Deutschsprachige Romane der klassischen Moderne
Herausgegeben von Matthias Luserke-Jaqui
Walter de Gruyter
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Deutschsprachige Romane der klassischen Moderne
Herausgegeben von Matthias Luserke-Jaqui
Walter de Gruyter
Deutschsprachige Romane der klassischen Moderne
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Deutschsprachige Romane der klassischen Moderne Herausgegeben von Matthias Luserke-Jaqui unter Mitarbeit von Monika Lippke
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Redaktion und Satz: Monika Lippke
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-018960-5 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Vorwort Den Schwerpunkt dieses Bandes bilden Einzelinterpretationen zum deutschsprachigen Roman der klassischen Moderne (ca. 1890–1933). Das Buch will keine Literaturgeschichte ersetzen, sondern an exemplarischen, durch die zeitgenössische Rezeption oder die Wirkungsgeschichte nobilitierten Romanbeispielen aktuelle Interpretationsmöglichkeiten aufzeigen und die Texte im (kulturgeschichtlichen) Kontext der klassischen Moderne vorstellen. Es ist nicht die Absicht dieses Bandes, ein Kompendium der Literatur der Moderne vorzulegen, im Mittelpunkt steht allein das Genre des Romans. Dabei muss bewusst bleiben, dass damit eine gattungstypologische Furche in das literarische Feld der Moderne gezogen wird und eine Abkopplung des Romans von anderen Textsorten, bis hin zum Essay, heuristisch bleibt. Besonders eng ist zweifelsohne der Zusammenhang in der Erzählliteratur. Um dem Rechnung zu tragen, wurden Erzähltexte wie Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl (1900) und Fräulein Else (1924) aufgenommen, die für die Entwicklung der modernen Erzählkunst von zentraler Bedeutung sind. Die einzelnen Interpretationen nennen die wichtigsten Merkmale der Romane, die ihre kontemporäre Bedeutung für die Literatur der Moderne oder ihre Kanonisierung im Laufe der Rezeptionsgeschichte kennzeichnen. In der Regel wird in den einzelnen Beiträgen auf ein ausführliches biographisches Porträt des jeweiligen Autors verzichtet. In der Wahl ihrer methodischen Interpretationsprofile sind die Beiträge völlig frei: eine Folge der Einsicht, dass Moderne nicht nur ein Forschungsgegenstand ist, sondern auch eine Forschungshaltung dokumentiert. Die Beiträge führen ferner in den aktuellen Forschungsstand des interpretierten Textes ein und diskutieren ausgewählte Forschungspositionen. Die Beiträgerinnen und Beiträger dieses Bandes auf einen Moderne-Begriff zu verpflichten, hätte dem Darstellungsbefund des Themas widersprochen. Es gibt in der Literaturwissenschaft, zumal in der germanistischen Literaturwissenschaft, keinen einheitlichen Moderne-Begriff.1 Das Epithe_____________ 1
Zum Begriff der ›klassischen Moderne‹ vgl. Matthias Luserke-Jaqui: »Technische Kulturarbeit«? Überlegungen zum Begriff der ›Klassischen Moderne‹, in: Ders. (Hg.): »Alle Welt ist
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ton ›klassisch‹, das für die ›kanonischen‹ Texte dieses Bandes in Anspruch genommen wird, ist umstritten und wird gegebenenfalls durch andere Präzisierungen wie literarische, ästhetische, reflektierte, historische, emphatische Moderne ersetzt. Und es bleibt auch fraglich, ob ›Modernism‹, ›Modernismus‹ und ›Moderne‹ in eins fallen. Die intensiven Diskussionen, die in der Peripherie der Beiträge geführt wurden, bestätigen diese Offenheit. Alle Beiträge versuchen, spezifische Kennzeichen von Modernität (etwa Unbestimmtheit, Simultaneität, Urbanität, narrative Merkmale und gesellschaftliche Markierungen) des jeweiligen Textes herauszuarbeiten, wohl wissend, dass es diesen einen konzisen Begriff von ›Moderne‹, gar klassischer Moderne nicht gibt. Die Adressaten dieses Buches sind Lehrende und Studierende der Neueren deutschen Literaturwissenschaft. Neben Basisinformationen werden innovative Thesen zur Diskussion gestellt. Auf Autoren wie Benn, Broch, Jahnn oder Feuchtwanger musste verzichtet werden und diese Lücken wird jeder als schmerzlich empfinden, der Vollständigkeit erwartet. Unersetzliche Hilfe hat mir über die lange Entstehungszeit dieses Buches hinweg Monika Lippke geleistet, sie betreute die Redaktion und den Satz. Nikola Roßbach und Martina Heinz lasen Korrektur, ihnen allen sei ganz herzlich gedankt. Darmstadt, November 2007
Matthias Luserke-Jaqui
_____________ medial geworden.« Literatur, Technik, Naturwissenschaft in der Klassischen Moderne. Tübingen 2005, S. 9-22.
Inhalt Vorwort ................................................................................................................ V HELMUT SCHEUER Singularität und Typik – Epische Planspiele zwischen Adel und Bürgertum in Theodor Fontanes Effi Briest (1894/95) ...................................................... 1 NIKOLA ROßBACH Sicherheit ist nirgends. Arthur Schnitzlers Monologerzählungen Leutnant Gustl (1900) und Fräulein Else (1924) .............................................. 19 FOTIS JANNIDIS »Unser moderner Dichter« – Thomas Manns Buddenbrooks. Verfall einer Familie (1901) ............................ 47 DIANA SCHILLING Der Entwicklungsroman als Farce. Robert Walser: Jakob von Gunten. Ein Tagebuch (1909) ................................. 73 SABINA BECKER Der Beginn der Moderne im Roman. Rainer Maria Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) ............. 87 MATTHIAS LUSERKE-JAQUI Carl Einstein: Bebuquin (1912) als Anti-Prometheus oder Plädoyer für das »zerschlagene Wort« ................................................. 110 MORITZ BAßLER Jäger der verlorenen Pace. Robert Müller: Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs (1915) ....................................................... 128 HEINZ DRÜGH Kein romanhafter Leitartikel. Zur Virulenz der ästhetischen Moderne in Heinrich Manns Roman Der Untertan (1918) ......................................... 154
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OLIVER JAHRAUS Anspruch auf Modernität und traditionelle Gebundenheit. Thomas Mann: Der Zauberberg (1924) .......................................................... 179 MANFRED ENGEL Franz Kafka: Der Process (1925) – Gerichtstag über die Moderne ........... 211 SIKANDER SINGH Endlich besiegte Zeit. Hermann Hesses Roman Der Steppenwolf (1927) ........................................ 238 JUTTA SCHLICH Faszination und Faschismus in Alfred Döblins ›Epos der Moderne‹ Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf (1929) ................. 263 PHILIP PAYNE Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32) und der Modernismus aus englischer Sicht.................................................. 308 ROSMARIE ZELLER Ein Mann ohne Eigenschaften im Wartesaal Europas. Erich Kästners Fabian. Die Geschichte eines Moralisten (1931) ..................... 332 ARIANE MARTIN Kultur der Oberfläche, Glanz der Moderne. Irmgard Keuns Roman Das kunstseidene Mädchen (1932) ........................... 349 MIRJAM SPRINGER Wirklichkeit mit goldenem Firnis. Hans Fallada: Kleiner Mann – was nun? (1932) ............................................. 368 JAN ANDRES Späte Moderne. Joseph Roths Radetzkymarsch (1932) ................................ 391 Beiträgerinnen und Beiträger ........................................................................ 419
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Singularität und Typik – Epische Planspiele zwischen Adel und Bürgertum in Theodor Fontanes Effi Briest (1894/95) Thomas Mann hat 1919 in seiner zustimmenden Buchbesprechung der ersten wichtigen Fontane-Monographie von Conrad Wandrey (1919) Effi Briest als »eine wichtige, nicht wegzudenkende Etappe in der Geschichte des deutschen Romans« bezeichnet und vom »Kronjuwel erzählender europäischer Prosa« gesprochen. Dieses »Meisterwerk« bestimmt er zudem als »Fontane’s ethisch modernstes Werk, das am deutlichsten über die bürgerlich realistische Epoche hinaus in die Zukunft weist und eine schmerzlich zugestandene Überwindung der vom Dichter verkörperten Ordnungswelt bedeutet.« Wenn er noch verdeutlichend hinzufügt, es gebe in Effi Briest »nicht länger die selbstverständlich-unangezweifelte Basis alles sittlichen Lebens«,1 so trifft er damit den Kern des Romans. Fontane (1819–1898) hat seinen Roman zwar auch als Liebes- und Skandalgeschichte konzipiert, aber wichtiger waren ihm der »Gesellschaftszustand, das Sittenbildliche, das versteckt und gefährlich Politische«.2 Wir haben es also bei Effi Briest mit einem ›sozialen Roman‹ bzw. ›Gesellschaftsroman‹ oder ›Zeitroman‹ zu tun, geht es doch vorrangig um soziale Konfliktlinien in der wilhelminischen Epoche – hier um epische Grenzgänge zwischen Adel und Bürgertum oder genauer: zwischen traditionell-ständischer und modern-bürgerlicher Ethik und Moral. Walter Müller-Seidel hat in seiner so wichtigen Analyse der »sozialen Romankunst« bei Theodor Fontane zu Recht darauf verwiesen, dass die »Hälfte aller Romane Fontanes« sich »mit Ehefragen und Ehekonflikten« beschäftige und dass damit dem Eheroman – nach Anfängen bei Christian Fürch_____________ 1 2
Thomas Mann: Anzeige eines Fontane-Buches, in: Ders.: Schriften und Reden zur Literatur, Kunst und Philosophie. Frankfurt a.M. 1968, Bd. II, S. 102-110, hier S. 104, 105 (= Fischer Bücherei MK 113). So am 2. Juli 1894 an F. Stephany. Hier zitiert nach: Fontane-Handbuch. Hg. v. Christian Grawe u. Helmuth Nürnberger. Stuttgart 2000, S. 634.
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tegott Gellert, Johann Wolfgang Goethe und den Romantikern – endgültig »zu Rang und Ansehen« verholfen worden sei.3 Der Liebes- und Eheroman war zu Fontanes Zeiten durchaus erfolgreich, aber er belebte vor allem die zahlreichen ›Familienzeitschriften‹ vom Typus der Gartenlaube, in der z.B. Eugenie Marlitt mit ihren trivialen Liebesromanzen Triumphe feierte. In diesen Familienromanen wird zum Ende immer wieder jene ›Ordnungswelt‹ hergestellt, die Thomas Mann bei Effi Briest in Frage gestellt sieht. Damit steht Fontane übrigens den Naturalisten sehr nahe, die in ihren Dramen eindrucksvoll die Krise des Patriarchats gestaltet haben. Besetzen Fontane und die Naturalisten in »sozialethischer Hinsicht« (Thomas Mann)4 ein wichtiges Segment der ›modernen‹ Literatur, so scheint Fontane mit seiner hohen Symbolkunst dem Ästhetizismus der Fin-de-siècle-Literatur nahezustehen, aber bei genauerem Vergleich werden die Unterschiede deutlich: Die Décadence-Literatur praktiziert eine Ästhetik ohne Ethik (l’art pour l’art), bei Fontane gehört die Symbolik in die Tradition des Realismus, der bei allen Vertretern eine ausgefeilte Symboltechnik kennt. Besonders für die Darstellung tabuisierter Bereiche, z.B. der Erotik und Sexualität, deren freimütige Schilderung erst mit dem Naturalismus möglich wird, benutzt Fontane »eine Rhetorik des Verschweigens und Andeutens«.5 Die Symbolik ist bei ihm keine ästhetische Spielerei, nicht nur hohe Formkunst, sondern übernimmt eine wichtige Funktion, indem sie mit einer diskreten Verweisungstechnik auf psychische Vorgänge hindeutet. So verweisen das Spiel mit dem Chinesenspuk, die heidnisch-mythologischen Anspielungen auf pommersche Lokalsagen oder die von Peter-Klaus Schuster aufgezeigten christlich-religiösen ›Subtexte‹,6 die Wasser- oder Schaukelsymbolik, die Fahrt über den ›Schloon‹ oder durch den Wald, die intertextuellen Bezüge zu Clemens Brentanos Gedicht Die Gottesmauer oder Crampas Einsatz der Gedichte Heines auf vieles, was im Text nicht ausgesprochen wird, aber für das Erschließen der psychischen Disposition der Figuren wichtig ist. »Fontanes Romane, so kunstvoll sie komponiert sind, bauen jedoch keine autonomen poetischen Zeichensysteme auf, sondern arbeiten und spielen soziokulturell vorgegebene Zeichensysteme durch«.7 Die Symbolik _____________ 3 4 5 6 7
Walter Müller-Seidel: Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland. 2., durchgesehene Aufl. Stuttgart 1980, S. 346. Mann: Anzeige, S. 109. Norbert Mecklenburg: Theodor Fontane. Romankunst der Vielstimmigkeit. Frankfurt a.M. 1998, S. 49. Vgl. Peter-Klaus Schuster: Theodor Fontane: Effi Briest – Ein Leben nach christlichen Bildern. Tübingen 1978. Mecklenburg: Theodor Fontane, S. 31.
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steht also bei ihm im Dienste einer »sozialen Romankunst« (MüllerSeidel),8 indem sie das oben von Fontane zitierte ›Sittenbildliche‹ in die Vorstellungsebene hebt. So wichtig also die berühmten »tausend Finessen«9 bei ihm sind, also jene ›Markierungen‹, ›Textsignale‹, ›Allusionen‹, ›avis au lecteur‹, das Spiel mit Namen oder Farben, die Motivketten, Vorausdeutungen und Wiederholungen und eben das ausgefeilte Symbolsystem, die alle ein dichtes Beziehungsnetz über den Text werfen, so sind sie doch immer funktional eingesetzt: »Unaussprechliches ahnen lassend; psychische Vorgänge wie charakterliche Konstanten versinnlichend, soziale Zusammenhänge verdichtend; individuelle Erlebnisse und Erfahrungen ausdrückend, zwischenmenschliche Beziehungen verdeutlichend, allgemeine Zustände im Gleichnis konzentrierend.«10 So steht Fontanes Ästhetik immer im Zeichen der Ethik. Der Realist Fontane ist mit seinen Gesellschaftsromanen, die sich auf den brandenburgisch-preußischen Raum, oft auf die Hauptstadt Berlin konzentrieren, allerdings kein ›Tendenzpoet‹, das scheidet ihn von der Literatur des Vormärz ebenso wie von der der Naturalisten. Aber mit diesen teilt er eine neue Arbeitsweise, die auch eine zunehmende Verwissenschaftlichung des schriftstellerischen Prozesses bedeutet. Diejenigen der ›modernen‹ Autoren, die der Kunst vor und nach 1900 eine soziale und moralische Aufgabe zusprachen, wollten kritische Gesellschaftsbeobachter sein, wollten – wie der Fontane-Verehrer Heinrich Mann es formulierte – »soziologisch«11 schreiben. Diesen modernen Autoren ging es um Fontanes ›Sittenbildliches‹, um die ›Kultur‹ und um – modern gesprochen – die ›Mentalität‹ der geschilderten Epoche. Dieser ›soziale Roman‹ – von Heinrich und Thomas Mann, von Hermann Broch und Alfred Döblin, von Lion Feuchtwanger und Robert Musil – entwirft zwar individuelle Szenarien, will aber damit zugleich das Zeittypische erfassen. »Man ist nicht bloß ein einzelner Mensch, man gehört einem Ganzen an«,12 sagt Geert von Innstetten in Effi Briest. Die Menschen sind vor allem »Repräsentant[en] der Zeit« (Musil),13 ihr Rollenspiel, d.h. ihr Sozialcharakter, ist wichtiger als die Singularität des Charakters; die soziale Identität rangiert _____________ 8 9 10 11 12 13
Müller-Seidel: Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland. So für Irrungen, Wirrungen am 14. Juli 1888 an E. Dominik. Hier zitiert nach: FontaneHandbuch, S. 576. Hans-Heinrich Reuter: Fontane. Neu hg. u. mit einem Nachwort v. Peter Görlich. Bd. 2. Berlin, Bayreuth, Zürich 1995, S. 602f. So am 3. April 1922 an Paul Hatvani. Hier zitiert nach: Text und Kritik. Sonderband Heinrich Mann. Hg. v. Heinz-Ludwig Arnold. 4. Aufl. München 1986, S. 8. Theodor Fontane: Effi Briest. Roman. Hg. v. Christine Hehle. Berlin 1998, S. 278 (= GBA, d.i. Große Brandenburger Ausgabe. Hg. v. Gotthard Erler). Im Folgenden mit der Sigle EB belegt. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg 1952, S. 1595.
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vor der personalen. Zwar tragen bei Fontane die Erzählungen meist als Titel noch Personennamen – L’Adultera (1882) stellt eine bezeichnende Ausnahme dar – , aber auch bei ihm stehen die Hauptfiguren für einen bestimmten sozialen Typus; Charaktere und Handeln sollen sozialpsychologische Phänomene aufscheinen lassen und damit das ›Sittenbildliche‹ einer Epoche ins Blickfeld rücken. »Der Roman soll ein Bild der Zeit sein, der wir selber angehören,«14 so Fontane. Er steht mit seinen Romanen am Anfang einer breiteren, auch akademischen Bewegung, die sich der Kultur- und Sittengeschichte zuwendet und eine neue Kultur- und Sozialwissenschaft ausbildet, die z.B. mit den Namen von Friedrich Nietzsche und Georg Simmel, Karl Lamprecht und Max Weber verbunden ist. 1920 gibt Lion Feuchtwanger eine treffende Beschreibung dieses neuen ›sozialen‹ Romantypus: »Roman: ein Weltbild soll gegeben sein, nicht ein Einzelschicksal bloß, ein Zeitbild zumindest, Hintergründe, Unterströmungen, Belichtungen von verschiedenen Seiten, Umwelt, Ursachen und Ziele, das Bewegte und das Bewegende. Ein dramatischer Roman […].«15 An Fontanes Effi Briest lässt sich zeigen, wie solche weit gespannten Anforderungen verwirklicht werden können: Das Dramatische wird vor allem durch ein ›szenisches Erzählen‹, das der direkten Rede viel Raum gewährt, erreicht und macht deshalb z.B. auch die filmische Umsetzung der Romane so leicht; neben die Hauptfiguren tritt eine Fülle von wichtigen Nebenfiguren, die das soziale Spektrum erweitern und unterschiedliche Reaktionsweisen vorführen sollen. In Effi Briest lässt sich das z.B. bei den beiden so unterschiedlichen Dienstmädchen Johanna und Roswitha beobachten. Die leitende Stimme des Erzählers wird zurückgenommen (obwohl sie durchaus noch erkennbar ist) und dafür jene berühmte »Polyphonie« (M. Bachtin) der Stimmen erzeugt, die Norbert Mecklenburg zu Recht von einer »Romankunst der Vielstimmigkeit«16 sprechen lässt. Gemeint ist damit auch die von Fontane gern geübte Praxis, im Roman Meinungsvielfalt und auch Relativierungen herzustellen, die oft keine ›Leitstimme‹ erkennen lassen und deshalb die Urteilsfähigkeit des Lesers herausfordern. Was nicht ausschließt, dass eine subtile, indirekte Leserlenkung erfolgt, die uns z.B. die junge Effi Briest so sympathisch und den konservativen Innstetten so unangenehm erscheinen lässt. Hinzu tritt eine Perspektivenaufsplitterung, die die gleichen Vorgänge aus unterschiedlicher ›Belichtung‹ (Feuchtwanger) betrachtet. Wer ein so buntes episches Kaleidoskop einer Epoche und zudem ein differenziertes soziales Spektrum entwerfen will, muss neue schriftstelleri_____________ 14 15 16
Zitiert nach: Fontane-Handbuch, S. 473. Zitiert nach: Romantheorie. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland seit 1880. Hg. v. Eberhard Lämmert u.a. Köln 1975, S. 125. Mecklenburg: Theodor Fontane. Romankunst der Vielstimmigkeit.
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sche Arbeitstechniken entwickeln, die durchaus einer Art wissenschaftlichem Arbeiten entsprechen. Zu Recht ist angezweifelt worden, was Fontane 1895 behauptet hat: er habe Effi Briest »wie mit dem Psychographen«17 geschrieben, habe also in einem ihn überwältigenden Schreibakt den Roman dem Unbewussten abgerungen. Dieser Schöpfungsmythos passt nicht zu dem langjährigen Entstehungsprozess des Romans. Fontane hat sich keineswegs einem großen Phantasieentwurf hingegeben, sondern den Roman in einem langen und mühsamen Arbeitsprozess mit Quellenund Milieustudien, mit Informationsgesprächen mit Fachleuten und Freunden, mit Vorentwürfen und Überarbeitungen zu Ende geführt. Mögen der leichte Tonfall und die eingängige Lektüre eine zügige Niederschrift und eine gewisse Oberflächlichkeit vermuten lassen, so dürfen die ›tausend Finessen‹ nicht übersehen werden, die dem Roman eine besondere Tiefenstruktur geben, ihm einen vielfältigen ›Subtext‹ unterlegen. Wie gewissenhaft Fontane bei Effi Briest vorgegangen ist, zeigt der lange Entstehungsprozess (vgl. EB 371-381). Erste Entwürfe werden wahrscheinlich schon 1888/89 konzipiert. Sie nutzen eine damals viel diskutierte Duellgeschichte des preußischen Offiziers Armand von Ardenne, der 1886 den Ehebruch seiner Frau Elisabeth zum Anlass eines ›Zweikampfs‹ mit einem Düsseldorfer Amtsrichter nahm, diesen tötete, sich von seiner Frau trennte und die gemeinsamen Kinder zugesprochen erhielt. Bis 1894 zieht sich der Arbeitsprozess hin; von Oktober 1894 bis März 1895 erscheint der Abdruck in Julius Rodenbergs Deutscher Rundschau und 1895 die erste Buchauflage im Verlag des Sohnes Friedrich Fontane. Zufrieden hält Fontane in seinem Tagebuch Ende 1895 fest: »Im Herbst erscheint ›Effi Briest‹ als Buch und bringt es in weniger als Jahresfrist zu 5 Auflagen, – der erste wirkliche Erfolg, den ich mit einem Roman habe.« (EB 381) Dieser ›Erfolg‹ ist natürlich auch durch den Stoff und die leichte Erzählweise erklärbar, weil viele Leserinnen und Leser den Roman wohl als eine Variante der beliebten ›trivialen‹ Ehe- und Familienromane der Zeit zu goutieren vermochten. Aber die zeitgenössische Literaturkritik hat sofort die epische Meisterleistung erkannt, die Thomas Mann 1919 so rühmt, und dieses Werk eines sechsundsiebzigjährigen Schriftstellers gebührend gefeiert. So bewundert z.B. Paul Schlenther in der Vossischen Zeitung die subtile Charakterschilderung, das »Symbolistische« und das »Erzählen im Flüsterton, Andeuten und Winken«. Auch die Nähe zu den Sozialstudien und der ›wissenschaftlichen‹ Arbeitsweise der Naturalisten wurde erkannt. Fontane sei »ein Historiker, der sein Gebiet erweitert hat; seine ›Documente‹ sind die Beobachtungen, die er im Laufe eines langen Lebens _____________ 17
So am 11. November 1895 an Paul Schlenther. Hier zitiert nach: Fontane-Handbuch, S. 634.
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sammelte«. Allerdings wird auch die Differenz zu den ungeschminkten Gesellschaftsskizzen der Naturalisten betont: »Er ist heute noch vielleicht der einzige Naturalist, bei dem die Herbheit der Darstellung das Gefühl nicht erstickt hat, ein feuriges jugendliches Gefühl.«18 Dieses ›Gefühl‹ wird einmal durch den Erzähler vermittelt, der seine Hauptfigur mit deutlicher Zuneigung begleitet – »Arme Effi« (EB 345) nennt er sie mitfühlend im letzten Romankapitel. Zum anderen sind es das Gefühlvolle des Romans selbst, die elegisch-melancholische Grundstimmung, das von hoher Emphase, aber auch von tiefer Verzweiflung und Angst bestimmte kurze Leben der Effi Briest, die viele Leser offensichtlich affektiv an den Roman fesseln. Diese ›tragische‹ Dimension des Romans hat die historische Verbindung zu Goethes großem Eheroman Die Wahlverwandtschaften (1809) nahegelegt, der als ein ›tragischer Roman‹ gelesen worden war. Fontane hat sich diesem ehrenvollen Vergleich verweigert: »Die Technik hat eben Fortschritte gemacht […] Goethe ist Goethe und Fontane ist Fontane.«19 Aber nicht nur die ›Technik‹ ist anders – »die feierliche, dem Pathos zugewandte Sprache«20 wird ersetzt durch den typischen Fontane’schen ›Plauderton‹ – , sondern auch mit der Tragik funktioniert es nicht mehr so recht. Müller-Seidel hat darauf hingewiesen, dass bei Effi Briest die »Leidenschaft« fehle, weil die ›Helden‹ – wie so oft im modernen Roman – nur noch »halbe Helden« seien. Zwar gebe es einen »tödliche[n] Ernst der Geschichte«, aber es sei »ein aus Alltäglichkeit, Lächerlichkeit und Trivialität gemischter Ernst«, der diese ›Tragödie‹ auch eine »Komödie – oder eine erzählte Tragikomödie«21 sein lässt. Spätestens seit Friedrich Dürrenmatts Theaterstücken wissen wir, dass die Schriftsteller das Tragische in der modernen Welt nicht mehr entdecken können, weil in unserer individualisierten Gesellschaft jene von Thomas Mann angesprochene einheitliche ›Ordnungswelt‹ nicht mehr besteht und damit die für alle gleichermaßen bestimmende Ethik und Moral aufgehoben sind. Das Unausweichliche, die tödliche Konfrontation von Individuum und Gesellschaft sind nicht mehr zwangsläufig gegeben, da es recht unterschiedliche Selbstverwirklichungsmöglichkeiten gibt. So fehlt in Effi Briest das Wesentliche jeder Tragik: die erbarmungslose Ausweglosigkeit, die Machtlosigkeit des Individuums, das sich einem ›Mythos‹ oder einem ›Schicksal‹ bedingungslos zu unterwerfen hat. Der ›Mythos‹, dem der Landrat Geert von Innstetten glaubt gehorchen zu müssen, ist jener schon fragwürdig erscheinende »Ehrenkultus«, _____________ 18 19 20 21
Diese Rezeptionszeugnisse nach: Fontane: Effi Briest (= GBA), S. 382-385. So am 18. Februar 1896 an Julius Rodenberg. Hier zitiert nach: Müller-Seidel: Theodor Fontane, S. 351. Müller-Seidel: Theodor Fontane, S. 345. Müller-Seidel: Theodor Fontane, S. 372f.
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der im Gespräch mit seinem Kollegen Wüllersdorf als »Götzendienst« (EB 280) bestimmt wird. Es ist die schon in Irrungen, Wirrungen (1888) als »Adelsvorstellung« und »Standesmarotte« erkannte ›Ehre‹, »die mächtiger war, als alle Vernunft«,22 die Innstetten in die tödliche Konfrontation mit dem Liebhaber seiner Frau, dem Landwehrbezirkskommandanten Major von Crampas, treibt. Nach dem Duell wird er sich eingestehen, dass er sich »einer Vorstellung, einem Begriff zu Liebe« duelliert habe und dass das alles eine »halbe Komödie« gewesen sei: »Und diese Komödie muß ich nun fortsetzen und muß Effi wegschicken und sie ruinieren, und mich mit …« (EB 287) Weit vor David Riesmans Typusbeschreibung eines ›innengeleiteten‹ und eines ›außengeleiteten‹ Menschen23 zeichnet Fontane mit Innstetten die von modernen Soziologen erkannte »Verhaltenskonformität« eines Individuums nach, das durch »eine höchst sensible Konformität und das Streben nach Konfliktvermeidung« als von »außen«24 bestimmt erscheint. Und weit bevor Otto Friedrich Bollnow in seinen Überlegungen zu einer »einfachen Sittlichkeit« formuliert, dass die »Unterwerfung unter den herrschenden Ehrenstandpunkt« den Menschen zu einem »unmenschlichen«25 Verhalten verleiten kann, beschreibt Fontane diesen Prozess. Obwohl Innstetten »im letzten Herzenswinkel zum Verzeihen« (EB 277) geneigt ist, unterwirft er sich einer schon als fragwürdig erkannten Standesethik, handelt also ›unmenschlich‹ und schafft erst dadurch die ›tragische‹ Schlussgestaltung seiner Ehe. Auch wenn Innstetten behauptet: »Ich habe keine Wahl« (EB 278), so zeigen seine eigenen Bedenken, dass er auch andere Handlungsoptionen hat. Fontane greift mit dieser Duellgeschichte in eine schon damals geführte Debatte über solche martialischen Standesriten ein und zeigt auch an dem zweiten Duellanten Crampas, dass hier eine resignative Anpassung an eine engherzige sozial-ethische Praxis erfolgt, hat dieser Major doch vorher recht deutliche Zeichen seiner Verachtung der traditionellen preußischen Offiziersmentalität bekundet. Dennoch schreibt er an Effi: »Alles ist Schicksal« (EB 275) und beugt sich später dem herrschenden Ehrenkodex. Der dritte Adlige, der dieses Duell(un)wesen kritisch betrachtet, ist der Kollege und Sekundant Innstettens, Wüllersdorf.26 _____________ 22 23 24 25 26
Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen. Roman. Berlin 1997 (= GBA), S. 107. Vgl. David Riesman: Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters. Reinbek b. Hamburg 1977. Friedhelm Guttandin: Das paradoxe Schicksal der Ehre. Zum Wandel der adeligen Ehre und zur Bedeutung von Duell und Ehre für den monarchistischen Zentralstaat. Berlin 1993, S. 256. Otto Friedrich Bollnow: Einfache Sittlichkeit. Kleine philosophische Aufsätze. 4. Aufl. Göttingen 1968, S. 53. Hier zitiert nach: Stefan Greif: Ehre als Bürgerlichkeit in den Zeitromanen Theodor Fontanes. Paderborn, München, Wien u.a. 1992, S. 174. Vgl. dazu Greif: Ehre als Bürgerlichkeit.
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Fontane zeigt, wie feige Unterwerfung unter Standesregeln das Menschliche aufhebt und wie wenig das mit ›Schicksal‹ zu tun hat. Er zeigt aber auch, dass das Individuum sich selbst mit den gesellschaftlichen Anforderungen kritisch auseinanderzusetzen und seine Handlungsweise zu prüfen habe. Bei fast allen Personen seines Romans wird deutlich, dass sie sich mehr oder weniger an die gesellschaftlich vorgegebenen Handlungsmuster halten. Es fehlen die wünschenswerte kritische Distanz, die Zivilcourage, eine subjektive Widerstandskraft und damit der Mut zu eigenem Handeln. Angedeutet werden solche Möglichkeiten, wenn z.B. die Sängerin Trippelli ihren von den meisten Mitmenschen kritisierten eigenen Lebensweg geht. Es ist außerdem typisch für Fontane, dass gerade Personen der sozialen Unterschicht diesen Mut zu eigenständigem Handeln aufbringen. In Effi Briest ist es das von Effi angestellte Kindermädchen Roswitha, das sich wie selbstverständlich zu ihr bekennt, als selbst die Eltern dies nicht mehr wagen (»auch das elterliche Haus wird Dir verschlossen sein«, EB 301). Als Roswitha für die todkranke Effi von Innstetten den Hund Rollo erbittet, muss Wüllersdorf anerkennen: »die ist uns über« (EB 339). Dieses Beispiel belegt, wie so oft bei Fontane, dass spontane Herzensgüte allemal wichtiger ist als selbstgefälliges ›gutes‹ Benehmen. Das wird auch an einem zweiten Beispiel gezeigt, wenn der eigentlich sehr warmherzige alte Briest es endlich wagt, das befreiende »Effi komm« auszusprechen und sich über die Bedenken seiner Frau hinwegsetzt, die immer noch auf »Katechismus und Moral« und den »Anspruch der ›Gesellschaft‹« pocht, während ihr Mann der »Liebe der Eltern zu ihren Kindern« (EB 328) den Vorrang einräumt. Lernen müsste man also daraus, dass jene oft zitierte Wendung Innstettens vom »uns tyrannisierenden Gesellschafts-Etwas« (EB 278) ernst genommen werden muss. So ist es richtig, was Frau von Briest sagt: »Es ist sehr schwer, sich ohne Gesellschaft zu behelfen.« Aber unmöglich ist es nicht, da hat ihr Mann mit seiner Replik recht: »Ohne Kind auch. Und dann glaube mir, Luise, die ›Gesellschaft‹, wenn sie nur will, kann auch ein Auge zudrücken.« (EB 328) Zuvor hatte er den seltsamen Vergleich gewählt, er wolle nicht »den Großinquisitor spielen« (EB 328) und damit auf frühere menschliche Tragödien unter einer gnadenlosen christlichen Herrschaft angespielt, die sich aber in der Moderne nicht wiederholen müssen, da eine Unterwerfung unter solch erbarmungslose Richter nicht mehr zwingend ist. Wenn bei den Erzählungen der Realisten immer wieder festgestellt wurde, es gehe um eine Konfrontation von Individuum und Gesellschaft, um die Versuche einer Selbstbestimmung des Menschen und um eine Einübung in eine neue Individualität, um Orientierungshilfen in einer immer komplexer werdenden Gesellschaft, um eine neue Ethik und Moral
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– gern in den Termini ›Sitte‹ und ›Sittlichkeit‹ gefasst – und um das Widerstandspotential des Einzelnen gegen die übermächtigen Ansprüche der Gesellschaft, so gilt das besonders für Fontanes Romane. Sie spielen in einer Umbruchzeit, wo die sichere Einordnung erschwert wird, und zeigen die Konfliktzonen in der modernen Gesellschaft auf, die sich bei ihm sozial vor allem im Adel und im Bürgertum abzeichnen. Fontane erweist sich als guter Gesellschaftsbeobachter, wenn er den Übergang in die ›Moderne‹ zunächst im Grenzbereich zwischen Adel und Bürgertum beschreibt und seine Aufmerksamkeit auf die Anpassungsdeformationen richtet: So beharrt der Adel zwar auf seinen Standesprivilegien, weiß sich aber auch geschickt mit dem ›Neuen‹ zu arrangieren. Das erzeugt das von Fontane verachtete ›Neupreußentum‹, dem er gern das gute ›Altpreußische‹ – am schönsten wohl im alten Stechlin verkörpert – konfrontiert. Dem Bürgertum mangelt es in dieser Phase der raschen ›Modernisierung‹ weitgehend an demokratischer Gesinnung; es konzentriert sich auf den von Fontane so verspotteten Tanz ums ›goldne Kalb‹,27 dafür steht z.B. die Aufsteigerin Jenny Treibel, und geht als ›Bourgeoisie‹ einen feigen Klassenkompromiss mit dem Adel ein. Die eigentlich revolutionäre soziale Kraft, das Proletariat, dem Fontane als ›viertem Stand‹ in seinen autobiographischen Zeugnissen durchaus seinen Respekt ausspricht, fehlt in seinen Romanen. Es werden die Naturalisten sein, die diese Schichten in die Literatur einführen, wobei es weniger die Arbeiter sind als das einen Proletarisierungsprozess erlebende Kleinbürgertum, bei dem sie die sozialen Deformationsprozesse beschreiben. Dabei lassen sie – ähnlich wie Fontane – den Mikrokosmos der Familie als Spiegelbild des sozialen Makrokosmos erscheinen. Wenn sich bei Fontane keine starke soziale Kraft gegen den Adel oder das schwache Bürgertum formiert, so verzichtet er keineswegs auf positive Gegenmodelle. Ähnlich wie später Heinrich Mann in seinem ›guten König‹ Henri Quatre (1935, 1938) einen Adligen mit vorbildlichen menschlichen Eigenschaften ausstattet, so hat auch schon Fontane jene von Heinrich Mann so gerühmte ›Menschlichkeit‹ und ›Güte‹ entdeckt, die sich gegen Intoleranz und gesellschaftlichen Dünkel formieren müssen und als klassenübergreifende Charakterzüge erscheinen. Das Private erhält so eine starke Widerstandskraft gegen die mit großen Sprüchen von ›Moral‹ und ›Sitte‹, von ›Anstand‹ und ›Etikette‹ operierende Gesellschaft. Blickt man mit diesem Wissen auf Fontanes Ehe- und Liebesromane, so könnten wir sagen, dass er wie Emile Zola auch ›Experimentalromane‹ schreibe, bei der die (geheimen) Machtmechanismen der Gesellschaft _____________ 27
Vgl. dazu Fontane-Handbuch, S.618f. Hier auch über Fontanes Einschätzung der ›Bourgeoisie‹ bzw. des ›Bourgeoisen‹.
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aufgezeigt werden sollen. Teilt er auch nicht die Idee von der Milieutheorie der Naturalisten, so sind seine Romane dennoch epische ›Planspiele‹, soziale Versuchsanordnungen, bei der die Personen ihren individuellen Standort suchen, ihre Rollen spielen und ihren Handlungsspielraum ausprobieren müssen. Die Ausgangsbedingungen sind in vielen Romanen ähnlich: Da geht es um ungewöhnliche Liebesmodelle – außer- oder voreheliche Beziehungen, unstandesgemäße ›Affären‹ – und nicht zuletzt um die ›Geschlechtscharaktere‹ von Mann und Frau, behauptet doch der alte Briest so selbstsicher »Weiber weiblich, Männer männlich« (EB 9). So ähnlich die Ausgangslagen sind, so verschieden können die Erzählungen geraten. In Schach von Wuthenow (1882) zwingt eine Verführung den Helden in eine ungeliebte Ehe, die Scham scheint nur noch durch den Selbstmord überwunden werden zu können; in Graf Petöfy (1884) heiratet ein alter Graf eine sechsundzwanzigjährige Schauspielerin, wird von der Gesellschaft wegen dieser ›Mesalliance‹ geschnitten, erlebt einen Ehebruch und tötet sich schließlich selbst; in Stine (1890) scheitert eine beginnende Liebe zwischen einer Kleinbürgerin und einem Grafen am Unverständnis der Umwelt und führt zum Selbstmord des Adligen. Hatte in der Nebenhandlung von Stine die Witwe Pittelkow gezeigt, wie sich eine unstandesgemäße Beziehung meistern lässt, so wird dieses Modell in Irrungen, Wirrungen (1888) scheitern, weil sich nun eine tiefe Liebe zwischen den beiden Partnern, dem Rittmeister Botho von Rienäcker und der Kleinbürgerin Lene Nimptsch, einstellt. Allerdings endet auch dieses Liebesexperiment keineswegs ›tragisch‹, weil beide Partner die Notwendigkeit der ›Entsagung‹ akzeptieren und sich in jeweils standesgemäßen Ehen arrangieren. Ausdrücklich wird die bestehende gesellschaftliche Norm, wenn auch resignierend, anerkannt: »Denn Ordnung ist viel und mitunter alles. […] Ordnung ist Ehe.«28 Wichtig für das Verständnis von Effi Briests ›Tragödie‹ ist die so völlig andere Charakterstruktur der Lene Nimptsch. Sie repräsentiere, so Botho von Rienäcker, die »glücklichste Mischung«, weil sie »vernünftig und leidenschaftlich zugleich« sei: sie habe »das Herz auf dem rechten Fleck und ein starkes Gefühl für Pflicht und Recht und Ordnung«.29 Effi ist hingegen »ein ganz eigenes Gemisch« (EB 42), der von der Mutter zwar »Herzengüte« (EB 254) bescheinigt wird, aber »so recht eigentlich auf Liebe« (EB 43f.) sei sie nicht gestellt. Offensichtlich will der Erzähler mit Effis Verhalten zeigen, dass man nicht zuviel von der Gesellschaft fordern kann und man seine Möglichkeiten richtig einschätzen lernen muss. Effi will _____________ 28 29
Fontane: Irrungen, Wirrungen (= GBA), S. 108. Fontane: Irrungen, Wirrungen (= GBA), S. 167, 153.
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etwas, das sich eigentlich widerspricht: Sie will als Adlige eine standesgemäße Ehe eingehen und diese zugleich als eine Liebesheirat gestalten. Damit werden alte ständische und moderne bürgerliche Vorstellungen zusammen gezwungen. Was Michel Foucault als ›Allianzdispositiv‹ beschreibt, wenn Ehen aus sozialen und ökonomischen Gründen geschlossen werden, gerät im Laufe des 18. Jahrhunderts durch eine neue bürgerliche Ethik mit dem ›Sexualitätsdispositiv‹ in Konkurrenz, weil nun auch die Erfüllung der körperlichen Liebe in der Ehe erwartet wird.30 Dieses Modell werden die Romantiker – Friedrich Schlegels Lucinde (1799) steht dafür – favorisieren, aber im Adel des 19. Jahrhunderts wird es wenig Zustimmung erfahren. Das zeigt in der Literatur die Eheschließung von Effis Eltern, denn ursprünglich war die Mutter mit dem jungen Baron Innstetten verbunden, aber es musste, wie Effi ihren Freundinnen erklärt, »eine Liebesgeschichte mit Entsagung« (EB 9) bleiben, weil das soziale und ökonomische ›Kapital‹, das der Ritterschaftsrat von Briest ins Feld führen konnte, die Mutter in diese attraktivere Bindung lockte. Eine solche ständische »Musterehe« (EB 34) glaubt die Mutter nun ihrer siebzehnjährigen Tochter mit dem inzwischen achtunddreißigjährigen Landrat Innstetten – einem »Mann von Charakter, von Stellung und guten Sitten« (EB 18) – arrangieren zu müssen. Es hätte sie stutzig machen müssen, als Effi ihr erklärt, sie sei eigentlich gar nicht für solche ›Musterehe‹. Die junge Frau hat sehr eigene Vorstellungen von ihrer Ehe: Ich bin ... nun, ich bin für gleich und gleich und natürlich für Zärtlichkeit und Liebe. Und wenn es Zärtlichkeit und Liebe nicht sein können, weil Liebe, wie Papa sagt, doch nur ein Papperlapapp ist (was ich aber nicht glaube), nun, dann bin ich für Reichtum und ein vornehmes Haus, ein ganz vornehmes, […] (EB 34f.)
Der Verlauf des Romans wird zeigen, dass solche Wünsche nicht zu realisieren sind. Es wird keine gleichberechtigte Partnerschaft zwischen den Eheleuten geben, da Innstetten seine Frau weiterhin als Kind behandelt. Wir können einen wohl bewussten Infantilisierungsprozess beobachten, den der »geborene Pädagog« (EB 156) Innstetten, wie Crampas ihn charakterisiert, z.B. mit dem Chinesenspuk inszeniert, der nach Fontane als »Drehpunkt für die ganze Geschichte« gelten soll und zu dem es eine Fülle von Forschungsliteratur gibt.31 Wir müssen Innstettens Spiel mit dem Spuk als ein Mittel zur Kontrolle einer sich entwickelnden Selbstständigkeit, gerade auch in sexueller Hinsicht, seiner Frau verstehen. Effi erkennt das und spricht von einem »Angstapparat aus Kalkül«, von fehlender »Herzensgüte« (EB 157). Allerdings erzeugt Innstetten mit seinem _____________ 30 31
Vgl. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit. Bd. I. Frankfurt a.M. 1977. So am 19. November 1895 an J.V. Widmann. Vgl. dazu Fontane-Handbuch, S. 644.
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»Erziehungsmittel« (EB 157) durchaus ›gemischte‹ Empfindungen bei Effi, die eine Art »Angstlust«32 erlebt, bei der sich erotische ›Sehnsucht‹ – das Wort taucht häufiger im Roman auf – und Furcht bzw. Selbstkontrolle die Waage halten. Findet Effi bei Innstetten keine Liebe – ausdrücklich wird gesagt, er sei kein »Liebhaber« (EB 119) – , so findet sie die ersehnte ›Zärtlichkeit‹ auch bei ihrem Liebhaber, dem Major Crampas, nicht, auch wenn dieser »Damenmann« (EB 171) ein anderer Typus als der nur zu »müden Zärtlichkeiten« (EB 120) neigende Innstetten ist. Crampas spielt mit Effi ein sehr männliches Spiel, denn – wie beim gemeinsamen Theaterspiel, das den so sprechenden Titel Ein Schritt vom Wege trägt – wird er auch in der Liebesaffäre die ›Regie‹ führen: »der Major hat so ’was Gewaltsames, er nimmt einem die Dinge gern über den Kopf fort. Und man muß dann spielen, wie er will, und nicht, wie man selber will.« (EB 169) Auch der Wunsch nach »Reichtum und ein[em] vornehme[n] Haus« (EB 35) wird sich zumindest nicht in Kessin und dem alten Haus des Landrats erfüllen. Als sich in Berlin etwas von »Glanz und Ehre« (EB 35), die sich Effi auch vor der Ehe erhofft hat, einzustellen beginnt, werden von Innstetten Crampas’ Briefe an Effi entdeckt. Die junge Frau und Mutter wird durch die Scheidung in kleinliche Verhältnisse und in die Ehrlosigkeit gestoßen. So zeigt sich, dass die Ansprüche der jungen Frau an eine Ehe wohl weit überzogen waren. Erklärbar wird das durch ihre widersprüchlichen Erwartungen. Den Vorstellungen von einer ›modernen‹ Ehe entsprechend, wünscht sich Effi im Sinne Goethes eine ›Wahlverwandtschaft‹, bei der die gute ›Chemie‹ zwischen den Partnern die richtige Liebe stiftet. Allerdings können wir unter diesem Aspekt einen aufschlussreichen Chiasmus der ›Wahlverwandtschaften‹ zwischen den Geschlechtern erkennen: Als Mann passt Innstetten – das merkt Effi recht schnell in Kessin – besser zu Frau von Briest, sie wäre die ideale »Landrätin« geworden, sie hätte »den Ton angegeben« (EB 82). Auch Frau von Crampas, die so ängstlich auf gesellschaftlichen Anstand achtet, steht Innstetten näher. Effi hingegen hätte eher zu ihrem freimütigen und die Unabhängigkeit so liebenden Vater gepasst (»So nach meinem eigenen Willen schalten und walten zu können, ist mir immer das Liebste gewesen«; EB 21) und natürlich auch besser zu dem von Innstetten als Mann »ohne Zucht und Ordnung« (EB 151) verachteten Major Crampas, der als »Spielernatur« (EB 172) Effis »Hang nach Spiel und Abenteuer« (EB 44) herausfordert. Aber auch er kann Effis Freiheitsdrang und Selbstverwirklichungswünsche nicht erfül_____________ 32
Michael Balint: Angstlust und Regression. 2. Aufl. München 1988. Vgl. dazu Joachim Dyck, Bernhard Wurth: »Immer Tochter der Luft«. Das gefährliche Leben der Effi Briest, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendung 39/7 (1985), S. 617-633.
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len, weil er wie selbstverständlich ›männlich‹ agiert und sich zudem noch der adligen Standesethik beugt. Die soziale Versuchsanordnung in Effi Briest soll demonstrieren, dass unter solchen Verhältnissen einer jungen Frau wie Effi keine Chance auf Emanzipation gewährt werden kann. Sie kann keine starke Identität als Frau gewinnen, die ›Passage‹ von der Kindheit bzw. Jugend zur Erwachsenen kann sie nicht erfolgreich meistern. Bitter konstatiert sie schon in Kessin, sie sei eigentlich immer noch ein »Kind« »und werd’ es auch wohl bleiben« (EB 82). Es scheint sich hier etwas aus der Literatur des 18. Jahrhunderts zu wiederholen, wo wir im Bürgerlichen Trauerspiel junge, optimistische und freimütige Frauen beobachten können, die – wie Effi auch – ›Vatertöchter‹ sind und aus dem umhegten Familienverbund in eine Gesellschaft gestoßen werden, auf die sie offensichtlich nicht vorbereitet worden sind, und deshalb tragisch scheitern müssen. Die tödliche Katastrophe, die Sara Sampson, Emilia Galotti, Evchen Humbrecht, Marie Wesener und Luise Miller erleben, scheint sich bei Effi Briest zu wiederholen. Aber, darauf ist schon hingewiesen worden, in der Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts müssen die jungen Frauen nicht zwangsläufig an einer erbarmungslosen Umwelt scheitern. Sie haben die Chance zum Kampf und zur Selbstverwirklichung, was allerdings eine sehr schwierige Aufgabe darstellt. Den idealtypischen Anpassungsprozess durchläuft Innstetten, der dennoch nach Fontanes Zeugnis kein »Ekel«33 sein soll. Er ist einer der bei Fontane typischen verunsicherten Adligen, die gern demonstrativ Stärke signalisieren, aber eigentlich schwache Männer sind – auch bei Innstetten vermutet Effi, er könne eigentlich ein » Zärtlichkeitsmensch« (EB 143) sein. Da Innstetten aber ein ›außengeleiteter‹ Typ ist, kann er diese mögliche Rolle eines ›weichen‹ Mannes nicht übernehmen, dazu ist er eben zu sehr von der öffentlichen Meinung abhängig. So reagiert er nicht anders als schon vorher Schach von Wuthenow: Am meisten fürchtet dieser preußische Beamte die »Lächerlichkeit«, von der »kann man sich nie wieder erholen« (EB 92). Es sind bei Fontane fast immer die Adligen, die die stärksten personalen Deformationen durch den schon angesprochenen Übergangsprozess in die ›Moderne‹ erleiden. Das zeigt sich auch bei der jungen Adligen Effi von Briest. Sie ist von der Mutter ›standesgemäß‹ erzogen worden, hat aber vom Vater viel von einer modernen ›bürgerlichen‹ Gesinnung geerbt, d.h. sie ist stark auf Selbstständigkeit und Gefühl eingestellt. Doch mit der Ehe wird dieser Entwicklungsprozess brutal gestoppt. Es ist nun typisch für die jungen Frauen in der Literatur _____________ 33
Am 27. Oktober 1895 schreibt Fontane an Clara Kühnast: »Alle Leute sympathisiren mit ihr [Effi] und Einige gehen so weit im Gegensatze dazu, den Mann als einen ›alten Ekel‹ zu bezeichnen.« (Hier nach: Fontane: Effi Briest [= GBA], S. 387)
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des 18. und 19. Jahrhunderts, dass sie ihre Rollen vorrangig über den Tochter- bzw. Ehefrauenstatus bestimmen. Sie internalisieren das ihnen von der Gesellschaft aufgezwungene Fremdbild als Selbstbild, soziologisch gesprochen: das Heterostereotyp prägt das Autostereotyp. Damit wird der Aufbau einer starken Ich-Identität ungewöhnlich erschwert. Nicht zuletzt, weil die jungen Frauen die Schuld meist bei sich selbst suchen. Auch bei Effi Briest scheint diese Schuldfrage in der rollentypischen Art der Frauenfiguren in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts als Selbstanklage und Selbstverachtung beantwortet zu werden: »Und habe die Schuld auf meiner Seele«, wiederholte sie. »Ja, da hab’ ich sie. Aber lastet sie auch auf meiner Seele? Nein. Und das ist es, warum ich vor mir selbst erschrecke. Was da lastet, das ist etwas ganz anderes – Angst, Todesangst und die ewige Furcht: es kommt doch am Ende noch an den Tag. Und dann außer der Angst …Scham. Ich schäme mich. Aber wie ich nicht die rechte Reue habe, so hab’ ich auch nicht die rechte Scham. Ich schäme mich bloß von wegen dem ewigen Lug und Trug« […]. (EB 258)
Hier wird ein Unterschied zu den selbstverachtenden Schuldbekenntnissen der jungen Frauen im Bürgerlichen Trauerspiel erkennbar. Anders als diese Frauen, die keine Einsicht in die sie bedrängende Macht gewinnen und deshalb nur eine individuelle Schuld ausmachen können, ist Effi Briest auf dem Weg der Erkenntnis. Sie diskutiert mit sich selbst die Schuldfrage und stellt keine starke Belastung fest, was sie zunächst ›erschreckt‹. Wenn sie dann auf die ›Angst‹, die sich beinahe leitmotivisch durch den Roman zieht, und vor allem auf die ›Scham‹ verweist, so sträubt sie sich gegen die Anerkennung einer individuellen Schuld, die eine Tragik bedeutet hätte, und blickt auf die Gesellschaft. Wie Innstetten hat auch sie Angst vor der öffentlichen Meinung, wenn ihr Ehebruch ›noch an den Tag‹ kommen sollte. Aber anders als Innstetten, der durchaus das »tyrannisierende Gesellschafts-Etwas« (EB 278) erkennt und dennoch sich nicht dagegen auflehnt, kann Effi ihre Rolle nicht so klar einschätzen. Deshalb muss sie zum Schluss ihren Mann, obwohl sie weiß, dass er »ohne rechte Liebe« sei, von jeder Schuld freisprechen, er habe »in allem recht gehandelt« (EB 348). Als Leser haben wir wohl eine andere Meinung gewonnen und können die Schuldfrage auch besser beantworten. Das gelingt noch besser, wenn wir die weiteren sozialen Modellspiele in den anderen Erzählungen Fontanes als Vergleich heranziehen. In Cécile (1887) erleben wir einen ähnlich tragischen Verlauf – mit Duell und Tod der ›Heldin‹ – in einer Ehe im adligen Milieu, wobei Cécile einen anderen Lebensweg als Effi durchlaufen hat, war sie doch vorher eine fürstliche Mätresse. Aber wie bei Effi Briest zeichnet der Erzähler dennoch ein überaus sympathisches Bild dieser Frau, die in einer Welt, in der die Frauen nur als (Lie-
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bes-)Objekte betrachtet werden, nicht zu bestehen vermag. Aber es gibt auch andere, lebenstüchtige und widerstandsfähige Frauen in Fontanes Romanen. Allerdings sind es meist Frauen aus der bürgerlichen Schicht, die sich offensichtlich leichter in die bestehende Gesellschaft einzuordnen vermögen, ohne dabei ihr Selbstwertgefühl zu verlieren. Um so wichtiger sind allerdings die adligen Beispiele wie Melanie van der Straaten in L’Adultera (1882), die eine schweizerische Adlige ist und einen 25 Jahre älteren Berliner Bankier geheiratet hat, und auch die Gräfin Melusine von Barby im Stechlin (1899), die nach ihrer Scheidung eine beeindruckende und deshalb auch den jungen Stechlin irritierende Selbstständigkeit entwickelt. Die (klein-)bürgerlichen Beispiele sind Lene Nimptsch aus Irrungen, Wirrungen (1888), Corinna Schmidt aus Frau Jenny Treibel (1893) und zuletzt Mathilde Möhring aus dem gleichnamigen Roman (posthum 1906). Dass Fontane mit Effi Briest – wie schon mit Cécile – bewusst eine missglückte Selbstverwirklichung einer Frau im adligen Milieu hat zeigen wollen, wird nicht nur durch die oben genannten anderen Beispiele deutlich, sondern mehr noch dadurch, dass Fontane das Vorbild für seine Effi, die aus märkischem Adel stammende Elisabeth von Ardenne und ihre Biographie, für seinen Roman stark verändert hat. Diese offensichtlich sehr selbstbewusste Adlige ergriff nach der Scheidung den Beruf der Krankenpflegerin und schuf sich damit eine Existenzbasis. Auch war sie keine so junge Frau mehr wie Effi – von ihrem Mann trennten sie nur wenige Jahre – und zudem strebte sie wohl eine zweite Ehe mit dem Düsseldorfer Richter an.34 Das zeigt, dass es für adlige Frauen durchaus Handlungsoptionen gab. Wenn Fontane in seinem ›Experimentalroman‹ Effi Briest die Versuchsanordnung verschärfte, dann wollte er wohl eher auf den typischen Verlauf solcher Scheidungsprozesse im Adel verweisen. Melanie van der Straaten, Melusine von Barby und auch Elisabeth von Ardenne wären dann die (anerkennenswerten) Ausnahmen. Wie sich Fontane eine geglückte Selbstverwirklichung einer adligen Frau vorstellen konnte, wird an der Figur der Melanie van der Straaten aus L’Adultera deutlich. Man muss diesen Lebensentwurf als optimistisches Gegenmodell zu der ›tragischen‹ Geschichte der Effi Briest lesen. So führt in der ›Novelle‹ der Ehebruch zu einer neuen Ehe, weil sich der Kommerzienrat van der Straaten nicht nur nicht duelliert, sondern sogar in die Scheidung einwilligt. Zwar fühlt auch die Ehebrecherin, dass ihr die Gesellschaft »unversöhnlich« gegenübersteht, aber sie kann einen »trotzige[n] Stolz«35 entwickeln. Anders als Effi hat sie die Mechanismen der Gesell_____________ 34 35
Vgl. dazu Fontane: Effi Briest (= GBA), S. 353-358 u. S. 522 (Literaturhinweise). Theodor Fontane: L’Adultera, in: Ders.: Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. Bd. II. 3., durchgesehene Aufl. München 1990, S. 119, 124 (= HanserAusgabe).
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schaft gut erkannt und zieht daraus Selbstbewusstsein und Handlungskraft. Was Innstetten, ein »Mann von Prinzipien« und von »Grundsätzen« (EB 38), so ideal verkörpert, wird von Melanie ebenso radikal in Frage gestellt: ich habe nie begriffen, wie man Grundsätze haben kann oder Prinzipien, was eigentlich dasselbe meint, aber mir immer noch schwerer und unnötiger vorgekommen ist. Ich hab’ immer nur getan, was ich wollte, was mir gefiel, wie mir gerade zumute war. Und ich kann es auch so schrecklich nicht finden. Auch jetzt noch nicht. Aber gefährlich ist es, so viel räum’ ich ein, und ich will es anders zu machen suchen. Will es lernen. Ganz bestimmt.36
Melanie van der Straaten lernt tatsächlich, die Gesellschaft und deren ›Moral‹ richtig einzuschätzen und sich auf eigene Lebensvorstellungen zu besinnen: »Mir ist das Glück etwas anderes als ein Titel oder eine Kleiderpuppe.«37 Wie Effi ist auch sie ein »verwöhnter Liebling der Gesellschaft«,38 kann sich aber aus dem goldenen Käfig befreien. Ebenso eindrucksvoll und anrührend gestaltet Fontane die Lebensund auch Liebesmodelle der kleinbürgerlichen Frauen, die anders als seine adligen jungen Frauen sehr früh lernen müssen, sich ihren Platz in der Gesellschaft selbst zu erobern. Wahrscheinlich fehlen deshalb die Eltern oder sind, wie der Gymnasialprofessor Schmidt in Frau Jenny Treibel, keine große Hilfe beim Sozialisationsprozess ihrer Kinder. Anders als die jungen adligen Frauen, die übergangslos aus der Abhängigkeit der Herkunftsfamilie in die neue Abhängigkeit einer patriarchalisch strukturierten Ehe wechseln, sammeln diese bürgerlichen Frauen ihre Erfahrungen, können sogar Berufe ausüben – Lene Nimptsch und Stine sind Näherinnen, Mathilde Möhring wird nach dem Tod ihres Mannes sogar Lehrerin – und lernen so, sich sozial – und auch moralisch – selbst zu bestimmen. Das ideale Beispiel ist wohl Lene Nimptsch, der die besondere Sympathie des Autors gilt. Sie repräsentiert eben die schon zitierte ›glücklichste Mischung‹ von Vernunft und Gefühl, ist zu großen Emotionen fähig, aber auch klug genug zu wissen, was sie in dieser Welt erreichen kann. Dennoch vermutet Fontane, dass solche Frauen, die ›verzichten‹ mussten, wohl einen »Knacks fürs Leben weg«39 haben. Effi Briest hingegen kann sich nicht frei machen von ihrer ständischen Prägung, die ihr besonders durch die Mutter vermittelt wird, auch wenn sie immer wieder Befreiungsversuche wagt. Der soziale Druck, der auf ihr lastet, verhindert ihre persönliche Entfaltung. Dennoch wäre es falsch, Fontane zu unterstellen, er habe damit der Gesellschaft alle Schuld zuge_____________ 36 37 38 39
Fontane: L’Adultera, S. 120. Fontane: L’Adultera, S. 134. Fontane: L’Adultera, S. 132. So am 16. Juli 1887 an F. Stephany. Hier zitiert nach: Fontane-Handbuch, S. 576.
