte Aprilwoche ungefähr.« »Ich bin Elphi in der ersten Aprilwoche begegnet. Er war der einzige, der schon aufgewacht war. Sie sind noch gar nicht aus dem Winterschlaf erwacht, Frank - wenn noch einer von ihnen am Leben ist, dann schläft er jetzt. Sie wissen noch nichts davon, dass das Schiff zurückgekommen ist!« Frank beugte sich zu Jenny hinüber, die blauen Augen schienen sie festnageln zu wollen. »Ja, nichts wissen sie davon - und nicht nur das, diese Hobb-Delegation weiß auch ganz genau, dass ihre Kameraden noch schlafen oder immerhin schlafen könnten. Warum sind sie nicht offen zu uns? Was bezwecken sie damit, dass sie uns etwas vormachen?« »Es gibt noch eine viel schwierigere Frage: Was sollen wir jetzt tun?« Die Teekanne leerte sich, während sie über die Möglichkeiten, die ihnen blieben, nachdachten. Spinner mussten schon zu Hunderten aus ihren Löchern gekrochen sein, die alle behaupteten, die gestrandeten Fremden gesehen und mit ihnen gesprochen zu haben; so war es doch nach jeder Ufo-Sichtung, wie Jenny bei ihren Nachforschungen herausgefunden hatte. Die Behörden waren nicht in der Lage zu beurteilen, was davon authentisch war und was
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nicht - also würde man ausnahmslos alle Berichte verwerfen. Nur die Hobbs selbst konnten auf Anhieb die Spreu vom Weizen trennen, aber die waren hinter einem Wall von Sicherheitsbeamten abgeschirmt. »Für mein Leben gern«, sagte Jenny, und unterdrückte ein Gähnen, »würde ich Elphi finden und ihn fragen, was er meint, was seine Leute vorhaben. Oh, ich muss ins Bett. Ich habe kaum eine Nacht richtig geschlafen, seit ich weiß, dass die Hobbs da sind.« »Sie können hier schlafen, wenn Sie möchten«, sagte Frank, was sie sehr überraschte. »Es gibt jede Menge Platz hier. Ich weiß nicht, ob John und Rita es Ihnen erzählt haben - ich war verheiratet, aber das ist lange her. Meine Frau lernte ich in Cambridge kennen, dann zogen wir hierher, doch nach einiger Zeit war klar, dass sie dieses Leben nicht ertrug. Ich aber kann unmöglich in London leben. Also haben wir beschlossen, die Sache zu begraben.« Er lächelte verlegen. »Sie sind mir willkommen.« Jenny erwiderte sein Lächeln. »Man erwartet mich leider, außerdem muss ich auf jeden Fall Ritas Wagen zurückbringen. Aber ich danke Ihnen.« Am anderen Morgen setzte sich Jenny vor den nagelneuen Fernseher der Dowsons und sah sich die Nachrichten an, während sie ihr Rührei mit Speck aß. Die Fremden waren jetzt in Südschweden, begleitet von einem ganzen Tross aus UNDiplomaten und Sicherheitsbeamten. Ein Lebenszeichen ihrer Kameraden hatte man dort nicht gefunden, aber die Schweden waren jetzt überzeugt, dass die weitverbreiteten Darstellungen der tomten nicht erfunden, sondern nach dem Leben gezeichnet waren. Die japanische Regierung hatte erklärt, dass sie jegliches formelle Bündnis zwischen den USA und den Besuchern aus dem All als feindseligen Akt betrachten würde. Tokio war verärgert, weil der Raumgleiter auf einem amerikanischen Flughafen gelandet war und weil die Fremden sich dafür entschieden hatten, Englisch zu lernen anstatt Japanisch. Die britischen und amerikanischen Behörden berieten noch immer über die schwierige Frage, ob man den Außerirdischen den Zugang zum Fylingdales-Moor erlauben solle. Eine Entscheidung wurde für die nächsten Tage erwartet. Die ängstliche Aggressivität der Japaner brachte Jenny auf einen ganz neuen Gedankengang. Sie hatte den Eindruck, dass die Fremden sich für keines der Länder auf diesem Planeten zu interessieren schienen. Natürlich waren sie im Umgang äußerst freundlich und zuvorkommend, aber die Suche nach ihren Kameraden war offensichtlich ihr einziges Anliegen. Das war
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keineswegs das, was sich die Menschheit unter einem Erstkontakt mit Außerirdischen vorgestellt hatte. Was die Menschen dagegen empfanden, dafür genügte das Wort >Interesse< kaum; Carl Sagan & Co. waren völlig aus dem Häuschen, andere Reaktionen schwankten von ängstlicher Scheu bis würdeloser Anbiederung; niemanden jedenfalls ließ es kalt. Ganz sicher konnte man zwar nicht sein, doch musste man den Eindruck bekommen, dass dieser Planet den Hobbs ziemlich gleichgültig war. Natürlich war es für sie kein Erstkontakt - aber sie sagten auch nicht ein einziges Wort, wie es nun weitergehen solle: kein Angebot über kulturellen und wissenschaftlichen Austausch, kein Freundschaftspakt ... Noch schlugen die Wogen der Erregung so hoch, dass es keinem aufgefallen war, doch war Jenny überzeugt, dass es für Japan keinen Grund zur Sorge gab. Die Hobbs waren nicht auf der Suche nach einem Bündnispartner. Wahrscheinlich würden sie allen Spuren ihrer ausgesetzten Freunde nachgehen und anschließend wieder verschwinden. Möglicherweise hatten sie die Tatsache, dass ihre Kameraden sich im Winterschlaf befinden mussten, deshalb verschwiegen, um einige Wochen lang Gelegenheit zu einem flüchtigen Blick auf diesen Planeten zu haben. Bisher schienen sie auch nichts gesehen zu haben, was sie beeindruckte. Als sie mit dem Frühstück fertig war, kam ein Anruf. Eine Erinnerung daran, dass Franks Einladung am Abend zuvor keineswegs beiläufig gemeint war. »Wie war's mit einem Ausflug in die Berge? Ich habe jemanden aufgetrieben, der sich um meinen Hof kümmert. Vielleicht finden wir mit vereinten Kräften diese verdammte Höhle!« In den nächsten drei Tagen suchte Jenny mit Frank die Moore ab. Anhand einer genauen Karte nahmen sie sich jede aufgegebene Kohlengrube vor, die sie in der Umgebung ausfindig machen konnten. Frank, der sich auch mit Archäologie beschäftigte, kannte sich hier hervorragend aus. Er und sein Freund Toby hatten sich in dem Gebiet zwischen Rosedale- und Danby-Moor befunden, genau südöstlich von Castleton Rigg, als der Sturm losbrach - und das war vielleicht zwölf, fünfzehn Kilometer von der Brücke entfernt, wo der zerstreute Elphi fast über Jenny gestolpert wäre. Beiden war es vorgekommen, als hätte man sie ein gutes Stück von der Höhle entfernt wieder in ihr Leben zurückgebracht, doch hatte man ihnen ja die Augen verbunden, und wie konnten sie wissen, dass man sie nicht die ganze Zeit im Kreis herumgeführt hatte. Das Wetter blieb schön, und die gemeinsam verbrachten Tage waren wundervoll. Aber alle Mühe war umsonst, drei Tage lang
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suchten sie vergeblich. Und auch zu einem Entschluss waren sie nicht gekommen, ob sie sich den Behörden mitteilen, ob sie auf die Existenz der Gafr hinweisen sollten oder nicht. »Wir wissen nicht, ob sie tatsächlich da oben sind«, meinte Frank, »und ich bin mir nicht sicher, ob es einen Unterschied macht.« Als sie am Abend des dritten Tages ihrer erfolglosen Suche wieder ins Tal von Danby hinabfuhren, sagte Jenny nach langem Schweigen: »Weißt du, selbst wenn wir die Höhle gefunden hätten ... Ich habe Elphi damals gefragt, warum er keinen von den anderen geweckt habe, damit sie sich gemeinsam um den Toten kümmern konnten, und er sagte etwas wie >Sie müssen von allein aufwachen< - und es klang, als ob es gefährlich wäre, wenn man sie vor der Zeit aus dem Schlaf riss.« »Ja. Wie wenn man ein Küken aus dem Ei holt.« »Ja ... Aber wenn man die Hobbs hierherbringt, dann wird es vielleicht mit etwas Glück möglich sein, zu einem von ihnen vorzudringen, oder überhaupt zu irgend jemand. Gibt es schon eine Entscheidung über Fylingdales?« Statt einer Antwort schaltete Frank das Autoradio ein. Während ihre Augen über den bunten Flickenteppich der Felder glitten, hörte Jenny die Nachrichten. »Eine Entscheidung darüber, ob man den Hobbs Zugang zum Nationalpark von Nordyorkshire gewährt, wo sie nach Lebenszeichen ihrer verschollenen Gefährten forschen wollen, wird für morgen erwartet. Im Fylingdales-Moor innerhalb des Parks ist das Frühwarnsystem installiert, das von den USA und Großbritannien gemeinsam betrieben wird.« »Was aber geschieht, wenn die Militärs ablehnen und die Hobbs darauf bestehen?« Frank schüttelte den Kopf und wollte schon abschalten, als der Nachrichtensprecher fortfuhr: »Einige Regierungen haben Zweifel geäußert an dem, was die außerirdischen Besucher sagen. Es wurde vermutet, dass sie ihre weithergeholte Geschichte dazu benutzen wollten, um sich in den innersten Zirkel dreier westlicher Regierungen einzuschleichen. In Japan wendet man sich vor allem gegen die durch nichts belegte Behauptung, dass die Hobbs mit dem identisch seien, was man in Schweden als tomte bezeichnet. In der schwedischen Sagenwelt ist ein tomte ein Gnom, der sich einen Bauernhof als Zuhause wählt und sich nachts, wenn alles schläft, nützlich macht.« »Allmächtiger«, sagte Frank und schaltete aus. »Wenn sie so weitermachen, dann werden wir, bis die Hobbs endlich erwacht sind, ganz schön in der Tinte sitzen. Und weißt du was? Ich wette, dass die Hobbs das ganz genau wissen. Sie
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schauen zu, wie die internationalen Spannungen wachsen, und warten ab, wie wir wohl damit fertig werden. Ich weiß immer noch nicht, was ich machen soll, aber ich muss spätestens morgen abend den Zug nach London nehmen.« Sie stöhnte, müde und deprimiert. »Was sollen wir tun? Wir müssen uns entscheiden!« »Weiß der Himmel«, sagte Frank kaum weniger bedrückt. »Man könnte versuchen, andere Leute ausfindig zu machen, die sich auch an eine Begegnung mit den Hobbs erinnern können. Vielleicht eine Anzeige in der Times: >Wenn das Wort GAFR Ihnen etwas sagt, dann schreiben sie bitte an Postfach 777, Danby, Distrikt Whitby, Nord-Yorkshire.< Wenn es genug von uns gibt, dann können wir vielleicht jemandes Aufmerksamkeit erregen - obwohl ich das Gefühl habe, dass uns nicht mehr viel Zeit bleibt.« »Ich verstehe nicht, dass diese Idioten nicht merken, dass die Hobbs an jedweder Allianz absolut uninteressiert sind!« »Vielleicht weil es das ist, was sie an Stelle der Hobbs tun würden. Denk an Vietnam! Lyndon Johnson hatte vielleicht nicht so ein Tamtam gemacht, wenn er sich hätte vorstellen können, dass es tatsächlich Leute auf der Welt gibt, die nicht so leben möchten wie die Amerikaner. Nimm mir das nicht übel, bitte«, fügte er hinzu. »Aber nein, es ist die reine Wahrheit. Sie unterstellen ihnen menschliche Motive, aber das ist ein lebensgefährlicher Unsinn!« Sie fuhren schweigend und in düsteren Gedanken versunken weiter. Nach einigen Minuten begann Jenny zu zitieren: Strenger Winter, bittrer Frost, Die Sterne glitzern klar. Der Hof liegt leer und öd, Denn alles schläft um Mitternacht. Im Mondlicht glänzt die stille Straße Und weiß der Schnee auf Baum und Strauch. Weiß strahlt das Dach, und alles träumt, Doch wacht der Gnom. Frank warf ihr einen fragenden Blick zu, aber er unterbrach sie nicht, und Jenny fuhr fort: Er geht zum Schuppen und zur Scheune, Er prüft die Riegel, jede Tür. Die Kühe, groß und schwer an ihren Pfosten, Träumen, Mondglitzern auf dem Fleckenfell; Geschirr und Peitsche sind vergessen.
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Pferd Prinz in seinem Stall träumt jede Nach Und immer wieder sieht er seinen Trog Gefüllt mit Bergen süßen Klees. »Es ist aus einem Kinderbuch, eine Übersetzung eines Gedichts über den tomte«, erklärte sie ihm. »Komisch, es ist genau mit jenen Wiberg-Bildern illustriert, von denen überall die Rede ist - aber ich würde nicht sagen, dass sie den Hobbs allzusehr ähneln. Sonst hätte ich mich sicher früher erinnert. Das Buch liegt bei mir zu Hause irgendwo herum.« »Entweder hat sich dieser Dichter geirrt, oder die schwedischen Hobbs halten keinen Winterschlaf«, meinte Frank. »Es klingt auch mehr nach einem Aufpasser als nach jemandem, der hart arbeitet. Dichterische Freiheit?« »Vielleicht, vielleicht auch sind die tomtes und die Hobbs eben nicht identisch.« »Tomtar«, verbesserte Jenny automatisch. »Hör zu, Frank: Ich glaube, mir ist da eben eine Idee gekommen.« »Fein, dann lass hören.« »Sag mir erst, ob du May Moss kennst.« Frank war überrascht. »Ein Sumpfgelände drüben in Fylingdales, hinter dem Sperrzaun. Einige sehr seltene Sumpfpflanzen sind dort wieder aufgetaucht, weil die Schafe da nicht hinkommen Sumpfrosmarin, kleinblütige Sumpfbinse und solche Sachen. Nichts, was äußerlich viel hermacht, aber unglaubliche Raritäten. Ich bin einmal an einem Sonntag mit einer Gruppe Botaniker dort gewesen und habe mir das alles angesehen.« »Gut«, sagte Jenny, »ich bin mir ziemlich sicher, dass Elphi dort Woof Howe begraben hat.« Sie waren vor der Auffahrt zum Haus der Dowsons angekommen. Frank hielt an. »Gehe ich recht in der Annahme, dass du so etwas wie Leichenschändung planst?« Jenny wurde sich wieder einmal bewusst, dass man auf Frank wirklich nichts kommen lassen durfte. »Warum sollte ein toter Hobb nicht genauso nützlich sein wie ein Lebender? Jedenfalls würden beide Tokio fürs erste das Maul stopfen und uns den Weg zu den Hobbs freimachen - soweit das überhaupt möglich ist. Dann könnten wir vielleicht von ihnen erfahren, warum sie die Existenz der Gafr geheimhalten - und dann könnten wir entscheiden, ob wir unser Wissen für uns behalten oder nicht. Und überhaupt, es ist die einzige Möglichkeit, die ich noch habe.« »Ich glaube kaum, dass noch etwas von ihm übrig sein wird.«
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»Früher dachte ich auch, dass die Säure den Körper rasch zersetzen würde. Aber da wusste ich noch nichts von den zweitausend Jahren alten Moorleichen in Dänemark und Irland und anderswo. Man hat nämlich herausgefunden, dass überall da, wo einmal Eichen wuchsen, der Morast Gerbsäure enthält, die die Leichen konserviert.« »Ich verstehe.« Dann schwieg Frank wieder. Es war mittlerweile dunkel. »Du bist dir doch über den wahrscheinlichen Grund, weshalb sie nichts über die Gafr verlauten ließen, im klaren oder?« Jenny sah ihn prüfend an. »Du meinst, sie machen es nicht anders als jeder Aggressor - sie halten ihre entscheidende Waffe so lange geheim, bis sie sie einsetzen. Und das soll heißen: Wären ihre Absichten ehrlich, dann hätten sie das mit dem Winterschlaf nicht verschwiegen, dann hätten sie auch über die Gafr geredet.« »Ja.« »Du meinst also, sie wollen uns unterwerfen? Uns im Schlaf ermorden?« Jenny lachte ein wenig zu laut. »Warum verhandeln sie dann noch mit uns und drücken nicht einfach auf den Knopf?« »Ich weiß es nicht. Ich bin kein Hobb. Aber es ist doch nicht auszuschließen, oder?« Ziemlich unglücklich saßen sie eine Weile da, bis Frank schließlich das Schweigen brach. »Entschuldige, ich bin einfach unausstehlich ... erst bringe ich dich dazu, mich für einen Paranoiker zu halten, dann bin ich beleidigt, weil mich deine Begründung nicht überzeugt.« Er legte die Hände wieder auf das Lenkrad und fuhr aus John Dowsons aufgeweichtem Steckrübenacker. »Aber eigentlich denke ich, dass eine Machtübernahme weitaus wahrscheinlicher ist. Und außerdem ist mir bei dieser Gelegenheit klar geworden, dass unsere Aussichten kaum schlechter sein dürften, wenn die Gafr über uns herrschen, als wenn die Supermächte uns weiterhin als Figuren in ihrem Schachspiel benutzen und der ganze Planet im Namen des Wirtschaftswachstums ruiniert wird. Vielleicht ergeht es uns mit den Gafr etwas besser, vielleicht etwas schlechter, aber ich bezweifle ganz im Ernst, dass sie auf lange Sicht uns in eine schlechtere Lage bringen können als wir selbst.« Er lächelte gequält. »Ich wusste gar nicht, was für ein Zyniker ich geworden bin.« »Also die Wahl zwischen dem >Ungeheuer, das Chicago fraß< und einer Riege beschränkter Wichtigtuer in höchsten Ämtern? Ich verstehe«, sagte Jenny. »Aber angenommen, die Gafr wollen uns zu ihren Sklaven machen? Die Hobbs sind die geborenen Knechte, anders als wir. Ich denke, es könnte recht schlimm für uns werden,
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wenn das ihre Absicht wäre.« Frank knurrte unwillig. »Schlimmer als ein Atomkrieg? Da kann ich nicht folgen. Wo es Leben gibt ..., du verstehst. Kann schon sein, dass ich schiefliege. Aber wahrscheinlicher als alles andere scheint mir zu sein, dass sie uns uns selbst überlassen, weil wir den Versuch einer Rettung nicht wert sind. Wenn du dir unbedingt Sorgen machen willst, dann mach sie dir darüber.« Er schüttelte ungläubig den Kopf, als bedauerte er, was er gesagt hatte. »Da siehst du, was passiert, wenn ich vergesse, dass ich nur ein Bauer bin. Ich weiß seit langem, dass das Leben für mich nur Sinn hat, wenn ich mich um mein Stück Land kümmere.« Unvermittelt drehte er sich auf dem Sitz herum und blickte Jenny ins Gesicht. »Also gut, so werden wir es machen: Der einzige Weg zum May Moss führt durch das Tor - ich habe keine Lust, mich den Hunden zum Fraß vorzuwerfen oder mich als Spion erschießen zu lassen. Ich werde heute noch meinen Freund in York anrufen. Mal sehen, was sich für morgen arrangieren lässt. Man kennt ihn auf der Station, und er wird sich für mich verbürgen. Ich glaube nicht, dass sie etwa vorhaben, die Gegend völlig abzuriegeln, auch nicht, wenn sie in Kürze die Hobbs-Delegation erwarten.« Jenny war von dem plötzlichen Themenwechsel überrascht und brauchte einige Zeit, um zu verstehen. »Du meinst ... du willst mir helfen?« »Natürlich will ich. Was könnte man denn sonst noch tun? Aber ich warne dich - wenn wir einem einzigen Sumpfrosmarin auch nur ein Haar krümmen, dann wird Dennis uns bei lebendigem Leibe verspeisen.« Es regnete leicht, als Frank am nächsten Morgen die Auffahrt heraufgefahren kam. Er war müde, aber er lächelte, als er sich hinüberbeugte um Jenny die Beifahrertür zu öffnen. »Wo hast du bloß deine gute Laune her?« fragte sie ziemlich mürrisch, während sie einstieg. Sie hatte sehr schlecht geschlafen. »Du wirst dich nicht weniger freuen als ich«, sagte er, »wenn du hörst, dass ich heute morgen schon in York war.« »Und warum um alles in der Welt?« »Um bei Dennis einen Brief abzuholen, die Eintrittskarte für das Sperrgebiet, und um mir ein hübsches, ziemlich neues Maschinchen auszuleihen, mit dem man den Boden durchleuchten kann.« »Was?!« Jennys schlechte Laune war wie weggeblasen. »Weißt du denn, wie man damit umgeht?« »Ich habe es von einem Typ, den ich kenne. Er ist Archäologe und hat es von der Polizei in York geborgt. Heute morgen hat er es
