Seewölfe 254 1
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Der Seewolf kriegte das Hemd des Jungen im letzten Augenblick zu fassen. Er spürte...
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Seewölfe 254 1
John Roscoe Craig 1.
Der Seewolf kriegte das Hemd des Jungen im letzten Augenblick zu fassen. Er spürte, wie der Stoff riß, packte nach und erwischte Hasard so hart am Arm, daß dieser vor Schmerz unterdrückt aufschrie. Eine riesige Woge brach über die „Isabella herein, und der Seewolf hatte das Gefühl, als würde die Galeone von der Faust eines Titanen unter Wasser gedrückt. Krampfhaft hielt er den Arm seines Sohnes fest. Zorn brannte in ihm, Zorn auf seinen Sproß Hasard, der sich an Deck geschlichen hatte, um den schlimmsten Sturm, den sie seit Wochen zu überstehen hatten, hautnah mitzuerleben, wie er seinem Bruder erzählt hatte. Der Seewolf schluckte Wasser und begann keuchend zu husten. „Au!“ brüllte Hasard. „Du tust mir weh, Dad!“ „Dir wird bald noch ganz was anderes weh tun, Sohn!“ brüllte sein Vater zurück. „Was hast du hier oben zu suchen, he? Verdammt, der Brecher hätte dich von Deck gewischt, wenn ich dich nicht im letzten Moment geschnappt hätte!“ Ein Schatten tauchte neben ihnen auf. Es war Carberry, der von oben bis unten durchnäßt war. Seine dunklen Haare hingen ihm in Strähnen in die Stirn. Er wies mit der linken Hand zum Focksegel hinüber, das als einziges noch gesetzt war. Der Seewolf sah, wie sich die Lippen des Profos bewegten, aber er verstand kein Wort. Er folgte mit den Augen der Handbewegung Carberrys und erkannte voller Entsetzen den breiten Riß, der sich vom rechten Liek aus in Sekundenschnelle verbreiterte. Er sah, daß ein paar Männer versuchten, die Fock zu bergen, und er wollte brüllen, daß es keinen Sinn mehr hätte. Er wußte, daß er den ohrenbetäubenden Lärm des Sturmes nicht übertönen konnte. Er zerrte Hasard zum Niedergang, preßte mit der linken Schulter die Tür gegen den Wind auf und schob den Jungen durch den Spalt. Mit einem Krachen flog, die Tür wieder zu, polternd fiel der Junge die
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Stufen hinunter, aber sein Fluchen ging in den tosenden Naturgewalten unter. Der Seewolf bedeutete Carberry, auf dem Achterdeck zu bleiben und Pete Ballie im Ruderhaus zu helfen, die „Isabella“ einigermaßen am Wind zu halten, solange die Fock noch nicht ganz zerfetzt war. Carberry nickte, brachte seinen Mund dicht an Hasards Ohr und schrie: „Wir sollten einen Treibanker auswerfen!“ Der Seewolf brüllte zurück: „In Ordnung!“ Dann schlitterte er über das nasse Deck, griff nach einem Tampen und konnte seine Höllenfahrt gerade noch abbremsen, bevor er gegen das Steuerbordschanzkleid geschleudert wurde. Keuchend krallte er sich an den Brooktauen der Culverine fest und holte tief Atem, bevor ihn der nächste Brecher überrollte. Es war ihm, als wollten die Wassermassen kein Ende nehmen. Rote Kreise begannen, vor seinen Augen zu tanzen. Er fühlte sich von einer unwiderstehlichen Kraft in die Tiefe gezogen, und erst als das Donnern der kochenden See wieder an seine Ohren drang, öffnete er den Mund, um nach Atem zu schöpfen. Er mußte alle Kraft aufwenden, um Luft in seine Lungen zu pumpen. Der Sturm riß ihm die Luft vor dem Mund weg. Er brauchte Sekunden, die ihm wie lange Minuten erschienen, um seine Orientierung wiederzufinden. Seine Augen weiteten sich, als er die Fock sah. Sie bestand nur noch aus einem Dutzend kleiner Fetzen, die an den losgerissenen Lieks wie Wimpel flatterten. Die Halsen und Schoten zischten über Deck wie riesige Peitschen. Der Seewolf hielt nach den Männern Ausschau, die versucht hatten, die Fock im letzten Augenblick zu bergen. Er sah zwei Schatten im Fockmars, und er hoffte, daß die Männer sich mit Tampen gesichert hatten. Jetzt brach eine Woge nach der anderen über die „Isabella“ herein. Der Atem wurde Hasard knapp. Er wußte, daß er nichts tun konnte. Als er den Kopf wandte, sah er, daß es Carberry und Ferris Tucker
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mit drei anderen Männern gelungen war, einen Treibanker auszuwerfen, der aus einer Gräting und ein paar daran festgezurrten Spieren bestand. Ein Ruck ging durch den Rumpf des fast steuerlosen Schiffes, und dann hatte Hasard das Gefühl, als wären die rollenden und stampfenden Bewegungen des Schiffes nicht mehr so stark. Er arbeitete sich vor bis zur Balustrade. Etwas zischte haarscharf an seinem Ohr vorbei. Es war offensichtlich ein Belegnagel, der von der Wucht des Sturmes aus der Nagelbank auf der Balustrade herausgerissen worden war, denn dort fehlte einer. Eine weitere Woge schwappte über die Kuhl und krachte auf das Boot, das bisher allen Gewalten getrotzt hatte. Mit dem abfließenden Wasser .sah Hasard zersplitterte Stücke von den Riemen über Deck rutschen. Ein Ruderblatt erwischte einen Mann, der sich an der Lenzpumpe festgezurrt hatte und mit einem anderen versuchte, trotz der schweren See den Schwengel zu betätigen. Hasard erkannte Stenmark und Bob Grey. Der Schwede wurde von dem Ruderblatt von den Beinen geholt, die nachfolgende Sturzsee schleuderte ihn gegen Bob Grey, und wenn sie beide nicht Halt an den Tampen gefunden hätten, die fest um ihre Hüften geschlungen waren, wären sie sicher über Bord gegangen. Sie hielten sich aneinander fest und schafften es, die Füße wieder auf die Planken zu bringen, bevor der nächste Brecher heran war. Hasard wußte, daß es lebensgefährlich war, sich ohne Sicherung bei einem solchen Sturm über Deck zu bewegen, aber er mußte hinunter in die Kuhl. Die schlagenden Halsen und Schoten der Fock ließen ihm keine Ruhe. Minutenlang mußte er sich neben dem Niedergang zur Kuhl festklammern und die unablässig über das Schiff hereinbrechenden Wassermassen abwarten, bevor die aufgewühlte See ihm eine Verschnaufpause gönnte und er mit einem
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schnellen Satz den Niedergang hinunterspringen konnte. Für einen kurzen Augenblick flaute das orgelnde Heulen des Orkans ab, und in diese Stille hinein hörte Hasard das Geräusch, das er schon befürchtet hatte. Es klang wie das Schreien eines Mannes, der sich gegen den Tod stemmt, aber Hasard wußte, daß es nur das Knirschen des Vormastes war, der nicht länger der Wucht des Sturmes standzuhalten vermochte. Der Seewolf brüllte einen Befehl zum Fockmars hinauf, und einer der beiden Männer, die sich dort oben festgezurrt hatten, schob seinen Kopf über die Saling. Hasard erkannte Gary Andrews. Wahrscheinlich hatte er den Ruf Hasards vernommen, aber nicht verstanden, was der Seewolf wollte. Neben Gary tauchte Dan O’Flynns nasses Gesicht auf, und er schien zu merken, in welcher Gefahr sie sich befanden. Das Knirschen des Vormastes wurde lauter. Matt Davies und Blacky waren plötzlich neben Hasard und krallten ihre Finger in seinen Gürtel. Im nächsten Moment fühlte er sich hochgehoben. Für einen Augenblick dachte er, Matt und Blacky wollten ihn nach beiden Seiten auf einmal zerren, doch dann war wieder gurgelnde Nässe um ihn. Ein Ruck ging durch seinen Körper, und er wußte, daß es diesmal mit ihm ausgewesen wäre, hätten die beiden Männer nicht geistesgegenwärtig zugepackt. Er spuckte Wasser und keuchte, und sein erster Blick galt dem Vormast. Noch wurde er von den Wanten und Stagen gehalten, aber Hasard meinte, ihn heftiger schwanken zu sehen als sonst. Offensichtlich hatten sich die Wanten unter der Kraft des Sturmes wieder gedehnt, obwohl der Seewolf sie hatte durchsetzen lassen. Seine Augen weiteten sich, als er etwa drei Faden über den Decksplanken des Vorschiffes eine Bruchstelle im Vormast entdeckte. Ein handbreiter Riß zog sich über eine Elle quer durch den Mast. Es war nur eine Frage der Zeit, wann die Wanten
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brechen und der Mast ohne Halt aufs Deck der „Isabella“ krachen würde. Auch Matt und Blacky hatten den Riß im Vormast entdeckt. Blacky schrie etwas zum Vorschiff hinauf, und Gary Andrews beugte sich über die Saling. Er schien zu wissen, was sich unter ihm abspielte, denn der Seewolf sah, wie er sich loszurrte und einen günstigen Moment abwartete, in dem er sich über die Saling schwingen und über die Webleinen der Backbordwanten hinunter an Deck hangeln konnte. Dan O’Flynn war noch schneller als er, obwohl er erst nach Gary aus dem Mars geklettert war. Sie konnten sich gerade noch an der Nagelbank vor dem Mast festklammern, als der Bug der „Isabella“ sich senkte, tief in ein Wellental tauchte und von einer schweren See überrollt wurde, ehe er sich wieder aufrichten konnte. Die Sekunden danach, als das Wasser gurgelnd wieder ablief, nutzten der Seewolf, Matt Davies und Blacky, um auf das Vorschiff zu gelangen. An Steuerbord tauchten plötzlich Batuti und Smoky auf, nutzten ebenfalls die Pause, die der Orkan ihnen vergönnte, und hasteten auf die Nagelbank vor dem Mast zu, an den sich schon Gary Andrews und Dan O’Flynn klammerten. Hasard und Matt Davies starrten sich an. „Wir müssen eine Spiere nehmen, sonst verlieren wir den Mast!“ brüllte der Seewolf. Matt nickte. Er hatte verstanden, wartete den nächsten Brecher ab, und als der Seewolf sich kurz darauf zu ihm umwandte, war Matt verschwunden. Ein Schreck durchzuckte Hasard. Er dachte schon, Matt wäre über Bord geschwemmt worden, doch er atmete auf, als er ihn Sekunden später auf der Kuhl sah. Ferris Tucker war plötzlich neben Matt. Andere Schatten bewegten sich neben ihnen. Der Seewolf sah, daß Stenmark und Bob Grey nicht mehr an der Lenzpumpe arbeiteten. Wahrscheinlich hatte Tucker sie dort weggeholt, weil es sinnlos war, die Pumpe bei den immer wieder über Deck gehenden Wassermassen zu betätigen.
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Die Männer auf dem Vorschiff hatten Mühe, den peitschenden Schlägen der losgerissenen Halsen und Schoten auszuweichen. Ferris Tucker stand wie aus dem Deck gewachsen plötzlich neben dem Seewolf. „Wir müssen die Fockrah nehmen!“ brüllte er. „Wir können die Luken nicht öffnen, wenn wir nicht absaufen wollen!“ Seine letzten Worte gingen im Heulen des Orkans unter, aber Hasard hatte verstanden: Er war sich bewußt, was das bedeutete. Die Männer mußten die Wanten hinauf zum Mars, um die Rah zu lösen, und wenn sie es im falschen Moment taten, würde ihnen die Spiere um die Ohren fliegen und die gesamte Takelage der „Isabella“ in ihre Einzelteile zerlegen. Dazu war es ein Kampf gegen die Zeit. Mehr als eine halbe Stunde gab Hasard dem Mast nicht mehr. Der Riß hatte inzwischen die Länge eines Armes. Für Hasard gab es nichts zu überlegen. Er konnte den Männern befehlen, in die Wanten zu klettern und die Rah am festen Rack zu lösen, aber er wußte nicht, wen er der tödlichen Gefahr aussetzen sollte. Ferris Tucker brüllte etwas, das im Heulen und Tosen des Windes nicht zu verstehen war, aber da hangelte sich der Seewolf bereits in den Wanten hoch. Er mußte eine überrollende Woge abwarten, dann kletterte er weiter und erreichte die Unterseite der Saling. Das Kreischen des Holzes an der Rißstelle bereitete ihm fast körperliche Schmerzen. Er arbeitete schnell und geschickt. Mit einem kurzen Blick hinunter auf Deck sah er, daß Ferris Tucker die Männer eingeteilt hatte und darauf vorbereitet war, die Fockrah in der Senkrechten abzufieren. Der Schiffszimmermann selbst hatte seine Axt gepackt und begann, auf die Decksplanken dicht hinter dem Fockmast einzuhacken. Holzsplitter flogen. Stenmark und Batuti hielten das Tau, das Ferris Tucker sich um die Taille geschlungen hatte. Wieder zerrte ein Brecher an ihnen, aber sie hielten den Wassermassen stand. Dann war es soweit. Der Seewolf stand bereits wieder an Deck und faßte mit an.
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Die Backbordnock der Fockrah senkte sich. Schwielige Männerhände packten zu und hielten die Spiere in der Senkrechten. Auf einen Befehl von Ferris Tucker ließen die Männer los. Alle hielten den Atem an. Sie hörten das Krachen, mit dem die Spiere das Deck durchbohrte, und auf einmal stand die Fockrah fest wie ein Mast vor dem schwankenden Fockmast, der den nächsten schweren Brecher nicht überstehen würde. Blitzschnell waren die Männer dabei. die Spiere fest am Mast beizulaschen. Ferris Tucker schrie immer wieder Befehle, die sofort ausgeführt wurden. Einen Moment war noch das Knirschen des Mastes zu hören, dann brach wieder eine schwere See über sie herein. Jeder von ihnen wußte, daß dies die Bewährungsprobe für den angeschlagenen Mast war, und als das Wasser ablief, wußte der Seewolf, dass sie gesiegt hatten. Der Mast mit der angelaschten Spiere stand wie eine Eins. Er sah die vor Nässe glänzenden Gesichter seiner Männer, in denen der Triumph zu lesen war, daß sie einmal mehr den Gewalten der See getrotzt hatten, und Hasard spürte, daß dies einer der Augenblicke war, in denen er das Leben am meisten liebte. Sie hatten einen Kampf auf Leben und Tod ausgefochten, und sie hatten ihn nur gewinnen können, weil einer für den anderen stand. „Er hält!“ brüllte Ferris Tucker gegen das Heulen des Windes. „Jetzt kann der Orkan noch tagelang blasen!“ Lieber nicht, dachte Hasard, der sich hinunter auf die Kuhl gleiten ließ. Er sah, wie Dan O’Flynn zurück in den Fockmars kletterte und Geitau und Liek der Fock an der Steuerbordnock der Fockrah kappte. Er wollte zurück aufs Achterdeck, als er Fetzen von Dan O’Flynns Stimme hörte. Er krallte sich mit beiden Händen am Brooktau einer der Culverinen fest und starrte zum Fockmars hinauf. „Was ist los?“ brüllte er durch den Wind. „... Boot - Steuerbord voraus ...“
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Hasard ahnte mehr, was Dan rief, als daß er es verstand. Ein Boot bei dieser schweren See? Er watete durch ablaufendes Wasser durch die Kuhl und duckte sich neben den Stufen, die hinauf zum Achterdeck führten, als eine Welle gegen das Schanzkleid donnerte und Gischt ihm in die Augen trieb. Gleich darauf hatte er die Stufen erklommen und stemmte sich gegen den Sturm an der Galerie entlang nach Steuerbord. Da! Jetzt hatte er es für einen kurzen Moment gesehen. Es war tatsächlich ein Boot. Eine Nußschale, nur wenig größer als das Boot, das sie auf der Kuhl mit sich führten. Es hatte einen Mast, an dem sogar noch ein kleines Segel flatterte, aber in den unberechenbaren Winden des Orkans war es nutzlos. Er sah, wie sich das Boot auf dem Kamm eines Wellenberges einmal um sich selbst drehte, dann war es wieder hinter Bergen von kochendem Wasser verschwunden. Carberry tauchte neben Hasard auf. Auch er hatte das Boot gesehen. Hasard machte ihm Zeichen mit der rechten Hand, und Carberry verschwand zum Ruderhaus hinüber. Es würde nicht einfach sein, der „Isabella“ ohne Segel einen anderen Kurs zu geben, aber versuchen mußten sie es. Es war ein Wunder, daß das Boot noch schwamm. Es sah aus, als würde es immer wieder von dem gepeitschten Wasser ausgespuckt. Einmal sah Hasard drei Schatten in dem kleinen Boot. Einer der Insassen trug ein weißes Hemd, das durch die Dunkelheit leuchtete. Sie näherten sich tatsächlich einander. Auch die drei Menschen in dem kleinen Boot hatten ihre Chance erkannt. Der Mann mit dem weißen Hemd tat das einzig Vernünftige, was ihm in dieser Situation übrigblieb: Er kappte die Schot des kleinen Luggersegels, das sofort vom Orkan erfaßt wurde und mitsamt der Spiere davonflog. Es war, als hätte einer der Titanen tief Luft geholt und alles in sich eingesogen. Der Seewolf preßte die Lippen aufeinander. Es war fast unmöglich, bei dieser See die drei Menschen an Bord der „Isabella“ zu holen. Bevor es ihnen
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gelingen konnte, Taue hinüber zu dem Boot zu werfen, konnte eine einzige der riesigen, unberechenbaren Wellen die Nußschale gegen die Bordwand der Galeone schmettern und in ihre Einzelteile zerlegen. Keiner der drei Insassen würde diesen Anprall überleben. Dennoch wußten die Männer auf der „Isabella“ und sicher auch die drei Menschen in dem Boot, daß es die einzige Möglichkeit war, dem Tod noch einmal von der Schippe zu springen. Es sah nicht danach aus, als würde der Orkan nachlassen, und eine weitere Stunde konnte sich das Boot sicher nicht über Wasser halten. Die Wellenberge türmten sich so hoch, daß es manchmal den Anschein hatte, als befinde sich das Boot in Höhe der Masttopps der „Isabella“. Ferris Tuckers Stimme schrie einen Befehl auf der Kuhl, und Hasard ahnte, daß die Männer ihre Taue bereithielten, die sie zum Boot hinüberwerfen wollten, wenn es in Reichweite geriet. Immer wieder nahmen die Wassermassen den Männern die Luft und die Sicht. Hasard brauchte nach einem schmetternden Brecher Minuten, um sich wieder zurechtzufinden. Er nickte grimmig, als er sah, daß es Pete Ballie dank des Treibankers gelang, die „Isabella“ in etwa auf der Stelle zu halten. Es geschah so schnell und unerwartet, daß Batuti, Smoky und Stenmark den günstigen Augenblick verpaßten. Das kleine Boot jagte ein Wellental hinunter genau auf die Galeone zu. Die Männer begannen zu brüllen, obwohl jeder von ihnen wußte, daß sie dadurch nichts ändern konnten. Sie sahen schon die Nußschale mit ihren drei Insassen gegen den Rumpf der „Isabella“ krachen, als die Galeone angehoben wurde. Plötzlich war von dem Boot nichts mehr zu sehen. Es war sehr nah gewesen, und Ferris Tucker begann brüllend zu fluchen, weil die Männer mit den Tauen nicht rechtzeitig reagiert hatten. Wieder nahm ihnen ein Brecher die Sicht. Gary Andrews, der sich um Stenmarks Sicherung bemühte, wurde von den Beinen gerissen und prallte mit dem Rücken hart
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gegen das Rad einer Lafette. Er schrie auf, aber niemand bemerkte es. Dann war das Boot wieder da. Es stand fast reglos auf einem Wellenberg. Ferris Tucker, der ahnte, was gleich geschehen würde, schrie seine Männer an, diesmal aufzupassen. Er drehte sich um, als befürchte er, im entscheidenden Augenblick wieder von einem Brecher überrollt zu werden, aber dann konzentrierte er sich auf das Boot, das sich leicht zur Seite neigte und dann die Höllenfahrt ins Wellental begann. Ferris Tucker selbst hielt auch eine Leine in den Händen. Ein Heulen war über dem Schiff. Es hörte sich an, als jagten hundert Kanonenkugeln auf einmal auf die „Isabella“ zu. Diesmal mußte es geschehen! Diesmal mußte das Boot an der Bordwand der Galeone zerschmettern! „Werft!“ brüllte Ferris Tucker. Die Taue flogen durch die Luft und klatschten auf das Boot, das im selben Augenblick gegen die Bordwand krachte. Das Splittern des Dollbordes übertönte sogar das Jaulen des Windes und das Brüllen der See. Die „Isabella“ schoß in die Höhe. An Steuerbord gurgelte das Wasser und schleuderte das Boot in die Luft wie eine Feder. Voller Entsetzen sah Ferris Tucker, wie es sich überschlug, mit dem Bug durch eine Welle schoß und auf Nimmerwiedersehen verschwand. „Wir haben sie!“ brüllte Stenmark und zerrte an seinem Tau. Smoky fluchte, als er an seinem Tau zerrte und keinen Widerstand spürte. Batuti dagegen holte Hand über Hand sein Tau ein und stieß scharf seinen Atem aus, als er den hellen Fleck auf der Wasseroberfläche erkannte, der am Ende seines Taus, in das er eine Schlinge geknüpft hatte, hing. „Verdammt, helft mir!“ brüllte Stenmark wieder. „Ich kann ihn nicht halten! Der Kerl ist schwer wie ein Fels!“ Smoky und Ferris Tucker sprangen hinzu. Ferris brüllte Gary Andrews an, der immer noch neben der Lafette kauerte. Der Fockmastgast kriegte kaum noch Luft.
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Sein Rücken. mit dem er gegen das Rad der Lafette geschleudert worden war, schmerzte höllisch. Gary hatte das Gefühl, als sei sein Rückgrat gebrochen. Er versuchte, sich aufzurichen. aber stöhnend sackte er wieder zusammen. Er hörte das lauter werdende dumpfe Grollen und wandte den Kopf. „Paßt auf!“ schrie er mit sich überschlagender Stimme. „Ein Brecher!“ Die Männer reagierten blitzschnell und warfen sich hin. Mit drei Bewegungen aus dem Handgelenk warf Stenmark sein Tauende um die Traube einer Culverine und klammerte sich mit beiden Händen daran. Dann waren die Wassermassen über ihnen. Stenmark konnte nur daran denken, daß der Mann, der am anderen Ende seines Taues in der Schlinge hing, bei Bewußtsein bleiben mußte, wenn er die nächsten Minuten überleben wollte. Der Brecher wollte kein Ende nehmen. Für einen kurzen Augenblick erschien es den Männern, als sei ihr Schiff schon untergegangen, doch dann waren die ohrenbetäubenden Geräusche plötzlich wieder da. Stenmark sprang sofort wieder auf die Beine. Ablaufendes Wasser riß ihn um. Er knallte hart auf die Planken, aber er ließ das Tau nicht los. „Smoky! Gary! Ferris!“ brüllte er, als er spürte, wie eine mächtige Kraft an seinem Tau zerrte. Smoky und Ferris Tucker waren neben ihm und packten zu. Plötzlich waren sie alle da. Neben Batuti tauchte der Seewolf auf, und gemeinsam holten sie das Tau ein. Hasard stockte der Atem, als er für einen kurzen Moment das helle Bündel auf dem Wasser schwimmen sah. Es war ihm, als hätte der Schiffbrüchige taillenlange Haare. Eine Frau! dachte er entsetzt. Er stimmte sich mit Batuti mit Blicken ab. Sie mußten den richtigen Zeitpunkt abwarten, damit die Schiffbrüchige nicht an der Bordwand zu Tode geschmettert wurde. Neben sich hörten Hasard und Batuti die Schreie der anderen. Mit einem Blick zur
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Seite erkannte der Seewolf, daß der Kutscher sich neben Gary Andrews auf die Knie gelassen hatte, ihn dann unter den Armen packte und zur Back hinüberzerrte. Mein Gott, dachte Hasard, ist Gary was passiert? Batutis Schrei brachte ihn wieder zur Besinnung. Sie reagierten blitzschnell, als eine Welle den hellen Fleck anhob und die Schiffsbrüchige dann wie eine Kanonenkugel auf die „Isabella“ zujagte. „Jetzt!“ schrie Hasard, obwohl er wußte, daß Batuti, der keinen Schritt neben ihm stand, ihn nicht verstehen konnte. Das Tau glitt durch ihre Hände. Mit weit aufgerissenen Augen starrten sie dem Bündel Mensch entgegen, das ein Spielball der Naturgewalten war. Hasard Lief zurück zur Backbordseite hinüber, als er merkte, daß er das Tau nicht schnell genug einholen konnte. Batuti blieb am Schanzkleid stehen. Das Tau rutschte durch seine Hände und brannte in seinen Handflächen, als schnitte ein Messer hinein. Dann packte er zu. Hasard wurde von dem Ruck fast von den Beinen gerissen, bemerkte sofort, weshalb Batuti das Einholen des Taus abgestoppt hatte, und war mit schwankenden Schritten wieder am Schanzkleid. Stimmen jagten über das Schiff. Hasard hörte Ben Brighton auf dem Achterdeck etwas zu Pete Ballie hinüberbrüllen, und dicht neben ihm und Batuti schrie sich Ferris Tucker die Lunge aus dem Hals. Das helle Bündel am Ende des Taus, das Batuti und Hasard hielten, war auf einmal so nah vor ihnen, daß sie glaubten, nur danach greifen zu müssen. Batuti beugte sich übers Schanzkleid. Er hatte das Tau losgelassen, und Hasard spürte den harten Ruck in seinen Fäusten. Er hatte selbst zugreifen wollen, aber im letzten Moment hatte er gesehen, daß Batuti vorschnellte. Der Neger griff ins Leere. Seine Beine hoben sich von den Planken ab, als das Schiff nach Steuerbord krängte. Hasard hatte einen Schrei auf den Lippen, als er sah, daß Batuti abzukippen drohte, doch in
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diesem Augenblick warf sich jemand gegen die Beine des Negers und riß ihn an Deck zurück. Der Seewolf hatte nicht gesehen, wer es gewesen war, der Batuti davor bewahrt hatte, über Bord zu gehen. Einen Sekundenbruchteil, nachdem der Neger vorbeigegriffen hatte, bot sich ihm die Gelegenheit, das Tau noch weiter einzuholen. Die Schiffbrüchige hatte ein ungeheures Glück. Die „Isabella“ wurde gerade wieder auf einen Wellenberg gehoben. Die Gischtkrone trug den hellen Fleck dicht an die Bordwand heran, und Hasard sah, wie sich kleine, schlanke Hände an ein Bergholz klammerten. Dan O’Flynns Gesicht glänzte plötzlich neben ihm. Er war es gewesen, der sich gegen Batuti geworfen hatte. Er hatte sich ein Tau um den Leib geschlungen, dessen Ende Batuti und Bob Grey hielten. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, kletterte Dan wie ein Affe übers Schanzkleid, packte die schlanke Gestalt, die das Bergholz nicht loslassen wollte, und zerrte sie mit sich. Batuti, Hasard und Bob Grey rissen Dan und die Schiffbrüchige hoch. Dan schrie wütend auf, als er mit dem Rücken gegen die Bordwand krachte, dann hatten sie es geschafft, und Hasard befahl Bob Grey und Dan, die gerettete Person sofort unter Deck zu bringen. Ihnen allen stockte der Atem, als sich die Gestalt auf den Planken auf den Rücken wälzte. Eine Flut von Haaren breitete sich um das kleine, bleiche Gesicht aus. Unter dem nassen weißen Hemd. zeichneten sich deutlich die schwellenden Hügel weiblicher Brüste ab, die sich unter heftigen Atemstößen hoben und senkten. „Starrt sie nicht an wie Mondkälber, verflucht noch mal!“ brüllte Hasard. „Bringt sie in meine Kammer! Dan bleibt bei ihr! Gib ihr was von meinen Sachen anzuziehen, wenn sie wieder bei Sinnen ist!“ Damit wandte er sich ab und lief ein paar Schritte zu den anderen hinüber, die es immer noch nicht geschafft hatten, ihren Mann zu bergen.