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messen. Das würde nämlich eine neue ›moderne‹ Form der Tragik bedeuten, die sich durchaus bei den Naturalisten finden lässt, wenn sie mit Abstammungs- und Milieutheorie ihre Figuren in ein System von Abhängigkeiten hineinpressen. Bei Fontane – das zeigen die unterschiedlichen Lebensmodelle der genannten Frauenfiguren – gibt es Wahlmöglichkeiten, gibt es die Chance der Selbstverwirklichung, wenn es auch gerade für die jungen adligen Frauen sehr schwierig ist, weil sie nicht genügend gesellschaftliche Erfahrungen sammeln können – wiederum ist Melanie van der Straaten eine bemerkenswerte Ausnahme, wird sie doch Sprachlehrerin, um die Familie zu unterstützen. Fontane hat den Diffusionsprozess eines Adels, der sich einerseits an die alte Standesethik klammert, aber andererseits sich an die neuen Gesellschaftsstrukturen anzupassen beginnt und die neuen Herausforderungen durchaus erkennt, sehr gut beobachtet und beschrieben. So können sich Innstetten und Wüllersdorf bei der Diskussion über die Notwendigkeit des Duells eine »Verjährungstheorie« (EB 276), liegt doch der Ehebruch über sechs Jahre zurück, vorstellen, meinen aber, sich dem »Ehrenkultus« unterwerfen zu müssen, »so lange der Götze gilt« (EB 280). Dieses ›so lange‹ signalisiert die Einsicht in die prekäre Situation des Adels in einer sich neu formierenden Gesellschaft. Statt sich den Herausforderungen einer ›modernen‹ Gesellschaft zu stellen, verharren die meisten der Fontane’schen Adligen in einer abwartend-trotzigen Haltung. Welches Ideal eines Menschen Fontane im Sinn hatte, als er Effi Briest verfasste, wissen wir aus seiner Autobiographie Meine Kinderjahre (1893), die er während der Arbeit an dem Roman schrieb: Das große, mit Pflicht-, Ehr- und Rechtsbegriffen ausstaffierte Tugendexemplar, ist unbedingt respektabel und kann einem sogar imponieren; trotzdem ist es nicht das Höchste. Liebe, Güte, die sich bis zur Schwachheit steigern dürfen, müssen hinzukommen und unausgesetzt darauf aus sein, die kalte Vortrefflichkeit zu verklären, sonst wird man all dieses Vortrefflichen nicht recht froh.40
Aus diesem Menschenbild wird verständlich, warum Fontane Innstetten nicht als »Ekel«, sondern als ein »ganz ausgezeichnetes Menschenexemplar«41 sehen konnte. Er kann der selbstquälerischen Radikalität solcher Männer seinen Respekt nicht versagen. Seine Zuneigung liegt jedoch bei jenen, die eben durch ›Liebe, Güte‹ überzeugen. Diese Anlagen trägt sein ›Naturkind‹ Effi Briest in sich, deshalb liebt der Erzähler diese Figur so sehr, aber dieses »Kind« kann sich nicht von den jugendlichen »Vorstellungen und Träumen« (EB 24) lösen, will weiter »schön und poetisch« bleiben, empfindet das Leben »wie ein Märchen« und möchte gar »eine _____________ 40 41
Theodor Fontane: Meine Kinderjahre. Autobiographischer Roman. 4. Aufl. Berlin 2001, S. 151. Fontane: Effi Briest (= GBA), S. 387, 388.
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Prinzessin« sein, obwohl die Mutter es frühzeitig warnt: »Die Wirklichkeit ist anders« (EB 33). So muss diese so liebenswürdige Kindfrau an der Realität scheitern, weil sie nur begrenzt eine ›soziale Kompetenz‹ erwirbt, aber auch keinen »trotzige[n] Stolz«42 wie Melanie van der Straaten ausbildet und vor allem, weil sie nicht erkennt, was Thomas Mann als die Quintessenz des Romans bestimmt hat: dass ›nicht länger die selbstverständlich-unangezweifelte Basis alles sittlichen Lebens‹ gegeben ist und deshalb die Gesellschaft individuelle Selbstverwirklichungsanstrengungen erfordert – mit ihr oder auch gegen sie. »Es braucht nicht alles Tragödie zu sein.« 43
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Fontane: L’Adultera, S. 124. So Melanie van der Straaten. Fontane: L’Adultera, S. 119.
NIKOLA ROßBACH
Sicherheit ist nirgends. Arthur Schnitzlers Monologerzählungen Leutnant Gustl (1900) und Fräulein Else (1924) Arthur Schnitzler (1862–1931) gehört zweifellos zu den größten deutschsprachigen Prosaisten der Moderne. Der Weg ins Freie (1908) und Therese. Chronik eines Frauenlebens (1928) sind Romane, die dem konventionellen literarischen Helden ebenso eine Absage erteilen wie dem narrativen Modell von Handlungslogik und Ereignishaftigkeit und die damit die klassische Gattungsnorm verlassen. Thomas Mann bekennt Schnitzler gegenüber: »ich muß Ihnen sagen, wie sehr ich Ihre ›Therese‹ liebe, diesen Roman, der, wie alle guten und wichtigen heute, keiner mehr ist«.1 Dennoch sind es nicht jene narrativen Großtexte, mit denen Schnitzler sich seinen Rang unter den ganz Großen der literarischen Moderne erobert hat – die Rezeptionsgeschichte gibt den Erzählungen den Vorrang.2 Diese bestechen nicht nur durch treffsichere Gesellschaftsanalyse und brillanten Stil, sondern auch und vor allem durch psychologische Tiefenschärfe. Nicht zufällig hat man in Arthur Schnitzler das Alter ego Sigmund Freuds gesehen, nicht zufällig hat Freud Schnitzler aus einer Art ›Doppelgängerscheu‹ gemieden und die Möglichkeit des Dichters bewundert, »daß Sie durch Intuition – eigentlich aber in Folge feiner Selbstwahrnehmung – alles das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an anderen Menschen aufgedeckt habe«.3
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Thomas Mann an Arthur Schnitzler, Brief vom 28. Mai 1928, in: Herta Krotkoff (Hg.). Arthur Schnitzler – Thomas Mann: Briefe, in: Modern Austrian Literature 7 (1974), H. 1/2, S. 1-33, hier S. 25. Von Schnitzlers Dramen – nicht weniger repräsentativ für die Moderne als die Prosa – soll hier nicht die Rede sein. Sigmund Freud an Arthur Schnitzler, Brief vom 14. Mai 1922, in: Sigmund Freud: Briefe an Arthur Schnitzler. Hg. v. Henry [= Heinrich] Schnitzler, in: Die neue Rundschau 66/1 (1955), S. 95-106, hier S. 96f.
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Nikola Roßbach
Moderne und Monolog Leutnant Gustl 4 (1900) und Fräulein Else (1924) heben sich in charakteristischer Weise von anderen Erzählungen Schnitzlers ab. Sie verhandeln Gegenwartsthemen und -inhalte, doch erst ihre formale, radikal subjektive Gestaltung dokumentiert ihre Modernität – ganz mit denjenigen Modernetheoretikern gedacht, die die literarische Moderne nicht durch neue Inhalte, sondern durch neue Konstruktionsprinzipien definiert sehen. Wenn die moderne Literatur neue Inhalte gestaltet (Silvio Viettas Beispiele sind wissenschaftliche, ökonomische und politische Revolutionen), dann ist nicht deren objektive Widerspiegelung, sondern ihre subjektiv-perspektivische Darstellung modern.5 Jene subjektive Darstellung realisiert Schnitzler mit Hilfe des ausschließlichen oder dominierenden inneren Monologs; ihm verdanken beide hier behandelten Texte die Bezeichnung ›Monologerzählung‹ bzw. ›Monolognovelle‹.6 Der Österreicher führt die Erzähltechnik mit Leutnant Gustl in die moderne deutschsprachige Literatur ein. Als erster durchgehender innerer Monolog in der Literaturgeschichte gilt allerdings Edouard Dujardins Erzählung Les lauriers sont coupés (1888), die Schnitzler in der Ausgabe von 1897 liest und von der er sich ausdrücklich inspirieren lässt.7 Dujardins trotz alledem konventioneller Text schöpft das innovative Potenzial der Erzähltechnik nicht aus. Schnitzlers Kommentar, hier fehle ›der rechte Stoff‹,8 ist treffend, Dujardin ignoriert die Möglichkeiten zur Darstellung einer komplexen Figurenpsychologie. Schnitzler seinerseits verfolgt mit der Monologtechnik ein anderes, pro_____________ 4 5 6
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Ich wähle hier die übliche Schreibweise Leutnant Gustl, obgleich Erstdruck und erste Buchausgabe den Titel Lieutenant Gustl tragen. Erst 1914 modernisiert der Fischer Verlag bei einer Neuauflage die Orthographie. Vgl. Silvio Vietta: Ästhetik der Moderne. Literatur und Bild. München 2001, S. 40. Schnitzler selbst spricht von einer »ziemlich sonderbaren Novelle« (Arthur Schnitzler an Hugo von Hofmannsthal, Brief vom 17. Juli 1900, in: Arthur Schnitzler: Briefe 1875–1912. Hg. v. Therese Nickl u. Heinrich Schnitzler. Frankfurt a.M. 1981, S. 387). Die Forschung übernimmt den Terminus meist für Leutnant Gustl und Fräulein Else, ohne ihn zu diskutieren. Für die Bezeichnung ›Novelle‹ sprechen geschlossene Form, strenger Aufbau, Beschränkung von Personenzahl, Raum und Zeit sowie die zweifellos vorhandene ›unerhörte Begebenheit‹ (Goethe). Wichtige Gegenargumente bilden der subjektive Erzählstil sowie die – das legt Zenke an Fräulein Else ausführlich dar – trotz komplexer (Leit-)Motivstruktur mangelnde novellistische Konzentration. Vgl. Jürgen Zenke: Die deutsche Monologerzählung im 20. Jahrhundert. Köln, Wien 1976, S. 57-68. Vgl. Arthur Schnitzler an Georg Brandes, Brief vom 11. Juni 1901, in: Georg Brandes und Arthur Schnitzler. Ein Briefwechsel. Hg. v. Kurt Bergel. Berkeley, Los Angeles 1956, S. 88. Vgl. Arthur Schnitzler an Georg Brandes, Brief vom 11. Juni 1901, in: Georg Brandes und Arthur Schnitzler, S. 88.
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gressiveres Ziel: Er begegnet mit ihr einem zentralen Thema der Moderne, der Subjektivität. Der modernen Literatur – und mit ihr Schnitzler – geht es um zwei Aspekte, die ich Darstellung von Subjektivität und Subjektivierung der Darstellung nenne. Zum ersten Aspekt: Man sucht nach Wegen, Subjektivität auf eine Weise zu gestalten, die jegliche subjektbezogene Geschlossenheit und Identität in Frage stellt. Symptomatisch ist ein Essay Hermann Bahrs, jenes Apologeten der Moderne, dessen subtiles Gespür für literarischkulturelle Tendenzen, Schwingungen und (künftige!) Ereignisse dort eindrucksvoll belegt ist: In Die neue Psychologie (1890) fordert Bahr eine dekompositiv arbeitende psychologische Darstellung, die das Unbewusste vor dem Zugriff der Ratio zeigen müsse.9 Schnitzlers eine Dekade später eingesetzte innovative Monologtechnik wirkt wie die Einlösung des Bahr’schen Postulats.10 Zum zweiten Aspekt, der Subjektivierung der Darstellung: Die literarische Moderne ersetzt den bis ins 19. Jahrhundert hinein wirkungsmächtigen auktorial-allwissenden Erzähler durch die eingeschränkte personale Perspektive eines Er- oder Ich-Erzählers,11 welche einer erkenntnis- und sprachtheoretischen Skepsis hinsichtlich der Erkenntnis- und ›Vertextungs‹-Möglichkeit der Lebenswelt korrespondiert. Die souverän inszenierte Wahrheitsbehauptung wird abgelöst durch den subjektiv fragmentierten Blick auf eine fragwürdige Wirklichkeit. Der vollständige innere Monolog einer einzigen Figur bedeutet eine radikale Zuspitzung jenes narrativen ›Strukturwandels‹. Nicht nur die perspektivische Beschränkung mag Leserin und Leser im Fall von Leutnant Gustl und Fräulein Else irritieren, sondern auch die _____________ 9 10
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Vgl. Hermann Bahr: Die neue Psychologie, in: Ders.: Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887–1904. Ausgewählt, eingeleitet u. erläutert v. Gotthart Wunberg. Stuttgart, Berlin, Köln u. a. 1968, S. 53-64, hier S. 60f. Auf jene indirekte Verbindung von Bahr zu Schnitzler verweisen insbesondere zwei Forschungsbeiträge: Evelyne Polt-Heinzl: Arthur Schnitzler. Leutnant Gustl. Stuttgart 2000, S. 32-34 – Konstanze Fliedl: Leutnant Gustl, in: Cornelia Niedermeier, Karl Wagner (Hg.): Literatur um 1900. Texte der Jahrhundertwende neu gelesen. Köln, Weimar, Wien 2001, S. 135-140, hier S. 136. Wenn ich vom personalen Ich-Erzähler spreche, gehe ich über Franz K. Stanzels (Theorie des Erzählens, 1979) immer noch übliches Modell dreier Erzählsituationen (personaler, auktorialer, Ich-Erzähler) hinaus. Angemessener ist eine Trennung von erzählender Person (Er/Sie, Ich) und Erzählperspektive (auktorial, personal, neutral), die in sechs Konstellationen kombiniert werden können. Vgl. den an Stanzel und Gérard Genette angelehnten Vorschlag von Jochen Vogt: Grundlagen narrativer Texte, in: Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold u. Heinrich Detering. 2. Aufl. München 1997, S. 287-307, hier S. 301.
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Unmöglichkeit einer – bei Ich-Erzählungen doch naheliegenden – identifikatorischen Lektüre. Die Monologe Gustls und Elses produzieren auf unterschiedliche Weise Distanz, gar Befremdung. Hier gewinnt man Einblick in die Gedankenwelt eines mäßig intelligenten Offiziers voller antisemitischer Vorurteile und sexistischer Aggressionen, dort in die einer jungen Frau zwischen Selbstsuche und Selbstsucht, Einsamkeit und Hysterie, sexuellen Sehnsüchten und Todesvisionen. »Sicherheit ist nirgends«:12 die berühmte Formel aus dem Paracelsus (ED 1898, UA 1899) ist nicht nur philosophisch-weltanschaulich oder sozialhistorisch, sondern auch literaturtheoretisch lesbar. Sie kann die Mehrdeutigkeit und Offenheit bezeichnen, die moderne Erzählstrategien bewirken.
Leutnant Gustl Entstehung und Publikation Nachdem Schnitzler den Leutnant Gustl bei einem Aufenthalt in Bad Reichenau im Juli 1900 in fünf Tagen niedergeschrieben hat, notiert er, sonst äußerst selbstkritisch, in sein Tagebuch die »Empfindung, dass es ein Meisterwerk«13 sei. Die kurze Niederschrift hat eine lange Vorgeschichte. Am Anfang, 1896, steht eine Idee, zu der den Verfasser ein realer Vorfall anregt.14 Erst vier Jahre später wendet sich Schnitzler dem Stoff erneut zu, und zwar kurz nach der Lektüre von Freuds Traumdeutung.15 Am 27. Mai 1900 entsteht eine Skizze mit dem Titel Ehre. Leutnant Gustl, dessen Erstlesung am 23. November 1900 in der Freien Litterarischen Vereinigung in Breslau stattfindet, erscheint am 25. Dezember 1900 in der Neuen Freien Presse in Wien, die erste Buchausgabe datiert von 1901. Die Erstveröffentlichung steht unter misslichen Vorzeichen. In einem vorausgehenden streitbaren Briefwechsel mit dem Herausgeber der Zeitschrift, Theodor Herzl, besteht Schnitzler auf einem ungeteilten Text_____________ 12 13
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Das Zitat entstammt der Schlussäußerung des Protagonisten, vgl. Arthur Schnitzler: Paracelsus, in: Ders.: Das Vermächtnis. Dramen. Frankfurt a.M. 1994, S. 177-216, hier S. 215. Eintrag vom 19. Juli 1900, in: Arthur Schnitzler: Tagebuch 1893–1902. Unter Mitwirkung v. Peter Michael Braunwarth, Konstanze Fliedl, Susanne Pertlik u. Reinhard Urbach hg. v. der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Obmann: Werner Welzig. Wien 1989, S. 333. Näher dazu Polt-Heinzl: Arthur Schnitzler. Leutnant Gustl, S. 36. Gemäß Tagebuch liest Schnitzler Freuds Traumdeutung nicht lange vor den Skizzen zum Leutnant Gustl am 27. Mai 1900. Vgl. den Eintrag vom 26. März 1900, in: Schnitzler: Tagebuch 1893–1902, S. 325.
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abdruck, dennoch fehlt in den meisten Exemplaren aus technischen Gründen der Schluss. Zu allem Überfluss ist oberhalb des Strichs, unter dem die Feuilletonerzählung platziert ist, ein banales Werbegedicht abgedruckt – vollständig, worüber sich Karl Kraus mokiert.16 Inhalt Leutnant Gustl ist die Geschichte eines jungen Offiziers, dessen Wertvorstellungen sich kompromisslos am militärischen Ordnungssystem orientieren, dessen patriotische Gesinnung sich mit antisemitischen Ressentiments verbindet und der sein Minderwertigkeitsgefühl mit einem starken Aggressionsdrang – gegen Zivilisten, gegen Akademiker, gegen Juden, gegen Frauen – zu kompensieren sucht. Die Uniform gibt Gustl Halt. Als Mitglied einer großen und dennoch nach außen klar abgrenzbaren Gemeinschaft kann er seine belastenden sozialen Verhältnisse vergessen (seine Eltern vermögen weder seiner Schwester zu einem Mann zu verhelfen noch für ihn selbst Spielschulden zu begleichen), kann er seine Einsamkeit hinter Kameradenfreundschaft und seine Haltlosigkeit hinter einem strengen Reglement verbergen. Geschehen und Gedanken setzen am Abend des 4. Aprils 1900 ein. Gustl sitzt mit einem geschenkten Billett in einem Oratorium.17 Er fühlt sich fehl am Platz und schwankt zwischen Langeweile und aufgesetzter Bildungsbeflissenheit, Unsicherheit und nach außen gerichteter Aggression. Seine Gedanken kreisen um das Militär und die Kameraden, um Frauen und Sex, um die Familie und um das Duell mit einem Juristen, das er am nächsten Tag zu bestreiten hat. Die Bemerkung des Akademikers, wohl kaum alle Soldaten kämen aus Vaterlandsliebe zum Militär, hat Gustl dazu getrieben, nicht nur die Ehre der Armee, sondern auch seine eigene verteidigen zu müssen: Ihn selbst hat lediglich der Verweis von der höheren Schule zum Militär gebracht. _____________ 16
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Zu Karl Kraus’ Spöttelei in der Fackel 2/63 (1900), S. 26 [in einer unbetitelten Glosse zur Wiener Tagespresse, S. 24-26] und allgemein zu den Umständen des Erstdrucks vgl. HansUlrich Lindken: Vor- und Nachspiele zu Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl, in: Ders. (Hg.): Das Magische Dreieck. Polnisch-deutsche Aspekte zur österreichischen und deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt a.M., Bern, New York u. a. 1992, S. 49-75, hier S. 53-55. Reinhard Urbach fand heraus, dass der Evangelische Singverein am 4. April 1900 im Wiener Musikvereinssaal Felix Mendelssohn-Bartholdys Paulus aufführte, vgl. Reinhard Urbach: Schnitzler-Kommentar zu den erzählenden und dramatischen Werken. München 1974, S. 104f. Die Friedensbotschaft des Oratoriums steht in ironischem Kontrast zu Gustls aggressiver Abwehrhaltung, vgl. dazu Erich Kaiser: Arthur Schnitzler: Leutnant Gustl und andere Erzählungen. München 1997, S. 52.
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An der Garderobe gerät der junge Offizier in Streit mit einem Bäckermeister, da dieser ihm nicht freiwillig seinen Platz in der Reihe einräumt. Nach einer unflätigen Äußerung Gustls hält der Bäcker dessen Säbel fest, um ihn an einer körperlichen Konfliktlösung zu hindern, und bezeichnet ihn als ›dummen Buben‹. Auch wenn sein Kontrahent die Auseinandersetzung ausdrücklich geheim halten möchte, ist doch gemäß dem militärischen Kodex Gustls Ehre verloren. Er hätte sie lediglich durch sofortige Tötung des Gegners retten können – eine Wiederherstellung durch Duell ist angesichts des nicht satisfaktionsfähigen Gegners, eines Handwerkers, unmöglich: »... ganz wehrlos sind wir gegen die Zivilisten ...«,18 klagt Gustl. Als einzige Möglichkeit der Wiederherstellung seiner Ehre kristallisiert sich für Gustl nun der Suizid heraus. Um ihn kreisen im Folgenden seine Gedanken, vor ihm fliehen sie und zu ihm kehren sie nach umfänglichen, widersprüchlich-konfusen Abschweifungen zurück. Der Leser begleitet den Leutnant, wie er im seelischen Ausnahmezustand eine Nacht lang durch Wien irrt.19 Als Gustl am frühen Morgen in ein Kaffeehaus tritt, um dort seine Henkersmahlzeit einzunehmen, erfährt er, dass Bäckermeister Habetswallner einem Schlaganfall erlegen ist. Gustl verschwendet nun keinen weiteren Gedanken an den Selbstmordplan, obgleich seine Ehre keinesfalls wiederhergestellt ist und er – auch im bevorstehenden Duell – satisfaktionsunfähig bleibt. Erleichtert freut er sich seines Lebens, verdrängt unter grober Missachtung des militärischen Ehrenkodexes, der ihm bisher allgemein gültige Leitlinie war, das Erlebte, um sogleich all seine aggressive mentale Energie auf das Duell zu richten: »Dich hau’ ich zu Krenfleisch!« (LG 366) lautet der Schlusssatz. Äußere Handlung – innere Krise Mehr geschieht nicht in Schnitzlers Erzählung. Die Handlung, auf die alles zusteuert und um die alle Gedanken kreisen, der Selbstmord, findet nicht statt. Gerade jene narrative Statik, die Handlungs- und Ereignislosigkeit, durch die auch »das Storyhafte und damit [die] Nacherzählbarkeit«20 abnimmt, macht die – skandalöse – Modernität des Leutnant Gustl aus. Die _____________ 18 19 20
Arthur Schnitzler: Leutnant Gustl, in: Ders.: Gesammelte Werke. Die Erzählenden Schriften. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1981 (1. Aufl. 1961), Bd. I, S. 337-366, hier S. 347; im Folgenden mit der Sigle LG belegt. Gustls Weg ist genau nachvollziehbar. Polt-Heinzl zeichnet ihn auf einem Wiener Stadtplan ein, vgl. Polt-Heinzl: Arthur Schnitzler. Leutnant Gustl, S. 10f. Michaela L. Perlmann: Arthur Schnitzler. Stuttgart 1987, S. 134.
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äußere Handlung rückt aus dem erzählerischen Zentrum, es geht um eine innere Krise. Mit einer solchen Umgewichtung der Erzählsujets ist ein darstellerisches Problem verbunden: Die erzähltechnisch konsequente Konzentration auf die Gestaltung psychischer Ereignisse, die den (fast)21 vollständigen inneren Monolog auszeichnet, schließt die Darstellung äußerer Handlung und Ereignisse beinahe ganz aus, ein Erzählrahmen in der dritten Person, der dies leisten könnte, fehlt. Doch selbst handlungsarme Erzählstoffe wie Leutnant Gustl und Fräulein Else besitzen äußere Handlungselemente, die nicht im Kopf des monologisierenden Protagonisten ablaufen und die nicht automatisch von ihm gedanklich reflektiert und versprachlicht werden – etwa habitualisierte Verhaltensweisen wie die Lenkung der eigenen Schritte in eine bestimmte Richtung. Ihre Unterdrückung im Text wäre dem Verständnis und der Orientierung des Lesers oft abträglich, doch wenn sie erwähnt werden, kann dies ungelenk klingen: »Nun wende ich mich nochmal um und winke ihnen zu. Winke und lächle.«22 Craig Morris, dem die Umgehung des berichtenden Ich in Leutnant Gustl gelungener erscheint als in Fräulein Else, zieht für seine Kritik Dorrit Cohns Vergleich mit einem Gymnastiklehrer heran, der körperliche Übungen mit verbaler Veranschaulichung untermale.23 Um die innere Krise seines Protagonisten herauszuarbeiten, setzt Schnitzler ihn einer psychischen Extremsituation aus, deren Konstruiertheit ironisch ausgestellt wird: Der Schlaganfall des Bäckers, den Gustl anfangs erwägt (»Und wenn ihn heut nacht der Schlag trifft, so weiß ich’s ...«; LG 348), ereignet sich tatsächlich, doch nun verhält der junge Offizier sich konträr zu seinen zuvor verkündeten ›Überzeugungen‹. Die narrative Konstruktion mutet wie eine wissenschaftliche Versuchsanordnung an. Darüber hinaus ist die Nähe zur (psycho-)analytischen Fallstudie nicht abzustreiten: Der innere Monolog, so Fritsche, ist die literarische Gattung, die der Psychoanalyse am ehesten entspricht.24 Diese Analogie hat zu der verbreiteten psychoanalytischen Lesart des _____________ 21 22 23
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Ihn unterbrechen lediglich die zwei Kurzdialoge Gustls mit Bäckermeister und Kellner. Vgl. zu Schnitzlers Technik der Dialogintegration in den inneren Monolog Manfred Jäger: Schnitzlers Leutnant Gustl, in: Wirkendes Wort 15/5 (1965), S. 308-316, hier S. 309f. Arthur Schnitzler: Fräulein Else, in: Ders.: Gesammelte Werke. Die Erzählenden Schriften. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1981 (1. Aufl. 1961), Bd. II, S. 324-381, hier S. 324; im Folgenden mit der Sigle FE belegt. Vgl. Dorrit Cohn: Transparent Minds. Narrative modes for presenting consciousness in fiction. Princeton/N.J. 1978, S. 222, übersetzt von Craig Morris: Der vollständige innere Monolog: eine erzählerlose Erzählung? Eine Untersuchung am Beispiel von Leutnant Gustl und Fräulein Else, in: Modern Austrian Literature 31/2 (1998), S. 30-51, hier S. 34. Vgl. Alfred Fritsche: Dekadenz im Werk Arthur Schnitzlers. Frankfurt a.M. 1974, S. 244.
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Leutnant Gustl geführt, die auch Klaus Laermann vertritt. Er sieht die Annäherung des inneren Monologs an den psychoanalytischen Diskurs, nicht ohne auf die Unterschiede zwischen beiden zu verweisen: Die Chaotisierung des erzählerischen Materials im inneren Monolog gleiche der Spontaneität des psychoanalytischen Diskurses nur scheinbar.25 Ein Gegner psychoanalytischer Deutungsversuche ist Gero von Wilpert, ohne dass er die psychoanalytischen Themenkomplexe (Ödipus-Komplex, Kastrationsangst, latente Homosexualität), die man Gustl habe ›unterjubeln‹ wollen, eigentlich widerlegen würde.26 Schnitzlers Figur mache sich, so Wilpert, als Freud-Ignorant gar keine Gedanken um eine mögliche, durch den Griff nach dem Säbel ausgelöste Kastrationsdrohung, sondern nur um seine Ehre.27 Doch nicht nur Psychoanalysekenner darf man freudianisch ausdeuten; ein solches Argument identifiziert unzulässig den Bewusstseinshorizont der Figur mit dem des Rezipienten. Innerer Monolog Schnitzlers Monologerzählung bzw. autonomous monologue (Dorrit Cohn) verweist seine Leser kompromisslos auf den beschränkten Bewusstseinshorizont der Figur Gustl. Jene Kompromisslosigkeit und konsequente Zuspitzung der Erzähltechnik besticht. Sie hat dem Genre der Monologerzählung ein wissenschaftliches Interesse verschafft, das »in einigem Kontrast zu seiner Verbreitung«28 steht. Was ist mit ›innerem Monolog‹ überhaupt gemeint? Die terminologische Konfusion ist groß, die wissenschaftliche Bezeichnung der Formen von Bewusstseinsdarstellung keinesfalls einheitlich. Man findet die Auffassung, dass der innere Monolog das mentale Phänomen des Bewusstseinsstroms (stream of consciousness) gestalte29 oder seine häufigste Technik
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Vgl. Klaus Laermann: Leutnant Gustl, in: Rolf-Peter Janz, Klaus Laermann: Arthur Schnitzler. Zur Diagnose des Wiener Bürgertums im Fin de siècle. Stuttgart 1977, S. 110-130, hier S. 129. Vgl. Gero von Wilpert: Leutnant Gustl und seine Ehre, in: August Obermayer (Hg.): Die Ehre als literarisches Motiv. Dunedin 1986, S. 120-139, hier S. 121. Vgl. Wilpert: Leutnant Gustl und seine Ehre, S. 126. Jochen Vogt: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie. 8., durchgesehene u. aktualisierte Aufl. Opladen 1998, S. 188. Vgl. Eberhard Däschler: ›Innerer Monolog‹, in: Günther Schweikle, Irmgard Schweikle (Hg.): Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. 2., überarb. Aufl. Stuttgart 1990, S. 221.
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sei,30 neben der umgekehrten Feststellung, der Bewusstseinsstrom sei eine besonders moderne Technik des inneren Monologs;31 jener letzten Auffassung steht auch die Verwendung des Begriffs ›Bewusstseinsstrom‹ »nur zur Bezeichnung der Darstellung des Wie von psychischen Prozessen in der Grenzzone zwischen vorsprachlichem und sprachlichem Bereich«32 nahe. Von solchen Bestimmungen weicht wiederum die Gleichsetzung beider Termini ab: als innerer Monolog oder stream of consciousness werde die Technik der Bewusstseinsdarstellung zum Signum modernen Erzählens.33 Innerer Monolog und Bewusstseinsstrom können definiert werden als eine in Ich-Form gehaltene direkte Figurenrede, in der als grundlegendes Tempus das Präsens, als Modus der Indikativ gelten. Die Abwesenheit von Verben des Bewusstseins (verba credendi) und von Anführungszeichen signalisiert die syntaktische Unabhängigkeit der Rede. Wenn innerer Monolog und Bewusstseinsstrom nicht gleichgesetzt werden und der erste auch nicht als Umsetzung des zweiten verstanden wird, dann verbindet sich mit ›Bewusstseinsstrom‹ meist die Vorstellung einer besonders radikalen Ausprägung des inneren Monologs: Empfindungen, Wahrnehmungen, Reflexionen erscheinen in prälogischer Folge, die Syntax wird gesprengt.34 Dabei darf man nie übersehen, dass trotz des Eindrucks von Unmittelbarkeit auch der Bewusstseinsstrom nicht vorsprachlich Unbewusstes mimetisch abbildet, sondern eine moderne literarische Konvention vorstellt. Innerer Monolog und Bewusstseinsstrom teilen in jedem Fall die gleiche syntaktische Form, die ›stumme direkte Rede‹, von Cohn in Transparent Minds (1978) als ›quoted monologue‹ bezeichnet. Doch auch diese Bezeichnung ist nicht eindeutig. Nicht immer versteht man wie Cohn die stumme direkte Rede als übergeordnete Kategorie oder gemeinsames Merkmal von innerem Monolog und Bewusstseinsstrom. Jochen Vogts _____________ 30 31 32 33 34
Vgl. Zenke: Die deutsche Monologerzählung im 20. Jahrhundert, S. 20f., der mit hier kritischer Distanz die Position von Robert Humphrey, Melvin Friedman, Doris Stephan und Dorrit Cohn referiert. Vgl. Jost Schneider: Einführung in die moderne Literaturwissenschaft. Bielefeld 2000, S. 164. Zenke: Die deutsche Monologerzählung im 20. Jahrhundert, S. 21. Vgl. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, S. 182. Die Begriffsgeschichte beginnt dagegen ganz anders. Der Psychologe William James bezeichnet um 1890 mit ›stream of consciousness‹ mentale Prozesse und bezieht sich dabei ausdrücklich auf Edouard Dujardins Erzählverfahren in Les lauriers sont coupés – also auf eine rational durchkonstruierte, grammatisch-syntaktisch überwiegend korrekte und kohärente Darstellungsweise. Besonders populär wurde die Technik jedoch durch James Joyces Ulysses (1922), weshalb man vor allem eine fragmenthaft-unverbundene Art der Bewusstseinsdarstellung als ›stream of consciousness‹ bezeichnet.
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Darstellung beispielsweise ist in sich widersprüchlich: Einerseits wird mit Cohn behauptet, der Bewusstseinsstrom sei nichts anderes als die stumme direkte Rede oder letztere sei seine syntaktische Form.35 Eine weitere Formulierung Vogts sorgt nicht gerade für Klarheit: die stumme direkte Rede werde als innerer Monolog oder Bewusstseinsstrom zur »vielleicht wichtigsten technischen Innovation im Roman der klassischen Moderne«.36 Andererseits tendiert Vogt dazu (und ich folge ihm hier nicht), nur eine bestimmte historische, etwa von Dostojewski eingesetzte Form als ›stumme direkte Rede‹ zu bezeichnen; diese werde im Gegensatz zum inneren Monolog/Bewusstseinsstrom mit verba credendi und Anführungszeichen gebildet und gehe jenen modernen Erzähltechniken chronologisch voraus.37 Gustls innerer Monolog ist kein stream of consciousness im Sinne einer radikalen Sprengung von Satzlogik und gedanklicher Kohärenz.38 Seine Gedanken sind zwar sprunghaft, aber syntaktisch meist wohlgeformt, Pausenzeichen markieren nur selten Aposiopesen. Die strukturierende Instanz des impliziten Autors bleibt spürbar hinter dem vermeintlich spontanen Strom von Assoziationen; der formal-grammatischen Ordnung des Gedankenmaterials entspricht die inhaltliche Ordnung. Impression und Identität Laermann sieht hinter der regulierten Regellosigkeit dennoch eine »Einheit eines Bewußtseins«39 als organisierende Instanz. Steht hinter Gustls Gedankenkonvolut tatsächlich ein einheitliches Bewusstsein – oder vielleicht ein unrettbares Ich? Der Physiker und Philosoph Ernst Mach, dessen Erkenntnistheorie die impressionistische Literatur der Jahrhundertwende eklektizistisch aufgriff, prägte die Formel »Das Ich ist unrettbar«.40 Sie impliziert den Sub_____________ 35 36 37 38
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Vgl. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, S. 186 – Vogt: Grundlagen narrativer Texte, S. 305. Vogt: Grundlagen narrativer Texte, S. 305. Vgl. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, S. 182. Von Gustls stream of consciousness sprechen z.B. Thomas Freeman: Leutnant Gustl, a Case of Male Hysteria?, in: Modern Austrian Literature 25 (1992), H. 3/4, S. 41-51, hier S. 41 – Hans-Ulrich Lindken: Interpretationen zu Arthur Schnitzler. Drei Erzählungen. München 1970, S. 79. Lindken will bei Schnitzler gar von einem ›stream of consciousness‹ sprechen. Laermann: Leutnant Gustl, S. 118. Ernst Mach: Antimetaphysische Vorbemerkungen [1885], in: Gotthart Wunberg (Hg.): Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1919. Stuttgart 1981, S. 137-145, hier S. 142.
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stanzverlust des Individuums, das ständig wechselnden Eindrücken und Erlebnissen ausgesetzt ist und sich seinerseits aus diskontinuierlichen Empfindungen und Vorstellungen konstituiert. Verschiedenen Figuren Schnitzlers, allen voran dem Protagonisten des frühen Einakterzyklus Anatol, wurden bekanntlich ein impressionistischer Charakter und eine impressionistische Lebensform zugesprochen – ist auch Gustl ein impressionistischer Held? Erich Kaisers Interpretationsband möchte genau das pointiert vermitteln: Die hier im Erzähleingang angeschlagenen Themen von zu Ende gehender Zeit, von Gustls fehlender Bildung, seiner Langeweile, Ungeduld, Aggressivität, innere [!] Leere, seiner Sucht nach Unterhaltung und Ablenkung, von seinen vielen oberflächlichen sexuellen Abenteuern, seinen Minderwertigkeitsgefühlen, seiner Außensteuerung und Ich-Schwäche […] fügen sich zum Bild des impressionistischen Menschentyps […].41
So einfach ist es indessen nicht. Zweifellos präsentiert sich Gustl durch seine Gedanken als psychisch instabiler Mensch voller Brüche und Widersprüche.42 Selten ist er mit sich selbst in Übereinstimmung, selten hört er auf sich etwas vorzumachen. Sein Rollenspiel, das er nur ansatzweise durchschaut,43 seine Anlehnung an fremde Identitäten, die er zitiert und kopiert, lassen ihn als fassadenhafte, diskontinuierliche, kernlose Persönlichkeit erscheinen. Man kann hier Impressionistisches diagnostizieren, allerdings auch mit der Psychoanalyse argumentieren: Unter deren Einfluss gebe Schnitzler, so Laermann, die Fiktion einer Bewusstseinskontinuität des Helden auf.44 Auf der anderen Seite jedoch, und das spricht gegen die Deutung des Leutnants als eines impressionistischen Helden, stehen seine Gedanken meist nicht disparat und kontingent nebeneinander, sondern sind assoziativ verbunden. Durch den kurzen Monolog entsteht ein erstaunlich klares und stimmiges Bild von Gustls Charakter. Er präsentiert sich als ge- und erwachsener Mensch mit Beruf, Privatleben, sozialem Umfeld. Wie ein Korsett oder eine Uniform halten immer gleiche Einstellungen, Denkund Verhaltensmuster seine Persönlichkeit zusammen – sogar die Behauptung impressionistischer Kernlosigkeit seines Wesens widerspräche _____________ 41 42
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Kaiser: Arthur Schnitzler, S. 53 (Hervorhebung im Original). Es ist dennoch meines Erachtens unnötig, wie Ekfelt es tut, das Formprinzip der Erzählung aufgrund von Gustls innerer Widersprüchlichkeit in ›inneren Dialog‹ umzubenennen, vgl. Nils Ekfelt: Schnitzler’s Leutnant Gustl. Interior monologue or interior dialogue?, in: Sprachkunst 11/1 (1980), S. 19-25. »... Herr Leutnant, Sie sind jetzt allein, brauchen niemandem einen Pflanz vorzumachen ...« (LG 351). Vgl. Laermann: Leutnant Gustl, S. 126. Einen gewissen Widerspruch zu diesem Befund bildet Laermanns zitierte Formel von der Einheit des Bewusstseins.
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also nicht unbedingt der Behauptung persönlicher Kontinuität und Konsequenz. In gewisser Weise ist Gustl trotz aller Brüchigkeit identisch mit sich selbst. Natürlich ist diese persönliche Identität nicht positiv zu sehen, sie erweist sich als Starrheit und Stagnation. Immer wieder betont die Forschung die Zirkularität von Empfindungen, Erfahrungen und Erlebnissen. Gustl bleibt der gleiche Mensch: engstirnig und beschränkt, konventionell und spießig, von sexistischen und rassistischen Vorurteilen geleitet und hochgradig aggressiv.45 Jener beschränkte Mensch steht unstrittig im Mittelpunkt der Erzählung – und auch der Leutnant-Gustl-Forschung. Sie deutet ihn als Individuum, das die Krise der österreichisch-ungarischen Monarchie vor 1914 spiegelt,46 als widersprüchlichen individuellen Charakter, der zugleich den bedeutsamen Sozialcharakter seiner Zeit repräsentiere,47 als Typus,48 als Marionette,49 als ewigen Spießer in Uniform und damit als zeitlos modernen Charakter.50 Die Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit der Deutungen lässt das Spannungspotenzial erkennen, das jener starke, provokative Text der frühen Moderne bis heute birgt. Lust und Angst Einige Aspekte der Figurenpsychologie verdienen eine genauere Betrachtung. Gustl ist ein beziehungsarmer, vielleicht sogar bindungsunfähiger Mensch. Dagegen spricht nicht, dass Frauen einen großen Teil seines Denkens beherrschen – in einem ganz bestimmten Sinn: »Ach Gott, das ist doch das einzige reelle Vergnügen ...« (LG 359) Gustl denkt dauernd an Sex, unentwegt schweifen seine Gedanken ab zur namenlosen Ex_____________ 45
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Auf die Zirkularität von Erzählstruktur, Handlungsstruktur und Persönlichkeitsstruktur verweisen z.B. Alfred Doppler: Innerer Monolog und soziale Wirklichkeit. Arthur Schnitzlers Novelle Leutnant Gustl, in: Ders.: Wirklichkeit im Spiegel der Sprache. Aufsätze zur Literatur des 20. Jahrhunderts in Österreich. Wien 1975, S. 53-64, hier S. 61 – Lindken: Interpretationen zu Arthur Schnitzler, S. 80ff. Vgl. Heinz Politzer: Nachwort, in: Arthur Schnitzler: Leutnant Gustl. Nachwort u. Anmerkungen v. Heinz Politzer. Frankfurt a.M. 1962, S. 40-50, hier S. 45: »Leutnant Gustl ›ist‹ Wien, ›ist‹ das Vorkriegsösterreich, ›ist‹ der europäische Mensch in der trügerischen Windstille vor 1914.« Vgl. Hartmut Scheible: Arthur Schnitzler. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt. Reinbek b. Hamburg 1976, S. 80. Vgl. z.B. Jäger: Schnitzlers Leutnant Gustl – Lindken: Interpretationen zu Arthur Schnitzler, S. 79. Vgl. Lindken: Interpretationen zu Arthur Schnitzler, S. 87. Vgl. Fliedl: Leutnant Gustl, S. 137.
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Geliebten, zur fremdländischen Sexualpartnerin, mit der er nie verbal kommunizierte, zur momentanen Geliebten. Frauen fungieren als austauschbare Sexualobjekte. Eros und Sexualität sind Themen, auf die sich psychoanalytische Deutungsansätze konzentrieren. Differenziert arbeitet Laermann die Bedeutung phallischer Symbole heraus, allen voran des Säbels. Schon die erinnerte Szene, bei der Gustl, nackt und mit erigiertem Glied auf dem Bett schlafend, von einem Kameraden geweckt wird und zur Erheiterung des anderen spontan zum Säbel greift (vgl. LG 355), setzt Säbel und männliches Glied in eine Korrespondenz. Die Szene mit dem die Waffe festhaltenden Bäckermeister lässt sich in diesem Sinn als symbolische Kastration lesen; das von Gustl mit ›Angstlust‹51 herbeigesehnte Duell erscheint als kontraphobische Reaktion auf die Kastrationsangst.52 Ehre Dass Gustl sich blind an von außen übernommenen Rollen, Regeln und Werten orientiert, hat zur Folge, dass seine persönliche Stabilität ständig gefährdet ist. Eine einzige Bemerkung, etwa diejenige des Juristen, kann sie ins Wanken bringen, kann die Gefahr des radikalen Ichverlusts bergen und muss daher unbedingt bekämpft werden. Die Identität, die Gustl sich erarbeitet hat, ist an den militärischen Kodex gebunden und unauflöslich an den Begriff der Ehre gekoppelt: »Ehre verloren, alles verloren!« (LG 349) Die Konfrontation mit dem Bäckermeister, in der Gustl seiner standesgemäßen Handlungsmöglichkeiten beraubt wird, ist ehrenrührig – und der junge Leutnant ist sich sogleich im Klaren über die grausame Konsequenz militärischer Verhaltenslogik. Selbst wenn niemand etwas davon erführe, wenn der einzige Mitwisser stürbe, wäre Gustls Ehre verloren, es sei denn, er opfere zu ihrer Rettung sein Leben. Und doch verhält sich der brave Soldat, als es darauf ankommt, konträr zu seiner bisherigen Überzeugung. Der Bäckermeister stirbt tatsächlich und Gustl setzt seinem früheren Satz »gescheh’n ist gescheh’n« (LG 355) den erleichterten Stoßseufzer »Keiner weiß was, und nichts ist g’scheh’n!« (LG 365) entgegen. _____________ 51
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Übrigens schreibt die psychoanalytisch argumentierende Forschung auch der Else-Figur Angstlust zu, vgl. Barbara Lersch-Schumacher: »Ich bin nicht mütterlich«. Zur Psychopoetik der Hysterie in Schnitzlers Fräulein Else, in: Text + Kritik 138/139 (Arthur Schnitzler) (1998), S. 76-88, hier S. 79. Vgl. Laermann: Leutnant Gustl, S. 124.
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Ehre verloren, alles verloren? Die Ehre ist verloren, doch die »Hauptsach’« ist: »er ist tot, und ich darf leben, und alles g’hört wieder mein!« (LG 366) Das streng normierte militärisch geprägte Regularium, auf dem der Leutnant wortreich seine Identität konstruiert, erweist sich als Seifenblase, das Ehrgefühl bleibt äußerlich und verblasst vor einem aggressiven Lebenstrieb. Wendelin Schmidt-Dengler spricht hier zu Recht von einer perfekt durchgehaltenen »Ambiguität zwischen Tragik und Komik«. Das Finale bilde einen grotesken Höhepunkt, für den der Tod des Bäckermeisters die »dunkle Folie«53 abgebe. Sozialpathographie Schnitzlers Erzählung enthält vielfache Kritik. Sie kritisiert das österreichische Militär, die österreichische Gesellschaft, die Epoche allgemein und darüber hinaus, wenn man sich Fliedls Wort vom ›ewigen Spießer in Uniform‹ vergegenwärtigt, nicht zeitgebundene individuelle und gesellschaftliche Phänomene. Besonders die Militärkritik gilt allgemein als charakteristisches Merkmal des Leutnant Gustl. Die Forschung der letzten Jahre hat herausgearbeitet, dass Schnitzler sehr differenziert vorgeht und keine generelle Abrechnung mit militärischem Kodex, Ehrbegriff und Duell präsentiert. Nicht immer bezieht er Stellung gegen Ehrverteidigung und Duell; seinen duellkritischen Stücken Liebelei (ED 1896, UA 1895) und Freiwild (ED 1898, UA 1896) stehen Glückwünsche gegenüber, die er jüdischen Freunden wie Hermann Bahr entgegenbringt, wenn sie sich noch nach dem Waidhofener Beschluss zur Satisfaktionsunfähigkeit der Juden im März 1896 duellieren.54 Wohl aber ist Schnitzler entschieden gegen den Duellzwang.55 In seiner Monologerzählung behandelt er diesen; ein anderes Militärthema steht allerdings im Vordergrund: die so genannte Ehrennotwehr. An ihr entzündet sich um die Jahrhundertwende eine besonders scharfe Kritik am Militär – das sich ohnehin in einer prekären Situation befindet: Nach dem Verlust der Reichseinheit im Jahr 186756 versucht die österrei_____________ 53 54 55 56
Wendelin Schmidt-Dengler: Arthur Schnitzler: Leutnant Gustl, in: Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Interpretationen. Bd I. Stuttgart 1996, S. 21-37, hier S. 35. Vgl. Fliedl: Leutnant Gustl, S. 138. Vgl. eine unveröffentlichte, nachgelassene Antwort Schnitzlers auf eine Rundfrage über das Duell, abgedruckt in: Arthur Schnitzler: Aphorismen und Betrachtungen. Hg. v. Robert O. Weiss (Gesammelte Werke). Frankfurt a.M. 1967, S. 321-323. Ungarn wurde ein selbstständiger Staat, der mit Österreich in der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn verbunden blieb.
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chisch-ungarische Armee, ohne verfassungsmäßige Verankerung ihren Anspruch als Beschützerin des Gesamtreiches aufrechtzuerhalten.57 Zusätzliche Spannungen erzeugt die allgemeine Wehrpflicht nach 1866; der Sonderstatus der Einjährig-Freiwilligen, jener schon nach einem Dienstjahr zu Reserveoffizieren ernannten Akademiker, erzürnt nicht nur Gustl (vgl. LG 345). Schnitzler ›trifft‹ die Armee also in einer labilen Lage – und zudem an einem äußerst wunden Punkt. Ein realer Fall bildet den Anlass dafür, dass der militärische Ehrenkodex sogar Gegenstand einer kontroversen Reichstagsdebatte wird: 1896 fühlt sich in Karlsruhe ein Leutnant Brüsewitz von einem unbewaffneten Zivilisten beleidigt und ersticht ihn.58 Genau an einer solchen Tat hindert Bäcker Habetswallner Gustl durch Festhalten des Säbels. Wäre es Totschlag eines unbewaffneten Unterlegenen – oder gerechtfertigte Ehrennotwehr? Wenn Leutnant Gustl auch nicht explizit das Militär angreift, so ist die von den Zeitgenossen sofort erfasste inhärente Kritik unverkennbar. Dass Schnitzler die Beschränktheit, Fassadenhaftigkeit und Hohlheit eines Lebensmodells just an einem jungen Leutnant vorführt, birgt hochgradigen Sprengstoff. Schmidt-Dengler kommentiert: Schnitzler hat das Konstrukt, mit dem die Armee ihren Angehörigen in den letzten Jahren der Habsburger Monarchie eine Identitätsstütze zu geben suchte, von innen aufgebrochen und am Fall des Leutnants Gustl zu zeigen versucht, wie sexuelle Wunschträume und Minderwertigkeitsgefühle, Aggression und Verzweiflung, Gedankenlosigkeit und schonungslose Selbsterkenntnis in einem Kopfe Platz haben und untrennbar miteinander verbunden sind.59
Militärkritik, das wird hier unübersehbar, ist zugleich Gesellschaftskritik und Epochenkritik, Psychogramm und Soziogramm fallen in eins. Nicht nur Hans-Ulrich Lindken sieht mit Leutnant Gustl ein »präzises Kapitel europäischer Sozialpathographie der Vorweltkriegszeit geschrieben«.60 Literaturskandal Leutnant Gustls Erscheinen im Jahr 1900 wird zum literarischen Ereignis. Das verwundert nicht angesichts des kritischen Sprengstoffs, den er birgt. Hugo von Hofmannsthal schreibt an seinen Freund: »Reclameheld! der _____________ 57
58 59 60
Vgl. dazu Alfred Doppler: Leutnant Gustl und Leutnant Willi Kasda. Die Leutnantsgeschichten Arthur Schnitzlers, in: Joseph P. Strelka (Hg.): Im Takte des Radetzkymarschs ... Der Beamte und der Offizier in der österreichischen Literatur. Bern, Frankfurt a.M. 1995, S. 241-254, hier S. 244f. Zum Fall Brüsewitz vgl. Fliedl: Leutnant Gustl, S. 138f. Schmidt-Dengler: Arthur Schnitzler: Leutnant Gustl, S. 32f. Lindken: Interpretationen zu Arthur Schnitzler, S. 77.
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die Welt zwar nicht durch seine Werke, aber jedes Jahr durch Scandale in Atem hält!«61 Nicht nur provokativer Inhalt und neue Form, auch die Wirkungsgeschichte trägt dazu bei, dass Leutnant Gustl die wohl populärste Erzählung Schnitzlers wird. Für den Verfasser hat die Publikation auch außerliterarische Konsequenzen: Er wird wegen Herabsetzung des Ansehens der Armee seiner Offizierscharge als Oberarzt der österreichischen Militäradministration für verlustig erklärt.62 Zugleich bekämpft die Presse ihn mit heftigen Attacken, wobei sie sich einer üblen nationalistisch-patriotischen und antisemitischen Rhetorik bedient. Einen Überblick über die Pressereaktionen bietet Lindken,63 der die Vereinnahmung des Leutnant-GustlSkandals für antisemitische Ziele und Ambitionen betont. Wie sehr noch Jahrzehnte später Text und Autor mit dem Skandal verbunden werden, zeigt die Empörung, mit der noch 1965, zu Schnitzlers hundertstem Geburtstag, die monarchistische Zeitschrift Die Tradition. Nachrichtenblatt AltÖsterreichs die Würdigung des Jubilars ablehnt.64
Fräulein Else Fast ein Vierteljahrhundert nach dem Leutnant Gustl schreibt Arthur Schnitzler eine zweite Monologerzählung: Fräulein Else (1924). Nicht nur Genre und Form erinnern an den Skandaltext der Jahrhundertwende. Auch die monologisierenden Protagonisten, Gustl und Else, weisen neben allen Unterschieden viele Gemeinsamkeiten auf. Beide Figuren leben isoliert, einsam und ohne echte emotionale Bindungen, beide fühlen sich von ihren Familien unverstanden, beide sind in Disharmonie mit sich selbst. Sie geraten in Konflikt mit äußeren Normen – Gustl zerbricht anders als Else nicht daran – und sehen sich in einem Dilemma von Ehre und Scham bzw. Schmach.65 Den Sexualitätskonflikt _____________ 61 62
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Hugo von Hofmannsthal an Arthur Schnitzler, Brief vom 24. Juni 1901, in: Hugo von Hofmannsthal – Arthur Schnitzler. Briefwechsel. Hg. v. Therese Nickl u. Heinrich Schnitzler. Frankfurt a.M. 1964, S. 147. Foster gibt Einblick in die Dokumente der ehrenrätlichen Verhandlung gegen den Autor, vgl. Ian Foster: Leutnant Gustl: The military, the press and prose fiction, in: Ian Foster, Florian Krobb (Hg.): Arthur Schnitzler: Zeitgenossenschaften, contemporaneities. Bern, Berlin, Brüssel u.a. 2002, S. 185-198. Vgl. Lindken: Vor- und Nachspiele zu Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl. Vgl. auch Foster: Leutnant Gustl. Vgl. Polt-Heinzl: Arthur Schnitzler. Leutnant Gustl, S. 60f. Elsbeth Dangel-Pelloquin diskutiert die geschlechterspezifische Differenz von Scham- und Schmachempfinden an Leutnant Gustl und Fräulein Else, vgl. Elsbeth Dangel-Pelloquin:
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beider Figuren hebt Barbara Lersch-Schumacher hervor, die Leutnant Gustl und Fräulein Else als chiastisch aufeinander bezogene Parabeln liest.66 Beider Gedanken kreisen unablässig um Tod und Selbstmord, beide neigen dabei zu verabsolutierenden, radikalen Formulierungen. Allerdings bringt nur Else sich am Ende tatsächlich um. Entstehung und Publikation Im Sommer 1921 beginnt Schnitzler mit der Niederschrift von Fräulein Else, zu der er sich möglicherweise von einem realen gesellschaftlichen Vorfall anregen lässt.67 1923 schließt er die Erzählung ab und lässt sie im Oktober 1924 in der Neuen Rundschau, Nummer 35, Heft 10, erscheinen. Im gleichen Jahr folgt die Buchausgabe im Verlag Paul Zsolnay. Inhalt Else ist eine Tochter aus jüdisch-assimiliertem,68 gutem Wiener Hause, ihr Vater ist ein Jurist, der durch seine Spielleidenschaft schon mehrfach Ansehen und finanzielle Sicherheit seiner Familie gefährdet hat. Else – einerseits selbstsüchtig, eitel, »hochgemut« (FE 325), andererseits einsam und voller Sehnsüchte und Phantasien – verbringt mit Tante und Cousin ihre Ferien in den Dolomiten. Dort holen die familiären Probleme sie ein. Ein Expressbrief ihrer Mutter, den Else am 3. September 1896 nach dem Tennisspiel mit Cousin Paul beim Hotelpförtner abholt, enthält die flehentliche Bitte, die Tochter möge den im gleichen Hotel logierenden Kunsthändler Dorsday, einen Bekannten, um Geld angehen, da der Vater Mündelgelder veruntreut habe und ihm nun Gefängnis drohe. Else erkennt, zumal die persönliche Anreise des Vaters nicht länger gedauert hätte als der Expressbrief, die fatale Rolle, die sie in diesem Handel der Männer spielt: Sie ist Tausch- und Lustobjekt (vgl. FE 333). _____________ 66 67
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Peinliche Gefühle: Figuren der Scham bei Arthur Schnitzler, in: Konstanze Fliedl (Hg.): Arthur Schnitzler im zwanzigsten Jahrhundert. Wien 2003, S. 120-138, hier S. 125. Vgl. Lersch-Schumacher: »Ich bin nicht mütterlich«, S. 86. Schnitzler besteht, obgleich er einige Züge Elses von wirklichen Frauen geborgt habe, auf der freien Erfindung. Barkers Studie will genau das revidieren mit dem Hinweis auf eine Schnitzler’sche Bekannte, an der er zahlreiche Parallelen zu Else erkennt, vgl. Andrew Barker: Race, sex and character in Schnitzler’s Fräulein Else, in: German life & letters 54/1 (2001), S. 1-9, hier S. 1f. Zum Themenkomplex Judentum in Fräulein Else vgl. Barker: Race, sex and character.