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mir vorgeführt. Wenigstens weiß ich jetzt so viel, dass ich weder dich noch mich mit Röntgenstrahlen behelligen werde. Wenn dort im Moor etwas ist, dann werde ich's mit dem Ding finden.« Frank lachte vergnügt, er war mit sich sehr zufrieden. »Ich musste feierlich schwören, dass die Maschine heute abend wieder in seinem Labor stehen wird und dass ich ihm ein Essen spendiere. Aber das ist mir die Sache wert. Wenn das Sumpfloch nicht übermäßig tief ist, dann müssten wir den armen Verblichenen mit diesem Apparat finden.« Jenny strahlte ihn an. »Du hast wirklich was los, weißt du das? Und als Freund bist du einsame Klasse.« »Und weißt du was? Ohne dich käme ich nicht auf solche Ideen.« Wie drei riesige Golfbälle ragten die Radarkuppeln des Frühwarnsystems in die Höhe; in dieser offenen Landschaft waren sie kilometerweit zu sehen. »Ich muss die ganze Zeit an die Augen von Dr. T. J. Eckleburg denken«, sagte Jenny. »Wie bitte?« »Vergiß es. Etwas aus einem Roman.« »Ach so. >Der große Gatsbywir< meinen Sie die Gafr«, sagte Frank. »Selbstverständlich.« »Ich nehme an, sie könnten den ganzen Planeten zerstören, indem sie einfach auf einen Knopf drücken?« »Mehr oder weniger, ja.« »Aber könnten sie ihn nicht auch retten? Die Macht übernehmen, für Abrüstung sorgen und zusehen, dass wir unsere Angelegenheiten in Ordnung bringen?« Der Sprecher der Hobbs zögerte. »Sie könnten alles das tun, aber sie könnten damit euren Hang zur Gewalt, eure Habgier nicht dauerhaft überwinden - das sind Folgen eurer Evolution. Und sehr wenige Gafr sind daran interessiert, sich für andere Rassen zu engagieren - die, die unser Schiff befehligen, mit Sicherheit nicht.« »Sie wollen also nichts mit uns zu tun haben«, sagte Jenny, und sie wusste nicht, ob sie darüber unglücklich oder erleichtert sein
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sollte. »Ganz und gar nichts. Einige eurer Wissenschaftler sind so fasziniert von uns, dass sie einfach nicht begreifen können, dass wir nicht auch von ihnen fasziniert sind oder uns wenigstens für wissenschaftlichen und kulturellen Austausch interessieren und so weiter. Wir müssen sie die ganze Zeit schon hinhalten, damit wir niemanden beleidigen. Wir wollen auch keine falschen Hoffnungen wecken. Aber je eher wir unsere Aufgabe hier erledigt haben und aufbrechen können, desto eher werden wir wieder aufatmen. Sagen Sie um Himmels willen nichts von den Gafr! Sie werden nur Ihren eigenen Leuten schaden, wenn Sie das tun.« »Armer Carl Sagan«, sagte Jenny später. »Armer Francis Crick, Sir Francis Crick«, sagte Frank. Der streitbare, hochbetagte Mann war fast ununterbrochen im Fernsehen und dozierte über die zukünftige interstellare Gemeinschaft aller Intelligenzwesen des Universums. »Wenn sie als Vertreter der Gafr sprechen, dann sind diese Hobbs richtige Mistkerle. Unsere Hobbs im Moor waren da eine andere Sorte.« »Und sie liebten das Moor. Elphi nannte die Bauern in den Bergen >das Salz der ErdeBiologie für Anfänger und Botanik unterrichten, fünfundzwanzig Kilometer weit draußen in den Vorstädten des Bezirks Delaware. Meine Eltern in Denver waren genausowenig überrascht. Niemand hatte versucht, zwischen den Zeilen zu lesen, als ich meine Entscheidung verkündete, nicht zur Cornell-Universität zu gehen. Für sie war das Lehren an einer Hochschule etwas höchst Besonderes, und alle Hochschulen waren gleichermaßen respektabel. Hocherfreut konnten sie nun allen Freunden und Bekannten erzählen, dass ihre Tochter bald Professor für Biologie sein würde, aber da sie keine Vorstellung hatten, wie mein Leben nun aussehen würde, waren sie nicht weiter versucht, darüber nachzudenken. Als das erste Enkelkind angekommen war, wurden sie, was mich betraf, noch gleichgültiger. Ohnehin musste ihnen mein Leben immer fremder und unwirklicher erschienen sein, seit ich aus der Kirche ausgetreten war. Meine neue Kirche war die Gruppe, von der sie allerdings nichts wussten. Meine Arbeit war öde, aber die Bezahlung war nicht übel. Ich blieb meinem Ruf als ordentliche, aber farblose Biologin treu; ich tat, was notwendig war, ohne jedoch andere oder mich selbst mitzureißen. Ich unterrichtete, schwamm einen Kilometer oder lief zehn an jedem Tag, meditierte morgens und abends eine halbe Stunde, kaufte mit größter Sorgfalt ein, um meine grauenhaft vollwertigen Menüs kochen zu können, und nahm einen Abend die Woche den Zug in die Stadt, um die Gruppe zu treffen, sowie an einem Nachmittag im Monat, um mir jenes Präparat mit dem überaus passenden Namen gag p24 spritzen zu lassen. Fünf Jahre lang verbrachte ich jeden Sommer einige eher gemächliche Stunden im Labor, um dann in meiner schönen Wohnung zu sitzen und eine solide, gewissenhafte, aber möglichst knappe Abhandlung zu schreiben, in der ich den einen oder anderen Aspekt meiner Doktorarbeit über die Auswirkungen von Streß auf das Immunsystem von Ratten weiterentwickelte. Alle diese Aufsätze wurden nacheinander in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht.
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In diesem Schicksalsjahr 1999 waren alle meine Krankenakten vernichtet. Kein Blatt Papier, keine Diskette gab es auf der ganzen Welt, die einen Hinweis darauf hätten geben können, dass ich mit HIV-I infiziert war - als ob nicht schon die Tatsache, was für eine traurige Figur aus mir geworden war, beredt genug gewesen wäre. In den fünfzehn Jahren, die nun vergangen waren, hatten sich die Reihen meiner Kameraden gelichtet, doch waren wir immer noch ein stattliches Häuflein. Alle hatten gewissenhaft den Behandlungsplan beachtet, was Ernährung und körperliche Fitneß betraf, so dass unsere Ärzte anfingen, uns zu beglückwünschen, dass wir gegen alle Wahrscheinlichkeit dem Tod >von der Schippe< gesprungen waren. Ich selbst war kaum jemals krank, hatte nie Erkältungen oder Verdauungsprobleme, was ich auf meine extreme Gewissenhaftigkeit zurückführe. Meine Lebensgewohnheiten glichen einer zickigen alten Jungfer. Aber es half. Hatte es mich trotz aller Vorsicht erwischt, dann legte ich mich ins Bett, schluckte Aspirin, trank Unmengen von Vitamin C. Als ich dann Professor auf Lebenszeit war, kaufte ich ein kleines Haus in einem schönen Neubaugebiet nicht weit vom Campus, ein zierlicher Backsteinbau mit einem Grundstück von einem halben Morgen. Hier konnte man es sicher auf Dauer aushalten. Seit Jahren schon hatte ich die Zeitschrift Präventive Medizin abonniert. Jetzt endlich konnte ich mir den Rat zu Herzen nehmen, das Gemüse selbst anzubauen, anstatt das giftige Zeug aus dem Supermarkt zu kaufen. Ich abonnierte auch noch den Biogarten, ließ den Boden untersuchen, kaufte die Geräte: Spaten, Hacke, Pflanzkelle, Rechen sowie Naturdünger und grub ein Stück Land hinter dem Haus um. Nun konnte es losgehen. In den ersten Sommerferien nach der Festanstellung legte ich meinen Garten an. Diesmal schrieb ich keinen wissenschaftlichen Aufsatz. Die ganze Zeit war ich sehr nachdenklich, doch mein Nachdenken führte zu nichts. Im folgenden Studienjahr passierte nicht viel. Ich tat meine Arbeit, ging jeder Auseinandersetzung aus dem Weg und verhielt mich, wie man es von mir erwartete. Doch als der nächste Frühling kam, wurde ich unruhiger. Immer unbehaglicher fühlte ich mich in meiner Haut. Auch wenn ich im Garten den Boden lockerte, den Kompost ausstreute, den ich nun selbst bereiten konnte, konnte ich den Gedanken nicht verscheuchen, dass die Karten in meinem Spiel nun ausgereizt waren, dass es Zeit wurde für etwas Neues. Was ich damals fühlte, waren die ganz normalen ersten
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Anzeichen der Midlife-Crisis. Und wenn es auch völlig normal war, so erschreckte es mich doch gewaltig. An dieser Stelle meines Berichts habe ich innegehalten, um einmal durchzulesen, was ich bisher geschrieben habe. Es ist alles ohne Zweifel richtig, aber es fehlt doch eine ganze Menge. Vor allem habe ich nichts über die Angst geschrieben, und ich meine nicht jene Zeit der Angst und des Schreckens, die wir heute als AIDSTerror bezeichnen - der Aufruhr in den Straßen, die Jagd auf Kranke und Infizierte in den Jahren 1998 und 1999, wo ich so gut wie tot gewesen wäre, wenn der Mob, der das Alternative Behandlungszentrum in der Walnut Street stürmte, Unterlagen mit meinem Namen in die Klauen bekommen hätte. Monatelang musste sich die Gruppe in verdunkelten Kellerräumen von Kirchen treffen, Nacht für Nacht wurde Elizabeth von Drohanrufen geweckt und wagte nicht, zu unseren Treffen zu kommen, weil der Ku-Klux-Klan sie beschattete. Ich will nicht leugnen, dass wir uns zu Tode ängstigten, solange dieser Alptraum dauerte, aber es war eben ein Alptraum, aus Hysterie geboren und nicht von Dauer. Nach einer Weile war es eben vorbei. Das also meine ich nicht. Wir alle wissen auch, dass wir sterben müssen. Ob wir morgen von einem Lastwagen zerquetscht werden, wenn wir die Straße überqueren, oder mit neunzig friedlich im Schlaf den Geist aufgeben - wir wissen, dass irgendwann der Augenblick kommt. Solange nun eine Art zu sterben nicht wahrscheinlicher scheint als die andere, gelingt es den meisten Menschen, einigermaßen zufrieden in dem Wissen zu leben, dass das Unausweichliche eines Tages eben geschehen wird. Aber wenn man weiß, dass die Chancen, jung und auf unschöne Weise zu sterben, beträchtlich größer sind als die der anderen, dann ändert man seine Ansichten über den Tod. Eine Zeitlang half mir meine kompromißlose Lebensweise, die dunklen Dämonen fernzuhalten, aber es gab Tage, da stand ich auf, lief meine zehn Kilometer, duschte, zog mich an, meditierte, fuhr zum College, unterrichtete, kaufte Kohl und Orangen auf dem Markt, fuhr nach Hause, korrigierte Arbeiten, meditierte, aß und ging schlafen: Aber die Angst folgte mir auf Schritt und Tritt, so dass ich fast wahnsinnig wurde. Es gab Medikamente, die etwas halfen, doch die wirksamsten machen auch abhängig, so dass man sie nicht zu häufig nehmen durfte. Das einzige, was mich solche monatelangen Angstzustände überstehen ließ, war das Mitgefühl meiner Freunde in der Gruppe.
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Wir richteten uns gegenseitig auf, wir redeten über unsere ohnmächtige Wut auf die Mediziner, als die Zeit verging, ohne dass die Wundermittel auftauchten, die man uns mehr oder weniger versprochen hatte. Hatten wir nicht ein Recht darauf, dass endlich diese Ungewissheit von uns genommen wurde, damit wir Menschen sein konnten wie andere auch - sterblich zwar, aber nicht immer mit einem Bein im Grab? Angst und Wut, das bedeutet extremen Streß. Streß bedeutet Tod, so stand es auch in meinen Aufsätzen; meine weißen Ratten und ich, wir hatten es im Labor bewiesen, und mit welcher statistischen Methode man die Meßwerte auch prüfte, sie zeigten, dass man von der Angst mehr zu fürchten hat als von irgend etwas sonst. Und deshalb erschreckte uns unsere Angst am allermeisten. Aber zusammen konnten wir besser damit fertig werden als jeder für sich allein. Einige wenige in der Gruppe rückten in solcher Not noch enger zusammen und wurden ein Paar; und bei ein oder zweien dieser Paare kannten die Partner sogar den richtigen Namen des anderen. Ich dachte keinen Augenblick daran, eine Beziehung einzugehen. Aber sexuelle Frustration ist ein weiterer Streßfaktor. Doch gibt es ja Videoshops, aus denen ich mir gelegentlich die eine oder andere Kassette holte. Meistens ist Pornographie einfach öde, aber mit der Zeit wusste ich, bei welchen Produzenten man mit etwas Phantasie rechnen konnte. Auf Bildschirmgröße verkleinert, wirkten die erigierenden Penisse und das herausspritzende Sperma so unglaublich harmlos. Kaum zu glauben, dass einige wenige solcher Tropfen mein Leben zerstört hatten. Lange Zeit war ich damit zufrieden, dass meine Sexualität, aus medizinischen Gründen, sich auf so engen Bahnen bewegte. Es gab auch Männer in der Gruppe, die nicht homosexuell waren, vielleicht war der eine oder andere sogar interessiert, aber mich auf eine Beziehung einzulassen, kam für mich nicht in Frage. Aber zurück zu jenem Sommer, ein Jahr nach meiner Festanstellung an dem zweijährigen College; nun schien ich verdammt, den Rest meines Lebens dort zu verbringen. Ein Jahr war es her, dass die schlimmsten Pogrome vorüber waren, und zu Beginn dieses Sommers war ich äußerst nervös und deprimiert und wiederum besorgt darüber, dass ich nervös und deprimiert war. Ungefähr zu dieser Zeit musste ich feststellen, dass ich mir eine Verhaltensweise angewöhnt hatte, die ich bisher nur aus den Erzählungen der Freunde in der Gruppe kannte: Eines Morgens ertappte ich mich dabei, wie ich sorgfältig meine Beine untersuchte, ob sich einer dieser typischen violetten Flecke des
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Kaposi-Sarkoms fand - eine Tumorart, die früher einmal sehr selten war, die jedoch eines der typischen Symptome der akuten AIDSErkrankung darstellt. Von jenem Morgen an hatte ich gegen diesen neurotischen Zwang anzukämpfen, ohne ihn je wieder ganz loszuwerden. Ich war in einem Alter, in dem Pigmentflecke und Unregelmäßigkeiten auf der Haut nichts Ungewöhnliches sind, aber etliche Male war ich nun einer Herzattacke nahe, wenn ich einen harmlosen blauen Fleck oder einen Kratzer entdeckte. Nach einigen Wochen, in denen ich immer verzweifelter wurde, hörte ich auf, mir die Beine zu rasieren und quälte mich in weiten Overalls durch die Hitze, um auf jeden Fall den Anblick meiner eigenen Haut zu vermeiden. Ich brachte mich selbst an den Rand des Wahnsinns. Die Gruppe stürzte sich auf mein Problem. »Dein Unbewusstes will dir etwas sagen, Kleines«, hörte ich mehr als einmal. »Überleg dir, was du falsch machst, und bring es in Ordnung, dann wirst du das loswerden. Als erstes versuchst du herauszufinden, ob es etwas ist, was in deinem Leben fehlt, oder etwas, das du loswerden musst.« Ich konnte mir nicht vorstellen, was ich loswerden sollte, denn in meinem Leben war ich so ziemlich alles schon losgeworden, was man nur loswerden kann. Aber ihre Ratschläge waren nicht dumm. Elizabeth hatte allerdings einen konkreten Vorschlag. Auf ihren Rat hin mietete ich für einige Zeit eine Ferienwohnung in den Poconos, nicht weit vom Durchbruch des Delaware - ungefähr jene Gegend, in der das Ferienhaus meiner Yuppie-Träume hatte stehen sollen. Ich verbrachte die beiden Wochen in diesem Refugium mit Radfahren auf dem Höhenweg, mit Kanufahrten auf dem Delaware und einigem Nachdenken über die Frage, was aus meinem Leben geworden war. Nun, ich war noch am Leben. Fast die Hälfte der Freunde aus der Gruppe lebte nicht mehr. Früher hatte man geglaubt, dass ein Infizierter, der nach sechs oder acht Jahren nicht krank geworden war, es wahrscheinlich nie würde, aber das hatte sich als Irrtum erwiesen. Je länger wir lebten, desto größer war die Menge Viren, die wir in uns trugen; nach so langer Zeit am Leben zu sein war wirklich erstaunlich. Ich hatte eine passende Arbeit gefunden, und niemand würde mir je meine Stellung streitig machen. Mein Gehalt reichte für eine Person, die sehr häuslich lebte und deren einziger Luxus in der besten Sportausrüstung und dem teuersten Videorecorder bestand. Ich besaß fast alles, was ich an Möbeln brauchte, und meine
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Bibliothek an Fachbüchern, Kassetten und Disketten über Ernährung, Fitneß, Streßbewältigung und einigen medizinischen Themen bot alles, was man zum Nachschlagen brauchte. Also, der Plan, den ich mir vor sechzehn Jahren ausgedacht hatte, war bis ins einzelne erfüllt. Und er hatte funktioniert: es gab mich noch. Aber warum fühlte ich mich dann so elend? Als erfolgreiche College-Absolventin hatte ich mir vorgenommen, etwas aus meinem Leben zu machen. Diesen Traum hatte ich aufgeben müssen. Aber was hatte ich eigentlich nach dem Studium vorgehabt? Ich konnte mich kaum erinnern. Eine gute Stunde wanderte ich über den steinigen , Bergpfad und genoß den großartigen Blick über New Jersey, bis längst Vergessenes wieder Gestalt annahm. Dass es in einem Leben auch Platz für andere geben konnte, dass es möglich war, der Welt etwas zu geben dass ein Mensch sich nicht ausschließlich mit sich selbst beschäftigen durfte. Ich hatte mir einmal gewünscht, zur weltweiten Gemeinde aller Wissenschaftler zu gehören. Nun dachte, plante und arbeitete ich für das Wohlergehen einer einzigen Person, mir selbst - denn was war die Gruppe anders als ich selbst, multipliziert mit fünfzehn oder elf oder neun? Ich hatte seit langer Zeit kaum einen Gedanken auf normale Leute verschwendet, Menschen, die von unserem Leiden verschont geblieben waren. Ich bog von dem dichtbevölkerten Weg ab und kletterte auf einen grauen, von zahlreichen Sträuchern überwucherten Felsen; ich setzte mich und starrte hinaus über die sommerlichen Wälder, erinnerte mich an die langen Gespräche mit Bill, meinen Professor, der mich angesteckt hatte, über Bevölkerungswachstum und Geburtenkontrolle, über eine neue, schonende Landwirtschaft. An Einzelheiten erinnerte ich mich nicht, aber allein den Mut zu visionären Gedanken zu haben und schwierige Fragen von solcher Bedeutung nicht einfach anderen zu überlassen, das schien mir jetzt unvorstellbar. War ich so klein und unbedeutend geworden? Ich saß auf dem Felsen, und mein Triumph, dass ich überlebt hatte, erschien mir nur noch schäbig. War ich nicht überhaupt längst tot? Ein lebender Leichnam? War dieses Leben nicht eine Art schleichender Selbstmord? Im Grunde wusste ich schon, dass es nicht unehrenhaft ist, dort zu überleben, wo andere fallen. Doch nichts konnte diese Anwandlung von Selbsthaß noch aufhalten. Ich stieg vom Felsen hinunter und ging den Weg zurück zu meinem Auto. Ich wusste nun, was meinem Leben fehlte: sinnvolle Arbeit, Engagement und Selbstachtung - nicht, weil ich es geschafft hatte,