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„Es sind zwei Mann!“ schrie Stenmark. „Achtung! Laßt Tau ...“ Es war zu spät, ein Wellenkamm schleuderte die beiden Schiffbrüchigen von der „Isabella“ fort. Ein harter Ruck ging durch das Tau. Stenmark wurde gegen das Schanzkleid gezerrt, prellte sich die Schulter, konnte aber das durch seine Hände gleitende Tau noch rechtzeitig wieder packen, bevor das Ende ihm entwischte. Die anderen hatten schon geglaubt, daß die beiden Männer im Wasser verloren waren. Sie waren sofort wieder heran und halfen Stenmark, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Hasard übernahm das Kommando. Er merkte, daß er nicht mehr so laut schreien mußte, um sich zu verständigen. Irgendwie schien die Wucht des Orkans gebrochen zu sein. Jetzt fiel ihm auch auf, daß in den letzten Minuten kein Brecher mehr über die Kuhl gefegt war. Ein gischtender Wellenkamm trug die beiden Schiffbrüchigen wieder heran. Der Kopf des einen befand sich unter Wasser. Der Seewolf hatte den Eindruck, als sei er nicht mehr bei Bewußtsein. Er sah, wie der andere seinen linken Arm um den Körper des Mannes geschlungen hatte, während die rechte Hand in der Schlinge des Taus hing. Ungeheure Kräfte mußten am Arm des Mannes zerren, und Hasard fragte sich, wie lange der Mann die Doppelbelastung noch würde aushalten können. Sie zerrten mit vier Mann an dem Tau. Jetzt verschwanden beide Männer unter Wasser, und Hasard schrie: „Zieht! Bob und Smoky, los, rüber nach Backbord!“ Die beiden schnappten sich das Ende des Taus und rannten vor dem Großmast nach Backbord hinüber. Die beiden Männer schossen aus der Tiefe des Meeres hoch. Jedenfalls schien es den Männern an Bord der „Isabella“ so. Ehe jemand etwas unternehmen konnte, waren sie heran. Ein kurzer, harter Wellenschlag schleuderte die Schiffbrüchigen gegen die Bordwand, und jeder der Retter hörte den fürchterlichen, klatschenden Laut.
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Sie zerrten wie die Verrückten an dem Tau, und als sie den Arm des einen Mannes über dem Schanzkleid auftauchen sahen, der in der Schlinge des Taus hing, dachten sie, daß sie es dennoch geschafft hatten. Stenmark reagierte als erster. Er hatte gesehen, daß der Mann, der den anderen gehalten hatte, nicht mehr bei Bewußtsein war. Der andere, den er mit dem linken Arm umklammert hatte, rutschte in die aufgewühlte See zurück. Der Schwede stand schon auf dem Schanzkleid und hechtete in das kochende Wasser. Hasard stockte für einen Moment der Atem, bis er erkannte, daß Ferris Tucker und Batuti das Tau hielten, das sich um Stenmarks Leib schlang. Endlos lange war nichts von ihm zu sehen. Hasard überlegte schon, ob er Ferris Tucker nicht den Befehl geben sollte, das Tau, an dem Stenmark hing, wieder einzuholen, als der Schwede auftauchte. Die Männer begannen zu schreien. Sie sahen, daß Stenmark es geschafft hatte, sich den zweiten Schiffbrüchigen zu schnappen, bevor die See ihn verschlingen konnte. Sie zerrten wie die Verrückten an dem Tau, und ehe der nächste Brecher den Schweden und den Geretteten gegen die Bordwand schleudern konnte, hatte Stenmark mit der rechten Hand eins der Berghölzer packen können und zog sich daran hoch. Ferris Tucker hatte sich über das Schanzkleid geschwungen. Seine kräftige Faust schloß sich um Stenmarks Handgelenk und zog den Schweden, der mit dem linken Arm einen schlanken, offensichtlich noch sehr jungen Mann umklammerte, mit einem Ruck hoch. Helfende Fäuste packten zu, und Sekunden später lag Stenmark mit keuchenden Lungen auf den Planken der Kuhl und spuckte eine Menge Wasser. Hasard befahl Batuti, den jungen .Mann, der kein Lebenszeichen von sich gab, unter die Back zu bringen, wo sich der Kutscher schon um Gary Andrews kümmerte. Dann sah er mit Ferris Tucker nach dem
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Geretteten, der gegen die Bordwand geschleudert worden war. Sie schauten sich nur kurz an. Ein Blick in das Gesicht des Mannes hatte ihnen genügt, um zu wissen, daß für diesen Mann wahrscheinlich alle Hilfe zu spät kommen würde. Ein dünner Blutfaden zog sich vom linken Mundwinkel über das Kinn bis zum Hals hinunter. Hasard nickte Ferris Tucker zu, und sie bückten sich, um den Mann aufzuheben. Ferris wollte an den Beinen anpacken, doch er ließ gleich wieder los. Er war grau im Gesicht, als er den Seewolf anschaute. „Er hat sich das Bein gequetscht“, sagte er, packte mit beiden Händen zu und hob den Mann allein auf. Hasard sah, daß das linke Bein des Mannes herunterbaumelte, als ob es nur noch durch das Hosenbein gehalten würde. Mit zusammengepreßten Lippen folgte er Ferris Tucker unter die Back. Ein kurzer Blick zum Himmel zeigte ihm, daß die Kraft des Orkans endgültig gebrochen schien. Er wollte Ben Brighton den Befehl geben, das Großsegel zu setzen, als dessen Stimme schon über Deck hallte und die Großmastgasten in die Wanten jagte. Der Seewolf ging zu Gary Andrews hinüber, der ganz grün im Gesicht war. „Was ist mit ihm?“ fragte er den Kutscher. „Er ist mit dem Rücken irgendwo gegen geknallt“, erwiderte der Kutscher. „Ich hab ihn gestreckt, und jetzt geht es ihm schon besser.“ „Danach sieht er aber gar nicht aus“, meinte Hasard skeptisch. „Du meinst sein grünes Gesicht?“ fragte der Kutscher. „Der markiert nur. Ich wette, wenn er einen Rum kriegt, ist er schnell wieder auf den Beinen.“ Hasard wandte sich zu Ferris Tucker um, der den Schwerverletzten sanft auf eine Seegrasmatratze bettete. Der Kutscher kniete sich neben dem jungen Mann hin und begann, dessen Arme zu bewegen, um ihm das Wasser aus der Lunge zu pumpen. Es dauerte nur Sekunden, dann begann der Junge zu würgen und zu husten. Er übergab sich, aber es War nur Wasser, was
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er hervorwürgte. Er hatte offensichtlich lange nichts mehr in den Magen gekriegt. Der Kutscher überließ ihn Batuti und glitt dann zu Ferris Tucker hinüber. Ein kurzer Blick genügte auch ihm. „Innere Verletzungen“, murmelte er. „Wenn der überleben will, muß schon ein Wunder geschehen.“ „Sieh mal nach seinem linken Bein“, sagte Ferris Tucker mit gepreßter Stimme. Der Kutscher holte ein Federmesser hervor und schlitzte das Hosenbein des Marines auf. Er wurde blaß wie die anderen, als er das kürz oberhalb des Knies abgequetschte. Bein sah. Knochensplitter stachen durch die Haut. Der Kutscher hob den Kopf und blickte Hasard an. „Da ist nichts mehr zu machen“, sagte er. „Ich müßte sein Bein abnehmen, wenn er nicht an den inneren Verletzungen sterben wird.“ „Grazie, Signori!“ Die Stimme war in den immer noch tobenden Gewalten nur ein Hauch, aber die Männer hatten sie trotzdem gehört. Hasard beugte sich zu dem Schwerverletzten hinunter. Er blickte in zwei dunkle, vom Tod gezeichnete Augen und wollte den Mann etwas fragen, aber er ahnte, daß es keinen Sinn hatte. Reden konnte er mit dem Jungen und der Frau. „Giovanni — Giannina ...“ flüsterte der Mann. „Sie leben“, sagte Hasard dicht neben seinem Ohr. „Vivere ...“ Ein gequältes Lächeln glitt über die bleichen, ausgemergelten Züge, und mit diesem Lächeln wich das Leben aus dem Körper des Schwerverletzten. Es schien Hasard, als hätte der Mann sich aufgegeben, nachdem er wußte, daß seine beiden Begleiter gerettet waren. Der Seewolf richtete sich auf. Er sah, daß das Großsegel gesetzt war und die „Isabella“ wieder Fahrt aufnahm. Ben ging jedoch so hart an den Wind, daß die „Isabella“ nahezu beilag. Es hatte keinen Sinn, bei diesem Sturm viel Fahrt zu laufen. Sie wußten nicht, wohin der Orkan sie getrieben hatte, und die Strecke, die sie
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jetzt zurücklegten, mußten sie vielleicht wieder in entgegengesetzter Richtung segeln, wenn der Sturm sich gelegt hatte. Ferris Tucker war längst wieder auf dem Achterdeck und hatte mit Carberry, Smoky, Blacky und Matt Davies den Treibanker eingeholt. Es war eine Knochenarbeit. Ferris war drauf und dran, die Trosse einfach zu kappen, aber er wollte die Gräting und die Spieren ungern aufgeben. Schließlich hatten sie es geschafft, und Carberry versprach den Männern eine große Portion Rum, wenn sie diesen verfluchten Orkan endlich abgeritten hätten. Der Kutscher und Hasard stützten den jungen Mann, der immer noch benommen war, und überquerten schwankend mit ihm die Kuhl. Sie hatten Mühe, den Jungen die Stufen zum Achterdeck hochzukriegen, denn er hatte plötzlich seinen Verstand wiedergefunden und begann um sich zu schlagen. „Giannina!“ rief er. „Giannina ...“ Hasard krallte seine Hand grob um den dünnen Oberarm des Jungen und zerrte ihn die Stufen hoch. Er zeigte zum Niedergang unter der Poop hinüber und sagte dabei: „Giannina!“ Der Junge begriff. Er riß sich von Hasard los und lief zum Niedergang hinüber. Er wollte die Tür aufreißen, aber er hatte nicht die Kraft dazu. Schluchzend ging er in die Knie. Seine Schultern zuckten. Hasard sprach kurz mit Ben Brighton und ging dann zu dem Jungen hinüber. Der Kutscher versuchte, ihn von der Tür wegzuzerren, aber der junge Mann hatte seine Finger in das Holz des Niedergangs gekrallt. Der Seewolf packte ihn am Kragen des Hemdes und riß ihn zurück. Er wußte, daß der Junge Schlimmes durchgestanden hatte, aber langsam mußte er wieder zu sich finden. Der Kutscher öffnete die Tür, und Hasard schob den Jungen hinein und die Stufen hinunter. Der Gang war schwach erleuchtet von dem Licht einer Lampe, das aus dem
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Spalt der offenstehenden Tür zur Kapitänskammer drang. Hasard hörte ein helles Schluchzen. Auch der Junge hatte es vernommen. Er war nicht mehr zu halten. Er begann, wild um sich zu schlagen, weil er glaubte, Hasard hielte ihn noch immer fest, traf dabei aber nur die Wand und jaulte vor Schmerzen auf. Dann rannte er auf den Lichtspalt zu und zog die Tür zur Kapitänskammer mit einem Ruck auf. Die beiden jungen Leute lagen sich in den Armen, streichelten sich gegenseitig die Gesichter und heulten, daß es zum Gotterbarmen war. Sie redeten aufeinander ein, und Hasard war überzeugt, daß er, auch dann kein Wort verstanden hätte, wenn ihm Italienisch geläufig gewesen wäre. Es dauerte Minuten, bis die beiden merkten, daß sie nicht allein in der Kammer waren. Der Blick des Jungen fiel auf Dan O’Flynn, der neben der Koje stand, auf der das Mädchen gelegen hatte, als der Junge in die Kammer gestürzt war. Die dunklen Augen schossen Blitze. Sie zuckten zwischen dem Mädchen und Dan hin und her, und schließlich stieß er ein paar heftige Worte hervor, die an das Mädchen gerichtet waren. Hasard konnte sich denken, was der Junge vermutete, und er schüttelte den Kopf über soviel Unvernunft. „Spricht einer von euch beiden Englisch oder Spanisch?“ fragte er. Der Kopf des Jungen ruckte herum. „Ihr seid Engländer?“ fragte er in einem ziemlich holprigen Englisch. „Keine Spanier?“ „Sehen wir so aus?“ fragte Hasard lächelnd. Der Junge preßte die Lippen aufeinander. Sein Blick war immer noch mißtrauisch. Er ließ die Tür der Kammer nicht aus den Augen, als erwarte er, daß jeden Moment sein Todfeind dort auftauchen könne. „Zieh dir trockene Kleider an, Junge“, sagte Hasard. „Ihr könnt euch hier unten in meiner Kammer ausruhen. Wenn der Sturm vorüber ist, haben wir immer noch Zeit genug, uns zu unterhalten.“
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Er gab Dan O’Flynn und dem Kutscher einen Wink, die Kammer zu verlassen. Nachdem sie an ihm vorbeigegangen waren, zögerte er noch einen Augenblick, weil er erwartete, daß die beiden jungen Leute nach ihrem Begleiter fragen würden. Doch sie waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß sie keinen Gedanken an etwas anderes fassen konnten. Hasard drehte sich um, verließ seine Kammer und schloß die Tür hinter sich. 2. Der Orkan flaute nur langsam ab. Ein ockergelber Ton färbte das wirbelnde Element, und die Seewölfe vermeinten feinen Sand auf den Lippen zu spüren. Wahrscheinlich tobte der Sturm bis zur afrikanischen Küste hinüber und hatte den Sand der Wüste bis hierher getragen. Der dünne Klang der Schiffsglocke drang an Hasards Ohren. Old Donegal Daniel O’Flynn schlug sie achtmal. Der Seewolf war froh, daß diese Nacht bald vorüber war. Am gestrigen Nachmittag hatte er geglaubt, schon alles überstanden zu haben, als sie die drei Schiffbrüchigen aus der See geborgen hatten, doch dann hatte der Orkan wieder an Stärke zugenommen, und sie hatten den Treibanker ein zweites Mal auswerfen müssen, weil es unmöglich gewesen war, auch nur den kleinsten Fetzen Segel zu fahren. Sie hatten das Großsegel gerade noch bergen können, sonst wäre auch dieses vom Sturm zerfetzt worden. Der Seewolf fluchte still vor sich hin, als er daran dachte, wo der Sturm sie hingetrieben hatte. Der Wind hatte stetig von Süden geblasen und sie wahrscheinlich weit ins Tyrrhenische Meer zurückgetrieben. Es würde sie mehr als zwei Tage kosten, den alten Kurs wieder aufzunehmen und Sizilien zu umsegeln, wie es ihnen der holländische Kaper geraten hatte, dem sie auf ihrer Fahrt hinunter zur Straße von Messina begegnet waren. „Uns hätte es fast das Schiff gekostet“, hatte der holländische Kapitän berichtet.
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„Irgendwie ist der Teufel los. Die Spanier sind wie aufgeschreckte Hühner und schießen auf alles, was nicht ihre Flagge trägt. Irgendetwas muß im Königreich beider Sizilien los sein, denn umsonst ziehen sie ihre Flotte hier nicht zusammen.“ Hasard hatte dem Kapitän von den Vorfällen auf Sardinien berichtet, wo die Sarazenen sich mit den Sarden zusammengetan und den spanischen Gouverneur der Insel ins Meer gejagt hatten. Der holländische Kapitän hatte mit den Schultern gezuckt und bezweifelt, ob das mit den Flottenbewegungen an der Küste Siziliens etwas zu tun hatte. „Auf alle Fälle ist es Selbstmord, in diesen Tagen durch die Straße von Messina fahren zu wollen“, hatte er gesagt. „Ich würde Ihnen raten, lieber den Umweg um Sizilien in Kauf zu nehmen. Sie brauchen zwar vier Tage länger, aber haben noch ein intaktes Schiff, wenn Sie das Ionische Meer erreichen.“ Hasard hatte keinen Grund gehabt, die Warnungen des Holländers in den Wind zu schlagen. Er hatte Kurs West befohlen, um den Umweg durch die Sizilische Straße zu nehmen. Dann hatte sie der Orkan überrascht. Hasard wußte nicht, ob sie es bei diesem Wetter nicht doch geschafft hätten, den Sperrgürtel der Spanier zu durchbrechen, aber diese Überlegungen führten zu nichts. Auf alle Fälle hatten sie zwei Menschen das Leben gerettet, und das allein war der Umweg von vier — oder nun vielleicht sechs — Tagen wert. Der Seewolf hatte mit den beiden jungen Leuten noch nicht reden können. Jede Hand war benötigt worden, um dem fürchterlichen Sturm trotzen zu können. Der Vormast hatte zu ihrem Glück gehalten, obwohl der Riß größer geworden war. Aber die Spiere, die von den Männern immer wieder neu an den tödlich verwundeten Mast gelascht worden war, hatte allen Gewalten getrotzt. Ferris Tucker hatte wie Hasard und Ben Brighton seit mehr als achtundvierzig
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Stunden kein Auge zugetan. Seine Augen waren rot und brannten vom Salzwasser. Er nickte Hasard zu und sagte: „Ich glaube, wir haben es noch einmal geschafft. Diese verfluchten Novemberstürme im Mittelmeer hasse ich wie die Pest.“ Er nickte zum Vormast hinüber. „Wir müssen so schnell wie möglich irgendwo an Land und einen neuen Mast schneiden.“ Der Seewolf konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Er hat doch bestens gehalten, Ferris“, erwiderte er. „Wenn der Orkan ihn nicht fällen konnte, wer soll ihm dann noch was anhaben? Und soviel ich weiß, hast du noch eine Fockrah zur Reserve.“ Der Schiffszimmermann murmelte etwas, das Hasard nicht verstand, aber er wußte auch so, was Ferris nicht paßte. Kein Schiffszimmermann der Welt fuhr gern ein solches Provisorium spazieren. „Denk an die Worte des Holländers“, sagte Hasard. „Wir sollten die sizilianische Küste meiden. Ich glaube nicht, daß uns bis zu den griechischen Inseln noch einmal ein solcher Orkan erwischt.“ Ferris Tucker schwieg. Er trat einen Schritt nach Lee und spuckte über Bord. „Dieser verfluchte Sand wird uns das ganze Schiff versauen“, sagte er grollend. „Das feine Zeug setzt sich in allen Ritzen fest. Hoffentlich hatte der Kutscher sein Schapp so dicht, daß wir die nächsten Wochen nicht auf Sand herumkauen müssen.“ Er nickte dem Seewolf zu und verließ das Achterdeck, um sich wieder um sein Sorgenkind, den Vormast, zu kümmern. Der Seewolf wandte den Kopf, als Ben Brighton neben ihn trat. „Du solltest dich doch hinlegen, Ben“, sagte er. „Wenn der Sturm an Stärke wieder zunimmt, werde ich dich wecken lassen.“ Ben grinste. „Du bist nicht weniger müde als ich.“ „Das stimmt, aber wir werden dich an Deck brauchen, wenn ich mich zum Schlafen niedergelegt habe.“ Ben Brighton nickte zu Ferris Tucker hinunter, der gerade die Kuhl durchquerte
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und sich anschickte, zum Vordeck hinaufzusteigen. „Er wird dir in den nächsten Tagen in den Ohren liegen, daß er unbedingt einen neuen Vormast braucht“, sagte er. Der Seewolf zuckte mit den Schultern. „Da -kann ich ihm nicht helfen. Wir haben in den letzten Wochen genug Ärger mit den Spaniern gehabt. Wenn wir noch mal mit ihnen zusammenstoßen, werden sie anfangen, uns zu jagen. Und du hast ja gehört, was der Holländer erzählt hat. Die Dons scheinen ziemlich nervös zu sein.“ „Was ist mit den beiden jungen Leuten?“ fragte Ben. „Hast du schon mit ihnen gesprochen, wer sie sind und wohin sie wollten?“ Hasard schüttelte den Kopf. „Sie können froh sein, daß sie noch am Leben sind“, meinte er. „Ich denke noch daran, welche Scherereien es uns einbrachte, als wir den Sohn des Marchese di Montiferro an Land setzten. Ich habe keine Lust, auch noch an einem Aufstand gegen die Dons auf Sizilien teilzunehmen.“ Ben Brighton konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, und der Seewolf wußte, auf was sich das Grinsen bezog. Ben hatte ihn damals davor gewarnt, die Küste von Sardinien anzulaufen, aber Hasard hatte seine Warnungen in den Wind geschlagen. „Warten wir’s ab“, murmelte Ben. Nach einem Blick zum Himmel, über den immer noch schwarze Wolkenmassen jagten, fuhr er fort: „Sieht aus, als wäre der Sturm endgültig gebrochen. Ich werde mich hinlegen. Du läßt mich wecken, wenn acht Glasen rum sind?“ Der Seewolf nickte. Er schaute Ben Brighton nach, der im Niedergang unter der Poop verschwand, um seine Kammer aufzusuchen. Dann rief er Big Old Shane zu sich aufs Achterdeck und fragte ihn, wie weit Will Thorne mit dem neuen Focksegel sei. „Seinem Fluchen nach zu urteilen, wird es noch Tage dauern“, sagte Big Old Shane, „aber ich glaube, daß er in ein paar Stunden fertig ist. Ich wollte ihm zur Hand gehen, aber er meinte, daß es dann nur noch länger dauern würde.“
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„Übernimm die Wache, bis Carberry wieder auf ist“, sagte Hasard. „Bei vier Glasen soll Smoky Jeff am Ruder ablösen. Laßt Pete schlafen, so lange er will.“ Big Old Shane nickte. „Es ist gut, daß du dich auch mal ein wenig hinlegst. Du siehst, schon aus, als hätte dich der Leibhaftige am Kragen.“ Der Seewolf grinste schief, nickte Big Old Shane kurz zu und verschwand ebenfalls unter der Poop. Ja, auch er spürte die Müdigkeit wie Blei in den Knochen. Er wußte, daß er sich auf Big Old Shane und die anderen, denen er in der Nacht schon befohlen hatte, sich auszuruhen, verlassen konnte. Er hörte leise Stimmen aus seiner Kammer und sah, daß dort eine Kerze brannte. Er schüttelte den Kopf. Warum schliefen die jungen Leute noch nicht? Sie konnten ihren Schlaf nach den Strapazen, die sie hinter sich hatten, noch nicht wieder aufgeholt haben. Hasard klopfte gegen die Tür und zog sie auf. Seine dunklen -Augen maßen die Zwillinge, die vor der Koje des jungen Mannes standen, mit zornigen Blicken. „Ab!“ sagte er nur. Die Zwillinge zogen die Köpfe zwischen die Schultern und trollten sich in ihre Kammer. Sie erkannten, daß sie kein Wort der Widerrede sagen durften, wollten sie nicht eine Tracht Prügel riskieren. Als sie die Kammer verlassen hatten, richtete sich der junge Mann auf. „Schelten Sie sie nicht, Sir“, sagte er in seinem fürchterlichen Englisch. „Sie haben ganz leise hereingeschaut und die Kammer erst auf meine Aufforderung hin betreten.“ Der Seewolf nickte. „Sie sollten aber noch schlafen. Sie haben eine Menge nachzuholen.“ Der junge Mann schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht schlafen“, erwiderte er. Er stieg aus der Koje und betrachtete das Mädchen, das noch fest schlief. Hasard sah, wie ein zärtliches Lächeln über die Züge des Jungen glitt. Offensichtlich bestanden sehr enge Beziehungen zwischen ihnen.