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Elses Gedanken überschlagen sich, sie schwankt zwischen entsetzter Verweigerung, zynischen Distanzierungsversuchen und auf den Vater bezogenen Rettungsvisionen. Schließlich überwindet sie sich dazu, Dorsday das Bittgesuch vorzutragen. Der Kunsthändler verlangt als Gegenwert, Else eine Viertelstunde lang nackt sehen zu dürfen. Die Situation überfordert die junge Frau. Noch schneller und konfuser kreisen ihre Gedanken, noch verzweifelter spielt sie im Kopf Handlungsmöglichkeiten durch, wobei makabre Todesphantasien immer beherrschender werden. Ein weiterer Expressbrief der Mutter, der die finanzielle Forderung von 30.000 auf 50.000 Gulden erhöht, verstärkt Elses extreme psychische Ausnahmesituation. Obgleich sie keinen klaren Selbstmordplan hat, präpariert sie im Hotelzimmer ein Glas mit Veronal, um dann das Tauschgeschäft äußerst spektakulär als öffentliche Theatervorstellung69 zu inszenieren. Nüchtern klärt sie vorher die Formalitäten in einem Brief an Dorsday und begibt sich, einzig mit einem Mantel bekleidet, ins Musikzimmer, in dem der Kunsthändler und andere den Klängen von Robert Schumanns Klavierzyklus Carnaval lauschen. Gleich nachdem sie den Mantel fallen gelassen hat, bricht sie unter hysterischem Lachen zusammen und stellt sich bewusstlos. Man trägt die scheinbar Ohnmächtige auf ihr Zimmer, wo sie in einem unbeobachteten Moment das tödliche Veronal trinkt. Ihre Gedanken, schwankend zwischen Todesangst und Todeswunsch, verwirren sich immer mehr, bis der innere Monolog und damit auch die Erzählung abrupt enden. Innerer Monolog Schnitzlers zweite Monologerzählung ist nicht wesentlich handlungsreicher als die erste. Wieder steht eine ›unerhörte Begebenheit‹ im Mittelpunkt. Wie für Gustl stellt sich auch für Else das Ereignis als ein verstörender Angriff auf Selbstwertgefühl und Ehre dar, auf den sie reagieren muss: Der Experimentcharakter auch dieser psychologischen Erzählung, die die Figur in eine extreme Krisensituation stellt, ist unübersehbar. Der innere Monolog hat sich zur Entstehungs- und Publikationszeit von Fräulein Else längst als moderne Erzähltechnik durchgesetzt – man denke nur an James Joyces Ulysses (1922) –; ihn als durchgehende Form einzusetzen bleibt die Ausnahme. Doch ganz scheint auch Schnitzler dem Genre nicht mehr zu vertrauen, viel häufiger als im Leutnant Gustl finden sich in Fräulein Else eingeschaltete Dialoge, die typographisch von der _____________ 69
»Die Vorstellung kann beginnen.« (FE, S. 367)
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stummen direkten Rede abgesetzt sind. Lindkens Erklärung, ein Minimum an Unterhaltung in der Gesellschaft sei notwendig, um Elses Abhängigkeit von dieser zu dokumentieren,70 überzeugt nicht. Mit gleichem Recht könnte man im Leutnant Gustl Dialoge mit militärischen Vorgesetzten erwarten, doch dokumentieren allein die Gedanken des Offiziers zur Genüge seine radikale Bezogenheit auf die Armee. Schnitzlers Erzähltechnik hat an Kühnheit und Radikalität eingebüßt. Vielleicht ist so auch sein eigenes Urteil zu erklären, Fräulein Else werde überschätzt,71 wogegen er ihren Vorgänger als Meisterwerk beurteilte.72 Und doch wagt der Verfasser auch Neues gegenüber Leutnant Gustl: Er versprachlicht den Schlaf der Hauptfigur. Während Gustls Einnicken auf der Praterbank lediglich durch Absatz und Leerzeile markiert wird, folgt man Else beinahe unmerklich in das Reich der Träume. Der innere Monolog gerät streckenweise zum gedanklich nicht kohärenten, syntaktisch allerdings weiter wohlgeformten Bewusstseinsstrom. Gustls Monolog unterbrechen häufige Auslassungszeichen, meist Punkte, zuweilen Gedankenstriche, die besonders wirre, alogische, schwer zu versprachlichende Gedanken zu ersetzen scheinen. In Elses Bewusstsein erhält man einen lückenloseren Einblick; nicht zuletzt deshalb ist ihr Monolog, der eine viel kürzere erzählte Zeit einnimmt, fast doppelt so lang.73 Musik Ein formaler Aspekt, der Fräulein Else von Leutnant Gustl, interessanterweise aber nicht von Dujardins Les lauriers sont coupés unterscheidet, ist das Musikzitat, das in der Buchausgabe des Zsolnay Verlags erstmals in den Text integriert ist.74 Es handelt sich um Passagen aus Robert Schumanns _____________ 70 71
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Vgl. Hans-Ulrich Lindken: Erläuterungen zu Arthur Schnitzler: Leutnant Gustl, Fräulein Else. Hollfeld 1989, S. 26. »Über ›Frl. Else‹, die überall stärkste Wirkung macht (und als Kunstwerk überschätzt wird) –« (Eintrag vom 31. Oktober 1924, in: Arthur Schnitzler: Tagebuch 1923–1926. Unter Mitwirkung v. Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik u. Reinhard Urbach hg. v. der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Obmann: Werner Welzig. Wien 1995, S. 200). Dagegen hält Farese die Form des inneren Monologs in Fräulein Else für »noch reifer und durchdachter« (Giuseppe Farese: Arthur Schnitzler. Ein Leben in Wien 1862–1931. Aus dem Ital. v. Karin Krieger. München 1999, S. 253). Darauf weist Morris hin, der Leutnant Gustl 8 Stunden erzählter Zeit und 1½-2 Stunden Lesezeit, Fräulein Else dagegen 3 versus 2-3 zuordnet, vgl. Morris: Der vollständige innere Monolog, S. 42. Vgl. Achim Aurnhammer: ›Selig, wer in Träumen stirbt‹. Das literarisierte Leben und Sterben von Fräulein Else, in: Euphorion 77/4 (1983), S. 500-510, hier S. 500.
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Klavierzyklus Carnaval (op. 9), die Elses Entblößung begleiten. Die Idee ist nicht neu, allerdings kann man mit Martin Huber dem Schnitzler’schen Musikzitat eine moderne Funktion zusprechen: Einerseits sei Fräulein Else mit ihrer gefühlsästhetischen Musikvermittlung noch in der Dekadenzliteratur verankert, andererseits verweise die hoch komplexe Form des Musikzitats schon auf den ästhetischen Wandel zu einer analytischen Formalästhetik.75 Schnitzler beschreibt Schumanns Musik nicht erzählerisch, sondern stellt sie in einem anderen Zeichensystem, in Noten, dar. Es geht nicht nur um die Buchstabenschrift und ihre Semantik (also etwa um den Titel Carnaval, deutbar als Hinweis auf gesellschaftliches Maskenspiel), sondern auch um die klingende Musik selbst. Ähnlich wie die Literatur stellt sie ein Rollenangebot dar und bildet zugleich eine Art Psychogramm. Die Musikzitate dokumentieren laut Huber Elses Dilemma zwischen exhibitionistischer Erotik und Frigidität,76 sie zeichnen, wenn man Jon D. Green folgt, die psychologischen Muster ihrer zunehmenden schizophrenen Zerrissenheit zwischen weiblicher Unterwerfung und männlicher Herausforderung nach.77 Identität und Inszenierung Anders als Gustl wird Else nie als impressionistische Figur bezeichnet, wenngleich auch ihr Verhalten und Denken vielfach gebrochen, ihr Wesen diskontinuierlich wirken. Dass sogar jemand, der Elses Ich als ein auf fließende Wahrnehmungen und Nerven reduziertes beschreibt,78 ohne den Begriff ›Impressionismus‹ auskommt, mag erstaunen, doch ist Sybille Kershner wie viele Else-Interpretinnen und -Interpreten weniger an literaturgeschichtlicher Kontextualisierung interessiert als an einer psychoanalytischen und genustheoretischen Lektüre. Elses Ich-Identität ist diffus und ungefestigt, sie orientiert sich – auch hierin Gustl vergleichbar – vorwiegend an fremden Autoritäten, insbesondere aus Literatur, Musik und bildender Kunst. Zur literarisch geprägten Inszenierung von Elses Lebensmodell hat Achim Aurnhammer einen _____________ 75
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Vgl. Martin Huber: Text und Musik. Musikalische Zeichen im narrativen und ideologischen Funktionszusammenhang ausgewählter Erzähltexte des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a.M., Bern, New York 1992 [Kapitel: Optische Musikzitate als Psychogramm in Arthur Schnitzlers Fräulein Else, S. 78-91], S. 78. Vgl. Huber: Text und Musik., S. 84ff. Vgl. Jon D. Green: Music in Literature: Arthur Schnitzler’s Fräulein Else, in: Jeanine Parisier Plottel (Hg.): Collage. New York 1983, S. 141-152, hier S. 143. Vgl. Sybille Kershner: Le »Cas« Else? Un monologue hysterique, in: Austriaca (1992), H. 34, S. 173-190, hier S. 177.
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kenntnisreichen Aufsatz geschrieben.79 Er weist nach, wie ihre »Phantasie die Außenwelt zu einer ichbezogenen Traum- und Romanwelt«80 fermentiert. Else verliert sich in traumhaft-literarischen Möglichkeiten, ohne eine Alternative zu dem gesellschaftlich eingeforderten Rollenverhalten zu entwerfen. Wirkliche Verweigerung gelingt ihr nicht. Allerdings kann man Elses Wesen, so ungefestigt und labil ihre Identität auch ausgeprägt sein mag, anders als das Gustls nicht als kernlos, hohl und fassadenhaft bezeichnen. Der Leutnant passt sich Rollen äußerlich an wie eine Uniform und scheint dahinter hohl zu bleiben. Elses Rollenwechsel muten dagegen eher wie das Anprobieren verschiedener Kleider an, bezeugen weniger Starrheit als Suche. Die junge Frau ist sich ihres Rollenspiels viel bewusster als Gustl und reflektiert es unablässig – ihr Monolog beginnt mit einem »ganz gute[n] Abgang« (FE 324) und endet mit einer »Vorstellung« (FE 367). Offen bleibt, ob Else im Rollenspiel, in der Inszenierung ihrem Selbst nahe kommt, ob beispielsweise durch den Akt der öffentlichen Zurschaustellung ihres Körpers die Übereinstimmung mit sich gelingt. Schon vor Dorsdays unsittlicher Bedingung schwelgt Else in exhibitionistischen Phantasien (vgl. FE 324). Ihre Vorstellung von Liebe und Erotik ist dezidiert unbürgerlich,81 ausgerichtet auf sinnlich-körperlichen Genuss, vorzugsweise mit zahllosen Geliebten (vgl. FE 334, 355).82 Kommt Dorsdays Wunsch ihren Phantasien also sogar entgegen? Es bleibt in Elisabeth Bronfens genderspezifischer Lesart83 eine offene, von Schnitzlers Text gestellte Frage, ob die Frau, indem sie sich anders als sie ist darstellt, um sich mit dieser Selbstinszenierung dem internalisierten männlichen Blick zu fügen, somit ihre Verdinglichung unterstützt oder entlarvt; ob sie eine Erscheinung inszeniert, die nichts mit ihrem Selbst zu tun hat, die sie zum Medium der Fantasien des anderen reduziert,
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Vgl. Aurnhammer: ›Selig, wer in Träumen stirbt‹ – Vgl. auch Heide Eilert: Das Kunstzitat in der erzählenden Dichtung. Studien zur Literatur um 1900. Stuttgart 1991, S. 322-335. Aurnhammer: ›Selig, wer in Träumen stirbt‹, S. 501. »Bin nicht geschaffen für eine bürgerliche Existenz […].« (FE, S. 358) Allerdings darf man die Widersprüchlichkeit ihrer Zukunftsvisionen nicht übersehen: Der Aussage, unmütterlich zu sein und kein Kind haben zu wollen, folgt unmittelbar die Vision von einer kinderreichen Ehe mit einem Gutsbesitzer (vgl. FE, S. 336). Fräulein Else bietet sich für eine solche Lektüre an. Umso merkwürdiger ist es, dass zwei frauenspezifische Schnitzler-Studien die Figur der Else überhaupt nicht wahrnehmen, vgl. Renate Möhrmann: Schnitzlers Frauen und Mädchen. Zwischen Sachlichkeit und Sentiment, in: Giuseppe Farese: Akten des Internationalen Symposiums »Arthur Schnitzler und seine Zeit« [Bari 1981]. Bern, Frankfurt a.M., New York 1985, S. 93-107 – Barbara Gutt: Emanzipation bei Arthur Schnitzler. Berlin 1978.
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oder ob sie dieses theatralische Sich-Selbst-zur-Schau-Stellen als eine Quelle der Selbstautorschaft nutzt, als Materialisation ihrer eigenen Fantasien.84
Gegen ein Gelingen von Ich-Identität in der Entblößung des eigenen Körpers spricht jedoch dessen Vernichtung im Anschluss. Else verweigert die gesellschaftlich akzeptierte Frauenrolle, indem sie ihren Körper entblößt und auslöscht. Sie verlässt – in Bronfens Diktion – die symbolische Ordnung zugunsten einer somatischen Materialisierung des Zeichens, das gleichbedeutend mit Tod ist.85 Hysteria Elses Verhalten wird meist als Ausdruck von Krankheit interpretiert. Die psychologisch-medizinischen Deutungen von Fräulein Else, die Hysterie, Inzest, Narzissmus und Exhibitionismus in den Vordergrund stellen, sind Legion,86 die Protagonistin der Erzählung erscheint vielen als pathologischer Fall. Astrid Lange-Kirchheims psychoanalytische Lektüre ist durchaus symptomatisch in ihrer ganz spezifischen Textnähe: Wörter werden buchstäblich ernst genommen und im Hinblick auf einen (vorher feststehenden, so könnte man behaupten) Textsinn hin gelesen: Hinter Fiala, dem Namen des Mittelsmanns, erkenne man unschwer Fausts einzige Phiole und somit einen Hinweis auf den Suizid; der Ferienort San Martino de Castrozza signalisiere die Kastration, die Elses adoleszente Entwicklung erleide. Lange-Kirchheims psycho-logische Schlussfolgerungen führen dazu, dass ein echter innerfamiliärer Missbrauch Elses angenommen wird.87 Schnitzler legt nicht einfach eine Krankengeschichte vor, sicher auch nicht nur, wie das Argument gerne sozialgeschichtlich gewendet wird, eine gespiegelte Krankengeschichte der österreichischen Gesellschaft. Der Text leistet dies beides und mehr. _____________ 84 85 86
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Elisabeth Bronfen: Weibliches Sterben an der Kultur. Arthur Schnitzlers Fräulein Else, in: Jürgen Nautz, Richard Vahrenkamp (Hg.): Die Wiener Jahrhundertwende. Einflüsse, Umwelt, Wirkungen. Köln, Wien 1993, S. 464-480, hier S. 467. Vgl. Bronfen: Weibliches Sterben an der Kultur, S. 477. Exemplarisch genannt seien Victor A. Oswald Jr., Veronica Pinter Mindess: Schnitzler’s Fräulein Else and the Psychoanalytic Theory of Neuroses, in: Germanic Review 26 (1951), S. 279-288; S. 377-400 – Robert Bareikis: Arthur Schnitzler’s Fräulein Else: A Freudian Novelle?, in: Literature and Psychology 19 (1969), S. 19-32 – Arnim-Thomas Bühler: Arthur Schnitzlers Fräulein Else: Ansätze zu einer psychoanalytischen Interpretation. Wetzlar 1995 – Astrid Lange-Kirchheim: Adoleszenz, Hysterie und Autorschaft in Arthur Schnitzler Novelle Fräulein Else, in: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 42 (1998), S. 265-300 – Lersch-Schumacher: »Ich bin nicht mütterlich«. Vgl. Lange-Kirchheim: Adoleszenz, Hysterie und Autorschaft, S. 267, 269, 271.
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Gegen die verabsolutierende Vereinnahmung Fräulein Elses durch psychoanalytische Deutungsmacht spricht nicht zuletzt Schnitzlers Einstellung zu Freud. Sicher zeichnet sich Schnitzlers Œuvre generell durch große psychologische Kompetenz und Subtilität aus, doch sind die Differenzen zum Begründer der Psychoanalyse nicht zu übersehen. Freuds Theorien rezipiert Schnitzler mit Interesse und Aufgeschlossenheit, jedoch auch mit Kritik. Die Lehre von der universellen Theorie des Ödipus-Komplexes und der infantilen Sexualität lehnt er ab.88 Sein Interesse gilt dem Halb- oder Mittelbewussten, das ihm im Gegensatz zum Unbewussten als literaturtauglich erscheint. Auch wenn Schnitzlers Monolognovellen als literarische Psychoanalysen verstanden und rezipiert wurden – sie bleiben stets Literatur, der die psychologische oder psychopathologische Darstellung nie zum Selbstzweck gerät. Verbindungen von Schnitzlers Texten, und gerade von Fräulein Else, zur Psychoanalyse und zu Freud sind gleichwohl unverkennbar vorhanden; Kershner nennt Else gar ein »pendant contemporain fictif«89 der Freud’schen Hysterie-Patientinnen. Die Hysterie ist um die Jahrhundertwende eine viel diskutierte, vor allem Frauen zugesprochene Krankheit; Freud postuliert wirksam die Nähe von Hysterie und Weiblichkeit einerseits, von Zwangsneurose und Männlichkeit andererseits. Schnitzler interessiert sich für die zeitgenössische Hysterieforschung, Fräulein Else kann auch als Auseinandersetzung mit entsprechenden Schriften Freuds gelesen werden:90 1886 schreibt Schnitzler eine begeisterte Kritik über Charcots von Freud übersetzte Neue Vorlesungen über die Krankheiten des Nervensystems, insbesondere über Hysterie.91 1895 erscheinen die Studien über Hysterie von Breuer und Freud, deren Lektüre Schnitzler in seinem Tagebuch verzeichnet.92 Während der Niederschrift von Fräulein Else im Jahr 1922 er_____________ 88
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Zu diesem Ergebnis kommt Thomés Studium der medizinischen Schriften Schnitzlers, vgl. Horst Thomé: Kernlosigkeit und Pose: Zur Rekonstruktion von Schnitzlers Psychologie, in: Text + Kontext 20 (Sonderreihe, Bd. 20: Fin de siècle. Zu Naturwissenschaft und Literatur der Jahrhundertwende im deutsch-skandinavischen Kontext) 1984, S. 62-87. Vgl. dazu Arthur Schnitzler: Medizinische Schriften. Zusammengestellt u. mit einem Vorwort samt Anmerkungen versehen v. Horst Thomé. Wien, Darmstadt 1988. Kershner: Le »Cas« Else?, S. 175. Vgl. Lange-Kirchheim: Adoleszenz, Hysterie und Autorschaft, S. 286. Die Rezension erscheint 1887 in der Internationalen Klinischen Rundschau in Wien, Abdruck bei Hans-Ulrich Lindken: Arthur Schnitzler. Aspekte und Akzente. Materialien zu Leben und Werk. Frankfurt a.M., Bern, New York 1984, S. 65-67. Vgl. den Eintrag vom 6. Februar 1903, in: Arthur Schnitzler: Tagebuch 1903–1908. Unter Mitwirkung v. Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik u. Reinhard Urbach hg. v. der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Obmann: Werner Welzig. Wien 1991, S. 14: »[…] ich lese jetzt ein mediz. Buch (Hysterie, Freud Breuer) […].«
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scheint Freuds umstrittener Aufsatz Zur Ätiologie der Hysterie, in dem er die so genannte Verführungstheorie entwickelt, in vierter Auflage. Ein Wort zu männlichen Hysterikern: Gibt es sie gar nicht, gibt es, freudianisch gedacht, an ihrer statt nur Zwangsneurotiker? Im Schnitzler’schen Textuniversum wurden durchaus Hysteriker ausgemacht. Thomas Freemann stellt das Psychopathologische am Charakter des Leutnant Gustl heraus und behandelt besonders die hysterischen Merkmale. Er deutet Gustls Handlungsunfähigkeit, seine temporäre sprachliche und körperliche Gelähmtheit, sein traumhaftes Erleben und vor allem seine Erinnerungslücken als typische Hysteriesymptome, räumt allerdings dann ein, heute sehe man ein solches Verhalten weniger als pathologisch denn als stressbedingt an.93 Mit Recht wendet sich die Forschung vor allem Frauenfiguren zu – nicht weil es tatsächlich mehr Hysterikerinnen gab, sondern weil in erster Linie Frauen die Diagnose erhielten. Elses Gedanken und Handlungen zeigen Merkmale, die dem Krankheitsbild der Hysterie auffällig entsprechen: Konfusion, Konzentrationsmangel, Abschweifung, Übertreibung, Überschreitung, Lüge, Krankheitssimulation. Doch es wäre zu simpel und in gewissem Sinn zirkulär, Elses Wesen auf hysterische Merkmale zu überprüfen. Hysterie ist kein prädiskursiv vorhandenes Phänomen; jenes Etikett konstruiert, als Weiblichkeit konstituierendes Ausschlussverfahren,94 erst einen bestimmten Begriff von Frausein. Hysterie erscheint im pathologisch-pathologisierenden Diskurs der Jahrhundertwende als Frauenkrankheit, basierend auf als ›typisch weiblich‹ bezeichneten Merkmalen (Natur statt Kultur, Körper statt Geist) und Schwächen (Lüge, Verstellung).95 Von einer anderen Seite her betrachtet erscheint die Hysterikerin nicht nur als Opfer der patriarchalischen Gesellschaft, sondern auch als ihr subversives Element. Die Pathologisierung des Hysteriephänomens kann man als Ausdruck des Misstrauens gegen eine autonome Sexualität der _____________ 93 94 95
Vgl. Freeman: Leutnant Gustl, a Case of Male Hysteria?, S. 47. Vgl. Marianne Schuller: ›Weibliche Neurose‹ und Identität. Zur Diskussion der Hysterie um die Jahrhundertwende, in: Dietmar Kamper, Christoph Wulf (Hg.): Die Wiederkehr des Körpers. Frankfurt a.M. 1982, S. 180-192, hier S. 190. Zur Geschichte des Hysteriediskurses allgemein vgl. Marianne Schuller: Hysterie als Artefaktum. Zum literarischen und visuellen Archiv der Hysterie um 1900, in: Dies.: Im Unterschied. Lesen, Korrespondieren, Adressieren. Frankfurt a.M. 1990, S. 81-94 – Georges Didi-Huberman: Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot. Aus dem Französischen übersetzt u. mit einem Nachwort v. Silvia Henke, Martin Stingelin u. Hubert Thüring. München 1997 – Manfred Schneider: Hysterie als Gesamtkunstwerk. Aufstieg und Verfall einer Theorie der Weiblichkeit, in: Alfred Pfabigan (Hg.): Ornament und Askese im Zeitgeist des Wien der Jahrhundertwende. Wien 1985, S. 212229.
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Frau lesen.96 Dieses Misstrauen trifft auch Else. Ihre promiskuitiven und exhibitionistischen Sehnsüchte, zumal ihre öffentliche Entblößung sprengen den gesellschaftlich sanktionierten Rahmen weiblicher Sexualität. Zugleich inszeniert Else sich selbst als Hysterikerin, um sich auf diese Weise einer Gesellschaft zu widersetzen, die ihr keine Möglichkeit zur (emotionalen, sexuellen, privaten, beruflichen) Selbstverwirklichung lässt. Die Subversivität der Hysterikerin ist allerdings temporär, sie überwindet die sie beherrschenden Zwänge nicht. Hysterische Selbstinszenierung des Körpers, Sprachlosigkeit und Selbstvernichtung fallen in eins. Die Antwort auf die Frage nach Macht oder Ohnmacht der Hysterikerin fällt also eindeutig aus. Bestätigt wird sie durch einen Blick auf die salomehaften, ihre Sexualität kompromisslos auslebenden Femmes fatales der Jahrhundertwende, mit denen Else gewisse Gemeinsamkeiten hat. Selbst diese irritierenden Figuren sind ›männliche Kopfgeburten‹: Autoren wie Schnitzler, Wedekind und Hofmannsthal holen sich so »die Definitionsmacht über die von ihren Gestalten verkörperte Weiblichkeit symbolisch zurück. Sie studieren den aufgelösten Körper der Hysterikerin und rekonstruieren ihn in einem Text«.97 Es wurde deutlich, dass psychoanalytische, gendertheoretische und sozialgeschichtliche Deutungsaspekte sich nicht ausschließen. Wer den Hysteriediskurs in Fräulein Else als gesellschaftliches und literarisches Konstrukt von Krankheit, Gender und Gewalt liest, verknüpft alle drei auf konstruktive Weise. Ökonomie und Körper Führen eine pathologische Disposition oder die Destruktivität der Gesellschaft zum Tod der Protagonistin? Zerbricht Else an sich selbst – an Zerrissenheit, Narzissmus, Vaterliebe, Todestrieb – oder geht sie an den gesellschaftlichen Konventionen zugrunde, die die Handlungsmöglichkeiten der bürgerlichen unverheirateten Frau beschneiden? Solche Fragen suggerieren die Notwendigkeit, Fräulein Else als psychologische bzw. psychopathologische Studie oder als gesellschaftskritische Erzählung zu lesen, doch ist, wie sich zeigte, eine Entweder-oder-Entscheidung nicht sinnvoll. Die Bedeutung der Gesellschaft in Fräulein Else soll noch etwas genauer bestimmt werden, und zwar an den Aspekten Ökonomie und Körper. Schnitzler selbst scheint die gesellschaftliche Dimension des Textes zu _____________ 96 97
Vgl. Lersch-Schumacher: »Ich bin nicht mütterlich«, S. 83f. Lersch-Schumacher: »Ich bin nicht mütterlich«, S. 85.
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leugnen: »Man darf nur Dramen von 1924 schreiben – haben Sie das gewußt?«, schreibt er mit bitterer Ironie an Georg Brandes. »Auch sind Tod und Liebe unwürdige Sujets; nur Grenzregulierungen, Valutenänderungen, Steuerfragen, Diebstähle und Hungerrevolten interessiren den ernsten (insbesondern den ernsten deutschen) Mann.«98 Damit drückt Schnitzler jedoch nur seinen Ärger über das von der zeitgenössischen Kritik kolportierte Klischee aus, Dichter einer ›versunkenen Welt‹ zu sein. Das Österreich der 1920er Jahre ist präsent in Fräulein Else, wenngleich die erzählten Vorgänge sich noch im 19. Jahrhundert ereignen. Einer der ersten, der den Gesellschaftsbezug des Textes aufwies und so das Negativimage des anachronistischen Jahrhundertwendeautors demontierte, war SchmidtDengler.99 Seit (nicht nur) er Deutungsmöglichkeiten entfaltete, die jenseits der Interpretation von Fräulein Else als einer individualpsychologischen Fallstudie liegen, ist es üblich geworden, auf Gegenwartsbezug und sozialkritisches Anliegen der Erzählung zu verweisen. Die Zeit nach dem Zusammenbruch der Monarchie und dem Zerfall überkommener Autoritäten ist geprägt von Wertezerfall und Inflation, radikalem Materialismus und Ökonomisierung menschlicher Beziehungen: Unübersehbar ist sie in Fräulein Else die Folie, auf der sich die Ereignisse abspielen. Der Text diskutiert den Zusammenhang, der zwischen der Auflösung des monetären Wertgefüges (die Inflation entfaltet zur Entstehungszeit von Fräulein Else ihre stärkste Wirkung) und der Lockerung der Moralvorstellungen besteht. Gewinner der Zeit ist der Emporkömmling, der Bankier, der Inflationskönig Dorsday.100 Einzig Elses Prostitution kann den die Familie bedrohenden Werteverfall aufhalten. Handlung und Handel basieren auf einem bestimmten Genderkonzept, in dem der Frau Warencharakter zukommt. Der zuhälterisch agierende Vater setzt Elses Körper skrupellos zur Sanierung seiner Finanzen ein, Dorsday verhandelt als Geschäftspartner über den adäquaten Gegenwert für sein Geld. Wenn Else sich ihrerseits nicht verkaufen, sondern ›herschenken‹ (FE 349) will, unterläuft sie das ökonomische Tauschprinzip und damit das zugrunde gelegte Genderkonzept. Else verweigert sich. Sie tut dies allerdings vorwiegend gedanklich, auch wenn ihre Entblößung
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Arthur Schnitzler an Georg Brandes, Brief vom 14. Dezember 1924, in: Georg Brandes und Arthur Schnitzler, S. 141. 99 Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler: Inflation der Werte und Gefühle. Zu Arthur Schnitzlers Fräulein Else, in: Farese (Hg.): Akten des Internationalen Symposiums »Arthur Schnitzler und seine Zeit«, S. 170-181. 100 Vgl. Lindken: Erläuterungen zu Arthur Schnitzler, S. 70.
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nicht als das einzige öffentliche Zeichen ihres Protestes erscheinen muss.101 Ihre Geschichte beginnt bereits mit einer öffentlichen Verweigerung, die von Andrea Allerkamp als der frühe Beginn von Elses sozialem Sterben interpretiert wird:102 mit der Ablehnung, weiter beim (Tennis-)Spiel mitzumachen. Intermedialer Transfer Schnitzler schreibt am 6. Dezember 1924 in sein Tagebuch: »Von allen Seiten Elogen über Frl. Else ...«103 Er betont die starke Wirkung der Erzählung, hält sie aber als Kunstwerk für überschätzt. Die zeitgenössische Kritik reagiert ihrerseits kritisch, sie wirft Schnitzler unter Verkennung der textinhärenten Zeitbezüge Anachronismus vor und konstruiert – nicht nur in Bezug auf Fräulein Else – das rezeptionsgeschichtlich äußerst hartnäckige104 Bild des Dichters einer versunkenen Welt. Entscheidend für die Wirkungsgeschichte von Schnitzlers zweiter Monologerzählung ist der Wechsel zu anderen medialen Repräsentationsformen. 1929 erscheint Paul Czinners Stummfilm, in dem Elisabeth Bergner, die schon am 7. Februar 1926 im Plenarsaal des Berliner Reichstags eine von Schnitzler selbst stark gekürzte Fassung von Fräulein Else vorgetragen hat, die Hauptrolle spielt. Seit der ersten Buchausgabe verkaufen sich bis Ende 1929 70 000 Exemplare; durch den Film wächst die Popularität von Fräulein Else nochmals. Schnitzler selbst, der seinem Text von Anfang an dramatische Qualitäten zuspricht,105 drückt im Todesjahr 1931 gegenüber der befreundeten Bergner sein Bedauern darüber aus, dass er sie nicht mehr die Else auf der Bühne spielen sehen werde.106 Tatsächlich _____________ 101 So Hans-Peter Kunisch: Gefährdete Spiegel. Körper in Texten der Frühen Moderne [1890–1930]: Musil – Schnitzler – Kafka. Bern, Frankfurt a.M. 1996, S. 138. 102 Vgl. Andrea Allerkamp: ›Ich schreibe ja keine Memoiren‹. Über die ars memoriae als Spiel zwischen Bild und Text in Fräulein Else, in: Cahiers d’Études Germaniques 29 (1995), S. 95108, hier S. 97 (= Sonderheft Écritures de la mémoire. Hg. v. Ingrid Haag u. Michael Vanoosthuyse). 103 Schnitzler: Tagebuch 1923–1926, S. 210. 104 Erst die so genannte Schnitzler-Renaissance der 1960er Jahre gewinnt neue Perspektiven. 105 »Meine Novelle hat im Verlag Zs. [Zsolnay] große Begeisterung erregt; sie wird wahrscheinlich ›Fräulein Else‹ heißen. Im übrigen ist sie, so sonderbar das klingt, ›aufführbar‹, – und wäre ein merkwürdiges Regieproblem.« (Arthur Schnitzler an Heinrich Schnitzler, Brief vom 19. Juli 1924, in: Arthur Schnitzler: Briefe 1913–1931. Hg. v. Peter Michael Braunwarth, Richard Miklin, Susanne Pertlik u. Heinrich Schnitzler. Frankfurt a.M. 1984, S. 354) 106 Vgl. Arthur Schnitzler an Elisabeth Bergmann, Brief vom 9. April 1931, in: Ders: Briefe 1913–1931, S. 787.
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kommt erst 1936 eine Bühnenbearbeitung im Theater in der Josefstadt zur Uraufführung.107 Sicherheit ist nirgends: Schnitzler greift das Paracelsus-Wort in seinem Tagebuch wieder auf. Am 29. November 1907 trägt er ein: »Meine ›Weltanschauung‹ ›Sicherheit ist nirgends‹ widerspricht der Idee des Kunstwerks, das das Motto zu tragen hat: Sicherheit ist überall – oder vielmehr: ›Sicherheit ist nirgends außer in mir ...‹«108 Der Schreiber skizziert hier ein Gespräch mit seiner Frau Olga über den Roman Der Weg ins Freie. Dabei setzt er weiterhin, bei aller persönlichen Überzeugung von allumfassender Unsicherheit, die traditionelle Idee vom Sicherheit inszenierenden Kunstwerk voraus. Die moderne Literatur – tendierend zur Subjektivierung der Darstellung, zur Darstellung von Subjektivität – verabschiedet diese Idee jedoch. Das dokumentieren gerade Schnitzlers eigene Monologerzählungen Leutnant Gustl und Fräulein Else. Sie setzen das Motto ›Sicherheit ist nirgends‹ produktiv um in Offenheit und Unabschließbarkeit.
_____________ 107 Die Bühnenbearbeitung stammt von Ernst Lothar, vgl. Klaus Kanzog: Arthur Schnitzler Fräulein Else. Der innere Monolog in der Novelle und in der filmischen Transformation, in: Foster, Krobb (Hg.): Arthur Schnitzler, S. 359-372, hier S. 360. 108 Schnitzler: Tagebuch 1903–1908, S. 307.
FOTIS JANNIDIS
»Unser moderner Dichter« – Thomas Manns Buddenbrooks. Verfall einer Familie (1901) Thomas Manns (1875–1955) ersten Roman Buddenbrooks in einem Sammelband über den modernen Roman zu finden, ist nicht ganz selbstverständlich und offensichtlich mit einer Vorentscheidung darüber verbunden, was unter modernem Roman zu verstehen ist. Wenn man in Don Quichotte den ersten modernen Roman sieht, dann ergibt sich ein anderes Bild, als wenn man den modernen Roman vor allem in Werken wie Finnegan’s Wake oder Der Mann ohne Eigenschaften verwirklicht sieht. Der moderne Roman ist, so der Stand der Diskussion, der Roman der Moderne, nur ist notorisch unklar, was unter ›Moderne‹ zu verstehen ist.1 Die anhaltende Diskussion über den Begriff der Moderne hat in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von sehr unterschiedlichen Vorschlägen hervorgebracht, wie dieser Begriff bestimmt werden kann. Schon die zeitliche Eingrenzung ist höchst unterschiedlich vorgenommen worden. Für einige beginnt die Moderne mit der Neuzeit oder mit der Romantik, für andere Mitte des 19. Jahrhunderts oder erst in den 1890er Jahren.2 Auch die inhaltliche Füllung des Epochenbegriffs gerät ausgesprochen unterschiedlich. Anlass genug, den eigenen Moderne-Begriff zu explizieren. Mir scheint es produktiver, von einem engeren und damit informationsreicheren Begriff der Moderne auszugehen, also von einem Beginn der literaturwissenschaftlichen Moderne mit der Selbstthematisierung als ›modern‹ ab 1885.3 Nur dann ist es auch möglich, ›Moderne‹ wie andere Epo_____________ 1
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Vgl. dazu paradigmatisch die materialreichen Darstellungen von Vietta und Kiesel, die mit gänzlich unterschiedlichen Modernekonzepten arbeiten; Silvio Vietta: Die literarische Moderne. Eine problemgeschichtliche Darstellung der deutschsprachigen Literatur von Hölderlin bis Thomas Bernhard. Stuttgart 1992 – Helmuth Kiesel: Die Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München 2004. Vgl. etwa die Zusammenstellung bei Vietta: Die literarische Moderne, S. 17ff. Ich folge hiermit Schönert: »Eine literaturgeschichtliche Explikation des Begriffs Moderne wird von dem historischen Faktum dieser ›selbsternannten Moderne‹ [...] auszugehen haben.« (Jörg Schönert: Gesellschaftliche Modernisierung und Literatur der Moderne, in:
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chenbegriffe zu verwenden und Konstellationen wie die Epoche der Moderne und die Strömung des Expressionismus zu beschreiben. Aber eine solche zeitliche Eingrenzung ist nur der erste Schritt. Der nächste wäre eine inhaltliche Bestimmung. Im Folgenden soll dieser Schritt gleich am konkreten Problem des Romans der Moderne diskutiert werden. Ein häufig gewählter Weg der Bestimmung besteht darin, die wichtigsten modernen Romane auf Gemeinsamkeiten zu untersuchen und dieses Gemeinsame als Bestimmung des modernen Romans auszugeben.4 Diese Vorgehensweise hat allerdings ein wesentliches Problem: Sie ignoriert den größten Teil der Romanproduktion. Verwendet man den Begriff ›Moderne‹ als historische Epochenbezeichnung, dann sollte der Begriff des modernen Romans den größten Teil der in dieser Zeit produzierten Romane erfassen. Das aber geschieht gerade nicht. Vielmehr scheint es für viele Literaturwissenschaftler evident zu sein, dass »die überwältigende Fülle der Romanliteratur ganz und gar unmodern ist«,5 und so wirkt die ästhetische Wertschätzung für eine bestimmte Entwicklungsrichtung des Romans sich dominierend auf die Begriffsbestimmung aus.6 Eine solche Vermengung von historischen und ästhetischen Kriterien, von literaturwissenschaftlicher Beschreibungssprache und zeitgenössischer Objektsprache scheint mir unglücklich, da diese Doppelperspektiven auch in der konkreten Untersuchung ständige Wechsel der Bezugsrahmen nahelegen.7 _____________ 4
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Christian Wagenknecht [Hg.]: Terminologie der Literaturwissenschaft. Stuttgart 1988, S. 393-413, hier S. 394) Vgl. z.B. Japp, der programmatisch von den Extremen (Joyce, Beckett) her argumentiert; Uwe Japp: Literatur und Modernität. Frankfurt a.M. 1987, z.B. S. 318. Oder Eisele, der den modernen Roman als Roman des Diskurses bestimmt, als Roman der in erster Linie den ›Kosmos der Sprache‹ wiedergibt; vgl. Ulf Eisele: Die Struktur des modernen deutschen Romans. Tübingen 1984. In ähnlicher Weise verfahren auch Migner, Schramke, Koopmann, Bürger und Petersen. Jürgen H. Petersen: Der deutsche Roman der Moderne. Grundlegung – Typologie – Entwicklung. Stuttgart 1991, S. 166. Dieses Problem des Begriffs ›modern‹ wurde bereits zur Jahrhundertwende reflektiert: »Nicht alle Menschen, die heute leben, sind uns ›moderne Menschen‹, nur einen Bruchteil von ihnen erkennen wir als ›Moderne‹ an« (Max Burckhard: Modern, in: Gotthart Wunberg, Stephan Dietrich [Hg.]: Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende. 2. Aufl. Freiburg 1998, S. 215-218, hier S. 217). Will man diese Probleme des Kampfbegriffs ›modern‹ nicht in den Epochenbegriff übernehmen, dann gilt es, deutlich zwischen der zeitgenössischen und der heutigen beschreibenden Perspektive zu unterscheiden. Ähnlich argumentiert auch Anke-Marie Lohmeier: Was ist eigentlich modern? Vorschläge zur Revision literaturwissenschaftlicher Modernebegriffe, in: IASL 31/1 (2007), S. 1-15. Lohmeier, die übrigens einen zeitlich weiten Modernebegriff präferiert, plädiert dafür, den »tiefen normativen Konsens« (S. 3) mit der Literatur aufzukündigen und die neuere historische und soziologische Moderneforschung zum Ausgangspunkt zu nehmen. – Vgl. zum Problem der Vermischung von historischer und ästhetischer Untersuchungsperspektive Simone Winko, Fotis Jannidis, Gerhard Lauer: Geschichte und Emphase. Zwischenbericht
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Wie kann man das vermeiden? Ich schlage im Folgenden vor, historisch-deskriptiv vorzugehen und den modernen Roman als ein dynamisches Feld von Schreib- und Autorenstrategien zu bestimmen.8 Unter ›Schreibstrategien‹ sind nicht nur die formalen Aspekte gefasst, sondern auch die Auswahl bestimmter Themen sowie die Situierung der innerliterarischen Kommunikation. Unter ›Autorenstrategien‹ sind die Inszenierungsmöglichkeiten von Autoren im Text und auch außerhalb des Texts zu verstehen. In jeder Epoche lässt sich die Romanproduktion aufgrund solcher Schreib- und Autorenstrategien in Form eines mehrdimensionalen Felds, nämlich als räumlich und zeitlich gegliedertes relationales Gebilde beschreiben. Als das Besondere am modernen Roman erweist es sich nun, dass sich dieses Feld ausgesprochen dynamisch verhält. Es expandiert rasant; in wenigen Jahrzehnten werden ganz neue Schreib- und Autorenstrategien erschlossen und verändern damit grundlegend die Relationen zu und zwischen den weiterhin bestehenden, tradierten und etablierten Schreib- und Autorenstrategien. Der Roman der Moderne wäre nach diesem Modell also nicht zu erfassen als die Strategien, die eine kleine Gruppe von Romanen wie Berlin Alexanderplatz, den Prozeß oder den Mann ohne Eigenschaften auszeichnen, sondern sehr viel umfassender als Feld von Schreibstrategien, das von den genannten Romanen über Fabian bis zu Jörn Uhl und Der Großtyrann und das Gericht reicht.9 Unter dieser Perspektive muss man nicht, was ohnehin wenig plausibel ist, den meisten Romanen, die zwischen 1895 und 1960 entstanden sind, absprechen, modern zu sein. Vielmehr kann man beschreiben, dass und wie die Wahl eines, sagen wir, heterodiegetischen, stark kommentierenden Erzählers 1875 andere Relationen aufweist als im Jahr 1920 und damit nicht zuletzt auch eine ganz andere Bedeutung. _____________ 8
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zur Theorie und Praxis des erweiterten Literaturbegriffs, in: Jörn Gottschalk, Tilman Köppe (Hg.): Was ist Literatur? Basistexte Literaturtheorie. Paderborn 2006, S. 123-154. Vgl. zum Begriff ›literarisches Feld‹ Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Frankfurt a.M. 1999. Bourdieu selbst stützt sich in seiner relationalen Analyse allerdings nicht auf Schreibstrategien, sondern auf die Verortungen durch nicht-literarische Äußerungen in Zeitungen, Briefen usw. Diese Perspektive muss man sicherlich durch eine innerliterarische ergänzen, die von Textmerkmalen ausgeht. Ein ähnliches Anliegen verfolgen auch Markus Joch, Norbert Christian Wolf (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Tübingen 2005. Einen ähnlichen Vorschlag, aber bezogen auf »Status, Einkommen und gesellschaftliche[s] Prestige« der Autoren macht bereits Köster, der von der »perspektivischen Verzerrung« spricht, wenn man das literarische Feld allein aufgrund der kanonisierten Autoren rekonstruiert (Udo Köster: Die Moderne, die Modernisierung und die Marginalisierung der Literatur. Anmerkungen zu einigen Hypothesen über Literatur und Gesellschaft in Deutschland um 1900, in: Jörg Schönert, Harro Segeberg [Hg.]: Polyperspektivik in der literarischen Moderne. Studien zur Theorie, Geschichte und Wirkung der Literatur. Frankfurt a.M. u.a. 1988, S. 353-380, hier S. 362).
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Was 1875 eine durchaus angesehene Wahl war, ist 1920 eine Entscheidung gegen bestimmte Strategien und die damit verbundenen Ansprüche. Also nicht die extremen Positionen im Feld der Schreib- und Autorenstrategien sind charakterisierend für die Moderne, sondern die größere Fülle und die rasante Zunahme an möglichen und tatsächlich eingenommenen Positionen. Anders als andere gattungsspezifische Epochenbeschreibungen wäre diese dadurch gekennzeichnet, dass sie Zeit nicht nur in der Abgrenzung von den Epochen davor und danach verwendet, sondern als konstitutives Element enthält. Diese Veränderung des literarischen Feldes ist bereits von den Zeitgenossen so wahrgenommen worden: »Unsere künstlerische Genußfähigkeit ist heute weniger als je durch eine Richtung beherrscht und beschränkt. […] so ist das Zeichen unsres literarischen Interesses eine wunderbare weite Vielseitigkeit.«10 Diese ›wunderbare weite Vielseitigkeit‹ hat bekanntlich in den Jahren danach ganz neue Positionen ermöglicht. Aber schon um 1900 spielt das Bewusstsein der eigenen Modernität eine besondere Rolle auch bei der Verortung von Texten im literarischen Feld. Diese objektsprachliche Bedeutung von ›modern‹ ist im Folgenden deutlich von der metasprachlichen zu unterscheiden. Sprechen die Literaten und Kritiker um 1900 von ›modern‹, so bezeichnen sie damit bestimmte neue oder als neu markierte Schreibstrategien, Einstellungen usw., ohne dass sich ein gemeinsamer Gehalt des Begriffs ›modern‹ festlegen ließe.11 In der hier vorgeschlagenen Beobachterperspektive aber ist ›modern‹ das gesamte literarische Feld, das sich durch diese Schreibstrategien und Einstellungen als Ganzes verändert hat und auch in den nachfolgenden Jahrzehnten noch eine ungeheuere Dynamik und Expansion erfährt. Der ›moderne Roman‹ ist aus dieser Perspektive die Gesamtheit der dynamischen Entwicklung des literarischen Feldes mit Bezug auf den Roman von ca. 1895 bis ungefähr 1960, die über die realisierten Positionen in dem Feld und die Relationen zu den anderen tatsächlich eingenommenen Positionen beschrieben werden kann.
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Gertrud Bäumer: Thomas Mann, der Dichter der Buddenbrooks, in: Die Frau. Berlin 11/1 (1903), S. 32-36. – Leider ist die Zusammenstellung der Rezeption in der ansonsten so erfreulichen Neuausgabe der Werke Thomas Manns und dem Buddenbrooks-Band weitgehend unbrauchbar, da sie nicht historisch dokumentiert, sondern stark auswählt und dies vor allem unter dem Gesichtspunkt einer eifernden Abrechnung mit den 100 Jahre (!) alten Rezensionen. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Modern, Modernität, Moderne, in: Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 4. Stuttgart 1978, S. 93-131, hier S. 121.
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1. Wie beschreibt man nun, von dem oben skizzierten Begriff des modernen Romans als äußerst dynamisch expandierendes Feld von Schreib- und Autorenstrategien ausgehend, einen Roman wie die Buddenbrooks?12 Bezugspunkt der Analyse ist dann nicht mehr der prototypische moderne Roman Musils oder Kafkas, sondern es sind die Relationen der Schreibstrategien der Buddenbrooks zu den Strategien anderer Romane im literarischen Feld dieser Zeit.13 Eine wichtige Heuristik zur Ermittlung der auffälligeren Schreibstrategien stellt die zeitgenössische Rezeption vor allem durch professionelle Leser dar. Wenn dabei natürlich auch die besonderen Gegebenheiten dieser Textsorte in Anschlag zu bringen sind, stellt deren Auswertung doch einen ersten Schritt zur systematischen Rekonstruktion dieses Feldes dar.14 Ein wichtiger Aspekt jeder Schreibstrategie ist die Wahl des Themas. Thomas Manns erster Roman benennt sein zentrales Thema gleich im _____________ 12
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In der hier gewählten Perspektive ist die Frage nach den lebensweltlichen Vorbildern und deren Verarbeitung im Roman ebenso wenig von Interesse wie die nach der Rolle, die der Roman als Medium der Selbstreflexion und autobiographischen Problemformulierung für den Autor spielt. Vgl. zum ersten Ken Moulden: Die Figuren und ihre Vorbilder, in: Ders., Gero von Wilpert (Hg.): Buddenbrooks-Handbuch. Stuttgart 1988, S. 11-26. Zum zweiten Aspekt Hans Wysling: Buddenbrooks, in: Helmut Koopmann (Hg.): Thomas-MannHandbuch. 2. Aufl. Stuttgart 1995, S. 363-383. Aus diesem Grund bleiben auch Thomas Manns zahlreiche Selbstdeutungen zum Roman und zu seinen Vorbildern unberücksichtigt; vgl. Hans Wysling, Marianne Fischer (Hg.): Buddenbrooks, in: Dies. (Hg.): Dichter über ihre Dichtungen. Thomas Mann. Teil I: 1889–1917. Heimeran 1975, S. 30-134. – Zum Verhältnis von Thomas Mann zum literaturwissenschaftlichen Feld als Teil des literarischen Feldes vgl. jetzt Steffen Martus: Die Geistesgeschichte der Gegenwartsliteratur. Wissenschaftliche Aufmerksamkeit für Thomas Mann zwischen 1900 und 1933, in: Michael Ansel, Hans-Edwin Friedrich u. Gerhard Lauer (Hg.): Hybride Repräsentanz. Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann. Berlin 2008 [im Druck]. Vermieden werden sollen somit auch die recht freihändigen Thesen zur Modernität der Buddenbrooks, die etwa aus Anlass der 100-Jahrfeier geäußert wurden; z.B. Scherpes Annahme, die Modernität des Romans zeige sich in der Art und Weise, wie der Roman die »Banalität und Burleske« des Lebens ausspiele, was u.a. damit belegt wird, dass die Hauptfiguren verlacht werden dürften. Man muss schon von sehr großen Textteilen absehen, um diese Deutung für plausibel zu halten (Klaus R. Scherpe: 100 Jahre »Weltanschauung«, was noch? Thomas Manns Buddenbrooks noch einmal gelesen, in: Weimarer Beiträge 49/4 [2003], S. 570-584). Hamacher wiederum überlastet den Roman wohl, wenn er ihn als Darstellungs- und Reflexionsraum der Orientierung über kulturelle Orientierung deutet und somit als Roman unter den Bedingungen der Moderne, d.h. wenn es sich nicht um eine Beschreibung handelt, die irgendwie auf alle Romane zutrifft, dann trifft sie wohl auch auf die Buddenbrooks nicht zu; vgl. Bernd Hamacher: Buddenbrooks. Roman der Kultur und Apotheose der Lektüre, in: Neue Rundschau 112/3 (2001), S. 85-95, hier S. 88. Eine umfassende Liste dieser Rezensionen findet sich in: Gero von Wilpert: Die Rezeptionsgeschichte, in: Moulden/von Wilpert (Hg.): Buddenbrooks-Handbuch, S. 319-341. Korrekturen der Angaben dort sind jeweils in Klammern vermerkt.
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Titel: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Erzählt wird, wie der Titel sowohl durch das Plural-s wie auch durch die Angabe im Untertitel deutlich macht, die Geschichte einer Familie, einer Kaufmannsfamilie, in einer Hansestadt – der Name Lübeck wird nie genannt – über mehrere Generationen. Vorbild solcher Familienromane15 waren Texte der skandinavischen Moderne, insbesondere die Romane von Alexander Kielland und Jonas Lie, denen Thomas Mann bis in einzelne Handlungsmotive nachfolgte.16 Sie zeigen ebenfalls in detaillierter Weise den Tagesverlauf von Patrizierfamilien in einer Küstenstadt. Auch zahlreiche thematische Parallelen finden sich: »Motivkomplexe wie Kapitalinteressen, Konvenienzehe, finanzieller Bankrott, religiöse Heuchelei, Generationsunterschiede und -konflikte«.17 Thomas Manns Roman konzentriert sich ganz auf die Familiengeschichte; historische Ereignisse der Zeit zwischen 1835 und 1877 – aufgrund der zahlreichen präzisen Zeitangaben lässt sich die Handlung relativ genau situieren18 – spielen kaum eine Rolle und auch die Gesellschaft der Hansestadt wird nur insoweit thematisiert, wie sie für die Familiengeschichte von Belang ist. Geschildert wird das Leben von vier Generationen: erstens die noch deutlich vom 18. Jahrhundert bestimmte Generation Johanns des Älteren und seiner Frau Antoinette; zweitens die durch ihre Frömmigkeit geprägte Generation von Johann dem Jüngeren und seiner Frau Elisabeth, geborene Kröger; drittens die Generation von Thomas,
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Die Buddenbrooks wurden als Teil dieser Gattung wahrgenommen; vgl. z.B. K.S.: Zwei Familienromane. In: Bonner Zeitung 11/93, 20. April 1902, 2. Blatt. Die Rezension behandelt außerdem einen Roman Clara Viebigs und kontrastiert beide Romane mit dem, was man 30 Jahre früher als ›Familienroman‹ bezeichnete. Vogts genaue Analyse des ersten Teils arbeitet diese Konzentration auf die Familie auch im Detail heraus; vgl. Jochen Vogt: Thomas Mann Buddenbrooks. 2. Aufl. München 1995, Kap. II. Koopmann stützt dagegen wenig überzeugend seine These, die Buddenbrooks seien Gesellschaftsroman und Familienroman – oder auch Generationsroman und Zeitroman – auf seine allgemeine Beschreibung der Erzählhaltung, die bewusst mehrdeutig, unbestimmt und relativierend sei – das kann man so wohl auch ohne schwerwiegende Folgen für die Gattungszuordnung über den Wilhelm Meister sagen; vgl. Helmut Koopmann: Theorie und Praxis der epischen Ironie, in: Ders. (Hg.): Thomas Mann. Darmstadt 1975, S. 351-383. Vgl. zusammenfassend zu den skandinavischen Vorbildern Daniel Linke: ›Aber nehmen sie die Bücher, die dort oben geschrieben werden [...]‹ Buddenbrooks – ein skandinavischer Roman?!, in: Manfred Eickhölter, Hans Wißkirchen (Hg.): Buddenbrooks. Neue Blicke in ein altes Buch. Lübeck 2000, S. 194 - 203. Leonie Marx: Thomas Mann und die skandinavischen Literaturen, in: Koopmann (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch, S. 164-199, hier S. 183. Vgl. etwa den Überblick bei Ken Moulden: Zeittafel der Familie Buddenbrook, in: Ders., von Wilpert (Hg.): Buddenbrooks-Handbuch, S. 31-35.
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Antonie und Christian und viertens die Generation von Hanno und Erika, wobei die Männer deutlich im Zentrum der Verfallsgeschichte stehen.19 Die Familiengeschichte ist, der Titel lässt da keine Zweifel, eine Verfallsgeschichte. Der Verfall zeigt sich in zweifacher Weise: Zum einen schwinden bestimmte Fähigkeiten und Kräfte, zum anderen aber entstehen und wachsen dadurch andere. Zeichnet sich die erste Generation noch durch ihre robuste Gesundheit und ihre zweifelarme Psyche aus, so ist die zweite durch eine nervöse Frömmigkeit gekennzeichnet, die aber den Geschäften keinen Abbruch tut. In der dritten Generation zeigt sich der Verfall in unterschiedlicher Weise. Christian, schon in der Jugend witzig und schauspielerisch begabt, kann sich nicht in eine ernsthafte Beschäftigung fügen, während zugleich seine Hypochondrie immer weiter zunimmt, bis er zuletzt in einem Sanatorium verschwindet. Thomas, der schon früh die Firma übernimmt und auch in der städtischen Politik sehr erfolgreich agiert, leidet zunehmend unter den Anforderungen seiner exponierten Position und seiner lieblosen Ehe. Sein Pflichtethos zwingt ihn zum Weitermachen, zugleich aber wird die Rollendistanz immer größer und er muss immer mehr Energie aufbringen, seine Rolle zu spielen. Antonie, die ihr Leben ganz nach den Ansprüchen der von ihr so hoch geschätzten Familienfirma ausrichtet, bleibt auch nach zwei gescheiterten Ehen und nach dem Scheitern der Ehe ihrer Tochter bis auf ein kleines Magenleiden weitgehend ungebrochen in ihrer Vitalität. In der vierten Generation kommt die Familie mit dem träumerischen, sensiblen und musikliebenden Hanno, der schon mit 16 Jahren stirbt, ans Ende ihrer Entwicklung. Diese zwei Tendenzen der Dekadenz, das Schwinden der Lebenskraft und das Entstehen von Reflexion und ästhetischer Sensibilität, prägen alle Aspekte und Ereignisse des Romans. Die körperliche Verfassung der Familienmitglieder verfällt von Generation zu Generation, ihre Gesundheit nimmt ab und ihre Lebenszeit wird immer kürzer. Und auch die Fruchtbarkeit der Ehen ist davon betroffen, die Zahl der Kinder geht immer weiter zurück. Die psychische Verfassung verändert sich ebenso: Von der ungebrochenen Tatkraft des handelnden Menschen, die die erste Generation auszeichnet, entwickelt sich die Psyche der Familienmitglieder immer mehr zur Reflexion, einer Reflexion, die als erfolgsfeindliches Zögern dargestellt wird oder gar als krankhaftes In-sich-Hineinhören. Aus den Gesellschaftsmenschen der ersten Generationen, die gerne und mit Erfolg im Zentrum stehen, werden in späteren Generationen Außenseiter, die die Einsamkeit lieben. Ist für die glücklichen Generationen die Firma noch _____________ 19
Vgl. zur Figur der Antonie, die sich mit ihrem bornierten Familienstolz und der ungebrochenen Vitalität nur schlecht ins Verfallsschema einordnen lässt, Hugh Ridley: Buddenbrooks. Cambridge u.a. 1987, S. 35ff.
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unbestrittener Lebensmittelpunkt, demgegenüber alle anderen Überlegungen und Neigungen selbstverständlich zurückstehen, so wird dies für die Späteren, mit ihren unbeherrschbaren individualistischen Tendenzen, zu einer ständigen Quelle der Qualen. Die Liebesbeziehungen und Partnerschaften stehen zunehmend unter einem unglücklichen Stern. Selbst die aus praktischen Gründen geschlossene Ehe der ersten Generation ist deutlich glücklicher als alle Ehen, die Thomas und Antonie schließen, nachdem sie ihre eigentliche Liebe der Familienfirma opferten. Diese Tendenz des Verfalls betrifft nicht nur die physische oder psychische Verfassung der einzelnen Individuen, sondern auch den überindividuellen Gang der Dinge. Die Ehemänner von Antonie und Erika erweisen sich als Betrüger und zweifelhafte Geschäftsleute. Auch die Ehefrauen von Thomas und Christian zeigen sich im Verlauf der Handlung als ganz anders, als die Männer erhofft hatten; die musikversessene und ansonsten emotionsarme Gerda trägt zur Isolation ihres Mannes bei, während Aline sich ihren spät geehelichten Mann zuletzt durch das Abschieben in die Heilanstalt vom Hals schafft, um »ihr früheres unabhängiges Leben ohne Rücksicht und Behinderung fortzuführen«.20 Selbst der Gang der Geschäfte, ja selbst noch das Wetter scheint den Verfall voranzutreiben: Als Thomas Buddenbrook das Angebot erhält, die Getreideernte des aufgrund seiner Spielsucht in finanzielle Bedrängnis geratenen von Maiboom, Ehemann von Tonys Jugendfreundin, ›auf dem Halm‹ zu kaufen, lehnt er dieses Geschäft erst einmal ab, das das erhöhte Risiko – die Ernte ist ja noch nicht eingebracht – mit einem deutlich geringeren Preis für die Ernte kompensiert, da solche Geschäfte die Notlage des Verkäufers nutzen und somit das Ehrgefühl des traditionellen Kaufmanns in Frage stellen. Nach längeren Selbstzweifeln, getrieben auch vom Verlangen, es den ›praktischen Menschen‹, die seine Vorfahren waren, gleichzutun, geht Thomas auf das Geschäft ein und verliert das eingesetzte Kapital durch einen Hagel, der die Ernte zerstört. Das hat schon die Zeitgenossen rätseln lassen: »Der Glanz des Hauses ist schon mit Thomas Buddenbrook erloschen. Und wir fragen eigentlich erstaunt, warum?«21 »Mit jeder Generation geht ein gut Stück gesunder Lebenskraft verloren. Das hat seine Gründe, die man freilich mehr ahnen,
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Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Roman, in: Ders: Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe [GKFA]. Werke – Briefe – Tagebücher. Hg. v. Heinrich Detering u.a. Bd. I/1. Hg. u. textkritisch durchgesehen v. Eckhard Heftrich. Frankfurt a.M. 2002, S. 772. Im Folgenden mit der Sigle Bb belegt. Karl Hans Strobl: Familien-Romane. In: Tagesbote (Feuilleton-Beilage). Brünn, Nr. 545, 21. November 1903.