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zu überleben, sondern weil ich auch etwas für die Allgemeinheit tat. Und dann ließ ich auch zu, dass ich mich erinnerte, wirklich erinnerte, was damals an diesem Frühlingsnachmittagen in Bills sonnigem Büro passiert war. So fand ich noch etwas, was mir fehlte: Vertrautheit, Nähe und jemand, dessen Du anders klang als das aller anderen Menschen. Der Weg war holprig und steil, und meine Wanderung hatte mich erschöpft. Als ich die Wohnung erreicht hatte, war die Sonne schon untergegangen, und plötzlich überkam mich ein seltsamer, insgeheim langgehegter Groll: Wie schön es wäre, nur ein einziges Mal eine Dose Bohnen mit Frankfurter Würstchen in den Mikrowellenherd schieben zu können und eine Cola zu öffnen, wie es gewöhnliche Amerikaner in ihren Ferien tun. Es war an einem der ersten Tage meines Rückzugs in den stillen Winkel, dass mich die Erleuchtung überkam; so hatte ich ausreichend Zeit, die notwendigen Schlüsse zu ziehen. Was körperliche Nähe anging, so fühlte ich mich noch immer nicht stark genug, um dieses Risiko einzugehen. Die Probleme, die eine Beziehung mit sich brachte, schienen mir größer zu sein als der mögliche Gewinn. Ich war in solchen Dingen eben nicht sehr geschickt. Aber mehr Engagement - das hörte sich schon besser an. Der Gedanke, vielleicht doch ein nützliches Glied der Gesellschaft zu werden, ohne mein inneres Gleichgewicht aufs , Spiel setzen zu müssen, war sehr verlockend. Ich könnte mehr aus meinem Unterricht machen ... aber das ging zu sehr ins Persönliche, konnte ebenfalls riskant sein. Dann fiel mir etwas anderes ein, das mir geradezu ideal schien: Ich könnte als freiwilliger Helfer AIDSKranke betreuen. Das klingt im ersten Moment zwar so, als müsste es für jemanden wie mich ungeheuer belastend sein, aber seltsamerweise ist es das nicht. Ich wusste so gut wie alles über den Verlauf der Krankheit, dass mich nichts mehr erschüttern konnte. Ich brauchte nicht zu befürchten, mich anzustecken, und ich war sicher, genügend Kraft zu besitzen, um den nötigen Abstand zu dem fremden Schicksal wahren zu können. Blieb also noch der Punkt >sinnvolle ArbeitAch, da bist du ja endlichBruder< genannt«, warf ein anderer ein, der einmal katholisch gewesen war. Andere meinten, dass der Traum eine unterdrückte Bisexualität hätte ans Licht bringen wollen oder Inzestwünsche oder dass er einfach sexuelle Frustration symbolisierte. Sie alle schienen sich über diesen Aspekt des Traums sehr viel klarer zu sein als ich. Doch glaubte ich, dass sie im übrigen recht hatten: Ich wünschte mir, meinen Garten zum wissenschaftlichen Arbeiten zu nutzen, um dann die Ergebnisse auszuwerten und zu veröffentlichen (daher das anachronistische Notizbuch und der Bleistift). 2 Das war im Jahr 2000, als man schon vier verschiedene HIV-Typen nachgewiesen hatte und mehr als eine Million Menschen daran gestorben waren. Geeignete Helfer wurden verzweifelt gesucht, denn in aller Hast musste der neugeschaffene Nationale Gesundheitsdienst neue Kliniken bauen lassen, die bald mit AIDSPatienten überfüllt waren. Meistens handelte es sich um Drogenabhängige und Kinder von Drogenabhängigen, die völlig verarmt waren. Außer in den unteren Bevölkerungsschichten war die sexuelle Übertragung des Virus recht selten geworden. Vielleicht glaubte ich insgeheim, dass mein Einsatz für diese Menschen das Schicksal gnädig stimmen würde - oder dass das geheime Band zwischen uns (das ich nicht wahrhaben wollte) eben auf andere Weise Ausdruck finden musste. Ich weiß es nicht. Ich sagte mir eben, dass ich der Allgemeinheit etwas schuldig war und dass es diese Schuld hier und heute zu begleichen galt. Also ging ich, sobald ich aus meinem Refugium in den Appalachen zurückgekehrt war, zu einer Einführungsveranstaltung
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der örtlichen AIDS-Hilfe für freiwillige Helfer. Es war niederschmetternd. Mir wurde klar, dass ich mir etwas zuviel vorgenommen hatte. Ich hatte mich schon als Pflegerin auf der Krankenstation gesehen, wie ich Tabletts mit Essen austeilte und Bettpfannen leerte, aber ich begriff bald, dass mich diese Arbeit gefühlsmäßig mehr beanspruchen würde, als ich erwartet hatte. Schon vorher wusste ich, dass die Funktion einer Bezugsperson für einen bestimmten Patienten für mich nicht in Frage kam. Also blieb noch die ebenso langweilige wie notwendige Büroarbeit: Die neuen Patienten mussten registriert und identifiziert, Krankengeschichten aufgenommen und im Computer gespeichert werden. Ich war einverstanden und verpflichtete mich für einen Nachmittag die Woche. Verglichen mit dem, was sich andere Helfer aufbürdeten, fühlte ich mich als Drückeberger, aber für die Freunde in der Gruppe war ich eine Heldin, obwohl man mir auch grollte, weil ich sie zwang, insgeheim ihrer eigenen verdrängten Angst ins Auge zu sehen. Einige der schwulen Männer hatten sich schon früher solche Einführungsvorträge angehört, doch war es ihnen unmöglich gewesen, sich auf irgendeine Weise zu engagieren. Wir neun, die wir von der Gruppe noch übrig waren, waren keine Heiligen. Seit langem war niemand mehr hinzugekommen. Als der Nationale Gesundheitsdienst vom Kongreß beauftragt wurde, den obligatorischen anonymen Bluttest für alle Bürger einzuführen, und so jeder erfuhr, ob er infiziert war oder nicht, da war schon mal ein neues Gesicht bei uns aufgetaucht; aber diese neuen HIV-Träger hatten es meist vorgezogen, eigene Gruppen zu bilden. Auch behagte die kompromißlose Strenge der Psychoneuroimmunologie nicht jedem. Ich verstand jedenfalls den Groll meiner Gruppe nur zu gut. Gleichzeitig aber wuchs meine Selbstachtung, als sich herausstellte, dass keiner sonst diese Arbeit hätte ertragen können, so anspruchslos sie auch war; ich konnte es. Und auch die Belohnung folgte fast auf der Stelle. Die zwanghafte Gewohnheit, meine Haut nach Veränderungen abzusuchen, war überwunden; ich konnte wieder ohne Ängste meinen eigenen Körper betrachten. Doch gab es noch eine andere Belohnung - eine ziemlich seltsam und verrückt erscheinende Idee, auf die ich sonst wohl nie gekommen wäre. Eines Tages machte ich für eine Kollegin, die zu beschäftigt war, eine Besorgung im Sanitätsgeschäft, als mir ganz zufällig ein Gegenstand ins Auge fiel, etwas, das man erfunden hatte, um Diabetikerinnen das Leben zu erleichtern - eine Vorrichtung aus Hartplastik, die man zwischen
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die Beine klemmte, eine Art Tülle, so dass man einen kleinen Strahl Urin problemlos über einen Teststreifen laufen lassen konnte. Eine bizarre Idee überkam mich, ein Geistesblitz, und doch war es ein vollkommen ausgereifter Plan. Zu Hause kramte ich einen alten Massagestab hervor, dessen Motor schon lange durchgebrannt war - ein flexibler Stab mit einem hautähnlichen Überzug aus rosa Gummi. Ich schnitt das Gummiende ab und klebte das Stück von sieben, acht Zentimetern sorgfältig an das Ende der Plastikhülle, dann bohrte ich in die Spitze ein Loch. Jetzt hatte ich eine Vorrichtung, mit der man als Frau beim Pinkeln eine männliche Ausstattung vortäuschen konnte. Der Erfolg spornte mich an; mein nächster Schritt war, mich als Mann einzukleiden. Ich kaufte eine komplette Garderobe: Socken und Unterwäsche, weite Hosen, Hemd, Pullover, Krawatte und einen nicht zu knapp sitzenden Sportsakko - alles konservativ geschnitten, in dezenten Farben und von guter Qualität. Ich kaufte sogar Herrenschuhe. Ich bin recht groß für eine Frau, fast ein Meter achtzig, und habe ein breites Gesicht, flache Brüste und die muskulösen Arme und Schultern, wie man sie nach vielen Jahren am Rudertrainer bekommt. Und ich stellte fest, dass das Sprichwort Kleider machen Leute völlig zutreffend ist, denn der bodenlange Spiegel in meinem Badezimmer bestätigte mir, dass ich tatsächlich wie ein Mann aussah. Zu guter Letzt schob ich noch den Kunstpenis vorne in den nagelneuen Herrenslip. Die Generalprobe zog sich über das ganze Wochenende hin. Am Montag beherrschte ich auch das Pinkeln mit der von mir erfundenen Apparatur; wie es aussehen musste, wusste ich aus einigen Videos mit einschlägigen Spielereien. Es schien mir umwerfend realistisch. Wohin Bruder Mendel auch führt, ich folge! sagte ich zur mir, und ich freute mich schon diebisch. Dieses ganze Unternehmen war der einzige Spaß, das einzige ausgelassene Vergnügen, das ich mir gönnte. Von Bohnen mit Frankfurter Würstchen zu träumen war dagegen gar nichts. Als ich glaubte, einen Versuch wagen zu können, zog ich meinen, wie soll ich sagen, >Tuntenfummel mit umgekehrten Vorzeichen< an und fuhr in eine andere Stadt, wo ich drei Stunden lang übte, selbstbewussten Schrittes die Herrentoiletten der verschiedenen Kaufhäuser zu betreten. Mit gestrecktem Arm stieß ich die Pendeltüren auf, ging mit festen Schritten zum Urinal, stellte mich breitbeinig davor ... Ich übertrieb ein wenig, aber ich war ganz einfach umwerfend. Nur meinen Schließmuskel kriegte ich
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nicht auf. Viel Theater und nichts dahinter, so stand ich da zwischen all den pinkelnden Männern. Bei der Hauptsache hatte ich also versagt. Aber es ging mir ja um das Voyeurspielen, und so gesehen hatte ich durchschlagenden Erfolg. Es war ein milder Tag im Spätherbst. Eine Menge Kerle ohne Jackett kamen herein und stellten sich rechts und links von mir auf. Drei Stunden lang ließ ich im Schutz meiner Verkleidung verstohlene Blicke schweifen, und niemand schien auch nur den geringsten Verdacht zu haben. Es war unvergleichlich. Dieses Hochgefühl, als ich nach Hause fuhr, war nicht zu beschreiben. In die Bollwerke der Männlichkeit war ich eingedrungen, und nichts hatte mich aufhalten können! Was für ein Triumph, was für eine schauspielerische Leistung! In den folgenden Monaten dieses Jahres 2000 arbeitete ich daran, meine Fähigkeiten als Männer-Imitatorin weiter zu verbessern; ich kaufte einiges an Garderobe und übte, mich wie ein Mann zu bewegen - schwingende Schultern, weit ausgreifende Schritte. Ich spazierte weniger oft in Herrentoiletten, als ich mir gewünscht hätte, aber es war nur klug, jene in der näheren Umgebung meines Hauses zu vermeiden. Mit der Zeit wurde ich etwas mutiger bei meinem Geschäft. Ich machte die Erfahrung, dass große öffentliche Toiletten auf Bahnhöfen und Busstationen, Flughäfen, Autobahnraststätten und dergleichen für meine Zwecke am besten geeignet waren - die Männer dort waren gewöhnlich in Eile, der Andrang war groß, so dass ich kaum befürchten musste, dass man zu sehr Notiz von mir nahm. Es war an einem solchen Ort, wo es mir schließlich gelang, meine Rolle zu Ende zu spielen: Ich schaffte es tatsächlich, in die Porzellanschüssel zu pinkeln, und von jenem Tag an machte es gewöhnlich keine Schwierigkeiten mehr - niemand kann sich wohl eine Vorstellung davon machen, wie stolz ich nun war. Es war einfach himmlisch, was ich zu sehen bekam. Was ist dagegen schon ein Schwanz auf Video - ich brauchte mir keine Kassetten mehr auszuleihen. Auch gab es interessante Entdeckungen zu machen. Beispielsweise waren junge Homosexuelle sehr viel vorsichtiger geworden, wenn es galt, auf einem Bahnhof einen Partner aufzureißen; statt dessen standen sie an benachbarten Urinalen, sahen sich an und rieben an ihrem Penis, bis sie eine Erektion bekamen. Aber wir hatten durchaus Gemeinsamkeiten, denn der Grund für meine Anwesenheit unterschied sich nicht sehr von ihrem Motiv. Dennoch machten sie mich nervös, denn meine Attrappe konnte einem genauen Blick
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nicht standhalten und manchmal, wenn ich mich zu lange dort aufhielt, erregte ich mehr Interesse, als mir lieb sein konnte. Nach einiger Zeit fragte ich mich, ob jemals etwas über die Soziologie und Psychologie des Pissoirs veröffentlicht worden war. Ich schlug sogar nach, doch fand ich nichts, und so schloss ich, dass es keine wissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Thema gab. Die Männer kannten es nicht anders, und die Frauen, denen der Unterschied zwischen einer Damentoilette und einem Ort, an dem die Genitalien vor allen Leuten präsentiert wurden, mächtig aufgefallen wäre, hatten naturgemäß keine Ahnung, was sich auf Herrentoiletten abspielte. Unsere Gruppe bestand anfangs in der Mehrzahl aus homosexuellen Männern, von denen nun fünf noch am Leben waren, doch hatte keiner von ihnen je etwas über den Exhibitionismus auf Pissoirs erzählt; was die normalen Männer betrifft, so ist es gut möglich, dass sie nie etwas davon gemerkt haben. Ich hätte schwören können, dass nach sechzehn Jahren wöchentlicher Treffen niemand in der Gruppe noch ein Geheimnis haben konnte; aber vielleicht wollten die Schwulen diese Dinge einfach nicht vor uns anderen ausbreiten. Vielleicht war es demütigend für sie, vielleicht erschien es ihnen erbärmlich. Das konnte ich verstehen. Auch was ich tat, hatte etwas Erbärmliches an sich. Doch wog das Abenteuerliche daran alles ganz gewiss auf. Aber ich tat es den Schwulen nach und behielt meinen verrückten neuen Zeitvertreib für mich - und machte so die Erfahrung, dass ein Geheimnis vor der Gruppe zu haben mir Vergnügen bereitete. Wenn das Traumbild der hermaphroditischen Mendel auf diese Weise auch immer gegenwärtig blieb, so spielte es in meinem Garten in diesem Sommer eine weit größere Rolle. Ich wusste oder fühlte nur zu gut, dass zwischen diesen beiden Aspekten eine Verbindung bestand. Zuerst erschien mir ein wissenschaftliches Arbeiten im Garten hinter dem Haus als schreckliche Kleinkrämerei. Ich wusste so gut wie jeder andere, dass die Zeiten längst vorbei waren, in denen ein einzelner Mensch im weißen Kittel im Keller seines Hauses ernstzunehmende Forschung treiben konnte. Selbst Mendel hatte eine größere Gartenfläche zur Verfügung gehabt als ich. Als ich mich jedoch ein wenig umgesehen und die Zusammenfassungen in Biological Abstracts einmal eingehender unter diesem Blickwinkel studiert hatte, musste ich mich revidieren: Es gab einiges an brauchbaren Experimenten, die man sozusagen auch im Hinterhof durchführen konnte. Einige der interessantesten
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Aufsätze waren von Amateurforschern publiziert worden. Mir schien, dass es nicht wenige Gärtner aus Liebhaberei gab und gegeben hatte, die Meister ihres Fachs waren und zu Themen wie Pflanzenzucht, Schädlingsbekämpfung und Anbaumethoden unschätzbares Wissen beigesteuert haben. Sie sind durchaus mit Amateurarchäologen zu vergleichen. Besonders der biologische Anbau, der mich am meisten interessierte, war ihre Domäne, und so fand man hier zahlreiche Beiträge von Gärtnern und Landwirten, die zwar keine Wissenschaftler waren, doch gelernt hatten, vernünftige Experimente durchzuführen und damit ihre Erträge zu verbessern. Gentechnik und Chemiewaffen waren sicher nicht die einzigen Möglichkeiten, um bessere Ernten zu erzielen. Je mehr ich las, desto vielversprechender erschienen mir meine Aussichten. Zwar war ich im Gartenbau eine Anfängerin, dafür hatte ich aber Erfahrung im wissenschaftlichen Arbeiten; wenn alle diese Leute mit bescheidenen Mitteln etwas Nützliches hatten tun können, warum sollte mir es nicht auch gelingen? Ich hatte meine beiden ersten Melonenernten durch Bakterienwelke verloren, und auch die Gurken waren in diesen beiden Jahren an der Welke eingegangen. Der gestreifte Gurkenkäfer war vermutlich in beiden Fällen der Überträger gewesen, ich hatte jedenfalls genug von diesen Mistviechern in meinem Garten. Nun kann man alles aus der Gattung Cucurbitaceae - alle Rankengewächse einschließlich Melonen, Kürbisse, Gurken, Flaschenkürbis - auch unter Tüchern aus indischer Baumwolle oder Abdeckplanen ziehen, was die Käfer fernhält; doch muss man die Abdeckung entfernen, sobald die weiblichen Blüten erscheinen, damit der Weg für die Bienen frei ist - und wo die Bienen hinkommen, kommen auch die Käfer hin. Außerdem bringt es einen um die halbe Freude, denn wer möchte nicht seine Pflanzen wachsen sehen? Nein, es kam darauf an, eine Pflanzenart zu züchten, die gegen eine oder mehrere der von Insekten übertragenen Krankheiten resistent war. Nachdem ich alles über Bakterienwelke gelesen hatte, was ich auf treiben konnte, kam ich zu dem Schluss, dass die Zucht einer wirklich aromatischen Sorte Zuckermelonen, denen die Welke nichts anhaben konnte, eine lohnende Aufgabe war. In meiner Gegend war die Welke wirklich ein Problem, und es gab eine Reihe von Versuchen mit resistenten Hybriden, auf denen ich aufbauen konnte. Aber die Idee, gegen das Virus zu kämpfen, ließ mich nicht mehr los. Es dauerte nicht länger als eine halbe Minute nachdem sie erst verstanden hatten, worum es ging - bis man in