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„Wenn Sie nicht schlafen können, sollten wir uns unterhalten“, meinte er. „Erzählen Sie mir, was Sie in dem kleinen Boot mitten auf dem Meer gesucht haben.“ Der junge Mann ließ sich wieder auf dem Rand der Koje nieder. Mit leiser Stimme begann er zu berichten. Er sprach stockend, denn da er die englische Sprache nicht fließend beherrschte, mußte er oft nach Wörtern suchen. „Mein Name ist Giovanni Procida di Scorlia“, sagte er. Er deutete auf das Mädchen. „Und das ist meine Schwester Giannina. Ihretwegen haben wir die Flucht auf dem Boot gewagt. Bovalino hat uns beide ...“ Er stockte. Erst jetzt schien ihm ins Bewußtsein zurückzukehren, daß noch ein dritter bei ihnen gewesen war. Er schaute den Seewolf mit großen Augen fragend an. Hasard hob die Schultern. „Wir haben getan, was wir konnten“, sagte er, „aber Ihr Begleiter hat den Anprall gegen die Bordwand unseres Schiffes nicht überlebt. Er hatte innere Verletzungen.“ „Haben Sie ihn schon ins Meer ...“ „Nein“, sagte der Seewolf. „Wir wollten mit der Bestattung warten, bis das Wetter besser ist und Sie dabei sein können.“ „Danke“, flüsterte der junge Mann. „Ohne Bovalino wären wir verloren gewesen. Der Gute hat sein Leben für uns gelassen.“ Das hörte sich nicht besonders traurig an, eher, als wenn dieser Bovalino ein Dienstbote gewesen wäre, dessen Pflicht es nun einmal sei, für seine Herrschaften zu sterben. „Sie wollten wissen, was wir auf dem Meer gesucht haben“, fuhr der junge Mann fort. „Es ging um Giannina. Sie ist einem Mann versprochen, der der Sohn einer sehr hochgestellten Familie ist, aber der Comandante von Trapani will um jeden Preis verhindern, daß sich unsere Familien durch eine Heirat verbünden. Bisher haben sich die Corleones und die Scorlias immer bekämpft, aber durch die Heirat Manfredo di Corleones mit meiner Schwester Giannina wäre es damit zu Ende. Der Comandante befürchtet, daß die Macht unserer Familien, die sich bisher
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gegenseitig neutralisiert haben, den spanischen Herren viel Ärger bereiten könnte. Er hat einfach Giannina gefangen nehmen und sie in seine Festung in Trapani verschleppen lassen. Ich habe sie zusammen mit Bovalino befreit. Alles war zur Flucht nach Rom vorbereitet. Wir wollten Manfredo in Castellamare treffen und mit ihm gemeinsam nach Rom segeln, wo Manfredo und Giannina sich vom Papst trauen lassen wollten.“ „Und dann sind Sie in den Sturm geraten“, sagte Hasard. Der junge Mann schüttelte den Kopf. „Der Comandante muß einen Spitzel in unseren Reihen haben“, erwiderte er, und in seinen dunklen Augen glühte plötzlich ein verzehrender Haß. „In Castellamara warteten wir vergeblich auf Manfredo. Jemand konnte uns gerade noch rechtzeitig warnen, daß die Spanier Manfredo gefangengenommen hätten. Wir segelten sofort mit dem kleinen Boot ab. Es war sehr knapp. Sie schossen noch auf uns, trafen aber nicht. Dann kam der Sturm. Im Grunde war er unsere Rettung, denn sonst hätten die Spanier uns mit einem ihrer Schiffe sicher eingeholt.“ Hasard sagte nichts. Es hörte sich alles plausibel an, was der junge Mann berichtete, aber irgendetwas störte ihn an der Geschichte. Daß sich die Spanier Vorteile davon versprachen, wenn sich zwei einheimische Familien bekämpften, konnte er verstehen, aber daß sie deshalb eine Hetzjagd auf zwei junge Leute veranstalteten, die heiraten wollten? „Sie haben einen seltsamen Namen“, sagte der Seewolf nachdenklich. „Was bedeutet Procida? Ich habe den Namen schon einmal gehört, aber nicht als Vornamen.“ Stolz leuchtete in den Augen Giovanni Procida di Scorlias. „Giovanni Procida lebte vor dreihundert Jahren“, erklärte er mit Begeisterung in der Stimme. „Er war einer der wichtigsten Männer beim Aufstand gegen Karl von Anjou, der unser Land geknechtet hat. Damals wurden alle Franzosen auf Sizilien getötet und die Insel von ihren Usurpatoren befreit.“
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„Und die Scorlias und Corleones hatten damals auch großen Anteil am Tod der Franzosen?“ fragte Hasard. „Sie gehören seit Jahrhunderten zu den führenden Familien des Landes“, erwiderte der Junge mit erhobenem Kopf. Mein Gott, dachte Hasard, nicht schon wieder ein Aufstand gegen die Spanier! Er hatte absolut nichts dagegen, daß sich die Bewohner eines Landes gegen ihre Herren auflehnten, wenn sie mit ihrer Regierung nicht mehr einverstanden waren oder sich gedemütigt und ausgebeutet fühlten, aber, bitte schön, warum mußten er und seine Männer immer wieder in solche Auseinandersetzungen hineingezerrt werden? Der Seewolf erinnerte sich, früher auf Arwenack einmal etwas von dem Aufstand der Sizilianer gegen ihre französischen Herren gelesen zu haben. Es war ein blutiges Gemetzel gewesen, dem nicht nur jeder Franzose, sondern auch jeder Fremde, der nicht in der Lage war, das sizilianische Wort „ciciri“ auszusprechen, was für die französische Zunge ein Ding der Unmöglichkeit sein sollte. Auch die Frauen und Kinder der Franzosen und die sizilianischen Mädchen, die einen Franzosen geheiratet hatten, wurden abgeschlachtet. „Die Sizilianische Vesper“ hatte man später dieses Massaker bezeichnet. Gewiß, der Zorn der Sizilianer war verständlich gewesen, aber für Hasard gab es eine Grenze, wenn Frauen und Kinder für etwas leiden mußten, auf das sie keinen Einfluß hatten. „Befürchtet der Comandante von Trapani vielleicht, daß sich die ,Sizilianische Vesper’ wiederholt, wenn eure beiden Familien den Streit begraben?“ fragte er, ein schmales Lächeln auf den Lippen. Der junge Mann zuckte regelrecht zusammen. Offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, daß der Engländer, der ihm und seiner Schwester das Leben gerettet hatte, so gut in der Geschichte seines Landes Bescheid wußte. Aber das allein konnte es nicht sein, was das Erschrecken in seinen dunklen Augen
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hervorgerufen hatte. Vielleicht hatte er, Hasard, unbewußt etwas ausgesprochen, was für einen Sizilianer unter dem strengsten Siegel der Geheimhaltung lag. Der Seewolf hatte schon häufiger gehört und auch am eigenen Leib verspürt, daß Sizilianer die geborenen Verschwörer waren und daß es für sie nur zwei Dinge gab, die unantastbar waren: die Treue zu ihrer Familienehre und zu ihrem Geheimbund, dem sie angehörten. Hasard spürte die plötzliche Abwehr, die Giovanni di Scorlia ihm gegenüber an den Tag legte. Es amüsierte ihn. Lächelnd fragte er: „Und was sollen wir jetzt mit Ihnen anfangen? Ich habe nicht die Absicht, irgendwo in Sizilien an Land zu gehen. Wir haben genügend Vorräte, um bis zu den griechischen Inseln zu segeln.“ Aus der Abwehr des jungen Mannes wurde Erschrecken. „Sie — Sie wollen uns nicht an Land setzen?“ „Wo denn?“ fragte Hasard. „Vielleicht in Trapani?“ Giovanni di Scorlia schüttelte heftig den Kopf. „Ich habe Ihnen doch erzählt, daß der Comandante hinter uns her ist! Wir müssen zu meinem Vater zurück! Außerdem will ich wissen, was die Spanier mit Manfredo vorhaben!“ Der Seewolf zuckte mit den Schultern. „Es tut mir leid für Sie“, entgegnete er. „So wie es aussieht, werden Sie wohl erst von Griechenland aus in Ihre Heimat zurückkehren können.“ Giovanni di Scorlia zeigte, daß er kein Kind mehr war. Er hielt plötzlich einen Dolch in der rechten Faust. Der Teufel mochte wissen, wo er das Ding hergezaubert hatte. „Dann werde ich Sie zwingen, Engländer!“ stieß er mit zitternder Stimme hervor. „Befehlen Sie Ihren Männern, auf die Küste zuzusegeln und mich und meine Schwester abzusetzen!“ „Bei diesem Sturm?“ fragte Hasard. Er ging zu seinem Schreibtisch hinüber, und der Junge wich mit vorgereckter Faust zurück. „Nimm das Messer weg, wenn ich es dir nicht aus der Hand schlagen soll“,
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fuhr er ruhig fort. Dieser junge Bursche war, zugegeben, in einer für ihn verzweifelten Lage, aber das war noch, kein Grund, kindisch zu reagieren. Wenn er sich wie ein trotziges Kind benahm, mußte er sich nicht wundern, auch als solches behandelt zu werden. „Du solltest Gott danken, daß ihr beide noch am Leben seid. Vielleicht ist es für euch ganz gut, daß ihr mal eine Weile nichts von eurer Familie hört.“ „Ich warne Sie nicht noch einmal, Engländer!“ Die Stimme des jungen Sizilianers überschlug sich fast. In seinen dunklen Augen schimmerte es feucht, aber der Seewolf sah, daß er es ernst meinte. „Wenn du den Arm mit dem Messer bewegst, schieße ich!“ sagte eine helle Stimme von der Tür der Kammer her. Der Kopf Giovanni di Scorlias ruckte herum. Er sah die Pistole in der Hand eines der beiden Jungen, mit denen er vorhin gesprochen hatte, und diese Hand zitterte nicht. Die Mündung der Waffe war auf die Brust des Sizilianers gerichtet, und der Hammer mit dem Stein war gespannt. „Verdammt!“ sagte Hasard wütend. „Das ist das letztemal, daß ich dich in die Koje schicke! Wenn ich dich bis zum Sonnenaufgang noch mal sehe, setzt es eine Tracht Prügel, die du so schnell nicht vergessen wirst!“ „Aber Dad!“ sagte Hasard junior schrill. „Er will dir mit dem Messer an den Kragen!“ „Das ist meine Sache, Sohn“, sagte der Seewolf grollend und trat auf die Tür zu. Blitzschnell war Hasard junior verschwunden. Der Seewolf hörte ihn draußen auf dem Gang leise fluchen, und er grinste. Ohne sich weiter um den jungen Sizilianer zu kümmern, verließ auch er die Kammer, schloß die Tür hinter sich und ging wieder hinauf aufs Achterdeck. Das Schiff war ruhiger geworden. Der Sturm hatte wirklich nachgelassen. Sie würden bald ihre Position bestimmen können. Hoffentlich waren sie nicht zu weit von ihrem ursprünglichen Kurs abgetrieben worden.
Die Bucht der Banditen 3.
Der Wind war immer noch frisch und steif, aber diesmal hatte er die Wolken davongetragen. Weit im Norden waren noch die Berge zu sehen, aus denen die Wassermassen und Blitze auf sie niedergeschleudert worden waren. Sonst war der Himmel wolkenlos und von einem klaren Blau, wie es nur unter der südlichen Sonne möglich war. Alle Männer der „Isabella“ befanden sich an Deck. Es war, als hätte es den fürchterlichen Sturm, der mehr als achtundvierzig Stunden getobt hatte, gar nicht gegeben. Ben Brighton, der von allein aufgewacht war und seit zwei Stunden wieder auf dem Achterdeck stand, hatte die ersten Berechnungen angestellt und festgestellt, daß sie etwa fünfzig Seemeilen nach Norden abgetrieben worden waren. Da der Wind immer noch keine andere Richtung genommen hatte, würden sie mindestens den ganzen Tag brauchen, um nach Süden zu kreuzen und das Westkap der Insel Sizilien. zu passieren. Es war weit weniger schlimm, als Hasard befürchtet hatte. Sie waren zwar nach Norden abgetrieben worden, hatten aber gleichzeitig mehr als hundert Meilen in Richtung Westen gewonnen. Ferris Tucker war wieder vorn am Vormast und begutachtete den breiten Riß. Er hatte inzwischen auch die Vormarsrah abfieren lassen, ebenso die Stengen, damit der Mast entlastet wurde. Im Augenblick waren vier Männer dabei, das laufende und stehende Gut des Fockmastes zu überprüfen und zu klarieren. Ferris wollte versuchen, eine Laschung um den Mast zu legen, so daß er ohne die Fockrah hielt. Zusammen mit Big Old Shane überlegte er, ob nicht auch eine geschmiedete Manschette die Lösung seines Problems bedeuten könne. Offensichtlich hatte er sich damit abgefunden, daß er keine Gelegenheit erhalten würde, in den nächsten Tagen an Land zu gehen und sich das Holz für einen neuen Vormast zu besorgen. „Schiffswrack Steuerbord voraus!“
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Dan O’Flynn rief es vom Großmars hinunter. Neben ihm keckerte Arwenack, der froh war, nach den langen Stunden unter Deck an der Kette wieder frei in der Takelage herumturnen zu können. Die Männer an Deck der „Isabella“ hielten in ihrer Arbeit inne. Al Conroy, der mit Sam Roskill und Stenmark dabei war, die 17-PfünderCulverinen zu kontrollieren und von Sand und Salz zu befreien, blickten zum Achterdeck hinauf, wo der Seewolf und Ben Brighton sich zur Steuerbordreling begeben hatten und voraus aufs Meer schauten: Aber noch konnten sie nichts erkennen. „Eine Schebecke oder Pinke!“ rief Dan. „Auf alle Fälle hat sie keine Masten mehr!“ Damit war auch die Frage offen, welcher Nationalität die Besatzung des Schiffes war — oder gewesen war. „Wie lange brauchst du, bis das Schiff gefechtsbereit ist, Al?“ rief er hinunter in die Kuhl. „An Backbord ist alles klar!“ rief Al Conroy zurück. „Und mit Steuerbord sind wir fertig, wenn wir das Wrack erreichen!“ Hasard nickte Ben Brighton zu, der Pete Ballie, der inzwischen wieder am Ruder stand, den neuen Kurs angab. „Wenn das Dons sind, Dad, versenken wir sie dann?“ fragte Hasard junior seinen Vater. Die beiden Zwillinge jagten schon den ganzen Morgen an Deck herum. Ihnen schien es ähnlich zu gehen wie Arwenack, der sich todunglücklich fühlte, wenn er bei Sturm unter Deck angekettet wurde. „Wie es aussieht, können sie sich nicht mehr wehren“, erwiderte der Seewolf. „Aber wenn es Dons sind ...“ beharrte Hasard. „Wir können sie nicht einfach absaufen lassen“, sagte sein Vater. „Nimm mal an, uns hätte es in dem Sturm so schwer erwischt, daß die ‘Isabella’ nur noch ein Wrack gewesen wäre.“ „Dann hätten uns die Dons versenkt, weil wir Engländer und ihre Feinde sind!“ behauptete Hasard junior im Brustton der Überzeugung.
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„Ich kenne einen ganzen Haufen Spanier, die feine Kerle sind“, sagte der Seewolf. „Einige haben mir sogar schon das Leben gerettet. Gewiß, unsere Länder befinden sich immer noch im Kriegszustand, daher kämpfen wir gegeneinander. Aber über eins müßt ihr euch klar sein.“ Er blickte seine beiden Jungen an. „Unter den Spaniern gibt es genauso viele tapfere und feige, großherzige und gemeine, hinterhältige und ehrliche Männer wie bei den Engländern und allen anderen Völkern der Erde. Wenn wir diesen Männern auf dem Wrack helfen, auch wenn es unsere Feinde sind, so werden diese vielleicht eines Tages Engländern helfen. statt sie zu töten.“ Der Seewolf sah, daß Philip nickte. Hasard dagegen schien mit dem Gesagten nicht ganz einverstanden. Er schaute seinen Vater an, als wolle er sagen: Abwarten, Alter, du wirst schon sehen, daß ich recht behalte. „Ihr könnt Al bei den Kanonen helfen“, sagte der Seewolf. „Und wenn es ein Gefecht gibt, darf ich dann eine Kanone ...“ Hasard junior schwieg, als er den Blick seines Vaters sah, und preßte wütend die Lippen aufeinander. Verdammt, dachte er, ich werde mir bei der nächsten Gelegenheit ein anderes Schiff suchen, wo man mich nicht mehr wie ein Kleinkind behandelt! „Es scheint niemand mehr an Bord zu sein!“ brüllte Dan vom Großmars hinunter. „Es ist eine Schebecke! Das Ruder ist gebrochen!“ Alle Männer konnten das Wrack jetzt erkennen. Es war noch eine ganze Ecke weg, und der Seewolf beneidete Dan ein weiteres Mal um seine scharfen Augen. Daß Dan O’Flynn niemanden an Deck des Schebeckewracks erkannte, brauchte nicht viel zu bedeuten. Zu oft waren schon arglose Helfer in eine Falle geraten, weil sie angenommen hatten, es gäbe kein Leben mehr auf einem havarierten Schiff. „Schiff ist klar zum Gefecht!“ rief Al Conroy auf der Kuhl. Der Seewolf sah, daß sämtliche Geschütze an Steuerbord bemannt waren. Sein Blick
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glitt hinauf zum Großmars, ob Dan etwas Neues gesehen hatte. „He!“ schrie Dan O’Flynn plötzlich und richtete sich auf. „Mich laust der Affe. Das ist doch ...“ Auch Hasard hatte wie die anderen gesehen, daß es auf dem Wrack sehr -wohl noch Leben gab. Über dem Schanzkleid des Schebeckerumpfes erschienen plötzlich ein halbes Dutzend Köpfe. „Das ist Hamid!“ brüllte Dan O’Flynn. „Hamid el Sarad! Mann, den hat es aber erwischt!“ Der Seewolf blieb ein wenig mißtrauisch, obwohl er wußte, daß der Sarazene Hamid, dem sie mit ihrem Eingreifen vor Bosa Marina im Kampf gegen den Gouverneur von Sardinien zum Sieg in einer Schlacht verholfen hatten, in der es um die Existenz der Sarazenen gegangen war, wie Hamid el Sarad behauptet hatte, ihnen wohlgesonnen war. Aber inzwischen war ein Monat vergangen, und der Seewolf wußte von dem holländischen Kaper, daß die Spanier im westlichen Mittelmeer mit aller Macht ihre Vorherrschaft gegen die Türken, die Engländer und Holländer behaupten wollten. Es war wahrscheinlich, daß die Spanier bereits zurückgeschlagen hatten. Die Sarazenen an Bord der vom Sturm zerschlagenen Schebecke winkten zu ihnen herüber. Auch Hamid hatte die Galeone des Seewolfs erkannt. Die Männer an Bord der „Isabella“ entspannten sich. Dan O’Flynn ließ sich von Bill im Mars ablösen und kletterte neben Arwenack die Wanten hinunter. Grinsend baute er sich neben Carberry auf, der auf der Kuhl neben einer Culverine stand und aussah, als ob er das Schebeckewrack am liebsten ganz versenkt hätte. „Hoffentlich ist keiner bei ihm, der die Ehre hatte, unter deinem Kommando an dem Gefecht vor Bosa Marina teilzunehmen“, sagte Dan so leise, daß es niemand außer Carberry verstehen konnte. „Ich dreh dir das Gesicht auf den Rücken, daß du ein Leben lang deinen Affenarsch unter der Nase hast!“ zischte Carberry
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wütend. „Du brauchst nur ein Wort darüber zu verlieren!“ Von mir brauchst du nichts zu befürchten“, gab Dan grinsend zurück, „aber wenn einer der Sarazenen dich kennt, wird er natürlich ,Tabani yassi` zu dir sagen.“ Carberry holte aus, doch Dan duckte sich blitzschnell und entging der mächtigen Faust, die ihm zumindest ein Ohr abgerissen hätte. „He!“ sagte Old Donegal Daniel O’Flynn und stampfte mit seinem Holzbein auf. „Was ist mit euch los? Was hat der Rotzbengel wieder ausgefressen, Ed? Hat er was Ungebührliches zu dir gesagt?“ Carberrys Gesicht lief rot an. Er sah, wie Dan grinste, und das ließ ihn noch wütender werden. „Misch du dich da nicht ein“, sagte er gepreßt, „sonst nagele ich dich mit deinem Holzbein an die Großbramstenge!“ „Mann o Mann!“ murmelte Old Dan, warf seinem Sproß einen schiefen Blick zu und verzog sich aus der Reichweite von Carberrys Fäusten. Auch Dan hütete sich, zu nahe an Carberry zu geraten. Er ging ein paar Yards weiter auf Batuti zu, der gespannt zur Schebecke hinüberblickte. Er hatte gesehen, wie Carberry versucht hatte, Dan eine zu wischen, und fragte leise: „Du haben Plattfuß zu ihm gesagt?“ Dan schüttelte grinsend den Kopf. „Ich hab ihn nur gewarnt, daß vielleicht einer von den. Sarazenen da drüben mit uns zusammen vor Bosa Marina gekämpft hat“, sagte Dan. „Klar.“ Batuti wies auf die beiden Sarazenen links von Hamid el Sarad, deren Gesichter jetzt deutlich zu erkennen waren. „Männer, die seinen Säbel getragen haben.“ Dan konnte ein Kichern nicht unterdrücken. Er dachte daran, wie sich die beiden Sarazenen auf Hamids Befehl um Carberry gekümmert hatten, als wären sie seine Butler. „Meine Fresse“, murmelte er, „wenn die Carberry sehen, werden sie versuchen, ihm seine Füße zu küssen. Ich seh sie schon,
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wie sie zu strahlen beginnen, wenn sie ihren ,Tabani yassi` wiedersehen.“ „Pst!“ flüsterte Batuti. „Wenn er dich hören, du totes Dan O’Flynn.“ Sie hatten sich dem Wrack der Schebecke jetzt bis auf wenige Faden genähert. An Deck des kleinen, flachen Schiffes sah es fürchterlich aus. Überall waren dunkle Flecken, die selbst die überrollende See nicht hatte wegwischen können. Sämtliche Stage und Wanten waren gekappt. Wahrscheinlich war den Sarazenen gar nichts anderes übriggeblieben, als die geborstenen Masten und Stengen über Bord zu befördern, ehe sie ihnen den Rumpf ganz und gar leck schlugen. Kein Stück war an Deck der Schebecke noch ganz. Riesige Löcher klafften im Schanzkleid. Dort waren die Kanonen durchgebrochen und ins Meer gestürzt. Auf dem Achterdeck war die Steuerbordreling nicht mehr vorhanden, ebenso wie der Ruderstand. Jeder der Männer auf der „Isabella“ ahnte, welches Drama sich auf der Schebecke Hamid el Sarads abgespielt haben mußte. Schebecken dieser Größenordnung wurden selten unter hundert Mann Besatzung gefahren. Ganze sechs hatten den Orkan überlebt. Wahrscheinlich hatten diese sechs in den vergangenen Stunden ihre toten Kameraden dem nassen Element übergeben, um zu verhindern, daß sie selbst von einer Seuche betroffen wurden. Stenmark, Blacky und Batuti warfen Taue zur Schebecke hinüber, die von den Sarazenen am Schanzkleid belegt wurden. Einer nach dem anderen kletterten die Sarazenen über die Violinblöcke der Großwanten an Bord der „Isabella“. Dan O’Flynn schaute sich um, aber von Carberry war nichts mehr zu sehen. Unbemerkt hatte er sich heimlich, still und leise verzogen. Offensichtlich hatte auch er seine beiden Säbelträger erkannt und wollte ihnen nicht vor allen anderen gegenübertreten. Hamid el Sarad kletterte als letzter an Bord der „Isabella“, nachdem er die Taue wieder vom Wrack der Schebecke gelöst hatte. Sofort trieb es ab, und nachdem Ben
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Brighton den alten Kurs nach Süden wieder aufgenommen hatte, wurde es immer kleiner und verschwand bald ganz aus ihrem Gesichtsfeld. Der Seewolf begrüßte den Sarazenen, den er nur einmal kurz auf der spanischen Galeere des Conde de Bosa gesehen, von dem er durch Carberry, Dan O’Flynn und Batuti jedoch eine Menge gehört hatte. Hamid el Sarad und seine Männer blickten sich um. Dan wußte, wen sie suchten, und dann fragte der Sarazene auch schon: „Wo ist euer Profos, den ihr Carberry nennt?“ Der Seewolf schaute sich verwundert um. Erst jetzt fiel ihm auf, daß Carberry nirgends zu sehen war. Er sah das Grinsen Dan O’Flynns und Batutis und fragte sie: „Was ist los? Gibt es etwas, über das ich Bescheid wissen sollte?“ Ein Poltern ertönte unter dem Vordeck. Die Köpfe der Männer ruckten herum. Carberry stampfte auf die Sarazenen zu, als ob er vorhätte, sie über Bord zu befördern. Sein Gesicht hatte die Farbe von glühendem Eisen angenommen, und als er das Leuchten in den Augen der beiden Sarazenen erkannte, die ihm seinen Säbel getragen hatten, begann er laut zu reden und die Sarazenen zu begrüßen. Er wollte gar nicht wieder aufhören. Da er das viele Reden auch nicht gewöhnt war, erzählte er eine Menge Unsinn. und die anderen Seewölfe starrten sich an, als hätte Carberry den Verstand verloren. Als er dann doch mal für einen kurzen Augenblick Luft holen mußte, rief einer der beiden Sarazenen neben Hamid el Sarad: „Sei gepriesen, Allah, daß du uns durch ,Tabani yassi` hast erretten lassen!“ Er verbeugte sich tief vor Carberry, ebenso wie sein Nebenmann, während Hamid el Sarad nur lächelnd den Kopf neigte. „‘Tabani Yassi`?“ fragte der Seewolf. „Wer ist denn das?“ Hamid el Sarad trat auf Carberry zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Meine Männer haben ihm diesen Kampfnamen gegeben“, sagte er. „Sie verehren ihn als großen Kämpfer und als den Sieger von Bosa Marina, wo er die Schmach der Sarazenen gerächt hat.“