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als klar durchschauen kann.«22 Man erkennt durchaus, dass Thomas Manns Roman ein Dekadenzmodell zugrunde liegt, aber Ätiologie und Funktionsweise sind unklar: »Es liegt bei den Personen des Romans unstreitig eine psychologische Dekadenz vor. Aber wie kommt es dazu?«23 Einige Rezensenten sehen diesen Verfall im Rahmen eines allgemeinen Vitalismus: Es ist einfach der natürliche Prozeß des Alterns und Absterbens, dem Familien und Gemeinschaften wie die Einzelnen unterliegen. Und seine Erscheinungen sind die allgemeinen aller Dekadenz: fortschreitende Verfeinerung und Differenzierung, Ausbildung der abgeleiteten und spezialisierten Vorgänge des seelischen Lebens auf Kosten der einfachen, primitiven, zentralen Lebensenergie.24
Aber dieser Prozess wird im Roman nur in seinen Symptomen dargestellt und eben nicht motiviert.25 Die Forschung hat zwei Leitbilder für dieses Konzept des Verfalls vorgeschlagen: Nietzsche und Schopenhauer. Der Hinweis auf Nietzsche, der in seiner Schrift Der Fall Wagner von 1888 anhand des Komponisten seine einflussreiche Konzeption von Dekadenz und decadent dargestellt hatte, stammt von Thomas Mann selbst.26 Doch wo Nietzsche ›dekadent‹ aus der Perspektive des Lebensbegriffs immer kritisch meint, da verschiebt sich bei Thomas Mann die Wertung. Die ausführliche Darstellung der wenigen Jahre Hannos am Beispiel des einen Schultags und vor allem die im Laufe des Romans mit dem Verfall zunehmende interne Fokalisierung und Thematisierung gerade der Reflexivität und ästhetischen Sensibilität wurden immer wieder als Mitgefühl für eben diese Dekadenz verstanden. Schopenhauers großer philosophischer Entwurf, der Thomas Mann nach eigenem Bekunden erst in der Mitte der Niederschrift bekannt wurde,27 wird im Roman selbst thematisiert, als Thomas Buddenbrook durch seine Schopenhauer-Lektüre eine Epiphanie erfährt, eine Einsicht in den _____________ 22 23 24 25 26
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Heinrich Hart: Neues vom Büchertisch, in: Velhagen & Klasings Monatshefte 16/7, März 1902, S. 104-107, hier S. 104. Max Lorenz: Buddenbrooks, in: Preußische Jahrbücher 110/1, Oktober 1902, S. 149-152, hier S. 151. Heinrich Meyer-Benfey: Thomas Mann, in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung. München, Nr. 67, 22. März 1904, S. 529-532, hier S. 530. So auch der weitgehende Konsens der Forschung; vgl. die einflussreiche Studie von Eberhard Lämmert: Thomas Mann: Buddenbrooks, in: Benno von Wiese (Hg.): Der deutsche Roman vom Barock bis zur Gegenwart. Düsseldorf 1963, Bd. 2, S. 190-233. Z.B. »Der junge Verfasser von ›Buddenbrooks‹ hatte die Psychologie des Verfalls von Nietzsche gelernt.« (Thomas Mann: Zu einem Kapitel aus Buddenbrooks, in: Ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Frankfurt a.M. 1990, Bd. XI: Reden und Aufsätze 3, S. 552-556, hier S. 556) Vgl. Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. XII: Reden und Aufsätze 4, S. 9-589, hier S. 72.
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tieferen Zusammenhang der Dinge, die ihm allerdings schon bald wieder abhanden kommt. Man hat von hier ausgehend und Thomas Manns Selbstaussage misstrauend versucht, den gesamten Roman unter dieser Perspektive zu deuten.28 Die verschiedenen Symptome des Verfalls würden dann als Ausdruck, als Zeichen des einen alles organisierenden Willens im Sinne Schopenhauers zu deuten sein. Naivität, Religion, Philosophie, Kunst – das seien die Stufenfolgen des Bewusstseins nach Schopenhauer und sie würden sich in eben dieser Form auch in den Buddenbrooks wiederfinden. Gerade die dritte Stufe, so muss man allerdings gegen diesen Vorschlag einwenden, entspricht keineswegs den im Roman dargestellten Verhältnissen. Thomas Buddenbrooks SchopenhauerLektüre ist eine kurze und ausdrücklich folgenlose Episode. Gemeinsam ist den beiden Brüdern Thomas und Christian ihre Schauspielerei. Und diese im Roman immer wieder hervorgehobene Eigenschaft lässt sich sehr viel besser durch den Bezug auf Nietzsches Dekadenz-Modell erklären.29 Im Roman gibt es zahlreiche, aber zumeist dezente Hinweise auf die Vererbung als das tragende Element des Verfalls, etwa in der nachstehenden Beschreibung Hannos: Von Anbeginn besaß er ganz ausgesprochen die Hände der Buddenbrooks: breit, ein wenig zu kurz, aber fein gegliedert; und seine Nase war genau die seines Vaters und Urgroßvaters, wenn auch die Flügel noch zarter bleiben zu wollen schienen. Das ganze längliche und schmale Untergesicht jedoch gehörte weder den Buddenbrooks noch den Krögers, sondern der mütterlichen Familie – wie auch vor allem sein Mund, der frühzeitig – schon jetzt – dazu neigte, sich in zugleich wehmütiger und ängstlicher Weise verschlossen zu halten... mit diesem Ausdruck, dem später der Blick seiner eigenartig goldbraunen Augen mit den bläulichen Schatten sich immer mehr anpaßte... (Bb 465f.)
Die leitmotivischen Merkmale aus der Linie des Vaters – die Hände – und der Mutter – der bläuliche Schatten der Augen – werden im Sohn zusammengeführt, an ihn vererbt. Und solche Hinweise auf eine psychologische Charakterisierung bis auf diese Ebene des Vererbten reichen den Zeitgenossen aus, um das hierzu passende Deutungsmodell aufzurufen:
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Vgl. zum Folgenden Peter Pütz: Die Stufen des Bewußtseins bei Schopenhauer und den Buddenbrooks, in: Hermann Kurzke (Hg.): Stationen der Thomas-Mann-Forschung. Aufsätze seit 1970. Würzburg 1985, S. 15-24. Auch Heller deutet die Buddenbrooks als philosophischen Roman, der Schopenhauers Ideen literarisch umsetzt; gerade das aber mache ihn unmodern, da der Roman diese Ordnung nicht nur als ästhetische, sondern als Weltordnung beschreibe; vgl. Erich Heller: Thomas Mann: Buddenbrooks, in: Jost Schillemeit (Hg.): Deutsche Romane von Grimmelshausen bis Musil. Frankfurt a.M. 1966, S. 230-268. So auch Terence J. Reed: Thomas Mann und die literarische Tradition, in: Koopmann (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch, S. 95-136, hier S. 100f.
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»In Wahrheit aber – und das ist der völlig moderne Zug in diesem Roman – kommen die wirkenden Kräfte, die diese Ereignisse zu Verhältnissen gestalten, nicht von außen, sondern aus dem Innern der Geschilderten.«30 »Das Schicksal des Menschen liegt in seinem Blute, in der Abstammung und Erziehung, die in ihrer Ausschließlichkeit ein Geschlecht wie ein ganzes Volk zum Nieder- und Untergang bestimmt […].«31
Aber so wichtig dieser Aspekt ohne Zweifel auch ist, er löst nicht das wirkliche Problem, dass es eine seltsame Diskrepanz zwischen der Notwendigkeit des Verlaufs und der mangelnden Motivierung im Roman selbst gibt. Anders ausgedrückt: Es gibt in den Buddenbrooks zwei Arten der Motivierung; einerseits wird eine kausale Motivierung der Ereignisse angedeutet, deren Hauptträger die Vererbung und die sich aus den vererbten Eigenschaften ergebende Psychologie sind, andererseits wird eine finale Motivierung, also eine sinnhafte Begründung von Ereignissen durch den Zielpunkt des Geschehens, schon im Titel suggeriert, deren Hauptträger eine vitalistische Konzeption der Familie ist.32 Diese finale Motivierung wurde von der zeitgenössischen Rezeption – wie von der Forschung – auch unter dem Begriff des Schicksals wahrgenommen, das sich unerbittlich und notwendig vollzieht: »Ein ehernes Schicksal waltet über der Welt, mitleidslos und erbittlich; es hebt die Starken und stößt in den Abgrund die Schwachen.«33 Eine solche Deutung des Geschehens als Schicksal, das sich notwendig erfüllt, wird auch im Roman thematisiert. Als die Buddenbrooks über die Vorbesitzer ihres neuen Hauses, die Ratenkamps und deren Abstieg reden, deutet der zur religiösen Schwärmerei neigende Jean dies als Fatum:34 _____________ 30
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Anselm Heine: »Buddenbrooks«. In: Die Zeit. Wien, Nr. 379, 4. Januar 1902 [nicht 1901], S. 10. »Langsam von innen heraus wächst und reift die Zersetzung heran.« heißt es ganz ähnlich in Hermann Stodte: »Thomas Mann, Buddenbroks, Verfall einer Familie« [!] von Th. M. in: Lübeckische Blätter 44/8, 23. Februar 1902, S. 104f., hier S. 104. Heinrich Driesmans: Der alte und der neue Erziehungsroman, in: Die Gegenwart 33/42, 15, 10 (1904), S. 247-250, hier 247. Driesmans sieht in den Buddenbrooks einen ›genealogischen Roman‹, der auf die Darstellung dieser Form des Schicksals zielt. Vgl. zum Begriff der ›finalen Motivierung‹ Matías Martínez: Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens. Göttingen, Zürich 1996, S. 13-36. Hart: Neues vom Büchertisch, S. 105. Bäumer spricht von »einer unerbittlichen Naturnotwendigkeit« (Bäumer: Thomas Mann, S. 144). Ähnlich Alois Stockmann: Die verbreitetsten Romane, S. 564. Martens sieht den Verfall »als ein unentrinnbares Verhängnis« (Kurt Martens: Der Roman einer Familie, in: Das Literarische Echo 4/6, 2. Dezemberheft 1901, Sp. 380-383. Zitiert nach: Schröter [Hg.]: Thomas Mann im Urteil seiner Zeit. Dokumente 1891–1955. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2000, S. 19-23, hier S. 20). »Das eherne Schicksal« sieht auch ein anonymer Rezensent im Börsenblatt am Werk; vgl. Was soll der Buchhändler lesen? in: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, Nr. 148, 30. Juni 1903 [nicht 30. Mai], S. 5162. Pütz deutet die zitierte Äußerung als Beleg dafür, dass das Gesetz der Wiederkehr auch den Bereich jenseits des Empirischen belegt. Man muss hier wohl berücksichtigen, dass Jean ein religiöser Schwärmer ist und seine Bemerkung entsprechend perspektivieren; vgl. Peter
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»[...] ich glaube, daß Dietrich Ratenkamp sich notwendig und unvermeidlich mit Geelmaack [seinem betrügerischen Partner; F.J.] verbinden mußte, damit das Schicksal erfüllt würde... Er muß unter dem Druck einer unerbittlichen Notwendigkeit gehandelt haben...« (Bb 26)
Kausal motiviert werden die Verbindung der beiden Partner und Ratenkamps Stillhalten trotz der Betrügereien mit seiner psychischen Verfassung; er sei »erstarrt« gewesen. Aber offensichtlich ist diese Erklärung untermotiviert und kann auch nicht den Gedanken, dass das Schicksal sich erfüllen müsse, begründen. Die Wahrnehmung des Romangeschehens kann demnach als Kodierung für die mangelnde kausale und die gerade in diesem Mangel sichtbar werdende finale Motivierung verstanden werden. Diese Art moderner Schicksalsgestaltung lässt sich durchaus häufiger gerade in Texten der Jahrhundertwende finden, wie Thomas Manns Zeitgenosse Samuel Lublinski in seiner hellsichtigen Bilanz der Moderne feststellte.35 Er beschreibt, wie Zola dem Milieu in seinen Romanen eine »fatalistische Rolle«36 zuweist und wie in der Neuromantik die Seele diese Rolle übernimmt. Vertreter eines geradezu antik anmutenden Schicksalskonzepts, das aber wie bei Ibsen im Physiologischen wurzele, sei Hermann Stehr. Thomas Manns Textstrategie findet sich in ähnlicher Form also durchaus in anderen Texten, die von den Zeitgenossen als modern wahrgenommen wurden. Wahrscheinlich führt eine vom Autor, von seinen Selbstzeugnissen ausgehende Deutung hier auch etwas in die Irre, da auf diese Weise die markante Einzellektüre, sei es im Fall des jungen Thomas Mann nun Schopenhauers, Nietzsches oder Wagners, ganz im Sinne einer Einflussphilologie als kausaler Faktor erscheint, der auf den Autor einwirkt und ihn bestimmt. Was auf diese Weise ausgeblendet wird, ist die schon vorher vorhandene Bereitschaft aufseiten des Autors, gerade diese Ideen und Konzepte plausibel und überzeugend zu finden, eine Bereitschaft, die sich nicht auf die Philosophen und andere Stichwortgeber selbst, sondern auf etwas Allgemeineres stützen muss. Das wird auch durch die Rezensionen der Buddenbrooks bestätigt. In zahlreichen Besprechungen finden sich Äußerungen wie diese: „modern ist Th.M. vom Scheitel bis zur Sohle, er malt das Leben, wie es nun einmal grausam und unerbittlich ist«37 »er gibt uns allen einen Eindruck von der grausam lastenden Schwere des Le-
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Pütz: Formen der Wiederkehr in den Buddenbrooks, in: Kevin F. Hillard u.a. (Hg.): Bejahende Erkenntnis. Festschrift für T.J. Reed. Tübingen 2004, S. 117-127, hier S. 121. Vgl. Samuel Lublinski: Die Bilanz der Moderne. Hg. v. Gotthart Wunberg. Tübingen 1974 [ED 1904], S. 221. Lublinski: Die Bilanz der Moderne, S. 233f. Anon.: Was soll der Buchhändler lesen?, S. 5162.
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bens«38 »Wer ein Sonntagskind ist, der hört in Manns großem Werke das Leben selber mit geheimnisvoller Stimme von seltsam unfaßbarer Ewigkeit alles Seienden erzählen. […] Dieses weihevolle Glockengeläute von der Vergänglichkeit alles Irdischen und von dessen ewiger Wiedergeburt«39
Das mag zuerst wie die hyperbolische Formulierung eines enthusiastischen Rezensenten klingen, aber es ist eben kein Einzelfall, sondern findet sich öfters. Grundlage dieser Wahrnehmung scheint eine genaue Passung von Thomas Manns literarisch formulierter Weltsicht im Roman mit der seiner Leser zu sein, einer Weltsicht, für die Schopenhauer oder Nietzsche, etwa in der letztangeführten Rezension, Formulierungsmuster geliefert haben, die aber in einer allgemeineren ästhetischen und weltanschaulichen Sicht des ›Lebens‹ als ›grausam‹, ›unerbittlich‹, bestimmt von der ›Vergänglichkeit alles Irdischen und von dessen ewiger Wiedergeburt‹ fundiert ist. Was für viele seiner Leser ein Evidenzerlebnis – so ist das Leben – darstellte, gestaltete sich dem fremden Blick eines gläubigen Christen als kontingente Weltanschauung: Zum Teil wird ja der Verfasser des Romans durch den ›künstlerischen Standpunkt‹ entlastet, der die modernen Dichter zwingt, mit Scheuklappen vor den Augen nur den Jammer des Lebens und nicht seine Schönheit, nur das Erbärmliche und nicht das Große zu sehen, und so als realistische Künstler – Ironie des Schicksals – das Leben zu zeichnen, wie es nicht ist.40
Der christliche Verfasser dieser Worte, der sich deutlich von »unseren oberflächlichen sogenannten Gebildeten«41 absetzt, führt in der Diskussion
über die Darstellung des Christentums in den Buddenbrooks Manns Sichtweise auf etwas Allgemeineres zurück, das er wiederum als ästhetische Position kodiert. Zur Konstitution dieses Allgemeineren haben sicherlich auch die populäre Lebensmystik und die ebenso populäre Darwinrezeption beigetragen, die sich als Teile der Semantik beschreiben lassen, die den Modernisierungsschub um 1900 in Deutschland begleitet hat.
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Anon.: »Thomas Mann: Buddenbrooks, in: Magdeburgische Zeitung, Nr. 280, 5. Juni 1903. Wilhelm von Wymetal: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Von Thomas Mann. Sechste Auflage, in: Die Woche. Wiener Montags-Zeitung, Nr. 37, 24. August 1903, S. 5. M. Wagner-Braunsdorf: Noch einmal: Thomas Mann’s Buddenbrooks, in: Reformation 3 (1904), S. 569-571, hier S. 570. Die vorangehende Diskussion findet sich im gleichen Jahrgang; den Hinweis auf die ästhetische Grundlage dieser Weltsicht hatte schon sein Kontrahent gegeben: »Wir können diesen künstlerischen Standpunkt beanstanden, der es für eine wertvolle Aufgabe der Kunst ansieht, die sonnenlosen Flächen des Lebens photographisch getreu wiederzugeben.« O. Brüssau: Buddenbrooks, in: Reformation 3 (1904), S. 523f., hier 524. M. Wagner-Braunsdorf: Noch einmal: Thomas Mann’s Buddenbrooks, S. 570.
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2. In der Forschung gibt es zahlreiche Stimmen, die in der Darstellung des Verfalls einer Familie nur ein Thema des Romans sehen und die die Buddenbrooks nicht nur als Familienroman, sondern ebenso als Gesellschaftsroman in einem sehr spezifischen Sinn sehen. Diese Deutung der Buddenbrooks sieht in der Geschichte der Familie Buddenbrook metonymisch die »Verfallsgeschichte des Bürgertums«42 wiedergegeben.43 Diese Auffassung kann sich auch auf die späteren Selbstdeutungen Thomas Manns stützen, der den Gedanken, der »Bourgeois mit seiner asketischen Idee der Berufspflicht sei ein Geschöpf protestantischer Ethik« ohne soziologische Lektüre »durch unmittelbare Einsicht«44 erfühlt und seinen Roman, wenn auch unbeabsichtigt, als »Seelengeschichte des deutschen Bürgertums«45 gestaltet haben will. Gegen eine solche Sichtweise spricht zuerst einmal der Text. Thomas Buddenbrook, auf den sich Thomas Manns Selbstdeutung ja eigentlich nur beziehen kann, da bei den anderen Familienmitgliedern schon angesichts der üppigen Mahlzeiten das Wort von der Askese nicht so recht überzeugen will, ist wiederum ein Einzelfall, der sich eben aufgrund seiner besonderen Verfeinerung von seiner familiären und beruflichen Umgebung deutlich unterscheidet. Man müsste also, will man ihn als exemplarische Darstellung der psychischen Struktur des Bürgertums sehen, ignorieren, dass in dem Roman seine ästhetische Sensibilität, seine stetige innere Anstrengung, die ihm zunehmend schwer fällt, sein eisernes Pflichtbewusstsein angesichts der als immer drückender empfundenen Pflicht, sich um die Geschäfte der Firma zu kümmern und die Familie in der Öffentlichkeit zu repräsentieren, als höchst individuelle Eigenschaften und Probleme dargestellt werden, die die anderen Bürger gerade nicht haben und die auch im Text als unbürgerlich markiert werden. Etwa bei der Beschreibung seiner Hände, die Ausdruck einer inneren Welt sind, die einen scharfen Kontrast darstellen zum ›ernsten Würdegefühl‹ (Bb 277), mit _____________ 42 43
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Helmut Koopmann: Thomas Mann. Theorie und Praxis der epischen Ironie, in: Ders. (Hg.): Thomas Mann. Wege der Forschung. Darmstadt 1975, S. 351-383, hier S. 359. Besonders einflussreich ist die entsprechende Deutung von Georg Lukács geworden, für den die Buddenbrooks die Repräsentanten des patrizischen Bürgertums sind und als solche notwendig zugrunde gehen, als die neue Form des Bürgers, der Bourgeois, repräsentiert durch die Hagenströms, die Macht übernimmt; vgl. Georg Lukács: Thomas Mann, in: Ders.: Faust und Faustus. Reinbek b. Hamburg 1967 [ED 1949], S. 211-308. Ähnlich auch Inge Diersen: Thomas Manns Buddenbrooks, in: Weimarer Beiträge 3/1 (1957), S. 58-86. Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 145. Wenzel folgt Manns späterer Selbstdeutung ganz unkritisch; Georg Wenzel: Buddenbrooks. Leistung und Verhängnis als Familienschicksal, in: Volker Hansen (Hg.): Thomas Mann. Romane und Erzählungen. Stuttgart 1993, S. 11-46, hier S. 29f.
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dem er seine Rolle als »Chef des großen Handlungshauses« (Bb 277) spielt: Diese Hände […] konnten in gewissen Augenblicken, in gewissen, ein wenig krampfhaften und unbewußten Stellungen einen unbeschreiblichen Ausdruck von abweisender Empfindsamkeit und einer beinahe ängstlichen Zurückhaltung annehmen, einen Ausdruck, der den ziemlich breiten und bürgerlichen, wenn auch fein gegliederten Händen der Buddenbrooks bis dahin fremd gewesen war […]. (Bb 277)
Und es ist ja auch keineswegs so, dass in Thomas Buddenbrook ein neuer Typus des Bürgers dargestellt wird, vielmehr wird schon durch den Vergleich mit den Hagenströms und auch mit der Episode um die Pöppenrader Ernte im Kontext des Romans seine traditionalistische Lebens- und Arbeitsweise markiert. Auch die Deutung der Familiengeschichte als repräsentative Darstellung der Entwicklung des Bürgertums ignoriert wesentliche Bezüge im Text. Wie oben schon erwähnt, wird die Historie der Familie am Anfang wie am Ende in deutliche konstrastierende Bezüge eingestellt: Zu Beginn ziehen die Buddenbrooks in das Haus der Ratenkamps, einer herabgewirtschafteten Kaufmannsfamilie, die am Anfang des Romans genau dort steht, wo die Buddenbrooks am Ende stehen werden. Und genauso – und zwar in genau der gleichen Weise, nämlich mit der Übernahme des Hauses – sieht der Leser am Ende des Romans die Hagenströms auf dem Höhepunkt. All dies sind bürgerliche Familien und so bleibt auch das Bürgertum ganz unbetroffen von diesen Prozessen der ewigen Wiederkehr des Aufstiegs und Niedergangs der Familien.46 Die Zeitgenossen haben hier vielleicht schärfer gesehen, dass die alte Patrizierfamilie der Buddenbrooks wohl nicht repräsentativ für das moderne Bürgertum steht, sondern vielmehr aufgrund ihres traditionellen Ethos, in dessen Zentrum die Firma steht, mit adligen Lebensformen vergleichbar ist.47 _____________ 46
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Eine kritische Auseinandersetzung mit der These, die Lukács und in der Folge z.B. auch Diersen vertreten, dass es sich bei den Familien der Buddenbrooks und Hagenströms um spezifische Formen des Bürgertums handelt, findet man u.a. in Martin H. Ludwig: Perspektive und Weltbild in Th. M.s Buddenbrooks, in: Manfred Brauneck (Hg.): Der deutsche Roman im 20. Jahrhundert. Analysen und Materialien zur Theorie und Soziologie des Romans. Bamberg 1976, Bd. 1, S. 82-106. Ähnlich Vogt: Thomas Mann Buddenbrooks, S. 67ff. sowie Ernst Keller: Das Problem ›Verfall‹, in: Moulden, von Wilpert (Hg.): BuddenbrooksHandbuch, S. 157-172. Z.B. »in dieser alten, von den Traditionen der ›Firma‹ beherrschten Patrizierfamilie« (Arthur Eloesser: Neue Bücher, in: Neue Deutsche Rundschau 12/12 [1901], S. 1281-1290, hier S. 1288). Oder »Diese Buddenbrooks führen nicht das ›von‹, aber sie sind doch ›adlig‹, eben durch den Besitz und das Festhalten der Tradition.« (Hart: Neues vom Büchertisch, S. 107) Wymetal spricht von »Bürgeradel« (Wymetal: Buddenbrooks, S. 5).
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3. Auffällig an der Darstellungsweise des Romans ist für die Zeitgenossen Thomas Manns, dass er sich nicht auf die wenigen ungewöhnlichen Ereignisse konzentriert, »nicht nach heute beliebter Manier mit einem pikanten Knalleffekt«48 beginnt, sondern vielmehr gleichmäßig ausführlich vom typischen familiären Alltag, von »Geburten und Heiraten, Krankheiten und Todesfällen«49 berichtet. Seine Konzentration auf »diese so gleichgiltigen Geschehnisse, diese Tagtäglichkeiten eines weltabgeschiedenen Bürgerhauses«,50 sein Verzicht auf eine Straffung der Handlung, werden als unmodern wahrgenommen und erinnern die wohlgesinnten Rezensenten an das Epos.51 Gerade der Umfang des Romans, der sich aus dieser Darstellungsweise ergibt, war für die Zeitgenossen besonders ungewöhnlich und wurde schon vom Verleger Samuel Fischer als unmodern, als nicht mehr zeitgemäß wahrgenommen: »Ein Roman von etwa 65 enggedruckten Bogen ist für unser heutiges Leben fast eine Unmöglichkeit«.52 Das war nicht nur die Marotte eines Verlegers, der Angst vor einem kostenintensiven Druck hatte. Die meisten Rezensionen heben den Umfang des Texts hervor, und auch Thomas Mann selbst hat es in einem Brief, in dem er seinen Freund Grautoff über den Inhalt seiner Gefälligkeitsrezension instruiert, für nötig befunden, auf das Unzeitgemäße des Umfangs einzugehen.53 Diese zeitgenössische Wahrnehmung muss für spätere Leser erst wieder hergestellt werden, da es im weiteren Verlauf der Entwicklung des modernen Romans unter dessen als typisch wahrgenommenen Vertretern eine ganze Reihe von ausgesprochen umfangreichen Texten gibt. _____________ 48
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Heinrich Meyer-Benfey: Thomas Mann, in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung. München, Nr. 67, 22. März 1904, S. 529-532. Zitiert nach: Klaus Schröter (Hg.): Thomas Mann im Urteil seiner Zeit. Dokumente 1891–1955. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2000, S. 30-37, hier S. 32. Martens: Der Roman einer Familie, S. 21. Richard von Schaukal: Buddenbrooks, in: Wiener Abendpost. Beilage zur Wiener Zeitung, Nr. 19, 24. Januar 1902, S. 5f., hier S. 6. Z.B. Rilke, der von der ›epischen Art des Vortrags‹ spricht; vgl. Rainer Maria Rilke: Thomas Manns Buddenbrooks, in: Bremer Tageblatt und General-Anzeiger 6/88, 16. April 1902. Zitiert nach: Rainer Maria Rilke: Thomas Mann’s Buddenbrooks, in: Ders.: Werke. Bd. V. Frankfurt a.M. 1987, S. 577-581, hier S. 579. Martens spricht vom »echt epischen Stil« (Martens: Der Roman einer Familie, S. 21). Zitiert nach: Thomas Mann: Buddenbrooks. Kommentar v. Eckhard Heftrich u. Stephan Stachorski. GKFA, Bd. I/2. Frankfurt a.M. 2002, S. 83. »In der Zeit des ›Überbrettls‹ und der Fünf-Secunden-Lyrik sei es wenigstens ein Zeichen ungewöhnlicher künstlerischer Energie, ein solches Werk zu concipiren und zu Ende zu führen.« (GKFA, Bd. I/2, S. 180) Grautoff nahm den Gedanken in seinen Rezensionen auf.
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Der Umfang des Romans – in dieser Form auch vom Autor ursprünglich nicht geplant – lässt sich auf zwei Besonderheiten zurückführen: Zum einen erzählt der Text den gesamten Prozess des Verfalls, vom Höhepunkt der Familienentwicklung bis zu dem Punkt, als mit dem Tod Hannos die Familie aus der Sicht des patrilinearen Denkens an ihr Ende gekommen ist. Schon diese Entscheidung ist ungewöhnlich genug: »Noch vor einigen Jahren hätte ein moderner Schriftsteller sich damit begnügt, das letzte Stadium dieses Verfalls zu zeigen«.54 Rilkes Bemerkung macht deutlich, dass Thomas Manns Verfahren hier ganz deutlich von dem abweicht, was als typisch ›modern‹ empfunden wird, wenn er den Roman auch – rückblickend muss man sagen: zu Recht – als ›Überwindung‹ dieser modernen Form des Schreibens ansieht; aber letztendlich handelt es sich um ein erfolgreiches Aufgreifen älterer Traditionen. Ein anderer Rezensent beschreibt den Sachverhalt in einer Weise, die das Anknüpfen Manns an diese modernen Verfahren deutlicher macht: Für einen Dichter der älteren Schule wäre es die natürlich gegebene Aufgabe gewesen, den Aufstieg dieses Geschlechtes zu schildern. Unser moderner Dichter setzt sehr bezeichnenderweise Weise da ein, wo der faule Punkt hervorzuwachsen beginnt. Die vorangegangene Entwicklung interessirt ihn nur nebenbei; das pathologische Moment nimmt sein ganzes Interesse in Anspruch, und er weiß es überaus feinsinnig auszufinden, zu deuten und zu entwickeln.55
Tatsächlich fehlt ja die Darstellung des Aufstiegs, vor allem aber zeigt die Art der Fokalisierung und die zeitliche Gewichtung, dass das Interesse am Verfall sehr viel größer ist als am Rest der Entwicklung. Mann bricht also nicht vollständig mit der als modern empfundenen Schreibstrategie, sondern bietet vielmehr einen innovativen Kompromiss zwischen als traditionell und als modern markierten Schreibverfahren. Ein zweites Mittel, das zum Umfang des Textes, vor allem aber zum Eindruck erzählerischer ›Objektivität‹ beiträgt, der von Zeitgenossen häufig als Besonderheit des Textes hervorgehoben wird, ist das konsequente und extensive showing, also die Darstellung der Ereignisse im dramatischen Modus sowohl auf der Ebene des Dialogs als auch auf der Ebene der Beschreibung der erzählten Welt, wozu das Fehlen von Erzählerkommentaren ebenso gehört wie der Detailreichtum der Darstellung.56 Dieses Verfahren war ungewöhnlich genug, um erst einmal auch auf Unverständnis zu stoßen: Thomas Mann behandelt sie [die Figuren; F.J.] häufig mit einer Ironie, die an den alten Fontane erinnert, aber er hat noch nicht Unabhängigkeit genug vom Stoff,
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Rilke: Thomas Manns Buddenbrooks, S. 577. Driesmans: Der alte und der neue Erziehungsroman, S. 250. Vgl. Matias Martinez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 1999, S. 50f.
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um ihre tiefere Wesenheit allein durch die individuelle Zuspitzung des Dialogs herauszubringen, in viel zu umständlicher Weise beschäftigt ihn die Reproduktion ihrer leibhaftigen Existenz mit allen täglichen Äußerungen […].57
Für die implizite ironische Charakterisierung der Figuren aufgrund des Dialogs gibt es das Vorbild Fontanes, für die ausführlichen Beschreibungen fehlt es dagegen an vergleichbaren Vorbildern im zeitgenössischen Roman. Entsprechend zweifelt selbst ein Freund Thomas Manns wie Grautoff daran, dass diese auch immer funktional sind: »Der sehr breit angelegte Roman ist reich an mannigfaltigen und prächtigen Detailschilderungen, die zuweilen allerdings etwas barock wirken und den Fluß der Erzählung beeinträchtigen.«58 Diese besondere Schreibstrategie wird gleich in den ersten Zeilen des Romans deutlich:59 »Was ist das. – Was – ist das...« »Je, den Düwel ook, c’est la question, ma très chère demoiselle!« Die Konsulin Buddenbrook, neben ihrer Schwiegermutter auf dem geradlinigen, weiß lackierten und mit einem goldenen Löwenkopf verzierten Sofa, dessen Polster hellgelb überzogen waren, warf einen Blick auf ihren Gatten, der in einem Armsessel bei ihr saß, und kam ihrer kleinen Tochter zu Hilfe, die der Großvater am Fenster auf den Knieen hielt. »Tony!« sagte sie, »ich glaube, daß mich Gott –« Und die kleine Antonie, achtjährig und zartgebaut, in einem Kleidchen aus ganz leichter changierender Seide, den hübschen Blondkopf ein wenig vom Gesichte des Großvaters abgewandt, blickte aus ihren graublauen Augen angestrengt nachdenkend und ohne etwas zu sehen ins Zimmer hinein, wiederholte noch einmal: »Was ist das«, sprach darauf langsam: »Ich glaube, daß mich Gott«, fügte, während ihr Gesicht sich aufklärte, rasch hinzu: »– geschaffen hat samt allen Kreaturen«, war plötzlich auf glatte Bahn geraten und schnurrte nun, glückstrahlend und unaufhaltsam, den ganzen Artikel daher, getreu nach dem Katechismus, wie er soeben, anno 1835, unter Genehmigung eines hohen und wohlweisen Senates, neu revidiert herausgegeben war. (Bb 9)
Die ersten beiden Zeilen, die wörtlichen Reden, kann der Leser nicht verstehen, da er über anwesende Figuren, den Raum, die Zeit und vor allem die soziale Situation, die dem Ganzen erst Sinn gibt, zunächst im Dunkeln gelassen wird.60 Diese Angaben werden erst langsam nachgereicht: der erste Satz der Schilderung verdeutlicht, dass vier Erwachsene und ein _____________ 57 58 59
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Eloesser: Neue Bücher, S. 1288. [Otto Grautoff:] Thomas Manns Buddenbrooks, in: Münchner Neueste Nachrichten 54, 24. Dezember 1901. Zitiert nach: Peter de Mendelssohn (Hg.): Thomas Mann. Briefe an Otto Grautoff 1894–1901 und Ida Boy-Ed 1903–1928. Frankfurt a.M. 1975, S. 249f., hier S. 250. Der Romananfang ist häufig interpretiert worden; insbesondere am ersten Satz wollte man ein prinzipielles Infragestellen der dargestellten Welt erkennen; vgl. z.B. Herbert Lehnert: Thomas Mann. Buddenbrooks (1901), in: Paul Michael Lützeler (Hg.): Deutsche Romane des 20. Jahrhunderts. Neue Interpretationen. Königstein i.Ts. 1983, S. 31-49, hier S. 31. Vgl. auch Vogt: Thomas Mann Buddenbrooks, S. 13ff.
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Kind, alles Mitglieder der Familie Buddenbrook, anwesend sind, am Ende der zitierten Passage wird das Jahr genannt, erst einige Seiten später wird der Leser informiert, dass die Buddenbrooks im ›Landschaftszimmer‹ sitzen, und noch später erst wird erläutert, dass die Familienmitglieder auf ihre Gäste warten. Die Besonderheit von Thomas Manns Verfahren, das sich in ganz ähnlicher Weise in Renée Mauperin, einem Roman der Brüder Goncourt, findet,61 den Thomas Mann oft als Anregung für die Buddenbrooks genannt hat, wird deutlicher, wenn man es mit dem Anfang eines anderen, nahezu zeitgleichen Familienromans kontrastiert: »Die Eysen hatten Familientag.«62 Hier wird die soziale Situation gleich im ersten Satz gegeben. Ein Effekt der Strategie, die Thomas Mann wählt, ist eine Verunsicherung des Lesers, der nicht wissen kann, welche Informationen nun im Folgenden relevant sein werden, und dementsprechend wird seine Aufmerksamkeit für alles erforderlich. Die Figurencharakterisierung durch den auffälligen Wechsel vom Plattdeutschen ins Französische kann der Leser erst zuordnen, wenn der Großvater als Figur genannt wird, und sie wird eigentlich erst richtig verständlich, als »der alte M. Johann Buddenbrook« in der nachfolgenden ausführlichen Beschreibung, wie alle Anwesenden, wiederum durch die Details der gewählten Kleidung einer bestimmten Zeit und Mode zugeordnet wird. Diese Retardierung einer sinnvollen Erfassung der Szene wird verstärkt durch die Art der Beschreibung, etwa der ausführlichen Auflistung aller Eigenschaften des Sofas, die in ihrer Detailliertheit einen Realitäts- und auch einen Naturalismuseffekt hat. Unter ›Realitätseffekt‹ versteht man bekanntlich seit Barthes den Eindruck einer lebensweltlichen Fülle von Details, die nicht alle funktional sind, z.B. symbolische oder leitmotivische Bezüge herstellen.63 Die häufige Verwendung dieses Effekts wiederum wird 1901 als Hinweis auf eine naturalistische Provenienz verstanden und entsprechend oft wurden die Buddenbrooks in der zeitgenössischen Rezeption so gedeutet.64 _____________ 61
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Der Roman beginnt ebenfalls mit zwei Dialogzeilen und erst einige Seiten später werden der Ort und die soziale Situation genannt; vgl. Edmont und Jules de Goncourt: Renée Mauperin. Übersetzt v. Elisabeth Kuhs. Stuttgart 1989. Vgl. zu den Parallelen auch Ridley: Buddenbrooks, S. 25. Georg Freiherr von Ompteda: Eysen. 2 Bde. 13. Aufl. Berlin 1907 [ED 1899], S. 1. Zum Realismuseffekt vgl. Roland Barthes: L’Effet de Réel, in: Ders.: Œuvres complètes. Bd. II. Paris 1994, S. 479-484 [ED 1968]. Von »strengster naturalistischer Methode« ist die Rede; vgl. Hermann Anders Krüger: Romane, in: Die schöne Literatur. Beilage zum Literarischen Centralblatt für Deutschland 3/2, 18. Januar 1902, Sp. 17-21, hier Sp. 19. Vgl. Stockmann: Die verbreitetsten Romane, S. 564. Oder Lublinski, der vom »einzigen naturalistischen Roman« spricht (Lublinski: Die Bilanz der Moderne, S. 226). Allerdings gibt es auch schon deutliche Gegenstimmen: »Mann ist nicht Naturalist, d.h. sein Bestreben ist keineswegs, ein Stück Natur möglichst tief und rein zu schauen und das Geschaute möglichst treu und lebendig wiederzugeben,
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Erst im Laufe des Romans wird sich dem Leser erschließen, wie zentral dieses Zimmer und das Sofa sind, wie viele wichtige Gespräche und Entscheidungen dort getroffen werden und dass selbst noch das letzte Gespräch des Romans, der Abschied von Gerda, wiederum in einer Sofarunde stattfindet. Diese Kreisstruktur wird vor allem durch den ersten Satz des Romans etabliert. Der Roman beginnt damit, dass Tony festhängt, als sie den ersten Artikel aus dem zweiten Hauptstück des kleinen Katechismus aufsagen soll. Der letzte Satz des Romans lässt sich auf den dritten und letzten Artikel des gleichen Hauptstücks beziehen, der unter anderem die Auferstehung der Toten und das ewige Leben aufführt, eben jene Punkte des christlichen Glaubens, die Tony, inzwischen die alternde Frau Permaneder, in Frage gestellt hat. Dagegen protestiert ihre frühere Erzieherin Sesemi Weichbrodt mit einem energischen »›Es ist so!‹« (Bb 837), also mit einer Bestätigung, die deutlich an die abschließende Formel jedes Katechismus-Artikels, »Das ist gewißlich wahr«,65 erinnert. Ein markanter Teil des showing ist das weitgehende Fehlen von Erzählerkommentaren, was in der zeitgenössischen Rezeption zum Vergleich mit dem antiken Epos und dem öfter thematisierten Eindruck erzählerischer Neutralität geführt hat: »Zu den bestimmenden Eigenschaften des Mannschen Romans gehört seine Objektivität.«66 Schon Rilke bemerkt, dass »nirgends, über die Ereignisse hinweg, ein überlegener Schriftsteller sich zu dem überlegenen Leser neigt, um ihn zu überreden und mitzureißen«.67 Das Fehlen von Kommentaren, von offensichtlichen Wertungen hat irritierend und ungewöhnlich gewirkt, obwohl es doch seit Spielhagen theoretisch und Flaubert praktisch zum höchsten Ziel der Prosadarstellung erklärt worden war. Das Schreibverfahren, das von einigen ganz richtig eingeordnet wird,68 wirkt schon deshalb so aufreizend, »weil ihm der starke subjektive Zug mangelt, weil der Autor uns nur erzählt, ohne uns _____________ 65
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sondern er geht auf eine bewußte Umgestaltung der Wirklichkeit aus« (Meyer-Benfey: Thomas Mann, S. 532). Der Kommentar der GKFA bezieht Sesemi Weichbrodts Äußerung auf das Ende des ersten Katechismus-Artikels (GKFA, Bd. I/2, S. 417). Das würde den Bezug zwischen Anfang und Ende des Romans enger machen, wäre aber im Kontext des Gesprächs am Romanende sinnlos. G. Keyßner: Belletristisches, in: Münchner Neueste Nachrichten 56/360, 5. August 1903. Die Beschreibung ist geradezu topisch: ›harte Objektivität‹ Martens: Der Roman einer Familie, S. 20; »die objektive, fast phlegmatische Kunst der Schilderung« Eloesser: Neue Bücher, S. 1289; ›streng objektive Darstellung‹ Weilen: Neue Romane und Erzählungen, S. 422; »eine durchaus objektive Stellung gewahrt« Anon.: Thomas Mann: Buddenbrooks, in: Magdeburgische Zeitung, Nr. 280, 5. Juni 1903. Rilke: Thomas Manns Buddenbrooks, S. 578. Thomas Mann vermeide »jede Sympathie, jede Teilnahme, jedes Urteil nach der einen oder andern Seite hin«, stellt ein katholischer Rezensent fest, um dann fortzufahren: »Die Kunst muß sich ja Selbstzweck bleiben.« (Stockmann: Die verbreitetsten Romane, S. 564)
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etwas zu sagen«.69 Ein besonders gutes Beispiel für Thomas Manns Verwendung dieser Schreibstrategie, um die emotionale Wirkung des Texts zu intensivieren, sind die leitmotivischen Begegnungen zwischen Thomas Buddenbrook und seiner Jugendliebe Anna, deren Intensität gerade durch das nur knapp Angedeutete entsteht, das ohne jeden Kommentar, zumeist auch ohne interne Fokalisierung erzählt wird.70 Das showing wird durch zwei weitere Schreibstrategien ergänzt, die damit eng verbunden sind: die chronikartige Darstellung – so der Begriff der zeitgenössischen Rezeption – und die ironische Erzählhaltung. Mit dem Verweis auf die Chronik als Vorbild für den Roman wird einmal die weitgehend chronologische Darstellung, die nur durch wenige Analepsen durchbrochen ist, beschrieben. Aber gemeint ist, wenn etwa »der immer gleiche Tonfall einer Chronik«71 erwähnt wird, auch die Schreibweise, also das, was von den Zeitgenossen als objektive Erzählhaltung beschrieben wurde. Und auch der gleich bleibende Blick für die zahlreichen Details wird damit benannt.72 Stets wird ein als ungewöhnlich wahrgenommener Mangel an Dynamik, an typisch modernen Erzählstrategien registriert, der aber nicht als altertümlich, sondern als moderne Variation eingeschätzt wird. Bei genauerer Betrachtung allerdings widerspricht die Zeitgestaltung dem Charakter einer Chronik, da die erzählte Zeit sich immer mehr verlangsamt, während die Erzählzeit immer länger wird. Sind am Anfang des zweiten Teils schon zehn der insgesamt 42 Jahre vergangen, so benötigt die Darstellung der letzten zehn Jahre immerhin rund 40 Prozent des Gesamtumfangs.73 Zum Eindruck der distanzierten Darstellung tragen auch Humor und vor allem jene Ironie bei, die Thomas Mann dann bald den Vorwurf der Kälte eintragen sollte. Die beiden Strategien greifen ineinander. Da ist zum einen die überlegen humoristische Darstellung, etwa der Versuch der _____________ 69 70
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Eloesser: Neue Bücher, S. 1288. Vgl. Fotis Jannidis: Literarisches Wissen und Cultural Studies, in: Martin Huber, Gerhard Lauer (Hg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen 2000, S. 335357. Samuel Lublinski: Thomas Mann. Die Buddenbrooks. Verfall einer Familie, in: Berliner Tageblatt, Nr. 466, 13. September 1902, 1. Beiblatt (Litterarische Rundschau). Zitiert nach: Vogt: Thomas Mann: Buddenbrooks, S. 139f., hier S. 140. Rilke hebt hervor, dass Thomas Mann »die Rolle des Chronisten modern aufgefaßt hat und sich bemüht hat, nicht einige hervorragende Daten zu verzeichnen, sondern alles scheinbar Unwichtige und Geringe, tausend Einzelheiten und Details gewissenhaft anzuführen« (Rilke: Thomas Manns Buddenbrooks, S. 578f.). Vgl. Lämmert: Thomas Mann, S. 198.
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Hafen- und Lagerarbeiter ihre Revolution nach dem Vorbild von »Berlin und Poris« zu machen: »Je, Herr Kunsel, ick seg man bloß: wie wull nu ’ne Republike, seg ick man bloß...« »Öwer du Döskopp... Ji heww ja schon een!« »Je, Herr Kunsel, denn wull wi noch een.« (Bb 209)
Thomas Mann nennt später selbst Fritz Reuter als Vorbild, was auch die Rezensenten erkennen.74 Figuren wie Tonys zweiter Mann Permaneder, dessen Vorlage eine Simplizissimus-Zeichnung ist, und auch, wenn sicherlich in geringerem Maße, Tony selbst, sind komisch und haben wohl auch die Funktion des comic relief in der düsteren Verfallsgeschichte, wie auch parodistische und groteske Passagen. Doch daneben prägt eine distanzierende Ironie den Text. Diese Ironie wurde schon von den zeitgenössischen Rezensenten in enger Beziehung zur Tragik des Verfalls und der pessimistischen Grundstimmung gesehen75 sowie zur objektiven Erzählweise.76 Als Vorbild für Thomas Manns Ironie wurde der alte Fontane identifiziert.77 Sie wird auch schon als konstitutives Merkmal seiner ästhetischen Weltanschauung gedeutet: Die Ironie beruht auf dem Widerspruch, daß man etwas zugleich liebt und darauf herabsieht. Dieser Widerspruch erstreckt sich bei Mann auf das gesamte Leben, wächst dadurch zu einer »Weltanschauung«, und seine Auflösung wird schließlich in der Kunst gefunden.78
Die Ironie kann in paradoxer Weise ebenfalls, wie später noch öfter bei Thomas Mann, zur Steigerung der Gefühlsintensität verwendet werden.79
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»[...] und wenn er hier mit zahlreichen humoristischen Zügen in die Breite geht, so erinnert er wiederum an den stammverwandten Fritz Reuter« (Eloesser: Neue Bücher, S. 1289). »Ein vollständiger Pessimismus ist die Stimmung, von der er ausgeht; und die Ironie ist eben die Art, wie er diesen überwindet.« (Meyer-Benfey: Thomas Mann, S. 532) Thomas Mann selbst hat Grautoff eine solche Beziehung souffliert: »Eine gewisse nihilistische Neigung tritt an einigen Stellen des Romans merkbar hervor; dem gegenüber als positiver und starker Werth steht ein ausgezeichneter und sehr origineller Humor« (Grautoff: Thomas Manns Buddenbrooks, S. 250). Vgl. Karl Muth: Vom kalten Künstler. Hochland 1904. Zitiert nach: Schröter (Hg.): Thomas Mann im Urteil seiner Zeit, S. 37-40, hier S. 38. Vgl. oben Fußnote 57 und das zugehörige Zitat. Meyer-Benfey, Heinrich: Thomas Mann, S. 35. Zu Thomas Manns Selbstdeutung der Ironie und des Humors vgl. Helmut Koopmann: Humor und Ironie, in: Ders. (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch, S. 836-853.
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4. Die Buddenbrooks wurden von Anfang an als Beleg für die sprachartistischen Fähigkeiten ihres Autors wahrgenommen. Seine ›ästhetische und psychologische Feinfühligkeit‹,80 seine ›stolze, fein abgetönte Sprache‹81 begründeten schnell den Ruf des Romans, »ein Meisterwerk deutscher Prosa«82 zu sein oder »zu den wenigen unvergänglichen Meisterwerken der deutschen Literatur« zu gehören.83 Bezeichnenderweise ist vom Stil, »der […] stolz, wach, vornehm schreitet« die Rede.84 Zu dieser Beschreibung trägt sicherlich das bei, was oben zum showing und zur Ironie des Erzählers gesagt wurde, aber es ist sicherlich noch deutlich mehr im Spiel. Da ist zum einen der flexible, aber immer durchgeformt wirkende Stil der Erzählstimme, die von der knappen Feststellung bis zur ausschweifenden Periode alle Formen und Register beherrscht. Ein willkürlich gewählter Satz wie der folgende, der die Reaktion auf die Mitteilung schildert, wie hoch das Familienvermögen eigentlich ist, zeigt diese bewusste Geformtheit, die zum Riskanten seines Stils gehört: Selbst Thomas war, bei aller Einsicht in den Geschäftsgang, von seinem Vater über diese Höhe im Unklaren gelassen worden, und während die Konsulin mit ruhiger Diskretion die Zahl entgegennahm, während Tony mit einer allerliebsten und verständnislosen Würde geradeaus blickte und dennoch einen ängstlichen Zweifel aus ihrer Miene nicht verbannen konnte, welcher ausdrückte: Ist das auch viel? Sehr viel? Sind wir auch reiche Leute?... während Herr Marcus sich langsam und anscheinend zerstreut die Hände rieb und Konsul Kröger sich ersichtlich langweilte, erfüllte ihn selbst diese Zahl, die er aussprach, mit einem nervösen und treibenden Stolz, der sich beinahe wie Unmut ausnahm. (Bb 280f.)
Die sauber gebaute Parallele und variantenreiche Reihung – während die Konsulin, während Tony, während Herr Marcus und Konsul Kröger – gehorcht offensichtlich nicht einem Stilideal, dessen höchster Wert antirhetorische Natürlichkeit ist, sondern kommuniziert und demonstriert selbstbewusst die artistische Raffinesse des Autors. Besonders bemerkenswert ist der Reichtum an sprachlichen Registern, der offensichtlich in der direkten Rede ausgestellt wird, weniger offensichtlich, aber wohl ebenso wirkungsvoll in hybriden Stimmformen, z.B. der erlebten Rede: Frau Stuht aus der Glockengießerstraße hatte wieder einmal Gelegenheit, in den ersten Kreisen zu verkehren, indem sie Mamsell Jungmann und die Schneiderin
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Bäumer: Thomas Mann, der Dichter der Buddenbrooks, S. 32. Anon.: Was soll der Buchhändler lesen? S. 5162. Strobl: Familien-Romane. Hermann Derstadt: Thomas Mann: Buddenbrooks, in: Internationale Literatur- und Musikberichte, 28. 5. 1903, S. 85. Schaukal: Buddenbrooks, S.5.
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am Hochzeitstage bei Tonys Toilette unterstützte. Sie hatte, strafe sie Gott, niemals eine schönere Braut gesehen, lag, so dick sie war, auf den Knieen und befestigte mit bewundernd erhobenen Augen die kleinen Myrtenzweiglein auf der weißen moiré antique... (Bb 177f.)
Schon das »in den ersten Kreisen zu verkehren«, das leitmotivisch mit Frau Stuht verbunden ist, könnte als erlebte Rede aufgefasst werden; auf jeden Fall aber setzt sie bei »Sie hatte, strafe sie Gott« ein und evoziert eine kleinbürgerliche Floskelhaftigkeit. Diese Überlagerung der Erzählstimme durch andere Stimmen oder Textsorten reicht noch weiter und hat teilweise collagen- bzw. montagehafte Züge.85 In der oben zitierten Eingangspassage wird man die Formulierung ›unter Genehmigung eines hohen und wohlweisen Senates‹ wohl als Zitat aus dem Katechismus nehmen und nicht der Erzählstimme zuschreiben. Auch die berühmte Beschreibung des Sterbens Hannos, die, einem Lexikonartikel folgend, ganz unpersönlich und sachlich gehalten ist und den Tod nur indirekt mitteilt,86 demonstriert an einer für die emotionale Leserlenkung zentralen Stelle die Sprachartistik des Autors, was durchaus so wahrgenommen wurde: »um das Grausame dieses Todes zu mildern, giebt er eine medizinisch-sachliche Beschreibung des Typhus. Indem er Hannos Tod so unserer Phantasie überlässt, zeigt der Dichter eine feine Mäßigung der künstlerischen Kraft.«87 In diesem Kontext ist auch die Leitmotiv-Technik Thomas Manns zu sehen. Diese Schreibstrategie, für deren kunstvolle Verwendung Thomas Mann ganz besonders berühmt ist, haben die ersten Leser als »absichtliche Wiederholungen und formelhafte Wendungen« ebenfalls als »modern homerischen Stil«88 wahrgenommen.89 Thomas Mann selbst versuchte seine Auffassung, wo er diese Technik erworben habe, über die Gefälligkeitsrezension Grautoffs zu verbreiten: »Spezifisch Wagnerisch ist die
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Kiesel sieht in der Montage den wichtigsten Gradmesser für den modernen Roman – gemeint ist dabei der moderne Roman in der oben kritisierten Konzeption – mit ausdrücklichen Bezug auf Thomas Mann, allerdings auf sein Spätwerk; vgl. Kiesel: Die Geschichte der literarischen Moderne, S. 303. Vgl. den Kommentar GKFA, Bd. I/2, S. 414 sowie die Paralipomena, ebd., S. 436f., und vor allem den Artikel selbst, ebd. S. 673-682. Hermann Stodte: »Thomas Mann, Buddenbroks, Verfall einer Familie« [sic!] von Thomas Mann, in: Lübeckische Blätter 44/8, 23. Februar 1902, S. 104-105, hier 105. Alexander von Weilen: Neue Romane und Erzählungen, in: Allgemeine Zeitung. München, Nr. 277, 2. Dezember 1902, Beilage, S. 420f., hier S. 422. Manche haben ihre Wahrnehmung auch nur ganz unbegrifflich beschrieben: » Es wird uns oft gesagt, daß sie und ihr kleiner Sohn ›goldbraune Augen mit blauen Schatten darunter‹ haben […].« Henriette von Meerheimb: Neue Romane, in: Monatsblätter für deutsche Literatur 8/5, Februar 1904, S. 213-219, bes. 216-219, hier 217.
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eminent episch wirkende strenge Durchführung des Leitmotivs«.90 Aber auch unabhängig davon scheint zumindest ein Rezensent selbstständig die Verbindung zum musikalischen Begriff des Leitmotivs hergestellt zu haben. Der Autor, so stellt er fest, beobachte die »kuriosesten Eigentümlichkeiten und Lieblingsgewohnheiten« der Menschen. »Die geben ihnen förmliche Leitmotive für den jeweilig beobachteten Menschen ab«.91 Der Begriff ist in seiner Anwendung auf Literatur höchst unterschiedlich für alles vom Epitheton ornans bis zum komplexen Selbstzitat verwendet worden.92 Da die Technik des Leitmotivs das gesamte Werk Manns prägt, wirkt die einschlägige Diskussion auch zurück auf die Wahrnehmung der Leitmotivtechnik in den Buddenbrooks. Thomas Mann hat in einer späteren Selbstdeutung seine Leitmotivtechnik in den Buddenbrooks zwar ausdrücklich unterschieden von der späteren, die er erstmals in Tonio Kröger erprobte. Im Roman habe er zwar Wagners Technik auf die Erzählung übertragen, aber wie auch Tolstoi und Zola bloß ›naturalistischcharakterisierend‹, ›sozusagen mechanisch‹ und nicht, wie später, »in der symbolischen Art der Musik.«93 Diese Darstellung ist angezweifelt worden, schon die Verwendung der Leitmotive in den Buddenbrooks weise diese symbolische Art auf.94 Das ist wohl nur zum Teil der Fall. Das Familienbuch, in dem Hanno den Schlussstrich zieht mit der Begründung »Ich glaubte... ich glaubte... es käme nichts mehr...« (Bb 576), zählen wohl ebenso wie die Familienhäuser zu den symbolischen Objekten der Erzählwelt, aber hier fehlt eigentlich zumeist die gleich bleibende sprachliche Form, die man von einem Leitmotiv – etwa im Gegensatz zum Symbol – erwarten kann.95 Die Leitmotive im engeren Sinne haben stets eine charakterisierende Funktion, die manchmal Teil des umfassenderen Bedeutungszusammenhangs des Romans sind, z.B. die bläulichen Schatten um _____________ 90
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Grautoff: Thomas Manns Buddenbrooks, S. 250. Von Mann selbst wird auch Schaukals Beschreibung der Leitmotivtechnik stammen: »Eine besondere Eigentümlichkeit sind die Leitmotive, wiederkehrende, der Erinnerung behilfliche, der Verdeutlichung wirksame, festverbundene Charakteristika.« Richard Schaukal: Thomas Mann. Ein literar-psychologisches Porträt, in: Rheinisch-westfälische Zeitung, 9. August 1903 [zitiert nach: Schröter, S. 27f.]. Leopold Schönhoff: Morituri, in: Der Tag. Berlin, Nr. 17, 11. Januar 1902. Vgl. Christoph F. Lorenz: Leitmotiv, in: Harald Fricke u.a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. II. Berlin, New York 2000, S. 399-401. Thomas Mann: Einführung in den Zauberberg, in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. XI, S. 602-617, hier 611. Børge Kristiansen: Das Problem des Realismus bei Thomas Mann, in: Helmut Koopmann (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch, S. 823-835. Einen weiten Begriff des Leitmotivs, der sich dann auch nicht vom Symbol abgrenzen lässt, verwendet Ernst Keller, dessen Aufzählung auch die wichtigsten Leitmotive im engeren Sinne aufführt; vgl. Ernst Keller: Leitmotive und Symbole, in: Moulden, von Wilpert (Hg.): Buddenbrooks-Handbuch, S. 129-143.