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der Gruppe herausgefunden hatte, dass es mir um das Virus ging. Man kann nichts gegen dieses Virus tun, wenn eine Pflanze erst infiziert ist, geht sie zugrunde - Blatt für Blatt, Ranke um Ranke, bis zum bitteren Ende. Auch bei der Bakterienwelke gibt es keine Heilung, doch ich konnte mir nicht helfen: Ich entwarf ein Experiment, um den Kampf gegen das Mosaikvirus aufzunehmen. Ich wollte keine Zeit verlieren, indem ich Versuche wiederholte, die andere schon gemacht hatten, also fuhr ich in jenem Sommer einige Male nach University Park, zum Hauptsitz der Pennsylvania State University, wo es eine phantastische Bibliothek gibt. Dort suchte ich alles Material zusammen, das bisher über die Züchtung virusresistenter Zuckermelonen veröffentlicht worden war. Diese Fahrten machten großen Spaß. Einmal war ich glücklich, endlich wieder Wissenschaft zu treiben, zum anderen ging ich immer in meiner Verkleidung auf die Reise und hielt an jeder Autobahnraststätte zwischen Valley Forge und Harrisburg, um die Pissoirs zu inspizieren. Es stellte sich heraus, dass bis auf einen gewissen Henry Munger an der Cornell-Universität niemand je einen nennenswerten Erfolg im Kampf gegen die Viruskrankheiten von Zuckermelonen verbuchen konnte. Mungers Arbeit war bei seinem Tod noch nicht abgeschlossen, und nachdem man inzwischen dem Problem durch Abdeckplanen und Käferfallen notdürftig beigekommen war, machte sich niemand mehr die Mühe weiterer Forschungen. Die Großproduzenten von Zuckermelonen hatten die Schwierigkeiten umgangen, indem sie ganze Felder mit riesigen Zelten abdeckten und die zur Bestäubung nötigen Bienen in Stöcken innerhalb der Planen unterbrachten. Allerdings war das für den Kleingärtner kaum praktikabel, und so erfuhr man auch von der staatlichen Telefonberatung für Gartenbau nichts weiter als den Namen einiger Pestizide gegen Käfer. Ich informierte mich über die Lebensweise des gestreiften Gurkenkäfers, dann dachte ich mir eine Art Terrarium aus, in dem ich eine ausreichende Menge der mit dem Virus verseuchten Tiere überwintern lassen konnte - sie verkriechen sich normalerweise unter den Gartenabfällen, aber ich wollte mir für alle Fälle einen Vorrat sichern. In den fertigen Behälter baute ich einen Pflanztrog und eine Fluoreszenzlampe ein, um einige Zucchinipflanzen zu ziehen, von denen die Käfer sich ernähren sollten; nichts wächst schneller und problemloser als Zucchini, und die Käfer mögen sie sehr. Immer wenn die Pflanzen welken, pflanzte ich junge, gesunde
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Stöcke nach, schnitt die kranken ab und entfernte sie, nicht ohne die Käfer abgeschüttelt zu haben. Die Wurzeln im Pflanztrog ließ ich unberührt, denn die Erde ringsherum enthielt Eier, Larven und Puppen, und bis ich den Platz wirklich für neue Stöcke brauchte, waren die Wurzeln längst abgestorben. Es funktionierte sehr gut. Meine stattlichen schwarzgelben Käfer überlebten. Sie überlebten auch die nächsten vier Winter, und sie lebten wie Gott in Frankreich. Während des strengen Spätwinters des Jahres 2001 verbrachte ich meine ganze freie Zeit damit, mein Projekt zu planen, bis ich genau wusste, was ich tun würde. Bis April stand schon eine ganze Armee junger Netzmelonenpflänzlinge, abgezählt, mit Etiketten versehen, in meinem Keller unter den Fluoreszenzlampen und wartete auf den Tag, an dem sie ohne Risiko in die sorgfältig vorbereiteten Beete gepflanzt und mit Planen abgedeckt werden konnten; einige würden geschützt vor den Virusüberträgern wachsen, bis zu jenem Tag, an dem ich einige meiner verhätschelten Käfer unter die Abdeckungen bringen würde, andere sollten mit verschiedenen Varietäten gekreuzt werden, nach jenem Plan, den ich im Winter ausgearbeitet hatte. Und wieder andere stellten die Kontrollgruppe dar. Auf diese Weise wollte ich genau fünfundzwanzig Hybriden erzeugen, die noch nie auf ihre Resistenz gegen das Mosaikvirus untersucht worden waren. >Honigtau< und >Honigball< hießen die Sorten, die schon eine gewisse Resistenz hatten, weshalb ein Elternteil der Neuzüchtungen immer aus diesen Sorten stammte. Auch die Harper-Hybride war recht vielversprechend, und ich hatte vor, eine ihrer Ausgangssorten, >PerfectionMilky Way< zu kreuzen. Ich würde den Samen entnehmen und im nächsten Jahr die erste Tochtergeneration anpflanzen und testen. Gleichzeitig würde ich eine andere Gruppe von Pflanzen ziehen, deren Bestäubung ich dem Zufall überlassen würde. Der Plan verlangte ein genau ausgearbeitetes Schema von Versuchen. Ergab sich nicht ganz spektakulär ein rascher Erfolg, dann würde ich mit der Ausführung die nächsten fünf Sommer beschäftigt sein. In den ersten Maitagen, als die Azaleen gerade so richtig blühten, verkündeten Jacob Löwenfels und sein Team amerikanischer und französischer Wissenschaftler, dass sie einen Impfstoff gegen AIDS entdeckt hätten. Diese Bekanntmachung brachte mich und auch die anderen in
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der Gruppe an den Rand der Verzweiflung. Außer uns und einigen tausend Leuten, die im Sterben lagen, jubelte die ganze Stadt, sogar die Kriegsberichte in den Nachrichten rückten an die zweite Stelle. Zum Glück waren die Zwischenprüfungen schon vorbei, nur ein paar Arbeiten blieben noch, die ich notfalls auch im Halbschlaf hätte korrigieren können. Als ich am Abend des vierzehnten Mai die Melonenpflänzlinge goß, war ich nur um Haaresbreite davon entfernt, den Tisch umzustoßen und die ganze Pracht auf den Zementboden krachen zu lassen! Warum sollten diese albernen Cucurbitaceae weiterleben, wenn so viele Unschuldige starben? Ich weiß: Das Löwenfels-Vakzin war von enormer Wichtigkeit sogar für jene, die schon die ersten Symptome zeigten, aber vom endgültigen Siechtum noch Monate oder Jahre entfernt waren; denn über Nacht war die Angst vor Verfolgung und Entdeckung vorbei. Wir waren nicht länger Aussätzige, die Leute konnten sich nun vor uns schützen. Nur jenen nützte es nichts, die schon im letzten Stadium angelangt waren. Und natürlich wusste ich das auch damals schon ganz genau. Am fünfzehnten endlich trug ich meine Kästen mit Netzmelonen und >Honigtau< nach draußen und pflanzte sie nach Plan. Die Beete mit den Abdeckfolien sahen so merkwürdig aus, dass ich beschloss, das Grundstück einzuzäunen. Mein Herz war schwer an jenem Tag, die Arbeit machte keine Freude, doch schien es die Melonen nicht zu stören. Der Boden war gut vorbereitet; die schwere, lehmige Erde meines Gartens hatte ich gründlich mit Kompost, Torf und Vermiculit vermischt, und bald wuchsen zahlreiche Ausläufer hin und her, und die männlichen Blüten begannen zu sprießen. Als die weiblichen zehn Tage später folgten, nahm ich von einigen Beeten die Abdeckung ab, gerade so lange, wie ich brauchte, um die Staubbeutel gegen die Stempel reiben zu können. Über andere Beete ließ ich meine Käferschar herfallen. Natürlich zog ich in meinem Nutzgarten auch noch allerlei Gemüse für meinen täglichen Bedarf. Mit dem Computer überwachte ich, was draußen geschah, täglich gab ich die Resultate meiner Inspektionsrunden ein. Im August konnte ich meine Freunde in der Gruppe mit ganzen Wagenladungen Melonen versorgen, ich selbst aß Berge davon und fror einiges ein; was noch übrig war, ließ ich verrotten - im Herbst würden sie mit dem Laub zusammen einen riesigen Komposthaufen ergeben. Und den Samen meiner Hybriden hob ich mir auf - in sauberen Päckchen, beschriftet und tiefgefroren. Keine der Varietäten, die ich in diesem ersten Jahr dem Virus
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ausgesetzt hatte, zeigte auch nur die leiseste Spur einer Resistenz. Nur von einer der erkrankten Sorten bewahrte ich den Samen auf, sie hieß >Mi ting tang< und hatte sich bei Feldversuchen in Japan gegenüber dem Gurkenmosaikvirus als recht widerstandsfähig erwiesen. Diese Hybride hatte es immerhin geschafft, trotz Krankheit voll auszureifen und einige Früchte zu produzieren. Obwohl sie nur winzig waren, hatten sie ein schönes Aroma und festes, saftiges Fleisch; ich dachte, dass ich sie zurückkreuzen und mit einer anderen Varietät hybridiseren sollte, wenn ich erst die Ergebnisse des nächsten Jahres vorliegen hatte. Die Resistenz bei der Honigmelone >Ano< schien überhaupt vom Wetter abzuhängen, auch darüber wollte ich Näheres herausfinden. In der Zwischenzeit war ich mit Einmachen und Einfrieren beschäftigt, denn eine Gartenfrucht nach der anderen wurde reif. Nachdem ich den Schock über das Löwenfels-Vakzin erst einmal überwunden hatte, wurde es ein wundervoller Sommer, vielleicht der beste meines Lebens; die Arbeit draußen machte Freude - und auch in den folgenden vier Jahren sollte es nicht anders sein. Jeden Herbst, jeden Winter arbeitete ich meine Aufzeichnungen durch und plante anhand der Ergebnisse die neuen Versuche; ich kompostierte die Gartenabfälle, behandelte den käferverseuchten Boden, um alle Schädlinge abzutöten; ich züchtete neue Käfer für das kommende Jahr und sorgte für die Zucchini, die sie brauchten; ich säuberte und ölte meine Geräte, aß meine unerhört bekömmlichen Vorräte aus kontrolliert biologischem Anbau, hielt Vorlesungen, absolvierte meinen wöchentlichen Nachmittag im Krankenhaus, traf die Gruppe, erhielt meine Infusion. In ganz bescheidenem Umfang hatte ich auch für Gartenzeitschriften zu schreiben begonnen. Noch nie war ich so beschäftigt gewesen und noch nie so frei von Angst. Und ich glaube, dass ich unbewußt überzeugt davon war, dass mir keine Gefahr mehr drohte. Ein Irrtum, vielleicht - aber bestimmt war mein Leben jetzt erfüllter und darum auch gesünder. Es war im fünften Jahr meiner häuslichen Forschungsarbeit, dass zwei Dinge geschahen, die mein geordnetes Leben von Grund auf erschüttern sollten. Zuerst ein weltbewegendes Ereignis - die Ankunft des fremden Raumschiffs; aber noch waren die Hobbs in England und tauchten täglich in den Nachrichtensendungen auf, als eine private Katastrophe sowohl über mich als auch die Freunde in der Gruppe hereinbrach: Elizabeth, die unsere Gruppe führte, war seit einiger Zeit immer schmaler geworden und hatte ständig dunkle Ringe um die Augen; schließlich bekannte sie, was für ein
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schlimmes Geheimnis sie die ganzen Jahre vor uns verborgen hatte. Jeder von uns und alle zusammen waren wir bis ins Mark getroffen, alle acht Freunde, die es bis hierher geschafft hatten, und ich. Elizabeth, die unser Halt gewesen war, sie durfte nicht sterben. Wir reagierten wie kleine Kinder - trotzig, wütend, maßlos. Wer sollte denn auf uns aufpassen, wenn sie starb? Als Phil, einer aus unserer Gruppe, plötzlich Hautsymptome entwickelte, gaben wir Elizabeth die Schuld. Phils Symptome entpuppten sich als reine Hysterie; er musste alle Angst und Panik, die wir ausstrahlten, wie mit tausend Antennen aufgefangen haben. Danach nahmen wir uns dann zusammen und hörten mit dem Gejammer auf, so dass wir endlich auch Zeit hatten, ein wenig an Elizabeth zu denken. Sie war in die Universitätsklinik eingeliefert worden, der auch unser Team von Psychoneuroimmunologen angehörte. Eines Nachmittags saß ich lange bei ihr, ein schmollendes, nachtragendes Kind und seine todkranke Mutter. Ich bat sie um Verzeihung, aber Elizabeth lächelte nur müde. »Ich weiß doch, wie ihr euch fühlt. Weißt du, Sandy - es musste eines Tages passieren. Ihr seid zu unselbständig gewesen. Jetzt habt ihr Gelegenheit, auf euren eigenen Füßen zu stehen. Es tut mir aber trotzdem leid, dass ihr euch im Stich gelassen fühlt.« Sie verzog das Gesicht. »Das macht auch mir ganz schön zu schaffen.« Ich schluchzte und brach in Tränen aus; Elizabeth streichelte meine Hand, aber das machte es nur noch schlimmer. Und mit einem Mal hatte ich mich über sie gebeugt und drückte mein heißes, nasses Gesicht an ihre Schulter. Es war das erste Mal in zwanzig Jahren, dass ich einem anderen menschlichen Wesen körperlich so nahe war. Es erschien mir ganz unwirklich. Um ehrlich zu sein: Es war wundervoll, obwohl ich fürchtete, mir müsste vor Schmerz und Kummer die Brust zerplatzen. Als ich der Gruppe davon berichtete, nahm man es mit mißmutigem Schweigen zur Kenntnis. Larry, ein Physiotherapeut, sagte schließlich geringschätzig: »Na ja, nun fühl dich bloß nicht wie der Einsame Ritter, Sandy. Ich faß' auch niemanden an, außer bei der Arbeit. Zum Teufel, wir lieben Elizabeth doch alle! Aber ich habe es mir nie eingestanden, ich habe in so vielen Jahren nicht das mindeste Gefühl riskieren wollen, dass ich tatsächlich nicht mehr weiß, wann ich es zuletzt getan habe - und ihr seid kein bißchen besser als ich.« »Ich habe oft gedacht«, sagte Phil, »wie merkwürdig es ist, dass
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wir uns nicht lieben. Ich meine, so, wie wir aufeinander angewiesen sind, sollte man doch meinen ...« »Elizabeth weiß, dass wir sie lieben«, sagte Sherry, aber sie sprach über unsere Köpfe hinweg zur Wand hinüber. »Vielleicht tut sie das«, knurrte Larry, »aber wir sind diejenigen, die es wissen sollten.« »Andere Gruppen können das besser. Bei einigen steht man sich viel näher«, meldete ich mich zu Wort. »Vielleicht ist hier jeder zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass er sich noch um andere kümmern könnte - außer natürlich, um ihre schwachen Stellen zu entdecken.« »Andere Gruppen haben auch nicht diese Überlebensquote wie wir«, meinte Mitch. Um das düstere Schweigen zu brechen, machte Phil einen Versuch, das Thema zu wechseln. »Was ist eigentlich mit diesen Außerirdischen, haben sie sich je in dieser Richtung geäußert?« Als die Hobbs das erste Mal kamen, verkroch sich die eine Hälfte der Menschheit vor Schreck, die andere glaubte, dass nun endlich eine Lösung aller unserer Probleme in Sicht war: Krieg, Krebs, Umweltverschmutzung, Überbevölkerung, Hunger, AIDS - für alles das mussten die Fremden doch ein Wundermittel wissen. Bisher hatten sie jedoch keinerlei Interesse an uns gezeigt. Die Delegation befand sich jetzt in London, nachdem man die mumifizierten Überreste eines der ihren, der vor Hunderten von Jahren hier ausgesetzt worden war, in einem Moortümpel in Yorkshire entdeckt hatte. Alle Vorschläge und Bitten wegen eines kulturellen und wissenschaftlichen Austauschs hatten sie jedoch höflich ignoriert, und ich zweifelte sehr daran, dass Elizabeths Leben nun durch das Eingreifen der Fremden gerettet werden würde. Die New Yorker AIDS-Hilfe hatte ihnen einen langen, flehenden Brief geschrieben, doch keine Antwort erhalten. Wir wussten das alle. Niemand machte sich die Mühe, Phil zu antworten, und bald darauf gingen wir auseinander. Als das Schiff der Fremden einige Wochen später wieder vom Mond aufstieg, ohne dass der Besuch der Fremden uns Nutzen oder Schaden gebracht hatte, waren wir nicht überrascht. Wir hatten es nicht anders erwartet. So, wie wir auch erwarteten, dass Elizabeths körperlicher Verfall nun nicht mehr aufzuhalten war. Und so starb sie dann auch und ließ die Gruppe ohne Führung zurück. Immerhin hatten wir uns in den letzten Wochen ihres Lebens eng umeinander geschart. Überraschenderweise überstanden wir alle dieses Trauma unbeschadet; keiner erkrankte. Doch die Erschütterung über
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Elizabeths Tod lehrte mich, nicht anders als es das Traumbild Mendels vor Jahren getan hatte, dass noch immer etwas in meinem Leben in Ordnung zu bringen war. Es war noch immer ein Leben ohne Liebe, und gerade, als ich sie am wenigsten zu brauchen schien, wurde mir klar, dass ich nicht länger ohne Liebe leben wollte. Ich hatte versäumt, Elizabeth zu lieben, als sie noch lebte; nun, da sie tot war, wollte ich wenigstens das Gefühl am Leben erhalten, das sie in mir erweckt hatte - und auch die Fähigkeiten, Gefühle zu empfinden und zu zeigen. Es musste kein romantisches Liebesverhältnis sein. Tatsächlich glaubte ich sogar, dass jede andere Art Liebe vorzuziehen wäre. Es hört sich vielleicht merkwürdig an, dass ich nie daran dachte, mir ein Haustier anzuschaffen - aber vielleicht kann man sich einen Hund auch nicht so leicht in einem Garten voller Melonenbeete vorstellen ... und gegen Katzenhaare bin ich allergisch. Die Monate zogen vorbei und wurden zu Jahren, bevor sich etwas änderte. 3 Es war nicht viel passiert, nur, dass ich irgendeinen kleinen Knochen am linken Fußgelenk gebrochen hatte. Ich trat beim Aufsetzen des Fußes auf den Rand eines Schlaglochs, knickte um und verdrehte den Fuß, als ich fiel. Das Röntgenbild zeigte nicht mehr als einen Haarriß. Ich bekam einen Gips und Krücken und durfte einen Monat nicht auftreten. Es war der Mai 2010, das vierte Jahr meines zweiten Fünfjahresplans. Da mein gesamtes Forschungsprogramm für dieses Jahr auf dem Spiel stand, hatte ich keine andere Wahl, als mir einen Helfer zu engagieren. Einer meiner Botanikstudenten im zweiten Studienjahr übernahm diese Arbeit. Er hieß Eric Meredith, und er war der einzige Mensch, der außer meinen ziemlich uninteressierten Eltern, dem Mechaniker, der die Spülmaschine reparierte, und dem Mann vom Wasserwerk in den zehn Jahren, da ich hier wohnte, mein Haus betrat. Ich war voller Groll, dass ich gezwungen war, einen Fremden einzulassen, und versuchte, nicht sehr erfolgreich, ihn Eric nicht merken zu lassen. Er schien meine Reserviertheit nicht persönlich zu nehmen und tat bereitwillig, was ich ihm auftrug, ohne mich ständig zu behelligen. Ich zeigte ihm einmal, wie man die Melonen umpflanzte, wie tief und in welchem Abstand man die Löcher grub, wie man
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Dünger und Kompost in die lockere Erde mischte, einen Liter Wasser darübergoß und den Boden um den Strunk herum festdrückte. Er vergaß nichts davon, machte keinen Fehler, auch wenn ich ihn noch so mißtrauisch beobachtete. Die Arbeit schien ihm sogar ausgesprochen zu liegen. Innerhalb einer Woche waren alle Pflänzlinge in der Erde. Die Dateneingabe in den Computer machte ich selber, aber alles andere besorgte Eric. Aber was noch wichtiger war: Er begann, sich für meine Forschungsarbeit zu interessieren, so dass er nach der zweiten Woche gar nicht mehr anders konnte, als Fragen zu stellen. Und ich war durch sein Interesse so geschmeichelt, dass ich ihm sogar anbot, sich meine Aufzeichnungen anzusehen. Denn so langsam schien etwas aus der Sache zu werden. Mehrere Hybriden der Sorte >Mi ting tang< hatten sich im Jahr zuvor ungewöhnlich gut entwickelt; ich glaubte nun zu wissen, welche ihrer Stammeltern ich mit >Perfection< und >Honigtau< kreuzen musste, um eine Varietät zu erzeugen, die sich vom Gurkenmosaikvirus nicht sonderlich beeindrucken ließ. Toleranz hieß das Schlüsselwort, nicht Immunität. Eine völlige Resistenz schien mir inzwischen undenkbar - aber ich wäre schon mehr als zufrieden mit einer Züchtung, die das Vorhandensein des Virus in ihrem Organismus überstand, die ohne größere Verkrüppelung überlebte und unbeeindruckt fortfuhr, Früchte hervorzubringen. Eric saß eine ganze Stunde vor dem Bildschirm, während die Aufzeichnungen nahezu eines Jahrzehnts Seite um Seite umgeblättert wurden. Als er wieder sprach, schrak ich überrascht zusammen. »Das ist wirklich eine tolle Versuchsplanung.« Sein Erstaunen konnte ich gut verstehen; was sollte er von einem Professor wie mir schon erwarten? »Sie haben es fast geschafft, nicht wahr?« Er hatte ein etwas ungewöhnliches, schmales Gesicht, das aber durch die Begeisterung verschönt wurde. Ich spürte, wie mein Gesicht sich rötete. »Das könnte sein. Ein Sommer noch, denke ich. Natürlich ist das nichts Großartiges, nicht zu vergleichen mit der Forschung in den großen Labors, genetische Manipulation und ähnliches.« »Das nicht«, sagte Eric, »aber es ist nicht so sehr das Experiment an sich, sondern das Konzept. Das könnte man doch auf jedes Merkmal anwenden, das man herauszüchten will. Haben Sie den Plan selbst entwickelt?« Ich glaubte erst, er zweifele daran, aber als ich nickte, nickte er auch. »Das dachte ich mir. Ich habe noch nie so ein System gesehen, und ich mache jede Wette,