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Carberrys Augen huschten hin und her und blieben schließlich drohend auf Dan O’Flynn hängen. Aber der brauchte gar nichts zu sagen. Die Frage drängte sich regelrecht auf. Ben Brighton war der Unglücksrabe, der sie stellte und Carberry an den Rand eines nervlichen Zusammenbruchs trieb. „Was heißt das denn, ,Tabani yassi`’?“ Wieder zuckten Carberrys Blicke von den Sarazenen zu Dan und Batuti und wieder zurück. In diesem Augenblick dachte Dan, daß Carberry über Bord springen würde, wenn Hamid el Sarad den anderen verriet, daß die Sarazenen ihn „Plattfuß“ nannten. Doch Hamid schien zu spüren, daß Carberry sich mit dem Namen, den jeder Sarazene mit Stolz getragen hätte, bei seinen Kameraden der Lächerlichkeit preisgeben würde. Ruhig beantwortete er Ben Brightons Frage. „Das heißt in eurer Sprache etwa: „Dort, wo er hintritt, wächst kein Gras mehr’. Meine Männer haben ihn im Palazzo des Marchese di Montiferro kämpfen sehen. Er hat die Spanier reihenweise mit seinem Säbel zur Hölle geschickt.“ Dan O’Flynn und Batuti waren nicht weniger überrascht als Carberry selbst. Erst allmählich begriff der Profos, daß Hamid el Sarad ihm eine goldene Brücke gebaut hatte, und über sein Gesicht breitete sich ein Strahlen aus, das nur für einen kurzen Augenblick erlosch, als er Dan O’Flynn erblickte. Er hörte das anerkennende Gemurmel seiner Männer, und der Kamm schwoll ihm vor Stolz. „Dort, wo er hintritt, wächst kein Gras mehr“, murmelte er unhörbar. Das hörte sich verdammt tausendmal besser an als „Plattfuß“. Er atmete auf. Hamid el Sarad hatte ihm das Leben ein zweites Mal geschenkt, und er würde es dem Sarazenen nie vergessen. Blieben nur noch Dan O’Flynn und Batuti, die die andere Bedeutung des Namens „Tabani yassi“ kannten. Pah, dachte Carberry, wenn sie sich einmal vergessen sollten und mit besoffenem Kopf
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aus der Schule plauderten, konnte er immer noch behaupten, daß es nur der blanke Neid wäre, der aus ihnen spräche. Er würde von nun an dafür sorgen, daß „Dort, wo er hintritt, wächst kein Gras mehr“ die einzig richtige Übersetzung seines muselmanischen Beinamens war. Er überlegte einen Augenblick, ob er den Namen nicht statt seines eigentlichen Vornamens Ed annehmen sollte, aber er entschied sich schweren Herzens dagegen. In entscheidenden Augenblicken war es wohl doch besser, wenn seine Kameraden nur eine Silbe brüllen mußten. 4. Der Seewolf kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Er fluchte lautlos vor sich hin, als er die kleine spanische Feluke sah, die in der Bucht vor Anker lag. Hamid el Sarad war nicht weniger überrascht als Hasard. „Solange wir hier an Land gegangen sind, um mit den Sizilianern Schmuggelwaren auszutauschen, habe ich hier noch nie einen Spanier gesehen“, sagte er. Im ersten Augenblick hatte der Seewolf den Befehl geben wollen, die „Isabella“ zu wenden und wieder aufs offene Meer hinauszusegeln. Doch dann dachte er daran, daß das in das Schiff eingedrungene Salzwasser ihnen das Trinkwasser verdorben hatte. Außerdem wollte er die beiden jungen Sizilianer loswerden. Dieser Giovanni di Scorlia ging ihm allmählich auf die Nerven. Je weiter sie sich der Bucht näherten, desto mehr beruhigte sich der Seewolf. Die spanische Feluke konnte ihnen kaum gefährlich werden. Dan O’Flynn hatte aus dem Großmars gesehen, daß die einzige Bewaffnung des flachen Schiffes aus einer kleinkalibrigen Drehbasse bestand. Offensichtlich hatte sich das Schiff während des Orkans hierher geflüchtet und auch den anschließenden Tag hier verbracht, um eventuelle Schäden auszubessern. Jeder war auf seinem Posten. Al Conroy hatte ein paar Geschütze sowohl an
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Steuerbord als auch an Backbord laden lassen, um jederzeit einen Angriff der Spanier zurückschlagen zu können. Der junge Sizilianer stand auf dem Achterdeck und starrte zur Küste hinüber. Hasard spürte die innere Spannung, die den Jungen erfaßt hatte. Entweder kannte er die Bucht oder aber die Feluke, die dort ankerte. Hamid el Sarad hatte von den Schmugglerfahrten berichtet, die er seit Jahren hierher durchführte. Die Spanier hatten den Handel unter strenger Kontrolle, und es war bei Todesstrafe verboten, ohne Handelsbrief Waren zu verkaufen. Die Sizilianer hatten es schon immer verstanden, das Verbot der verhaßten Spanier zu umgehen. Sie hielten mit den Türken und den spanischen Sarazenen enge Verbindungen. Hamid el Sarad hatte auch von den Wochen nach ihrem Sieg bei Bosa Marina berichtet. Die Spanier hatten mit allem, was ihnen zur Verfügung stand, zurückgeschlagen. Sie hatten den Aufstand gegen den Gouverneur benutzt, um zum großen Schlag gegen die sardischen Sarazenen auszuholen. Der Marchese di Montiferro war ein Teil ihres Planes geworden. Die Spanier waren sich klar darüber, daß sie sich die Sarden nicht zum Blutfeind machen konnten. Sie hatten dem Marchese große Eingeständnisse eingeräumt und dann den Sarazenen die Alleinschuld an dem Aufstand in die Schuhe geschoben. Es hatte zwei blutige Seegefechte vor der südlichen Küste Sardiniens gegeben, in derem Verlauf Hunderte von Sarazenen ihr Leben hatten lassen müssen. An Land waren die Spanier und die Sarden zusammen gegen die Sarazenen losgegangen und hatten alles getötet, was nicht dem muselmanischen Glauben abschwören wollte. „Ich glaube fast, daß wir die letzten sardischen Sarazenen sind“, hatte Hamid el Sarad am Ende seines Berichts gesagt. Er hatte mit seiner Schebecke nach Tunis segeln wollen, um sich mit seinen Leuten dem Piraten Ali el Ulech anzuschließen,
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mit dem er schon mehrmals die sardischen Küstenstädte geplündert hatte. Er wollte sich an den Sarden rächen, die sie hinterhältig verraten hatten. Dann hatte Hamid dem Seewolf diese kleine Bucht südlich des Capo San Vito beschrieben, wo es Wasser gab und er und seine Leute von Bord gehen wollten. Er kannte ein paar Sizilianer, die ihn vor den Spaniern verbergen würden, bis das nächste Türkenschiff diese Bucht anlief. An Deck der Feluke wurde es plötzlich lebendig. Der Seewolf sah, daß sich einige Männer mit Musketen bewaffneten. Er befahl, in einiger Entfernung von der Feluke vor Anker zu gehen, damit die Spanier merkten, daß er nicht unbedingt auf einen Kampf aus war. „Warum schießen Sie die Kerle nicht zusammen?“ fragte Giovanni di Scorlia hitzig. „Es sind Spanier!“ „Auf diesem Schiff befehle ich, Junge“, erwiderte Hasard ruhig. „Du solltest deine Schwester holen, damit ihr so schnell wie möglich von Bord verschwindet. Sei froh, daß unser Trinkwasser beim Orkan verdorben wurde, sonst wärst du mit uns nach Griechenland gesegelt.“ Giovanni di Scorlia spuckte aus, was ihm eine klatschende Ohrfeige von Carberry einbrachte, der zufällig in der Nähe stand. „Auf meinem Schiff wird nicht gespuckt!“ sagte der Profos grollend und hatte den Burschen am Kragen gepackt. „Wisch das ganz schnell wieder auf, bevor ich anfange, mit dir das ganze Achterdeck zu schrubben!“ Der Junge jaulte unter dem harten Griff Carberrys und fiel auf die Knie, als dieser losließ. Er schien zu begreifen, daß es besser war, den Befehl zu befolgen. Hier an Bord dieses Schiffes schien es niemanden zu geben, der auf seiner Seite stand. Er wischte seinen eigenen Speichel mit dem Ärmel seiner Jacke auf und verschwand wuterfüllt unter dem Achterdeck, um seine Schwester zu holen. Ein Ruf von Dan O’Flynn aus dem Mars lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Spanier. Hinter der Feluke tauchte ein
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kleines Boot auf, das von vier Männern zur „Isabella“ gepullt wurde. Der Seewolf nickte zufrieden. Es schien, als sei der Spanier zu Verhandlungen bereit. Angesichts der Übermacht der englischen Galeone blieb ihm zwar auch nichts anderes übrig, aber es gab auch Hitzköpfe, die in aussichtslosen Situationen ihr Leben aufs Spiel setzten. Der Seewolf bat Hamid el Sarad, mit seinen Leuten unter Deck zu gehen. Die Spanier brauchten nicht zu wissen, daß hier ein paar Sarazenen an Land gehen wollten. Ferris Tucker und Big Old Shane ließen sich von den Spaniern nicht weiter stören. Sie bereiteten inzwischen schon die Wasserfässer vor, mit denen sie an Land pullen wollten, um sie zu füllen. Carberry, Batuti, Blacky und Stenmark kümmerten sich um das Boot, das während des Orkans doch einiges abgekriegt hatte. „Beeilt euch!“ rief Hasard ihnen zu. „Ich möchte, daß die Geschwister von Bord sind, wenn der Spanier hier eintrifft!“ „Aye, aye!“ rief Carberry und trieb die Männer an. Sie fierten das Boot an der den Spaniern abgelegenen Backbordseite ab. Carberry holte die jungen Sizilianer an Deck. Hasard und Philip, die beiden Zwillinge, begleiteten sie. Sie hatten noch nichts von der Mißstimmung bemerkt, die zwischen dem Sizilianer und ihrem Vater aufgetreten war. Den kleinen Zwischenfall in der Kapitänskammer nahm Hasard nicht allzu ernst. „Die kleinen Rübenschweine liegen mir mal wieder in den Ohren“, sagte Carberry verlegen. „Sie möchten mit an Land, Sir.“ Der Seewolf blickte seine Söhne durchdringend an. Dann sagte er: „In Ordnung. Aber bleibt bei Mister Carberry, verstanden?“ „Aye, aye, Sir!“ riefen die beiden mit strahlenden Gesichtern. Ferris Tucker und Big Old Shane hatten inzwischen die leeren Wasserfässer ins Boot verfrachtet und halfen den beiden jungen Sizilianern hinunter. Das Mädchen lächelte dem Seewolf noch einmal scheu zu. Es schien, als hätte ihr Bruder ihr
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verboten, zu den Männern freundlich zu sein. Der Seewolf hatte ein ungutes Gefühl, als er Carberry, Ferris Tucker, Big Old Shane, Batuti, Stenmark, und Blacky mit seinen beiden Söhnen und den jungen Sizilianern auf den Strand zupullen sah. Er dachte dabei nicht so sehr an die Spanier, sondern an Giovanni di Scorlia. Er wurde das Gefühl nicht los, daß an der Geschichte des Jungen .einiges nicht stimmte. Aber dann waren die Spanier da und legten an der Steuerbordseite der „Isabella“ an. Außer den vier Rudergasten war nur noch ein Mann auf dem Boot. Er war gekleidet wie ein Edelmann, und seine Verbeugung, die er mit Grandezza vollführte, zeigte dem Seewolf, daß er tatsächlich einen Edelmann vor sich hatte. Er sprach sogar Englisch, mit einem kleinen Akzent zwar, aber fließend. „Mein Name ist Rafael Martinez“, sagte er. „Ich bin der Comandante von Trapani und bitte, an Bord Ihres Schiffes kommen zu dürfen.“ Es folgte eine weitere tiefe Verbeugung, die der Seewolf lächelnd erwiderte. Sam Roskill und Gary Andrews, der zwar noch ein bißchen krumm ging, aber sonst schon wieder in Ordnung war, halfen dem Edelmann an Bord und geleiteten ihn zum Achterdeck, wo Hasard und Ben Brighton ihn erwarteten. Auch Hasard stellte sich vor. Das Gesicht des Spaniers verzog sich, doch der Seewolf las keine Abscheu in seinen Augen, sondern Achtung und Ehrfurcht. „Sie haben einen großen Namen, Senor“, sagte er. „Es ist mir eine ...“ Er stockte. Sein Blick war auf das Boot gefallen, das von der „Isabella“ weg auf den Strand zugepullt wurde. Seine dunklen Augen zeigten Überraschung, und sein Gesicht färbte sich noch dunkler, als es ohnehin schon war. „Waren die Scorlias hier bei Ihnen an Bord, Senor?“ fragte er mit einer Stimme, die um etliche Grade kühler war als vorher. Der Seewolf nickte gelassen. „Wir haben sie während des Orkans gerettet“, erwiderte er. „Sie waren mit
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einem kleinen Boot mitten auf dem Meer und wären wahrscheinlich ertrunken, wenn wir es nicht geschafft hätten, sie an Bord unseres Schiffes zu holen.“ „Waren sie allein?“ fragte der Spanier mit lauerndem Unterton. „Der Mann, der sie begleitete, hat die Bergung nicht überlebt“, sagte Hasard. „Wir haben ihn auf offener See bestattet. Sein Name war Bovalino, soweit ich weiß.“ „Das stimmt“, sagte der Spanier gepreßt. „Wenigstens etwas.“ Der Seewolf wies auf den Niedergang unter der Poop. „Sie sollten mir Ihre Worte erklären, Senor“, sagte er. „Das wird sich am besten bei einem Glas Wein erledigen lassen. Außerdem soll diese Bucht nach dem Hörensagen selten von Spaniern besucht sein. Ich hätte gern von Ihnen gewußt, was Sie hier gesucht haben.“ Der Spanier blickte den Seewolf offen an, als ob er fragen wolle, wer denn eigentlich der Herr dieses Landes sei, aber dann folgte er der Einladung des Engländers und ging hinter ihm her durch den schmalen Gang zur Kapitänskammer, wo der Kutscher ihnen eine Karaffe mit Wein brachte. „Was meinten sie mit Ihrer Bemerkung wenigstens etwas, Senor?“ begann Hasard die Unterredung. Das hübsche Gesicht des Spaniers hatte plötzlich wieder scharfe Züge. „Dieser Bovalino war schon zum Tode verurteilt“, sagte er gepreßt. „Einen Tag vor der Hinrichtung ist er von Kumpanen befreit worden.“ „Sie sollten nicht vergessen, Senor“, erwiderte Hasard, „daß Sie Herren in einem fremden Land sind.“ Der Spanier schüttelte heftig den Kopf. „Das habe ich nie vergessen“, sagte er. „Dieser Bovalino ist nicht verurteilt worden, weil er sich gegen die Obrigkeit aufgelehnt hat, sondern weil er ein Mörder war. Er hatte unzählige Menschen auf dem Gewissen und beileibe nicht nur Spanier. Sie wissen vielleicht nicht, daß es hier auf Sizilien viele Geheimbünde gibt. Einige
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richten sich gegen die spanische Herrschaft, das kann ich sogar verstehen, aber andere sind ausschließlich aus einem Grund ins Leben gerufen worden: um sich durch Verbrechen zu bereichern.“ „Und was haben die Scorlias damit zu tun?“ fragte Hasard. „Stimmt es nicht, daß Sie eine Heirat zwischen Giannina di Scorlia und Manfredo di Corleone verhindern wollten?“ „Ja, das will ich um jeden Preis“, sagte Rafael Martinez. „Bisher haben sich diese beiden Familien bis aufs Blut bekämpft, und so waren sie mehr damit beschäftigt, sich gegenseitig selbst auszurotten, als die Bevölkerung zu terrorisieren und ihre Versorgung durch die Behörden zu verhindern.“ „Sie meinen, die Scorlias und Corleones sind nichts weiter als Banditen?“ „Schlimmer noch“, sagte Martinez, „Sie sind Mörder und Verbrecher, die allesamt an den Strang gehören.“ „Das Mädchen war sehr zurückhaltend und freundlich“, meinte Hasard. Der Comandante winkte ab. „Was meinen Sie, was Frauen in Sizilien zu sagen haben?“ erwiderte er verächtlich. „Wenn sie nicht das tun, was ihr Vater oder Ehemann von ihnen verlangt, schießt man sie über den Haufen oder sticht sie ab. Und wenn wir sie zur Rechenschaft ziehen wollen, stehen wir vor einer Mauer des .Schweigens. Dieses Land ist verflucht, und wenn es nach mir ginge, würde ich unserem König raten, die Insel an den Papst zu verschenken.“ „Sie haben Manfredo di Corleone in Gewahrsam?“ fragte der Seewolf. „Er ist in der Festung von Trapani angekettet“, sagte Martinez grimmig. „Und diesmal wird er hängen. Er hat bei hellem Tageslicht und unter den Augen von einem halben Dutzend Spaniern einen Tagelöhner getötet, weil dieser ihm nicht aus dem Weg gegangen war.“ „Und warum hatten Sie das Mädchen festgesetzt?“ fragte Hasard, dessen Mißtrauen gegen Martinez immer noch nicht ganz verschwunden war, obwohl alles zu stimmen schien, was dieser
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berichtete. Nicht ein einziges Mal hatte er mit einer Antwort gezögert. „Giannina di Scorlia würde alles andere lieber tun, als Manfredo di Corleone heiraten“, sagte der Spanier gepreßt. Plötzlich richtete er seine großen, dunklen Augen fest auf den Seewolf. „Ich will offen zu Ihnen sein, Senor. Ich liebe dieses Mädchen. Ich wollte mit ihr nach Spanien gehen und sie dort heiraten, aber mein Versetzungsgesuch an den König ist abgelehnt worden. Hier war es unmöglich, mit Giannina die Ehe einzugehen. Sie wäre von ihrer Familie irgendwann aus dem Hinterhalt ermordet worden. Deshalb ließ ich sie festsetzen, um die Heirat zwischen ihr und Manfredo di Corleone zu verhindern.“ Hasard schwieg eine Weile. Das eben Gehörte unterschied sich gewaltig von dem, was der junge Sizilianer ihm erzählt hatte. Demnach waren die Scorlias und Corleones Freiheitskämpfer, die sich gegen die spanische Herrschaft auflehnten. Die Worte des Comandante von Trapani hörten sich anders an, und Hasard war geneigt, dem Spanier zu glauben. „Sie haben mir meine Frage noch nicht beantwortet, was Sie in dieser Bucht gesucht haben“, sagte er schließlich. „Gar nichts“, erwiderte Martinez prompt. „Wir hatten mit der Feluke das Boot verfolgt, in dem Giovanni di Scorlia und Bovalino Giannina entführt hatten. Der Orkan zerschlug uns das Ruder, und wir hatten Glück, diese Bucht zu erreichen, bevor der zweite Sturm losschlug. Aber warum fragen Sie, Senor? Ist mit dieser Bucht etwas Besonderes?“ Der Seewolf grinste breit. Er dachte nicht daran, dem Spanier zu verraten, was hier zwischen den Sarazenen, Türken und Sizilianern abgehandelt wurde. Das mußte er schon selbst herausfinden. Der Spanier stand auf. „Ich möchte an Land“, sagte er. „Noch kann ich Giovanni di Scorlia und Giannina fassen.“ Hasard schüttelte den Kopf. „Sie werden noch für eine Stunde mein Gast sein, Senor“, sagte er. „Ich kann nicht
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beurteilen, welche Seite mir die Wahrheit gesagt hat, wahrscheinlich liegt sie irgendwo in der Mitte. Wenn meine Männer mit den vollen Wasserfässern zurück sind, werden Sie mein Schiff verlassen können.“ Rafael Martinez war blaß geworden. „Ich hoffe, Sie werden es nicht bereuen müssen, was Sie jetzt tun“, erwiderte er mit belegter Stimme. 5. Carberry fluchte. Er hatte Ferris Tucker beim Anblick der hohen, schlanken Pinien nicht davon abhalten können, sich einen von den Bäumen für einen neuen Vormast auszusuchen. Er war mit Big Old Shane und Stenmark verschwunden. Nur noch das Pochen einer Axt war von ihnen zu hören. Zum Glück waren sie die beiden jungen Sizilianer endlich los. Der Anblick der Spanier hatte den Jungen ganz schön in Rage versetzt. Er hatte wie ein Verrückter auf seine Schwester eingeredet, die anderer Ansicht als er zu sein schien, aber schließlich hatte er sie mich sich gezerrt und war in dem unwegsamen Gelände verschwunden. Carberry fluchte deshalb so lästerlich, weil er sich mit Blacky und Batuti allein mit schweren Fässern abschleppen konnte, die sie an der Quelle, die leicht zu finden gewesen war, gefüllt hatten. Außerdem war Hasard mal wieder verschwunden. Auch Philip hatte seinen Bruder in den letzten Minuten nicht mehr gesehen. Er rief immer wieder nach ihm, aber Hasard meldete sich nicht. „Warte, Rübenschweinchen!“ murmelte er. „Das war das letztemal, daß ich dich mitgenommen habe! Wenn ich dich zu fassen kriege, du Laus!“ „Da stimmt was nicht“, sagte Philip. „Hasard hätte sich bestimmt gemeldet.“ „Mal den Teufel nicht an die Wand“, sagte Carberry erschrocken. „Du meinst, ihm ist was zugestoßen?“
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Er sah, wie Batuti und Blacky mit dem letzten Faß auftauchten, das sie an der Quelle füllen wollten. „Du gehst mit Batuti zurück zum Boot“, sagte er zu Philip. „Ich werde Hasard suchen.“ Er war weg, ehe Blacky oder Batuti ihn etwas fragen konnten. Philip erzählte es ihnen, und in Batuti stieg eine dumpfe Ahnung auf, daß so etwas Ähnliches geschehen konnte wie damals auf den Jungfraueninseln. Da waren sie mit ein paar Männern und den Zwillingen an Land gewesen, als plötzlich Piraten auftauchten und der Seewolf mit der „Isabella“ ankerauf gehen und sie an Land zurücklassen mußte. Carberry schlug unterdessen den Weg durch den Wald ein, den auch Ferris Tucker genommen hatte. Er hoffte, daß Hasard dort hingelaufen war, um zuzusehen, wie der Baum gefällt wurde. Nach einer Viertelstunde langte er bei Ferris und den anderen an, aber von Hasard war weder etwas zu sehen, noch hatten die Männer etwas von ihm gehört. Fluchend hastete Carberry zurück. Er spürte, wie sich ihm die Haare im Nacken aufstellten. Er trug die Verantwortung für die Zwillinge, und wenn einer von ihnen vermißt wurde, konnte er sich nicht an Bord der „Isabella“ sehen lassen. Er erreichte das Boot. Batuti und Blacky hatten sämtliche Wasserfässer ins Boot geschafft. Sie hatten gerade ablegen und die Fässer hinüber zur „Isabella“ schaffen wollen, um. dann zurückzukehren und Ferris Tucker bei seinem Mast zu helfen. Der Spanier war offensichtlich noch immer an Bord. Auch die vier Rudergasten waren auf der Kuhl und wurden von den Engländern bewirtet. Wahrscheinlich wußten sie gar nicht, wie ihnen geschah. Die anderen Spanier bei der Feluke rührten sich nicht. Ihnen schien das alles nicht ganz geheuer zu sein. Carberry sah an den Gesichtern der anderen, daß auch sie inzwischen nichts von Hasard gesehen hatten. „Pullt mit den Fässern zurück, und nehmt Philip mit“, sagte er gepreßt. „Ich werde
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mich in der Zwischenzeit nach dem Bengel umsehen. Vergeßt nicht, die Sachen mitzubringen, die Ferris für seinen Mast braucht.“ Er sah den überraschten Ausdruck in Batutis Gesicht und drehte sich abrupt um. Er dachte schon, Batuti hätte Hasard entdeckt, doch es war nicht der Junge, der durch das Unterholz des Waldes trat und sich ihnen zögernd näherte. Es war ein alter, gebeugter Mann. Graue Bartstoppeln bedeckten fast sein ganzes Gesicht. Seine Kleidung war mit Dreck und Staub bedeckt. Er sah aus, als hätte er in einem Steinbruch gearbeitet. Ein paar Schritte vor Carberry blieb er stehen. Sein zahnloser Mund öffnete sich. Er stieß ein paar gelallte Wörter hervor, die unverständlich waren. Dann griff er mit der linken Hand in seinen Stoffgürtel und holte ein zerknülltes Stück Papier hervor, das er Carberry reichte. Überrascht nahm Carberry den Zettel entgegen und faltete ihn auseinander. Seine Augen weiteten sich, als er die hastig hingeworfenen Zeilen, die in Englisch abgefaßt waren, las. Er merkte nicht, daß der alte Mann schon wieder den halben Weg zum Unterholz zurückgelegt hatte. Doch dann blickte er auf. Ein wilder Schrei entrang sich seinen Lippen, und mit großen Sprüngen hetzte er hinter dem Alten her. Den Zettel ließ er fallen, und bevor er davonwehen konnte, hatte Batuti seinen Fuß daraufgestellt und hob ihn auf. Er reichte ihn Philip. „Was steht auf Zettel?“ fragte er. Philips Augen weiteten sich wie bei Carberry, und dann las er mit stockender Stimme: „Ich habe den kleinen Engländer in meiner Gewalt. In zwei Tagen könnt ihr ihn an dieser Stelle wieder abholen, wenn ihr dafür sorgt, daß Manfredo di Corleone gegen ihn ausgetauscht wird. Giovanni Procida di Scorlia.“ „Dieser verruchte Hund!“ stieß Blacky hervor. „Hätten wir ihn doch nur ersaufen lassen!“ „Schnell zurückpullen und Seewolf Bescheid sagen“, meinte Batuti. „Dann wir werden alle suchen nach kleines Hasard.“
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Sie verfrachteten Philip ins Boot und stellten ihn ans Ruder, während sie beide bald ins Schwitzen gerieten, als sie allein pullen mußten. An Bord der „Isabella“ hatte man ziemlich genau beobachtet, was am Strand geschehen war, doch niemand hatte sich einen Reim darauf bilden können. Es gab ziemlich betroffene Gesichter, als Blacky berichtet hatte, was geschehen war. Ben Brighton lief sofort in die Kapitänskammer, wo der Seewolf noch mit dem Spanier zusammensaß, und unterrichtete Hasard davon, daß einer der Zwillinge in der Gewalt des jungen Sizilianers war. Der Spanier sprang auf. „Sehen Sie, Senor!“ rief er. „Sie hätten niemals einen Scorlia laufenlassen dürfen! Das ist deren Art, sich für einen Freundschaftsdienst zu revanchieren!“ Der Seewolf hatte alle Farbe aus dem Gesicht verloren. „Was ist mit Carberry?“ fragte er. „Er ist hinter dem alten Mann her, der den Zettel überbrachte“, sagte Ben, und leise fügte er hinzu: „Ich glaube nicht, daß er ohne Hasard an Bord zurückkehrt.“ Nein, das glaubte der Seewolf auch nicht. Carberry würde wie ein Stier losrennen, um den Jungen zurückzuholen. Sicher dachte er dabei nicht an sein eigenes Leben. Der Seewolf wandte sich an Rafael Martinez. „Sind Sie in der Lage, uns zu helfen, Senor?“ fragte er kalt. Er sah das Kopfschütteln des Spaniers. Er hatte nichts anderes erwartet und wandte sich wieder Ben Brighton zu. „Es ist nicht so, wie Sie glauben“, sagte Rafael Martinez schnell. „Ich würde Ihnen diesen Manfredo di Corleone sofort ausliefern, wenn damit das Leben Ihres Sohnes gerettet werden könnte, aber Corleone ist bereits der Gerichtsbarkeit überstellt. Damit habe ich als Comandante meine Befugnis über ihn verloren ...“ Der Seewolf sah, daß der Spanier herumdruckste.