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die Augen, die bei Thomas Buddenbrooks Frau Gerda und ihrem Sohn Hanno so häufig genannt werden. Ebenso häufig aber lässt sich ein solcher Zusammenhang kaum ungezwungen herstellen, z.B. im oben genannten Beispiel der Frau Stuht, die ›in den ersten Kreisen verkehrt‹. Fassen wir zusammen: Ausgehend von einer Konzeption des literaturwissenschaftlichen Begriffs des modernen Romans als dynamisch expandierendes Feld von Schreib- und Autorenstrategien wurde – als ein erster Schritt einer solchen Analyse – die zeitgenössische Rezeption der Buddenbrooks eingehender auf darin als auffällig markierte Strategien, dazu zählt auch die zeitgenössische Wahrnehmung von Modernität, hin ausgewertet. Thomas Manns erster Roman weist, so das Ergebnis, Strategien auf, die 1901 eine Relationierung zu modernen und sehr modernen sowie, gleichzeitig, zu traditionellen und sogar klassischen Strategien nahelegt. Beispiele für das Erste sind etwa das Verfallsthema, mit seinen Bezügen zum Modephilosophen Nietzsche, der Kaufmannsroman mit seinen modernen skandinavischen Vorbildern, das Schicksalhafte der Handlung, ähnlich wie vergleichbar kausal und zugleich final motivierte Texte der Jahrhundertwende, oder die ausführlichen, psychologisch deutbaren Beschreibungen, die in der Tradition des Naturalismus gesehen werden konnten. Beispiele für Letzteres sind etwa die epische Darstellungsweise oder das Chronikartige des Romans. Ungewöhnlich waren der Umfang des Romans und, damit verbunden, seine objektive Erzählweise und die komplexe humoristisch-ironische Erzählhaltung in Verbindung mit der pessimistischen Grundstimmung. Die demonstrative Sprachartistik wurde nur von einigen zeitgenössischen Rezensenten als modern wahrgenommen, von fast allen aber bemerkt; entsprechend schnell ging sie in die Fremdbeschreibung des Autors und die Zuweisung zu seinem Platz im literarischen Feld ein. Insgesamt erlaubt der hier gewählte Modernebegriff mit seiner Unterscheidung zwischen Objekt- und Metasprache in Kombination mit dem Begriff des literarischen Feldes eine sehr viel genauere historische Beschreibung dessen, was die Buddenbrooks in den Augen der Zeitgenossen und aus der heutigen literaturhistorischen Sicht zu einem modernen Roman macht.
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Der Entwicklungsroman als Farce. Robert Walser: Jakob von Gunten. Ein Tagebuch (1909) Nicht wenige der bedeutenderen Romane der Moderne stammen von Autoren, die sich eigentlich einer anderen Gattung, einem anderen Genre verschrieben hatten. Auch Robert Walser (1878–1956) ist kein typischer Romancier, er ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts neben Franz Kafka wohl der bedeutendste Verfasser der kurzen Prosa. Vielleicht sind gerade deshalb die drei in Berlin entstandenen Romane des schweizerischen Autors so bemerkenswert in ihrer Struktur, die sich konsequent abhebt von den vertrauten Mustern. In einem enormen Arbeitspensum, innerhalb von bloß drei Jahren schafft Robert Walser das Romanwerk, das ihn berühmt macht: Geschwister Tanner (1907), Der Gehülfe (1908) und Jakob von Gunten (1909). Die drei Romane konstituieren eine Trilogie,1 wie sie in gleicher Weise vertraute Identitätsbilder zitieren, dann destruieren. Dabei entstehen andere Entwürfe – und alle setzen sich vor allem kritisch auseinander mit der Kategorie der Identität. Das ironische Spiel mit der bürgerlichen Idee vom unverwechselbaren Selbst des Menschen wird am deutlichsten im letzten Teil der Trias, in Jakob von Gunten. Geradezu eilig arbeitet sich Robert Walser ab an einer Gattung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts verdächtig geworden ist. Diese »bürgerlichen Ausdeutungen der Lebensvorgänge«2 wollte man nicht mehr. Hegel konnte über den Roman, die »moderne bürgerliche Epopöe«,3 noch schreiben, dass sie »Lehrjahre« erzähle, »die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit«.4 Als Robert Walser seine Berliner Romane _____________ 1 2 3 4
Vgl. dazu auch: Diana Schilling: Robert Walser. Reinbek b. Hamburg 2007, S. 45-53. Aus den Merksprüchen der Blätter für die Kunst. Folge VII (1904), S. 3. Zitiert nach: Jahrhundertwende. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1890–1910. Hg. v. Erich Ruprecht u. Dieter Bänsch. Stuttgart 1981, S. 78. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Das Epos als einheitsvolle Totalität, in: Ders.: Werke. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Bd. XV: Vorlesungen über die Ästhethik III. Frankfurt a.M. 1993, S. 373-393, hier S. 392. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Das Romanhafte, in: Ders.: Werke. Bd. XIV: Vorlesungen über die Ästhethik II. Frankfurt a.M. 1986, S. 219f., hier S. 220.
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schreibt, gibt es bereits die modernen Epen, die ein desillusioniertes Bild solcher Entwicklungsfähigkeit zeichnen. Woldemar von Stechlin in Fontanes letztem Roman ist bereits einer jener Helden der Moderne, die gar keine Auseinandersetzung mit der Gesellschaft mehr führen, ist derjenige, der »oft bestimmbar« ist und »auch nicht geistig bedeutend genug, um sich […] wehren zu können«.5 Und Thomas Buddenbrook versteht die sich wandelnde Gesellschaft nicht und ist deshalb der Verlierer. Die für die Romanpoetologie so zentralen Kategorien wie ›Individuum‹ und ›Identität‹ ändern ihre Semantik im geschichtlichen Prozess. Aus der bürgerlichen Geschichte ist der Roman spätestens seit der Romantik nicht mehr wegzudenken, in den Romanen manifestiert sich die deutsche Kulturgeschichte wie sonst wohl nirgendwo. Ein Thema aber war der Roman um 1900 bloß für diejenigen, die ihn nicht wollten. Viele derjenigen, die die literarische Avantgarde der Jahrhundertwende zu repräsentieren meinten, wollten keine Romane. Das galt insbesondere für den Kreis um Stefan George, besonders ausgeprägt war die ablehnende Haltung gegenüber dem Roman bei den Autoren der Wiener Moderne.6 ›Bürgerlich‹ war grundsätzlich verdächtig, wie sollte es da nicht die bürgerlichste aller Gattungen sein. Der Roman schien doch nie etwas anderes als abgeschilderte Bürgerlichkeit, deren Inhalt die Einsicht darein ist, dass die Gesellschaft, die man den eigenen Vorstellungen gegenüber als feindlich betrachtet, eben doch auch die eigene ist. Eine solche Reflexion bürgerlicher Befindlichkeit ließe sich auch emphatischer beschreiben. Hegel aber hat den Roman in seinen ästhetischen Vorlesungen eher marginal verhandelt, zugleich jedoch sehr pointiert das Wesentliche der von ihm wenig geschätzten Gattung zusammengefasst. Wie seine Zeitgenossen hat auch er sich an dem Muster von Wilhelm Meisters Lehrjahre orientiert. Die Auseinandersetzung des Individuums mit der Gesellschaft, die Festlegung der eigenen Position in einer fremden Umgebung: Am Ende des 19. Jahrhunderts wollen viele solche Geschichten offenbar nicht mehr. Wohl schon wegen des Ausgangs nicht. Denn das Ende solcher Lehrjahre besteht darin, daß sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt, und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt.7
Die projektierte Entwicklung war nicht denkbar in einer Gesellschaft, die man nicht mehr als vernünftig, zunehmend aber als fremd erfuhr. Die vielen Verlierer in Robert Walsers Romanen aber erscheinen in ihrer ironi_____________ 5 6 7
Theodor Fontane: Der Stechlin [1898]. Stuttgart 1987, S. 317. Vgl. dazu mit anschaulichen Beispielen Viktor Žmegaÿ: Die Wiener Moderne und die Tradition literarischer Gattungen, in: Hofmannsthal-Jahrbuch 5 (1997), S. 199-216. Hegel: Das Romanhafte, S. 220.
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schen Gestalt bereits als die Überlegenen in einer zugrunde gerichteten Gesellschaft. Gewissermaßen oktroyiert der Roman die Diskussion des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. Reduziert auf die Banalität solcher Zusammenhänge in seiner stofflichen Struktur musste der Roman nach vielen Jahrzehnten einer begeisterten Rezeption jener Lebensabschilderungen, die stets auch zum Spiegel tauglich sind, einer Überprüfung unterzogen werden. Wahrgenommen wurde um 1900 der realistische Roman nur noch in »seiner scheinbar so unproblematischen, übersichtlichen und leicht faßlichen Wirklichkeitsdarstellung«, wobei doch »der Roman der ›erzählbaren‹ Welt lediglich eine Episode darstellte.«8 Dabei erlebte der Roman noch eine Radikalisierung dieses Bezugs zur Wirklichkeit am Ende des 19. Jahrhunderts, im Naturalismus stand er »im Bann der streng gewahrten Illusion des Tatsächlichen; Erzählen war bruchlose mimetische Simulation«.9 Mimesis und Kunst wurden durch die Verächter der traditionellen Romanliteratur zu Gegenbegriffen der Jahrhundertwende. Die Romane verändern sich in dem Maße, wie die bürgerlichen Kategorien brüchiger werden. Die Literaturgeschichte ist hier auch die Geschichte wachsenden Misstrauens gegenüber der Zielgerichtetheit in epischer Breite erzählten Lebens. Die Lust am Roman ist in den vergangenen 200 Jahren wohl die dominierende Literaturerfahrung. Die fiktive Biographie ist denkbar als Fluchtraum desjenigen, der sich selbst an das andere Leben delegiert, das gilt für den Autor wie für den Rezipienten, für den sich potentielle Spiegelwelten öffnen. Die Romane der Moderne brechen dieses Rezeptionsmuster auf, indem sie Figuren hervorbringen, die zur Identifikation untauglich werden – wie in Robert Walsers Roman Jakob von Gunten den Eleven einer Dienerschule als besonders plakative Variante. Gattungsgeschichtlich knüpft der Roman Jakob von Gunten an den Bildungs- bzw. Erziehungsroman an. Unmittelbarer noch ist seine Zugehörigkeit zum zeitgenössisch weit verbreiteten Schülerroman – in jedem Fall scheint sich in der Vorstellung vom Leitbild des Dieners die Darstellung von Entwicklungs- und Bildungsfähigkeit des Einzelnen in einer Farce aufzulösen.10 Mit seinem ersten Berliner Roman Geschwister Tanner waren wichtige Vorzeichen gesetzt worden: Robert Walser konnte sich als Romanautor etablieren. Das erste Tausend der Auflage war in kurzer Zeit verkauft. Christian Morgenstern, Lektor bei Bruno Cassirer, war in Berlin Robert _____________ 8 9 10
Viktor Žmegaÿ: Der europäische Roman. Geschichte seiner Poetik. Tübingen 1990, S. 255. Žmegaÿ: Der europäische Roman, S. 256. Zur literaturgeschichtlichen Bedeutung des Jakob von Gunten als Schulroman vgl. Matthias Luserke: Schule erzählt. Literarische Spiegelbilder im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 1999, S. 91-99.
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Walsers wichtigster Fürsprecher. An den Verlagschef schrieb Morgenstern über die erste Hälfte des Romans, er habe »selten etwas in seiner Art so Schönes gelesen«11 und verglichen etwa mit Hermann Hesses Roman Peter Camenzind sei Geschwister Tanner der bedeutendere. Dieses Urteil war wichtig, denn Hermann Hesse hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit seinen Romanen bei den Zeitgenossen Maßstäbe gesetzt. Das zeigen auch die Erinnerungen Robert Walsers, der mehr als dreißig Jahre später erzählt: Ich hätte ein wenig Liebe und Trauer, ein wenig Ernst und Beifall in meine Bücher mischen sollen – auch ein wenig Edelromantik, wie es Hermann Hesse im Peter Camenzind und im Knulp getan hat. Sogar mein Bruder Kari hat mir das gelegentlich auf zarten Umwegen vorgehalten.12
Damit war der Rahmen deutlich abgesteckt, in dem man sich als Romanautor zu Beginn dieses Jahrhunderts bewegte: Begrenzt wurde dieser Rahmen einerseits durch die literarische Avantgarde, eine intellektuelle Minderheit, in deren Kreise aufgenommen zu werden zumindest einen kurzzeitigen Erfolg versprach – und andererseits durch ein breites Publikum, das ganz andere Maßstäbe setzte. Robert Walser hat das sehr kritisch gesehen. Als sein »Verhängnis« bezeichnete er Carl Seelig gegenüber den Vergleich, dem er sich als Autor für ein breiteres Publikum ausgesetzt sah. Für seine Kritiker habe es nur ein »Entweder-Oder« gegeben: »Entweder du schreibst wie Hesse oder du bist und bleibst ein Versager.«13 Die Bitterkeit, die sich in solche Erinnerungen mischt, ist aus den unmittelbaren Zeitumständen der 1930er und 1940er Jahre erklärlich. Denn da war die große Zeit Hesses erst gekommen, während Walser das Schreiben schon lange aufgegeben hatte. In jenen Berliner Jahren freilich waren die Vorzeichen andere. Mit Geschwister Tanner war Robert Walser angekommen in der Szene, man sah nun auch in ihm einen Repräsentanten der neuen Kunst. Das Vertrauen, das man in diesen Newcomer aus der Schweiz setzte, war groß. Dazu kam gewiss das hohe Ansehen, das Walsers Bruder Karl bereits in Berlin genoss. Ihm war Robert Walser im März 1905 in die deutsche Metropole gefolgt – sie schien der geeignete Ort für einen freien Schriftsteller. Und die angesehene Stellung seines Bruders ermöglichte neue Kontakte. Der Maler Karl Walser hatte sich mit Theaterdekorationen, die er für Max Reinhardt gestaltete, bereits einen Namen in der Szene gemacht. 1902 hatte der Künstler seine Bilder in der 1898 gegründeten Berliner Sezession _____________ 11 12 13
Zitiert nach: Jochen Greven: Robert Walser und Christian Morgenstern. Zur Entstehungsgeschichte von Walsers Romanen, in: Katharina Kerr (Hg.): Über Robert Walser. Frankfurt a.M. 1978, Bd. II, S. 255-268, hier S. 256f. Carl Seelig: Wanderungen mit Robert Walser. Neu hg. im Auftrag der Carl-Seelig-Stiftung u. mit einem Nachwort versehen v. Elio Fröhlich. Frankfurt a.M. 1977, S. 43. Alle Zitate Seelig: Wanderungen, S. 15.
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ausgestellt. Mit deren Gründer, Max Liebermann, war er befreundet. Und schließlich hatte er große Erfolge auch als Buchillustrator, arbeitete unter anderem für Samuel Fischer und Bruno Cassirer, der dann auch Robert Walser zu seinem ersten Roman animierte. Aber im Laufe der gemeinsamen Berliner Jahre wurden sich die Brüder zunehmend fremd. Karl Walser hatte sich hervorragend arrangiert mit dem Leben in der Großstadt, Robert Walser dagegen begann sich zurückzuziehen. Der Misserfolg seines Romans Jakob von Gunten trug wesentlich dazu bei. Insgesamt ging die Zahl seiner Veröffentlichungen stark zurück. Robert Walser hat nie für den Zeitgeschmack geschrieben, in Berlin hatte er, mit den ersten beiden veröffentlichten Romanen, wohl eher zufällig den Geschmack der Zeit gekreuzt. Das emotionslose Erzählen des Lebens, des Alltäglichen – er wusste selbst, dass er damit den Erwartungen des Publikums nicht entsprechen konnte. Als Robert Walser durch die Fürsprache Max Liebermanns von Paul Cassirer als Sekretär der Berliner Sezession angestellt wurde, zeichnete sich bald ab, dass auch dies ein Rahmen war, in den sich Walser nicht fügen konnte. Diese Anstellung war nur ein Gastspiel im Frühjahr 1907. Sie passte nicht zu ihm – wie das Leben in Berlin überhaupt. An seine Schwester Fanny schrieb er im Juli 1908 lapidar: »Die Sekretärstelle hat dieses Jahr ein Anderer, ein viel eleganterer Kerl als ich bin.«14 In seinem Roman Der Gehülfe ist die Flüchtigkeit beruflicher Existenz zum Thema geworden. Bereits auf stofflicher Ebene ist eine Linie erkennbar: Wurden am Beispiel der Geschwister Tanner die Möglichkeiten beruflicher Existenz als Identität durchgespielt, ist dem Gehilfen als dem beruflich Unspezifischen bereits die Möglichkeit solcher Identität abgesprochen. Der Diener hat dann die Funktion fremder Identität. Hinter dieser vollkommenen Negation verbirgt sich aber bereits Walsers gesellschaftskritisches Programm. Die desillusionierende Ergebnislosigkeit des Romans Der Gehülfe wird noch einmal gesteigert im letzten Teil von Walsers ›Trilogie‹, wenn am Schluss des Jakob von Gunten, jegliche Aufklärung negierend, der Rückschritt zum Programm erhoben wird. Innerhalb der Trilogie ist der letzte der Berliner Romane der reflektierteste. Und er ist politischer als die anderen. Der Roman erzählt die Geschichte des Zöglings Jakob von Gunten, der seine Familie verlässt, seine aristokratische Herkunft verleugnet und in ein Berliner Erziehungsinstitut, eine ›Dienerschule‹, eintritt. Über diese Zeit führt er Tagebuch. Es ist eine Anstalt für künftige Untertanen. »Wir lernen die Vorschriften, die hier herrschen, auswendig.« Und: »Es gibt nur _____________ 14
Robert Walser: Briefe. Hg. v. Jörg Schäfer unter Mitarbeit v. Robert Mächler. Genf 1975, S. 54.
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eine einzige Stunde, und die wiederholt sich immer. ›Wie hat sich der Knabe zu benehmen?‹«15 Gleich zu Beginn zeichnet der Roman mit unverkennbarer Ironie den Gegenentwurf zum Bild einer selbstbestimmten Identität: »Klein sind wir, klein bis hinunter zur Nichtswürdigkeit.« (G 8) Manfred Engel hat bereits 1986 den Vergleich des Jakob von Gunten mit Kafkas Roman Der Verschollene zum Anlass genommen, eine ›moderne‹ Tradition nachzuzeichnen: Jakob von Gunten stehe demnach in einer »Reihe mit all den anderen ›Verlorenen Söhnen‹, deren Absage an die Vaterwelt im frühen 20. Jahrhundert ein gängiges Mythologem für einen autonomen Subjektivitätsentwurf jenseits aller Traditionen, Werte, Institutionen, Sachzwänge, ja Bindungen überhaupt abgibt«.16 Die Gemeinsamkeit von Franz Kafka und Robert Walser, so Engel, bestehe in der »Analyse und Kritik neuzeitlicher Subjektivität«. Paradoxerweise falle »die schärfste Kritik am neuzeitlichen Ich«17 gerade in eine Zeit, in der die bürokratisierte und technisierte Industriegesellschaft an der Zerstörung von Individualität arbeite. Robert Walser entwickelt seine Idee vom Klein-Sein in einer Zeit, die das Gegenteil als Ideal propagiert. Der Autor selbst erfuhr im Berlin des beginnenden 20. Jahrhunderts am unmittelbarsten, wie sehr das Groß-Sein zu einem signifikanten Kennzeichen der Moderne geworden ist. Das Großmachtstreben des Deutschen Kaiserreichs, der Militarismus, der Imperialismus waren spürbar – an jeder Straßenecke, die eines der unzähligen Standbilder aufweist. Von 1900 bis 1903 »wurde der Platz westlich des Brandenburger Tors mit Denkmälern für Kaiser Friedrich III. und die Kaiserin Viktoria im Sinne eines geschlossenen dynastisch-hohenzollerschen Denkmalsprogramms umgestaltet«.18 »Berliner Denkmalstopographie« stand im ganzen Reich »unangefochten an der Spitze«.19 Es musste ein ungewohnter Anblick sein für den Fremden aus der Schweiz. In den intellektuellen Zirkeln spricht man über Nietzsche, ›Machtphilosophie‹ wird ein zentraler Begriff. Und Darwin ist noch immer populär, seine 1859 veröffentlichte Evolutionstheorie wird in einer vergröbernden Rezeption die Politik des 20. Jahrhunderts prägen. Größe ist eine allgemeine Stimmung, auch eine abstrakte Idee, eine Hoffnung vor allem. _____________ 15 16 17 18 19
Robert Walser: Jakob von Gunten. Ein Tagebuch, in: Ders.: Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hg. v. Jochen Greven. Bd. XI. Zürich, Frankfurt a.M. 1985/86, S. 8f. Im Folgenden mit der Sigle G belegt. Manfred Engel: Außenwelt und Innenwelt. Subjektivitätsentwurf und moderne Romanpoetik in Robert Walsers Jakob von Gunten und Franz Kafkas Der Verschollene, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 30 (1986), S. 533-570, hier S. 536. Engel: Außenwelt und Innenwelt, S. 534f. Wolfgang Hardtwig: Geschichtskultur und Wissenschaft. München 1990, S. 268. Hardtwig: Geschichtskultur und Wissenschaft, S. 269.
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In dieser Atmosphäre des Monumentalen also entwickelt Walser seine Vorstellung vom Klein-Sein. Die Programmatik wird bereits in den ersten Sätzen des Romans ausgestellt: Man lernt hier sehr wenig, es fehlt an Lehrkräften, und wir Knaben vom Institut Benjamenta werden es zu nichts bringen, das heißt, wir werden alle etwas sehr Kleines und Untergeordnetes im späteren Leben sein. Der Unterricht, den wir genießen, besteht hauptsächlich darin, uns Geduld und Gehorsam einzuprägen, zwei Eigenschaften, die wenig oder gar keinen Erfolg versprechen. (G 7)
Zukünftige Diener werden so erzogen. Doch in der Art, wie die Charaktere hier gezeichnet werden, überdeutlich als Karikaturen ihrer selbst, und in der Ironie, wie die Idee des Dienens hier überhöht wird, ist die ›DienerIdee‹ in ihrer herrschaftskritischen Zielrichtung leicht auszumachen. Dieter Borchmeyer hat sie bereits 1980 so definiert: »Dienen als verborgenes Herrschen, als eine Art umgestülpter Aristokratismus«.20 Zugleich erscheint der Diener auch als angemessener Kommentar zu einer Debatte, welche die Moderne nachhaltig geprägt hat. Für die Jahre um 1900 wird gemeinhin ein kategorialer Bruch im Verhältnis des Menschen zur Gesellschaft konstatiert. Dabei hat bereits Hegel, der das Subjekt auch nicht sah, aber doch denken konnte, erklärt, wie der Mensch fremd wird in der Gesellschaft, sich entfremdet von dem Verhältnis, in dem er doch Identität finden sollte. Mit der Wahrnehmung veränderter Bedingungen für die Ausprägung von Identität beginnt die Neudefinition des Subjekts. Darauf zielt auch Luhmann mit der Überlegung, »daß die gesellschaftliche Evolution tatsächlich eine Individualitätssemantik produziert in dem Maße, als sie gesellschaftliche Strukturen ändert«.21 Bedeutsam ist sein geschichtliches Erklärungsmodell. Nach Luhmann ändert sich die Semantik der Kategorien ›Individuum‹ und ›Identität‹ bereits im 18. Jahrhundert. Mit dem Wandel der Ständegesellschaft zur funktional differenzierten Gesellschaft lasse sich Identität nicht mehr über ›Inklusion‹, das heißt die gesellschaftliche Zugehörigkeit, herstellen, sondern über ›Exklusion‹: Identität meint jetzt den ›eigentlichen Menschen‹, der nicht mehr in den unterschiedlichen Rollen verschiedener gesellschaftlicher Teilbereiche, unterschiedlicher sozialer Subsysteme aufgehen kann. Identität wird zu einer privaten Aufgabe. Freilich vollzieht sich diese Entwicklung sukzessive, der Mensch konnte sich im 19. Jahrhundert noch über den Beruf, vor allem die Familie definieren. Um 1900 zerfallen die letzten »Relikte der alten Inklusionsidentität« und »lösen so eine Krise der individuellen Handlungsregulierung _____________ 20 21
Dieter Borchmeyer: Dienst und Herrschaft. Ein Versuch über Robert Walser. Tübingen 1980, S. 1. Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1989, Bd. III, S. 154.
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aus«.22 Es scheint, als ginge mit dem historisch begründbaren Verlust der Identität des Menschen dem Roman sein Gegenstand verloren. Das »allgemeine Individuum, der selbstbewußte Geist«23 bleibt als Korrektiv erhalten, auch über die Jahrhundertschwelle 1900 hinweg. Weil die Idee als Korrektiv den historisch rekonstruierbaren gesellschaftlichen Wandlungsprozessen nicht unterworfen ist. Die aber sieht Luhmanns Denken nicht vor. Die Systemtheorie nimmt den historischen Wandel zur Kenntnis, beschreibt die »Evolution des Gesellschaftssystems« als die eines »Übergangs von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung«, wobei sich die »Semantik der Individualität«24 entsprechend verschiebt. Die Vorstellung des Subjekts, der Sich-Selbst-Setzung des Individuums, verliert sich notwendigerweise in der Annahme eines Systembegriffs, der von sozialen Systemen wiederum ausgeht, »in denen der einzelne sich[!] sozialisiert«.25 Nach Luhmann kann der Einzelne in der zivilisierten, modernen Gesellschaft »nur außerhalb der Gesellschaft leben, nur als System eigener Art in der Umwelt der Gesellschaft sich reproduzieren, wobei für ihn die Gesellschaft eine dazu notwendige Umwelt ist«.26 Stimmte das, so trüge die Vorstellung vom sich entwickelnden Individuum, die Vorstellung vom Subjekt schon deshalb nicht, weil sie von falschen Prämissen ausginge – davon, dass sich Individualität weiterhin über Inklusion definiere. Systemtheoretisch aber verdankt sich, wie bereits dargelegt, Individualität der sozialen Exklusion. Wobei ausdrücklich zugestanden bleibt, dass es »kausale Zusammenhänge« gibt, dass »nach wie vor […] Menschen nur in sozialen Zusammenhängen leben«27 können. In der modernen Gesellschaft nehmen zwar die »Alternativen und Wahlmöglichkeiten für den Einzelnen« zu, aber auch mit einer immensen Vermehrung der Hinsichten, in denen man abhängig ist. Die Semantik der Individualität scheint nun geradezu eine kompensatorische Funktion für stärkere Abhängigkeiten zu übernehmen. Das Individuum rettet sich in die Subjektivität und in die Einzigartigkeit als diejenige Beschreibung, die durch keinerlei empirisch-kausale Abhängigkeiten infrage gestellt werden
_____________ 22
23 24 25 26 27
Horst Thomé: Modernität und Bewusstseinswandel in der Zeit des Naturalismus und des Fin de siècle, in: Naturalismus. Fin de siècle. Expressionismus. 1890–1918. Hg. v. YorkGotthard Mix. München 2000, S. 23 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 7). Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorrede, in: Ders.: Werke. Bd. III: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a.M. 1989, S. 11-67, hier S. 31. Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. III, S. 162. Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. III, S. 165. Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. III, S. 158. Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. III, S. 159.
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kann. Es ist bei vermehrten und komplexeren Abhängigkeitsketten in einem radikaleren Sinne mehr Individuum als zuvor.28
Dass um 1900 die letzten ›Relikte der alten Inklusionsidentität‹ zerfallen, hat Robert Walser bereits in seinem ersten Roman Geschwister Tanner erzählt. Am Beispiel des Gehülfen und konsequenter noch des Jakob von Gunten lässt sich dann erklären, wie das traditionelle Identitätsmodell aufgeht in neue Vorstellungen von gesellschaftlichen Positionen: Der Gehilfe und der Diener sind ja bereits in ihrer Identität reduziert auf ihre Zugehörigkeit zu anderen, beide sind nur systemisch denkbar, vereinzelt büßen sie mit ihrer Funktion auch ihre Daseinsberechtigung ein. Während der Gehilfe in Walsers zweitem Roman aber bloß eine vorübergehende Erscheinung ist, ist im Diener-Verständnis, das der Roman Jakob von Gunten zeigt, bereits das Zerrbild von Identität auszumachen – im Dasein für andere das größte Maß an Wesenhaftigkeit zu erlangen. Der Diener ist zum Topos in Walsers Werk geworden, erklärt wird er am genauesten im Fragment gebliebenen Räuber-Roman (1925), dem letzten Versuch eines großen Epos: Denn sobald jemand Miene macht, mir gegenüber sich zum Meisterlein zu erheben, fängt etwas in mir an zu lachen, zu spotten, und dann ist es natürlich mit dem Respekt vorbei, und im anscheinend Minderwertigen entsteht der Überlegene, den ich nicht aus mir ausstoße, wenn er sich in mir meldet.29
Im bewusstseinsgeschichtlichen Kontext der Jahrhundertwende hat die Diener-Idee auch eine philosophische Dimension, ist lesbar als Gegenformel zu Nietzsches Machtphilosophie. Als »Willen zur Ohnmacht« hat Borchmeyer die »Lebenstendenz«30 bezeichnet, wie sie im Jakob von Gunten beschrieben sei. Vor dem Horizont der allseits beschworenen ›Identitätskrise‹ und dem beklagten ›Tod des Subjekts‹ werden mit den Außenseitern neue Vorstellungen vom Ich geprägt. Nietzsche hat sich den Außenseiter oben gedacht, Walser ganz unten – gegen das gültige Zeitbild. Handelten bereits Geschwister Tanner und Der Gehülfe vom Diener als Außenseiter, so ist das Dienertum in Jakob von Gunten nicht bloß Kennzeichen einer ganz eigenen Perspektive, sondern ein Medium, das gesellschaftliche Zusammenhänge transparent macht, den historischen Standort des Menschen erklärt. Die Dienerschule als Modell des autoritären Staates, dessen Macht durch die dem Roman immanente Komik entmystifiziert wird. _____________ 28 29 30
Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. III, S. 160. Robert Walser: Der Räuber, in: Ders.: Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hg. v. Jochen Greven. Bd. XII. Zürich, Frankfurt a.M. 1986, S. 144. Borchmeyer: Dienst und Herrschaft, S. 62.
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Über der Türe […] hängt als Wandschmuck ein ziemlich langweilig aussehender Schutzmannssäbel mit dito quer darüber gelegtem Futteral. Darüber thront der Helm. Diese Dekoration mutet wie eine Zeichnung oder wie ein zierlicher Beweis der Vorschriften an, die hier gelten. (G 35)
Und: »Außer diesen Verzierungen hängen im Schulzimmer noch die Bilder des verstorbenen Kaiserpaares.« Hier werden die Insignien der Autorität bereits der Vergangenheit zugeordnet, um deren Restauration – »alle vierzehn Tage werden Säbel und Helm heruntergenommen, um geputzt zu werden« (G 35) – man noch immer angestrengt bemüht ist. Die feierlichen Denkmalsenthüllungen aber setzen sich fort. Die Folgen des so immer sichtbarer werdenden nationalen Größenwahns wird Walser dann aus der Distanz erleben. Ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs wird er Deutschland verlassen. Matthias Luserke hat die Diener-Idee noch in einem anderen Kontext gesehen, indem er Jakob von Gunten als »Zivilisationsmetapher« liest: Mit diesem Roman legt der Autor eine unmißverständliche Kritik an der neuen, modernen Gesellschaftsform des 20. Jahrhunderts vor, die den Menschen wieder zum Sklaven mache. Der technische und kulturelle Fortschritt bedeute in Wirklichkeit einen zivilisatorischen Rückschritt. Die Verfeinerung der sozialen Kommunikation bringe lediglich eine Verfeinerung der Unterdrückungs- und Machtapparaturen mit sich.31
Die Diener-Idee ist als Programmatik nur verstehbar im Kontext von Walsers ironischem Stil. Er ist lange Zeit unverstanden geblieben, auch deshalb reagierten die Zeitgenossen mit Unverständnis, regten sich auf über das vermeintlich ›kraft- und saftlose Geschreibe in den Tag hinein‹.32 In seinen Frankfurter Vorlesungen hat Martin Walser versucht, die Eigenart des Stils des schweizerischen Schriftstellers am Beispiel des Jakob von Gunten deutlich zu machen: Dagegen haben wir es bei Robert Walser, dem Kritiker und Kollegen, die die Gunten-Maske nicht begriffen haben, gern Plauderhaftigkeit und Geschwätzigkeit vorwarfen, mit einem ironischen, also verschwiegenen System zu tun. So verschwiegen wie nur noch bei Kafka.33
In der Enthierarchisierung der Sprache, dem Verzicht auf Chronologie hat Martin Walser die Besonderheit des Schreibens Robert Walsers auszumachen versucht: »Das gibt eine Ahnung von Ironie als Stil: in einem Vokabular, in einem Satzbau, in dem es sonst in allen Büchern der Welt auf_____________ 31 32 33
Luserke: Schule erzählt, S. 98f. Vgl. Josef Hofmiller: Jakob von Gunten. Gedichte [1909], zitiert nach: Kerr (Hg.): Über Robert Walser, Bd. 1, S. 51. Martin Walser: Selbstbewußtsein und Ironie. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt a.M. 1981, S. 130.
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wärts und vorwärts geht, wird hier mitgeteilt, daß sich etwas ganz anderes begibt, Dummheit darf sich ausbreiten.«34 Jakob von Gunten ist der abstrakteste Roman Walsers, nirgendwo sonst arbeitet Walser so konsequent allegorisch. Auffällig sind auch die vielen Anspielungen auf die Bibel; sie erklären, im Zusammenhang gelesen, das Anliegen des Romans. Als Joseph von Ägypten denkt sich Jakob von Gunten den Mitschüler Kraus – den Prototypen des richtigen Dieners. Man bringt ihn zu einem schwerreichen, redlichen und feinen Mann. Da ist er nun Haussklave, aber er hat es ganz schön. Bis die Hausherrin auf ihn aufmerksam wird: Wie merkwürdig, daß man solche uralten Treppen- und Türensachen heute genau noch weiß, daß es in alle Zeiten, von Mund zu Mund, fortlebt. (G 78)
Bekanntlich verweigert sich Joseph und die verschmähte Hausherrin klagt ihn beim Ehemann an: »Aber weiter weiß ich nichts. Merkwürdig, ich weiß nicht, was jetzt Potiphar sagte und machte.« (G 78) Weil sich der treue Diener seinen Herrn gnädig, vor allem aber gerecht denken muss, wird hier nicht verraten, was ohnehin jeder weiß; dass sich im Zweifelsfall die Herrschenden doch gegen die Beherrschten verbünden. Und die Koketterie des Nichtwissens unterstreicht das historische Bewusstsein nur. An zentraler Position, in der Mitte des Romans, wird so die Ideologie vom glücklichen Diener zerstört. »Kraus ist ein echtes Gott-Werk, ein Nichts, ein Diener.« (G 81) Der Wissbegierige ist es nicht, auch nicht der Widerständige: Der hat sich am Baum der Erkenntnis (des Guten und Bösen) die Gnade verscherzt. Was über Kraus geschrieben wird, wendet die Ironie in Zynismus. Der das schreibt, zweifelt an allem, was von außen Segen bringen soll: Er hat nichts anderes im Sinn, als zu helfen, zu gehorchen und zu dienen, und das wird man gleich merken und wird ihn ausnutzen, und darin, daß man ihn ausnutzt, liegt eine so strahlende, von Güte und Helligkeit schimmernde, goldene, göttliche Gerechtigkeit. (G 82)
Kraus ist der Diener, der nicht gemeint ist, wenn es um Walsers DienerIdee geht. Die Gartenmetaphorik zitiert die Genesis, es ist zugleich der Anspielungshorizont der Aufklärung. »In den wirklichen Garten zu gehen ist verboten«, in dem hauseigenen Lehrbuch findet Jakob dafür aber den Satz: »›Das gute Benehmen ist ein blühender Garten.‹« (G 83) Später erfährt man vom Reiz »verbotener Früchte«, und wenn Jakob gleich darauf notiert, dass »jetzt« vielleicht »zwischen Herrn Benjamenta und mir etwas wie eine beiden Teilen sichtbare, verbotene Frucht« (G 105) schwebe, dann ist die Komplexität eines Verhältnisses angedeutet, das sich nur noch _____________ 34
M. Walser: Selbstbewußtsein und Ironie, S. 122.
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vordergründig als dasjenige von Diener und Herr darstellen lässt. Jakob hat die verbotene Frucht noch nicht probiert, aber er sieht sie bereits. Die geradezu ausgestellten Bilder vom Ende des unschuldigen Daseins im Paradies schaffen den Hintergrund, vor dem die Ironie des Romans verstehbar wird. Am Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich als zentrale Position des Idealismus eine säkularisierte Lesart der Genesis durchgesetzt. Schiller nahm unmittelbar Bezug auf Kant, als er in seiner Abhandlung Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde schrieb, der »Sündenfall« des Menschen sei die »erste Aeußerung seiner Selbstthätigkeit, erstes Wagestück seiner Vernunft, erster Anfang seines moralischen Daseyns«.35 War der Garten Eden längst ein Ort auch der Aufklärung, so ist das Wüstenbild am Ende des Romans jenseits aller apokalyptischen Konnotationen ein ironischer Kommentar jener bürgerlichen Aufklärungseuphorie: »Ich gehe mit Herrn Benjamenta in die Wüste.« Und das Bild konsequent weitermalend: »Weg jetzt mit dem Gedankenleben.« (G 164) So plakativ und ironisch zugleich hatte Walser in keinem seiner Berliner Romane mit den Grundwerten der bürgerlichen Gesellschaft gespielt. Dieses Spiel, weniger sein Inhalt, macht die Modernität des Jakob von Gunten aus. Cogito ergo sum? »Jetzt will ich an gar nichts mehr denken.« (G 164) Denkt Jakob zuletzt. Das Denkverbot zählt zu den Topoi in Robert Walsers literarischem Werk. Im Roman Jakob von Gunten wird die Ironie des aufklärungsskeptischen Programms deutlich. Wo dagegen in den Briefen die Positionen der literarischen Texte wiederkehren, offenbart sich das Andere – als abweichender Ton gelegentlich. Vor allem aber in der Verschiedenheit der Kontexte: Das Denkverbot zum Beispiel überzeugt in den Texten als Konsequenz aus dem differenzierten Blick auf die Zementierung bürgerlichaufklärerischer Positionen bei ihrer gleichzeitigen Entwertung. In den Briefen misslingt der Gedanke durch seine (weitgehend) literarische Ortlosigkeit. Nur nicht denken. Liebe Lisa, das ist die größte Sünde, die es gibt. Lieber liederlich, als traurig sein. Gott haßt die Traurigen. Doch es geht alles so schnell vorwärts. Man stirbt so schnell. Versimple nur. Es ist etwas herrliches um’s Versimpeln.36
Als Bedingung des Daseins taugt das Denkverbot nicht. In ähnlicher Manier wird Walser ein paar Jahre später seiner Schwester Fanny Walser die Demut empfehlen: »Lege nur allen Stolz ab. Stolz, liebe Schwester, macht unglücklich.« Empfehlungen wie für das Poesiealbum geschrieben: _____________ 35 36
Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. XVII. Tl. 1. Hg. v. Karl-Heinz Hahn. Weimar 1970, S. 399. Robert Walser an Lisa Walser, 1902/03, in: R. Walser: Briefe, S. 19.
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»Nimm Dir nicht Gutes vor, sondern tu das Gute.«37 Auch wenn die Nähe der Briefe zu den literarischen Texten gar nicht bestritten werden soll – zumal die Stofflichkeit als kategoriale Grenze zwischen den Textsorten im Werk Robert Walsers fortwährend negiert wird –, die literarischen Sätze haben einen anderen Ort als den Lebensrahmen. Und das stimmt noch dann, wenn wie so oft gilt, dass die Person auch hinter den Briefen nicht steht. In seinem Roman Geschwister Tanner hat Walser die alten, die verbrauchten bürgerlichen Identitätsmuster bemüht und seine Protagonisten an ihnen scheitern lassen. Der Gehülfe ist eigentlich nur noch eine Funktion, für Joseph Marti bestenfalls ein ›Identitätsrest‹ – eine Stellung bekleidet dieser Gehilfe nicht mehr, der das Haus verlässt, wie er es betreten hatte. Aber er hat als Außenseiter wenigstens noch eine Position; weil er im Turm lebt, ist es die Funktion des Beobachters. Jakob von Gunten schließlich ist die Radikalisierung des ›Prinzips Unten‹; ein ironisches Spiel mit jenem idealistischen Unterbau, dessen Tragfähigkeit in der Moderne nachhaltig in Frage gestellt wird. Nur, wie im Roman in Gegensätzen argumentiert wird, die Extrempositionen besetzen und keine wirklichen Standpunkte sind, wird das dialektische Spiel von Aufklärung und ihrer Destruktion über die Anfänge der Moderne hinaus fortgesetzt. Der letzte der Berliner Romane bereitete den Zeitgenossen Schwierigkeiten: »Solch kraft- und saftloses Geschreibe in den Tag hinein ist nicht zum aushalten.«38 Franz Kafka aber zählte noch zu denjenigen, die sich nach der Lektüre dieses dritten Berliner Romans zustimmend äußerten: »Jakob von Gunten kenne ich, ein gutes Buch.«39 Es ist ein artifizielles Buch, passt eigentlich am besten in die Szene, auch weil es in die Epoche passt, die eigentlich noch gar nicht angebrochen war. Weil sich Jakob von Gunten kaum zuordnen lässt zu den häufig wechselnden Stilphasen, welche die Wende um 1900 hervorgebracht hat, erscheint dieser Roman bereits als ein expressionistischer Text. So korrespondiert das ironische Spiel mit der Identität auf einer anderen Ebene des Romans auch mit der Darstellung des Menschen als entfremdetem. Mit der Aufgabe einer allgemein verbindlichen Form und mit der neuerdings darstellbaren Verselbstständigung der Dinge als Ausdruck jener Entfremdung rückt Walser am Anschaulichsten in die Nähe Franz Kafkas: »Und dann sind wieder die dummen vielen Zigarren in den vielen Schlitzen von männlichen Mundteilen.« (G 38) _____________ 37 38 39
Robert Walser an Fanny Walser, [1905?], in: R. Walser: Briefe, S. 39. Hofmiller: Jakob von Gunten. Gedichte, S. 51. Franz Kafka: Brief an Direktor Eisner [1909], in: Kerr (Hg.): Über Robert Walser, Bd. 1, S. 76.
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Die Zeit des Romanciers ging mit Jakob von Gunten zu Ende, auch wenn sich Walser später noch ein Mal an dieser Gattung versuchte. Man nimmt an, dass er in Berlin drei weitere Roman-Manuskripte verbrannte. Als Carl Seelig ihn Jahrzehnte später darauf ansprach, antwortete Robert Walser: Das ist wohl möglich. Ich war damals darauf versessen, Romane zu schreiben. Aber ich sah ein, daß ich mich auf eine Form kapriziert hatte, die für mein Talent zu weitläufig war. So zog ich mich in das Schneckenhaus der Kurzgeschichte und des Feuilletons zurück.40
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Seelig: Wanderungen, S. 75.
SABINA BECKER
Der Beginn der Moderne im Roman. Rainer Maria Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) Im Januar 1910 vermeldet Rainer Maria Rilke (1875–1926) den Abschluss der Arbeit an seinem ersten (und einzigen) Roman: »Es ist keine halbe Stunde her, seit ich das letzte Wort aus meinem Manuscript diktiert habe«, schreibt er an die Fürstin Marie von Thurn und Taxis. »Wenn mich nicht alles täuscht«, so Rilke weiter, »ist ein neues Buch da, fertig, abgelöst von mir, eingerichtet in seiner eigenen Wirklichkeit«.1 Die passive Wendung ›ist eingerichtet‹ ist sicher nicht ohne Bedacht gewählt, darauf wird zurückzukommen sein.2 Gibt es überhaupt eine exakte Bestimmung des Entstehungsmoments der modernen Romanform bzw. des modernen Romans, so ist es vermutlich diese Aussage Rilkes: Das ›neue Buch‹ sind die 1910 im Druck erschienenen Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, ist also jener Roman, der im Anschluss an Rilkes Paris-Aufenthalt der Jahre zwischen 1906 und 1910 und an die dort erfahrene Moderne entsteht. Tatsächlich lassen sich die Aufzeichnungen von Rilkes Erleben der Stadt Paris, und das meint immer zugleich von der Erfahrung der zivilisatorischen Moderne, kaum trennen. Sie sind »ein Buch, das nur in Paris geschrieben werden konnte«; hier habe er, präzisiert Rilke, »beinahe alles gelernt, was es zu seiner Abfassung bedurfte«.3 Ein derart deutliches Bekenntnis zur Urbanisierung und Urbanität literarischen Schreibens kennt man allenfalls noch von den Dadaisten oder von Alfred Döblin.4 Steht _____________ 1 2
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Rainer Maria Rilke an Fürstin Marie von Thurn und Taxis, 27. Januar 1910, in: Ders.: Briefwechsel. Hg. v. Ernst Zinn. Bd. I. Zürich 1951, S. 10f., hier S. 10. Vgl. auch Rilkes Aussage: »Man muß Paris, wenn man es zum erstenmal um sich hat, mehr wie ein Bad wirken lassen, ohne selbst zuviel dabei tun zu wollen: als zu fühlen und es sich geschehen zu lassen« (Rainer Maria Rilke an Tora Holmström, 29. März 1907, in: Ders.: Briefe aus den Jahren 1906 bis 1907. Hg. v. Ruth Sieber-Rilke u. Carl Sieber. Leipzig 1930, S. 236f., hier S. 236). Rilke zitiert nach: Herbert Günther: Deutsche Dichter erleben Paris. Pfullingen 1979, S. 110. Vgl. Alfred Döblin: Berlin und die Künstler [1922], in: Ders.: Schriften zu Leben und Werk. Hg. v. Erich Kleinschmidt. Olten, Freiburg i.Br. 1986, S. 37-39. Döblin betont hier, sein »Denken und Arbeiten geistiger Art gehört, ob ausgesprochen oder nicht, ausgesprochen zu Berlin. Von hier hat es empfangen und empfängt es dauernd seine entscheidenden
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letzterer im Jahr 1933 am Ende des Urbanisierungs- und Modernisierungsprozesses der Literatur, so markiert Rilkes Roman dessen Beginn. Zumindest bezeichnet Rilke die Metropole Paris als einen »unermeßliche[n] und ununterbrochene[n]« »Anspruch«, als eine »sehr große, fast aufbrauchende Arbeit, die man leistet, ohne es zu merken«; und die ästhetischen Dimensionen einer solchen Arbeit ansprechend fügt er hinzu, sie nehme einem »leise die Werkzeuge aus der Hand, die man bisher benutzte, und ersetzt sie durch andere, unsäglich feinere und präzisere und tut tausend unerwartete Dinge mit einem […]«.5 So explizit hatte bis dahin kaum ein Autor die »Spuren« der städtischen »Erlebnisse«6, so Rilke Maurice Betz gegenüber, in seinen Arbeiten benannt. Mit dem Hinweis auf solche Spuren der Verstädterung der Literatur fixierte Rilke zugleich ein wesentliches Kennzeichen der literarischen Moderne. Denn dieser ist eine urbane Bewusstseinsstruktur inhärent, die Paul Valéry Anfang der 1930er Jahre auf die Formel »Penser PARIS«7 brachte. Doch schon bei Rilke finden sich ähnliche Überlegungen, denn dieser hatte über die von Paris ausgehende Erfahrung in einem Brief an Regina Ullmann vom Dezember 1920 bemerkt: »Mein Leben war zu sehr an gewisse großartige Welt-Orte verpflichtet, als daß ich ihrer noch länger, mindestens im Bewußtsein, entbehren konnte.«8 Die Stadt wird zur Voraussetzung der schriftstellerischen Produktion: Es dürfte nicht übertrieben sein, dieses Geständnis als einen markanten Punkt im Prozess der Etablierung der Moderne im Roman zu bewerten; zumindest ist den Aufzeichnungen abzulesen, dass der Roman der Moderne und in der Moderne das Resultat eines Lernprozesses im Umgang mit der Stadt und mithin der zivilisatorischen Moderne ist. Denn der von Rilke präzisierte Effekt des ›Eingerichtetseins‹ dieses Buchs in seiner eigenen, und das meint vornehmlich städtischen, Pariser Realität leitet das Ende des traditionellen bzw. traditionell erzählten Romans ein; auch impliziert diese Einbindung der Literatur und des literarischen Schreibens in die urbane Lebenswirklichkeit eine neue moderne Form des Romans, die in _____________
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Einflüsse und seine Richtung; in diesem großen nüchternen strengen Berlin bin ich aufgewachsen, dies ist der Mutterboden, dieses Steinmeer der Mutterboden aller meiner Gedanken« (S. 37). Rilke an Tora Holmström, 29. März 1907, S. 236. Maurice Betz: Rilke in Paris. Zürich 1958, S. 95: »In diesem Augenblick war ich weit davon entfernt, zu ahnen, welche Entwicklung die Arbeit nehmen und welche Spuren meine Pariser Erlebnisse schließlich in ihr hinterlassen würden.« Paul Valéry: Présence de Paris, in: Ders.: Œuvres II. Paris 1960, S. 1011-1015, hier S. 1015: »Penser Paris? ... Plus on y songe, plus se sent-on, tout au contraire, pensé par Paris.« Rainer Maria Rilke an Regina Ullmann, 15. Dezember 1920, in: Ders.: Briefe aus den Jahren 1914–1921. Hg. v. Ruth Sieber-Rilke u. Carl Sieber. Leipzig 1937, S. 357-360, hier S. 359.
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ihrer Anlage und Struktur den Titel des Werks und auch seinen Inhalt bestätigt: Es sind »Aufzeichnungen« eines Dichterprotagonisten, dem die Fähigkeit zu erzählen, und das meint zusammenhängend zu erzählen, inmitten der Pariser Stadtwelt und angesichts der Erfahrung einer urbanisierten Moderne abhanden gekommen ist. Erworben hat er sich im Gegenzug in seiner Position als Erzähler eine Eigenschaft, die bis heute ein Merkmal der literarischen Moderne wie auch der Postmoderne geblieben ist: die Fähigkeit der Selbstreflexion bzw. Autoreflexivität, was nicht weniger bedeutet, als dass mit Rilkes Aufzeichnungen die Selbstreferentialität von Literatur und die Dimension selbstreferentiellen Erzählens im modernen Roman des 20. Jahrhunderts Einzug hält. Sie sind ein ›Buch‹ über die Moderne, aber sie sind zugleich ein Roman über die Möglichkeiten des Erzählens (und eines Erzählers) in der Moderne. Sicher ist Rilke nicht Döblin, der zeitgleich an seinem epischen »Kinostil«9 arbeitet, dem die Idee, ja die feste Überzeugung zugrunde liegt, dass ein Roman, wenn er nicht »wie ein Regenwurm in zehn Stücke geschnitten werden kann, und jeder Teil bewegt sich selbst, nicht taug[e]«,10 sich also nicht zur adäquaten Verarbeitung einer schnelllebigen und dynamischen Realität eigne. Im Vergleich zu Döblin geht Rilke sicherlich weitaus weniger radikal vor, beileibe würde es diesem Autor nicht einfallen, von einem ›Regenwurm‹ zu sprechen, wenn er Fragmentcharakter und die Tendenz zur Auflösung von Geschlossenheit und Abgeschlossenheit seines Romans meint. Er redet stattdessen von »ungeordnete[n] Papiere[n]«,11 gemeint ist letzten Endes aber dasselbe; zumindest dürfte er mit dieser Wendung ein vergleichbares Phänomen benannt haben. Rilkes Malte ist in Paris als Flaneur unterwegs, und die von ihm gewählte Form der Aufzeichnungen (Rilke sprach in einem Brief an Lotte Hepner vom November 1915 von einer »hohle[n] Form«12) konzipiert Rilke in Analogie zur Stadt- und Realitätswahrnehmung seines Protagonisten. Was Rilke, der mit Blick auf sein gesamtes Œuvre wohl eher im Umfeld der Neuromantik, mit Blick auf die Zeit um 1900 vermutlich sogar der Anti-Moderne zu verorten ist, und der noch in den 1920er Jahren den Dichtertypus als Seher und ›Aristokraten‹ verkörperte, also mit Alfred _____________ 9 10 11 12
Alfred Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm [1912], in: Ders.: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Hg. v. Erich Kleinschmidt. Olten, Freiburg i.Br. 1989, S. 119-123, hier S. 123. Alfred Döblin: Bemerkungen zum Roman [1917], in: Ders.: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur, S. 123-127, hier S. 126. Rainer Maria Rilke an Gräfin Manon zu Solms-Laubach, 11. April 1910, in: Ders.: Briefe aus den Jahren 1907–1914. Hg. v. Ruth Sieber-Rilke u. Carl Sieber. Leipzig 1939, S. 93-97, hier S. 95. Rainer Maria Rilke an Lotte Hepner, 8. November 1915, in: Ders.: Briefe aus den Jahren 1914 – 1921, S. 85-93, hier S. 87.
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Döblin, einem, vielleicht dem wichtigsten Repräsentanten einer avantgardistischen Moderne verbindet, ist sein Entschluss, die Modernität der Romanform mit der Erfahrung und (literarischen) Verarbeitung der zivilisatorischen und gesellschaftlichen Moderne zu verschränken. Sicherlich ist dies auch das ästhetische Grundprinzip des zeitgleich wirkenden Expressionismus, Verfahren wie Reihungsstil, Simultantechnik, Schlagwortpoesie und eine Poetik der Parataxe indizieren dies. Aber dennoch: ein nach diesen Prinzipien gestalteter und ›eingerichteter‹ Roman liegt bei Erscheinen der Aufzeichnungen nicht vor – das Verdienst, sich als erster Autor der deutschsprachigen Literatur dieser Aufgabe gestellt zu haben, kommt ohne Zweifel Rainer Maria Rilke zu.13 Dies mag mit der Tatsache zu tun haben, dass Rilke kaum der ›klassische‹ Romancier ist; zumindest hat er sich weder vor den Aufzeichnungen noch nach ihrem Erscheinen ein weiteres Mal dieser Gattung bedient und geprägt hat er die deutschsprachige Literatur vornehmlich als Lyriker. Die Gründe für die Hinwendung des Lyrikers Rilke zur Romanform seit dem Jahr 1904 dürften wohl mit dem Entschluss zu tun haben, sich den Herausforderungen der urbanen Realität zu stellen. Rilke legt ja nicht nur einen der ersten Romane der literarischen Moderne in Deutschland vor; er schreibt zugleich den neben Döblins Berlin Alexanderplatz vermutlich wichtigsten Großstadtroman der deutschsprachigen Literatur.14 Und gerade mit dieser thematischen Ausrichtung zählen die Aufzeichnungen inzwischen zu den ›Klassikern der Moderne‹. Mit der Thematisierung urbaner Realität greift Rilke schon kurz nach 1900 zu einem Topos, der wie kein anderer zum Symbol dieses Jahrhunderts und zur wichtigsten sozialen Lebensform unserer Zeit geworden ist. Von daher begründet das Sujet der Aufzeichnungen ihre herausgehobene Stellung im Modernisierungsprozess der Literatur und die innovative Bedeutung dieses Werks für die Ausbildung einer literarischen Moderne; das Paris, das Malte und auch Rilke erleben, die »Hauptstadt des 19. Jahrhunderts«,15 wie Walter Benjamin formulierte, ist, zumindest bis zum Erscheinen der Aufzeichnungen, der Inbegriff der modernen Großstadt und der Moderne schlechthin. _____________ 13
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Vgl. dazu auch Ortrud Gutjahr: Erschriebene Moderne. Rainer Maria Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: Die literarische Moderne in Europa. Bd. I: Erscheinungsformen literarischer Prosa um die Jahrhundertwende. Hg. v. Hans-Joachim Piechotta, Ralph-Rainer Wuthenow u. Sabine Rothemann. Opladen 1994, S. 370-397. Vgl. hierzu Andreas Freisfeld: Das Leiden an der Stadt. Spuren der Verstädterung in deutschen Romanen des 20. Jahrhunderts. Köln, Wien 1982 – Sabina Becker: Urbanität und Moderne. Studien zur Großstadtwahrnehmung in der deutschen Literatur 1900–1930. St. Ingbert 1993, S. 73-130. Walter Benjamin: Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, in: Ders.: Das Passagenwerk. Hg. v. Rolf Tiedemann (Gesammelte Schriften V/1). Frankfurt a.M. 1982, S. 45-59.
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Weder von Rilke noch von seinem Protagonisten Malte wird diese ausschließlich positiv erlebt und geschildert – gleich der erste Satz der ersten Aufzeichnung zeigt dies: »So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier«,16 notiert Malte. Fraglos sind also die negativen Begleiterscheinungen der zivilisatorischen Moderne Gegenstand dieses Romans. Beschrieben werden Vermassung, Entfremdung und Anonymität, eben die Vereinsamung des Einzelnen in der Masse; weiterhin die problematisch gewordene Subjektivität und Individualität in der zivilisatorischen Moderne, existenzieller Identitätsverlust und Ich-Dissoziation – allesamt favorisierte Themen des zeitgleich wirkenden Expressionismus. Rilkes Aufzeichnungen allerdings sind der erste Roman, der zu Anfang des 20. Jahrhunderts das Stadterleben mit einer Wahrnehmungs- und Identitätskrise verbindet, die Moderneerfahrung mithin an die Subjektkrise knüpft und daran anschließend eine Romankrise dokumentiert. Die Tatsache, dass Rilke diesen Themenkomplex nun nicht, wie noch in seiner um 1900 entstandenen Lyrik, vorbehaltlos als Kultur- und Zivilisationskritik verarbeitet,17 macht die Modernität des Malte-Romans aus. Eine solche Engführung und einseitige Erfassung der großstädtischen Welt vermeidet Rilke vor allem über die – sicher autobiographisch grundierte – Porträtierung seiner Romanfigur als ›Dichter‹, respektive Schriftsteller in der Moderne. Dass er diese Modernisierung des Romans in Zusammenhang mit dem eigenen Pariser Stadterleben vornimmt und damit die Ausbildung einer ästhetischen Moderne mit der Erfahrung der zivilisatorischen Moderne verbindet – der Effekt dieser bewusst vorgenommenen Verzahnung ist die Begründung der Moderne im Roman und die Inauguration der Romanreihe der klassischen Moderne. Ohnehin erwartete Rilke, dass seine Aufzeichnungen »gegen den Strom«18 zu lesen seien, im gezeigten Negativen solle das gemeinte Positive wahrgenommen werden; Rilkes Bekenntnisse zu Paris als einem innovativen Erfahrungsort und -wert lassen erkennen, was er mit dem Positiven assoziierte. Die Akzeptanz der ästhetischen Wirkungskraft der Stadt ebenso wie der städtischen Erfahrung verhinderte, dass seine Kritik an der sozialen Realität der Großstadt in eine konservative Großstadtfeindschaft _____________ 16 17
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Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Rilke-Archiv. In Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke besorgt durch Ernst Zinn. Bd. VI. Frankfurt a.M. 1966, S. 709. Im Folgenden mit der Sigle MLB belegt. Vgl. hierzu Sabina Becker: Rainer Maria Rilke und die Großstadtliteratur der Jahrhundertwende, in: »unter den großen Städten die sympathischste, duldsamste und weiteste«. Rilke und München. Im Auftrag der Rilke-Gesellschaft hg. v. Rudi Schweikert. Frankfurt a.M., Leipzig 2004, S. 45-62 (= Blätter der Rilke-Gesellschaft 25 [2004]). Rainer Maria Rilke an Arthur Hospelt, 11. Februar 1912, in: Ders.: Briefe aus den Jahren 1907–1914, S. 195-197, hier S. 197.