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dass alle es ihnen nachmachen werden, wenn sie es erst veröffentlicht haben.« Wenn man so lange allein auf sich gestellt gearbeitet hat, dann kann man gar nicht anders, als für solches Lob dankbar zu sein. Meine Stimme muss ziemlich hölzern geklungen haben, als ich ihn einlud: »Wollen Sie nicht etwas trinken?« Er folgte mir in die Küche, und als ich eintrat, da rutschte der Gummipuffer meiner Krücke auf einem nassen Flecken Linoleum ab, und ich fiel; im Fallen schlug mein Kopf hart gegen die Kante eines Regals. Für einige Sekunden war ich vor Schmerz wie blind. Dann, als ich mühsam versuchte aufzustehen und Eric sich hilfsbereit über mich beugte, bemerkte ich die leuchtend roten Blutstropfen auf dem Boden. »Geh weg!« schrie ich und stieß ihn so kräftig, dass er gegen die Anrichte stolperte und ich selbst der Länge nach auf den Boden schlug. Außer mir vor Wut zog ich mich an der Anrichte in die Höhe, und es gelang mir auch, ein Stück Papiertuch von der Rolle abzureißen und meinen Kopf damit abzutupfen. Wieder kam Eric instinktiv näher, um mir zu helfen, und wieder fuhr ich ihn an: »Nein! Bleib mir vom Leib, hab' ich gesagt. Hast du von meinem Blut etwas abbekommen?« »N ... nein«, stotterte Eric und musterte Hände und Arme, sehr erstaunt erst, dann kam die Erleuchtung, »Keine Sorge, ich bin geimpft.« Ich erstarrte; in meinem Kopf dröhnte es. »Was hast du da gesagt?« »Ich bin gegen AIDS geimpft. Man hat es mir in den Knochen gestanzt, in der sechsten Klasse schon. Sehen Sie?« Und er zog den Halsausschnitt seines T-Shirts ein wenig herunter und zeigte mir die V-förmige Narbe am Schlüsselbein. Geimpft. Immun. Natürlich war er das. Jeder war das heute. Es hatte doch nicht die geringste Gefahr für Eric bestanden - aber in meiner kopflosen Panik hatte ich mich verraten. Zum dritten Mal in diesen zehn Jahren brach ich in Tränen aus, und es war schwer zu sagen, wer von uns mehr verlegen war. Ich weiß nicht mehr, wie und wann er schließlich ging. Diesen Abend überließ ich mich meiner Wut. Wut über mich, mein Leben, die Seuche, die es vergiftet hatte, meine Karriere zerstörte, mich in eine lebende Zeitbombe verwandelt hatte. Was war schon dabei, wenn herauskam, dass ich infiziert war? Niemand kümmerte sich noch darum. In den letzten Jahren war die Zahl der tödlichen Viren, die im ersten Jahrzehnt sich angeschickt hatten, die Herrschaft in meinem Körper zu übernehmen, immer weiter abgesunken. Es
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konnte sein, dass ich niemals AIDS bekommen würde, vielleicht auch niemanden anstecken konnte - man wusste es nicht. Aber selbst wenn es nicht so war, alle Welt war immun. Doch es war genug, dass ich mich ansteckend fühlte. Ich hatte in den letzten neun Jahren doch deshalb enthaltsam gelebt, weil Sex nicht in mein Leben paßte - und nicht, weil ich andere schützen wollte. Ich wusste es und wusste es wieder nicht. Die Wahrheit war, dass ich zu lange eine Aussätzige gewesen war, um aus dieser Rolle wieder herausfinden zu können. Nun war dieser Junge erschienen, der mein dunkles Geheimnis einfach so entdeckt und ausgesprochen hatte, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich musste einen anderen Helfer finden, vielleicht sollte ich ihm Geld anbieten ... Nein, was für ein dummer Gedanke. Aber die Vorstellung, ihn Wiedersehen zu müssen, war unerträglich. Am nächsten Morgen würde ich ihn auszahlen und wegschicken. Dass mich dieser Gedanke schmerzte, das erstaunte mich. Ich hatte jedoch die Rechnung ohne Eric gemacht. Am nächsten Morgen erschien er um die gewohnte Zeit und ging geradewegs in den Gemüsegarten, wo er Mulch über die Tomaten- und Pepperonibeete streute. Dabei pfiff er vor sich hin. Aus dem Küchenfenster sah ich die große, hagere Gestalt, wie sie sich bückte und wieder aufrichtete und eine Armvoll Stroh nach der anderen von der Karre nahm und um die Pflanzenstengel herum anhäufte; langsam wurde mir klar, dass er außerhalb der Gruppe das einzige lebende Wesen war, das die Wahrheit kannte. Langsam dämmerte mir sogar, dass es wundervoll sein könnte, dass jemand es wusste. Eric zog die leere Karre durch den Garten, um noch einige Strohballen zu holen, dann kam er zurück zu den Beeten mit Nachtschattengewächsen. Ich betrachtete seinen Rücken, auf dem das schweißnasse T-Shirt klebte, das Spiel der Schultermuskulatur, die Sehnen und Muskeln, die sich beim Bücken und Aufrichten an seinen Beinen abzeichneten - und etwas regte sich in mir, ließ sich nicht unterdrücken, erinnerte mich an längst vergangene Zeiten. »Eric«, murmelte ich erstaunt, und als hätte er es gehört, drehte er den Kopf, sah mich am Fenster und winkte. Er lächelte. Dann bückte er sich, um einen neuen Packen Stroh aufzunehmen und verschwand aus meinem Blickfeld. Dieses Lächeln ... Ich ließ mich auf einen Hocker fallen, und eine Stimme ging mir durch den Kopf. Laut sagte sie: »Er sah von der anderen Seite des Klassenzimmers zu mir herüber, und es machte ganz einfach >Peng
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an der High School. Peng! Hatte es einfach >Peng< gemacht? War es Erics Fröhlichkeit, sein Winken mit dem langen Arm, dem braunen Arbeitshandschuh an der Hand? Ich denke, in diesem Augenblick wusste ich, dass ich ihn nicht wegschicken würde. Um Mittag kam Eric zum Haus, um sich unter dem Wasserhahn abzuwaschen, bevor er ging. Eric in seinen khakifarbenen Shorts, den alten Turnschuhen - das Hemd hatte er längst ausgezogen; Staub und Stroh klebten auf der schweißglänzenden Haut von Brust und Rücken, hingen an dem blonden Gekräusel auf seinen Beinen und in der hellen Mähne seines Kopfs. Ein ziemlich dünner Kerl, und doch konnte ich mich an dem langen, schmalen Körper nicht sattsehen. »Ich werde morgen etwas später kommen, habe einen Zahnarzttermin«, sagte er. »Hören Sie, Sie müssen wissen, dass ich nicht vorhabe, irgend jemandem etwas über gestern zu erzählen. Nur für den Fall, dass Sie sich darüber Sorgen machen. Ich bin sowieso kein Klatschmaul, und über Sie würde ich sicher nicht reden.« Ich brachte sogar eine Antwort heraus. »Danke, das wäre mir sehr recht.« Eric hatte zuerst noch etwas sagen wollen, doch steckte er statt dessen den Kopf unter den Hahn und trocknete sich dann mit seinem Hemd ab. Schon war er um die Ecke des Hauses verschwunden. In der Gesäßtasche seines Shorts steckte ein Taschenbuch; das Wort Kellerassel! prangte in schreienden Farben diagonal auf dem Titel. Und so machten wir weiter wie zuvor; doch was mich betraf, hatte sich etwas verändert. Ein weiteres Mal wurde ich notgedrungen zum Schauspieler, denn ich musste feststellen, dass ich gegen jede Vernunft und jede Aussicht auf Erfüllung lichterloh entflammt war - für einen Jungen, der nicht einmal halb so alt war wie ich: ein intelligenter, netter, vielleicht nicht besonders bemerkenswerter Junge, der nun zum Objekt aller aufgestauten Liebe aus einem halben Leben wurde. Eric, das war wie der Docht einer Öllampe, genährt von einem tiefen, unerschöpflichen Reservoir brennbarer Substanz. >Docht< nannte ihn darum die Gruppe, und so hieß auch jener Freund Pinocchios, der ihn überredete, mit ins Spielzeugland zu kommen, und der vor den entsetzten Augen der Holzpuppe in einen Esel verwandelt wird. Nur, dass ich mich wie der Esel fühlte. In der Gruppe war seit Elizabeths Tod sehr viel häufiger von dem Thema Liebe die Rede. Jede Liebe ist zu einem Teil personenbezogen, zum anderen
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projiziert sie etwas in den geliebten Menschen hinein - so argumentierten die Gebildeten unter uns. Also, mach endlich voran! Geh aus dir heraus, tu es! Hast du nicht beim ersten Mal mit einem deiner Lehrer geschlafen? He, das Unbewusste kann ganz schön pedantisch sein - in deinem Fall besteht es wohl darauf, dass der Stab an die nächste Generation Weitergericht wird, indem du dich in einen deiner Studenten verliebst. Und ich muss sogar zugeben, dass ich meine leidenschaftlichen Gefühle genoß, so verrückt sich das auch anhören mag. Mein Libido war wieder zum Leben erwacht; ich wagte, gegen die selbstauferlegten Zwänge zu rebellieren. Ich war mehr als auf der Hut; nie würde ich diese Demütigung riskieren, mich von Eric ertappen zu lassen, so wie ich mich hatte ertappen lassen, was meine Infektion betraf. Er hatte keine Ahnung, dass ich mich geradezu verzehrte nach ihm. Ich vermute, er bedauerte mein abweisendes Verhalten, aber ich glaube nicht, dass es ihn kränkte. Und er hatte in jenem Sommer sicher mehr als einen Fisch an der Angel. Mein Knöchel war Ende Juli so weit verheilt, dass ich den Gemüsegarten wieder selbst hätte übernehmen können. Aber ich tat, als wäre das noch zuviel für mich, denn ich musste je einen Grund finden, um Eric hierzubehalten. Und als meine alte Mutter in Denver einen Schlaganfall hatte und ein Besuch nicht zu umgehen war, war ich froh, ihm die Verantwortung für Gemüsegarten und Melonenzucht übertragen zu können. Die neuen Hybriden sahen prächtig aus, aber die Niederschlagsmenge und die Sonnenstunden dieses wichtigen Monats mussten präzis aufgezeichnet werden. Ich bot Eric an, während meiner Abwesenheit im Haus zu wohnen, und versprach ihm eine Prämie, wenn er seine Arbeit zu meiner Zufriedenheit ausführte. Ich wollte nicht fliegen, sondern nahm das Auto. Ich fuhr nach Westen, in einem Zustand, den man wohl als >erotische Hochspannung< bezeichnen musste; ich übernachtete im Auto, pinkelte in die Pissoirs von sieben Bundesstaaten, erfreute mich am Anblick von Hunderten von Penissen ... Meine Mutter ging es schon wieder besser, meine Sorge und Aufmerksamkeit registrierte sie dankbar. Doch waren die fünf Enkelkinder inzwischen zu ihrem Lebensinhalt geworden, und wir begegneten uns doch mit der Distanz von Menschen, deren größte Gemeinsamkeit das wechselseitige Mißverstehen ist. Trotz alledem blieb ich eine ganze Woche; den Rückweg durch die heißen, trockenen Ebenen teilte ich in kleine Etappen ein. Ich
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konnte nun Eric gegenüber unmöglich weiter vorgeben, dass ich die Arbeit nicht selbst tun konnte, nicht nach einer solchen Autofahrt. Außerdem würden in Kürze auch die Vorlesungen wieder beginnen - sobald ich zurück war, musste ich ihn gehen lassen. Und so trödelte ich, träumte mich durch Kansas und Missouri und näherte mich am späten Nachmittag des dreißigsten August Indianapolis, als ich das Radio einschaltete und hören musste, dass an diesem Morgen im Kernkraftwerk Peach Bottom am Susquehanna, flußabwärts von Three Mile Islands, eine Kernschmelze stattgefunden hatte. Zum Glück war nur wenig Verkehr. Ich brachte es fertig, den Wagen auf die Standspur zu lenken, ohne irgend etwas zu rammen, und saß da, während das Radio immer neue Hiobsbotschaften verkündete. Tschernobyl war gegen diese Katastrophe eine Lappalie gewesen. Das Kraftwerk Peach Bottom war fünfzig Jahre alt und hätte längst stillgelegt werden müssen. Es war schon einmal stillgelegt worden, doch hatte man es wieder in Betrieb genommen, als mit neuen Techniken der hohe Strahlungspegel auf erträgliche Werte reduziert werden konnte. Obwohl die Anlage für ihr unfähiges Personal berüchtigt war, schien es diesmal kein menschliches Versagen zu sein. Was die Auswirkungen auf die Menschen in diesem Landstrich betraf, so hätte das Wetter gar nicht ungünstiger sein können. Ein Sturmtief mit einem kräftigen Südwestwind hatte die riesige radioaktive Wolke über das fruchtbare Farmland der Amish im Bezirk Lancaster getrieben, dann tat eine westliche Strömung das ihre, um sie gehörig über dem dichtbesiedelten Konglomerat von Wilmington, Philadelphia und Trenton zu verbreiten. Schwere Regenfälle hatten die strahlenden Substanzen ausgewaschen, und nun war das ganze Gebiet verseucht. Der Gewitterregen hatte auch das Feuer im Kraftwerk gelöscht. Der Schaden war gigantisch, doch immerhin auf eine Region beschränkt. Die Radioaktivität war auf die Erde niedergegangen, bevor sie sich in den höheren Schichten der Atmosphäre ausbreiten konnte ... aber ausgerechnet über einem der dichtest besiedelten Landstriche des ganzen Planeten. Man erwartete eine große Zahl von Todesfällen durch akute Verstrahlung; die Amish waren besonders betroffen, denn die Männer waren natürlich auf den Feldern gewesen. Acht Millionen Menschen mussten evakuiert und anderswo untergebracht werden; das Gebiet um Philadelphia und Wilmington würde mindestens zehn Jahre unbewohnbar bleiben. Immer wieder fiel der Name des Kongreßabgeordneten Terry
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Carpenter. Der gemäßigte Republikaner aus dem Bezirk Delaware wurde von den Reportern über den grünen Klee gelobt. Seine schnell und vor allem richtige Reaktion ließ vermuten, dass er sich auf Notfälle dieser Art vorbereitet hatte. Die Menschen, die noch in ihren Häusern waren, beschwor man, Türen und Fenster geschlossen zu halten und die Klimaanlage abzustellen, um möglichst wenig von der verseuchten Luft einzulassen; sie sollten Badewannen und Waschbecken vollaufen lassen, um einen Wasservorrat zu haben, bevor das Regenwasser nun die Grundwasserschichten erreichte. Jeder sollte einen kleinen Koffer packen ... So ging es immer weiter, während ich am Rand der Autobahn hielt und der Schock mich zu zermalmen drohte. Mein Haus, mein Garten, das College, das Krankenhaus, an dem ich arbeitete, und das andere, an dem ich behandelt wurde, die Gruppe, meine Forschungsarbeit - alles, was mein sorgfältig geplantes und doch entfremdetes Leben ausmachte, war hinweggeschmolzen wie der Reaktor. Was, um Himmels willen, sollte ich jetzt machen? Meine Reise hatte mich vor der radioaktiven Verseuchung bewahrt, vor der Evakuierung und Einweisung in irgendein Rotkreuz-Lager. Mein Auto und ich, wir waren okay. Nur mein Leben war kaputt. Und die ganze Zeit musste ich an Eric denken, den ich dort zurückgelassen hatte, der gewissenhaft meinen Auftrag ausgeführt hatte und nun vielleicht in meinem Haus saß und auf die Evakuierung wartete. Mit einem Ruck erwachte ich aus meinen Grübeleien, fuhr wieder auf die Fahrbahn zurück und nahm dann die nächste Ausfahrt. Ich fand ein Münztelefon, das funktionierte, und kam auch durch. Doch mein Telefon zu Hause klingelte und klingelte, bis ich es schließlich aufgab. Zitternd stand ich da, obwohl der Morgen schon jetzt drückend schwül war - unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Eine Gestrandete. Unmöglich, nach Denver zurückzufahren. Unmöglich, nach Hause zu fahren. Unmöglich, Eric zu finden, solange die Lage nicht einigermaßen unter Kontrolle war. Eric würde wahrscheinlich zu seinen Eltern gehen - aber was, wenn sie in der Zone wohnten, die jetzt geräumt wurde? Eine ganze Reihe unserer Studenten kam aus der näheren Umgebung. Ich stieg wieder ins Auto und fuhr los. Ich fuhr die ganze Nacht, hielt am Morgen auf einem Parkplatz in Westpennsylvania kurz an, um ein Nickerchen zu machen, und fuhr dann weiter. Das Radio hielt mich auf dem laufenden. Während der ganzen Fahrt dachte ich an nichts anderes als Eric. Zwei Bilder wechselten sich vor meinem inneren Auge ab: Eric, sicher und geborgen im Haus seiner Eltern
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oder Großeltern, ob nun in Pittsburgh oder Allentown - und Eric, wie er in meinem Garten hantierte. Warum war ich nicht freundlicher zu ihm gewesen, als ich noch Gelegenheit hatte? Warum wollte ich mir um keinen Preis etwas anmerken lassen? Mein Haus, mein Garten waren verloren, meine Zuchtergebnisse durch den Fallout vernichtet - die Arbeit fast eines Jahrzehnts war umsonst gewesen. Aber noch schlimmer war es, dass ich diese gottgegebene Chance, einem anderen Menschen nahe zu kommen, vertan hatte. Ich weinte stundenlang und musste einmal sogar anhalten. Während dieser Reise wie durch einen Alptraum vergoß ich mehr Tränen als in meinem ganzen Leben. Hätte ich doch nur die Arme um ihn gelegt, ihn einmal festgehalten für eine Minute. Ich fragte mich nicht, ob Eric irgendeine nähere Beziehung zu mir wünschte zu einer kranken, altjüngferlichen Schulmeisterin, die auf Herrentoiletten ihrem perversen Vergnügen nachging. Was zählte, war meine Feigheit, dass ich das Risiko menschlicher Nähe nicht hatte eingehen wollen. Und jetzt war es zu spät. Ich fuhr und weinte, weinte und fuhr. Allmählich wurde der Verkehr auf der Gegenfahrbahn stärker. Schon westlich von Harrisburg hatte die Nationalgarde die Autobahn gesperrt; den Autos, die nach Osten fahren wollten, bedeutete man zu wenden. Hinter der Sperre führten nur zwei Fahrspuren in meiner Richtung weiter, die beiden anderen waren für den Gegenverkehr freigegeben; hier und auf den vier Spuren der Gegenfahrbahn rollte Auto an Auto - man floh aus der verseuchten Zone. Ich hielt an, trocknete mein verweintes Gesicht, so gut es eben mit einem nassen Taschentuch ging, und stieg aus. Am Ende der Schlange, die sich zum Wenden aufgereiht hatte, regelte ein Soldat den Verkehr. Ich ging zu ihm hinüber. »Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, wie ich jemanden ausfindig machen kann?« Der Soldat drehte sich um, das Gesicht grau vor Erschöpfung. »Wohl aus Philadelphia?« Ich nickte. »Keine Ahnung, mein Bester«, meinte er - und ich erinnerte mich daran, dass ich noch immer mein >Kostüm< trug. »In ein paar Tagen wird man wissen, wo die Leute abgeblieben sind, aber im Moment geht's dort zu wie in einem Affenstall, sie wollen acht Millionen Menschen evakuieren. Haben Sie kein Radio gehört?« »Ja, schon, aber ...« »Vielleicht kriegt man den Sender hier draußen noch nicht.« Er nahm seine Mütze und fuhr sich übers Gesicht. »Jeder, der ein Auto hat und eine Möglichkeit, unterzukommen, soll sich auf den