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„Da ist noch etwas, Senor, nicht wahr?“ fragte er. „Wollen Sie es mir nicht sagen?“ Martinez warf den Kopf zurück. „Gut!“ preßte er hervor. „Ich werde es Ihnen anvertrauen, obwohl es eine geheime Kommandosache ist. Ich habe Ihnen nicht die Wahrheit gesagt. Wir sind nicht nur in dieser Bucht, weil wir Zuflucht vor dem Sturm gesucht haben. Ich habe hier eine Kompanie Soldaten an Land gesetzt, die einen überfall der Scorlias und Corleones auf einen Wagentransport von Trapani nach Alcamo vereiteln sollen. Die Soldaten sind nicht von Trapani aufgebrochen, weil sonst die Spitzel der Familien sofort Bescheid gewußt hätten. Ich weiß nicht, wohin der junge Scorlia Ihren Sohn verschleppt hat, aber wenn es stimmt, daß er ihn in zwei Tagen hier austauschen will, kann er nicht in die Berge gehen, wo sich die Scorlias vor meinen Soldaten verbergen. Es bleibt ihm nur eine Möglichkeit, wenn er nicht irgendwo im Freien die Nächte zu verbringen beabsichtigt: Ramocca. Das ist ein kleines Nest in den Bergen südlich von hier, und die Bewohner sind alle von den Scorlias abhängig.“ „Sie meinen, es würde uns gelingen, den Jungen zu befreien’?“ Der Spanier nickte. „Ich habe Zweifel, ob meine Soldaten den Banditen der Scorlias und Corleones gewachsen sind“, sagte er. „Wenn Sie sich bereit erklären, sie mit einem Dutzend Ihrer Leute zu verstärken, werde ich persönlich mit Ihnen das Dorf aufsuchen und ihren Jungen zurückholen.“ Der Seewolf schwieg eine Weile. Dann sagte er leise: „Mir bleibt kaum eine andere Wahl. Wie viele Männer haben Sie noch an Bord der Feluke?“ Rafael Martinez begann zu lächeln. „Ich verstehe Ihr Mißtrauen; Senor“, sagte er. „Aber wenn Sie glauben, daß meine Männer während Ihrer Abwesenheit versuchen, Ihre Galeone zu kapern, werde ich bis auf eine Bordwache von zwei Mann ebenfalls alle Männer mitnehmen.“ Hasard hatte plötzlich das Gefühl, daß er diesem Mann trauen könne. Ihm wurde fast
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übel vor Zorn, als er daran dachte, wie sie unter eigener Lebensgefahr die Sizilianer aus den tobenden Fluten des Tyrrhenischen Meeres gerettet hatten. * Carberry holte den alten Mann mitten im Unterholz ein. Er riß ihn am Arm zurück und brüllte ihn an, wo der Mann sei, der ihm den Zettel gegeben habe. Der alte Mann jaulte vor Schmerzen und zuckte immer wieder mit den Schultern, weil er die Worte, die der riesige Fremde ausstieß, nicht verstand. Es nutzte nichts, daß Carberry ihn schüttelte wie einen leeren Sack Mehl. Er erfuhr nichts von dem Mann. „Wo ist dieser Scorlia?“ brüllte er. Der Name hatte eine ungeheure Wirkung. Der alte Mann verstummte und brachte nicht mal mehr einen Laut des Schmerzes hervor. „Scorlia!“ brüllte Carberry. „Scorlia! Scorlia!“ Jedesmal zuckte der Alte zusammen, als hätte Carberry ihn mit der Peitsche geschlagen. „Ich hau dich zu Mus, wenn du das Maul nicht endlich aufreißt!“ brüllte Carberry, aber selbst diese Drohung verpuffte bei dem Alten im Leeren. Er schien zu wissen, was der Riese von ihm wollte, aber die Angst vor den Scorlias schloß ihm den Mund. Carberry stieß den Mann wütend von sich, daß er krachend im Unterholz zusammenbrach, dann folgte er der Spur, die der Alte auf seinem Weg zum Strand hinterlassen hatte. Immer wieder brüllte er Hasards Namen, aber er erhielt keine Antwort. Er wußte, daß es unsinnig war, weiterzumarschieren, aber was sonst sollte er tun? Zurück zur „Isabella“? Niemals! Nicht ohne Hasard. Er schwor sich, so lange zu suchen, bis er den Jungen wiedergefunden hatte, und wenn Hasard nicht mehr lebte, dann würde er sich selbst eine Kugel in den Kopf schießen.
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Hasard war überrascht gewesen, als plötzlich der junge Italiener vor ihm aufgetaucht war. Er hatte sich nichts dabei gedacht, als Giovanni ihn zu sich gewinkt und dabei angedeutet hatte, leise zu sein. Seine Neugier hatte ihn alle Vorsicht vergessen lassen. Minuten später hatte er sich selbst verflucht. Giovanni di Scorlias Gesicht hatte plötzlich alle Freundlichkeit verloren gehabt. Seine kräftige, schmale Hand hatte sich auf Hasards Mund gepreßt, und sosehr der Junge sich auch gewehrt hatte, es war ihm nicht möglich gewesen, sich dem harten Griff zu entwinden. Fast eine Stunde hatte Giovanni di Scorlia ihn durch unwegsames Gelände geschleppt, bis sie einen Karrenweg erreicht hatten. Dort hatte Giannina di Scorlia auf ihren Bruder gewartet. Hasard hatte versucht, sofort zu fliehen, als sich Giovannis Griff zum erstenmal gelockert hatte, aber der junge Bursche hatte ihn mit einem Fausthieb zu Boden gestreckt, der Hasards Nase bluten ließ und ihm eine schmerzhafte Schramme an der rechten Wange eingebracht hatte. Dann war Hasard ruhig geworden. Die Wut fraß ihn fast auf. Nicht so sehr darüber, daß Giovanni di Scorlia ihn entführt hatte, sondern über sich selbst, daß er sich so einfach hatte übertölpeln lassen. Von nun an war er den Scorlias ohne Widerstand gefolgt. Seine Wut war langsam wieder der Neugier gewichen. Er hatte einiges mitgekriegt, was an Bord gesprochen worden war, und er war immer noch der Meinung, daß Giovanni di Scorlia ein Rebell war, der gegen die Dons kämpfte wie auch sein Vater und die Freunde von der „Isabella“. Er hatte Giovanni und Giannina danach gefragt, was sie mit ihm vorhätten, aber keine Antwort erhalten. Dann hatten sie ein kleines Dorf erreicht, das mitten in einer karstigen, nicht zu überschauenden Hochebene lag. Die wenigen Häuser, die aus Felsquadern und Lehm erbaut waren, paßten sich der Umgebung so gut an, daß
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Hasard sie erst erkannt hatte, als er schon fast an den ersten Häusern vorbei gewesen war. Finstere Gestalten hatten sie plötzlich umringt. Hasard hatte bemerkt, daß die Männer Giovanni di Scorlia wie einen Herrn behandelten, dem sie tief ergeben waren. Dann war er von zwei bärtigen Individuen, die einen scharfen Gestank ausströmten, als lebten sie in einem Ziegenstall, gepackt und in ein Haus geschleppt worden, wo man ihn in einen dunklen Raum einsperrte. Er hatte gegen die eichene Tür getrommelt und seine Wut hinausgeschrien, aber die Männer, die sich in dem angrenzenden Raum aufhielten, hatten nur gelacht. Jetzt hockte Hasard schon seit mehr als vier Stunden in dem dunklen, kalten Raum. Die Stimmen im Nebenzimmer waren verstummt. Hasard hatte vor zwei Stunden Schritte gehört. Ein Mann hatte den anderen etwas auf Italienisch gesagt, und dann hatten einige das Haus verlassen. Eine Weile hatte er dann noch Geräusche vernommen, bis auch davon nichts mehr zu hören gewesen war. Erst jetzt begann der Junge, sich in. seinem Gefängnis ein bißchen umherzutasten. Die Pritsche, auf der er die ganze Zeit gehockt hatte, bestand aus einem flachen Holzgestell, auf dem eine mit Stroh gefüllte Matratze lag. Er stieß sich die Knie, als er sich langsam vortastete. Als er sich bückte, glitten seine Hände über eine flache Truhe, dessen gewölbter Deckel sich leicht anheben ließ. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Er dachte an die gruseligen Geschichten, die ihm die Männer an Bord der „Isabella“ häufig erzählten. Was war, wenn sich in dieser Truhe das Skelett eines Toten befand, der in diesem Gefängnis elendig verhungert war? Er schalt sich einen Angsthasen und griff beherzt in die Truhe. Er fühlte Stoff und Eisengegenstände und unterdrückte einen kleinen Schrei, als seine. Fingerspitze gegen einen scharfen Messerrücken stieß, der. seine Haut aufschnitt. Er nahm den Finger in den Mund, um das Blut
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aufzusaugen. Mit der anderen Hand tastete er vorsichtig weiter. Sein Herz vollführte einen Hüpfer, als er Wachs berührte und feststellte, daß er eine Kerze gefunden hatte. Er vergaß seinen Schnitt am Finger und wühlte jetzt in der Truhe herum. Wenn hier eine Kerze lag, gab es vielleicht auch einen Feuerstein und Zündwolle, mit dem er eine Flamme erzeugen und die Kerze anstecken konnte. Er hatte sich nicht getäuscht. Jagdeifer hatte ihn gepackt, als er seinen Fund zur Pritsche trug und alles so darauf deponierte, daß. er es mit einem Griff wiederfinden konnte. Er zupfte etwas Zündwolle heraus, legte sie auf den Boden und kniete sich daneben nieder. Immer wieder schlug er den Feuerstein gegen den steinernen Boden. Zwar schlugen kleine Funken auf, aber er schaffte es nicht, die. Zündwolle in Brand zu setzen. Zorn trieb ihm die Tränen in die. Augen. Fast wollte er. schon. aufgeben, als ihn ein anderer Gedanke fesselte. Wenn in der Truhe ein Messer gewesen war, konnte er dort vielleicht auch eine Pistole finden. Er kroch wieder auf die Truhe zu und wühlte weiter darin, nachdem er das Messer herausgeholt und in seinen Gürtel gesteckt hatte. Seine Hände berührten einen flachen Kasten. Er wollte ihn erst beiseite schieben, doch dann öffnete er. ihn. Er konnte den leisen Jubelschrei nicht zurückhalten. Seine Finger ertasteten zwei Pistolen, eine Kugelzange und eine Pulverflasche aus Metall. Er hob den Kasten heraus und kroch zur Pritsche zurück. Im ersten Augenblick dachte er daran, etwas Pulver auf die Pfanne einer Pistole zu schütten, die Zündwolle daran zu halten und abzudrücken. Doch wenn die Waffe geladen war, würde der Schuß ihn verrate. Er nahm die Pulverflasche, schüttete etwas Pulver daraus auf den Fußboden und schlug wieder den Zündstein an. Die Stichflamme jagte ihm einen solchen Schrecken ein, daß er vergaß, die
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Zündwolle rechtzeitig daran zu halten. Ehe er reagierte, verlosch die Flamme. Er versuchte es noch einmal. Diesmal nahm er etwas weniger Pulver und schüttete es auf die Zündwolle. Ein Leuchten ging über sein Gesicht, als die Wolle zu brennen begann und er in aller Ruhe die Kerze daran entzünden konnte. Er hielt die Kerze hoch und schaute sich in dem fensterlosen Raum um, der vielleicht ein Ausmaß von vier mal vier Yards hatte. An der gegenüberliegenden Wand stand eine zweite Pritsche, davor ein aus rohen Brettern zusammengenagelter Tisch und ein Stuhl, der aussah, als würde er zusammenkrachen, wenn sich jemand daraufsetzte. Neben der Pritsche gegenüber stand ein Regal an der Wand, das leer war, und in der anderen Ecke ein hölzerner Eimer, in den die Gefangenen wohl ihre Notdurft verrichten sollten. Die Truhe, die seine Schätze verborgen hatte, stand zwischen den beiden Pritschen. Hasard stellte die Kerze auf den Stuhl und trug das wacklige Ding neben die Truhe. Als erstes holte er sich die Pistolen und betrachtete sie. Sie waren nicht geladen. In dem flachen Kasten befanden sich auch Bleikugeln und Dämmpfropfen, so daß er keine Schwierigkeiten hatte, die Waffen zu laden. Er fand noch zwei weitere Kerzen in der Truhe, sonst lagen nur noch Kleider darin. Hasard wollte beide Pistolen zu dem Messer in seinen Hosenbund schieben, aber die Waffen waren zu schwer. Sie zogen ihm die Hose hinunter. Er legte die Pistolen auf den Tisch. Sein Blick fiel auf die Tür, die ihm den Weg in die Freiheit versperrte. Sie bestand aus dicken Bohlen. Hier drinnen gab es nicht einmal einen Türgriff. An den Geräuschen, die er gehört hatte, als er eingesperrt worden war, wußte er, daß auf der anderen Seite ein Balken vorgelegt war. Es war unmöglich für ihn, die Tür zu sprengen. Er legte ein Ohr gegen die Tür. Es war ihm, als höre er das Atmen eines schlafenden Menschen. Sicher hatten die
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Kerle einen Wächter zurückgelassen, der aufpassen sollte, daß der kleine Gefangene nicht floh. Hasard grinste grimmig. Sie haben Angst vor mir, dachte er mit stolzgeschwellter Brust. Fieberhaft begann er zu überlegen,. wie er es anstellen sollte, den schlafenden Mann zu wecken, ihn hereinzulocken und auszuschalten. Er sah sich in dem Raum um. Sein Blick blieb auf dem schweren Regal haften, das an der linken Wand stand. Er ging hinüber und versuchte, es anzuheben. Keuchend gelang es ihm nach ein paar Minuten. Er schob es einen Yard von der Wand weg. Zum Glück ging die Tür nach außen auf, so daß sie dem Regal nicht im Wege war, wenn er es auf den eintretenden Wächter stürzte. Er versuchte, das Regal umzukippen, aber nach einer Weile mußte er es keuchend aufgeben. So würde er zuviel Zeit verlieren. Der Wächter konnte sich in aller Seelenruhe in Sicherheit bringen, wenn das Regal nur langsam kippte. Er sah das schmale Kästchen, in dem die Pistolen gelegen hatten, und holte es sich. Mit einer gewaltigen Anstrengung schaffte er es, den Kasten unter das Regal zu bugsieren, daß dieses genau auf der Kippe stand. Jetzt brauchte er sich nur kurz dagegen zu lehnen, und das Regal würde sofort umkippen. Hasard betrachtete voller Stolz sein Werk. Dieser verdammte Giovanni di Scorlia würde schon noch merken, was er sich eingebrockt hatte, als ihm eingefallen war, ausgerechnet ihn, einen der wildesten Seewölfe, gefangen zu nehmen und zu verschleppen! Er dachte an die schöne Giannina. Sie war die ganze Zeit über sehr freundlich zu ihm gewesen, und er hatte den Eindruck gehabt, daß sie gar nicht mit dem, was ihr Bruder tat, einverstanden war. Hasard nickte grimmig. Ja, er würde Giannina auf der Flucht mitnehmen. Wenn sie dann zurück auf der „Isabella“ waren, würde er seinen Vater bitten, Giannina mitzunehmen, damit er sie heiraten konnte, wenn er ein bißchen größer war. Und wenn
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sein Vater nicht damit einverstanden war, würde er die Feluke der Spanier erobern und allein auf Kaperfahrt gehen. Jawohl, sein Entschluß stand fest. Er war fast schon ein Mann, und ein Mann mußte seine eigenen Wege gehen. Seine Gedanken kehrten zurück zu dem Plan, den er sich zurechtgelegt hatte, um seinen Wächter zu übertölpeln. Zuerst hatte er vorgehabt, einen Schuß abzufeuern, der den Mann hereinlocken sollte, doch dann wußte er, daß das nicht gut war. Der Wächter brauchte nicht zu wissen, daß er schwer bewaffnet war. Er würde schreien, den Mann am Schlafen hindern, bis der die Beherrschung verlor und in den Raum eindrang, um ihn zum Schweigen zu bringen. Sein Blick fiel auf die beiden Pistolen auf dem Tisch. Er mußte irgendeine Lösung finden, wie er die Schußwaffen mit sich tragen konnte, ohne sie in den Händen halten zu müssen. Er ging noch einmal zur Truhe hinüber und holte einen breiten Ledergürtel hervor, den er sich kreuzweise um den Oberkörper. schlang. Er versuchte, die Pistolen hineinzustecken, aber es ging nicht. Sobald er sich bewegte, rutschten sie heraus. Dann fand er eine Ledertasche, die er sich umhängen konnte. Die Pistolen paßten hinein. Da der Riemen der Tasche zu lang war, schlug er einen Knoten hinein. Jetzt hing sie an seiner Hüfte. Sie war schwer und würde ihn beim Laufen behindern. Er nahm eine Pistole wieder heraus und verfrachtete stattdessen eine Handvoll Kugeln, Dämmpfropfen und die Pulverflasche darin. Die andere Pistole würde er in die Hand nehmen und sie fortwerfen, wenn er sie abgefeuert hatte. Er blickte sich noch einmal um. Die Kerze auf dem Stuhl wollte er brennen lassen. Der Wächter würde bei ihrem Anblick sicher überrascht stehenbleiben, wenn er den Raum betreten hatte, und sich nach ihm umschauen. Hasard begann zu schreien. Er erinnerte sich an so manche Ausdrücke, die er von Carberry gehört hatte. An Bord der „Isabella“ war ihm untersagt, so etwas in
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den Mund zu nehmen, aber hier konnte er sie nach Herzenslust brüllen. „He, du gestreiftes Rübenschwein da draußen!“ brüllte er. „Erhebe deinen fetten Affenarsch, sonst hänge ich dich mit deinem verfaulten Kohlkopf nach unten über das Kaminfeuer und röste dich, bis der Dampf aus deinen Blumenkohlohren zischt!“ Er holte Atem, um weiterzubrüllen, als er das Geräusch eines scharrenden Stuhles hörte. Der Wächter war also aufgewacht. Vielleicht hatte er im Schlaf nicht mitgekriegt, was los war, und Hasard brüllte wieder los. „Du dreimal in Bilgenwasser getaufter Hundesohn! Du Kinderschreck und Bettnässer! Du räudiger Waldschrat, hast du dein Gehirn verloren, oder weshalb antwortest du nicht?“ „Mamma mia, che ragazzo sfacciato!“ sagte der Mann vor der Tür. Hasard hörte Schritte. Er legte beide Hände gegen die Rückwand des Regals und hielt den Atem an. Er erschrak, als das Regal bei der kleinsten Berührung zu kippen begann. Schnell faßte er an die Seite und zog es zurück. „Was ist mit dir los, du feiger Hund!“ schrie er. „Komm rein, wenn du die Hose nicht schon voll hast. Hier kannst du lernen, was ein Engländer ist! Ich zieh dir die Haut in Streifen von deinem Affenarsch, wenn du dich hier drin sehen läßt!“ Der Wächter schien langsam die Beherrschung zu verlieren. „Silenzio!“ brüllte er zurück. „Scheiß was auf Silenzio!“ rief Hasard. „Ich hab Hunger! Bringt mir was von dem Fraß, den ihr Essen nennt! Und Durst hab ich auch! Ich könnte ein ganzes Faß Bier leersaufen! Bier, verstehst du das, du Affenarsch, wie, was?“ Dem Wächter wurde die Sache endgültig zu bunt. Hasards Herz begann heftig zu schlagen, als er hörte, wie der Sizilianer den Balken aus der Türhalterung hob und dabei wütend vor sich hinmurmelte. Er schob
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sich ein Stück zur Seite, damit er sehen konnte, ob der Wächter den Raum betrat. Quietschend öffnete sich die schwere Bohlentür. Hasard sah für einen kurzen Augenblick nur die Hand, die einen Degen hielt. Der Wächter stieß einen wilden Fluch aus, dann trat er einen Schritt in den Raum. Hasard warf sich gegen das schiefstehende Regal. Es kippte sofort. Der Wächter hatte das Geräusch gehört und wandte den Kopf. Seine Augen weiteten sich, und er wollte zurückspringen, doch da hätte ihn das Regal schon erfaßt und riß ihn zu Boden. Sofort war Hasard bei ihm. Er hielt die eine Pistole mit beiden Händen umklammert und richtete die Mündung auf den Mann, von dem nur die Beine unter dem Regal hervorschauten. Der Wächter rührte sich nicht mehr. Entweder hatte das Regal ihn erschlagen, oder er hatte das Bewußtsein verloren. Hastig begann Hasard, über das Regal zu klettern. Draußen brannte eine Petroleumlampe. Auf dem Tisch lagen ein Laib Brot und ein Stück Käse, der zwar ziemlich stank, aber dennoch Hasard bewußt werden ließ, daß er seit mehr als zehn Stunden nichts mehr gegessen hatte. Er stopfte Brot und Käse in seine Ledertasche, löschte die Petroleumlampe und huschte zur Tür hinüber, die von innen verriegelt war. Er zog den Riegel zurück. Dann wandte er den Kopf. Die Tür zu dem Raum, in dem er gefangen gehalten worden war, stand noch offen. Rasch lief er zurück, warf die Tür zu und hob den Balken in seine Halterungen. Jetzt konnte der Wächter sehen, wie es war, wenn man eingesperrt war. Hasard verließ das Haus. Es war dunkel draußen, nur die Sterne gaben ein schwaches, milchiges Licht. Er dachte an Giannina. Wie sollte er herausfinden, wo sie steckte? Brachte er sich nicht selbst in erneute Gefahr, wenn er hier im Ort nach ihr suchte? Er wußte, daß er die Nacht ausnutzen mußte, um von hier zu verschwinden, aber gleichzeitig war ihm klar, daß er in der
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Dunkelheit niemals den Weg zurück zu der Bucht finden würde, in der die „Isabella“ vor Anker lag. Er hörte laute Stimmen, die sich eine schmale Gasse herauf näherten: Schnell zog er sich in einen dunklen Hauseingang zurück. Drei Männer gingen an ihm vorbei. Sie schienen getrunken zu haben. Sie waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß sie den Jungen im Schatten des niedrigen Torbogens nicht bemerkten. Hasard atmete auf. Er war entschlossen gewesen, sich zur Wehr zu setzen und die Pistole abzufeuern, aber der Schuß hätte das ganze Dorf geweckt und eine Flucht für ihn in Frage gestellt. Er versuchte, sich daran zu erinnern, welchen Weg sie ins Dorf genommen hatten. Vor einem größeren Haus hatte Giovanni di Scorlia ihn, Hasard, den anderen Männern übergeben, damit sie ihn einsperrten. Ein Gedanke schoß durch Hasards Kopf. Gehörte dieses größere Haus vielleicht den Scorlias? Dann mußte sich auch Giannina dort aufhalten! Er lief weiter. Immer wieder blieb er stehen, um sich zu orientieren und die dunklen Gassen zu beobachten, ob nicht irgendwo ein Mann lauerte, der seine Flucht vielleicht schon bemerkt hatte. Aber bis auf die drei Betrunkenen begegnete er niemandem mehr. Er erreichte ungesehen das große Haus. Das große Tor, das doppelt so hoch war wie er selber, war geschlossen. Hasard schlich um das Haus herum. Nirgends gab es eine Möglichkeit, in das Haus einzudringen. Dann sah er den flachen Stall, der an das Haus angebaut war. Wenn es ihm gelang, aufs Dach zu klettern, konnte er von dort aus eins der Fenster erreichen. Eine Stimme meldete sich in ihm. Sie warnte ihn, dieses Risiko einzugehen. Wer sagte ihm denn, daß Giannina mit ihm gehen würde? Und wie konnte er sich mit ihr verständigen? Sie hatte kein Wort gesprochen, -seit sie von den Seewölfen aus dem Meer gerettet worden war. Ihr Bruder hatte immer für sie gesprochen.