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und rückwärtsgewandte Agrarromantik mündete, wie sie etwa die Heimatkunst- und Lebenskultbewegung der Jahrhundertwende, aber auch der Ästhetizismus, die Neuromantik und Décadence praktizierten. Diese Offenheit und Flexibilität dürften Rilkes Rang als (Roman-)Autor der klassischen Moderne ausmachen. Indem er vor allem in seinen Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge darauf verzichtet, die städtische Moderne mit den Kategorien des Landes zu beschreiben, die städtische Welt also gegen einen romantisierten Naturraum auszuspielen, leitete er nach dem Naturalismus und dem Impressionismus eine neue Phase nicht nur der Großstadtliteratur, sondern der literarischen Moderne überhaupt ein. Denn die Kritik an der Großstadt und an einer großstädtischen Lebensform wird in diesem Roman nicht als Feindschaft des Großstadtgegners vorgetragen; es geht vielmehr um die Benennung der das Subjekt bedrohenden Existenzbedingungen in einer modernen Welt und innerhalb der sozialen Realität der großstädtischen Massengesellschaft. So erlebte Rilke die Stadt, genauer Paris, zwar auch als eine »schwere, schwere, bange Stadt«, in der man durch »die Grausamkeit und Wirrheit der Gassen und die Unnatur der Gärten, Menschen und Dinge leiden muß«,19 so Rilke in einem Brief an Otto Modersohn aus dem Jahr 1902; doch das literarische Resultat dieser Erfahrung ist keine unreflektierte Großstadtfeindschaft. Im Gegenteil, Rilke erkennt die durch die Stadt ausgelöste Erfahrung des ›SchwerHabens‹ gar als Voraussetzung seiner literarischen Produktion und Produktivität an. Als Schriftsteller in der Moderne erlebt er die Stadt als einen »Anspruch« und er weiß, dass er ihr »das Beste verdankt, was er bis jetzt kann«, weiß, dass die Stadt »verwandelt, steigert und entwickelt«.20 Zugleich fällt auf, dass Rilke weder die drohende soziale Deklassierung noch die Isolation seines Protagonisten Malte primär an dessen städtische Existenz knüpft. Vielmehr ist es die dänische Heimat, d.h. die ländliche und familiäre Ulsgaarder Welt, die sich durch den Tod der Familienangehörigen und den Verkauf des Familienguts verändert, als Konstante seines Lebens gar wegzubrechen droht. Der Wandel seiner Existenz vom Dichter einer zeitlos erfahrenen Welt zum Schriftsteller in der Moderne allerdings ist sehr wohl durch die Pariser Gegenwart ausgelöst und geprägt. Diese Erfahrung notiert Malte in seiner 23. Aufzeichnung: Ich bin in Paris. […] Es ist eine große Stadt, groß, voll merkwürdiger Versuchungen. […] Ich bin diesen Versuchungen erlegen, und das hat gewisse Veränderun-
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Rainer Maria Rilke an Otto Modersohn, 23. Dezember 1902, in: Ders.: Briefe aus den Jahren 1902–1906. Hg. v. Ruth Sieber-Rilke u. Carl Sieber. Leipzig 1930, S. 57. – Vgl. auch Becker: Rainer Maria Rilke und die Großstadtliteratur der Jahrhundertwende. Rilke an Tora Holmström, 29. März 1907, S. 236.
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gen zur Folge gehabt […]. Eine vollkommen andere Auffassung aller Dinge hat sich unter diesen Einflüssen in mir herausgebildet […]. (MLB 774f.)
Die angesprochene Differenzierung ist weitreichend und von entscheidender Bedeutung, denn sie kann deutlich machen, dass Rilkes Roman zwar sicher auch – wie vielfach in der Rilke-Forschung herausgearbeitet21 – im Kontext von Moderne-, Kultur- und Zivilisationskritik entsteht, aber gerade im Rekurs auf diese Moderne zu einem der ersten und perspektivenreichsten Romane der literarischen Moderne werden konnte. Die Gründe für diese herausragende Position liegen in der ästhetischen Avanciertheit der Aufzeichnungen. Sie antizipieren und integrieren vieles von dem, was die Avantgardebewegungen des Futurismus, Expressionismus und Dadaismus, aber auch die avantgardistische Moderne, wie sie u.a. Döblin mit seiner Konzeption eines »modernen Epos«22 vertrat, in Verbindung mit dem geforderten Modernisierungsprozess der Literatur vorgeschlagen und praktiziert haben. Eine solche Zuordnung mag angesichts von Rilkes konservativem Dichterhabitus zunächst erstaunen; doch in seinem Malte-Roman nutzt er ästhetische Verfahrensweisen auf der stilistischen, formalen und poetologischen Ebene, die im Umfeld eben dieser Avantgardebewegungen entwickelt werden und in der Folge weiterentwickelt wurden, vor allem den parataktischen Reihungsstil, die assoziative Schreibweise, die Auflösung der kausalen und chronologischen Ordnung, die offene Form, die Erosion des geschlossenen, zusammenhängenden Erzählens, die Visualisierung und Dynamisierung des Schreibens. Solche Parallelen sind vornehmlich in jenen Passagen des Romans auszumachen, die sich mit der städtischen Welt auseinandersetzen, aber nicht ausschließlich: So, wie die Grenze zwischen subjektiver Innenwelt und großstädtischer, räumlicher Außenwelt in Rilkes Roman aufgelöst wird, so verliert auch die Differenz zwischen Stadt und Land an Bedeutung. Seine Erzählunfähigkeit zumindest erklärt der Dichter Malte in einer Aufzeichnung (Nr. 54.), die der Kindheits- und Vergangenheitserinnerung gewidmet ist. Kaum eine Romanpassage zeigt die angesprochene Nähe der Aufzeichnungen zur avantgardistischen Moderne so deutlich wie Maltes zweite Aufzeichnung: Daß ich es nicht lassen kann, bei offenem Fenster zu schlafen. Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich höre ihre großen Scherben
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Vgl. z.B. Michael Pleister: Das Bild der Großstadt in den Dichtungen Robert Walsers, Rainer Maria Rilkes, Stefan Georges und Hugo von Hofmannsthals. Hamburg 1982 – Manfred Engel: »Weder Seiende, noch Schauspieler«. Zum Subjektivitätsentwurf in Rilkes Malte Laurids Brigge, in: Rilke heute. Der Ort des Dichters in der Moderne. Frankfurt a.M. 1997, S. 181-200, hier S. 182. Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm, S. 123.
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lachen, die kleinen Splitter kichern. Dann plötzlich dumpfer, eingeschlossener Lärm von der anderen Seite, innen im Hause. Jemand steigt die Treppe. Kommt, kommt unaufhörlich. Ist da, ist lange da, geht vorbei. Und wieder die Straße. Ein Mädchen kreischt: […]. Die Elektrische rennt ganz erregt heran, darüber fort, fort über alles. (MLB 710)
Hier wird zum einen die thematische und stilistische Nähe der Aufzeichnungen zum italienischen Futurismus der Malerei deutlich, die ›AufZeichnung‹ liest sich wie eine medienüberschreitende Übersetzung von Gemälden des futuristischen Malers Umberto Boccioni, vor allem von Bildern wie Quel che mi ha detto il tram (1910/11) und La strada entra nella casa, 1911 entstanden, beide in der berühmten Ausstellung futuristischer Gemälde im Jahr 1912 in Herwarth Waldens Sturm-Galerie zu sehen – bekanntlich hat Alfred Döblin die dort gezeigten Exponate in der SturmZeitschrift als Markenstein im Prozess der Ausbildung einer Kunst und Literatur der Moderne begeistert besprochen.23 Zum anderen praktiziert Rilke hier, über eine impressionistisch-atomisierte Wahrnehmungs- und Schreibweise hinausgehend, eine parataktische Ausdrucksform, die heterogene, simultane Eindrücke assoziativ und ohne kausallogische Verbindung aneinanderreiht. Mit ihr hat er, sicherlich die impressionistische Ästhetik der Jahrhundertwende fortführend, den frühexpressionistischen parataktischen Simultan- und Reihungsstil vorweggenommen oder zumindest zeitgleich mit den Expressionisten etabliert. Gleich Maltes erste Aufzeichnung macht dies deutlich: Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen: Hospitäler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank. […] Ich habe eine schwangere Frau gesehen. Sie schob sich schwer an einer hohen, warmen Mauer entlang, nach der sie manchmal tastete, wie um sich zu überzeugen, ob sie noch da sei. Ja, sie war noch da. Dahinter? Ich suchte auf meinem Plan: Maison d’Accouchement. Gut. Man wird sie entbinden – man kann das. Weiter, rue Saint-Jacques, ein großes Gebäude mit einer Kuppel. Der Plan gab an Val-de-grâce. […] Dann habe ich ein eigentümlich starblindes Haus gesehen, es war im Plan nicht zu finden […]. Und sonst? ein Kind in einem stehenden Kinderwagen: es war dick, grünlich und hatte einen deutlichen Ausschlag auf der Stirn. (MLB 709)
Voraussetzung eines solchen Stils ist die Anerkennung der Wirkungsmacht Stadt. War z.B. deren akustische Präsenz in dem Gedicht Die großen Städte sind nicht wahr aus dem Jahr 190324 noch als Lüge und zweitrangig _____________ 23 24
Vgl. Alfred Döblin: Die Bilder der Futuristen [1912], in: Ders.: Kleine Schriften. 2 Bde. Hg. v. Anthony W. Riley. Bd. I. Olten, Freiburg i.Br. 1985, S. 112-117. Das Künstler-Ich der Stunden-Buch-Gedichte behauptet noch mit einem fast trotzigen Gestus: »Die großen Städte sind nicht wahr; sie täuschen.« Ihre Existenz wird nicht gänzlich geleugnet, sie werden aber nicht als das eigentlich Bedeutsame und den Menschen Prägende akzeptiert. Ihre akustische Präsenz täusche über ihre Zweitrangigkeit hinweg, sie »lügen«, so heißt es, »mit Geräuschen« (Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch, Teil 3: Von der Armut und vom Tode, in: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Rilke-Archiv. In Verbindung
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abgetan worden, so hat Rilke diese Auffassung im Malte-Roman, an dem er seit 1904 arbeitete, gründlich revidiert. Malte registriert sowohl die optische Vielfalt, visuelle Überlegenheit und prägende Kraft der Stadt als auch ihre akustische Dominanz. Auch ist sich der Protagonist und Verfasser der Aufzeichnungen über ihre Wirkung auf den Schreibprozess im Klaren: Die Aufzeichnungen sind das Resultat der visuellen und akustischen Übermacht einer dynamisierten Metropole und der daraus resultierenden Erzählunfähigkeit des Helden. Malte und mit ihm sein Autor sind 1910 bei Erscheinen des Romans längst in der städtischen Realität des 20. Jahrhunderts angekommen; Leugnung und Abwehr sind keine überzeugenden und plausiblen Bewältigungs- und Verarbeitungsstrategien der großstädtischen Lebens- und Erlebenswelt mehr. Wenn Rilke Malte die Worte in den Mund legt: »Denn Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug) es sind Erfahrungen. Um eines Verses willen muß man viele Städte sehen, Menschen und Dinge« (MLB 724), so ist dies ein Indiz dafür, dass hier ein Autor die städtischen Erfahrungs- und Wahrnehmungsstrukturen als stilbildende Faktoren akzeptiert und seinen ästhetischen Überlegungen zugrunde gelegt hat; Malte ist der »Eindruck, der sich verwandeln wird« (MLB 756), so zumindest lautet die Bilanz des Protagonisten. Subjekt-, Wahrnehmungs-, Erzähl- und Romankrise – solche zentralen Aspekte, über die sich die literarische Moderne des 20. Jahrhunderts bestimmen lässt, sind in Rilkes Roman verarbeitet und als Teil dieser Moderne etabliert; auch markieren sie zentrale Kennzeichen eines Schreibens in der Moderne. Noch in Döblins Berlin Alexanderplatz besitzen sie Gültigkeit, aber bereits dessen 1912 verfasster Wang-lun ist eine »Zueignung« an die Moderne. Das so betitelte Vorwort des Romans liest sich wie ein Kurzprogramm der Aufzeichnungen. Der Erzähler benennt in ihr die Unmöglichkeit des Fabulierens und Konstruierens infolge der Reizüberflutung der Außenwelt, das schreibende ›Ich‹ ist mit einer Vielzahl simultaner, heterogener Reize konfrontiert, die seine Erzählsituation in entscheidendem Maße verändern und weitreichende stilistische Konsequenzen nach sich ziehen: »Ich tadle das verwirrende Vibrieren nicht. Nur ich finde mich nicht zurecht«,25 gesteht der Erzähler; auch in diesem Fall wird das Vibrieren durch die Straßenbahn und somit durch die Mechanisierung und Elektrifizierung der Stadt ausgelöst. Angesichts der großstädtischen Reizvielfalt – hier der auditiven – zeigt sich dessen Erzählunfähigkeit. Doch er kapituliert nicht, sondern entwirft neue Schreibformen. _____________ 25
mit Ruth Sieber-Rilke besorgt durch Ernst Zinn. Bd. I: Erste Gedichte. Frankfurt a.M. 1955, S. 352). Alfred Döblin: Die drei Sprünge des Wang-lun. Chinesischer Roman. Olten, Freiburg i.Br. 1960, S. 7.
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Robert Musil wird in seinem Mann ohne Eigenschaften konstatieren, dass in der städtischen Moderne der »Faden«26 des Erzählers und Erzählens abhanden gekommen ist, und kurz nach Rilke hatte auch Carl Einstein in seinem Bebuquin (1912) solche Erkenntnisse stilistisch umgesetzt. Es handelt sich um eine ästhetische Neuorientierung, an deren Beginn Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge stehen. Rilke war wohl nicht der erste Autor, der um 1900 auf die neuen Formen des Sehens und auf die veränderten Bedingungen des Wahrnehmens im ästhetischliterarischen Bereich reagierte. Aber er war der erste Autor, der in Verbindung mit den neuen städtischen Erfahrungsweisen die Modernisierung, und das heißt vor allem die formale Erneuerung des Romans reflektierte – die Wiener Moderne, hier vor allem Autoren wie Peter Altenberg und der von Rilke verehrte Detlev von Liliencron, hatten für den Bereich der Kurzprosa bereits ästhetische Konsequenzen aus der veränderten Zeitund Realitätserfahrung gezogen; doch erst Rilke wagte mit seinen Aufzeichnungen den Schritt, diese auch für den Roman geltend und produktiv zu machen. Eine solche Entscheidung zeitigte bekanntlich fundamentale Auswirkungen auf die weitere Entwicklung nicht nur der Großstadt-, sondern der Romanliteratur insgesamt: Rilkes Malte-Roman stellt, indem er mit der Struktur der offenen, fragmentarischen Aufzeichnungen die geschlossene Romanform auflöst, einen der bedeutendsten Beiträge zur literarischen Moderne dar. Mit ihm zieht ein Autor für den Roman jene Schlussfolgerungen aus der veränderten Wirklichkeitserfahrung und den sich wandelnden Perzeptionsbedingungen, auf die die Literatur der Jahrhundertwende bereits mit der Bevorzugung der kurzen Prosaformen reagiert hatte.27 Sie spiegeln jenen Fragmentcharakter, der die Erfahrungsformen und Sehweisen in der städtischen Moderne kennzeichnet. Rilke passt über sie die poetologischen Mittel des Romans dem in der Stadt zu erfahrenden ›neuen Sehen‹ an: Malte »lern[t] sehen« (MLB 711), aber er lernt zugleich, diese neue Form des Sehens in adäquater Weise ästhetisch zu verarbeiten. Dieses Unterfangen, die Episierung der städtischen Wahrnehmung sowie die Urbanisierung der Romanform, dürfte im Umfeld der Literatur der Jahrhundertwende einmalig sein. Denn die um 1910 einsetzende expressionistische Literatur, die poetische Neuerungen wie den Reihungs_____________ 26 27
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. 2 Bde. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978, Bd. I, S. 650. Zum Thema Jahrhundertwende als Phase der neuen Zeit- und Wirklichkeitserfahrung vgl. Becker: Urbanität und Moderne, S. 34-72 sowie S. 73-120, bes. S. 101ff.; vgl. weiter: Ulrich Fülleborn: Form und Sinn der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Rilkes Prosabuch und der moderne Roman [1961], in: Hartmut Engelhardt (Hg.): Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Frankfurt a.M. 1984, S. 175-198.
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und Simultanstil durchsetzt, bleibt weitgehend auf die Lyrik konzentriert; Rilke indes wechselt gerade mit Blick auf die Literarisierung der städtischen Moderne und der damit verbundenen Ästhetisierung urbaner Erfahrung das Genre bzw. die Gattung. Als Romanautor passt er sein Schreiben sodann dem die Moderne kennzeichnenden Prozess der Optisierung an, der die Realität wie die Realitätswahrnehmung der Jahrhundertwende gleichermaßen beherrscht. In Verbindung mit dieser neuen Sensibilität einer veränderten Außenwelt gegenüber ist seine nach 1902 sich wandelnde Realitätsauffassung von Belang, deren wesentliches Merkmal die Hinwendung zur Objektwelt, zu einer realen Dinglichkeit unter dem Einfluss der städtischen Erfahrung auf der einen und Rodins und Cézannes auf der anderen Seite sein dürfte. 1903 äußert Rilke Lou Andreas-Salomé gegenüber, er »fange an, Neues zu sehen«, lerne, die »bewegte, lebendige Welt« »ohne Deutung« zu sehen, und das hieß als Impressionist zu sehen.28 Auch der Verfasser der Aufzeichnungen wird im Zuge seiner Konfrontation mit der Stadt sehen lernen: »Ich lerne sehen« (MLB 711), gesteht Malte gleich zu Beginn seiner aufgezeichneten Pariser Erlebnisse; im Zuge dieses neuen Sehens wird er zu einer, wie es in der 23. Aufzeichnung heißt, »vollkommen anderen Auffassung aller Dinge« (MLB 775) gelangen. Indem Rilke also die Stadterfahrung seines Protagonisten an den Lernprozess des Sehens knüpft, treibt er den durch den Impressionismus in Gang gesetzten Prozess der Visualisierung von Literatur weiter voran; bedeutet ›sehen lernen‹ doch für Malte zugleich neu schreiben zu lernen: »Ich glaube ich müßte anfangen, etwas zu arbeiten, jetzt, da ich sehen lerne« (MLB 723), notiert Malte in seiner 14. Aufzeichnung.29 Rilke selbst bezeichnete sich als einen »Impressionabl[e]n«,30 und auch seinen Protagonisten Malte stattet er mit einer impressionistischen Oberflächensicht aus: Die 12. Aufzeichnung, die mit dem ersten Abschnitt eines Briefs Rilkes an Clara Rilke vom 12. Oktober 1907 identisch ist, _____________ 28 29
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Rainer Maria Rilke an Lou Andreas-Salomé, 8. August 1903, in: Ders.: Briefe aus den Jahren 1902 bis 1906, S. 110-117, hier S. 116. In seinen Briefen hat Rilke wiederholt diese Erfahrung eines neuen, dynamisierten Sehens und die daraus resultierende Notwendigkeit der Visualisierung literarischen Schreibens wie einer neuen Schreibweise gleichermaßen benannt. So rät er in einem Brief aus dem Jahr 1907 seiner Frau Clara: »Sammle nur noch viele Eindrücke; denk nicht an Briefe, die berichten und sich verständlich machen müssen: nimm mit raschen Fangbewegungen noch das und jenes herein: rasch Vorübergehendes, Einblicke, kurze aufblitzende Aufschlüsse, die eine Sekunde in Dir andauern, unter dem Einfluß irgendeiner Begebenheit. […] Schreib nur kurz und geize mit Deinen Aufzeichnungen und Skizzen. Sieh, sieh, sieh« (Rainer Maria Rilke an Clara Rilke, 8. März 1907, in: Ders.: Briefe aus den Jahren 1906 bis 1907, S. 213-216, hier S. 213 u. 215). Rainer Maria Rilke an Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe, [o.D.] 1915, in: Ders.: Briefe aus den Jahren 1914–1921, S. 66-72, hier S. 72.
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liefert dafür ein eindrückliches Beispiel (vgl. MLB 722). Die Szene, ebenso wie Maltes 11. Aufzeichnung über seine Eindrücke in den Tuilerien oder die 22. Aufzeichnung über die Eindrücke vom Boulevard St. Michel, steht im Zeichen der impressionistischen Malerei. Darauf verweist nicht nur die Erwähnung Manets (vgl. MLB 722). Die exponierte Licht- und Farbempfindlichkeit Maltes, die von ihm registrierten einzelnen Flächen statt der abgegrenzten Gegenstände und die Dynamik des Dargestellten sind das Resultat der Beschäftigung Rilkes mit Cézanne und anderen französischen Impressionisten; die Aufzeichnungen lesen sich wie literarische Übersetzungen impressionistischer Bilder bzw. impressionistischer Freiluftmalerei: Maltes panoramatischer, schweifender Blick, die flimmernde Konturenauflösung, die als vereinfachte, farbige Flächen wahrgenommenen Gegenstände, die in Bewegung geratene Szenerie, die sich jedem festen Zugriff entzieht und kein fest stehendes Bild zulässt, sind Konzessionen an impressionistische Stilmittel der Jahrhundertwende. Doch diese geben letztlich mit ihrer Tendenz zur Auflösung fester Konturen, zur Atomisierung des Wahrgenommenen, zum Flüchtigen, Bewegten und Fließenden die Basis für die Ausbildung der frühexpressionistischen Assoziationsund Reihungstechnik. Das Kernstück der Verbindung zwischen beiden Modernebewegungen ist der Prozess der Visualisierung des Lebens und Erlebens, von Erfahrung und Wahrnehmung. Rilke nun gebührt das Verdienst, eine (epische) Poetik der Parataxe entworfen zu haben, die die Großstadtliteratur und darüber hinaus große Teile der literarischen Moderne der 1910er und 1920er Jahre entscheidend prägen wird: Noch vor den Expressionisten erfasst Rilke die Stadt über eine parataktische, filmische und montierende Schreibweise, um so der visuellen Wirkungsmacht des Phänomens Moderne überhaupt gerecht zu werden.
Struktur des Romans Zu einem der ersten und vermutlich wichtigsten Romane der klassischen Moderne werden Rilkes Aufzeichnungen dadurch, dass diese Poetik der Parataxe dem gesamten Roman als Strukturprinzip zugrunde liegt; die urbane Literatur wie auch der moderne Roman werden hinter dieses, und das heißt hinter die Form der ›Aufzeichnungen‹, nicht mehr zurückgehen können. Die parataktische Struktur der einzelnen Szenen, die sich aus der Technik der assoziativen Reihung visueller Impressionen ergibt, wird in der formalen Anlage des Romans wiederholt, in der Unverbundenheit der ›aufgezeichneten‹ Erlebnisse also. Die einzelnen Aufzeichnungen sind nur locker miteinander verknüpft: »es hätten«, schreibt Rilke kurz nach Fertigstellung des Buchs in einem Brief an die Gräfin Manon zu Solms-
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Laubach, »immer noch Aufzeichnungen hinzukommen können; was nun das Buch ausmacht«, so Rilke weiter, »ist durchaus nichts Vollständiges. Es ist nur so, als fände man in einem Schubfach ungeordnete Papiere […]«.31 Mit diesem Kompositionsschema der ›ungeordneten Papiere‹ steht Rilke am Beginn einer formalen Erneuerung der Gattung Roman: Analog zu einer nur mehr fragmentarisch und simultan erfahrbaren Welt erneuert er den Roman über das Prinzip der Parataxe; dieses ist die einer ›parataktischen Welt‹ gemäße Ausdrucksform. Die für die Aufzeichnungen so bedeutenden Strukturmerkmale der Reihung und der Konstruktion einer lockeren Motivkette sind epochale Kennzeichen: »Das Nebeneinander von der Auflösung herkömmlicher narrativer Verknüpfungstechniken und dem Versuch, die einzelnen Textteile in ein poetisches Kompositionsgeflecht zu integrieren, ist für die Epoche konstitutiv.«32 Diese Struktur der »Addition disparater Erzählepisoden«33 auf der formalen Ebene und einzelner Eindrücke auf der syntaktischen erreicht Rilke über die Integration impressionistischer Stilmittel in eine epische Stadtliteratur – Döblins fast zeitgleich ab 1909 vorgelegtes Konzept eines »modernen Epos«,34 eines montierenden Schreibens des »Schichtens, Häufens, Wälzens und Schiebens«35 hingegen integriert futuristische Stilmittel. So wählen sie als Autoren unterschiedliche Wege und Verfahrensweisen, doch sie verfolgen das gleiche Ziel und beide, Rilke wie Döblin, haben wesentliche Anteile an der Ausbildung der Erzählstrategien der literarischen Moderne, an einem dem Massenzeitalter der Moderne und der urbanen Lebensform »Korallenstock«36 Stadt adäquaten Erzählen. Sie antworten auf eine Wahrnehmungskrise in der Moderne, die zugleich als Erzählkrise erfahren wird und sich letztlich zu einer Romankrise ausgeweitet hatte. Rilke reagiert auf sie als Lyriker: An die Stelle der traditionellen Romanform setzt er die impressionistisch in Augenblicke und Fragmente aufgelöste Ansammlung assoziativ aneinandergereihter Aufzeichnungen. Diese kaleidoskopartige Zusammensetzung vollzieht die kaleidoskopartige Struktur der Stadt und der in ihr herrschenden Wahrnehmung nach. Da_____________ 31 32 33 34 35
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Rainer Maria Rilke an Gräfin Manon zu Solms-Laubach, 11. April 1910, S. 95. Thomas Anz: Literatur der Existenz. Literarische Psychopathographie und ihre soziale Bedeutung im Frühexpressionismus. Stuttgart 1977, S. 83. Anz: Literatur der Existenz, S. 82. Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm, S. 123. Döblin: Bemerkungen zum Roman, S. 124. – Vgl. dazu Sabina Becker: Zwischen Frühexpressionismus, Berliner Futurismus, »Döblinismus« und »neuem Naturalismus«: Alfred Döblin und die expressionistische Bewegung, in: Expressionistische Prosa. Hg. v. Walter Fähnders. Bielefeld 2001, S. 21-44. Alfred Döblin: Der Geist des naturalistischen Zeitalters [1924], in: Ders.: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur, S. 168-190, hier S. 180.
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mit knüpft er an die Akzentsetzungen des Impressionismus an, der die festen Darbietungsformen aufgelöst hatte. Angesichts des Übergewichts der städtischen Außenwelt weist er die Möglichkeit und Sinnhaftigkeit der erzählenden Erfassung von Totalität und Komplexität zurück, gibt ein sinnstiftendes Erzählen aufgrund der Unüberschaubarkeit der modernen Welt verloren – zumal mit der Wahrnehmungskrise eine Subjektkrise einhergeht. Das Subjekt des Romans kann nicht erzählt werden, auch ist es identisch mit dem Erzähler-Ich. Der Erzähler macht mithin das eigene Ich zum Sujet, der Protagonist ist Erzähler und Erzählgegenstand gleichermaßen. Zudem mangelt ihm die Fähigkeit zu erzählen. Stattdessen fragt er danach, was überhaupt noch erzählbar ist und thematisiert so einen zentralen Aspekt des modernen Romans und des Erzählens in der Moderne. Diese komplexe Konstruktion erlaubt es Rilke, die Subjektkrise mit der Erzählkrise zu verbinden. Denn die Dinge machen, wie Malte schreibt, »Versuche, sich ihren Anwendungen zu entziehen« (MLB 877). Dementsprechend verzichtet hier das Erzähler-Ich ebenso wie ein realer Autor auf die Erzählbarkeit der Moderne. Die Konsequenz ist – gemessen an der epischen Tradition des 19. Jahrhunderts, an der »Zeit, in der man noch erzählte« (MLB 844), wie Malte zu bedenken gibt – ihre Erzählunfähigkeit. Wiederholt ruft Malte nach einem Erzähler, so etwa in der 54. Aufzeichnung: »Bis hierher geht die Sache von selbst, aber nun, bitte, einen Erzähler, einen Erzähler […]« (MLB 884). Oder er erinnert sich eines traditionellen Erzählers: »Es wäre jetzt ein Erzähler denkbar, der viel Sorgfalt an die letzten Augenblicke verwendete« (MLB 883). Doch die Formulierung steht im Konjunktiv, erzählerische Geschlossenheit und erzählte Ganzheit werden als Relikte einer überholten und überwundenen epischen Tradition nur mehr zitiert, Anwendung finden sie nicht mehr. Die mit der Moderne einhergehende Wahrnehmungs-, Subjekt- und Erzählkrise bedingt den Verzicht auf die Einheit und Geschlossenheit des Romans. Eröffnet ist so eine neue Tradition, die Tradition der literarischen Moderne im 20. Jahrhundert eben. Die Rilke-Forschung hat sich schwer getan mit dieser Einsicht,37 auch hat sie lange Zeit einen im Roman entfalteten Subjektivitätsentwurf ange_____________ 37
So bemühte man sich wiederholt um den Nachweis von Maltes ›Erzählenlernen‹ und um den Nachweis einer Gesetzmäßigkeit und eines dem traditionellen Roman gemäßen linear verlaufenden, geschlossenen Kompositionsschemas (vgl. hierzu den zusammenfassenden Überblick über die Forschungsliteratur in Becker: Urbanität und Moderne, S. 101ff.). Fülleborn z.B. ging davon aus, dass die Aufzeichnungen infolge des sie bestimmenden Komplementaritätsgesetzes zusammengehalten werden. Den Nachweis einer kompositorischen Einheit sieht Fülleborn darin erbracht, dass es sich bei den Aufzeichnungen um einen auf einen Höhepunkt zu strebenden Prozess handle, »in dessen Verlauf die Grenzen des Ich von zwei Seiten durchbrochen werden, von den Tiefen der Außenwelt her und aus den Tiefen des eigenen Innern heraus« (Fülleborn: Form und Sinn der Aufzeichnungen des Malte Laurids
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nommen.38 Eine Analyse der Aufzeichnungen im Umfeld der literarischen Moderne indes kann diesen Befund nur bedingt bestätigen; zumal mit der Festlegung des Werks auf das Erschreiben von Subjektivität zumeist der Nachweis der Einheit und Geschlossenheit des Romans einhergeht. Mit Blick auf den um 1900 einsetzenden gesellschaftlichen und literarischen Modernisierungsprozess aber scheint ein solches Bemühen um Geschlossenheit, Kausalität, Entwicklung und Einheit kaum sinnvoll und berechtigt, zeichnet sich die gesellschaftliche Moderne im 20. Jahrhundert, und diese ist ganz ohne Zweifel Gegenstand von Rilkes Roman, gerade umgekehrt durch Dissoziation, Fragment, Schock, Plötzlichkeit, Dynamik, Simultanität, Assoziation und Diskontinuität aus. Und gerade im Hinblick auf die literarische Verarbeitung und ästhetische Umsetzung dieser zivilisatorischen, sozialpsychologischen und soziokulturellen Erfahrungswerte sind Rilkes Aufzeichnungen ein Roman der klassischen, wenn nicht gar der avantgardistischen Moderne.39 Seine Modernität verdankt sich dabei eher seiner Formlosigkeit als einem Kunst- und Kompositionsprinzip, wie die ältere Rilke-Forschung glauben machen wollte. Die Aufzeichnungen sind ein repräsentativer Text, mit dem diese Moderne im Roman Einzug hält – auf der inhaltlichen Ebene über die Verarbeitung der gesellschaftlich-zivilisatorischen Moderne und auf der formalen Ebene als ästhetische Neuorientierung im Zeichen von Fragment, Diskontinuität und Parataxe. Die ersten Signale und Voraussetzungen dieser Entwicklung – die Dynamisierung und Atomisierung des modernen Lebens – hatte Rilke in seinen um die Jahrhundertwende entstandenen Großstadtgedichten über ein intaktes lyrisches Ich, sozusagen von einem gesicherten Beobachterposten aus, zunächst einmal nur benannt. Dass er als Lyriker einen Schritt _____________
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Brigge, S. 191). Judith Ryan kritisierte in einem ursprünglich 1971 erschienenen Aufsatz, dass Fülleborn den endgültigen Nachweis dieser These schuldig bleibe, da er diese »nur an einigen beispielhaften Abschnitten exemplifiziert« und die Frage, »wie sich das ›Gesetz der Komplementarität‹ im ganzen Roman auswirkt, nur angedeutet [wird]« (Ryan: »Hypothetisches Erzählen«. Zur Funktion von Phantasie und Einbildung in Rilkes Malte Laurids Brigge, in: Engelhardt [Hg.]: Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 244-279, hier S. 245). – Auch gelingt der Nachweis eines geschlossenen Kompositions- und Strukturprinzips in den Aufzeichnungen nur aufgrund der Ignorierung der mehr als 30 städtischen Aufzeichnungen. Andreas Freisfeld hat darauf hingewiesen, dass den Arbeiten zumeist »ein Begriff der ›Pariser Wirklichkeit‹ [fehlt], der über diffuse Annahmen einer ›Gesetz- und Wesenslosigkeit‹ oder ›Amorphie‹, denen das Ich ›depraviert‹ begegne« (Freisfeld: Das Leiden an der Stadt. Spuren der Verstädterung in deutschen Romanen des 20. Jahrhunderts, S. 83) hinausführt. Vgl. z.B. Anthony Stephans: Rilkes Malte Laurids Brigge. Strukturanalyse des erzählerischen Bewußtseins. Bern 1974 – Engel: »Weder Seiende, noch Schauspieler«. Zum Subjektivitätsentwurf in Rilkes Malte Laurids Brigge, S. 182. Vgl. hierzu Sabina Becker, Helmuth Kiesel (Hg.): Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. Berlin 2007.
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über die Großstadtlyrik der Jahrhundertwende hinaus geht, indem er sich als Epiker ins städtische Treiben der Moderne begibt, um für die Prosa und Epik die ästhetischen Konsequenzen der Urbanisierung zu benennen – in genau dieser Entscheidung liegen Rilkes Verdienste um die Modernität der deutschsprachigen Literatur begründet.40 Sein Roman ist, wie eingangs zitiert, »eingerichtet in seiner eigenen Wirklichkeit«,41 und das heißt in der Realität einer modernen Metropole im 20. Jahrhundert. So illustriert Rilke bereits mit seinem Malte-Roman jene von Hugo von Hofmannsthal registrierte Erzählkrise, die Unfähigkeit also, einen geschlossenen Zusammenhang und einen durchgehenden Erzählfaden zu konstruieren. Hofmannsthal hatte in seinem 1902 entstandenen kurzen Prosatext Ein Brief davon gesprochen, dass ihm »völlig die Fähigkeit abhanden gekommen [sei], über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen«, und dass ihm »alles in Teile [zerfiel], die Teile wieder in Teile, und nichts mehr […] sich mit einem Begriff umspannen [ließ]«.42 Ein solches Bekenntnis zur Unfähigkeit, einen geschlossenen Zusammenhang und einen durchgehenden Erzählfaden zu konstruieren, ist zweifelsohne ein Zeugnis jener Wahrnehmungs- und Sprachkrise, die die Literatur der Jahrhundertwende verzeichnet. Doch die Überzeugungs- und Wirkungskraft von Hofmannsthals Chandos-Brief bleibt insofern begrenzt, als er die erlebte Erzählkrise nur theoretisch benennt. Weder weist der Brieftext selbst sprachliche Krisen und Unsicherheiten auf, im Gegenteil, in ihm bewältigt ein Autor beinahe erzählend die Erzählkrise, der Brief des Lord Chandos ist eine höchst artifizielle Textkomposition, der in keiner Weise die vom Verfasser konstatierte Sprachkrise anzumerken ist. Auch im Hinblick auf sein weiteres Schreiben zieht Hofmannsthal keine ästhetischen _____________ 40
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Die von vielen Autoren wiederholt vertretene These, Rilke habe – wie etwa Fülleborn es formulierte –, »da er kein ursprüngliches Erzähltalent, kein auf Verwirklichung drängendes episches Gestaltungsvermögen besaß, […] strenggenommen, auch keinen Anteil am Dekompositionsprozeß der überkommenen Romanform«, und lasse daher seine »Aufzeichnungen aus seinen persönlichen Bedingungen und in Übereinstimmung mit der geschichtlichen Stunde gleichsam vom Nullpunkt her entstehen« (Fülleborn: Form und Sinn der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 181), kann in Anbetracht von Rilkes bewusster Reflexion narrativer Faktoren in Verbindung mit der Erfahrung der städtischen, modernen Welt und des von ihm gesehenen Zusammenhangs zwischen urbaner Erfahrung und literarischer Produktion wenig überzeugen. Ihm aufgrund seiner vorwiegend lyrischen Produktion eine Auseinandersetzung mit der epischen Tradition abzusprechen und stattdessen die These zu vertreten, dass Rilke für »die Gestaltung seines Prosabuchs dem ihm eigenen, eben lyrischexistentiellen Verhalten zu Wirklichkeit und Sprache treu bleibt und sich den Formkräften, die sich in ihm entwickelt haben, überlässt« (S. 182), wird diesem ersten bedeutenden Werk der epischen Moderne des 20. Jahrhunderts kaum gerecht. Rilke an Fürstin Marie von Thurn und Taxis, 27. Januar 1910, S. 10. Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief [1902], in: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. XXXI: Erfundene Gespräche und Briefe. Hg. v. Ellen Ritter. Frankfurt a.M. 1991, S. 45-55, hier S. 48 u. 49.
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Konsequenzen aus der konstatierten Wahrnehmungskrise. Seine Einsicht in die Erzählunfähigkeit bleibt somit ein ›nur‹ theoretisches Zeugnis dieser literarischen Entwicklung. Anders hingegen verfährt Rilke: Sein Malte gelangt aufgrund seiner Konfrontation mit der großstädtischen Wirklichkeit zur Erklärung seiner Erzählunfähigkeit; vorausgegangen war die Erkenntnis, dass eine nur mehr flüchtig und fragmentarisch wahrzunehmende Außenwelt die Erfassung der Gesamtzusammenhänge unmöglich macht. Die von Malte benannten städtischen Wahrnehmungsverhältnisse haben Auswirkungen auf sein Schreiben, er liefert allenfalls »Aufzeichnungen«, weder nummeriert noch datiert er sie – lediglich Maltes erste Notiz ist mit Datum und Zeitangabe versehen (»11. September, rue Toullier«;43 MLB 709). Ihr eignet von daher Tagebuchcharakter; und eine weitere wird durch eine Ortsangabe eingeleitet; ansonsten aber verzichtet der Erzähler Malte bereits nach kurzer Zeit auf eine chronologische Reihung seiner Notizen, schon mit Maltes zweiter Aufzeichnung verliert sich die erzählerische Ordnung. Stattdessen bleibt der Entwurfcharakter seiner »Aufzeichnungen« wie auch des Romans erkennbar, ebenso der Schreibprozess. Stringent erzählen kann er, eigenen Angaben zufolge, nicht mehr. Über dieses Vorgehen führt Rilke prägnant und zugespitzt, wie kaum ein Autor vor und vermutlich auch nach ihm, in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge vor, dass die Moderne im 20. Jahrhundert als eine dynamisierte Bilderwelt erfahren wird, die sich dem Erzählen und dem erzählenden Beschreiben entzieht. Sein Malte ist als erster Protagonist der deutschen Literatur mit dieser Unerzählbarkeit konfrontiert und so sind die Aufzeichnungen zugleich ein erstes Beispiel für die Unmöglichkeit, großstädtische Moderne und urbane Erfahrung in der (konventionellen) Form des traditionellen Romans darzustellen. Hatte dieser eine mimetische Rekonstruktion der Realität und Erfahrungswelt zum Ziel, so basiert Rilkes Roman auf der Einsicht, dass ein solches Unternehmen aufgrund eines unüberschaubar und komplex gewordenen Lebens in der zivilisatorischen Moderne fragwürdig geworden ist.
Erzählunfähigkeit Als Konsequenz akzeptiert Rilke die Erzählunfähigkeit, sowohl die seines Protagonisten als auch die eigene. Denn zwar gelingt Malte in seinen nichtstädtischen Aufzeichnungen, in den Reminiszenzen an die Ulsgaarder _____________ 43
Rilke wohnte hier in einem Hotel anlässlich seines ersten Paris-Aufenthalts vom Ende August bis Anfang Oktober 1902.
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Vergangenheit und den Reflexionen über historische Gestalten bzw. Ereignisse also, ein annähernd traditionelles Erzählen seiner Kindheit und seiner Lektüre. Von daher unterscheiden sie sich von den mit städtischer Realität sich auseinandersetzenden Berichten. Durch diese Differenzierung bringt Rilke den Kontakt zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Land (Ulsgaard) und Stadt (Paris) nicht nur durch eine thematische Gegenüberstellung der beiden Welten (individueller versus anonymer Tod, Individuum versus Masse, Eingebundensein in die Familie versus Einsamkeit in der Masse) zum Ausdruck, sondern auch durch die sprachliche Form. Denn angesichts der erfahrenen urbanen Wirklichkeit, der Erfahrung einer »veränderten Welt« und eines »neue[n] Lebens voll neuer Bedeutungen« muss Malte erkennen: »Daß man erzählte, wirklich erzählte, das muß vor meiner Zeit gewesen sein« (MLB 844). Das Erzählen setzt die Fähigkeit der verbindenden und ordnenden Erfassung der (zu erzählenden) sichtbaren Elemente voraus, eine Fähigkeit, die Rilke für seinen Malte jedoch verloren gab: »Was im Malte Laurids Brigge […] ausgesprochen eingelitten steht«, schrieb er an Lotte Hepner, »das ist ja eigentlich nur ›dies‹, mit allen Mitteln und immer wieder von vorn und an allen Beweisen dies: ›Dies‹, wie ist es möglich zu leben, wenn doch die Elemente dieses Lebens uns völlig unerfaßlich sind?«44 Rilke koppelt die Erzählfähigkeit an die urbane Erfahrung d.h. an den Verlust von Überschaubarkeit und Übersichtlichkeit in der Moderne. Die Anonymisierung und Verinnerlichung, die Malte in Paris erfährt, lassen auch ihn zu der Erkenntnis kommen, dass die Dinge »Versuche [machen], sich ihren Anwendungen zu entziehen« (MLB 877). Indem Malte seine Unfähigkeit und die Unmöglichkeit zu erzählen aus seiner Pariser Stadtexistenz heraus formuliert, lässt diese sich als Folge urbaner Erfahrung erklären. Einem solchen Zusammenhang wird er in den Aufzeichnungen durch die Kontrastierung der ländlichen mit der städtischen Welt gerecht. Für die (Pariser) Gegenwart sieht Malte sich nicht mehr in der Tradition des klassischen Erzählens, sein Großvater hingegen ist ihm ein Musterbeispiel eines traditionellen Erzählers, die Konturen von dessen Welt sind Kontinuität, Dauer, Wiederholung sowie Überschaubarkeit und Beschaulichkeit. In Erinnerung an diese Welt des Großvaters, die teilweise auch die seiner eigenen Ulsgaarder Kindheit ist, gelingt Malte ein annähernd stringentes und geordnetes Erzählen. In den Passagen jedoch, die in der zeitlichen Ebene der Gegenwart und somit der räumlichen der Großstadt spielen, ist ihm ein zusammenhängendes Schildern unmöglich. Die »Kunst des Erzählens« ist auch in den Aufzeichnungen an das, so eine _____________ 44
Rainer Maria Rilke an Lotte Hepner, 8. November 1915, in: Ders.: Briefe aus den Jahren 1914–1921, S. 85-93, hier S. 86.
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Formulierung Walter Benjamins aus seinen narratologischen Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, »Vermögen, Erfahrungen auszutauschen«,45 gebunden und somit im städtischen Raum nicht mehr möglich; ist hier doch die »Erfahrung« durch die Form des schockartigen »Erlebnisses«46 ersetzt. Auch Maltes städtische Wahrnehmungs- und Erfahrungsstruktur zeichnet sich nicht mehr durch die Form der »Erfahrung« aus, die »von der Vorstellung einer Kontinuität, einer Folge nicht abzulösen ist«;47 vielmehr entspricht sie der Form jenes schockartigen ›Erlebnisses‹, das im Übrigen auch Charles Baudelaires Wahrnehmungsweise und poetische Transformation der Großstadt kennzeichnet. Baudelaire vergleichbar erfährt Malte das »Chockerlebnis« des Passanten »in der Menge«, das sodann für die »Faktur«48 bestimmend und als poetisches Formprinzip seiner Aufzeichnungen etabliert wird. Maltes Gang durch die großstädtische Masse ist ein durch ›Chock‹ und fragmentarische Wahrnehmung bestimmter und die formale Struktur seiner Aufzeichnungen dementsprechend eine durch Brüche und dissoziierte Reihung gekennzeichnete. Die Zeit seiner Kindheit in Ulsgaard hingegen ist die »Zeit, in der man noch erzählte« (MLB 844). Zwar sagt Malte an einer Stelle, er »habe nie jemanden erzählen hören«, jedoch schreibt er seiner Mutter die Fähigkeit zu erzählen zu: »Und nun will ich die Geschichte aufzeichnen, so wie Maman sie erzählte, wenn ich darum bat« (MLB 790). Mit dieser Aussage wird ein stringentes, Ordnung stiftendes und Zusammenhang herstellendes Erzählen an eine mündliche Erzähltradition sowie an die Fähigkeit der Rekonstruktion von »Erinnerung« (MLB 787) und der Vergegenwärtigung von Vergangenem gebunden.49 Maltes städtische Gegenwart ist durch die Übermacht der Stadt bestimmt, sie überlagert Erinnerung und beeinträchtigt von daher seine Fähigkeit zu erzählen. Eine solche Einheit von Erzählen und Erinnerung wird durch den Zusammenhang mit dem Motiv des ›Sehens‹ verstärkt. Allerdings ist es _____________ 45 46 47 48 49
Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows [1936], in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II/2. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1977, S. 428-465, hier S. 439. Walter Benjamin: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus [1939], in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I/2. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1977, S. 509-690, hier S. 651f. Benjamin: Das Passagenwerk, S. 964. Benjamin: Charles Baudelaire, S. 632 u. 617. Allerdings macht sich auch hier Verunsicherung breit: Graf Brahe, von dem Malte weiß, dass er das Erzählen »noch gekonnt haben soll«, verfügt zwar über die Fähigkeit, eine Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herzustellen, dies allerdings nur mehr unter Verzicht auf Kausalität und Chronologie: »Die Zeitenfolgen spielten durchaus keine Rolle für ihn, der Tod war ein kleiner Zwischenfall, den er vollkommen ignorierte, Personen, die er einmal in seine Erinnerung aufgenommen hatte, existierten, und daran konnte ihr Absterben nicht das geringste ändern« (MLB 735).
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gerade dieses Motiv, das die ländliche Vergangenheit mit der Gegenwart der Pariser Stadtexistenz verbindet. In ihr sind das Sehen und die Wahrnehmung wichtige Techniken der Aufnahme und Aneignung von Realität, wenn nicht gar zentrale Existenzformen. Über die Erzählkunst seiner Mutter etwa schreibt Malte: »›Sehen‹ eigentlich konnte ich sie nur, wenn Maman mir die Geschichte erzählte« (MLB 786).50 Die Fähigkeit zu erzählen ist vom Vermögen des Erzählenden abhängig, dem Zuhörer oder Leser das Erzählte ›sichtbar‹ machen zu können. Dieses Sichtbarmachen gelingt jedoch nur in Verbindung mit der Fähigkeit der Vergegenwärtigung des Vergangenen und der Aufhebung der verschiedenen Zeitebenen. Somit liegt ein Grund von Maltes Erzählunfähigkeit in seiner Erinnerungsstruktur. Denn während es beispielsweise von den Kindheitserinnerungen des Grafen Brahe heißt: »Was er aber nicht vergessen wollte, das war seine Kindheit. Auf die hielt er« (MLB 846), so weiß Malte für sich nur zu sagen: »Hätte man doch wenigstens seine Erinnerungen. Aber wer hat die? Wäre die Kindheit da, sie ist wie vergraben« (MLB 721). Maltes Erinnerungsstruktur ist mithin, wie seine Wahrnehmungsstruktur, durch Fragmentierung gekennzeichnet: So wie ich es [das Haus des Grafen Brahe in Urnekloster] in meiner kindlich gearbeiteten Erinnerung wiederfinde, ist es kein Gebäude; es ist ganz aufgeteilt in mir; da ein Raum, dort ein Raum und hier ein Stück Gang, das diese beiden Räume nicht verbindet, sondern für sich, als Fragment, aufbewahrt ist. In dieser Weise ist alles in mir verstreut. (MLB 729)
Durch die Beschreibung der Erinnerungsstruktur als ›aufgeteilt‹ und ›verstreut‹, mithin als fragmentarisch, ist diese identisch mit Maltes urbaner Wahrnehmungs- und Erfahrungsstruktur, als deren Kennzeichen er ebenfalls die Fragmentierung und »Zerstreuung« (MLB 877) nennt. So sind die Kriterien, die als Voraussetzung für das Erzählen reklamiert wurden, die Vorgabe eines geschlossenen Erfahrungsbereichs sowie die zur Erfahrung gewordenen Erinnerungen und die dadurch bedingte Fähigkeit der Sichtbarmachung des Erzählten im großstädtischen Raum nicht mehr gegeben. Dieser aber ist die Erzählergegenwart und -situation; so muss Malte in Paris ein neues Sehen und demzufolge auch ein neues Schreiben lernen, das nicht mehr die zur Darstellung gebrachten Erinnerungen meint, sondern die Aufnahme und Verarbeitung der äußeren Realität als Voraussetzung für das Schreiben über seine innere Welt.
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Diese Verbindung von Erzählen und Sehen wird auch durch den Grafen Brahe hervorgehoben: »Sie kann es nicht schreiben, […] und andere werden es nicht lesen können. Und werden sie es überhaupt ›sehen‹, was ich sage?« (MLB 847).
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Die Form der Aufzeichnungen Zwar gelingt Malte innerhalb der Kindheitserinnerungen und der übrigen nichtstädtischen Aufzeichnungen ein annähernd traditionelles Erzählen, jedoch bemüht er sich auch hierbei nicht um eine chronologische und kausale Verknüpfung dieser Aufzeichnungen. Nur an wenigen Stellen besteht die Verbindung über die Motivstruktur. Motive aus dem städtischen Raum werden aufgenommen und in Zusammenhang mit seiner Kindheit in Ulsgaard gesetzt, wie etwa der Verfolgungswahn oder die Reflexion über den anonymen Massentod und die Furcht. Die einzelnen Aufzeichnungen erzählerisch miteinander zu verknüpfen, erweist Malte sich indes als unfähig, und so entspricht dem Auflösungsprozess im syntaktischen Bereich die Auflösung auf der formalen Ebene. Denn Malte gelangt über die Aufzeichnungsebene nicht hinaus. Er versteht sich selbst nicht als Erzähler, sondern als ›Aufzeichnender‹, der die Begebenheiten ›weitergibt‹: »Und nun will ich die Geschichte aufschreiben, so wie Maman sie erzählte« (MLB 790), formuliert er in seiner 28. Aufzeichnung. In der folgenden Aufzeichnung gebraucht Malte dann zwar den Begriff des ›Erzählens‹ für sich selbst, fügt jedoch hinzu, dass damit kein Erzählen im Sinne des Berichtens an andere Leser oder Zuhörer gemeint ist: »So ist es, wunderlich genug, das erste Mal, daß ich (und schließlich auch nur mir selber) eine Begebenheit erzähle, die nun weit zurückliegt in meiner Kindheit« (MLB 792). Auch die Berichte Abelones kann Malte nur ›aufschreiben‹: »Ich will aufschreiben, was sie davon wußte«, schreibt er zunächst und gleich danach erinnert er wieder daran, dass er kein Erzähler, sondern nur ›Aufzeichnender‹ ist, indem er seiner Unsicherheit über das Wiedergegebene Ausdruck verleiht: »Aber dann fühlte sie auf einmal das Fenster und, wenn ich recht verstanden habe, so konnte sie vor der Nacht stehn […]« (MLB 844). Zweifelsohne gelingt Malte in den nichtstädtischen Aufzeichnungen im Gegensatz zu denen mit städtischer Thematik ansatzweise ein Chronologie und Kausalität herstellendes Schreiben, jedoch bereitet ihm dies Mühe. Die Aufzeichnungen, in denen von Maltes »kleinem grünen Buch« die Rede ist, machen deutlich, wie schwer es ihm fällt, zusammenhängend zu erzählen und sich die einzelnen »Geschichten« zu vergegenwärtigen. Er kann sich nur noch an zwei dieser Geschichten erinnern: »Ich erinnere nur noch zwei […]. Das Ende des Grischa Otrepjow und Karls des Kühnen Untergang« (MLB 822). Zwar versucht Malte sich dann Auszüge aus diesen beiden Geschichten in Erinnerung zu rufen, aber diese Auszüge in einen erzählerischen Zusammenhang zu bringen, gelingt ihm nicht mehr. Nachdem er betont hat, es bestehe »natürlich gar keine Aussicht […], dass [ihm] das kleine
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Buch je wieder in die Hände kommt«, beginnt er sich einige Szenen dieser Geschichte in Erinnerung zu rufen. Berichtet werden diese Stellen sodann aber fast ausschließlich in der Konjunktivform, auch hebt Malte ihren hypothetischen Charakter hervor: »Ich kann natürlich nicht dafür einstehen, wie weit das alles in jener Geschichte berücksichtigt war. Dies, scheint mir, wäre zu erzählen gewesen« (MLB 883). Auch hier erweist Malte sich als nicht fähig, den Inhalt des Buches oder den der einzelnen Geschichten zu erzählen bzw. nachzuerzählen. Auch in der Aufzeichnung vom verlorenen Sohn (Nr. 71) ist letztlich keine Wiederherstellung des traditionellen Erzählens zu erkennen, zumindest wird diese Geschichte nicht in einen verbindlichen Erzählzusammenhang integriert. Auch über sie gelangt Malte über die Aufzeichnungsebene nicht hinaus. Er selbst hebt den Unterschied seiner ›Aufzeichnungstätigkeit‹ im Gegensatz zum Erzählen immer wieder hervor. Es ist dieses Unvermögen und diese Unwilligkeit Maltes, zusammenhängend zu erzählen, die die Entstehung eines traditionellen Romans verhindern. Weder existiert eine Fabel noch tritt ein Protagonist als Handlungsträger auf, dem die Fähigkeit eigen ist, zusammenhängend zu erzählen. Die Aufzeichnungen werden so zum Paradigma »einer mit radikaler Konsequenz durchgeführten Zertrümmerung des traditionellen Romans«,51 wobei das Fehlen einer geschlossenen, chronologisch und kausal erzählten Handlung in der Nachfolge der durch die impressionistische Schreibweise eingeleiteten Tradition zugleich den Verzicht auf »eine integrierende Darstellung der Wirklichkeit«52 bedeutet. Stattdessen zerfällt die Realität in desintegrierte Teile, ein Zerfall, dem der Ausschnittcharakter der Aufzeichnungen gerecht wird. Sie bieten sich dar als eine Aneinanderreihung einzelner Fragmente und Skizzen, bestehend aus Beobachtungen, Reflexionen und Erinnerungen, die an keiner Stelle in einen übergreifenden Kontext eingebunden werden. Rilke ersetzt so, wie noch Fritz Martini kritisch anmerkte, »die entwickelnd-zusammenfügende Form des traditionellen Romans durch die impressionistisch in Augenblicke und Fragmente auflösende Bündelung von assoziativ verknüpfenden Aufzeichnungen […]«.53 Diese mosaikartige Zusammensetzung entspricht der kaleidoskopartigen Struktur der Großstadt. Der assoziative Aufbau, dem eine kompositorische Einheit durch den Verzicht auf den Erzähler, die Fabel sowie ein fortlaufend chronologisches Handlungsgerüst fehlt, entspricht dem Übergewicht und der Dynamik der städtischen Außenwelt und der daraus resultierenden Unmöglichkeit, die in ihrer Totalität unüberschaubar gewordene und _____________ 51 52 53
Fritz Martini: Das Wagnis der Sprache. Stuttgart 1954, S. 139. Arnold Hauser: Sozialgeschichte der Kunst und Literatur. 2 Bde. München 1953, Bd. 2, S. 485. Martini: Das Wagnis der Sprache, S. 140.
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demzufolge nur fragmentarisch wahrnehmbare Realität in ein logischkausales Netz zu fassen und einen Erzählerstandpunkt zu finden, von dem aus ein sinnstiftendes Erzählen noch möglich erscheint. Malte deutet diese Unüberschaubarkeit an, wenn er schreibt, dass die Dinge »Versuche [machen], sich ihren Anwendungen zu entziehen« (MLB 877). Er begreift die Stadt als eine nicht mehr nacherzählbare Welt, deren übergreifende, integrierende Strukturen nicht erkennbar und somit auch nicht mehr fassbar sind. Die Form der Aufzeichnungen ist die Folge dieser Unerzählbarkeit der Stadt. Darüber hinaus ist diese Unerzählbarkeit aber auch die Konsequenz einer urbanen Wahrnehmungsstruktur, als deren wichtigste Kennzeichen die aus den Prozessen der Dynamisierung und Technisierung resultierende Atomisierung und Fragmentierung genannt wurden. Maltes Eindrücken, Wahrnehmungen und Reflexionen in Form kurzer Aufzeichnungen ist die ›Augenblickhaftigkeit‹ ebenfalls als formales und syntaktisches Strukturmerkmal immanent geworden. So wie sich Maltes durch Schock bestimmte Wahrnehmung auf die Selektion isolierter Wirklichkeitsausschnitte reduziert, unterwirft er auch die Aufzeichnung dieser Wahrnehmungen dem Reduktionsprinzip. Hiermit ist die Stufe erreicht, auf der der Stoff die Form bestimmt und die Stadt zu einem den Stil bestimmenden Faktor wird. Der zu erzählende Stoff gewinnt aufgrund seiner Beschaffenheit ein Eigenleben, dem ein Erzähler nicht mehr gewachsen ist. Die Stadt wird nicht mehr erzählt, sondern sie stellt sich selbst dar. Dies allerdings bedeutet zugleich, dass die Moderne im Roman Einzug hält.