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Weg machen. Das ist das, was all diese Leute vorhaben. Die hier kommen aus Lancaster und Umgebung - die aus Philadelphia sollen nach Nordosten fahren oder in Richtung Süden, nach Jersey oder Delaware. Und die, die keinen Unterschlupf haben, hat man in Lager in den Poconos oder rund um Baltimore geschickt. Die Army baut Zelte und Baracken auf.« »Für acht Millionen Menschen?« »Nein, man schätzt für anderthalb Millionen. Immer noch eine Menge Camper. Wen suchen Sie?« »Einen meiner Studenten, er hat sich um mein Haus gekümmert.« »Ist er aus der Gegend?« »Das weiß ich nicht einmal.« Der Soldat musterte mich; rote, verquollene Augen, die Uniform verknittert, als hätte er darin geschlafen. Offensichtlich zog er seine Schlüsse, aber er war so müde, dass ihm alles gleich war. »Ist wahrscheinlich zu seinen Angehörigen gegangen, wenn er nicht aus der Gegend von Philadelphia stammt. Sie sagen immer wieder durch, dass jeder sich melden soll, wo er abgeblieben ist, sobald er angekommen ist. Es gibt eine Telephonnummer für jeden Buchstaben des Alphabets. In ein paar Tagen werden Sie wissen, wo er ist, wenn er sich an die Spielregeln hält.« »Das scheint ja wirklich gut organisiert zu sein«, sagte ich etwas unschlüssig. In ein paar Tagen, wenn alles gutgegangen ist - und keine Möglichkeit herauszufinden, ob es so war. »Es ist ein gottverdammtes Wunder«, sagte der Soldat. »Als hätte dieser Terry Carpenter nur darauf gewartet. Alles war geplant und auf Abruf bereit. Er hat die Vorortbahnen in Philadelphia, die Busse, die regulären Amtrak-Züge und auch noch die Güterzüge, die in der Nähe waren, requirieren lassen, und ein, zwei Stunden nach dem Knall war die Evakuierung schon angelaufen.« Der Mann setzte seine Mütze wieder auf. »Ich muss wieder an die Arbeit. Machen Sie sich keine Sorgen um Ihren kleinen Freund, der ist sicher okay. Sie haben eine Unterkunft? Ich kann Ihnen eine Einweisung in ein Flüchtlingslager geben.« »Nein, vielen Dank, ist nicht nötig.« Es war schrecklich dumm, dem Mann übelzunehmen, was er von mir dachte, aber ich konnte nicht anders. Ich reihte mich in die Autoschlange ein und fuhr zurück. Doch an der nächsten Ausfahrt scherte ich aus der Kolonne aus und bog auf eine kleine Nebenstraße, die in Richtung der Berge führte. Mehrere Kilometer fuhr ich nun in der Hoffnung, bald in einen Ort zu
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kommen, wo ich telefonieren konnte. Doch als ich dann ein Telefon fand, meldete sich noch immer keiner. Das musste das Ende sein. Ich weiß nicht, wie lange ich neben der Telefonzelle stand, während in der Ferne die Schlacht tobte, der Kampf um die Menschenleben. Einmal kamen mehrere Busse mit Amish-Familien vorbei, vermutlich auf dem Weg zu Verwandten in Ohio; sie starrten aus den Fenstern, die Gesichter leer und versteinert. Auch für sie war es das Ende der Welt. Der Wind hatte nur kurze Zeit von Südwesten geweht, aber das genügte schon. Schließlich stieg ich wieder ins Auto, wendete, fuhr zurück zur Autobahn, dann in Richtung Osten, und kam erneut zur Straßensperre, wo mein Soldat noch immer stand. Wortlos ließ er mich herankommen, er war zu müde, um noch überrascht zu sein. »Hören Sie«, sagte ich, »ich würde gern in das Katastrophengebiet gehen und bei der Suche nach Vermißten helfen. Man braucht doch sicher Freiwillige. Ich möchte mich melden.« Sehr langsam nickte er. »Wenn's weiter nichts ist. Gehen Sie nach Harrisburg und reden Sie mit den Leuten dort. Nehmen Sie die Ausfahrt am Capitol, dort in der Nähe gibt es einen Stützpunkt der Nationalgarde, Sie können es nicht übersehen. Vielleicht nehmen sie Sie. Ich werde Sie über Funk ankündigen.« Ich bedankte mich und wollte schon gehen, als er hinter mir herrief: »Überlegen Sie sich's genau, guter Mann. Nachher ist's vielleicht zu spät. Könnte sein, dass wir auch noch York und Harrisburg räumen müssen, wenn der Wind wieder dreht.« »Verstehe!« rief ich zurück. Ich spürte, dass er dastand und mir nachblickte, bevor er endlich zu dem Wagen ging, um die Meldung durchzugeben. In Harrisburg trat ich sehr bestimmt auf, und sie nahmen mich. Sie hielten mich auch zweifellos, auf den ersten Blick, für einen recht jugendlichen Mann in den besten Jahren. Sie gaben mir einen Strahlenanzug und einige dürftige Instruktionen, dann wurde ich mit einer Gruppe anderer Freiwilliger, darunter Quäker und einige Arbeiter von Three Mile Islands, in die verseuchte Zone geflogen. Im Zentrum von Philadelphia setzte man uns ab, das war nicht weiter als fünfundzwanzig Kilometer von dem Ort entfernt, wo ich hinwollte. Der Gedanke, Leute auf die Vorstädte zu verschwenden, gefiel ihnen gar nicht, aber Freiwilligen kann man nicht so gut befehlen, und einige der anderen waren ebenfalls auf der Suche nach Verwandten und Freunden. Also gaben sie schließlich jedem von uns ein Polizeiauto mit Lautsprecher und ermahnten uns, diesen unsinnigen Abstecher nach Hause oder wohin auch immer
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so rasch wie möglich hinter uns zu bringen, dann aber in die Innenstadt zu fahren und einzusammeln, was wir an Nachzüglern auf unserem Weg finden konnten. Ich hatte kaum mehr als die Hälfte des Wegs bis nach Hause zurückgelegt, als der Tank leer war. Die verdammte Kiste lief mit Methanol, wogegen ich gewohnt war, elektrisch und mit Sonnenzellen zu fahren, aber trotzdem ... Also zog ich, in meinem Strahlenschutzanzug, zu Fuß los, um eine Tankstelle zu finden. Ich muss ausgesehen haben wie ein eben gelandetes Weltraummonster in einem schlechten Science-fiction-Film, als ich durch die menschenleeren Straßen lief. Doch leider: Als ich nach einer halben Stunde mit einem Kanister Methanol zurückkam, war das Auto weg. Ich hatte den Zündschlüssel stecken lassen. Ich verstaute den Kanister unter einer Hecke und marschierte los. Es waren noch gut elf Kilometer zu meinem Haus. Kaum war ich ein paar Meter gegangen, kam die Sonne hervor. Ich musste pinkeln und wusste nicht, wie man den Anzug aufkriegte - und ob ich ihn aufmachen sollte. Außerdem war ich entsetzlich durstig. Es war wirklich alles andere als ein Spaziergang, immer wieder musste ich eine Pause einlegen. Ich hatte mich auch dahin entschieden, dass in den Anzug zu urinieren von allen denkbaren Möglichkeiten noch die beste war; es machte meine Wanderung nicht gerade angenehmer. Drei Stunden waren seit jenem Augenblick vergangen, da ich aus dem Auto stieg, als ich endlich zu Hause ankam. Den Schlüssel hatte ich in der Tasche, aber wie sollte ich an ihn herankkommen? Es endete damit, dass ich mein eigenes Haus durch ein eingeschlagenes Kellerfenster betrat. Eric war nicht da. Ich wusste sofort, dass das Haus leer war. Ich stand gegen die kühle Kellerwand gelehnt, die Anstrengung, die Enttäuschung, das war zu viel. Nach einer Weile begann ich an dem Anzug herumzufingern, bis ich endlich herauskriechen konnte. Ich ließ den Anzug im Keller neben den Geräten, den Pflanztrögen für die Melonenkeimlinge und den Insektenkäfigen und schleppte mich auf weichen Knien nach oben. Doch vergaß ich nicht, die Tür hinter mir zu schließen. Das Spülbecken in der Küche war voll Wasser, nicht anders als die Waschbecken im Bad und die Badewanne. Das richtete mich ein wenig auf; wenn er die Anweisungen befolgt hatte, dann war er inzwischen wohl in Sicherheit. Der gute Eric ... Ich trank einige Liter Wasser aus dem Waschbecken, bevor ich meine ekligen Kleider auszog und mich in die Badewanne mit dem kalten Wasser
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fallen ließ. Ich konnte ebensogut sauber sterben. Ich schlief fast sofort ein. Als ich nach einer Stunde erwachte, mit einem steifen Hals, wusch ich mich sorgfältig, zog mir Shorts und eine Bluse an und musste feststellen, dass ich beinahe ausgehungert war. Ich stürzte zum Kühlschrank und nahm von den Sachen, die Eric für sich eingekauft hatte: gekochtes Huhn, Brot aus dem Supermarkt, eine Banane, eine Tomate aus meinem Garten. Es gab keinen Strom, aber weil die Tür ordentlich verschlossen war, hatte nichts verderben können. Ich trank eine Dose Cola von Erics Vorrat, die erste seit nahezu dreißig Jahren. Es schmeckte phantastisch. Im Küchenschrank fand ich eine Tüte Kartoffelchips: Herrlich! Ein halbes Dutzend Dosen mit gebackenen Bohnen stand da noch, und eingelegter Hering, eine Schachtel Käse ... Schwer zu verstehen, aber ich fühlte mich mit einem Mal ganz unglaublich gut, als würde ich für die vertane Chance, was Eric betraf, dadurch entschädigt, dass ich diese Sachen aß, die er mir dagelassen hatte. Schließlich ging ich in mein ungelüftetes Schlafzimmer und ließ mich aufs Bett fallen. Es mag sich seltsam anhören, aber ich dachte nicht einmal daran, das Transistorradio einzuschalten, so sicher glaubte ich mich schon jenseits der Grenze von Leben und Tod. So lange schon war der Tod mir auf den Fersen, dass ich geradezu erleichtert war bei dem Gedanken, dass die Jagd nun ein Ende hatte. Aber was noch merkwürdiger war: Ich warf nicht einen einzigen Blick hinaus auf meinen Garten. Die Luft im Haus war stickig, die Fenster mussten schon vor vielen Stunden geschlossen worden sein. Es war auch schon viele Stunden her, dass man die Leute angewiesen hatte, kein Wasser mehr laufen zu lassen und auch die Toiletten nicht zu spülen. Aber meine waren sauber, gespült. Auch das bestätigte, dass Eric noch rechtzeitig weggekommen war. Ich versank in Schlaf und schlief wie tot. Als ich erwachte, war es dunkel, und das Haus schien zu dröhnen. Es war das Geräusch eines Hubschraubers, der in dem kleinen Park an der nächsten Kreuzung landete. Sie hatten den Mann, der mir das Auto gestohlen hatte, geschnappt, als er über die Commodore-Barry-Brücke nach New Jersey hinüberfahren wollte. Ein Polizeiauto ist nicht unbedingt ein geeignetes Objekt zum Stehlen, aber er hatte keine Wahl gehabt und auch nichts dagegen, gestellt zu werden, wenn er nur aus der Gefahrenzone gebracht wurde. Er hatte gesehen, wie ich anhielt und losmarschierte, und gewartet, bis ich außer Sicht war, dann hatte er Treibstoff nachgefüllt, den er in der Garage seiner
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Vermieterin gefunden hatte, und hatte sich aus dem Staub gemacht. Ich war noch ganz in der Nähe, aber unter meinem Helm hatte ich nicht hören können, wie der Motor angelassen wurde. Es scheint vielleicht verrückt, dass er das Auto gestohlen hatte, statt mich zu bitten, mitgenommen zu werden - aber die Leute reagieren oft sehr merkwürdig, wenn ihr Leben auf dem Spiel steht. Es hatte einige Zeit gedauert, bis sie die Route des Polizeiautos zurückverfolgt hatten, zumal jedermann genug zu tun hatte, auch ohne Schutzengel für die Leute zu spielen, die man als Schutzengel für andere ausgeschickt hatte. Aber ich hatte den Namen meines Viertels einem der anderen Freiwilligen genannt, so dass sie schließlich einen Helikopter losschicken konnten. Ich brauchte nicht erst den Schutzanzug auszuziehen, dass jedermann sehen konnte, dass der Mann, nach dem man gesucht hatte, sich inzwischen in eine Frau verwandelt hatte. Der Rest ist kaum der Rede wert. Einen Monat verbrachte ich in einem Lager für Evakuierte in der Nähe von Kutztown in Pennsylvania, das man auf dem Grund und Boden des Rodale-Forschungszentrums errichtet hatte. Am Ende dieses Monats war es ziemlich sicher, dass die Gegend um Philadelphia über Jahre hinaus unbewohnbar sein würde. Genau einen Monat nach der Reaktorkatastrophe tauchte das Schiff der Hobbs wieder auf. Ich habe eine ordentliche Strahlendosis abbekommen. Meine Chancen, in fünfzehn oder zwanzig Jahren Leukämie zu bekommen, stehen nicht schlecht. Allerdings glaube ich kaum, dass ich um diese Zeit noch am Leben sein werde, es sei denn, dass ich das Angebot der Hobbs annehme (auf das ich noch zurückkommen werde). Eines Tages wurde ich im Lager ausgerufen, und als ich zum Zelt der Lagerverwaltung kam, stand da in Shorts und T-Shirt, einen Rucksack auf dem Rücken Eric Meredith. Ich hatte ziemlich schnell herausgefunden, dass er tatsächlich zu Verwandten geflüchtet war und hatte ihm geschrieben, wie froh ich wäre, dass er heil davongekommen war. Ich hatte auch erwähnt, dass ich einige Zeit im Rodale-Lager bleiben würde. Eric hatte sich nicht etwa auf die weite Reise gemacht, um seinen Lohn abzuholen, nein, er hatte einen vollständigen Ausdruck der Auswertung meiner Experimente bei sich, eine Diskette mit allen Aufzeichnungen und Daten für die diesjährige Saison und sechs schon bedenklich überreife
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Netzmelonen, eine neue Varietät von Cucumis melo reticularis. >Milky Tango< hieß sie, und es war die Hybride, in die ich meine ganzen Hoffnungen gesetzt hatte und die er vor dem radioaktiven Regen gerettet hatte, »Ich wusste nicht, wie ich die Festplatte aus dem Rechner kriegen sollte«, entschuldigte er sich. Ich starrte auf das Häufchen stark duftender Früchte, das vor mir auf dem Tisch lag; unmöglich, zu beschreiben, was in diesem Moment in mir vorging. War da nicht dieser Tag gewesen, an dem ich alles aufgeben wollte? War es nicht reiner Zufall, dass ich noch lebte? Es war nur ein Schritt bis zu Eric. Ich machte diesen Schritt, legte meine Arme um diesen dünnen, sehnigen Körper und drückte mich eine Weile an ihn. Eric stand ganz steif da, aber es machte mir nichts aus. »Eric, tu mir einen Gefallen«, sagte ich, als ich mich von ihm löste und wieder einen Schritt zurücktrat. »Ich nehme eine Hälfte davon, du behältst die andere. Pflanze sie in den Garten deiner Großeltern, nächsten Sommer - bring du das Experiment für mich zu Ende.« Ein Hustenanfall unterbrach mich, es half Eric, sich so weit aus seiner Erstarrung zu lösen, dass er sagen konnte: »Sind Sie in Ordnung? Das hört sich schlimm an!« »Es geht schon wieder. Ich war erkältet, dann kam eine Bronchitis dazu. Aber hör zu: Der Boden in meinem Garten ist auf Jahre hinaus verseucht. Der Himmel weiß, wann ich je wieder einen Garten haben werde, um mit der Zucht weitermachen zu können. Vielleicht wird das College anderswo wiedereröffnet, aber kein Mensch weiß, wo und ob überhaupt. Du wirst doch wohl nach University Park gehen?« Er nickte. »Nächste Woche. Wir werden ausnahmsweise noch verspätet zugelassen.« »Gut, dann hast du noch Zeit, dir eine ausreichende Menge Gurkenkäfer zu besorgen. Mit dem Virus kannst du sie später noch in Kontakt bringen, wenn sie nicht sowieso schon infiziert sind.« Der arme Kleine starrte mich an, er konnte nicht glauben, was ihm geschah. »Ich meine es ernst. Schau, du hast die Unterlagen und den Samen gerettet. Ich war acht Stunden oder so in meinem Haus, aber ich habe keine Sekunde daran gedacht, etwas in Sicherheit zu bringen.« Das war nur zu wahr; das einzige, an dessen Rettung ich dachte, als der Hubschrauber kam, war meine Penisattrappe. »Du hast es dir verdient, meine Arbeit zu Ende zu bringen. Aber das soll nicht heißen, dass du es unbedingt tun musst - die Leute in Rodale würden sich darum reißen.«
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»O nein, ich will ja! Wirklich!« protestierte er. »Das heißt, wenn Sie es nicht tun - aber ... Sie könnten doch Geld damit verdienen. Es ist einfach nicht richtig.« »Weißt du was: Wir machen sicherheitshalber eine Kopie aller Unterlagen. Und ich behalte die Hälfte des Saatguts. Wenn du keine verwertbaren Resultate erhältst, dann werde ich mich nach jemandem umsehen, dem ich meine Unterlagen und den Samen gebe; wenn du aber Erfolg hast, dann teilen wir uns das Geld. Was hältst du davon?« Es gab mehrere Notare in dem Lager. Wir setzten einen Vertrag auf und gingen zu einem von ihnen, damit er unsere Unterschriften beglaubigte. Ich war nicht einmal sicher, ob es legal war - Eric war erst neunzehn oder zwanzig, aber das war mir gleich. Ich brachte ihn zum Auto. Er war noch immer verwirrt, konnte kaum glauben, was vorgefallen war. Durch das heruntergekurbelte Seitenfenster sagte er ganz ernst: »Noch nie habe ich so ein Geschenk bekommen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« »Ich habe doch auch ein Geschenk von dir bekommen.« »Von mir? Was war das?« Ich war drauf und dran, es ihm zu sagen, doch überlegte ich es mir anders. »Gekochtes Huhn, Kartoffelchips, gebackene Bohnen, Cola«, sagte ich. Es dauerte einen Augenblick, bis er begriff, was ich meinte, aber dann protestierte er. »Oh, das kann man doch nicht vergleichen!« »Der Unterschied ist nicht so groß, wie du meinst. Denk darüber nach, ja?« Und etwas unbedacht setzte ich hinzu: »Und denk auch mal an mich, später.« Letzten Monat war ich bei Erics Abschlussfeier an der Pennsylvania State University: eine Zwei in Biologie und ein Doktorandenstipendium für Cornell. Für jemanden, der an meinem College studiert hatte, war das gar nicht so übel. Vielleicht wird er das aus seinem Leben machen, was ich aus meinem gemacht hätte, wenn es anders gelaufen wäre. Der abschließende Nachweis, dass Milky Tango unter den verschiedensten Wachstumsbedingungen das Mosaikvirus tolerierte, hatte ihm zu seinem guten Abschluss verholfen, obwohl er meine Vorarbeiten keineswegs unterschlug; er hatte ja nur den Schlussstein setzen müssen. Zu der Abschlussfeier trug ich eine Bluse mit langen Ärmeln; ich wollte die KaposiSarkome verdecken, die sich inzwischen über meinen ganzen Körper ausgebreitet hatten. Meine eigenen Forschungen haben eine ganz überraschende Wendung genommen.