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Beherrschte sie vielleicht die englische Sprache nicht wie Giovanni? Hasard schüttelte die Gedanken ab. Er hatte sich entschlossen, Giannina zu seiner Frau zu nehmen, also war es auch seine Pflicht, sie von ihrem Bruder, der auf der Flucht sehr grob zu ihr gewesen war, zu befreien. Er sah einen langen Stecken am Boden liegen, hob ihn auf und lehnte ihn an die Ecke, wo der Stall und das Haus aneinanderstießen. Die Ledertasche an seiner Seite scheuerte gegen die Wand des Hauses, als er sich an der Stange hochzog. Er hielt einen Moment inne, doch niemand schien etwas gehört zu haben. Er hatte sich gerade auf dem Dach des Stalles aufgerichtet, als in einem der Zimmer im ersten Stock ein Licht angezündet wurde. Der Schein fiel heraus aufs Dach des Stalles, und Hasard warf sich erschrocken flach hin und wagte nicht zu atmen. Seine Ledertasche war hart auf das Bretterdach gefallen. Der dumpfe Schlag erschien ihm in der Stille der Nacht wie Kanonendonner. Mein Gott! dachte er. Das müssen die doch gehört haben! Ein Schatten tauchte am Fenster auf, das ihm am nächsten lag. Der Lichtschein daraus zeichnete nur einen Yard von ihm entfernt ein schiefes Viereck aufs Stalldach. Hasard glaubte, das Herz müsse ihm stehenbleiben, als das Fenster geöffnet wurde. Das Licht erlosch plötzlich. Jemand steckte den Kopf heraus und schaute nach links und rechts. Dann hörte Hasard das Rascheln von Kleidern, und eine schlanke Gestalt schob sich über die Fensterbank auf das Dach des Stalles. Nur zwei Yards neben Hasard, der mit großen Augen auf die Mädchengestalt blickte, kauerte sie sich nieder. „Giannina!“ flüsterte Hasard überrascht. Das Mädchen zuckte zusammen und stieß einen leisen Schrei aus. Der Kopf flog herum. Lange, dunkle Haare fielen ihr auf die Schultern.
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Sie starrte Hasard an wie einen Geist, und es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich gefangen hatte. „II Inglese piccolo!“ flüsterte sie fassungslos. „Donde vieni?“ „He?“ fragte Hasard leise zurück, Zier kein Wort verstanden hatte. „Woher du kommen?“ fragte Giannina. „Ich denke, du eingesperrt!“ Hasard begann zu grinsen. „Ich bin ausgebrochen!“ sagte er, und in seiner Stimme schwang unverkennbar Stolz mit. „Und was du suchen hier auf Dach?“ Hasard blickte sie mit großen, bewundernden Augen an. Er hob die Pistole, die er in der rechten Hand hielt, und sagte: „Ich wollte dich befreien. Dein Bruder war sehr böse zu dir. Ich habe dir angesehen, daß du nicht gern mit ihm gegangen bist.“ Ihre Hand strich über seinen Kopf. „Grazie, amigo mio“, flüsterte sie. „Wir müssen beeilen. Vielleicht sie bald merken, daß du weg. Dann sie werden jagen dich. Sie brauchen kleinen Engländer, weil sie wollen tauschen dich gegen Manfredo di Corleone.“ Hasard verstand nicht viel von dem, was Giannina ihm erzählte. Sie hatte einen ziemlich starken Akzent und radebrechte wesentlich schlimmer als Batuti. Er wußte nur, daß auch Giannina so schnell wie möglich von hier fort wollte. Er huschte zurück zu der Ecke, wo die Stange lehnte, und bedeutete Giannina, daran hinunterzurutschen. Sie zögerte nicht. Hastig folgte Hasard ihr. Sie nahm seine Hand und führte ihn durch dunkle Gassen, bis sie die letzten Häuser des Dorfes erreicht hatten und, den Karrenweg entlangliefen. Nach einer Weile verließen sie den Weg und gingen quer durch das unwegsame Gelände. Hasard mußte erkennen, daß er allein auf verlorenem Posten gewesen wäre. Er wußte nicht einmal, welche Richtung er hätte nehmen müssen, um zurück zur Bucht zu gelangen. Giannina, die vorausging, sagte kein Wort. Ihr Atem ging keuchend. Trotzdem ließ sie
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in der Schnelligkeit nicht nach. Hasard spürte, daß sie Angst hatte. Wahrscheinlich vor ihrem Bruder. Er preßte die Lippen zusammen und schwor sich, Giannina bis zum letzten Atemzug gegen alle Feinde zu verteidigen. 6. Carberry hatte die Spur schon nach weniger als hundert Yards verloren. Er war nur einen kurzen Augenblick zögernd stehengeblieben und hatte daran gedacht, daß es klüger sei, zur Küste zurückzukehren und mit den anderen gemeinsam auf die Suche nach Hasard zu gehen. Doch die Scham über sein Versagen war stärker. Mit zusammengepreßten Lippen marschierte er weiter, durchquerte den Waldgürtel und hielt in seinem Schritt auch nicht inne, als er die karstige Hochebene erreichte. So weit sein Auge reichte, sah er gelbrötliches Gestein und eine karge Vegetation. Felsbrocken lagen überall herum, als wären sie vom Himmel gefallen. Carberry dachte nicht an seine Füße, die bald wieder zu schmerzen begannen. Er dachte an den Fußmarsch vor einem Monat durch die Berge Sardiniens, und er fluchte ununterbrochen vor sich hin. Immer wieder blieb er stehen und ließ seinen Blick über das unübersichtliche Gelände wandern. Nirgends stieg eine kleine Staubfahne in den Himmel, die ihm vielleicht die Anwesenheit von Menschen hätte verraten können. Es wurde langsam Abend. Carberrys Füße brannten wie Feuer. Wenn er daran dachte, daß er den ganzen Weg zur Küste wieder zu Fuß zurücklegen mußte, wurde ihm schwarz vor den Augen. Gegen Abend wußte er, daß sein Marsch unsinnig gewesen war. Er befand sich jetzt mitten in einer menschenleeren, trostlosen Hochebene und hatte nichts erreicht. Er hockte sich nieder und begann, seine Füße zu kneten. In seinem Kopf begann es, dumpf zu pochen. Er faßte sich an die
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Schläfe, und erst nach einer Weile bemerkte er, daß das Pochen nicht in seinem Kopf war, sondern irgendwo vor ihm. Er starrte den Hügelkamm vor sich an. Reiter, dachte er. Dort hinter dem Hügelkamm reiten irgendwelche Leute vorbei! Mit einem Satz war er auf den Beinen. Die Schmerzen in den Füßen bemerkte er plötzlich nicht mehr. Hastig bewegte er sich auf den Hügelkamm zu. Der Hufschlag wurde lauter. Dicht unterhalb des Hügelkammes ließ sich Carberry auf die Knie nieder und kroch auf allen vieren das letzte Stück. Er ahnte, daß es seine allerletzte Chance war, vor der einbrechenden Dunkelheit noch etwas zu erfahren, was ihn vielleicht auf die Spur von Hasard bringen konnte. Er schob seinen Kopf über eine flache Felsplatte. Unter ihm zog sich das Band eines Fahrweges dahin, und dann entdeckte er acht Reiter, die in westlicher Richtung über die Straße ritten. „Da soll mich doch der Klabautermann zum Frühstück verspeisen!“ stieß er hervor, als er in einem der Reiter niemand anderen als Giovanni di Scorlia erkannte. Im ersten Moment war er versucht, aufzuspringen, seinen Säbel herauszureißen und auf die acht Reiter loszustürmen. Doch dann sah er, daß alle Männer schwer bewaffnet waren. Ihre Degen und Messer hätte er nicht gefürchtet, aber jeder von ihnen trug mindestens zwei Pistolen bei sich. Carberry ließ sie vorbeireiten. Als sie in einer Staubwolke, die von der untergehenden Sonne glutrot erleuchtet wurde, verschluckt worden waren, überlegte er, was er tun solle. Hasard war nicht bei ihnen gewesen. Das konnte nur bedeuten, daß der Junge irgendwo in der Richtung war, von wo der Sizilianer und seine sieben Begleiter hergeritten waren. Andererseits, mit ihren Pferden konnten die Männer eine ziemlich große Strecke zurückgelegt haben, so daß er, Carberry, die ganze Nacht marschieren mußte, um
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den Ort zu erreichen, an dem Hasard zurückgeblieben war. Und wenn Giovanni di Scorlia den Jungen anderen Männern übergeben hatte, die ihn weiter ins Landesinnere verschleppten? Carberry dachte daran, daß der Sizilianer am morgigen Tag Hasard gegen diesen Manfredo di Corleone austauschen wollte, von dem er noch nie was gehört hatte. Zu weit konnten sie Hasard also nicht verschleppen. Aber sie hatten Pferde, und damit waren sie mehr als doppelt so schnell wie er. Carberry blickte hinter der Staubwolke her, die immer kleiner wurde. Von den Reitern war nichts mehr zu sehen. Sie waren hinter einem weiteren Hügel verschwunden. Dann war die Staubwolke von einem Augenblick zum anderen nicht mehr zu erkennen. Carberry wunderte sich, und dann wußte er, daß die Reiter angehalten haben mußten, sonst würde der Staub immer noch in den Himmel steigen. Oder aber sie ritten über felsiges Terrain, was Carberry nicht glaubte, denn die Männer hatten es so eilig gehabt, daß sie sicher nicht von der Straße abgewichen waren. Carberry entschloß sich, den Reitern zu folgen. Vielleicht schlugen sie ein Lager für die Nacht auf. Er lächelte grimmig vor sich hin. Er würde sich Giovanni di Scorlia aus der Gruppe der Reiter herauspicken, und dann würde er ihn mit den Fäusten befragen, wohin er Hasard geschleppt hatte. Ohne auf die Schmerzen in seinen Füßen zu achten, schritt Carberry vorwärts. Der Zorn auf den jungen Sizilianer erstickte alle anderen Gefühle. Er kannte die Zusammenhänge nicht und wußte nichts von der Feindschaft der Scorlias zu Rafael Martinez — er wußte nur, daß es das Undankbarste war, was er je in seinem Leben hatte erfahren müssen. Nach einer halben Stunde hatte Carberry den Hügel erreicht, hinter dem die Reiter verschwunden waren. Die Straße verlief durch einen Hügeleinschnitt und beschrieb eine Kurve. Das Klirren von Waffen warnte ihn rechtzeitig. Er blieb einen Augenblick
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lauschend stehen, dann stürmte er den Hang zur linken Seite der Straße hinauf und warf sich oben auf den Bauch. Vor Überraschung stieß er einen leisen Pfiff aus, als er unter sich an der Straße ein paar Gebäude sah. Männer kämpften miteinander. In einer von einer Steinmauer eingefaßten Koppel standen ein paar Pferde und Esel. Carberry sah, wie ein Junge zwischen den Tieren untertauchte und zu fliehen versuchte. Doch einer der acht Reiter, die ihre Pferde einfach vor dem größten der Häuser stehengelassen hatten, bemerkte es und verfolgte ihn sofort. Giovanni di Scorlia streckte mit seiner Pistole gerade einen dicken Mann nieder, der mit einer hölzernen Mistgabel auf einen anderen Angreifer losstürmte. Das Krachen des Schusses brach sich an den umliegenden Hängen, und für einen Augenblick schienen alle Kämpfenden zu erstarren. Der Dicke ging in die Knie und preßte die Hände vor den Leib. Sein Jammern drang bis zu Carberry hinauf. Der Schuß hatte den Kampf dort unten beendet. Carberry sah, wie die Männer um Giovanni di Scorlia die Leute zusammentrieben, die auf diesem Gehöft lebten. Offensichtlich war es so etwas wie eine Station, auf der Reisende übernachten konnten. Einige der Männer brachten ihre Tiere in die Koppel, die anderen verschwanden mit ihren Gefangenen im Haus. Carberry richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Burschen, dem die Flucht durch die Koppel gelungen war. Aber noch hatte er einen Mann auf seinen Fersen. Carberry sah nur den Verfolger. Er hatte zwar eine Pistole im Gürtel, aber er schien nicht gewillt, die Schußwaffe zu benutzen. Seine Bewegungen waren geschmeidig, und Carberry ahnte, daß der fliehende Junge wohl keine Chance hatte, dem Mann zu entgehen. Dann tauchte der Junge plötzlich hinter ein paar niedrigen Büschen auf. Er blickte sich gehetzt um und lief genau auf die Stelle zu, an der Carberry lag.
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Carberry blickte sich hastig um. Ein paar niedrige Büsche waren alles, wo er sich notdürftig verbergen konnte. Er zog sich zurück, holte seinen Säbel hervor und kauerte sich hinter den Büschen nieder. Er hoffte, daß der Junge versuchen würde, ebenfalls diese Büsche als Deckung zu nehmen, dann konnte er den Verfolger abfangen und überwältigen. Er hatte sich nicht getäuscht. Der Junge keuchte, als er den Hügelkamm erreicht hatte. Seine Augen zuckten über das Gelände, und wie Carberry sah auch er keine andere Möglichkeit, sich vor den Blicken des Verfolgers zu verbergen, als die Büsche. Er lief darauf zu, und als er Carberry erblickte und mit weit aufgerissenen Augen den schwarzhaarigen Riesen mit dem narbigen Gesicht anstarrte, war es schon zu spät für ihn. Carberrys Faust zuckte vor und traf den Jungen am Kinn. Der Schlag saß voll, und der Junge konnte nicht einmal mehr einen Laut der Überraschung ausstoßen. Er wurde hinter die Büsche gezogen, ohne daß er etwas davon bemerkte. Im nächsten Moment tauchte der Verfolger auf. Jetzt hielt er seine Pistole in der rechten Hand. Offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, daß der Junge vor ihm den Hügelkamm erreichen würde, und, nun glaubte er ihn nur noch mit einer Kugel einholen zu können. Carberry zog sich weiter zurück und ließ den Jungen liegen. Vielleicht ließ der Verfolger sich täuschen und war für einen kurzen Augenblick so überrascht, daß er nicht daran dachte, seine Pistole abzudrücken. Der Mann lief den Hang hinunter auf die Büsche zu. Er schien nichts zu befürchten, denn er wußte wahrscheinlich, daß der Junge nicht bewaffnet war. Wie Carberry vermutet hatte, haute ihn der Anblick des bewußtlosen Jungen um. Er stand mit offenem Mund da und starrte auf den Reglosen, der mit dem Gesicht im Sand lag. Er schien an einen Trick des Jungen zu denken, denn er stieß ein paar Worte hervor, die Carberry nicht verstand. Seine Stiefelspitze zuckte vor und traf den
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Jungen in die Seite. Die Pistole hielt er auf den Reglosen gerichtet. Carberry schaffte es, unbemerkt bis auf zwei Schritte an den Mann heranzuschleichen. Dann stieß er mit dem Fuß gegen einen kleinen Stein, der klickend zur Seite sprang. Der Mann reagierte wie ein wildes Tier. Er zuckte zusammen und warf sich im Bruchteil einer Sekunde herum. Seine Hand mit der Pistole schwenkte mit, aber bevor der Lauf auf Carberry zeigen konnte, zischte dessen Säbel durch die Luft und traf den Handrücken des Mannes. Die Pistole flog in hohem Bogen in die Büsche. Die nachtschwarzen Augen des Mannes waren starr auf den Riesen gerichtet, der wie aus dem Boden gewachsen vor ihm aufgetaucht war. Dann senkte sich sein Blick. Er sah das Blut, das aus der Wunde auf seinem Handrücken lief, und mit einem leisen Schrei der Wut zerrte er mit der anderen Hand ein Messer hervor. Carberry erkannte, daß er einen Kämpfer vor sich hatte. Nur die Überraschung hatte ihn für Sekunden gelähmt, jetzt war er wieder bereit, zu kämpfen und zu töten oder zu sterben. Carberry blieb keine andere Wahl, wenn, er nicht selbst auf der Strecke bleiben wollte. Sein Säbel beschrieb einen. kleinen Bogen, und als der Mann das Messer auf ihn schleudern wollte, stieß er zu. Die Klinge traf den Mann unterhalb des Rippenbogens und ließ ihn zusammenknicken. Das Messer fiel knapp vor Carberrys Füßen klirrend auf den Boden. Als Carberry den Säbel zurückzog, war der Mann schon tot. Er kippte zur Seite und blieb in verkrümmter Haltung liegen. „Madonna!“ sagte eine leise Stimme hinter Carberry. Der große Mann wirbelte herum. Die Spitze des blutigen. Säbels wies auf den Jungen, der seine Ohnmacht überwunden hatte und nun auf den toten Verfolger starrte. Carberry ließ den Säbel sinken, als er sah, daß der Junge keine Anstalten traf, zu
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fliehen. Er wischte die Klinge an der Kleidung des toten Mannes ab und hob die Pistole und das Messer auf. Das Messer reichte er dem Jungen, der immer noch nicht zu begreifen schien, daß jemand ihm das Leben gerettet hatte. Doch dann begann er, sich das Kinn zu reiben und Carberry anzugrinsen. Worte sprudelten über seine Lippen, aber mehr als grazie verstand der große Mann nicht. „Du nix sprechen Englisch?“ fragte er den Jungen, der ihn mit großen Augen anstarrte. „Ich Engländer“, sagte er. „Ich suchen Giovanni di Scorlia.“ Der Name schien hier in der Gegend für den Satan persönlich zu stehen, denn auch der Junge zuckte zusammen, als hätte ihn jemand mit der Peitsche geschlagen. „Giovanni di Scorlia“, flüsterte er und wies mit der Hand über den Hügelkamm, hinter dem sich die kleine Raststation befand.. Carberry nickte. „Ich weiß“, erwiderte er ungeduldig, „er ist da unten und hat deine Leute überfallen. Aber ich will ihn haben,, verstehst du?“ Er versuchte, seine Worte durch Gesten zu Unterstreichen, aber der Junge verstand ihn nicht. Carberry raufte sich die Haare. Er war so nah am Ziel, aber nun ging es nicht weiter, weil der Junge, der ihm hätte helfen können, Giovanni di Scorlia aus der Raststation herauszuholen, ihn nicht verstand. Doch er hatte sich getäuscht. Der Junge hatte ihn sehr wohl verstanden. Er wußte zwar nicht, was der Riese mit Giovanni di Scorlia vorhatte, aber daß er ihn in seine Gewalt bringen wollte, begriff er. Er zog Carberry zur Seite. Sein Blick war auf einmal wieder gehetzt. Er stieß leise Worte hervor und wies auf den Hügelkamm. Jetzt hörte auch Carberry die Geräusche. Es mußten mindestens zwei Männer sein, die sich jenseits des Hanges näherten. Carberry folgte dem Jungen zu ein paar Felsbrocken hinüber, die den Blick in eine kleine Schlucht verbargen. Geschickt kletterte der Junge hinunter, und Carberry folgte ihm, obwohl er kein gutes Gefühl dabei hatte. Es schien ihm, als laufe er in
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eine Falle, aus der es für ihn kein Entrinnen mehr gab. Sie hörten die überraschten Rufe der Männer, als diese den Toten fanden. Sie fluchten und schrien etwas in die Gegend. Carberry blickte den Jungen an, über dessen Gesicht ein Grinsen glitt. Die Männer glaubten also, der Junge hätte es geschafft, seinen Verfolger zu töten. Sie hörten noch eine Weile Geräusche, dann wurde es still. Die Dämmerung brach herein, und unten in der kleinen Schlucht konnte man schon bald die Hand nicht mehr vor den Augen sehen. Carberry spürte die Hand des Jungen an seinem Arm und nickte. Auch er glaubte nicht, daß die Kerle dort oben noch lauerten. Sicher hatten sie ihren toten Kumpan hinunter zur Raststation geschleppt. Sie kletterten wieder hinauf zu den Felsblöcken, und Carberry war froh, als er oben angelangt war. Ich entwickle mich noch zum richtigen Bergsteiger, dachte er grimmig. Verdammt, beim nächstenmal würde er sich weigern, irgendwo an Land zu gehen, wo es Berge gab. Der Junge sprach nicht mehr viel, da er wußte, daß Carberry ihn doch nicht verstand. Er versuchte es mit Gesten, und nach einigen Versuchen klappte es ganz gut. Sie hatten bei den Büschen gesehen, daß die Männer den Toten tatsächlich mitgenommen hatten. Der Junge winkte Carberry, ihm zu folgen. Für Carberry schien es noch ein bißchen früh, aber als sie den Hügelkamm überquerten, war es schon so dunkel, daß sie von der Raststation nur noch ein mattes Licht, das aus einem der kleinen Fenster fiel, erkennen konnten. Der Junge kannte sich hier prächtig aus. Er führte Carberry über schmale Stege hinunter zur Koppel, in der sich nun auch die Pferde der Männer befanden, die die Raststation überfallen hatten. Mit Gesten versuchte. Carberry, dem Jungen zu erklären, daß er zwei Pferde brauchte. Eins für sich und eins für Giovanni di Scorlia.
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Der Junge schüttelte den Kopf. Er verschluckte einen Fluch, bis er sah, daß der Junge drei Finger spreizte. Offensichtlich wollte er mit Carberry fliehen. Carberry nickte, und der Junge grinste ihn an. Er winkte dem Riesen zu und bedeutete ihm, mit ihm hinter das Haus zu schleichen. Dort befand sich ein flacher Stallanbau. Der Junge hob eine Leiter auf und lehnte sie an den Stall. Behände kletterte er aufs Dach und wartete oben auf Carberry. Jetzt erst spürte Carberry seine brennenden Füße wieder. Nur mit Mühe konnte er ein Stöhnen unterdrücken. Er versuchte, so lautlos wie der Junge zu sein, doch unter seinem Gewicht knarrten die Dachbretter. Der Junge drehte sich erschrocken um und legte den Zeigefinger auf die Lippen. Carberry hob die Schultern, um damit anzudeuten, daß er nichts dafür könne. Dann hatten sie die Hausmauer erreicht. Der Junge war plötzlich in einer dunklen Öffnung verschwunden. Seine Hand tauchte auf und zog Carberry zu sich heran. Zum Glück war die Fensteröffnung gerade groß genug, um Carberrys mächtigen Oberkörper hindurchzulassen. Der Junge führte Carberry in die Mitte des dunklen Raumes und zog ihn dann zu Boden. Jetzt sah auch Carberry den dünnen Lichtstreifen. Er legte sich flach hin und preßte sein rechtes Auge an den fingerbreiten Ritz. Unwillkürlich leckte er sich über die Lippen, als er den Raum dort unten überblickte. Er sah den großen Spießbraten über dem offenen Feuer. Fett tropfte in die Flammen, die zischend aufsprangen und zum Braten hinaufleckten. Der Geruch nach dem würzigen Fleisch stieg ihm in die Nase. Er vermeinte, seinen Magen laut knurren zu hören. Doch dann schüttelte er den Kopf. Er war nicht hier, um sich den Bauch vollzuschlagen. Er blickte sich weiter in dem Raum um. Zwei Yards neben dem Feuer saß der Dicke, dem Giovanni di Scorlia eine Kugel in den Leib gejagt hatte.