MATTHIAS LUSERKE-JAQUI
Carl Einstein: Bebuquin (1912) als Anti-Prometheus oder Plädoyer für das »zerschlagene Wort«1 Carl Einstein (1885–1940) gehört nach wie vor nicht zu jenen Autoren der klassischen Moderne,2 die durch große kommentierte Werkausgaben einerseits und durch eine unübersehbare Menge an Forschungsliteratur andererseits literaturwissenschaftlich geadelt sind. Freilich hat sich seit dem Erscheinen des Bebuquin als Reclam-Taschenbuch 1985 insofern etwas geändert, als inzwischen hochspezialisierte wissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Text geschrieben wurden.3 Und auch die verwirrende Editionslage seiner Werke hat sich gelichtet, immerhin verfügt Einstein nun über eine fünfbändige Ausgabe, die so genannte Berliner Ausgabe.4 Doch bleibt der Bebuquin immer noch ein Stiefkind in der allgemeinen Lesergunst, in Schule und Hochschule wird er meist nicht einmal erwähnt. Und der Erzähler Einstein ist – über den Bebuquin hinaus – ohnehin ver_____________ 1 2
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Ich danke Vanessa Geuen sehr für das schwierige Protokoll zum Bebuquin-Seminar im Sommersemester 2007 und ihre kreative Kritik. Vgl. zu diesem Begriff Matthias Luserke-Jaqui: »Technische Kulturarbeit«? Überlegungen zum Begriff der ›Klassischen Moderne‹, in: Ders. (Hg.): »Alle Welt ist medial geworden.« Literatur, Technik, Naturwissenschaft in der Klassischen Moderne. Internationales Darmstädter Musil-Symposium. Tübingen 2005, S. 9-22. Diesem Beitrag liegt folgende Ausgabe zugrunde: Carl Einstein: Bebuquin. Hg. v. Erich Kleinschmidt. Durchgesehene u. bibliographisch ergänzte Ausgabe 1995 [11985]. Stuttgart 2005. Im Folgenden mit der Sigle B belegt. – Zur ersten und schnellen Orientierung über die Einstein-Bibliographie vgl. folgenden Link: http://www.carleinstein.uni-muenchen.de /Bib3re.htm (22.6.2007). – Vgl. ferner Johannes Sabel: Text und Zeit. Versuche zu einer Verhältnisbestimmung, ausgehend von Carl Einsteins Roman Bebuquin oder Die Dilettanten des Wunders. Frankfurt a.M. 2002 – Erich Kleinschmidt: Das Rauschen der Begriffe. Produktive Beschreibungsproblematik in Carl Einsteins Kunst des 20. Jahrhunderts, in: Weimarer Beiträge 47/4 (2001), S. 507-524 – Anke Finger: Das Gesamtkunstwerk der Moderne. Göttingen 2006, bes. S. 98-102 – Thomas Krämer: Carl Einsteins Bebuquin. Romantheorie und Textkonstitution. Würzburg 1991 – Klaus H. Kiefer: Diskurswandel im Werk Carl Einsteins. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte der europäischen Avantgarde. Tübingen 1994 – Reto Sorg: Aus den »Gärten der Zeichen«. Zu Carl Einsteins Bebuquin. München 1998 – Liliane Meffre: Carl Einstein 1885–1940. Itinéraires d’une pensée moderne. Paris 2002 – Sabine Kyora: Carl Einsteins Bebuquin, in: Walter Fähnders (Hg.): Expressionistische Prosa. Bielefeld 2001, S. 79-91. Vgl. Carl Einstein: Werke. Berliner Ausgabe. Bd. 1-4 hg. v. Hermann Haarmann u. Klaus Siebenhaar, Bd. 5 hg. u. kommentiert v. Uwe Fleckner u. Thomas W. Gaehtgens. Berlin 1992-1996.
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gessen.5 Insofern versteht sich dieser Beitrag als ein Plädoyer für die textnahe Lektüre des Bebuquin, um so die scheinbare oder tatsächliche Hermetik des Textes zu sprengen und einen Einblick in den Reichtum dieser Art von Literatur zu gewinnen.
Autor Einsteins Familie kam 1888 nach Karlsruhe. Von 1903 an studierte Carl Einstein Philosophie, Geschichte, Kunstgeschichte und Altphilologie in Berlin. Erste Kontakte ergaben sich zu Franz Pfemfert (Herausgeber der Zeitschrift Aktion), ebenso zu Malern, insbesondere den Kubisten. 1915 erschien das Buch Negerplastik, eine Auseinandersetzung mit dem Kubismus. Teilnahme am Ersten Weltkrieg, im November 1918 war er für kurze Zeit Mitglied des Soldatenrats in Brüssel. Zurück in Berlin knüpfte er Kontakte zu den Dadaisten und arbeitete als Kunstkritiker. Mit seinem Drama Die schlimme Botschaft (1921) handelte sich Einstein einen Gotteslästerungsprozess ein. Sein bekanntestes Werk Die Kunst des 20. Jahrhunderts erschien in der Propyläen-Kunstgeschichte 1926.6 Freundschaftliche Beziehungen u.a. zu Gottfried Benn und Ivan Goll. 1928 erfolgte der Umzug nach Paris, wo er in den Jahren 1929-31 mit George Bataille zusammenarbeitete. Sein Gedicht Entwurf einer Landschaft, die letzte literarische Einzelveröffentlichung, erschien 1930. 1934 veröffentlichte Einstein eine Monographie über den befreundeten Maler George Braque. 1936 nahm er am Spanischen Bürgerkrieg teil und musste vor den Francisten 1940 nach Paris fliehen. Von dort aus erfolgte die Flucht vor den Nazis bis zur spanischen Grenze, wo er am 3. Juli 1940 Selbstmord beging. Einsteins literarische Texte wurden und werden schnell mit den literaturgeschichtlichen Perioden der Dekadenz, Neoromantik, des Symbolismus, Expressionismus, Kubismus, Dadaismus in Verbindung gebracht.7 _____________ 5 6
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Zu erinnern ist hier etwa an den grotesk-surrealistischen Erzählband Der unentwegte Platoniker (Leipzig 1918), zu dem es gar keine wissenschaftliche Literatur gibt. Zur Bedeutung Einsteins als Kunstkritiker und Kunsthistoriker vgl. jetzt die umfassende Arbeit von Uwe Fleckner: Carl Einstein und sein Jahrhundert. Fragmente einer intellektuellen Biographie. Berlin 2006; vgl. auch German Neundorfer: »Kritik an Anschauung«. Bildbeschreibung im kunstkritischen Werk Carl Einsteins. Würzburg 2003 – Carl Einstein: Negerplastik. Hg. v. Rolf-Peter Baacke. Mit einem Text v. Hannes Böhringer. Berlin 1992 – Klaus H. Kiefer (Hg.): Die visuelle Wende der Moderne. Carl Einsteins Kunst des 20. Jahrhunderts. München 2003. Vgl. Sabine Kyora: Eine Poetik der Moderne. Zu den Strukturen modernen Erzählens. Würzburg 2007, S. 8. – Andreas Kramer: »Versuch zur Freiheit?« Carl Einsteins Verhältnis zu Dada, in: Klaus H. Kiefer (Hg.): Die visuelle Wende der Moderne. Carl Einsteins Kunst des 20. Jahrhunderts. München 2003, S. 163-178 – Edith Ihekweazu: »Immer ist der
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Hugo Ball, Benn, Walter Serner, Clément Pansaers, die Wiener Gruppe, Helmut Heißenbüttel und andere beziehen sich auf Einstein. Unstrittig gehört er zu den avanciertesten Begründern der (klassischen) Moderne.
Methodologische Vorbemerkung Natürlich ist es legitim, Einstein mit Einstein zu interpretieren, also dem Bebuquin einen autopoetischen Subtext unterzuschieben, der entweder im Roman8 selbst generiert wird oder der nachträglich als externer Text auf den Roman projiziert wird, wie beispielsweise Briefstellen, Aufsätze, Nachlassnotizen. Problematisch wird dieses Verfahren dann, wenn man unterstellt, dass eine zeitliche Differenz zugleich auch eine Entwicklungsdifferenz markiert, dass sich also der Autor im Fortgang der Zeit weiterentwickelt. Kann man beispielsweise einen Roman aus der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts unbesehen mit Briefzitaten aus den 1920er Jahren deuten? Einsteins Selbstanspruch klingt eindeutig: »Einen andern Zeitsinn schaffen; meine ganze Romantätigkeit; darum nur Romane. […] es muss mir gelingen, eine gesetzmäßige, veränderte Kunst zu erfinden.«9 Sein Brief an Daniel Henry Kahnweiler vom April 1923 – die genaue Datierung ist unsicher – geht explizit auf sein poetologisches Programm und den Kubismus ein. Mit Blick auf seine Arbeiten allgemein – also ohne den Bebuquin zunächst eigens zu nennen – charakterisiert der Autor sein Schreibverfahren als einen Versuch der »Umbildung der Raumempfindungen«, der nicht theoretisch, sondern erzählend zeigen solle, »wie sich Dinge, Vorstellungen usw. als Raumempfindung umbilden in einem Menschen«.10 Dies setze eine eigene Art des Sehens voraus – und hier bringt Einstein den Begriff des Kubismus ins Spiel (der Abfassungszeitraum des Bebuquin 1906-09 überschneidet sich mit den ersten kubistischen Bildern in der Malerei). Die Literatur hinke in diesem Punkt hinter der Malerei her. Er selbst habe bereits vor dem Ersten Weltkrieg mit einer IchVorstellung operiert, die das Ich nicht mehr als metaphysisches, sondern _____________ 8
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Wahnsinn das einzig vermutbare Resultat«. Ein Thema des Expressionismus in Carl Einsteins Bebuquin, in: Euphorion 76 (1982), S. 180-197. Ich bleibe bei dem gattungstypologischen Term ›Roman‹, obgleich Einstein in seinem Essay Über den Roman. Anmerkungen (1912) polemisiert: »Ich schlage vor, bis auf weiteres die Bezeichnung Roman aufzugeben« (Einstein: Werke, Bd. 1, S. 146). Vgl. auch Einsteins Brief über den Roman (ebd., S. 86-91). Einstein selbst verwendet die Gattungsbezeichnung im Bebuquin nicht. Zitiert nach: Sibylle Penkert: Carl Einstein. Beiträge zu einer Monographie. Göttingen 1969, S. 78. Zitiert nach: Penkert: Carl Einstein, S. 139.
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als funktionales Subjekt verstehe. Im Bebuquin habe er die ersten literarischen Versuche unternommen, das »Verlieren der Sprache, oder Auflösung einer Person, oder Verunreinigung des Zeitgefühls«11 darzustellen. Sein Roman stelle »das zerschlagene Wort« dar, den Versuch, wie ein einfacher Mann »gegen diese konventionelle Sprache ankämpft«.12 Der Zusammenhang zwischen Erlebnis und Sprache sei in der Literatur nach wie vor unzureichend dargestellt, insofern spricht Einstein von einer »unzureichende[n] Sprache«.13 Wie der Kubismus in der Malerei ein besonderes Raumgefühl übersetze, müsse so die Sprache nicht eigentlich der Form der Erlebnisse angepasst werden, fragt Einstein.14 Literatur könne entweder Ausdruck der Sprache oder Ausdruck einer Wirklichkeit sein. Im Bebuquin würden »die üblichen Dinge an tatsächlich elementaren Erlebnissen lächerlich und grotesk«.15 Technisch habe er diesen Effekt so erzeugt, indem er ein Verb gewählt habe, das zwar logisch zu einer Sache passe, dem optischen Eindruck aber zuwiderlaufe.16 Dieses Verfahren nennt er die »unoptische Verknüpfung der Worte«.17 Doch das Unoptische ist wahrlich utopisch, Einstein muss verbittert feststellen: »[…] und eine Litteratur – wie ich sie mache – ist von vorneherein verloren, da sie gegen den Leser und die übliche Litteratur geschrieben ist.«18 Die für eine Erzähltextanalyse entscheidende Frage: Wer spricht? lässt sich im Bebuquin nicht mehr beantworten. Die Zuordnung von Figurenrede und Erzählerrede verschwimmt, Eindeutigkeit bleibt meist aus. Das unterstreicht das Programm: Es ist gleichgültig, wer spricht. Entscheidend ist allenfalls: Der Text spricht. Die Zuordnung von Reden zu Figuren ist ein konventionalisiertes Rezeptions- (und natürlich auch Produktions-)verfahren, das bei dieser Art von Prosa völlig nebensächlich wird. Der Verzicht auf eine eindeutige Zuordnung der Figurenrede markiert also bereits eine narrative Anti-Position des Romans.
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Zitiert nach: Penkert: Carl Einstein, S. 140. Zitiert nach: Penkert: Carl Einstein, S. 141. Zitiert nach: Penkert: Carl Einstein, S. 141. Vgl. Penkert: Carl Einstein, S. 142. Zitiert nach: Penkert: Carl Einstein, S. 143. Vgl. Penkert: Carl Einstein, S. 144. Zitiert nach: Penkert: Carl Einstein, S. 144. Zitiert nach: Sibylle Penkert: Carl Einstein. Existenz und Ästhetik. Wiesbaden 1970, S. 17.
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Titel – Widmung Als Entstehungszeit gibt Einstein selbst unterhalb der Widmung seines Romans den Zeitraum zwischen 1906 und 1909 an. Eine Fortsetzung des Romans, an die Einstein in den 1920er und 1930er Jahren dachte, bleibt unausgeführt. Eine stimmige Erklärung des sonderbaren Namens ›Bebuquin‹ hat die Forschung bis heute nicht liefern können. Erich Kleinschmidt fasst die Diskussion knapp zusammen. Allgemein wird angenommen, dass es sich um ein Einstein’sches Kunstwort handelt, in dem das französische ›bébête‹ (unsinnig, kindisch) bzw. ›bébé‹ (Baby) ebenso steckt wie ›mannequin‹ (Kunstfigur). Kleinschmidt verweist auf einen möglichen hebräischen Kern, ›be-buqin‹ hieße ›in Flaschen‹ und bezeichne demnach das Alogische und Absurde der Hauptfigur.19 Auch eine Verbindung zum französischen ›bouquin‹ (Schmöker) lässt sich herstellen.20 Jedenfalls erklärt dies auch, weshalb ›Bebuquin‹ französisch ausgesprochen wird. Der vollständige Titel des Romans lautet Die Dilettanten des Wunders [/] oder [/] die billige Erstarrnis. [/] Ein Vorspiel. Bebuquin. Der Titel ist – ähnlich wie der Titel eines barocken Romans – mittig zentriert. Mit ein wenig Phantasie kann man in der vierzeiligen Anordnung ein Figurengedicht in Form einer Sanduhr erkennen. Dem Titel wäre damit bereits ein kulturgeschichtlich-literarisches Vergänglichkeitsmotiv eingeschrieben, ein ›memento mori‹ ebenso wie ein ›carpe diem‹. Die billige Erstarrnis stellt sich nach den ersten Zeilen als ein »Museum zur billigen Erstarrnis« (B 3) heraus. Euphemia wird sich später als »Wachspuppe aus der billigen Erstarrnis« (B 24) titulieren. »O Erstarrnis, stagnierender Tod; Versteinerung und Schlaf, ihr fristet uns das Leben, das sich wütend aufbrauchte ohne eure Hemmung« (B 43), wird Bebuquin gegen Ende des fünfzehnten Kapitels resümieren. Erstarrnis bedeutet Stillstand. Einstein widmet seinen Bebuquin einem anderen Klassiker der Moderne, dem französischen Schriftsteller André Gide (1869–1951). Damit eröffnet er dem Leser die generelle Möglichkeit, seinen Text auf diese GideReferenz hin zu lesen. Darin steckt eine bizarre Form der Intertextualität, die lange Zeit in der Forschung unentdeckt geblieben ist,21 obgleich be_____________ 19
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Vgl. Erich Kleinschmidt: Nachwort, in: Carl Einstein: Bebuquin. Hg. v. Erich Kleinschmidt. Durchgesehene u. bibliographisch ergänzte Ausgabe 1995 [1. Auflage 1985]. Stuttgart 2005, S. 69-86, hier S. 73f., Anm. 16, sowie Heidemarie Oehm: Die Kunsttheorie Carl Einsteins. München 1976, S. 103ff. Vgl. Kleinschmidt: Nachwort, S. 74. Einzig Dirk Heißerer hat sich etwas eingehender damit beschäftigt, vgl. Dirk Heißerer: Negative Dichtung. Zum Verfahren der literarischen Dekomposition bei Carl Einstein.
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reits Franz Blei (1871–1942) diesen Zusammenhang zwischen Einsteins Roman im Allgemeinen und Gides Erzählung Der schlechtgefesselte Prometheus (Le Prométhée mal enchaîné) von 1899 im Besonderen erkannt hat.22 Blei war auch der erste Übersetzer von Gides Erzählung. In seinem Beitrag für Die Aktion vom November 1912 schreibt er unter Hinweis auf die enormen Leseschwierigkeiten des Bebuquin: »Als Prometheus vor jener denkwürdigen Pariser Versammlung die Geschichte von seinem Adler erzählte, ließ er immer, wenn er das Interesse seiner Zuhörer erlahmen merkte, einige Raketen steigen und schweinische Photographien kursieren, die ihm für eine Weile wieder die Sympathien seiner Zuhörer verschafften. Sie haben es versäumt, lieber Herr Einstein, den Fall einer verzwickt-genitalen Frauenseele in den generalen Fall Ihres Buches zu bringen […]. Sie haben überhaupt Enthaltung von allen ›modernen Problemen‹ bis zur Askese getrieben – […].«23 Einsteins Roman enthält also aus der Sicht Bleis nichts, was in irgendeiner Weise geeignet wäre, Spannung beim Leser aufzubauen. Der Bebuquin macht kein rezeptionspsychologisches Angebot, er verweigert Handlung, Spannung, eindeutige Figurenrede, Identifikation, Kontraidentifikation, ästhetischen Genuss. Dies aber willentlich und vorsätzlich, Einstein unterläuft die ›Sinnangebote‹ herkömmlicher Erzählliteratur. Von Gides Adler, der natürlich auf den aischyleischen Mythos referiert, bleibt bei Einstein lediglich ein kläglicher Schmerzkakadu übrig. Man kann darin durchaus eine Verballhornung von Gides surrealistischem Adler erkennen. Im achten Kapitel sagt Böhm: ›[…] Schmerzkakadu los!‹ Der Giebel des Buffets färbte sich bunt. Vogelaugen starrten, die Wände der Bar überzogen sich mit Vogelfedern, und man hörte ein Gerattel von Flügeln, man spürte, es wird geflogen, höher, wilder in den Wahnsinn. […] Die Flügel des Kakadus wurden mit Menschen angefüllt. (B 24)
Im neunten Kapitel wird der Schmerzkakadu nochmals namentlich erwähnt (vgl. B 25), während das elfte Kapitel einen versteckten Hinweis auf die Lesbarkeit dieser Referenz anbietet: Euphemia hat sich selbst »dem imaginierten Böhm angetraut« (B 28) und charakterisiert ihn als Peiniger (Schmerz!). »Ich hocke tagelang und sehe ihn in dem Schatten des Abends, bald grünt er im Morgen, wie ein endloser Kakadu, bald liegt er _____________ 22 23
München 1992, S. 41-44. Einstein referiert nach Heißerer auf Gides poetologisches Modell der Defiktionalisierung, »ohne die auktoriale Erzählhaltung aufzugeben« (ebd., S. 43). Mit dem Prometheus-Motiv beschäftigt sich Einstein auch in seinem kleinen kunstkritischen Beitrag Arnold Waldschmidt (1910), worin er Waldschmidts (1873–1958) Prometheus-Bild beschreibt. Franz Blei: Carl Einstein [1912], in: Carl Einstein. Materialien Bd. 1: Zwischen Bebuquin und Negerplastik. Hg. v. Rolf-Peter Baacke. Berlin 1990, S. 51.
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draußen im Meer […]« (B 28).24 Dem Einwand Bebuquins, Euphemia verwechsle »die Gestalten« (B 28), vermische also Phantasmen und mythopoetische Fiktionen, entgegnet sie: »[…] ich stehe in einem langen alten Mythus, der mich umschlingt wie ein Gewebe.« (B 28f.) ›Gewebe‹ wörtlich ins Lateinische übersetzt ist ›textus‹, der Text.25 Da nun Prometheus im griechischen Mythos als Kulturbringer und Übermittler der Schrift an die Menschen gilt, wäre demnach Einsteins Bebuquin auch als eine Art Anti-Prometheus lesbar, der die Auflösung der Schrift und den Verlust der Kultur als spezifische Moderneerfahrung zelebriert. Gides Mahnung aus seiner Prometheus-Erzählung sollte die Leser jedenfalls nicht abschrecken: »suchen Sie in alledem nicht zu viel Sinn«.26 Über diese Prometheus-Referenz hinaus ist die Bedeutung Gides für Einstein offensichtlich, immer wieder hat er selbst den Franzosen als ein Muster und Vorbild hervorgehoben. Besonders drei Werke stehen dabei im Vordergrund: Le Traité du narcisse (Théorie du Symbole, 1891), Paludes (1895) und Le Prométhée mal enchaîné (1899). Allerdings bedarf es weiterer spezialisierter Forschungen, um die strukturellen Einflüsse über eine positivistische Buchhalterei hinaus plausibel zu machen.27
Textanalyse Heidemarie Oehm hat die Ansicht vertreten, dass Einstein in der Figur des Bebuquin alle anderen im Text auftretenden Figuren bündle, oder anders formuliert: Durch den Verzicht auf die Sicherheit einer einzigen, fiktiven, aber einheitlichen Figur dissoziiert die Figur Bebuquin in alle anderen auftretenden Figuren. Diese Externalisierungen lassen sich umgekehrt nicht mehr zu einer einzigen Figur zusammenfügen.28 Ob daraus allerdings eine Analogie zur kubistischen Malerei abgeleitet werden kann, sei dahingestellt. Oehm spricht gar von der »Liquidierung der AuktorialPerspektive«,29 aber davon kann nun keine Rede sein. In diesem Punkt der _____________ 24 25 26 27 28 29
Dass die grüne Farbe auf Arthur Schnitzlers antinaturalistisches Revolutionsdrama Der grüne Kakadu (1899) anspielen soll, lässt sich vermuten, aber nicht belegen. Vgl. zu diesem literaturtheoretischen Ansatz meine Ausführungen in Matthias LuserkeJaqui: Über Literatur und Literaturwissenschaft. Anagrammatische Lektüren. Tübingen, Basel 2003. André Gide: Der schlechtgefesselte Prometheus und andere Erzählungen. Hg. v. Raimund Theis. München 1999, S. 197. Vgl. dazu Maria Moog-Grünewald: Absolute Prosa? Anmerkungen zu Carl Einstein und André Gide, in: Hans T. Siepe, Raimund Theis (Hg.): Andreғ Gide und Deutschland. Düsseldorf 1992, S. 73-82. Vgl. Oehm: Die Kunsttheorie Carl Einsteins, S. 89ff. Oehm: Die Kunsttheorie Carl Einsteins, S. 97.
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Erzählperspektive kann der Autor gar nicht anders als sich einer auktorialen Perspektive zu bedienen – wie sonst ließe sich das, was er programmatisch als literarische Revolution formuliert, auch literarisch umsetzen? Mutmaßlich gibt es keinen Text vom Beginn des 20. Jahrhunderts, der sich einer Deutung so radikal verweigert wie Einsteins Bebuquin. Gleich das erste Kapitel exponiert fünf Textmerkmale: 1.) Einstein entscheidet sich von Beginn an für das sprachliche Darstellungsverfahren der Synästhesien: Scherben klirren auf eine Stimme, das Licht tropft. Von Bebuquin erfahren wir nur, dass er ein junger Mann ist und in diese Jahrmarktbudensituation gerät. Dass das Panoptikum zur Metapher für Welt gerät, wird schnell deutlich. 2.) Einstein verzichtet auf ein chronologisches Muster, das dem Leser die Orientierung im Text und die Rückbindung der Handlungsfragmente an eine erzählte Zeit erlauben könnte. 3.) Ebenso verzichtet Einstein auf die Entwicklung einer Handlung, allenfalls handlungsähnliche Episoden werden aneinandergefügt, wobei die Zuordnung von Handlungselementen zu Figuren völlig belanglos, geradezu zufällig bleibt. Man könnte hier fast schon ein aleatorisches Prinzip, wie es für die experimentelle Literatur der 1960er Jahre konstitutiv wurde, am Werk sehen.30 4.) Damit entfaltet Einstein eine radikale Polyperspektivik, die nur noch über die Titelfigur Bebuquin zusammengehalten wird. 5.) Die Bedeutung des Traums, die in der Literatur der Jahrhundertwende ohnehin durch Philosophie, Psychologie und Psychoanalyse als produktionsästhetische Quelle von Literatur aufgewertet wird, ist unübersehbar. Der Traum (auch in der Variante des Tagtraums) wird zum Darstellungssubjekt, am entschiedensten wohl im Ulysses von James Joyce und in Arthur Schnitzlers Fräulein Else. Die Aufwertung des Traums in der Literatur der klassischen Moderne liegt gerade darin, dass er neben Rauschzuständen die einzige Erfahrungsmöglichkeit darstellt, Raum- und Zeitwahrnehmungen zu verschieben, also deren naturwissenschaftlichphysikalische Absolutheit subjektiv in Frage stellen zu können. Einsteins Bebuquin versucht, diese Erfahrung jenseits von Rausch und Traum als Literatur und in Literatur abzubilden. Letztlich lässt sich hier auf der Autorseite doch wieder eine mimetische Absicht bestätigen, ohne die Literatur nicht auskommt.
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Vgl. Matthias Luserke: Tractatus methodo-logicus. Zum modalkategorialen Aspekt einer Literaturästhetik. Hildesheim, Zürich, New York 1988, bes. S. 55.
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Fasst man diese fünf Profilmerkmale zusammen, die gleich die Eingangspassage des Romans kennzeichnen, dann wird deutlich, dass der Autor die Darstellung von Totalität – auf der Erzählerebene heißt dies dann auch: von Auktorialität – unter allen Umständen vermeiden will. Einstein liefert mögliche Ansichten einer subjektiv gebrochenen Welt, dies symbolisiert bereits die Spiegelmetaphorik (vgl. B 4) im »Museum zur billigen Erstarrnis« (B 3). Der Begriff ›Vorspiel‹, wie er sich im Untertitel findet, ist in diesem Zusammenhang erhellend: ›Vorspiel‹ kann auf den Charakter der theatralen Inszenierung des Nachfolgenden hinweisen, dadurch die dramatische Struktur des Textes unterstreichen und eine buchstäbliche wie uneigentliche Bedeutung besitzen. Ebenso kann ›Vorspiel‹ im Sinne der Täuschung, des Vorspielens und Vorspiegelns falscher Tatsachen verstanden werden, demnach generierte der nachfolgende Text nur Täuschungen, nach deren Wahrheits- und Wirklichkeitsgehalt zu fragen müßig wäre. ›Vorspiel‹ kann drittens als sexueller Begriff verstanden werden; danach wäre der gesamte nachfolgende Text als Vorspiel eines ausstehenden und jenseits des Textes liegenden Hauptaktes zu verstehen. Im übertragenen Sinn könnte man dies auf die produktionsästhetische Ebene beziehen, Einstein würde also mit seinem Roman einen ›Probelauf‹ bieten, das eigentliche Projekt der ›Anti-Literatur‹ würde folgen. Biographisch argumentiert müsste man feststellen, dass Einstein diese Absicht nicht eingelöst hat. Viertens kann ›Vorspiel‹ der Musikersprache entnommen sein, wonach das Vorspielen eine Art Prüfung und Reifeeignung darstellt. Der Text würde dann den Lesern gleichsam zur Prüfung vorgelegt. Fünftens schließlich kann ›Vorspiel‹ auch als Epochenmarkierung gelesen werden, welche den Bruch der Moderne mit den Gewohnheiten und Gepflogenheiten spätrealistischen Schreibens dokumentiert. Der Selbstanspruch des Autors wäre dann kein geringer und läge darin, mit seinem Bebuquin einen Text des Epochenbruchs und damit der Moderne zu schaffen. Aus heutiger Sicht wäre dieser Selbstanspruch Einsteins mehr als gerechtfertigt. Bei all diesen Überlegungen muss aber berücksichtigt bleiben, dass die Konstruktion des Titels und des ersten Kapitels durchaus auch Raum für ein ironisches Verständnis eröffnet, der Bebuquin könnte als Parodie gelesen werden. Ob dieser parodistische Ton allerdings durch alle neunzehn Kapitel durchgehalten wird und sich der Text insgesamt als Moderneparodie eignet, darf bezweifelt werden.31 Unter der Vorgabe einer ironischen Lesart erwiese sich das ›Vorspiel‹ dann sogar als kulturelles Diminutiv, das _____________ 31
Zur Bedeutung der Parodie für die Literatur der Moderne vgl. Nikola Roßbach: Theater über Theater. Parodie und Moderne 1870-1914. Bielefeld 2006.
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dem eigentlichen Hauptteil untergeordnet vorausgeht, selbst aber bedeutender ist. Die Exposition eines klassisch erzählten Textes fehlt, diese Funktion erfüllt das erste Kapitel nicht. Die Erzählerposition bleibt unklar, die direkte Rede kann – von wenigen Fällen abgesehen – nicht immer klar und eindeutig einer Figur zugeordnet werden. Die Wirklichkeit, die im Text mimetisch erzeugt wird, ist durch die Jahrmarktmetapher mit einem karnevalesken Index versehen. Dadurch bekommt alles, was in der Folge als Text gesagt resp. erzählt wird, eine Ortlosigkeit, da verlässliche Bezugspunkte fehlen. Das Karnevaleske meint das Uneigentliche, markiert den Bruch zwischen Ich und Welt, da es auf Ordnung verzichtet und die Ordnungslosigkeit zum Prinzip erklärt. Dieser Verlust von Sicherheit und Kohärenz, der auf der Textebene erzeugt wird, generiert sich in der Lektüre sofort auch auf der Rezipientenseite. So, wie Bebuquin als Figur ortlos, weil nirgends verlässlich verortbar, ist und damit zur Symbolfigur der gesellschaftlichen Moderne wird, so erfährt sich auch der Leser unmittelbar bei der Lektüre als ortlos. Dieser Moderneeffekt wird durch den Text erzeugt, und Einstein erweist sich an dieser Stelle als ungemein experimenteller, moderner Autor. Im ersten Kapitel wird auch der Grund gelegt für die weitere alogische Entwicklung der Textebene. Bebuquin macht deutlich, dass es nichts Neues mehr zu finden gebe, alles sei nur eine Folge von Kombinationen aus Bekanntem. Der Verzicht auf die abendländische binäre Logik mit ihren wahr-falsch-Dichotomien ist der folgerichtige nächste Schritt. Der Text dokumentiert dies durch die Verweigerung einer logischen Erzählhaltung, die Figuren selbst erweisen sich als brüchig und alogisch. Dies erlaubt einen dreifachen Rückschluss: Zum einen ist das Medium, das herkömmlicherweise die Aufhebung von Raum und Zeit, von Logik, Ordnung und Naturgesetzlichkeit beansprucht, der Traum. Zum anderen wird dieser anthropologisch-kulturelle Effekt auch durch drogenbasierte Halluzinationen hervorgerufen. Und schließlich ist es der von Bebuquin angesprochene Wahnsinn, der gleichfalls diese Effekte zeitigt. Traum, Halluzinogene und Wahnsinn stellen also jene Fluchtmöglichkeiten aus Logik und Naturgesetz dar, welche die Perspektive der Andersheit, die nun in den folgenden Kapiteln ins Spiel kommt, eröffnen können. Insofern ist es also wiederum nur konsequent, dass der Autor offen lässt, ob seine Figuren träumen, halluzinieren oder delirieren. Der Text mobilisiert am Ende die Erkenntnis: Es gibt keine Sinngebungsinstanzen mehr, keine religiösen, keine mathematischen, keine naturwissenschaftlichen, keine literarischen, keine narrativen. Raum ist für Bebuquin nur das, was als Raum wahrgenommen wird, ihm eignet keine apriorische Erkenntnisquali-
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tät mehr wie noch bei Kant. Beim Autor Einstein wird Literatur zur Nennung von Möglichkeiten. Im zweiten und dritten Kapitel setzt sich das Einstein’sche Schreibverfahren fort: Die Ordnungslogik der Erzählung – Voraussetzung jeglicher Eindeutigkeit des Verstehens – wird durch den Verzicht auf eine eindeutige Zuordnung der Figurenrede unterlaufen. Das knappe Kapitel liest sich wie ein Themenkatalog der Literatur der Moderne: Leiden als Stimulanz, Phantasie und Logik, Logik und Symbolik, Wahnsinn, Langeweile, Mathematik, Unendlichkeit, Dichterverständnis, Kunst und Symbolik, Technik und Poesie, der andere Sinn, Teil und Ganzes, Synthese und Analyse, Literatur und Psychologie, Ich-Konstitution, Rausch und Kunst, ›Nervenstränge‹, Hysterie und Wahnsinn. In dieses Kapitel fällt auch die Formulierung von den »Gärten der Zeichen« (B 9). Die Symbolik des Bildes liegt darin, dass Gärten Produkte kultureller Techniken sind, dass sie in aller Regel gepflegt, d.h. angelegt und geordnet sind und sich von Wildnis unterscheiden. In dieses Bild schießt also urplötzlich die Frage ein, wer denn die Ordnung der Zeichen herstellt, wenn alles ordnungslos sein soll. Zudem: Kurz zuvor hat Einstein Sprache als »unreine Kunst« (B 8) beschrieben, Begriffe seien gar »Nonsens« (B 10), demnach ließe sich auch bei größtmöglicher Anstrengung keine restlose Ordnung sprachlicher Zeichen herstellen, da diese von Natur aus ›unrein‹ sind. Ihr symbolischer Repräsentationswert ist nachhaltig eingeschränkt. Der Leser bleibt mit der Einsicht zurück, dass der Text auf ein elementares erkenntnistheoretisches Problem zusteuert. Die vom Text thematisierte Sprachskepsis bedeutet Erkenntnisskepsis. Das vierte Kapitel ist ein Monolog Nebukadnezar Böhms. Die einsinnige abendländische Logik wird verworfen, stattdessen gelten gleichberechtigt »viele Logiken« (B 12). War zuvor vom anderen Sinn die Rede, so wird nun deutlich, dass Einsteins Konzept der unendlichen Kombinationen Voraussetzung ist, um diese Andersheit zu generieren. Ob es sich dabei um etwas – auch ontologisch fassbares – Anderes von objektiver Qualität handelt oder doch nur um ein subjektiv erzeugtes Vorstellungsbild, bleibt noch unscharf. Am Ende des vierten Kapitels erreicht der Text dann die erkenntnistheoretische Problemstellung. Kant habe die Hauptsache aller Philosophie vergessen, die in der Frage bestehe: »was wohl das Erkenntnistheorie treibende Subjekt macht, das eben Objekt und Subjekt konstatiert. Ist das wohl ein psychisches Ding an sich?« (B 13) Die Figur, welche dies äußert, ist bereits tot, die Logik von Wirklichkeit und Täuschung ist auf der Figurenebene also durchbrochen. Die Infragestellung letzter Gewissheiten, seien sie metaphysisch oder theologisch begründet, ist als zeit-
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genössisches Thema der Philosophie zu erkennen. Der Philosoph und Physiker Ernst Mach (1838–1916) hat hier mit seiner Antimetaphysik maßgeblich auf die jungen Autoren der Jahrhundertwende gewirkt. In dem bereits zitierten Brief an Kahnweiler schreibt Einstein: »Theoretisch am nächsten steht mir vielleicht Mach, der aber wo es über das physiologische hinausgeht leider versagt und garnicht die Sprache in Betracht zieht«.32 Mach ist einer der Väter des Positivismus, das Kapitel Antimetaphysische Bemerkungen aus seinem Buch Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1886, 2. Auflage 1900) enthält eine eindeutige Absage an jede Form metaphysischer Spekulation. Als erklärter Empirist hält er diese Art des Philosophierens für überflüssig. Vor allem seine Theorie der Ich-Konstitution hat ein breites literarisches Echo gefunden. Von einem Ich und, so Mach, von einem davon zu unterscheidenden Körper zu sprechen, sei falsch. An Stelle von ›Ich‹ solle man den Begriff ›Elementenkomplex‹ verwenden, worunter ein Bündel von Elementen (und das meint bei Mach Empfindungen) wie beispielsweise Düfte, Drücke, Farben, Räume, Töne, Wärme, Zeiten zu verstehen sei. Nur diese seien wirklich und Aufgabe der Wissenschaft sei es, ihre funktionale Abhängigkeit untereinander zu erforschen. Das Ich setzt sich somit aus diesen Elementen zusammen. Damit wird für Mach ein klassisch transzendentalphilosophisches, also ein jenseits aller Erfahrung liegendes Ich als Denknotwendigkeit überflüssig, Mach bringt diese Erkenntnis auf die radikale und ebenso folgenreiche Formel: »Das Ich ist unrettbar«.33 Ich ist lediglich ein Bündel verschiedener Empfindungen. Mach wirkte nachweislich auf Autoren der klassischen Moderne wie Robert Musil, Hermann Broch, Otto Weininger, Hermann Bahr und andere. »Das Künstlerische beginnt mit dem Wort anders.« (B 15) Mit dieser Programmformulierung eröffnet Bebuquin im fünften Kapitel den Zusammenhang zwischen Kunst und dissidenter Erkenntnistheorie. Ein Ich, das es als Ich nicht mehr gibt und das den Zusammenhang von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt aufhebt, das also gleichermaßen Subjekt wie Objekt ist, ist die Voraussetzung für diese Andersheit, die nur als Kunst zu erfahren ist. Wie aber – so muss gegen den Text eingewendet werden – soll jenseits der Differenzqualitäten von Subjekt und Objekt _____________ 32
33
Carl Einstein an Daniel Henry Kahnweiler, in: Penkert: Carl Einstein, S. 143. – Vgl. Carsten Könneker: »Auflösung der Natur und Auflösung der Geschichte«. Moderner Roman und NS-»Weltanschauung« im Zeichen der theoretischen Physik. Stuttgart, Weimar 2001, bes. Kap. 1.1: Prolog im Kaiserreich. Carl Einsteins Bebuquin und die Relativitätstheorie, S. 9-27. Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. Mit einem Vorwort zum Neudruck v. Gereon Wolters. Nachdruck der 9. Aufl. Jena 1922. Darmstadt 1985, S. 20.
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über die Aufhebung dieser Differenz gesprochen werden können? Ein Ich, das die Differenz aufgehoben hat, vermag nicht mehr über die Differenz zu urteilen, ohne in die Differenz zurückzufallen. Dieses Problem löst der Text nicht – und muss er auch gar nicht lösen, da es sich ja lediglich um ein Problem abendländischer binärer Logik handelt, nicht aber um ein Ergebnis alogischer Andersheit. Denn Andersheit bedeutet – wie aus dem Ende des fünften Kapitels hervorgeht – auch Verzicht auf Kausalität. Mit Blick auf die Rezeptionsebene bedeutet dies: Der Leser muss, um den Text angemessen rezipieren zu können – wobei offen bleibt, ob dies Lesen oder Verstehen heißt –, auf seine gewohnte logische Konditionierung verzichten. Der Text zielt mithin auf einen Zustand ästhetischer Erfahrung, der unmerklich an die kontemplativen Erfahrungen mystischer Tradition anschließt. Die höchste Form ist die Abstraktion und die höchste Abstraktion ist die Form. Die Paradoxa dieses sechsten Kapitels – etwa, das Nichts solle sich materialisieren – münden in ein Plädoyer für den »vollkommenen Blödsinn« (B 18), der die binären Ordnungen logischen Denkens (wahr – falsch) ad absurdum führen soll. Dies gleicht einer radikalen Vernunftkritik mit den Mitteln der literarischen bzw. sprachlichen Reflexion. Auf der Textebene bildet sich dies in der Form ab, dass der Text sich nun von Kapitel zu Kapitel zunehmend hermetisiert. Denn wenn, nach Maßgabe des sechsten Kapitels, Vernunft und ›Blödsinn‹ gleichwertig werden, entzieht sich der gesamte Text jeglicher vernünftiger Reflexion – das Wort »die Vernunft verarmte« (B 19) wird doppeldeutig. Hatte Einstein im fünften Kapitel geschrieben: »Das Künstlerische beginnt mit dem Wort anders« (B 15), dann heißt dies: anders zu erzählen bedeutet Anderes zu erzählen, analog heißt ›anders‹ sehen ›Anderes‹ sehen. Der konsequente Verzicht auf logische Ordnung, auf Vernunft und Naturgesetzlichkeit hat zur Folge, dass es beispielsweise völlig unerheblich wird, wer spricht. Im siebten Kapitel wird programmatisch die Symmetrie verabschiedet, die feminisiert als letzte Geliebte Bebuquins erscheint. Nur das Asymmetrische enthalte Leben und Bewegung. Die Ablehnung platonischer Ideen (so auch schon im fünften und sechsten Kapitel) ist Ausdruck einer radikalen Metaphysikkritik. Ein Ursprungsdenken wird verworfen, statt dessen ist alles instrumentell und funktionell. Das Alteritätsdenken steht also zwischen der Metaphysikkritik und der Vernunftkritik naturwissenschaftlichen Denkens. Die Andersheit zielt auf Phantasie, Wunder, Blödsinn, Alogisches und Irrationales, kurz auf Fiktion: »wir entbehren der Fiktio-
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nen« (B 17). Von hier aus ließe sich durchaus die These entfalten, Einstein versuche einen ›asymmetrischen‹, eben kubistischen Roman zu schreiben. Im achten Kapitel wird die Figur der Schauspielerin Fredegonde Perlenblick eingeführt. Die Auflösung der logischen Ordnung schreitet weiter, sie materialisiert sich im Text zunehmend, Rede und Gegenrede bleiben immer häufiger fragmentierte, einzelne Äußerungen. Dies kann als ein zunehmender Verlust von Vollständigkeitsdenken gesehen werden, der sich analog zum Verlust von Ursprungsdenken im siebten Kapitel vollzieht und sich im neunten Kapitel fortsetzt. Das zehnte Kapitel liefert ein eindrückliches sprachliches Beispiel für Einsteins poetologisches Verfahren einer ›unoptischen Verknüpfung der Worte‹: »Senkrecht schrieen die Leute« (B 27), die Bogenlampen schwingen energetische Milchkübel. Diese signifikante Nennung von ›Bogenlampe‹ und Verwendung von Lichtmetaphern unterstreicht auf der bildlichen Ebene des Textes das autopoetische Anliegen Einsteins. Gilt das Licht als Symbol der Aufklärung, dann muss die Bogenlampe das Nennsymbol der Moderne sein. Kulturgeschichtlich gesehen bedeuteten Bogenlampen einen immensen Fortschritt in der Lichtintensität, in der Sicherheit im Umgang mit offenem Licht und in der Verfügbarkeit. Auf der symbolischen Ebene garantiert die Bogenlampe das konsequente Ausleuchten letzter, dunkler Geheimnisse. » […] wie die Bogenlampe Hunderte von Kerzen in ein Leuchten sammelt; und nichts geht verloren«,34 schreibt Einstein an anderer Stelle. Folgt man dem Autor, vermag nur die Durchbrechung sprachlicher Konventionen diesen Bogenlampeneffekt auch in der Literatur zu gewährleisten. Nebenbei könnte die Bedeutung des Lichts und der Lichteffekte im Roman auch ein Ergebnis von Einsteins intensiven kunsthistorischen Studien sein. Auch hier muss man weitere Ergebnisse der Forschung abwarten. Kapitel elf dokumentiert den Prozess der Ich-Dissoziation auf der Figurenebene, es ist nun nicht mehr eindeutig eine Differenz zwischen der Figur Bebuquin und der Figur Giorgio auszumachen, Giorgio könnte nun auch als eine Externalisierung Bebuquins gelesen werden. Die Aufforderung des auktorialen Erzählers, der sich nur an sehr wenigen Textstellen zu erkennen gibt: »Erzählt nicht, wie Bebuquin die größte Wonne mit Narkoticis vergessen mußte« (B 32), könnte auch verkürzt als Einsteins poetologisches Programm, gleichsam als Aufruf an seine Zunft, gelten: ›Erzählt nicht!‹ _____________ 34
Einstein: Werke, Bd. 1, S. 47.
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Das zwölfte Kapitel benennt Bebuquins »kathartisches Gemach« (B 32). Während die ersten beiden Sätze geradezu als Thomas Mann-Parodie gelesen werden können – »Bebuquin trat unbemerkt in seine Wohnung. Er kleidete sich sorgfältig um, als er gebadet hatte.« (B 32) – entwickelt sich Bebuquins Rede, die als Gottesgebet camoufliert ist, sehr schnell zu einem lyrischen Delirismus oder delirierenden Lyrismus. Der Zeilenumbruch unterstreicht den hymnischen Ton, das Opfer der sprachlichen Festlegungen wird beklagt. Zugleich erfolgt die Absage an Deutungen und Einsinnigkeit formstreng in freien Rhythmen. Bebuquins Bekenntnis, »ich kann […] Verrücktes zeichnen […] in Worten […]« (B 34), verweist wieder auf den Zusammenhang von sprachlicher Gestaltungskraft und Wahnsinn und verweigert dem Leser eine eindeutige Beurteilung. Erzählfigur und Erzähler verschmelzen für einen Moment: »Herr, gib mir ein Wunder, wir suchen es seit Kapitel eins« (B 34). Einstein bemüht also einen deliranten Diskurs, um die Grenzen von Sprache und Vernunft zu überschreiten, Andersheit ist nicht anders zu erringen. Sein Roman erinnert dabei an manch prominentes Beispiel der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts, zu erwähnen ist hier etwa das poetische Schaffen eines Adolf Wölfli, auf dessen literaturwissenschaftliche Entdeckung man immer noch vergebens wartet.35 Die Gleichung der Gleichheit von Eins und Unendlich in der zweiten Hälfte des Kapitels lässt zwar einen philosophischen Diskurs erwarten, man sollte sich aber davor hüten, vereinzelte Philosopheme oder Zitate aus der Geschichte des Denkens ordnen oder systematisieren zu wollen. Sie gehorchen nur einem Prinzip, dem der Assoziation. Das dreizehnte Kapitel wartet mit einer Referenz auf den Kubismus auf. Wahrheit und Falschheit seien ebenso vom Beobachterstandpunkt abhängig wie die Frage nach der richtigen Perspektive. Während Gedanken – und zu ergänzen wäre: und ihr sprachlicher Ausdruck – stets eine Festlegung intendieren und suggerieren, als sei das Denkmögliche zu Ende gedacht, wertet Bebuquin »Bilder« als »Taten der Augen« (B 36) mit unerschöpflichen Variabilitäten. Die kulturelle Präsentation von Formen ist kein Objektivum. Im Betrachten konstruieren wir ein Bild, auf poetologischer Ebene könnte dies nach Einsteins Gedanken heißen: Wir konstruieren den Text Bebuquin beim Lesen. Einsteins Sprachkritik misstraut der Sprache zutiefst. Die Quintessenz lautet – und damit beschreibt Einstein _____________ 35
Vgl. Adolf Wölfli: »o Grad 0/000: Entbrannt von Liebes,=Flammen«. Gedichte. Ausgewählt u. mit einem Nachwort v. Jürg Laederach. Frankfurt a.M. 1996.
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den Sieg der Phantasie über die Vernunft: »Die Logik will immer eines und bedenkt nicht, dass es viele Logiken gibt.« (B 36) Dieses Grundthema der Differenz von Wirklichkeit und Wirklichkeitswahrnehmung bzw. von Objekt und Subjekt ist auch das beherrschende Thema des vierzehnten Kapitels. Wenn Bebuquin feststellt: »Ich lebe nur noch vom Wort anders« (B 38), dann bezieht er sich nun selbst ein in diesen Perspektivenwechsel. Der Auflösungsprozess, die Ich-Dissoziation, schreitet voran, die Erlebnisse werden sprachlos und religiös, nun müsse sich die Welt »verwandeln« (B 40). Konsequent wird diese Auflösung auch auf der Erzählerebene betrieben. Das fünfzehnte Kapitel verbürgt schon nicht mehr die Richtigkeit des Erzählten, vielmehr heißt es: »Bebuquin soll […] gesprochen haben« (B 41). Dieser Modus des Ungefähren schlägt also auch auf die narrative Struktur durch, der Text wird zunehmend abbreviatorischer, fragmentarischer. Die letzten Kapitel, sechzehn bis neunzehn, treiben den deliranten Diskurs ins Aberwitzige. Wenn Erkenntnisse, zu Ende gedacht, direkt in den Wahnsinn führten (vgl. B 44), dann kann das nur heißen, auf Erkenntnisse zu verzichten oder den Wahnsinn ernst zu nehmen. Der Aufruf, Mut zu privatem Irrsinn zu haben (vgl. B 46), und das letzte Kapitel weisen auf diese letzte Möglichkeit, es verweigert ganz die direkte Rede, jenes Medium der selbstsichernden Identität. Der Text bricht unvermittelt ab, gleichsam ohne Ende. Den Bebuquin als Parabel auf die Moderne zu lesen liegt zwar nahe, ist aber nicht restlos überzeugend. Denn Moderne ist bei Carl Einstein gekennzeichnet durch eine Aufwertung des Worts und den Verlust von Handlung. Die Linearität der Wortfolge soll durch die Simultaneität des Wortgeschehens ersetzt werden – wie wir heute wissen, ein fast aussichtsloses Unterfangen. Und der Roman selbst dokumentiert hinreichend den zunehmenden Wortverlust. Zudem hat Einstein später von der »abrupte[n] Künstlichkeit der Moderne, die keiner verpflichtenden Kultur eingefügt ist«,36 gesprochen. Es fehle die soziale Verankerung, deshalb »blieb die Moderne folgenlos und wirkte kaum auf die tatsächlichen Zustände ein«; Einstein spricht sogar von der »autistische[n] Überzüchtung« der modernen Kunst.37 Zu Recht darf aber Einsteins Roman zu den »Stiftungstexten einer modernen Ästhetik«38 gerechnet werden. Ob allerdings der Begriff _____________ 36 37 38
Carl Einstein: Die Fabrikation der Fiktionen. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Hg. v. Sibylle Penkert. Reinbek b. Hamburg 1973, S. 14. Einstein: Die Fabrikation der Fiktionen, S. 14. Kleinschmidt: Nachwort, S. 85.
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des Anti-Romans, den Helmut Heißenbüttel für den Bebuquin ins Spiel gebracht hat, dafür hilfreich ist, hat Schärf mit guten Argumenten bezweifelt.39 Das erzähltechnische Verfahren der ›Dekomposition‹ – ein Begriff, der für Einsteins ›NarratoLogistik‹, wenn dieses Behelfswort gestattet ist, gelegentlich verwendet wird40 – ist noch längst nicht genügend ausgeleuchtet. Ebenso wenig hat sich Gottfried Benns Begriff der ›absoluten Prosa‹, den er für Gide und Einstein in Anspruch nahm, bewährt.41 Schärf selbst bescheinigt dem Bebuquin, dass er einen »intellektualistischen Anarchismus« mit »spontaneistische[m] […] Charakter« repräsentiere.42 Peter Sprengel wiederum lobt zwar Einsteins Roman als einen der »avanciertesten Beiträge zum Projekt der literarischen Moderne im deutschen Sprachraum«,43 um dann aber doch wieder den »Eindruck dieses Werks als ›progressiver Universalpoesie‹ im Sinne der Frühromantik«44 hervorzuheben. Damit wird der Modernitätsaspekt ins Beliebige historisch aufgeweicht. Franz Blei hat in seiner Einstein-Kritik die Unzeitgemäßheit des Bebuquin hart beurteilt: Ich kann dem Buche […] nur wünschen, daß es möglichst unverkauft beim Verlage bleibe, damit die erhofften Leser in dreißig Jahren dort die schönen sauberen Exemplare finden – in dreißig Jahren, was ich als die Zeit annehme, wo man sich um die paar Bücher, welche die Literatur unserer Tage bilden, kümmern wird.«45
Dreißig Jahre – die sind längst vorbei und der Bebuquin gehört inzwischen zu den wichtigsten Büchern des frühen 20. Jahrhunderts, auch wenn dies noch nicht jeder begriffen hat. Einstein mag dies geahnt haben, im Februar 1933 schreibt er: dies ist gefahr: meine dichtung steht kaum in zusamenhang mit heutiger deutscher dichtung; meine figuren dagegen sind schaerfer und aggressiver als die der deutschen. mein denken und sprechen will revolutionär sein, soweit es den unmittelbaren menschen angeht. dichtung als verwandlung und nicht als bewahren von typen, erlebnisarten und zustaenden.46
Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang an einen anderen vergessenen Kandidaten der Moderne denken, Melchior Vischer (1895–1975). _____________ 39 40 41 42 43 44 45 46
Vgl. Christian Schärf: Der Roman im 20. Jahrhundert. Stuttgart 2001, S. 122. Vgl. Schärf: Der Roman im 20. Jahrhundert, S. 123f., und Heißerer: Negative Dichtung. Vgl. Schärf: Der Roman im 20. Jahrhundert, S. 124f. Schärf: Der Roman im 20. Jahrhundert, S. 125. Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 2004, S. 407. Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur, S. 409. Blei: Carl Einstein [1912], S. 51. Carl Einstein. Prophet der Avantgarde. Hg. v. Klaus Siebenhaar in Verbindung mit Hermann Haarmann u. Hansgeorg Schmidt-Bergmann. Berlin 1991, S. 90.
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Sein Roman Sekunde durch Hirn (1920) wird als erster deutschsprachiger Dada-Roman bezeichnet.47 Schon im Pro und Epilog seines Romans erweist er Einstein seine Reverenz: Ich opfere dieses astronomische Punktierbuch, auch Bibel, geschrieben in Prag zu einer Zeit, die molluskenhaft, ich mathematisch wirklich nicht bestimmen kann, es sei denn mittels ultravioletter Geometrie, jenen, von denen Karl Einstein in Bebuquin sagt: ›Zu wenig Leute haben den Mut vollkommenen Blödsinn zu sagen. Häufig wiederholter Blödsinn wird integrierendes Moment unseres Denkens‹, darum sage ich einmal wieder einen andren, durchaus neuartigen Blödsinn.48
Unvergleichlich aktuell bleiben bis heute Einsteins 1919 veröffentlichten mahnenden Worte aus dem Pamphlet Man schaffe den Besitz ab: »damit man die Stärke der Person und nicht Dicke der Dividende auf Schulen und Universitäten ausbildet«.49
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Melchior Vischer: Sekunde durch Hirn [1920]. Der Hase [1922]. Hg. u. mit einem Nachwort versehen v. Peter Engel. Frankfurt a.M. 1988, S. 131. Vischer: Sekunde durch Hirn, S. 7f. Carl Einstein: Werke, Bd. 2: 1919–1928. Hg. v. Marion Schmid u.a. Berlin 1981, S. 18.
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Jäger der verlorenen Pace. Robert Müller: Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs (1915) 1 Im namenlosen ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts begibt sich ein deutscher Ingenieur auf eine Reise; diese Reise wird erheblich länger dauern als geplant und ihn nach vielen Abenteuern und langen Reflexionen zu Einsichten führen, die vor allem mit der Bedeutung des Irrationalen und der Fragilität der modernen westlichen Kultur zusammenhängen. – Jeder Leser deutschsprachiger Literatur wird in dieser kleinen Paraphrase Thomas Manns Zauberberg aus dem Jahre 1924 wiedererkennen, die Geschichte von Hans Castorps Aufenthalt in einem Schweizer Lungensanatorium. Die wenigsten dürften dagegen auf Robert Müllers (1887–1924) neun Jahre zuvor veröffentlichten Roman Tropen kommen, auf den sie ebenso zutrifft, und das ist eigentlich schade. Zwar fährt auch Hans Castorp nicht ganz ohne exotistische Accessoires nach Davos – von seiner »krokodilsledernen Handtasche« und einem Buch namens »Ocean steamships«1 ist gleich im ersten Kapitel die Rede – doch was ist das schon gegen seinen Vorgänger Hans Brandlberger, den seine Reise auf der Suche nach einem Goldschatz in den südamerikanischen Dschungel von Guayana führt, woselbst er auf echte Krokodile (bzw. Alligatoren) schießt und darüber hinaus in mannigfache Grausamkeiten, Kämpfe, wüste Rituale, ja sogar Sex mit nackten Eingeborenen verwickelt wird. Wer jetzt neugierig geworden ist und bei sich denkt »Was ist’s mit den indianischen Djunglen, hoho, erzählen, erzählen!«, dem hält Müllers Romantext allerdings folgende Antwort entgegen: – Meine Damen und Herren, es tut mir leid, daß ich Sie werde enttäuschen müssen. Mit den indianischen Djunglen ist es nämlich nichts. Es gibt sie kaum. Ich
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Thomas Mann: Der Zauberberg. Roman. Frankfurt a.M. 1981, S. 7.