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Früh im letzten Sommer habe ich mir einen Strahlenschutzanzug besorgt und bin zu meinem Haus gefahren, um nach dem verlassenen Garten und den Melonenbeeten zu sehen. Es tat weh, sich dieses Tohuwabohu ansehen zu müssen, aber das war nicht der Grund, warum ich gekommen war. Eric hatte die Abdeckfolie über den Milky-Tango-Beeten aufgerissen, um die sechs Früchte zu ernten. Folienreste flatterten um mich her, als ich niederkniete, um es mir genauer anzusehen. Ich konnte mir sehr gut seine Eile, seine Angst vorstellen, als er zwischen den Ranken wühlte, während im Haus der Drucker piepte und ratterte. Aber auch wegen solcher Erinnerungen war ich nicht gekommen. Die übrigen Melonen waren hier an Ort und Stelle verrottet, und der Samen von »Milky Tango< war die ganzen Monate der Witterung und der Strahlung ausgesetzt., Ich hatte zu viel über Alpha-, Beta- und Gammastrahlen gelesen, um nicht zu wissen, dass man damit gezielt Mutationen auslösen konnte, etwa um resistente Sorten zu erhalten. Also hatte ich mich nach einiger Zeit gefragt, welchen Effekt der radioaktive Niederschlag auf meine schon ziemlich resistenten Melonen haben würde. Ich wollte wissen, ob etwas von dem nun zufällig bestrahlten Samen den Winter überstanden hatte und ausgekeimt war - und das wollten auch meine neuen Arbeitgeber beim Verlag von Rodale wissen, die diese Expedition finanziert hatten. Auch unser Hobbs-Beobachter zeigte Interesse - genug jedenfalls, um mitzukommen und mir zu helfen. Kein Zweifel, es gab gut zwei Dutzend Pflänzchen in diesem Beet, die von allein gewachsen waren. Hin und wieder sah man an den Blättern, dass Käfer daran genagt hatten, aber das hatte ihnen nicht schaden können. Mit Godfreys Hilfe pflanzte ich jeden dieser Sämlinge, zusammen mit der verseuchten Erde, in einen der großen, torfgefüllten Töpfe, die wir zu diesem Zweck mitgebracht hatten. Zurück in Rodale pflanzten wir sie in ein besonderes Beet, abseits von den anderen Versuchspflanzen, und warteten, was geschah. Während wir warteten, brach die Krankheit aus. Die Zeit davor, die achtzehn Monate nach dem Reaktorunfall, war die glücklichste meines Lebens. Als die Pennsylvania State University beschloss, das College in Delaware endgültig aufzugeben, bot man den festangestellten Dozenten Stellen in einer der anderen Dependancen an; aber da hatte mir schon Rodale eine Stelle in seinem Verlag angeboten. Ich hatte ja viele Jahre für ihre Zeitschriften gearbeitet und kannte eine
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Reihe Redakteure und Autoren, so dass es nicht verwunderlich war, dass sie an mich dachten, als in jenem September eine Redakteursstelle bei ihrer jüngsten Zeitschrift frei wurde: Der Forscher im eigenen Garten. Ich kann mich noch an die Zeit erinnern, als dieser Teil Pennsylvanias reines Farmland war und Kutztown ein Städtchen mit einem kleinen College, einer Hauptstraße, einem schlechten Hotel und einem einzigen Restaurant. Doch die neue Autobahn hatte Industrie angezogen, und der Charakter dieser Landschaft war nun völlig verändert. Als ich jetzt nach Rodale kam, da war es die letzte Insel aus Grün in einem Meer von Fabrik- und Wohnbauten. Ich zog in eines der alten Farmhäuser, das dem Forschungszentrum gehörte, und fuhr täglich zu meiner Arbeit nach Emmaus, wo der Verlag war. Dass ich auf dem Gelände von Rodale wohnte, machte es einfacher, meine neuen Versuchsbeete im Auge zu behalten. Ich kämpfte jetzt nicht mehr gegen Krankheiten; mein Projekt befasste sich mit der Ertragssteigerung bei verschiedenen Kartoffelsorten. Ich hielt mich bei der Ernährung auch nicht mehr an die strengen Regeln: Die Kartoffelchips und ich, wir waren gute Freunde geworden. Die Gruppe gab es nicht mehr, wir waren in alle Winde zerstreut, doch fand ich neue Freunde, denen ich mich anvertrauen konnte. Auch das Zölibat gab es nicht mehr: Für einige Zeit wurde einer dieser Freunde mein Liebhaber. Als die Hobbs die Macht übernahmen, sahen sie sich um, ob sie nicht hier und da eine Insel intakter Natur finden konnten. Also interessierten sie sich für Rodale und für eine Landwirtschaft mit resistenten Pflanzen im allgemeinen - genug jedenfalls, um einen ständigen Beobachter oder Berater zu uns zu schicken, und das war Godfrey. Er wohnte bei mir in dem alten Haus. Er wusste von meiner Krankheit; als die Symptome des Spätstadiums auftauchten, hatte er keine Ruhe gegeben, bis er alles über AIDS wusste. Es ist ihm zu verdanken, dass die Suche nach einem Medikament wieder aufgenommen wurde, die man fast vergessen hatte, nachdem die Zahl der noch lebenden Opfer nicht einmal mehr die Zehntausend erreichte. Es sieht recht vielversprechend aus. Sie haben eine Möglichkeit gefunden, das Enzym zu blockieren, das die Replikation des Virus in der Zelle ermöglicht. Es ist ausgeschlossen, dass ich noch am Leben bin, wenn sie endlich die Nebenwirkungen des Medikaments im Griff haben - wenn ihnen nicht ein glücklicher Zufall zu Hilfe kommt. Aber Godfrey hat da eine Idee gehabt. Es ist ja bekannt, dass die Hobbs Winterschlaf halten und dass
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ihr Organismus dem unseren sehr verwandt ist. Godfrey meinte, dass es möglich sein müsse, eine Substanz herzustellen, die die neuntausendfünfhundert AIDS-Kranken und HlV-Positiven für einige Jahre in Tiefschlaf versetzen kann, bis das Medikament einsatzbereit ist. Das Problem ist, wie man es testen kann, wenn wir alle im Kälteschlaf liegen, denn natürlich werden die Gafr keine Tierversuche dulden. So werden wir wohl eine Weile schlafen oder schließlich an dem Medikament Schaden nehmen. Aber die Gafr haben dem Projekt zugestimmt, und ich frage mich ernsthaft, ob ich es nicht versuchen soll. Das Kaposi-Sarkom kann man nur durch Bestrahlung aufhalten, und davon habe ich schon genug abbekommen. Ich werde sowieso irgendwann an Krebs sterben, eher früher als später; nächsten Monat werde ich neunundvierzig. Da wäre noch etwas, das ich erzählen muss: eine verrückte Geschichte. Eine der Melonenpflanzen aus meinem verseuchten Garten erwies sich als absolut immun gegen das Mosaikvirus! Es ist eine ganz besondere Varietät, und für den kommerziellen Anbau wird sie sich nicht eignen, aber die Forscher von Rodale glauben, sie noch verbessern zu können. Ich habe schon erwähnt, dass Melonen wie alle Cucurbüaceae getrennte männliche und weibliche Blüten produzieren, die männlichen mit den pollentragenden Staubgefäßen, die weiblichen mit Stempel und Fruchtknoten. Eigentlich ist es nicht schwer, sie auseinanderzuhalten, weil der Fruchtknoten am Boden der weiblichen Blüte eine kräftige, behaarte Struktur ist, die männliche Blüte aber direkt dem zarten Stiel aufsitzt. Nun, die immune Sorte trägt männliche und weibliche Blüten, die genau gleich aussehen! Man kann sie nicht unterscheiden, solange man nicht den Blütenboden untersucht oder die Blütenblätter entfernt, denn der Fruchtknoten ist winzig und völlig in der Blüte verborgen. Auch die reife Frucht ist winzig, nicht größer als eine kleine Orange - viel zu klein, um für die Plantagen interessant zu sein, obwohl ich mir denken könnte, dass Hobbygärtner sie als Neuheit vielleicht schätzen werden. Ich habe dieser neuen Sorte offiziell den Namen Tiny Tango gegeben, ein Name, der sich in den Saatgutkatalogen sicher gut machen wird. Aber insgeheim nenne ich sie >TravestieSie< an - Nie auf schwedisch, wie es in letzter Zeit wieder in Mode gekommen war, nachdem das Wort gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts fast aus der schwedischen Sprache verschwunden war. Jeder, der ihnen zugehört hätte, hätte sofort gewusst, dass die beiden sich zwar kannten, aber nicht eigentlich Freunde waren. »Oh, ein Spaziergang, das wäre nicht schlecht«, sagte der Hobbs freundlich mit seiner tiefen Stimme. Sein Scheitel reichte gerade bis Anders' Schulter. Er trug Hemd, Hose und Schuhe, doch auf jeder Hautpartie seines Körpers, die nicht von einem Kleidungsstück bedeckt war, sah man graues Haar sprießen, und sein langer grauer Bart hing bis über den Gürtel. Also gingen sie auf dem sandigen Fußweg los, der zu beiden Seiten durch eine Reihe hoher Linden begrenzt wurde. >Valhallavägen< hieß die Straße, eine geschäftige, nicht unschöne Einkaufsstraße. Recht steif spazierte Anders unter den Bäumen dahin, der Hobb schritt energisch aus; es machte ihm kein bißchen Mühe, mit dem langbeinigen Mann mitzuhalten. Er sah sich um, und alles, was ihnen begegnete, erregte seine Neugier, ohne dass er unhöflich gewesen wäre - die Autos, das Postamt, die kleinen Läden, die Fußgänger, die des Wegs kamen. In der Hauptstadt jedes anderen Landes wäre sein Erscheinen eine Sensation gewesen, aber die Stockholmer, die den Hobb sahen und erkannten, warfen höchstens einen dezenten Blick auf ihn. Pomphrey dagegen spähte unter buschigen Brauen hervor nach den Leuten. Er genoß diesen Spaziergang sehr, während Anders mit
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jedem Schritt, den sie zurücklegten, verlegener wurde und verzweifelt wünschte, doch bloß vor allen Blicken geschützt in einem Taxi zu sitzen. Schließlich war die Straße zu Ende, eine riesige Wiese erstreckte sich vor ihnen. Die Gräser standen hoch, sie waren braun geworden in dem langen Sommer. Verstreut lagen hier und da einige gewaltige graue Steinblöcke, die die Eiszeitgletscher herbeigetragen hatten. »Da wären wir, das ist der Gärdet«, sagte Anders aufatmend, obwohl das eine ganz überflüssige Bemerkung war. »Die Pfadfinderinnen haben ihr Lager in dem Wäldchen beim Kaknästornet - Sie wissen doch, der Sendeturm«, und er deutete dorthin, wo in der Ferne über dem flachen Horizont eine Säule senkrecht aus dem Boden ragte wie eine mit Antennen bespickte Rakete. »Dort können wir zu Mittag essen, wenn Sie wollen - der Blick auf Djurgarden und den Kanal ist einfach atemberaubend.« Er stockte, als ihm einfiel, welche Menschenmassen im Sommer zur Mittagszeit in das Turmrestaurant strömten; aber Pomphrey sagte freundlich: »Ich bezweifle, dass wir überhaupt zum Essen kommen werden, und die Aussicht kenne ich schon. Wir werden sehen, machen wir erst mal keine Pläne, ja?« Anders hätte sich ohrfeigen können; was fiel ihm nur ein, sich wie ein Fremdenführer aufzuspielen? Er wusste doch, dass der Hobb schon seit fast zwei Monaten in der Stadt war. Er blickte zur Seite, um sein gerötetes Gesicht zu verbergen, und ging voraus; da war ein Trampelpfad in dem hohen Gras, der ungefähr in die Richtung des Turms führte. Viele Wochen hatte das ungewöhnlich heiße Wetter schon angehalten, und die Stockholmer nutzten die Gelegenheit, mit Kindern und Hunden in der Sonne zu spielen oder einfach dazuliegen, obwohl sie wussten, wie gefährlich die ultraviolette Strahlung sogar in Skandinavien war. Es schien aber, als wäre sich die Allgemeinheit überhaupt darin einig, möglichst vieles nicht zur Kenntnis zu nehmen - tatsächlich hätte man beim Anblick der Leute niemals vermuten können, wie sehr die Ereignisse des vergangenen Jahres ihr Leben verändert hatten, ganz zu schweigen von den Folgen für ihre Zukunft. In einiger Entfernung sah man einige Reiter über dem hohen Gras. Pomphrey betrachtete sie höchst interessiert, und sogar auf Anders wirkte das ungezwungene, familiäre Treiben auf der Wiese ein wenig ansteckend. Hier nahmen die Leute mehr Notiz von Pomphrey als in der Stadt oder während der U-Bahnfahrt; einige riefen »Hey!«, als er vorbeiging, und jedesmal grüßte der Hobb
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freundlich zurück. Doch einige reagierten abweisend; sie wandten den Blick ab und machten irgendeine Bemerkung zum Nebenmann; das aber ignorierte der Hobb. Anders schwitzte tüchtig, als sie endlich im Schatten der Birken auf der Anhöhe angekommen waren. »Sehen Sie sich das an.« Er deutete auf ein Miniaturschlößchen zu ihrer Linken, halbverdeckt zwischen den Bäumen. »Haben Sie gewusst, dass die Könige von Schweden von hier aus die Truppenparade abgenommen haben? Der Gärdet war ein Exerzierplatz, bevor er zum Erholungsgebiet für die Stockholmer wurde.« »Stockholm ist eine sehr schöne Stadt«, gab Pomphrey zu. »Überall anderswo hätte man auf diesem Gelände längst Häuser gebaut, und all diese Leute hier wüßten nicht, wo sie ihre Hunde an einem schönen Sommertag laufen lassen sollten.« Das war einfach eine Feststellung, kein Kompliment, für das man sich bedanken musste, und was hätte er dazu auch sagen sollen? Aber Anders freute sich trotzdem. »Die Pfadfinderinnen können nicht weit von hier sein; normalerweise darf man hier nicht campieren, sie haben eine Sondererlaubnis und stehen unter dem Schutz der amerikanischen Botschaft - ich glaube sogar, dass sie einige Marines herschicken, um nachts das Lager zu bewachen. Fragen Sie mich nicht, warum man so viel Aufhebens mit diesen Mädchen macht!« »Ich hatte es nicht vor.« Anders warf einen raschen Blick auf Pomphrey. Hatte er seine Bemerkung ganz wörtlich genommen? Oder war es ironisch gemeint? Wollte der Hobb ihn auf den Arm nehmen? Bei diesem Gedanken errötete er wieder, aber da sagte Pomphrey schon: »Ich glaube, ich rieche Rauch. Hat man ihnen auch erlaubt, hier draußen Feuer zu machen?« »Ich weiß es nicht, schon möglich. Es gibt eine Menge altes Holz hier zum Sammeln, wenn sie das vorhaben.« Kaum hatte er das gesagt, da standen sie an einem Weg, der zwischen den Birken hindurchführte; sie wandten sich nach rechts, in Richtung Turm. Nach einigen Minuten erreichten sie ihr Ziel: sechs Zelte, zwei Wachen, eine Feuerstelle und vielleicht zwanzig amerikanische Teenager, die damit beschäftigt waren, Holz zu sammeln, Brote zu schmieren oder an dem Topf über dem Feuer hantierten. Doch all das endete, als Anders und Pomphrey auftauchten. Diese Mädchen hatten offenbar noch nie einen Hobb gesehen, außer im Fernsehen natürlich; anders als die Schweden starrten sie
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ihn an, was ihre Augen hergaben. Niemand sagte ein Wort, aber nach einigen Sekunden ging eines der Mädchen in ein Zelt und tauchte, gefolgt von einer jungen Frau, wieder auf. Sie war wohl einige Jahre älter als er, schätzte Anders, und er blieb so aufrecht und selbstbewußt stehen, wie er nur konnte, denn er fand sie attraktiv. Die Frau kam auf die Besucher zu und sprach sie auf Englisch an: »Hello, Sie kommen vom Institut? Ich bin Brenda Hollis, ich habe heute morgen angerufen.« »Anders Eklund«, sagte Anders und reichte ihr die Hand. »Und dies ist Pomphrey. Der Hobb-Delegierte bei der schwedischen Regierung.« Brenda gab ihm mechanisch die Hand, sie hatte nur Augen für den Hobb, der nun auch seine Hand ausstreckte - eine Geste demonstrativer Höflichkeit. Er bemüht sich, den Bräuchen der Barbaren zu folgen, dachte Anders etwas ärgerlich, und es entging ihm nicht, dass Brenda Pomphreys behaarte Hand deutlich länger hielt als seine. »Sie heißen wirklich Pomphrey?» fragte sie. »Oder nennen Sie sich nur so?« »Nein, tatsächlich Pomphrey. Oder wenigstens fast genauso«, sagte der Hobb mit diesem typischen Lächeln. »Kommen Sie, setzen Sie sich«, sagte Brenda. »Leider kann ich Ihnen nur diese Steine als Sitzgelegenheit anbieten, aber wir kommen ganz gut damit zurecht. - Kinder, nun macht doch weiter! Bereitet alles vor und eßt, wenn ihr so weit seid, auch wenn ich noch beschäftigt bin«, wandte sie sich an die Pfadfinderinnen, die flüsterten und die Besucher anstarrten. Als die Mädchen widerwillig wieder an die Arbeit gingen, entschuldigte sich Brenda. »Hoffentlich nehmen Sie ihnen das nicht übel, es ist schon ein Erlebnis für sie, einem leibhaftigen Hobb zu begegnen. Bitte entschuldigen Sie.« Ihre Direktheit ließ Anders zusammenzucken, aber Pomphrey sagte: »Warum sollte ich es übelnehmen? Es gehört sich für die Jugend, sich für das Unbekannte zu interessieren. Wenn sie sich fürchteten, anstatt neugierig zu sein, dann könnte das gefährlich werden, und dann hätte ich vielleicht einen Grund, beleidigt zu sein.« Er sprach weitaus besser Englisch als Anders. Brenda hockte sich auf einen Granitblock und wartete, dass ihre Besucher sich setzten. Sie war genauso schlank wie ihre Mädchen und trug auch Jeans und Turnschuhe und dazu ein grünes Polohemd mit einem goldenen Kleeblatt auf der linken Brust. »Ich werde Ihnen erzählen, was ich schon Mr. Hildeman am Telefon