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Eine Frau kniete neben ihm und wickelte einen Verband um seine rechte Seite, die blutüberströmt war. Offensichtlich hatte Giovanni di Scorlia ihm nur einen Streifschuß verpaßt. Dicht neben der Tür lag der Tote, der von seinen Kumpanen vom Hügel herabgeschleppt worden war. Vier Männer unterhielten sich erregt miteinander. Giovanni di Scorlia war nirgends zu sehen. Vielleicht hielt er sich in einer der Ecken des Raumes auf, die Carberry durch den Ritz nicht einsehen konnte. An der rechten Wand stand eine Bodenklappe offen, und nach ein paar Minuten tauchten zwei Männer auf. Sie hielten beide einen Ziegenlederschlauch in den Händen, und Carberry verstand das Wort vino. Hoffentlich besaufen sich die Kerle, bis sie umfallen, dachte Carberry. Er war etwas beunruhigt, daß er Giovanni di Scorlia nicht sah, und stieß den Jungen an. Eine kleine Flamme züngelte plötzlich neben ihm auf, und dann brannte eine Kerze. Carberry hielt das für ein bißchen unvorsichtig, aber der Junge grinste nur. Er wies auf eine Brettertür, die wahrscheinlich zu einem Gang führte, von dem aus man den unteren Gastraum erreichen konnte. Sie wollten auf die Tür zugehen, als ein spitzer Schrei die dumpfe Stille des Hauses durchbrach. Der Junge blieb abrupt stehen. Im Schein des Kerzenlichts war sein Gesicht jetzt weiß wie eine gekalkte Wand. Er starrte Carberry an. „Sorella mia!“ flüsterte er entsetzt, und dann: „Scorlia!“ Er wollte auf die Tür zustürmen, und Carberry kriegte ihn gerade noch am Arm zu fassen. Mit der anderen Hand fing er die Kerze auf, die dem Jungen entfallen war. Mit beruhigenden Gesten versuchte Carberry, dem Jungen zu erklären, daß es Selbstmord sei, jetzt wie die Büffel loszustürmen. Er schob sich vor den Jungen und zog langsam die Brettertür auf. Draußen auf dem Gang herrschte keine Finsternis mehr. Irgendwo am Ende des Ganges mußte eine Lampe brennen. Carberry blies die Kerze aus und streckte
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den Kopf aus der Tür. Er hörte Stimmen, die aus dem Gastraum heraufklangen. Eine Frau schluchzte leise. Aber es hörte sich nicht an, als ob einer der Männer dort unten Anstalten traf, die Treppe heraufzusteigen. Der Junge schob sich an Carberry vorbei, ohne daß der es verhindern konnte. Er wies mit der rechten Hand auf eine Tür, die der ihren schräg gegenüberlag. Carberry hörte ein leises Jammern, und diesmal war er nicht schnell genug. Der Junge war schon an der anderen Tür und riß sie auf. Mit ein paar Sätzen war Carberry bei ihm, stieß ihn zur Seite und war als erster im Zimmer. Es war eine schmale Kammer, in der außer einem Bett nur noch ein Schrank, eine Kommode mit einer Waschschüssel darauf und ein Stuhl standen. Auf dem Bett wälzten sich zwei Menschen. Carberry sah, daß Giovanni di Scorlia versuchte, die weiten Röcke eines Mädchens hochzuschieben. Die eine Hand des Mädchens hatte sich in seinen Haaren verkrallt, ihre großen, entsetzt geweiteten Augen starrten auf den Riesen, der plötzlich in ihrem Zimmer stand. Carberry zögerte keine Sekunde. Seine mächtige Pranke faßte zu, zog Giovanni di Scorlia von dem Mädchen weg und verpaßte dem jungen Wüstling einen Schlag, der ihm das Maul, das er schon zum Schreien geöffnet hatte, wieder schloß. Ein zweiter Schlag schickte ihn ins Reich der Träume. Zum Glück war der Junge gleich hinter Carberry in die Kammer gestürmt und legte dem Mädchen die Hand auf den Mund. Sie nickte und raffte hastig wieder ihre Röcke hinunter. Ihr Gesicht war vor Scham gerötet. Carberry packte sich Giovanni di Scorlia auf die Schulter und ging auf leisen Sohlen über den Gang in den anderen Raum, durch den sie ins Haus eingedrungen waren. Der Junge folgte ihm mit dem Mädchen. Bevor er die Tür zuzog, gestikulierte er, und Carberry verstand, daß er das Mädchen auch noch mit auf die Flucht nehmen wollte. Carberry stöhnte,
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aber er mochte nichts dagegen sagen. Wahrscheinlich hätten sich die anderen Kerle über sie gestürzt, wenn sie bemerkt hätten, daß Giovanni di Scorlia spurlos verschwunden war. Sie kletterten durch das Fenster zurück aufs Stalldach und von dort in die Koppel. Die Pferde waren unruhig. Der Junge zog vier von ihnen zu einer kleinen Öffnung in der Steinmauer und half dem Mädchen auf den Rücken. Zum Satteln hatten sie keine Zeit. Carberry fluchte. Das hatte ihm noch gefehlt. Er wußte, daß sein Hinterteil nicht gerade dafür geschaffen war, auf einem ungesattelten Pferderücken auf und ab zu wippen, aber ihm blieb mal wieder keine andere Wahl. Er schwang sich auf den Rücken eines starkknochigen Braunen, nachdem er Giovanni di Scorlia quer über den Rist des Pferdes gelegt hatte. Langsam trieben sie die Pferde hinaus in das unwegsame Gelände. Carberry hatte geglaubt, der Junge würde so schnell wie möglich zur Straße hinüberschwenken, weil sie darauf schneller vorangelangten, aber er hatte sich getäuscht. Sie ritten sogar von der Straße weg! Verdammt, dachte Carberry, der Junge weiß noch nicht mal, was ich mit Giovanni di Scorlia vorhabe! Er wollte sein Pferd zügeln, als hinter ihm Schreie laut wurden. Er drehte sich um und sah eine Feuerblume in der Dunkelheit aufblühen. Ein Schuß krachte, und er vermeinte, das Sausen der Kugel, die ihn nur knapp verfehlt haben konnte, zu hören. Er trieb sein Pferd an. Jetzt mußte er sich auf den Jungen verlassen. Er konnte nur hoffen, daß sich der Junge hier in der Gegend besser auskannte als die Männer, die mit Giovanni di Scorlia die Raststation überfallen hatten. Der Junge rief ihm etwas zu, das er nicht verstand, und dann mußte er sich aufs Reiten konzentrieren, um nicht vom Pferd zu fallen. In diesem Augenblick erwachte auch Giovanni di Scorlia aus seiner Ohnmacht und begann zu schreien. Wütend verpaßte Carberry ihm eine Maulschelle und stieß hervor: „Wenn du noch einen einzigen Ton von dir gibst, du
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verdammter Hurensohn, dann. reiß ich dir die Kiemen auseinander, daß du mit den Ohren atmen kannst, verstanden?“ Giovanni di Scorlia mußte einen guten Englischlehrer gehabt haben, denn er hielt den Mund. Sie ritten fast eine halbe Stunde, bis der Junge anhielt. Sie lauschten zurück, aber die Hufschläge, die sie in der ersten Viertelstunde noch hinter sich gehört hatten, waren verstummt. „Das ist gut, Bürschchen“, sagte Carberry, der den stöhnenden Sizilianer am Kragen in die Höhe zerrte und ihn schüttelte wie ein Kaninchen. „Und jetzt erzählst du mir, wo du den Jungen gelassen hast ...“ 7. Als die Dämmerung über der kleinen Bucht hereinbrach, wurde es auf der „Isabella“ lebendig. Ferris Tucker, der mit Shane, Old O’Flynn, Gary Andrews, der doch noch etwas Schwierigkeiten mit seinem Rücken hatte, und Philip an Bord zurückgeblieben war, grinste Hamid el Sarad an, der mit seinen fünf Leuten an Backbord auf der Kuhl stand und im Begriff war, ins Boot hinabzuklettern, das unter ihnen vertäut war. Ferris Tucker traute den Sarazenen nicht recht, und Old O’Flynn stand nicht zufällig an der Drehbasse auf dem Achterdeck. Ferris war davon überzeugt, daß Hamid sich die Galeone unter den Nagel gerissen hätte, wenn er sich nicht darüber im klaren gewesen wäre, daß es verdammt nicht einfach war, ein Schiff dieser Größe und dazu noch mit Rahbeseglung über zweihundert Seemeilen zur afrikanischen Küste zu segeln. Hamid el Sarad hatte sich für die Feluke der Spanier entschieden. Er hatte noch mit dem Seewolf gesprochen, bevor dieser mit seinen Männern an Land gegangen war, um seinen Sohn zurückzuholen und den Spaniern gegen die sizilianischen Banditen zu helfen. Daraufhin hatte sich Hamid el Sarad nicht mehr bei den Sizilianern sehen lassen wollen. Sie brauchten nicht zu wissen, daß
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die Sarazenen diesmal notgedrungen auf Seiten ihrer Feinde standen. Hasard hatte nichts dagegen gehabt, daß Hamid den Spaniern die Feluke klauen wollte. Wenn Hamid die beiden zurückgebliebenen Bordwachen mitnahm auf seine Fahrt nach Tunis, dann konnte niemand die Engländer für den Überfall zur Verantwortung ziehen. „Denk dran, was ihr versprochen. habt, Sarazenen“, sagte Ferris Tucker. „Bevor ihr davonsegelt, bringt ihr uns das Boot zurück.“ „Keine Angst, Engländer“, erwiderte Hamid. „Wir vergessen nicht, was ihr vor Bosa Marina für uns getan habt.“ Er schwang sich als letzter über das Schanzbord und kletterte über die Berghölzer hinunter ins Boot. Nur das leise Schmatzen des Wassers verriet, daß Riemen eingetaucht wurden. Fast lautlos legte das Boot von der Bordwand der „Isabella“ ab und verschwand als Schatten in der dunklen Nacht. Hamid el Sarad sah die Konturen der Feluke vor sich. Er freute sich, dieses schnelle, schlanke Schiff bald unter den Füßen zu haben. Mit seinen zwei Lateinersegeln war es auch für eine Besatzung von sechs bis acht Mann möglich, unter vollem Zeug zu. segeln. Die letzte Strecke zur Feluke ließen sie ihr Boot treiben. Die beiden Wachen an Bord schienen in Gegenwart der englischen Galeone nichts zu befürchten. Sie traten noch nicht einmal auf den Plan, als Hamid den Kopf über das Schanzkleid steckte und sich auf dem flachen Deck umschaute. Einer der beiden Spanier hob gerade eine Flasche an den Mund, während der andere leise lachte, als wäre er nicht mehr ganz nüchtern. Es war keine Schwierigkeit für die Sarazenen, die beiden ahnungslosen Spanier zu überwältigen. Sie hatten schon so sehr dem Wein zugesprochen, daß sie kaum mitkriegten, was mit ihnen geschah. Wahrscheinlich würden sie es erst begreifen, wenn Hamid sie auf dem Markt von Tunis als Sklaven verkaufte.
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Zwei der Sarazenen holten den Stockanker ein, und mit dem Boot der „Isabella“ segelte die Feluke nach einer Weile quer durch die Bucht. Neben der „Isabella“ drehte die Feluke kurz bei, das Tau, mit dem sie das Boot in Schlepp hatte, wurde gekappt, und dann war auch das Besansegel der Feluke gesetzt, und das niedrige Schiff nahm Fahrt auf. Ferris Tucker fluchte laut. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als mit Big Old Shane über Bord zu springen und zum Boot hinüberzuschwimmen. Naß bis auf die Knochen und frierend kletterten sie nach einer halben Stunde wieder an Bord. Nachdem sich die beiden trockengerieben hatten, kümmerten sie sich zusammen mit Old O’Flynn wieder um ihren Vormast, den sie am nächsten Morgen, wenn die anderen zum Schiff zurückkehrten, fertig haben und aufriggen wollten. Gary Andrews stand auf dem Achterdeck und hielt Wache. Immer wieder starrte er zur Küste hinüber, aber dort rührte sich nichts. Philip lag in der Kammer seines Vaters in der Koje, aber auch er konnte nicht schlafen. Er mußte an seinen Bruder denken und wäre jetzt gern bei seinem Vater und den anderen Männern der „Isabella“ gewesen, um Hasard aus den Klauen der Sizilianer zu befreien. * Der Seewolf fühlte sich alles andere als wohl, als er neben dem Comandante von Trapani durch die Dunkelheit ging. Er bewunderte zwar den Mut des Mannes, der sich allein ihm, Ben Brighton, Batuti und dem Kutscher angeschlossen hatte, um sie zu dem kleinen Ort Ramocca zu führen, in dem sich wahrscheinlich Giovanni di Scorlia mit Hasard verborgen hielt. Der Comandante hatte gemeint, daß sich niemand im Dorf gegen ihn zu stellen wagte, weil alle ebenso wie die Rache der Scorlias die Rache der Spanier fürchteten. Hasard waren fünf Männer ein bißchen wenig erschienen, um ein Dorf zu stürmen, aber der Comandante hatte gemeint, auf
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keinen seiner Männer am Ort des wahrscheinlichen Überfalls auf den Warentransport verzichten zu können. Zusammen mit den dreizehn Männern von der „Isabella“ hatte der kommandoführende Capitan Juan Morales eine Streitmacht von neununddreißig Kämpfern. Niemand rechnete zwar damit, daß die Banditen in dieser Anzahl aufkreuzen würden, aber wenn die Spanier sie stellen wollten, mußten sie genügend Männer haben, um sie einzukreisen, denn sobald es einem Banditen gelang, sich abzusetzen, war er für die Spanier verloren. In diesem Lande kannten sich die Sizilianer weit besser aus als die Spanier. Sie fanden hinter jedem Felsen ein Versteck, das die Spanier niemals entdecken würden. Sie erreichten das Dorf gegen Mitternacht, und da niemand wußte, wo man mit der Suche nach dem Jungen anfangen sollte, beschlossen sie, bis zum Morgengrauen zu warten. Sie beobachteten das größte Haus des Ortes, wo eine der den Scorlias verbundene Familie leben sollte, aber nirgends brannte ein Licht. Hasard gefiel das Warten nicht. Was war, wenn sich sein Sohn gar nicht in diesem Ort aufhielt? Sie verloren dann wertvolle Stunden. Er sprach mit Rafael Martinez, aber der Comandante war sicher, daß Giovanni di Scorlia hier in diesem Dorf war und nirgendwo anders. Die Nacht war kalt, und sie hatten die Erschöpfung nach dem zwei Tage dauernden Sturm alle noch in den Knochen. Keiner von ihnen konnte schlafen. Zwei Stunden später hörten sie Hufschlag. Sie waren sofort hellwach. Ben Brighton weckte Rafael Martinez, der sich verhielt, als befände er sich auf einem Landausflug. Im schwachen Licht der Sterne erkannten sie drei Reiter. Nein, auf einem der Tiere saßen zwei Gestalten. Batuti stieß einen leisen Pfiff aus. Seine rechte Hand wies auf das letzte Pferd, auf dem zwei Reiter saßen. „Das sein Ed!“ sagte er leise.
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Der Seewolf blickte genauer hin. Tatsächlich! Das war niemand anderes als sein Profos, und wenn er sich nicht täuschte, war der Junge, der vor ihm auf dem Rücken des Pferdes saß und von ihm mit einem Arm umklammert wurde, Giovanni di Scorlia. Der Seewolf stieß einen leisen Pfiff aus, der die Reiter zusammenzucken ließ. Carberry drehte den Kopf in ihre Richtung, und als Ben Brighton leise seinen Namen rief, gab Carberry den beiden Reitern vor sich einen Wink, lenkte sein Pferd herum und ritt auf die Büsche zu, hinter denen der Seewolf Deckung gefunden hatte. Als Carberry bei ihnen angelangt war, stieß er Giovanni di Scorlia vom Rücken des Pferdes und rutschte dann ebenfalls hinunter. „Wie kommt ihr denn hierher?“ fragte Carberry leise. Der Seewolf deutete auf den Comandante. „Er hat uns hergeführt. Er meinte, Scorlia könnte Hasard nur hierher entführt haben.“ Carberry nickte. „Da hat er recht“, sagte er grimmig. „Ich hab den Burschen ein bißchen gekitzelt, da hat er es mir verraten.“ „Und wo hast du den Burschen gefunden?“ fragte der Seewolf. „Ein paar Meilen westlich von hier“, erwiderte Carberry. „Er hat mit seinen Kumpanen eine Raststation überfallen und war gerade dabei, das Mädchen da drüben zu vergewaltigen, als ich ihn mir geschnappt habe.“ Rafael Martinez stand inzwischen neben dem Pferd des Jungen, der Carberry zu diesem Dorf geführt hatte, und redete auf ihn ein. Der Junge saß verstockt auf dem Rücken seines Pferdes und antwortete ebenso wenig wie das Mädchen. Martinez fluchte. „Diese verdammten Sizilianer!“ sagte er heftig. „Sie werden von den Scorlias und Corleones bis aufs Blut gequält, aber wenn mal einer von ihnen gegen sie aussagen soll, schweigen sie, als glaubten sie, Gott persönlich würde sie für ihre Geschwätzigkeit bestrafen.“
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„Vielleicht mögen sie euch Spanier noch weniger als die Scorlias und die Corleones“, sagte Ben Brighton. Der Comandante war nicht beleidigt. Er nickte nur. „Leider ist das der Pan. Ich kann sie oft auch verstehen, denn viele meiner Landsleute behandeln sie, als wären sie ihre Sklaven. Sie unterschätzen den Stolz dieser Menschen, für die nichts anderes zählt als ihre Freiheit.“ Carberry berichtete, was er sich zusammenreimte. Auch der Comandante war seiner Meinung, daß die Banditen den Warentransport an der Raststation überfallen wollten. Am liebsten hätte er Carberrys Pferd genommen und wäre zur Station geritten, um bei seinen Leuten zu sein, aber noch hatten sie den Jungen des Engländers nicht befreit. „Er soll in einem dunklen Raum in einem Haus am Ende des Dorfes sein“, sagte Carberry grollend. „Und so wahr der Klabautermann Haare zwischen den Zehen hat: Ich werde das Haus jetzt stürmen und Hasard herausholen!“ Der Seewolf blickte Rafael Martinez an. Dieser nickte. Jetzt, da sie wußten, daß sich der Junge hier aufhielt, konnten sie zuschlagen. Vielleicht schafften sie es dann sogar noch, rechtzeitig bei der Station zu sein, um gegen die Banditen zu kämpfen. Giovanni di Scorlia begann plötzlich zu schreien, aber eine Maulschelle von Carberry brachte ihn wieder zum Schweigen. Der Junge sprach Carberry an, der kein Wort verstand. Martinez begann zu grinsen. Er merkte, daß die Worte für ihn bestimmt waren, da er als einziger der Männer Italienisch verstand. Der Junge wollte aber weiter so tun, als sei er Luft. Martinez übersetzte die Wörter und sagte: „Er wird uns zu dem Haus führen, in dem Ihr Sohn festgehalten wird. Er glaubt nicht, daß wir mit Widerstand zu rechnen haben, da die meisten Männer dieses Dorfes in dieser Nacht unterwegs seien.“ Der Seewolf nickte. Sie ließen die Pferde bei den Büschen zurück und gingen aufs Dorf zu. Sie verhielten sich nicht einmal leise. In einigen Häusern waren leise
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Geräusche zu hören, aber niemand wagte sich auf die Straße. Dann hatten sie das Haus erreicht, und Carberry begann sogleich, mit der Faust gegen das hölzerne Tor zu schlagen. Es dauerte eine Weile, dann wurde das Tor geöffnet. Eine alte, zahnlose Frau schob ihren zerzausten Schädel durch den Spalt und wollte fragen, wer sie da mitten in der Nacht belästigte, doch der Torflügel wurde ihr von Carberry aus der Hand gerissen. Carberry, der Seewolf, Ben Brighton und Rafael Martinez drangen in das Haus ein. Die alte Frau begann zu zetern, als sie Giovanni di Scorlia erkannte. Sie krallte ihre Hände in den Stoff seiner Jacke und ließ sich auf die Knie fallen. Mit einer unwilligen Handbewegung schüttelte er sie ab. Carberry packte den Sizilianer an der Hemdbrust und zog ihn zu sich heran. „Wir finden den Jungen auch ohne dich“, sagte er grollend, „aber wenn du mit heiler Haut aus der ganzen Geschichte herauskommen willst, dann reiß endlich dein Maul auf! In welchem Raum habt ihr den Jungen eingesperrt?“ Giovanni di Scorlia sah die große Faust Carberrys vor seinem Gesicht, und er gab auf. Er wies mit der linken Hand auf eine Tür im Hintergrund des Raumes, die mit einem starken Querbalken verriegelt war. Carberry lief darauf zu und hob den Balken aus seiner Halterung. Er riß die Tür auf und blieb wie vom Donner gerührt stehen. Der Seewolf sah, wie sein Profos nach Luft schnappte. Mit wenigen Schritten war auch er an der Tür und sah die Bescherung. Unter einem umgestürzten Regal lugten zwei Beine hervor, die auf keinen Fall Hasard gehören konnten. „Meine Fresse!“ Über Carberrys Gesicht ging plötzlich ein Leuchten, und der Seewolf wußte, was der Profos vermutete. Giovanni di Scorlia wurde blaß, als er die Bescherung sah. In seinen Augen wetterleuchtete es. Er schwieg, bis sie beim großen Haus anlangten, das den Scorlias gehörte. Als sie ins Haus eindrangen, trat ihnen ein etwa
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zehnjähriger Junge entgegen und rief Giovanni di Scorlia etwas zu. Rafael Martinez sagte hastig: „Auch seine Schwester Giannina ist verschwunden. Vielleicht hat sie Ihren Sohn befreit und ist zusammen mit ihm geflohen!“ Carberry schüttelte den Kopf. „Das kleine Rübenschweinchen brauchte keine Hilfe“, sagte er im Brustton der Überzeugung. „Der hat sich selbst befreit und wahrscheinlich auch das Mädchen mitgenommen.“ Jetzt waren sie so schlau wie vorher. Der Seewolf fluchte leise vor sich hin. Er verstand Carberrys Stolz auf den Jungen, aber wenn er noch in seinem Loch gesessen hätte, wäre er jetzt wieder bei ihnen. So wußten sie wieder nicht, wo er sich im Augenblick aufhielt. Wahrscheinlich war er unterwegs zurück zur Bucht, aber sicher war es nicht. Schließlich konnte er schon wieder von den Scorlia-Leuten eingefangen worden sein. „Wir marschieren sofort zurück zum Schiff“, sagte der Seewolf. „Eigentlich hätten wir Hasard und dem Mädchen begegnen müssen. Der Teufel weiß, wo der Bengel steckt.“ „Ich werde zur Station reiten“, sagte Rafael Martinez. Der Seewolf nickte. „Batuti und der Kutscher werden Sie begleiten, Senor“, sagte er. Er dachte an Hamid el Sarad und seine Sarazenen, die inzwischen vielleicht schon die Feluke geentert hatten und mit ihr davongesegelt waren. Irgendjemand mußte die anderen Männer der „Isabella“ warnen. Irgendjemand mußte die anderen Männer der „Isabella“ warnen, wenn sie zur Bucht zurückkehrten. Sie mußten sich rechtzeitig von den Spaniern trennen, bevor diese merkten, daß ihr Schiff nicht mehr in der Bucht lag. Rafael Martinez hegte kein Mißtrauen gegen die Engländer. Er schien froh zu sein, daß er nicht allein durch die Nacht reiten mußte. Sie verließen das Haus. Nachdem sie die Büsche erreicht hatten, hinter dem der
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Junge und das Mädchen von der Station mit den drei Pferden warteten, verabschiedete sich Martinez vom Seewolf. „Ich werde nichts gegen Sie unternehmen, wenn sie die Gewässer um Sizilien auf dem schnellsten Wege verlassen“, sagte er. „Ich habe Ihnen viel zu danken. Jetzt haben wir außer Manfredo di Corleone auch Giovanni di Scorlia in Gewahrsam. Ich werde ein Exempel statuieren und sie nebeneinander an einen Galgen hängen lassen.“ Der junge Sizilianer, dem sie die Hände gebunden hatten, war blaß geworden. In seinen dunklen Augen glühte Haß. „Vielleicht sollten die Spanier weniger Exempel statuieren“, sagte der Seewolf, „und stattdessen die Sizilianer wie Menschen behandeln. Wenn Sie die beiden Jungen hängen, werden Sie bestimmt nicht erreichen, daß es in diesem Lande friedlicher zugeht.“ Der Comandante von Trapani schüttelte den Kopf. „Sie kennen die Sizilianer nicht“, sagte er. „Die kennen nichts anderes als die Gewalt. Daß diese Erde mit soviel Blut getränkt ist, kann man nicht den Herren dieses Landes allein in die Schuhe schieben. Die Sizilianer haben sich immer schon gern gegenseitig umgebracht.“ Der Seewolf zuckte mit den Schultern. Martinez war länger in diesem Land. Wenn er auch Partei war, so mußte er sich hier besser auskennen. Der Junge redete plötzlich auf Martinez ein, und der Spanier antwortete ihm in scharfem Ton. Plötzlich sprang der Junge vor und stieß Martinez zu Boden. In seiner Hand blitzte das Messer, das Carberry ihm gegeben hatte. Mit einem blitzschnellen Schnitt hatte er Giovanni di Scorlias Fesseln durchschnitten und warf sich dann Batuti in den Weg, als, dieser die Flucht des Sizilianers verhindern wollte. Batuti geriet ins Stolpern und schlug fluchend der Länge nach zu Boden. Als er sich aufrappelte, war von Giovanni di Scorlia schon nichts mehr zu sehen.
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„Dieser Dummkopf!“ stieß Rafael Martinez hervor. „Das wird sein Leben auch nicht retten. Giovanni di Scorlia muß damit rechnen, daß der Junge den Überfall verraten hat, und das bedeutet, daß der Junge für den Verrat sterben wird.“ Ohne sich weiter um den Jungen und das Mädchen zu kümmern, bestieg er das Pferd, das Carberry geritten hatte. Er wartete, bis auch Batuti und der Kutscher aufgesessen waren, dann lenkte er sein Tier hinunter zur Straße und verschwand in westlicher Richtung mit den beiden Männern von der „Isabella“ in der Dunkelheit. Der Seewolf zögerte nicht länger. Er marschierte mit Carberry und Ben Brighton los. Carberry begann schon nach wenigen Schritten zu stöhnen, und Ben sagte grinsend zu ihm: „Mach lieber etwas größere Schritte, damit du die Vegetation nicht zu sehr zerstörst.“ „Wieso?“ fragte Carberry wütend, während er daran dachte, daß er nun den Weg zurück zur Bucht wieder zu Fuß zurücklegen mußte. „Na, überall, wo du hintrittst, wächst doch nichts mehr“, sagte Ben Brighton. „Du hast wohl deinen witzigen Tag, wie, was?“ fragte Carberry und marschierte drauflos, als gelte es, die Strecke zur Bucht in der Hälfte der Zeit zurückzulegen. 8. Capitan Juan Morales verstand zum Glück etwas Englisch. Dan O’Flynn war froh, die spanische Sprache zu beherrschen. So konnten sie jeder in ihrer Landessprache sprechen und verstanden sich. Sie lagerten. mit ihren siebenunddreißig Männern am Hang des Hügels, von dem aus auch Carberry die Raststation beobachtet hatte. Dan O’Flynn war dafür gewesen, die Station zu stürmen und die Banditen, die sich darin aufhielten, gefangen zu nehmen, doch der Capitan hatte den strikten Befehl, die Kerle auf frischer Tat zu erwischen, da sie sonst der
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Justiz wieder durch die Lappen gehen würden. „Wenn wir sie alle erledigen, ist das Problem gelöst“, hatte Smoky gebrummt. Capitan Morales hatte den Kopf geschüttelt. Wenn es Tote gab, ohne daß man sie vorher bei einer strafbaren Tat erwischt hatte, hieß es wieder, die Spanier würden eine Willkürherrschaft ausüben und unter dem Deckmantel der Justiz ungehindert morden. So lagen sie jetzt schon Stunden hier in der Dunkelheit und mußten mit ansehen, wie immer mehr Reiter von allen Seiten auftauchten und in der Station verschwanden. Gegen Morgengrauen hörten sie plötzlich Huf schlag hinter sich auf der Straße, und Capitan Morales befahl, die Reiter abzufangen, denn wenn sie aus dem Dorf Ramocca waren, wollten sie vielleicht die Männer unten in der Station warnen, daß die Spanier eine Falle aufgebaut hatten. Wenig später tauchten der Comandante, Batuti und der Kutscher auf, umringt von einem halben Dutzend Soldaten. Rafael Martinez übernahm sofort das Kommando. Er befahl drei Soldaten, das Gelände südlich der Station zu durchstreifen, weil er vermutete, daß sich Giovanni di Scorlia aus dieser Richtung nähern würde. Daß er versuchte, die Männer in der Station zu warnen, war für Martinez so klar wie der Himmel, der sich am östlichen Horizont schon blaßblau färbte. Juan Morales berichtete, daß sich inzwischen mehr als zwanzig Männer dort unten aufhielten. „Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie es hier auf der Station versuchen werden“, sagte er. „Ich habe angenommen, sie würden die kleine Schlucht westlich von hier für ihren überfall..:“ Er verstummte. Einer der Soldaten hatte einen leisen Schrei ausgestoßen und wies aufgeregt zur Station hinunter. Rafael Martinez und der Capitan krochen auf die Hügelkuppe und sahen, wie die schwerbewaffneten Sizilianer ins Freie traten. Niemand kümmerte sich um die
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Pferde. Zu Fuß und in langer Reihe marschierten sie los in westliche Richtung. Wahrscheinlich hat der Capitan mit seiner Vermutung recht, dachte Dan O’Flynn. Der Comandante gab leise Befehle. Seine Leute und die Männer von der „Isabella“ sollten den Sizilianern folgen und die kleine Schlucht umstellen. Mit neunundreißig Männern war das nicht gerade einfach, und Dan schlug vor, daß sich ein paar der Soldaten um die Pferde bei der Station kümmern sollten. Erstens nahmen sie damit einigen Sizilianern die Möglichkeit zur Flucht, und zweitens hatten die Spanier selbst Gelegenheit, die Banditen zu Pferde zu verfolgen. Martinez nickte und teilte drei Soldaten ein, die ihnen mit den Pferden in weitem Abstand folgen und sie erst heranbringen sollten, wenn der erste Schuß gefallen war. Dan wußte inzwischen von Batuti, daß Hasard immer noch nicht gefunden war. Als Martinez auftauchte, hatte er einen Augenblick lang gedacht, sich mit seinen Leuten einfach abzusetzen und so schnell wie möglich zur „Isabella“ zurückzukehren. Aber das hätte nur einen Sinn gehabt, wenn Hasard bereits an Bord gewesen wäre. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als an dem Kampf gegen die Sizilianer teilzunehmen. * Die Sizilianer griffen in dem Moment an, als der letzte Wagen der Kolonne in die Schlucht eingefahren war. Brüllend warfen sie sich vorwärts. Sie hatten am Ende der Schlucht eine Steinlawine niedergehen lassen, die die Straße nach Trapani hin absperrte. Sie hatten wohl damit gerechnet, daß irgendwo hinter dem Transport Soldaten ritten, die im Notfall eingreifen konnten. So war es auch tatsächlich. Um kein Mißtrauen bei den Banditen aufkeimen zu lassen, hatte Rafael Martinez den Konvoi von einem Dutzend berittenen Soldaten begleiten lassen. Sie ritten etwa eine halbe Meile hinter den Wagen, und als sie nun heranpreschten, war es zu spät für sie. Zwei Soldaten sprangen von ihren
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Pferden und versuchten, die Geröllbarriere zu überklettern, aber gezielte Schüsse warfen sie zurück. Die Sizilianer schrien ihren Triumph über den vermeintlich leichten Sieg hinaus. Sie ließen sich Zeit, denn nun konnten sie die Wagen in aller Ruhe ausplündern. Drei Männer genügten, um die Eskorte vor der Geröllbarriere in Schach zu halten. Die Wagen waren inzwischen weitergefahren und hatten die Schlucht verlassen. Die Fahrer peitschten auf die Zugtiere ein, aber plötzlich standen wie aus dem Boden gewachsen ein halbes Dutzend maskierte Männer vor ihnen, in den Händen Pistolen. Die Fahrer waren keine Soldaten. Sie hoben die Hände, nachdem sie die Wagen angehalten hatten. Von überall tauchten nun maskierte Männer auf und umringten die sieben Wagen, die Lebensmittel und Gebrauchsgüter in die Bergdörfer Alcamo, Calatafimi, Salemi und Gibellina transportieren sollten. Die Fahrer wurden von den Böcken gezerrt, und als der erste Sizilianer mit der Peitsche knallte, um seinen eroberten Wagen in Bewegung zu setzen, gab Rafael Martinez das Zeichen zum Angriff. Die Banditen waren für einen kurzen Augenblick wie erstarrt. Das lag vielleicht nicht so sehr an der Überraschung, daß auch diesseits der Schlucht plötzlich Soldaten auftauchten, sondern am Anblick der wilden Gestalten, die Seite an Seite mit den Soldaten auf die Wagen zustürmten. Rafael Martinez hatte seinen Männern eingeschärft, möglichst keinen der Banditen zu töten. Er wollte sie alle lebendig haben, um sie gemeinsam auf dem Marktplatz von Trapani zur Abschreckung der Banditen zu hängen. Stenmark und Matt Davies hatten sich die Banditen beim letzten Wagen vorgenommen. Es waren drei bärenstarke Männer, die schwarze Masken vor den Gesichtern trugen. Sie waren einen Moment vor Überraschung wie gelähmt, doch als Matt einem von ihnen mit seinem
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Haken die Maske vom Gesicht riß, reagierten sie wild wie Tiere. Ehe Matt sich versah, hatte einer der anderen Maskierten ihm einen Tritt in den Hintern versetzt und richtete seine Pistole auf Stenmark. Doch ehe er abfeuern konnte, warf Matt sich im Fallen herum und brachte den Mann zum Stolpern. Die Kugel aus seiner Pistole schlug vor ihm in den Staub der Straße. Dann hatte Stenmark den Kerl gepackt und verpaßte ihm einen Faustschlag aufs rechte Ohr, daß der Bandit die Trompeten des Jüngsten Gerichts hören mußte. Die vorderen Wagen waren bereits in der Gewalt der Soldaten, aber die Banditen kümmerten sich nicht mehr um ihre Beute. Sie wußten, was ihnen blühte, wenn sie lebendig in die Hände der Spanier fielen. Sie sahen ihre einzige Rettung in der Flucht. Die Kerle konnten klettern wie Bergziegen, stellte Matt Davies fest, als der Mann, um den er sich gekümmert hatte, plötzlich aufsprang und die Steilwand der Schlucht zu erklimmen begann. Es hatte keinen Sinn, ihm zu folgen. Matt hoffte, daß die Soldaten oben auf der Lauer lagen und die flüchtenden Banditen in Empfang nahmen. Vorn bei den Wagen hörte Matt Davies den Comandante brüllen. Da sie hier hinten nichts mehr zu tun hatten, liefen Matt und Stenmark nach vorn. Doch auch hier war der Kampf schon zu Ende. Überall jagten Gruppen von Soldaten hinter den flüchtenden Banditen her, von denen die meisten in die Richtung der Station liefen. Wahrscheinlich wollten sie dort zu ihren Pferden, mit denen sie den Spaniern entwischen konnten. Matt konnte nirgends Dan O’Flynn entdecken, und als er Sam Roskill fragte, sagte dieser, daß er Dan gesehen hätte, wie er kurz vor dem Angriff plötzlich hinter Felsen verschwunden wäre. Matt schüttelte den Kopf. Was war in Dan gefahren? Von Batuti und dem Kutscher wußte er doch, daß sie nach dem Überfall so schnell wie möglich zur Bucht
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zurückkehren sollten, damit Rafael Martinez ihnen nicht noch Schwierigkeiten bereitete, wenn er sah, daß seine Feluke verschwunden war. Matt Davies gab den anderen Männern von der „Isabella“ ein Zeichen, und sie versammelten sich um ihn. Rafael Martinez trat an sie heran. Er strahlte. „Wir haben fast alle geschnappt!“ sagte er enthusiastisch. „Das war der größte Schlag, den wir je gegen die Banditen landen konnten. Wenn ich meinen Vorgesetzten in Palermo berichte, daß ich es mit der. Hilfe von einem Haufen englischer Kaperfahrer geschafft habe, werden sie mich für verrückt erklären.“ Matt grinste ihn an. „Dann werden wir wohl nicht mehr gebraucht?“ fragte er. Der Comandante schüttelte arglos den Kopf. „Grüßen Sie Ihren Kapitän von mir.“ Matt nickte und sagte den anderen Seewölfen, daß sie sofort losmarschieren würden. „Und Dan?“ fragte Bill. „Er wird schon wissen, was er tut“, erwiderte Matt. „Wir müssen zurück zur ,Isabella’. Hoffentlich haben sie inzwischen den Bengel gefunden.“ Sie nickten, und gemeinsam marschierten sie los. Bill drehte sich immer wieder suchend um, aber von Dan O’Flynn war weit und breit nichts zu sehen. * Dan hatte einen kurzen Augenblick, bevor Rafael Martinez den Befehl zum Angriff gegeben hatte, eine Bewegung zwischen den Felsen hinter ihnen bemerkt. Er War einen Moment zurückgeblieben, und dann hatte er den jungen Giovanni di Scorlia gesehen, der es tatsächlich geschafft hatte, die Strecke von Ramocca bis hierher zu Fuß zurückzulegen. Dan schaute hinter’ den losstürmenden Soldaten und Seewölfen her. Es sah nicht so aus, als würden sie in Schwierigkeiten geraten. Die Übermacht der Soldaten war zu groß..
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Er drehte sich um und lief auf die Felsen zu, hinter denen er den Sizilianer gesehen hatte. Er wollte den Burschen haben, Daß er ein Bandit war und die Wagenzüge der Spanier überfiel, interessierte ihn nicht. Das war eine Sache der Sizilianer und Spanier, die sie selbst miteinander auskämpfen mußten. Aber daß er sich an einem Kind vergriffen hatte, störte Dan schon sehr. Giovanni di Scorlia hatte ihn entdeckt. Er hatte gesehen, daß er zu spät dran war, um seine Kumpane noch vor dem Hinterhalt zu warnen, und suchte sein Heil nun in der Flucht. Dan lief einen großen Bogen. Er wollte verhindern, daß der Junge in südliche Richtung türmte. Der Sizilianer kannte sich aber offensichtlich in dieser Gegend wie in seiner Westentasche aus, und als Dan um eine Felsnadel bog, sah er nur noch das zerrissene Land. Von Giovanni di Scorlia keine Spur mehr. Dan fluchte leise vor sich hin. Wahrscheinlich hatte der Junge sich irgendwo in einer Felsspalte oder Bodenmulde versteckt und wartete darauf, daß der Engländer die Suche aufgab. Dan horchte zurück. Der Kampflärm war verstummt. Die anderen Seewölfe würden nach der Überrumpelung der Banditen umgehend zurück zur Bucht marschieren. Er wußte, daß er zurück zu ihnen mußte, sonst verfiel noch jemand auf die Idee; nach ihm zu suchen. Er schaute „sieh noch einmal um, aber von Giovanni di Scorlia war wirklich nichts mehr zu sehen: Dan lief los, als er das leise Geräusch links von sich in einer. Mulde vernahm, die halb mit Büschen zugewachsen war. Ein Grinsen breitete sich in seinem Gesicht aus. Er hechtete hinunter, als er den Schatten sah, und kriegte Giovanni di Scorlia an den Beinen zu fassen, bevor der die Mulde verlassen konnte. Sie wälzten sich im Sand. Dornen rissen Dans Hemd entzwei, doch das bemerkte er nicht. Er wunderte sich, welche Kraft in dem schmächtigen Körper des jungen Sizilianers steckte.
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Doch dann traf Dans Faust den Jungen am Kinn. Giovanni di Scorlia brach mit einem seufzenden Laut zusammen und blieb reglos liegen. Dan überlegte einen Moment, was er mit dem Kerl anstellen sollte. Er hätte ihn gern mit zurück an Bord der „Isabella“ genommen. Dort konnte dann die Mannschaft bestimmen, was sie mit dem Kindesentführer anstellen wollte. Vielleicht hängten sie ihn an die Großrah. Dan riß den Jungen wieder auf die Beine und schlug ihm die flache Hand ins Gesicht, damit er seine Besinnung zurück gewann. Giovanni di Scorlia stöhnte auf. Obwohl er noch ziemlich weich in den Knien war, blieb er auf den Beinen. Dan hielt plötzlich eine Pistole, in der Hand. „Die Kugel hier gehört dir, wenn du versuchst, zu fliehen“, sagte er grimmig. „Außerdem solltest du daran denken, daß Martinez und seine Soldaten ganz wild auf dich sind. Sie hätten am liebsten, daß du neben Manfredo di Corleone und deinen anderen Beutelschneidern auf dem Marktplatz von Trapani baumelst.“ „Du bringst mich nicht zu Martinez?“ fragte der Junge. Seine dunklen Augen glänzten feucht. Es war wohl zuviel für ihn gewesen, was er in den letzten Stunden hatte erleben müssen. „Nein“, sagte Dan. „Aber glaub nicht, daß es dir bei uns viel besser gehen wird. Du kannst nur zu Gott beten, daß dem Jungen nichts geschehen ist. Und jetzt vorwärts!“ 9. Hasard konnte die Augen kaum noch aufhalten, aber der Stolz schwellte seine Brust. Giannina hatte ihm gesagt, daß es nicht mehr weit bis zur Bucht sei. In einer halben Stunde mußten sie es geschafft haben. Die Sonne stand schon hoch, doch sie konnte ihnen nicht mehr viel anhaben, da sie bereits den Pinienwaldgürtel erreicht hatten. Hasard dachte an den langen Marsch durch die Nacht zurück. Giannina hatte zwar den
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Weg gewußt, aber ohne ihn wäre sie verloren gewesen. Sie hatte sich vor der Nacht und ihren Geräuschen gefürchtet. Er hatte sie immer wieder trösten und ihr die Angst nehmen müssen. Sie hatten einmal für längere Zeit gerastet und den Käse und das Brot gegessen, das er in seiner Tasche mitgeschleppt hatte, und waren mucksmäuschenstill gewesen, als sie hörten, daß ein paar Männer durch die Nacht an ihnen vorbeigingen. Sie hatten .angenommen, daß es Männer aus dem Dorf gewesen waren, die nach ihnen suchten. Sie konnten nicht ahnen, daß es Hasards Vater, Carberry und Ben Brighton waren, die ebenfalls zur Bucht zurückmarschierten. Aber woher sollten sie auch wissen, daß jemand nach Ramocca gegangen war, um sie zu befreien? Nach einer halben Stunde hatten sie den Platz erreicht, an dem Ferris Tucker seine Pinie gefällt hatte. Hasard hätte jubeln können. „Wir haben es geschafft, Giannina“, sagte er mit strahlendem Gesicht. „Bald wirst du bei den Spaniern sein, dann kann dir dein Bruder nichts mehr tun.“ Die Hoffnung, Giannina zu heiraten, hatte Hasard inzwischen aufgegeben. Giannina hatte ihm erzählt, daß sie den Spanier Rafael Martinez liebte. Hasard war nur für einen kurzen Augenblick enttäuscht gewesen, aber dann hatte er sich gesagt, daß er wohl doch noch ein bißchen zu jung zum Heiraten war. Außerdem gab es genügend andere Mädchen auf der Welt obwohl Giannina ihm schon gefallen hätte. Dann sahen sie endlich den Strand durch die Bäume schimmern, und ihre Schritte beschleunigten sich. Sie bahnten sich einen Weg durchs Unterholz, und dann lag die kleine Bucht vor ihnen. Hasards Herz hüpfte vor Freude, als er die „Isabella“ sah. Er hörte den leisen Schrei Gianninas und schaute sich nach ihr um. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und sie wies mit der linken Hand zur anderen Seite der Bucht hinüber. Im ersten Augenblick wußte Hasard nicht, was sie dort entdeckt hatte, aber dann fiel
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es ihm wie Schuppen von den Augen. Die Feluke der Spanier war verschwunden! Hasard legte den Arm um Gianninas Schultern, als sie sich schluchzend in den Sand kauerte. „Dann gehst du eben mit an Bord der ‚Isabella’, Giannina“, sagte er. „Mein Vater wird dich nach Trapani bringen. Irgendwie wird er es schon schaffen, glaub mir.“ Während ihr die Tränen über die Wangen liefen, starrte Hasard zur „Isabella“ hinüber. Das Boot löste sich von der Bordwand, und Hasard sah, wie vier Männer es zur Küste pullten. Er erkannte seinen Vater, Carberry, Ferris Tucker und Big Old Shane. Ein bißchen mulmig wurde ihm schon, als er die verzerrten Gesichter der Männer sah, aber was konnte man ihm schon vorwerfen? Er hatte sich schließlich selbst befreit. Niemand hatte sich um ihn kümmern müssen. Er blickte wieder zur Galeone hinüber und wunderte sich, wie wenig Leben an Bord war. Er glaubte, Ben Brighton, Old Dan und Philip zu erkennen, und auf dem Vordeck stand Gary Andrews. Aber wo waren die anderen. Er zerrte Giannina hoch und zog sie zum Wasser hin. Knirschend schob sich der Kiel des Bootes auf den Sand. Mit einem Satz war der Seewolf aus dem Boot, watete durchs Wasser auf den Strand und blieb vor Hasard und Giannina stehen. In seinem Gesicht war kein Lächeln, aber Hasard sah, daß die Augen seines Vaters vor Freude leuchteten. „Verdammt und zugenäht“, sagte er. „Wo hast du die ganze Zeit gesteckt? Wir sind erst nach euch aus Ramocca losgegangen und sind schon seit drei Stunden wieder hier!“ Hasard sperrte seinen Mund auf. „Ihr wart in Ramocca?“ fragte er überrascht. Carberry schob sich neben den Seewolf. „Meine Fresse“, sagte er grollend, „ich war nicht nur in Ramocca, ich habe die ganze verfluchte Insel durchwandert, um dich zu
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finden! Warum kannst du Herumtreiber nicht in dem Raum bleiben, wo man dich einsperrt, he?“ Hasard grinste Carberry an. „Mich kann man nicht einsperren“, rief er und warf sich in die Brust, „Ich habe auch. Giannina befreit! Sie wollte zu dem spanischen Comandante, aber seine Feluke ist ja nicht mehr da.” Der Seewolf wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment waren Geräusche aus dem Wald zu hören. „Los, ins Boot mit Hasard!“ rief er Big Old Shane zu. „Ich gehe nicht ohne Giannina!“ rief Hasard. „Halt die Klappe, du Floh, und gehorche!“ brüllte Carberry. „Dein Vater weiß schon, was er tut!“ Sie starrten auf den Waldrand, und der Seewolf erklärte Giannina in kurzen Worten, was inzwischen geschehen war. „Sie brauchen keine Angst zu haben“, sagte er. „Rafael Martinez wird zu dieser Bucht zurückkehren und Sie unter seinen Schutz nehmen. Wir müssen nur vorsichtig sein, weil er’ uns vielleicht den Verlust seines Schiffes anlasten wird. Es ist mitten in der Nacht plötzlich ausgelaufen, und meine Männer haben vorher nichts Verdächtiges bemerkt. Der Teufel weiß, was auf der Feluke geschehen ist.“ Sie glaubt mir nicht, dachte der Seewolf, als er die großen Augen des Mädchens auf sich gerichtet sah. Aber das war ihm gleichgültig. Er sah seine Männer aus dem Wald hervorstürmen, an der Spitze Matt Davies und Dan O’Flynn, der den jungen Giovanni di Scorlia mit sich zerrte. Dan rief schon von weitem: „Die Dons sind hinter uns her! Wir müssen so schnell wie möglich aufs Schiff!“ Als er heran war, stieß er Giovanni di Scorlia vor dem Seewolf in den Sand. „Hier hast du den Entführer deines Sohnes“, sagte er. „Wollen wir ihm hier eine Kugel verpassen, oder soll er an der Großrahnock baumeln?“ Der Seewolf befahl den Männern, sofort das Boot zu besteigen, bevor er sich wieder an Dan wandte.
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„Wir werden ihn nie in unserem Leben wiedersehen“, sagte er. „Wahrscheinlich wird er sowieso nicht mehr lange zu leben haben. Die Spanier warten überall mit dem Strick auf ihn.“ Er stieß den Jungen an, der vor ihm im Sand kauerte. „Hörst du die Geräusche im Wald?“ fragte er. „Das wird der Comandante von Trapani mit seinen Männern sein. Wenn du nicht auf der Stelle verschwindest, werden sie dich schnappen.“ Giovanni di Scorlia sprang auf die Beine. Er starrte seine Schwester an. Dann griff er nach ihrem Arm, um sie mit sich zu ziehen. Giannina riß sich los. „No!“ rief sie und lief auf den Waldrand zu, den heranhastenden Spaniern entgegen. Der Seewolf kümmerte sich nicht mehr um Giovanni di Scorlia. Wenn der Junge seine Chance jetzt nicht nutzte, war es zu spät für ihn. Dann faßten die Spanier ihn und hängten ihn auf der Piazza von Trapani auf. Dan O’Flynn bestieg als letzter das Boot, und dann begannen zwölf Männer zu pullen, was ihre Muskeln hergaben. Giovanni di Scorlia hatte sich entschieden, weiterzuleben. Er stürmte auf das
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Unterholz zu und verschwand darin, bevor die ersten Spanier am Strand auftauchten. Einer von ihnen war Rafael Martinez, der Comandante von Trapani. Er schrie auf, als er seine Vermutung bestätigt sah. Die verdammten Engländer hatten ihm sein Schiff geklaut! Er befahl seinen Männern, auf das Boot und die Männer darin zu schießen, aber da sie keine Musketen mit sich führten, war es zwecklos. Die Kugeln aus den Pistolen schafften nicht einmal die Hälfte. Dann entdeckte Rafael Martinez das Mädchen, und er vergaß die Engländer. Der Seewolf sah, wie sich die beiden Menschen umarmten. Wenigstens etwas, dachte er. Als sie an Bord zurück waren, begannen sie sofort damit, den neuen Vormast aufzuriggen, und drei Stunden später segelten sie unter vollem Zeug aus der kleinen Bucht. Der Seewolf hoffte, daß sie jetzt unbehelligt an Sizilien vorbeisegeln konnten. Er dachte noch einmal an Hamid el Sarad und wünschte dem Sarazenen, daß er bei den Türken glücklicher wurde, als er es auf Sardinien gewesen war...
ENDE