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gesagt habe; dann können Sie selbst sehen, ob sich der Weg hierher gelohnt hat.« Pomphrey war flink auf einen der Steine geklettert. Er nickte und lächelte leicht. »Wir werden Ihre Geschichte auf Band aufnehmen, wenn Sie nichts dagegen haben.« Anders zog ein winziges, sehr teures Tonbandgerät aus dem Beutel über seiner Schulter, legte es neben sich auf den Stein, drückte ein paar Knöpfe. »Das Mikrophon ist hochempfindlich. Also, fangen Sie an.« »Hier spricht Brenda Hollis. Wir befinden uns in einem Zeltlager auf dem Gärdet, nicht weit vom Kaknästornet, am Stadtrand von Stockholm. Wir haben den vierzehnten August 2011. Bei mir sind Anders Eklund vom Svenska Institutet und der Hobb-Delegierte Pomphrey. Ich bin die Führerin einer Pfadfindergruppe aus Allentown, Pennsylvania. Mein Bruder, Victor Hollis, der Kulturattache an der amerikanischen Botschaft ist, hat es ermöglicht, dass wir hier für eine Woche kampieren dürfen. Über das Schwedische Institut für Folklore hat er auch eine Reihe von Ausflügen und ein Unterhaltungsprogramm für uns organisiert, einschließlich eines Abends mit dem Volkskundler und Märchenerzähler Gunnar Lundquist. Mr. Lundquist war gestern abend hier, zusammen mit Elisabeth Hall vom Institut. Meine Pfadfinderinnen bereiteten das Essen, für sich und die beiden Gäste, danach saßen wir zusammen um das Lagerfeuer, und Mr. Lundquist erzählte seine Geschichten, zwei Stunden lang, vielleicht länger. Ich sollte auch erwähnen, dass Mr. Lundquist eine Flasche snaps mitgebracht hatte, aus der er sich von Zeit zu Zeit stärkte. Er war sicher die ganze Zeit etwas beschwipst, obwohl ich kaum glaube, dass es die Mädchen bemerkt haben - er nahm sich sehr zusammen, er sprach immer deutlich, er ließ nichts fallen oder torkelte gar.« Anders hielt das Tonband an. »Das ist eine ernste Sache, Miss Hollis, wenn Sie behaupten, dass das Svenska Institutet einen betrunkenen Märchenerzähler zu einer amerikanischen Pfadfindergruppe geschickt hätte«, sagte er und sah Brenda streng an. »Ich weiß. Elisabeth war es sehr peinlich, und sie entschuldigte sich nachher, bevor sie ihn wegbrachte - sie sagte, dass er sich schon früher als unzuverlässig erwiesen hätte, aber das wäre lange her. Doch würde sie nun dem Institut empfehlen, auf seine Dienste zu verzichten. Aber ob betrunken oder nicht - er ist ein begabter
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Erzähler, und die Mädchen waren begeistert. Soll ich weitermachen?« Anders schaltete mit säuerlicher Miene das Tonband wieder ein. »Er ist ein begabter Märchenerzähler«, wiederholte Brenda. »Er erzählte von Trollen und Wassergeistern, als hätte er sie selbst gesehen. Er war als junger Mann einige Zeit in Amerika, so dass er gut Englisch sprach; die Mädchen hingen nur so an seinen Lippen. Die letzte Geschichte, die er zählte, als er schon ziemlich betrunken war, handelte von einem tomte. Und diese Geschichte klang wirklich, als hätte er diesen tomte in seiner Kindheit gekannt, als er auf dem Hof seines Vaters in Südschweden lebte. Gestern habe ich mir nichts dabei gedacht; ich war zu gefesselt von seiner Erzählung, und außerdem war ich ständig in Sorge, ob er nicht irgendwann so betrunken sein würde, dass es auffiel, aber heute morgen wurde mir klar, was die Geschichte möglicherweise bedeuten könnte, und deshalb habe ich angerufen.« Die Pfadfinderinnen hatten sich versammelt, und plötzlich hörte man ein Lied aus ihrer Runde: Vor dem Brot, da war das Mehl Und vor dem Mehl gab es die Mühle Und Wind und Regen noch davor Und über allem Gottes Wille. Brenda lächelte. »Das Essen scheint endlich fertig zu sein. Sie brauchen immer noch eine ganze Stunde für drei Dutzend belegte Brote und einen Kessel Suppe. Mr. Lundquist sagte, dass damals, in seiner Kindheit, ein tomte auf dem Hof seines Vaters gelebt hätte. Er wohnte in der Scheune und half bei der Saat, bei der Ernte, beim Unkrautjäten und was auch immer auf so einem Bauernhof zu tun war. Alles das tat er in der Nacht, niemand hatte ihn je bei der Arbeit beobachtet. Mr. Lundquist sagte, dass seine Eltern, seine Onkel und die Helfer auf dem Hof über den tomte Bescheid wussten, doch sprachen sie niemals über ihn, und immer, wenn er als kleines Kind darauf zu sprechen kam, gebot man ihm zu schweigen. Es hieß, dass es gefährlich sei und Unglück bringe. Er erzählte, wie sein Vater und die Onkel immer darüber gestritten hatten, ob man die Scheune umbauen sollte, aber keiner hatte je das eigentliche Problem angesprochen: Es ging nicht um Sauberkeit und Hygiene oder um die Kosten - sie alle wussten, dass ein tomte niemals die Ernte in eine Scheune mit Zementboden einbringen würde; er wollte nackten Lehmboden haben. Und aus
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diesem Grund schoben sie die Modernisierung Jahr für Jahr vor sich her, ohne dass einer von ihnen jemals den wahren Grund genannt hätte! Und deshalb behielten sie ihre Pferde, nachdem schon alle anderen Bauern sich Traktoren angeschafft hatten, und sie behandelten ihre Pferde gut, sehr gut sogar, denn jedermann wusste, dass ein tomte Pferde liebte und besonders eifrig arbeitete, wenn man gewissenhaft für sie sorgte. Und so weiter ... Wie sie jedes Wochenende eine Schüssel mit Haferbrei vor die Tür stellten, dass der Löffel nur aus Holz oder Horn sein durfte, niemals aus Eisen und noch einiges mehr. Beschwipst oder nicht, der alte Knabe war wirklich gut. Es war, als sähe man es mit eigenen Augen. Das ging so, bis Gunnar Lundquist vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war. Er und der tomte waren gute Freunde, soweit das möglich war, denn es ist schwierig, gut Freund mit einem Wesen zu werden, das so >empfindlich< ist - so nannte er es. Aber eines Tages kam der tomte zu ihm, als er gerade seine Schularbeiten machte, und er hatte ihm Wichtiges zu sagen. Aus heiterem Himmel erklärte er dem verdutzten Jungen: >Ich bin der letzte meiner Art. Alle meine Kameraden sind tot. Es ist höchste Zeit, dass auch ich verschwinde, aber ich werde deine Hilfe brauchen, Gunnar.Soll das heißen, dass alle anderen tomtes in Schweden tot sind?< Und der tomte sagte: >Das ist nicht genau das, was ich meine, aber das ist jetzt unwichtig. Ich brauche dich, du musst nachdenken. Überleg einmal: Wo ist der kälteste Ort, an den du mich bringen könntest? Und wie können wir dorthin kommen? Wenn du je mein Freund warst, dann hilf mir jetzt. Du musst es tun, denn du bist der einzige, der mir noch helfen kann. < Nun gut, um es kurz zu machen: Lundquist war sehr bekümmert und besorgt um seinen Freund, aber er hatte schließlich eine Idee. Sie konnten doch mit dem Zug nach Norden fahren, wenn man Lexi, den tomte, als Liliputaner ausgab.« Pomphrey hatte angefangen zu zittern, dass es seinen ganzen Körper schüttelte. »Lexi«, murmelte er mit unsicherer Stimme und glitt von dem Stein hinunter. Er ging zu Brenda hinüber und legte seine behaarte Hand auf ihr Knie. »Der Name des tomte war Lexi?« Brenda starrte ihn an. Sie fröstelte. »Ich hätte es gleich sagen
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sollen. >Lexi< oder >AlexitomteKritischen Theorie< angeheuert. Immer mehr Studenten drängten sich in immer weniger Vorlesungen und Seminare. Die Seminare waren überfüllt, weil so wenige angeboten wurden, denn die Superstars der >Kritischen Theorie< waren ständig auf Reisen. Wir korrigierten mehr Arbeiten, saßen länger in unseren Büros und langweilten uns noch öfter bei den Sitzungen der verschiedenen Gremien als je zuvor. Wir jammerten auch jede
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Menge und redeten ständig davon, dass wir uns vorzeitig pensionieren lassen würden. Beruflich war es keine schöne Zeit. Es waren die Abende und Wochenenden in Haverford, die uns wieder aufrichteten in diesen trüben Jahren. Eine Knieverletzung hatte mich gezwungen, meine Laufschuhe mit einem Heimtrainer zu tauschen, aber ich schaffte es trotzdem, einen Nachmittag in der Woche zum Park zu fahren. In diesem Sommer, Jeff war vier und Liam fast vier, gab es endlich eine Impfung gegen die von Zecken übertragene Lyme-Krankheit, und ich konnte die beiden gelegentlich mitnehmen. Auf dem Weg hielten wir immer an einer Batterie von Recyclingbehältern, und die Kinder durften das gesammelte Glas nach Farbe sortiert in die riesigen Container werfen. Sie liebten es, Karton um Karton mit Gläsern und Flaschen zu zerschmettern, und kreischten dabei vor Freude, während sie die weniger aufregende Aufgabe, Metall, Papier und Plastikmüll loszuwerden, mir überließen. Wir machten dann noch einmal Halt, um etwas Gebäck zu kaufen, bevor wie die kurvige Straße zum Park hinauffuhren. Schon vor Liams Geburt hatte ich von solchen Ausflügen in den Park geträumt: Ich hatte mich gesehen, wie ich am Bach entlangging, dann den >Weißen Weg< hinauf, mit einem kleinen Jungen an der Hand. Aber nun schien es mir ganz selbstverständlich, dass es zwei waren, ebenso selbstverständlich wie es Anne und Terry erschienen war, Jeff nicht von Liam zu trennen, indem sie umzogen oder ihn in den Kindergarten schickten. Und wenn man die beiden sah, dann wagte man nicht einmal im Traum daran zu denken, sie zu trennen. Sie gehörten einfach zusammen. Ich hatte nicht viele Kinder aufwachsen sehen, wusste wenig über ihre Freundschaften, aber sogar mir fiel auf, dass sich hier etwas Besonderes abspielte. Ganz sicher hatte es in meiner eigenen frühen Kindheit eine Freundschaft dieser Art nicht gegeben. Instinktiv wünschte man, diesen beiden nicht im Weg zu sein, ihre Beziehung zu respektieren und zu unterstützen, weil man fühlte, dass so viel Übereinstimmung sogar in einer Ehe selten war. Liam O'Hara war ein bezauberndes Kind mit einem hübschen Gesicht. Etwa zu der Zeit, als er sprechen gelernt hatte, wurde mir klar, dass ein Teil seiner Anziehungskraft auf mich auf der Eigenart seines Wesens beruhte; seine Aussprüche, seine Bemerkungen waren so erstaunlich, so originell, dass wir immer davon redeten, wir müssten sie aufschreiben. Am Unabhängigkeitstag des Jahres, in dem Liam sechs wurde, hatten Matt und ich alle vier Kinder dick mit Sonnenschutzmittel
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eingeschmiert und sie zum Umzug in die Stadt mitgenommen. Wir waren recht früh da und saßen nun ganz vorne am Bordstein, während die Festwagen und Polizeikapellen an uns vorbeizogen. Liam hatte eine Woche zuvor den Arm gebrochen; er trug einen Gips, an den er sich noch immer nicht recht gewöhnt hatte. Aber es war ein schöner Tag, und jedermann schien sich zu freuen. Nach einer Stunde drehte sich Liam zu mir und sagte ganz ernst: »Mein Gips ist mir immer noch lieber als dieser Umzug.« Jeff war da eher ein sonniges Gemüt, von weniger ausgeprägter Eigenart als Liam. Schon mit sechs fiel seine schöne und kräftige Singstimme auf. Man sprach davon, ihn auf eine Schule zu geben, die zugleich im Chorsingen ausbildete, so gut war er; und als Terry 2002 nach Washington ging, überlegten er und Anne ernstlich, ob nicht die ganze Familie nach drei oder vier Jahren nachkommen sollte, damit Jeff im Chor der Washington Cathedral singen und zur St.-Albans-Schule gehen konnte. Anne würde mit Leichtigkeit eine neue Arbeit finden. Doch als der Augenblick der Entscheidung kam, da gab es Auseinandersetzungen zwischen Anne und Terry, und es dauerte eine Weile, bis die Krise wieder bereinigt war. Anne wünschte, dass Jeff seine Chance als Chorknabe an der Kathedrale erhielt, Terry aber wollte, dass Jeff in Haversford blieb und mit Liam die Quäkerschule in Germanstown besuchte - das war ihm noch wichtiger als die Aussicht, die Familie bei sich in Washington zu haben. Weil ich wusste, dass Terrys Eltern geschieden waren und er seinen Vater früher sehr vermißt hatte, überraschte mich das. Noch überraschter war ich, als mir klar wurde, dass er die beiden Jungen um keinen Preis trennen wollte, auch wenn das bedeutete, dass Jeff im Südosten von Pennsylvania blieb - und obwohl er wusste, dass der Tag des Reaktorunfalls nicht mehr fern sein konnte. Vielleicht glaubte Terry, dass Jeff so lange sicher war, wie er mit Liam zusammen war. Anne hielt ihm entgegen, dass Liam und Jeff sich doch an den Wochenenden besuchen konnten und dass es ihnen guttun würde, mehr Kontakt mit anderen Kindern zu haben, aber Terry ging nicht darauf ein. Der Streit brachte einiges zu Tage, was nie ausgesprochen worden war. So sehr Anne Phoebe auch schätzte, jetzt kam heraus, dass sie eifersüchtig war: Sie mißgönnte Jeffs langjährigem >Kindermädchen< die Zuneigung, die er ihr entgegenbrachte, und hatte auch kein Verständnis für Terrys übertriebene Aufmerksamkeit für den Jungen der Freundin. Sie fühlte sich aus diesem Kreis ausgeschlossen, glaubte sich
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zurückgesetzt, und ihr Gefühl war nicht ganz unbegründet. Niemand wollte sie ausschließen, aber die Wahrheit war, dass Phoebe und Terry sich weit mehr um die beiden Jungen kümmerten als ihre jeweiligen Ehepartner. Das meiste davon erfuhr ich von Terry erst Jahre später. Damals spürte ich nur eine gewisse Kühle und Schroffheit im Umgang der Ehepartner und konnte mir nur ganz grob vorstellen, woher ihre Unstimmigkeiten kamen. Sie gingen einer Entscheidung erst einmal aus dem Weg, indem sie Jeff Gesangsunterricht geben ließen und ihn zum Vorsingen beim Philadelphia-Knabenchor anmeldeten. An einem Samstag im Oktober, an dem Jeff Gesangstunde hatte, holte ich Liam zu Hause ab und fuhr mit ihm zum Park, um spazierenzugehen. Liam war damals sieben Jahre alt und immer noch klein für sein Alter und ein ernstes Kind voller Eigenart. Nun, da er älter war, nahmen wir ihn manchmal auf seinen Wunsch hin zu uns; und obwohl Matt und ich von diesem Kind einfach hingerissen waren, nutzte er das nicht aus. Bei diesen Besuchen offenbarte sich immer wieder Liams ungewöhnliche Ordnungsliebe, eine Neigung zum Ritual, die fast schon krankhaft scheinen mochte, aber ich sah hierüber hinweg, wusste ich doch, wie schwer es eine auf Übersicht und Ordnung achtende Natur in dem chaotischen Haushalts Phoebes haben musste. So nahmen wir auch immer genau denselben Weg, den ich auch an jenem Halloween-Nachmittag vor vielen Jahren mit Terry gegangen war: vom Parkplatz am Bach entlang bis zu der Stelle, wo der >Weiße Weg< begann, dann den Hügel hinauf bis zu der Stelle, die Liam den >Zackenfelsen< getauft hatte. Und Mal um Mal kletterten wir hinauf und setzten uns dort auf den Stein, wo Terry und ich gesessen hatten; wir ließen die Beine baumeln, und Liam packte Tee und Krapfen aus. Nach einer Weile schraubte er dann die Thermosflasche zu, schulterte die Tragetasche, und wir gingen zurück zum Auto, dann stets über den >Blauen< und den >Roten< Weg. Unterwegs machten wir kurz Halt bei immer demselben Baum, der zum Klettern einfach ideal war. Ich selbst konnte noch ganz ordentlich klettern, doch kam ich rasch außer Atem, aber Liam sauste flink wie ein Äffchen den Stamm hinauf und wieder hinunter. Wenn wir zur rechten Zeit losgegangen waren, so dass es gegen Ende unseres Spazierganges dämmerte, dann konnten wir oft Hirsche hören oder gar sehen, wenn sie durch das Dickicht flohen. Ich hatte den beiden Jungen oft jene Geschichte erzählt, als ich auf diesem Felsen gesessen und die Hirsche bei der Paarung
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beobachtet hatte: Wie der Hirsch die Hindin den Hügel hinaufgejagt hatte und sich genau vor meinen Füßen auf sie stürzte, beide zu beschäftigt mit ihrem Tun, um irgend etwas wahrzunehmen oder sich stören zu lassen. Ich erwähnte allerdings nie, dass Jeffs Vater an jenem Tag dabei war. An diesem Nachmittag ließ ich mir von Liam meinen Krapfen und die Tasse Tee geben, und eine Weile aßen wir schweigend, genossen die Stille und das milde Wetter, das uns erlaubte, auf das übelriechende Sonnenschutzmittel zu verzichten, ohne das man im Sommer nicht nach draußen gehen konnte, nachdem die Ozonschicht nun so dünn geworden war. »Werdet ihr euch heute abend verkleiden und von Haus zu Haus gehen, du und Jeff?« fragte ich ihn dann. »Vielleicht«, sagte Liam. »Er hat heute Probe, aber er könnte rechtzeitig zurück sein.« »Als was wirst du gehen?« »Als Raumfahrer. Wir gehen beide als Raumfahrer. Wir haben die Kostüme selber gemacht, na ja, Mutter hat geholfen. Aber das meiste haben wir allein gemacht. Ich habe mir die Helme ausgedacht und Jeff die Sauerstoffbehälter.« Ein Raumfahrer. Ich schaffte es, mit ganz normaler Stimme zu fragen: »Ein Astronaut, also?« »Nein, ein Raumfahrer von einem anderen Planeten, Außerirdische! Beide vom selben Planeten.« »Und was werden das für Außerirdische sein?« »Das wirst du sehen, wenn wir wieder zu Hause sind. Sie kommen von einem Planeten mit sehr großer Schwerkraft, deshalb haben sie auf der Erde das Gefühl, zu fliegen. Und sie haben riesige Füße und recht kleine Köpfe, und keine Haare. Sie sehen einfach schrecklich aus«, erklärte er zufrieden und nahm einen großen Bissen von seinem Krapfen. »Aber sie sind furchtbar nett«, fügte er hinzu. Wie ich ihn so seinen Krapfen halten sah, sagte ich mir, dass ich noch nie im Leben ein so feines Handgelenk gesehen hatte. »Das hört sich aber nach einer Menge Arbeit an, wo ihr noch nicht einmal sicher seid, ob ihr heute losziehen könnt«, sagte ich zärtlich. »Das macht nichts«, sagte Liam gelassen. »Wir haben ein Halloween-Fest in der Schule, und dafür brauchen wir die Kostüme allemal. Ich werde sie dir zeigen, wenn wir nach Hause kommen erinnere mich daran.« »Sag mal, wie gefällt es eigentlich Jeff in dem Chor?« »Ganz gut, er mag die Sachen, die sie da singen.« Er
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verstummte, und eine Minute verging, bis er hinzufügte: »Mir gefällt diese Art Musik nicht besonders, aber ich würde gerne mit Jeff in den Chor gehen. Glaubst du, dass ich lernen könnte, diese Musik zu mögen, wenn ich sie singen könnte?« Er sah zu mir auf, und er wirkte jetzt so traurig, dass einem das Herz brechen wollte. »Mein Kleiner, ich weiß nicht, ob du dich daran noch erinnern kannst ... Du warst gerade fünf, da hast du bei uns zu Hause >Sesamstraße< angeschaut, und als sie anfingen >Rockabye Baby< zu singen, da fingst du an zu weinen. Du hast auf dem Fußboden gespielt, aber in dem Augenblick, als du das Lied hörtest, da bist du in Tränen ausgebrochen, bist zu mir gelaufen und auf meinen Schoß geklettert; und immer wieder hast du gesagt, dass das Lied dich so traurig macht. Kannst du dich erinnern?« »Überhaupt nicht! >Rockabye Baby