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rate Ihnen zu irgendeinem Kohlenweiler, oder doch zu einem Kaffeehause. Man hat Ihnen die Tropen in einer falschen Tonung zur Kenntnis gebracht.2
Wer dies liest, befindet sich allerdings schon etwa in der Mitte des Romans und muss sich folglich fragen, welchen Status die bisher gelesenen Dschungelabenteuer denn eigentlich hatten; zumal ihr Ich-Erzähler, besagter Brandlberger, auch noch gesteht: »Ich bin nicht der Held und Abenteurer, für den Sie mich halten.« (T 121) Dabei spricht er ausdrücklich ein Wiener Fräulein Zauner an, deren Name in österreichischer Aussprache zum Verwechseln dem der Indianerin Zana ähnelt, die eine Hauptrolle in den exotischen Abenteuern Brandlbergers spielt, und mehr noch dem »jener Priesterin Zaona«, von der im Rahmentext berichtet wird, dass sie »Jahre nach den Geschehnissen, die hier erzählt sind, den großen Indianeraufstand entfesselte« (T 9). Haben wir es hier etwa mit einem jener Wortspiele zu tun, von denen der Erzähler im gleichen Zusammenhang (vgl. T 123) betont, er hole aus ihnen seine Überzeugungen? Wortspiele, Mystifikationen, Doppeldeutigkeiten, Wahnvorstellungen, Spiritismus, Widersprüche und Paradoxien – wo immer man Robert Müllers Roman aufschlägt, stößt man auf solche Elemente aus dem reichen Repertoire unzuverlässigen Erzählens. Man weiß eigentlich nie genau, ob sich der Held tatsächlich im Dschungel am Rio Taquado befindet, in einem Wiener Kaffeehaus oder vielleicht doch in einer Gummizelle in Steinhof. Das geht bereits beim Titel los: »Dies Buch sollte den Titel Zana tragen« (T 110), heißt es einmal, an anderen Stellen werden ›Irrsinn‹, ›Fieber‹ oder ›Jägerlatein‹ vorgeschlagen, andernorts steht – nachdem »Tropische Nächte« (T 85) als zu exotistisch zurückgewiesen wurde – bereits fest: »Es soll ›Tropen‹ heißen!« (T 202) Der das von seinem Buch sagt, ist an dieser Stelle freilich gar nicht Hans Brandlberger, der fiktive Autor der von Robert Müller ›herausgegebenen‹ »Urkunden eines deutschen Ingenieurs«, sondern dessen abenteuerlicher Reisegefährte Jack Slim, eine Lieblingsfigur Müllers, die in mehreren seiner Texte auftaucht. Zwischen Slim und Brandlberger gibt es im Dschungel mitunter eine Art mediumistische Verbindung, so dass man nicht weiß, wer hier wessen Gedanken beeinflusst oder plagiiert, oder ob womöglich einer von beiden nur die Figur des anderen ist. Nehmen wir nur die zitierte Stelle: Das Wort ›Tropen‹, fährt Slim fort, hat noch einen Nebensinn. Und das Schönste ist dies, ich lasse die ganze Geschichte von einem erzählen, der gar nie in den Tropen gewesen ist. Das ist näm-
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Robert Müller: Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs. Herausgegeben von Robert Müller Anno 1915. Hg. u. mit einem Nachwort v. Günter Helmes. 2. Aufl. Paderborn 1991, S. 120f. Im Folgenden mit der Sigle T belegt.
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lich die Pointe. Es stellt sich heraus, daß er, der Nordländer, die Tropen in sich hat. Er braucht gar nicht erst an den Äquator zu gehen, er hat ihn in sich. (T 202)
Das ist eine typische Stelle. Zunächst könnte man annehmen, Slim hätte recht. Erzähler ist ja in der Tat nicht er selbst, der internationale Abenteurer und Zukunftsmensch, sondern eben jener Brandlberger, von dem wir oben schon argwöhnten, er sei aus den Wiener Kaffeehäusern eigentlich nie herausgekommen. Brandlberger wird im Vorwort eingeführt »als der Typus des beginnenden 20. Jahrhunderts vor dem großen Kriege, ein Mann ohne eigentliche Begabung und ohne Charakter, ja, kaum ein Mann von Geist« (T 7), auch darin das Vorbild Hans Castorps. Das Vorwort, in dem sich Robert Müller als Herausgeber von Brandlbergers Text ausgibt, berichtet zwar von dessen tödlichem Engagement bei dem Versuch, eine kommunistische Kolonie im südamerikanischen Urwald zu gründen, doch liegt dieser Versuch später als die in Tropen erzählten Ereignisse – auf entsprechende Meldungen hin erinnert sich Müller überhaupt wieder an das ihm vor langer Zeit anvertraute Manuskript. Mit dieser Lesart wäre auch die Tatsache zu vereinbaren, dass der Ich-Erzähler Brandlberger Slims Gedanken, die nördlichen Rassen hätten die Tropen ›in sich‹, zu Beginn des Romans ausführlich exponiert, während er sich – man müsste nun wohl sagen: scheinbar – im Kanu durch den Urwald paddeln lässt: Zwischen mir und diesem Leben rings existiert nicht nur vielleicht eine metaphysische, es existiert sogar eine sehr hervorragende, ganz materielle Identität. […] Gehe ich konsequent in meinem Gedächtnis zurück, lasse ich allmählich das Bewußtsein fallen, so gelange ich zu dieser einen Tatsache: Ich bin ein naschhaftes Zellenbündel und liege im Wasser. Sie bildet den Kern meiner Vertrautheit mit jenem somnolenten Zustande. […] Das Gefühl, das ich jetzt gegenüber dieser Tropenlandschaft habe, ist ungefähr jene selbstgefällige Wehmut, die eine moderne Lokomotive beim Anblick eines James Wattschen Teekessels empfindet. Ich bin eine vielfach verbesserte Tropenlandschaft. Wo ich gehe und stehe, trage ich eine Normaltemperatur von sechsunddreißig Graden mit mir herum […]. (T 18f.)
Slim, der dies im wahrsten Wortsinne ›erfahren‹ hätte, würde den Ingenieur hier zu seinem Erzähler und Sprachrohr machen. Das Problem bei dieser Lesart ist, dass Slim seine Gedanken zum Tropen-Roman niemand anderem als Brandlberger selbst darlegt, und zwar am Lagerfeuer, also während sich die beiden als Reisegefährten gemeinsam in den Tropen befinden – im südamerikanischen Dschungel und natürlich auch im gleichnamigen Buch, von dem hier die ganze Zeit die Rede ist. So taugt auch Slims ›Pointe‹ nicht zum Master-Narrativ, über das sich die Komplexität der Erzählkonstruktion restlos auflösen ließe, sondern fügt sich bloß als weiteres Element in das Geflecht von Metalepsen und Paradoxien ein. Und damit noch nicht genug des Nebensinns – von den Wortspielen war schon die Rede und Müller aktiviert selbstverständlich auch noch die
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rhetorische Bedeutung von Tropen als Plural von ›Tropus‹, uneigentliche, bildhafte Rede. Das steigert sich über die Behauptung »man könnte sagen, der Mensch sei im Verhältnis zu den Tropen ein Tropus« (T 243) – können Sie noch folgen, lieber Leser? – bis hin zum letzten Satz des Buches, der da lautet: »Wenn man aber den Menschen der Zukunft fragen wird, ob er schon in den Tropen gewesen sei – ah, was Tropen, sagt er, die Tropen bin ich!« (T 244)
2 Sortieren wir das! Robert Müllers 250-Seiten-Roman Tropen ist, soviel dürfte klar geworden sein, ein hochkomplexes Erzählwerk voller selbstreflexiver Schleifen, Paradoxien und Ambiguitäten. Es erzählt eine Abenteuergeschichte, enthält aber – auch darin dem Zauberberg vergleichbar – vielfach kapitellange Passagen kulturphilosophischer Reflexionen und Dialoge. Bereits Kurt Hiller charakterisierte das treffend als »unerhörte Kreuzung […] aus Nietzsche und Karl May«.3 Die Unsicherheiten, die sich aus der Erzählkonstruktion ergeben, betreffen zum einen diegetische Zusammenhänge wie die Identität der Personen, die Realität bestimmter Ereignisse oder, geradezu kriminalistisch, die Täterschaft bei mehreren erzählten Morden. Zum anderen betreffen sie aber auch die Erzählung selbst, ihren Status und ihre Zurechenbarkeit zu bestimmten Erzählerfiguren. Das topisch mystifizierende Vorwort, das den Text als ein Manuskript Brandlbergers ausgibt, ist dabei noch die harmloseste Form der Verwirrungsstiftung. Ein wenig erstreckt sich diese Unsicherheit sogar auf den Autor selbst. Robert Müller war zu seiner Zeit ein durchaus bekannter Wiener Literat, Essayist und Verleger. Er war unter anderem mit Robert Musil befreundet und gehört zu den bedeutenderen Vertretern des österreichischen Expressionismus in seiner aktivistischen Spielart. Eine Weile war sich die Forschung jedoch unsicher, ob er Europa je verlassen und seine vermeintlichen Auslandsjahre stattdessen womöglich in einer Nervenheilanstalt verbracht habe.4 Inzwischen ist nachgewiesen, dass er sich tatsächlich eine Zeitlang in den USA aufgehalten hat, nämlich in den Jahren 1909 bis 1911. Unter anderem war er in New York publizistisch tätig – seine späteren Manhattan-Texte zeugen noch davon. Weitergehende Berichte, »auf eine Episode als Cowboy auf einer mexikanischen Pferderanch sei die _____________ 3 4
Kurt Hiller [1920], zitiert nach: Günter Helmes: Nachwort, in: Müller: Tropen, S. 245-264, hier S. 246. So noch 1990 in Helmes’ Nachwort zu Tropen, S. 247.
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Durchquerung Amerikas erfolgt«,5 oder »dass Müller bis nach Westindien gekommen sei und die Tropen selbst bereist habe, stammen aus zweiter Hand und sind mit Vorsicht zu genießen«.6 Im Ersten Weltkrieg diente er als Soldat, erlitt einen Nervenschock und wurde später im Propagandaapparat des österreichischen Heeres eingesetzt. Seine Werke, zunächst kürzere Prosatexte, erscheinen in expressionistischen Publikationszusammenhängen. Tropen ist sein erster großer Roman, sein opus magnum, dem in den 1920er Jahren noch einige folgen, dazu entsteht ein umfangreiches essayistisches Werk. 1924 erschießt sich Müller aus nie ganz geklärten Gründen. Sieht man von allen oben genannten Vorbehalten ab und konzentriert sich ganz auf die Handlung, dann ergibt sich für Tropen ungefähr folgender Plot: Drei Weiße, der Amerikaner Jack Slim, der Deutsche Hans Brandlberger und der Niederländer Charlie van den Dusen begeben sich mit einigen indianischen Trägern auf die Suche nach einem Goldschatz im Urwald von Guayana. Nach langer Reise im Kanu und zu Fuß erreichen sie ein Indianerdorf, in dem sie eine Weile leben, wobei ihr Ansehen bei den Eingeborenen ständig abnimmt. Es kommt zu einem rituellen Kampf mit einigen Indianern, bei dem die Weißen unterliegen, sowie zum Mord an einer Indianerin. Die drei fliehen aus dem Dorf und nehmen die Priesterin Zana mit. Nach langen Strapazen erreichen sie ihr Ziel, einen Wasserfall, finden dort aber nur wertlose Reste einer Kolonialexpedition. Sie vegetieren nun eine Weile am Wasserfall vor sich hin, wobei Slim und Van den Dusen auf grausame Art umkommen. Zana bringt Brandlberger schließlich in die Zivilisation zurück. Warum wird diese Handlung nun derart verkompliziert, und welchen Status haben die eingeschobenen Reflexionen und die zahlreichen intertextuellen Anspielungen? Mit anderen Worten: wie und als was kann und soll man diesen Roman lesen?
3 Beginnen wir mit der Option des Abenteuerromans, die von Titel, Handlung und exotistischem Setting nahegelegt wird. Die fiktive Herausgeberschaft, das Ausgeben des Textes als »Urkunden«, also als autobiographische Dokumente, wie es im Vorwort erfolgt, widerspricht einer solchen Lektüre zunächst nicht. Die Tarnung von Fiktion als Faktum ist in diesem _____________ 5 6
Helmes: Nachwort, S. 247. Thomas Schwarz: Robert Müllers Tropen. Ein Reiseführer in den imperialen Exotismus. Heidelberg 2006, S. 35. Schwarz’ Buch ist die neueste Monographie zu Müller.
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Genre ja durchaus nicht unüblich – bereits Robinson Crusoe (1719) spielt mit diesen Mitteln.7 Auch die kurze Exposition in Kapitel I bestätigt durchaus diese Lektüreanweisung: »Mädchen und Frauen aller Länder und Rassen habe ich gesehen, farbige Schönheiten von verschiedenstem Reiz« (T 11) – das lässt sich doch vielversprechend an, zumal wenn es noch mit dem Handlungs- und Spannungsbogen einer Schatzsuche verknüpft wird! Ein solcherart auf Exotismus und Abenteuer, Genre-Erotik und Action-Handlung programmierter Leser dürfte allerdings bereits im zweiten der zweiunddreißig Kapitel an seine Grenzen kommen. Mit dem Beginn der Dschungel-Expedition nämlich ändert sich die Textur, genauer gesagt: Seitenlange beschreibende Passagen des Tropensumpfes, die sich mit Déjà-vu-artigen Introspektionen und zähen Reflexionsströmen vermischen, erzwingen bereits auf den ersten Seiten eine andere Form der Lektüre. Diese wendet sich von der Struktur der Abenteuerhandlung ab, die in der oben versuchten Paraphrase repräsentiert ist, und richtet sich stattdessen auf die Textur, die Machart des Textes selbst. Zwar sind dem Leser von Kolportageromanen auch langatmige Landschaftsschilderungen durchaus vertraut – bei Karl May gibt es die auch, sie lassen sich jedoch verlustlos überblättern, bis dann zuverlässig die Action-Passagen mit den Indianern kommen, die schon optisch am szenischen, dialogreichen Text erkennbar sind. Eine solche raffende Lektüre führt in Tropen jedoch nirgendwo hin, denn es geschieht einfach zig Seiten lang nichts, oder vielmehr, wie es am Beginn von Kapitel IV, also nach zwei entsprechend handlungsfreien Kapiteln heißt: Dies ereignete sich, dies und nichts anderes, bloße Gedanken, die eine große majestätische Langeweile gebar, als ich eines Tages an einem südamerikanischen Flusse unter einem dem Äquator ziemlich nahen Breitengrade, inmitten des Urwaldes, jenen Vergleich zwischen der sich aufdrängenden Natur und dem Geheimnis der Mütter anstellte. (T 24)
Die Ich-Erzählung fällt in diesen Passagen oft in erlebte Rede (»Vielleicht konnte Gott nicht rudern? Aber wie gleichgültig war dann Gott, wie gleichgültig war jedes Ich, jeder Geist!«; T. S. 25) und sogar in inneren Monolog, durchaus im modernen Sinne eines stream of conciousness oder auch in Form von Selbstgesprächen gestaltet: Donnerwetter, wie ist das nun, wenn, sagen wir, jemand verrückt ist? […] Vielleicht bin ich nur eine von den Flechten, die hier merkwürdig im Wasser rotieren, eine mit einem Gehirn, einem kranken bösen Gehirn … Aber gleichzeitig reckt sich eine Art Schadenfreude in mir, hehe, ich bin tralalla, tralalla – – ffst – peinlich genug, ich glaube, nun habe ich wirklich gesungen, so geflötet à la süße Ophelia, hm, hm, hm, hm, – – eine sachte, aufrichtige Freude beherrscht mich. (T 15)
_____________ 7
Vgl. Christoph Bode: Der Roman. Eine Einführung. Tübingen, Basel 2005, S. 42f.
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Und da wir gerade bei den Formen der Redewiedergabe sind: Auch das Vorblättern zu den echten Dialogpassagen wird den handlungsorientierten Leser hier nicht ans ersehnte Ziel, die Fleischtöpfe der Handlung bringen, denn auch die Dialoge sind über weite Strecken theoretisch-reflexiver und weltanschaulicher Natur. Robert Müllers Tropen verwenden also Handlungsmuster, Settings und Motive eines Abenteuerromans, unterlaufen aber eine entsprechende Leseerwartung früh und nachhaltig. Die Funktion der überkommenen narrativen Strukturen tritt klar hinter die der Reflexions- und Beschreibungstexturen zurück, die aber ihrerseits keine eigenständigen diegetischen Strukturen ausbilden. Offenbar ist genau dies die Funktion, die den Genremustern Dschungelexpedition und Schatzsuche in diesem Roman verbleibt: Sie werden herbeizitiert, nicht um potentielle Käufer zu täuschen, sondern um ein narratives Gerüst zu bilden, in das die avancierten Texturen eingehängt werden können, damit sie über die Länge eines ganzen Romans goutierbar bleiben. Es handelt sich hier um Strukturzitate im terminologischen Sinne.8
4 Der Roman rechnet also mit einem anderen Leser als dem von Abenteuerromanen. Die im vorigen Abschnitt zitierten Passagen geben darauf bereits Hinweise, nicht nur, indem sie Strukturerwartungen enttäuschen, sondern auch, indem sie intertextuelle Bezüge zu bedeutenden Werken der Weltliteratur aufrufen. Von den »Müttern« (T 24) war im ersten Zitat die Rede, von Ophelia im zweiten (vgl. T 15), das eine verweist auf Goethes Faust, das andere auf Shakespeares Hamlet. Und ausgerechnet dem Amerikaner, dem Neuweltler unter den drei Protagonisten werden persönliche Bezüge zu dieser Tradition nachgesagt: Man weiß ja, wer Jack Slim war; der seltsamste Mensch vielleicht, der seit Cagliostro Europa zum Aufhorchen oder Lächeln veranlaßt hat. Er war berüchtigt durch seine politische Exzentrizität, seine unmöglichen Prophezeiungen über die Entwicklung des menschlichen Geistes und seine theosophischen Bestrebungen. Er […] war ein Freund Tolstois, kannte als Student Gauguin, saß in Wiener Kaffeehäusern an der Tafelrunde Altenbergs und beriet den deutschen Kaiser. (T 7f.)
Diese Passage zeigt, dass auch das Vorwort bereits an einen fiktiven Leser adressiert ist, denn selbstverständlich konnte ein realer Leser 1915 keineswegs wissen, ›wer Jack Slim war‹, nämlich eine Kunstfigur Müllers, die in _____________ 8
Vgl. Stephan Dietrich: Poetik der Paradoxie. Robert Müllers fiktionale Prosa. Siegen 1997, S. 35. Zur Terminologie vgl. Moritz Baßler, Christoph Brecht, Dirk Niefanger, Gotthart Wunberg: Historismus und literarische Moderne. Tübingen 1996, S. 274.
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mehreren seiner Werke für den kulturellen und genetischen Typus der Zukunft steht. Die Assoziationen, mit denen diese Figur hier gleich bei ihrer Einführung aufgeladen wird, sind folglich poetologisch zu lesen: Politik verbindet sich mit Mediumismus und Geheimwissenschaften (Cagliostro, Theosophie), die im expressionistischen Jahrzehnt überaus präsent waren, und dieses wiederum mit älterer und gegenwärtiger Literatur (Tolstoi, Altenberg) und dem aktuellen Primitivismus in der Kunst (Gauguin). All dies ergibt ein kulturell-diskursives Amalgam, das dem ›rassischen‹ Amalgam, für das Slim ebenfalls steht (davon unten mehr), durchaus ebenbürtig ist. Darin verbinden sich hochkulturelle und im engeren Sinne literarische Traditionen mit der politisch-utopistischen und anderweitig kulturphilosophischen Hefe der Zeit um 1910. Genau in diesem Grenzgebiet zwischen Literatur, Philosophie und utopischer Kulturpolitik, so darf man schließen, möchte sich Robert Müllers Roman ansiedeln. Indem dies dem Leser bereits im fiktiven Vorwort mitgeteilt wird, darf bei diesem, so er denn weiterliest, eine ähnliche Interessenlage vorausgesetzt werden. Das impliziert die Bereitschaft, das Buch sowohl als Literatur zu genießen als auch die darin proponierten Ideen als solche, also unabhängig von der Diegese, in Anwendung auf die reale Welt, wohlwollend in Betracht zu ziehen. Dass sich all dies ausgerechnet am Thema der Tropen festmacht, ist vielleicht gar nicht so merkwürdig in Anbetracht der Tatsache, dass Deutschland zu dieser Zeit noch eine Kolonialmacht war. Noch die unter den Expressionisten so wirkmächtige Philosophie Friedrich Nietzsches ist ja über das paraguayanische Kolonisierungsprojekt seines Schwagers Förster irgendwie mit dem südamerikanischen Dschungel verbunden. Tropen wäre folglich unter doppeltem Aspekt zu betrachten, zum einen als expressionistische Prosaliteratur und zum anderen als essayistischer Roman, der bestimmte Diskurse seiner Zeit aufnimmt, reflektiert und durchaus – wie verborgen und sich selbst relativierend auch immer – eigene Vorschläge exponiert. Schon aus dem bisher Gesagten lässt sich schließen, dass Robert Müller in beiden Hinsichten höchst originelle Lösungen vorlegt. Literaturgeschichtlich lässt sich Tropen aufgrund dieses Hybridcharakters wohl am besten in die ›erkenntnistheoretische Reflexionsprosa‹ des frühen Expressionismus einordnen und darf gleichzeitig als ein würdiger Vorläufer der großen Essay-Romane der Zwischenkriegszeit gelten, deren Autoren – von Thomas Mann (Der Zauberberg) bis Robert Musil (Der Mann ohne Eigenschaften) – Robert Müller offenbar sehr genau gelesen haben.9 _____________ 9
Dies hat, so will mir scheinen, auch und insbesondere Gottfried Benn getan, in dessen Werk sich manche Grundgedanken und Formulierungen aus Tropen wiederfinden, z.B. der »Neurastheniker« als »atavistische Jägernatur« (T 68; vgl. Benn: Durch’s Erlenholz kam sie entlang gestrichen). Besonders frappant sind die Übereinstimmungen mit Benns bekanntem Ge-
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5 Setzen wir noch einmal auf der Textebene an. Der Befund lautete, dass bereits die ersten Kapitel (ab II) die Aufmerksamkeit von handlungstragenden Strukturen auf die Textur, die Machart, das Gewebe des Textes lenken. Müllers Roman beweist mit dieser Strategie seine Zugehörigkeit zur emphatischen Moderne, und zwar im dezidierten Unterschied zu den Romanen des Realismus und Naturalismus. »Man lese einmal langsam, man lese alles von einem Roman von Zola, und das Buch wird einem aus den Händen fallen«, schreibt Roland Barthes. »Man lese dagegen schnell und nur diagonal einen modernen Text, und dieser Text wird undurchsichtig, der Lust unzugänglich«.10 Für die Tropen gilt zweifellos Letzteres. Das impliziert natürlich auch, dass sich die Textur des modernen Romans dieser Aufmerksamkeit wert erweist, dass sich eine akribische Lektüre also lohnt. Texturierte Prosatexte weisen daher häufig Eigenschaften auf, die man eher bei lyrischen Texten vermuten würde, weshalb die expressionistischen Prosaverfahren von Zeitgenossen oft als ›Lyrismen‹ empfunden wurden: Lagunen fielen ins Land und fingen im braunglasigen Spiegel die träge dampfende Ruhe eines schweigenden Urwalds, den kilometerlange Systeme von Schlinggewächsen zu einem einzigen quirligen Laubfilz zusammenspannen. Inseln und Halbinseln krochen vor und trugen sichtbar die Knoten verschlungener Riesenpflanzen und Bäume, sie stellten eine gefahrvolle Barre dar und zwangen uns zur Steuerung in Mäandern. Wenn wir aber vorbei waren und die Wellen unserer flinken Kähne sie erreichten, begann, was massiv geschienen hatte, zu schaukeln. Schleimige, schwarz glänzende Bildungen tauchten auf und nieder, wurmartige Äste, die im klaren Wasser wie Spieße gedroht hatten, begannen rhythmisch zu bändern und zuckend zu greifen. Der Flußlauf war eine aufgereihte, in weiten Schlingen sich schlängelnde Schnur von kleineren und größeren Seen […]. (T 13f.; Hervorhebungen M.B.)
Mögen die hier markierten Alliterationen und Assonanzen im Einzelfall noch strittig sein, so treten sie doch insgesamt in einer Dichte auf, die für Erzählprosa generell ungewöhnlich, in expressionistischer Prosa jedoch _____________
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dicht Reisen von 1950 (»Meinen Sie Zürich zum Beispiel«), man vergleiche: »Broadways, Boulevards und Ringstraßen sind exotisch, seltsam und mystisch bewegt« (T 115); »Wozu reist dieses Geschlecht? Um den Menschen in sich zu erreisen. Man reist nicht in ferne Länder […]: täte man’s, man wäre enttäuscht, nichts als Spießbürgerlichem und Ernüchterndem zu begegnen, zu dem man nie die Räusche gehabt hat« (T 118); »Gibt es eine Sehnsucht nach fernen Ländern, nach anderen Ländern, nach wunderbaren Dorados und Schlupfwinkeln des Abenteuers? Es gibt sie nicht. Was immer der Mensch findet, er findet es in sich […].« (T 243) Umgekehrt könnten Benns Gesänge von 1913 (»Oh, dass wir unsre Ur-ur-ahnen wären. / Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor.«) als Anregung für den Beginn der Tropen gelten. Roland Barthes: Die Lust am Text [1973]. 7. Aufl. Frankfurt a.M. 1992, S. 20.
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durchaus erwartbar ist. Die poetische Funktion, die hohe Rekurrenz ähnlicher Merkmale im Text, geht mitunter bis zu Passagen, die geradezu metrisch strukturiert anmuten: ›rhythmisch zu bändern und zuckend zu greifen‹ etwa kommt deutlich daktylisch daher (– vv – vv – vv – v). Wohl nicht zufällig steht das Wort ›rhythmisch‹ an der entsprechenden Stelle auch im Text; insgesamt legen solche Passagen eine freirhythmische Intonation nahe. Unmittelbar im Anschluss heißt es übrigens: »Denn das war das Erregende an solchen Stellen, daß sie plötzlich das eigene Schwergewicht ins Bewußtsein riefen.« (T 14) Wer Freude an Texturen hat, kommt hier voll auf seine Kosten. Die lyrische Dichte, die man mit Jakobsons poetischer Funktion ja bereits als Selbstreferenzialität des Textes verstehen kann, bestätigt sich auch auf der semantischen Ebene, wo Wörter wie ›rhythmisch‹ und ›Stellen‹ sogleich ambig werden und eine zusätzliche, poetologische, auf die Textverfahren selbst bezogene Bedeutung annehmen. Zugleich hat man aber nie das Gefühl, hier werde sozusagen Selbstreferenzialität um jeden Preis, als l’art pour l’art betrieben. Bereits das Ausbleiben von Handlungselementen und entsprechenden narrativen Strukturen ist ja inhaltlich rückgebunden durch die tagelange abwechslungslose Kanufahrt im immergleichen Tropensumpf bei mörderischer Hitze. Die Zeit wird dabei, rein technisch gesprochen, nicht einmal gedehnt – es vergeht in der Diegese immer noch mehr Zeit als man braucht, die entsprechenden Kapitel zu lesen; doch es geschieht einfach nichts Erzählenswertes. Und auch die Textur, mit der hier die tropische Landschaft wiedergegeben wird, erscheint dieser als nicht unangemessen. »Man könnte hier«, so Stephan Dietrich in seiner brillanten Studie, »von einer Mimesis zweiter Ordnung sprechen, bei der die Sprache die Unentwirrbarkeit, die den Urwald kennzeichnet, keineswegs abbildet, sondern umgekehrt diese Unentwirrbarkeit durch die Konzentration der Sprache auf ihre materialen Qualitäten überhaupt erst generiert wird« – mit anderen Worten: »die Landschaft ist keine Landschaft mehr, sie ist ein Artefakt; die sprachliche Realisierung selbst ist der Urwald. Damit aber wird der Urwald als Sprache zur Metapher der eigenen Vertextung«.11 Es zeigt sich schon hier, dass die vermeintlich paradoxen Relativierungsspiele in den Tropen auf einem poetischen Prinzip basieren, das man als Chiasmus fassen könnte: der Text ist wie der Urwald, weil der Urwald wie der Text ist. Dieser Chiasmus steckt, könnte man sagen, bereits im Titelwort. Dietrich stellt als ein durchgängiges, auf allen Textebenen zu beobachtendes Verfahren von Robert Müllers Roman »das Prinzip einer wechselseitigen Bewegung von Setzung und Rücknahme« fest: »Umgesetzt und _____________ 11
Dietrich: Poetik der Paradoxie, S. 50.
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ausgestellt wird dabei die Erkenntnis, daß jeder Wahrheitsanspruch, den ein Text erhebt, immer nur Produkt der Erzeugung figuraler Bedeutungen sein kann, die ihrerseits selbst gerade durch ihre Figuralität die Möglichkeit von Wahrheit unterlaufen.«12 Dass dies verdächtig nach dem Dekonstruktivismus Paul de Mans in seinen Allegories of Reading (1979; deutsch 1989) klingt, ist kein Zufall, liegt aber keineswegs an einer methodischen Vorentscheidung Dietrichs. Vielmehr bestätigt sich, dass die ästhetische Moderne in ihren avancierteren Produkten Strukturen und Verfahren realisiert, die theoretisch oft erst in der so genannten Postmoderne eingeholt wurden. Dietrich kann an einem kleinen Ausschnitt aus Tropen auf verblüffende Weise zeigen, wie hier die Textur geradezu aus Setzungen (kursiv) und ihren jeweiligen Negationen (unterstrichen) gestrickt ist: Das Surrogat: Gehirn, das für das Original tropischer Hitze eingetreten war, war zurückgenommen: im Schuß und Schwung der Trägheit blieb es erhalten und steigerte den Lebensgrad, den es vorher nur kompensiert hatte. Eine Weile konnte das dauern und Kulturen schaffen; tropische Schwüle, die sich zu Gehirn verflüchtigt hatte, verdichtete sich, wo sie auf die Reserven ihrer eigenen früheren Form stieße, und nordische Innerlichkeit, in äquatoriale Äußerlichkeit gekommen, kristallisierte monströse Bildungen, Kultur genannt. Aber dann mußte der Moment eintreten, wo die an harte Leistungen nach außen gewohnte Maschine den Dienst einstellte; der Mangel an Widerstand war unüberwindbar. […] Entstanden nicht höchste Organisationen der Welt? Und brachen sie nicht zusammen? Auf die Dauer konnte die Maschine diesen Mangel an Arbeit nicht leisten. (T 20)13
Inhaltlich geht es in dieser Passage darum, was mit dem nordischen Typus, der bekanntlich die Tropen innehat, geschieht, wenn er – wie auf der Handlungsebene ja der Fall – dann auch äußerlich wieder tropische Bedingungen vorfindet; das beschreibt also in etwa die Versuchsanordnung des Romans. Dabei weiß man mitunter gar nicht, was nun eigentlich die Setzung ist und was die Rücknahme. Eher als eine ›Poetik der Paradoxie‹, die ja, wie Dietrich zu recht anmerkt, stets auf ihre vorausgesetzte Endoxie, den angenommenen Normalzustand, verweisen würde,14 scheint mir hier also eine Poetik des Chiasmus vorzuliegen, ähnlich der, die Paul de Man für Rilke festgestellt hat. Die Besonderheit der rhetorischen Figur – in einem etwas unscharfen Sinne könnte man sagen: der Trope – ›Chiasmus‹ liegt darin, dass sie in einem Textzusammenhang, also syntagmatisch, zwei Glieder kombiniert, die äquivalent zueinander sind, wobei das eine Glied jeweils die Umkehrung des anderen darstellt. Die beiden Glieder eines Chiasmus bilden dadurch eine Art Minimal-Paradigma, dessen eines Element das jeweils andere semantisiert, mit Bedeutung auflädt, und um_____________ 12 13 14
Dietrich: Poetik der Paradoxie, S. 48. Markierungen leicht variiert nach Dietrich: Poetik der Paradoxie, S. 52. Vgl. Dietrich: Poetik der Paradoxie, S. 75 u. 79, jeweils mit Bezug auf Schriften von Christoph Bode.
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gekehrt.15 Mit de Man lässt sich eine Textstrategie, die auf dieser Figur aufbaut, als ein modernes Verfahren beschreiben, eine Diskursfülle zu produzieren, ohne dabei auf ein referenzielles oder ideologisches Sinnzentrum zu rekurrieren. Das Zentrum kann leer bleiben, weil sich beide Seiten des Chiasmus die Waage halten. Die Paradoxien, die den Roman auf allen Ebenen kennzeichnen, entwerten also die jeweiligen Setzungen, die Inhalte und theoretischen Behauptungen nicht. Vielmehr halten sie die entsprechenden Positionen im Spiel, sie ermöglichen und semantisieren einander, ohne an eine erste oder letzte Ursprungswahrheit rückgebunden zu sein – sei es nun das Erlebnis in den Tropen oder das Karl-May-hafte Schreiben an einem deutschösterreichischen Schreibtisch (das Erlebnis der Tropen oder das Erlebnis der Tropen). »Ich bitte zu bemerken, daß ich referiere, die Gedanken eines von Hitze verbrannten und zu Asche gewordenen Gehirnes wiedergebe«, heißt es beispielsweise nach einer längeren Ausführung Brandlbergers zur Erotik, ich schildere einen Mann, der inmitten gesegneter, abenteuerlicher Umstände, wie er sich einbildet, das Buch schreibt, das er erst erleben wird. Dieser Mann war ich. Ich war mit visionärer Kraft meiner eigenen Zukunft vorangeeilt. Ich fuhr als Schreibtisch einen Strom hinauf und vermengte in der Geschwindigkeit ein wenig die Zeit. (T 24)
6 Damit ist aber eine Haltung benannt, die eine rhetorische ›Unlesbarkeit‹ der chiastischen Konstruktion (auf die de Man hier die Betonung legen würde) transzendiert. Mit anderen Worten: Tropen ist kein Roman, dessen Hauptaussage die eigene Paradoxie ist, dessen raffinierte selbstreflexive Machart die eigenen Inhalte gegenstandslos machen würde.16 Das hochkomplexe chiastische Verfahren dient zwar durchaus dazu, die Artifizialität der eigenen Setzungen auszustellen – dies geschieht aber längst im Bewusstsein dessen, dass Setzungen, selbst solche, die zu Wissens- und Glaubenssystemen geworden sind oder werden sollen, immer artifiziell sind. Robert Müllers Roman teilt das Wissen der emphatischen Moderne darum, die Wahrheiten, an die man glaubt, selbst schaffen zu müssen, und _____________ 15
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»Der Textraum, der bei dieser Art von Poiesis entsteht, ist immer auch paradigmatisch, Raum einer Textualität der Kultur. Als solcher ist er ein Hort der Fülle« (Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche TextKontext-Theorie. Tübingen 2005, S. 291). In diesem Sinne argumentiert auch Dietrich: Poetik der Paradoxie, S. 56.
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an sie zu glauben, obwohl man sie selbst geschaffen hat – und nicht zufällig hat auch dieses Wissen die Form eines Chiasmus. Eine Chiffre, die der Roman für dieses Wissen findet, »das Symbol der Paradoxie« (T 34), sind – in Brandlbergers Worten – »die von mir erfundenen berühmten Wasserräder« (T 33). Hier wiederholt sich auf Erzählerebene das, was wir auf der Ebene des fiktiven Herausgebers bereits anlässlich der Figur Jack Slim beobachten konnten: Wie sollen die Wasserräder denn schon berühmt sein, wenn sie doch just an dieser Stelle erst erfunden werden? Was die Handlung angeht, ist immer noch nichts geschehen: Brandlberger sitzt weiterhin im Kanu und beobachtet die Wirbel, die die Ruder der Indianer auf der Wasseroberfläche hinterlassen, immer an der gleichen Stelle in Relation zum Betrachter. Er imaginiert sich diese Wirbel als Speichenköpfe eines Rades unter Wasser, dessen ewige Drehung das Kanu fortbewegt, eine Idee, auf die man in solcher Lage wohl kommen kann, zumal der Tropenkoller fortschreitet: mochte es uns oben scheinen wie immer, unser Fortkommen war von der Tätigkeit dieses Rades abhängig – es war aus Wasser gegossen und bewegte uns mystisch weiter. […] Die Menschenarbeit aber ist ein Schein, ein Schwindel, eine faule Nachahmung von freiem Willen […]. (T 33)
Das zunächst optische Phänomen wird symbolisch gedeutet: Schopenhauers Philosophie des Willens spielt hier hinein, gedacht ist aber auch an andere Uminterpretationen von scheinbar offensichtlichen Phänomenen in der Neuzeit: Wir denken einen Gedanken pervers, und er ist frisch wie eine Jungfrau. Wir stellen einen Akzent um, und das Neue ist eine neuere Welt als irgendein Amerika. Und bitte, wie wurde Amerika entdeckt? Durch eine Paradoxie. Kolumbus fuhr zu einem Osten; daraus ergab sich der Westen. Ticke tack, macht die Uhr, aber macht sie nicht ebenso gerne Tack ticke, wenn wir bloß wollen? (T 34)
Dieses produktive Umspringenlassen des ›Akzents‹ zwischen zwei chiastisch verschränkten Positionen, zwischen zwei Deutungen desselben Sachverhalts, die einander widersprechen, die sich also, simultan gedacht, paradoxal zueinander verhalten, ist ein zentraler Gedanke des Buches. »Hei!« heißt es in Nietzsche-artiger Diktion. »Ich verkündige den Spiegel, die Verkehrtheit, das Paradox! […] bauet Mühlen von Wasserrädern« (T 35). Dass dieser Gedanke im gleichen Atemzug dem Tropenkoller, den »verrückten Nerven« (T 35) des Nordmenschen im Urwald zugeschrieben wird, desavouiert ihn keineswegs. Es zeigt nur, wie überaus konsequent er bis in die Erzählkonstruktion, ja, wie wir oben sahen, bis in die Textur des Romans hinein umgesetzt ist. ›Zentral‹ ist dieser Gedanke also nicht im Sinne eines Inhalts, als Wahrheit, die das Buch und sein Autor ›verkündigen‹, sondern als Strukturprinzip, das eine zentrale inhaltliche Wahrheit
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eben gerade ersetzt durch die oben beschriebene chiastische Konstruktion; mit anderen Worten: als Trope.
7 Wer den heiklen Versuch einer deutenden Paraphrase der als essayistisch zu bezeichnenden Komponenten des Tropen-Romans trotz aller Vorbehalte fortsetzen möchte, dem ergeben sich aus dem Symbol der Wasserräder drei Schlüsselaspekte des Buches. Dem ersten können wir uns mit dem Begriff ›Historismus‹ nähern, während die anderen im Text selbst unter den hoch idiosynkratischen Schlüsselwörtern »Phantoplasma« (T 132) und »Pace« (T 88) firmieren. Allen drei Aspekten liegt die Anwendung des Wasserrad-Symbols auf die Kulturgeschichte zugrunde: »ein Zeitalter«, sinniert Brandlberger im Kanu, »ist das Paradox des anderen« (34), und dieses Aperçu ist gesperrt gedruckt wie in einem Aphorismus Nietzsches. Wir haben es hier mit der Radikalisierung eines Gedankens zu tun, der aus dem relativistischen Historismus des 19. Jahrhunderts stammt, des Gedankens einer Gleichwertung historischer Epochen und Kulturen, wie er sich etwa in Rankes Diktum ausdrückt, sie seien alle ›unmittelbar zu Gott‹. Sobald man die einzelnen kulturellen Errungenschaften des Menschen aus einem organologischen Entwicklungsmodell befreit, in dem eine Kulturstufe immer nur die unvollkommene Vorstufe der nächsten oder die degenerierte Verfallsstufe der vorangegangenen ist, setzt man an dessen Stelle ein Modell der Gleich- und Nebenordnung.17 Um 1910, am Beginn der emphatischen Moderne, kommt es zu einer Übertragung dieses Modells auf die Kunstgeschichte. Malschulen wie der Kubismus in Frankreich und der deutsche Expressionismus brechen z.B. mit dem Prinzip der Zentralperspektive, das man lange Zeit als neuzeitliche Errungenschaft und malerischen Fortschritt gegenüber der Kunst des Mittelalters verstanden hatte. Unter dem Eindruck solcher Entwicklungen vertritt Wilhelm Worringer in seiner wirkmächtigen Schrift Abstraktion und Einfühlung (1908) die These, die neuzeitliche europäische Kunstauffassung, mit den Prinzipien der Naturnachahmung und der Einfühlung, sei historisch keineswegs superior, sondern nur eine Kunstauffassung neben anderen. Seiner Auffassung nach _____________ 17
Zum geschichtsphilosophischen Aspekt des Historismus vgl. Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933. Frankfurt a.M. 1986; zur literaturgeschichtlichen Anwendung vgl. Baßler u.a.: Historismus und literarische Moderne.
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stehen wir mit dieser Einfühlungstheorie den künstlerischen Schöpfungen vieler Zeiten und Völker gegenüber hilflos dar. Zum Verständnis jenes ungeheuren Komplexes von Kunstwerken, die aus dem engen Rahmen griechisch-römischer und modern okzidentaler Kunst hinaustreten, bietet sie uns z.B. keine Handhabe.18
Programmatisch erklärt er: »Die Stileigentümlichkeiten vergangener Epochen sind also nicht auf ein mangelndes Können, sondern auf ein anders gerichtetes Wollen zurückzuführen.«19 Während Worringer diesen Gedanken in seiner Beschäftigung mit nordischer Flechtornamentik sowie der Gotik exemplifiziert, entdecken die zeitgenössischen Künstler die Negerplastik (so der Titel einer berühmten Schrift von Carl Einstein 1915) und andere Kunstformen exotischer Völker. Dem historisch anderen ›Kunstwollen‹ entspricht dabei, so wird vorausgesetzt, auch eine andere Auffassung der Welt, insbesondere des Raumes, aber auch der Zeit, der Person, der Kausalität etc. Und hier kommt nun der Gedanke aus Robert Müllers Tropen ins Spiel, ein Zeitalter sei ›das Paradox des anderen‹. Wie uns die Proportionen einer afrikanischen Plastik absurd vorkommen, könnte man paraphrasieren, so absurd würden einer anderen Kultur eben auch unsere Kunstgebilde vorkommen. Man sieht hoffentlich, was das mit den ›berühmten Wasserrädern‹ als Symbol eines Akzentwechsels der Wahrnehmung zu tun hat: Könnte man den kulturellen Akzent umlegen, so könnte man zwischen verschiedenen kulturellen Wahrnehmungen, verschiedenen basalen Interpretationen von Welt sozusagen switchen und einen entsprechenden Mehrwert einfahren. Unser kleiner Exkurs zum relativistischen Historismus war übrigens nicht zufällig ein kunstgeschichtlicher; auch in Tropen wird dieser Gedanke zunächst an der Begegnung mit der Kunst der indianischen Eingeborenen durchgeführt. In dem Dorf, in das die drei Reisenden nach langer Fahrt gelangen, gibt es einen Schildermaler namens Kelwa. Anfangs beurteilt Brandlberger dessen Werk europäisch-souverän als »schönes Zeugnis vom Impressionismus einer naiven Kunst« und fügt ethnologisierend hinzu: »Ich gewann den Eindruck eines Krippenkults« (T 43). Mit längerem Aufenthalt im Dorf, während dessen die Souveränität der Weißen immer mehr schwindet, verändert sich seine Einschätzung der Gemälde Kelwas jedoch in charakteristischer Weise: Körper beiderlei Geschlechts waren zu ergreifender Fleischlichkeit verwoben, Brüste klafften steil vor Lust und nervige Schenkel bäumten sich aus Knäueln. Eines der Gemälde duftete von Liebespracht und Lustaufwand, und ein Hundevieh lief darauf zu und schnupperte flüchtig zu dem Paare. Dieser Hund war das
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Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie [1908]. München, Zürich 1987, S. 40. Worringer: Abstraktion und Einfühlung, S. 42.
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Hündischeste, das je an Hundetum geleistet worden war, er war hündischer denn je ein Hund, er war die reinste Genießlichkeit, die je zu Verkörperung gelangt ist. Er bestand aus fünf braunen Pinselstrichen, vier Beinen und einem Rückgrat und schließlich einer langen Schnauze. In dieser Schnauze lag ein ganzes Hundeleben. (T 56)
Wir befinden uns im Jahre 1915. Soeben ist Einsteins Negerplastik herausgekommen und formuliert einen avantgardistischen Programmdiskurs zu dem, was Picasso und die Brücke-Künstler in ihrer Malerei bereits praktizieren. Das kurze Zitat fügt sich vielfältig in diese Diskurskonstellation der 1910er Jahre, von der expressionistischen Diktion (›Brüste klafften steil‹) über die Textur (»bäumten sich aus Knäueln«), die an Theodor Däublers wild assonierende und assoziierende Prosa zur modernen Kunst erinnert, bis hin zum Hündischen des Hundes, das an Viktor Sklovskijs Forderung gemahnt, die Kunst habe den Stein wieder steinern zu machen. Bei dem Hund aus fünf Pinselstrichen denkt man womöglich sogar an Bilder Picassos aus deutlich späterer Zeit. – Brandlberger phantasiert dann unter anderem davon, als Impressario Kelwas der modernen Kunst einen großen Dienst [zu] erweisen. Es galt, einen neuen Standpunkt einzuführen, das Auge zu verbessern […]. Ich würde den Leuten beweisen, daß sie nicht sehen können, wenn sie die primitive und wilde Kunst unterschätzen. […] Kelwa, dieser große reinmenschliche Künstler, müßte der Menschheit den grauen Star stechen. […] So wie er hatte noch kein Pariser Akademiker Menschen gemalt, die modern waren aus dem Effeff […]. (T 84)
Das sind direkte Anspielungen auf die zeitgenössische Kunstszene, deren parodistischer Charakter, wie in Carl Einsteins fiktionaler Prosa, auch das sehr ernst gemeinte eigene avantgardistische Projekt nicht verschont. Von Gauguin ist mehrfach ausdrücklich und in Anspielungen die Rede, und ein Toast wird ausgebracht auf einen gewissen »Roroschkin, diesen Lionardo unserer Rasse, das gotische Genie, den Künstler jener letzten und jüngsten Dimension, in die wir eben eingetreten sind« (T 124) – vielleicht eine Anspielung auf Kasimir Malewitsch. Däublers Buch Der neue Standpunkt erschien allerdings erst 1916. Nebenbei bemerkt scheint die Indianerkunst, die der Text hier beschreibt, reinweg erfunden zu sein. Die aggressive Erotik, die Brandlberger plötzlich zu schätzen weiß, ist nun aber keineswegs auf die Kunst beschränkt, vielmehr steht sie für eine dem Europäer zunächst abstoßend fremde andere Einstellung zur Welt, hier exemplifiziert im Verhältnis der Geschlechter zueinander. Als Brandlberger sich darüber echauffiert, wie Kelwa »sein kleines Weib« misshandelt, belehrt ihn Slim: »Kelwa studiert soeben, davon verstehen Sie nichts. Er ist ein Minnesänger und kennt seine galanten Pflichten. […] Merken Sie nicht die Zärtlichkeit der verge-
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waltigten Leiber auf seinen Bildern? Diese Humanität der Empfindung in den schiefgelegten Köpfen auf langen Leibern?« (T 55f.)
Mit dem Umlegen des Akzents hin zur Kunst und zum Empfinden der Indianer, das hier allerdings allmählich und nicht auf einmal passiert, werden auch die zuvor als hässlich empfundenen Eingeborenenfrauen für die Europäer attraktiv. Zugleich erwacht ihr Sinn für erotische Gewalt, der in der gemeinsamen Leidenschaft für Zana und schließlich im grausamen und geheimnisvollen Mord an einer Indianerin endet.
8 An der Kunst des Schildermalers Kelwa erfährt Brandlberger also die Worringer’sche Einsicht in das andersartige, aber gleichwertige Kunstwollen der Eingeborenen, und zwar theoretisch wie praktisch: »Wohlan, ich votierte für Kelwas Sehen«, heißt es etwas später. »Dieser Kelwa besaß ein Phantoplasma, das seiner Art von Jägerleben entsprach.« (T 132) Der Neologismus ›Phantoplasma‹ steht demnach für die jeweilige Weltsicht mit ihren Wahrnehmungs- und sonstigen Gesetzen, in den Worten des Romans: »das Bild gewordene System der zureichenden Erklärungen« (T 109). Dieses Weltbildsystem kann für eine bestimmte Zeit oder Kultur gültig sein, es kann aber, im Irrsinn oder in bestimmten mentalen Extremzuständen, auch individuellen Charakter annehmen. In der Trance, heißt es bei der Einführung dieses Begriffes, sei das Phantoplasma gleich zwiefach: »Derselbe seelische Verlauf konnte ein verschiedenes Pha[n]toplasma, sei’s Traum, sei’s Wachleben, unterlegen. Phantoplasma, so nannte ich diese Entdeckung, die ich in meinem höchsten entkörperten Augenblicke, in der Trance, entdeckt habe.« (T 109) Brandlbergers ›Entdeckung‹ ist eine Errungenschaft vom Typ der Entdeckung der ›berühmten Wasserräder‹, ja, letztlich wird man sogar sagen müssen, es handle sich um ein und dieselbe Entdeckung. Der essayistische Strang des Romans folgt, wie man daran sieht, nicht einer linearen argumentativen Linie, die über verschiedene Zwischenstufen am Ende zu einem wohlbegründeten Ergebnis führt. Vielmehr wird ein Gedanke, eine Figur, von Anfang bis Ende immer wieder in den verschiedensten Spielarten und Brechungen und mit unterschiedlicher Terminologie durchgespielt. Dieses Verfahren wirkt auf den anderes gewohnten Leser bisweilen enervierend redundant. Es wird jedoch im Romantext selbst poetologisch geadelt mit den Worten: Wir denken in Winkeln, Kanten und Kristallen. Und wir werden es, verlassen Sie sich darauf, dahinbringen, daß wir sozusagen in Dodekaedern denken, wo der
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Gedanke zu gleicher Zeit einen ganzen Korb von Malen gegen sich verschoben hat! Uff, wie es anstrengt! (T 119)
Selten wurde das expressionistische Simultaneitäts-Gebot so anschaulich formuliert. Müllers essayistisches Schreiben im Tropen-Roman folgt einem Prinzip des Schreibens in apodiktischen Facetten, wie es für die expressionistische Essayistik insgesamt charakteristisch ist. Der Fülle der Facetten, die beim Leser das Gefühl der Redundanz und Anstrengung auslösen kann, entspricht dabei eine Fülle von Bezugssystemen und damit von möglichen Weisen der Referentialität, […] die untereinander nicht hierarchisiert sind, sondern im Modus der enharmonischen Verwechselung miteinander interagieren. Diese Facettentextur repräsentiert damit den transzendentalen Horizont des relativistischen Historismus in seiner ganzen Radikalität. Sie erweist sich unter seiner Prämisse als die avancierteste der möglichen diskursiven Schreibweisen.20
Enharmonische Verwechselung, ein Begriff aus der Musiktheorie (Umdeutung eines Akkordes aufgrund eines Tonartwechsels), bezeichnet dabei zunächst das Verhältnis zwischen den einzelnen Facetten – was erst in der Langeweile der Flussfahrt als das Prinzip der Wasserräder ›entdeckt‹ wird, heißt nun plötzlich ›Phantoplasma‹ als Ergebnis eines Trance-Erlebnisses. Es bezeichnet aber auch die Sache selbst, das Umspringen des Akzents von einer Weltsicht, einem Phantoplasma, auf eine andere. Texttheoretisch haben wir das weiter oben mit dem Tropus ›Chiasmus‹ nach de Man zu erklären versucht. ›Phantoplasma‹ löst nun allerdings beim Leser durchaus noch andere Assoziationen aus als die Wasserräder. Nach der brodelnden Ursuppe des Tropensumpfes wird hier ein weiterer Urstoff aufgerufen, nämlich das Ektoplasma der Spiritisten und Okkultisten – wobei eine Pointe des Verfahrens natürlich schon darin besteht, dass es eben nicht einen, sondern viele ›Urstoffe‹ gibt (man denke an die ›Mütter‹). Als Ektoplasma bezeichnet man jene weißlich-durchsichtige schleimig-textile Substanz, die bei spiritistischen Séancen mit Materialisations-Medien aus deren Körperöffnungen austritt. Aus dieser Substanz bilden sich dann Teile von Geistern (z.B. Hände, Gesichter), manchmal auch vollständig materialisierte Geister. Ektoplasma ist also im wahrsten Sinne des Wortes ein Stoff aus einer anderen Welt, der Geisterwelt nämlich, der unter den Bedingungen unserer Welt, im bürgerlichen Salon etwa, sichtbar wird. Hier, im Spiritismus, findet sich also jenes Umspringen des Akzents wieder, von dem die Tropen handeln. ›Medium‹, ›Leiter‹, ›Séance‹, ›Trance‹, ›Gesichte‹ – das ganze Wortfeld des Spiritismus ist denn auch im Roman allgegenwärtig – wie in der emphatischen Moderne überhaupt. Müllers Phantoplasma bezeichnet _____________ 20
Moritz Baßler: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910–1916. Tübingen 1994, S. 172.
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nun allerdings sozusagen eine ganze Welt als Materialisationsphänomen einer anderen, wobei – das wissen wir inzwischen – nicht eine Welt die wahre und ursprüngliche ist, sondern beide Welten stets chiastisch aufeinander bezogen bleiben, die eine als Paradox der jeweils anderen. Nun wäre Tropen nicht der konsequent selbstreflexive Roman, der er ist, wenn nicht auch das Theorem des Phantoplasmas wieder poetologisch auf die Verfasstheit des Textes rückbezogen wäre. Der mediumistische Kontakt, auf den Brandlberger immer wieder zu sprechen kommt, besteht vor allem zwischen ihm und Jack Slim; und wir wissen bereits, dass es dabei unter anderem um die Frage der fiktiven Autorschaft an einem Buch namens Tropen und dessen genialen Ideen geht. Slim ist es, der in einem Gespräch explizit den Begriff ›Phantoplasma‹ aufgreift und mit der eigenen Erfahrung zusammenbringt, daß ich die Dinge alle so erlebte, wie ich sie erdacht hatte. […] Es war alles schon in mir, bevor ich seine Bekanntschaft machte. Ich weiß auch nicht, warum es so ist. Es ist keine Schwäche, wie ich einmal dachte. Es ist eine merkwürdige Kraft […]. Die Menschen laufen vor mir ohne eigene Gesichter herum, wie Brocken von meinem Ich. Ich besitze die Witterung, die Beobachtung, die Kombinationsgabe des Jägers. Ich habe aber in meinem Köcher Worte, Worte, nicht als Worte. (T 139)
Ob nun Brandlberger, der Mann ohne Eigenschaften, das Geschöpf Slims ist (wie dieser die Fiktion Müllers) oder umgekehrt – es geht in jedem Fall um Worte. Was für Kelwa die Malerei, ist für die Tropen die Literatur: ein Verfahren zur Erzeugung und Verwechslung von Welten. Von daher könnte man Phantoplasma, »das Bild gewordene System der zureichenden Erklärungen« (T 109), in einem poetologischen Sinne geradezu mit ›Diegese‹ übersetzen.
9 Wie aber, nach welchen Kriterien entscheidet man sich zwischen verschiedenen Welten, Diegesen oder Phantoplasmen, sobald man einmal gelernt hat, als Wasserräderingenieur den Schalter umzulegen, den Akzent zu verschieben? Hier tritt ein weiteres Schlüsselwort des Romans in Funktion, eines, das diesmal den Bereichen des Tanzes und des Pferderennsports entnommen ist: die Pace (vermutlich englisch auszusprechen). Auch die Pace ist das Ergebnis einer plötzlichen Erkenntnis. Sie überfällt Brandlberger, als er einem rituellen Tanz Zanas beiwohnt, den man sich wohl irgendwo zwischen Ausdruckstanz und den Tanz-Holzschnitten Emil Noldes vorstellen muss. »Die Pace ergreift mich, ich bin mitten in der Pace, ich wohne mit Schauern dem Urtanz bei. Die Pace, die Pace,
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fällt es mir ein, wir haben die Pace nicht mehr, Europa hat die Pace verloren, dies ist das große unheilbare Leiden.« (T 88) Das Muster ist dem Leser inzwischen vertraut: Ein spontaner Einfall wird auf eine Urkraft zurückgeführt (hier: den Urtanz) und sofort kulturhistorisch gewendet. Zanas Tanz ruft den Gott Moki auf, das heißt, die kultische Handlung schafft selbst eine mächtige Wirklichkeit, etwas, wozu die Weißen nicht fähig sind. Zana beweist damit die mythopoietische Potenz ihrer Kultur im Gegensatz zum alten Europa, das sich zu Unrecht noch überlegen wähnt. Die Pace, das ist die unhintergehbare Lebendigkeit und Potenz eines Phantoplasmas, die immer nur in bestimmten Punkten der Kulturgeschichte voll entfaltet ist. Mit Brandlbergers erneut von Nietzsches Zarathustra inspirierten Worten: Zurecht kommen zu einem Schöpfungsakt, nicht träge, sondern pünktlich sein, dabei sein – das ist alle Wahrheit! Denn sehen Sie, zur Richtigkeit gehört etwas anderes als Freiheit von Irrtümern: der Takt, die Pace. Nur Wahrheiten, die Pace haben, gelten. (T 123)
Auch dies ist durchaus ein Gedanke, der in der Postmoderne seine Entsprechung findet, etwa in dem schönen und provokativen Satz von Boris Groys: »Wenn der Kontext nicht wahr sein kann, dann muß er zumindest gut sein.«21 Wo es keine ausgezeichnete, ursprüngliche, allgemeingültige Wahrheit mehr gibt, muss man Kriterien für jene Wahrheit angeben, in der man leben will; im Zweifel wird man sich für eine entscheiden, die – um ein paar neuere Tanz-Metaphern anzubringen – ›swingt‹, ›rockt‹ oder ›groovt‹, mit Robert Müller: die die Pace hat. Hier erzählt der Roman eine doppelte Geschichte: Auf der Handlungsebene sehen wir, wie die europäischen Abenteurer voller Superioritätsbewusstsein in die Welt der Eingeborenen eindringen, dort aber unter Tropenbedingungen ihrer vermeintlichen Überlegenheit sehr schnell verlustig gehen und durchaus schlechte Figuren abgeben, bis sie sich am Ende gegenseitig umbringen. Auch auf der Reflexionsebene stellt sich die Einsicht ein, das europäische Bürgertum gehöre in Sachen Pace nicht zur Avant-, sondern eher zur Arrieregarde: »Ein schäbig gewordener Rhythmus zupft noch galvanisch an ihren Leichen, raunt noch verblaßte Musiken zu ihrem Tun und läßt sie hohlzahnige Lieder singen.« (T 112) Aber diese Einsicht wird eben begleitet vom Entstehen jenes Theorieamalgams von Tropen, Wasserrädern, Phantoplasma und Pace, das die vitale Überlegenheit der Indianer gewissermaßen aufwiegt. So kann Brandlberger sich sagen: _____________ 21
Boris Groys: Der ein-gebildete Kontext, in: Ders.: Kunst-Kommentare. Wien 1997, S. 6597, hier S. 76.
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Beobachte dich selbst und du nimmst zu! […] Du entwickelst dich von dir zu deiner Technik, von deinen Wünschen zu deiner Art, vom Vergnügen zur Lust, von deiner Hast zur Pace. Und die Pace ist gut. Haben wir sie verloren, so wollen wir sie uns wieder holen. Wir reisen. Wir bezwingen den Wilden, indem wir ihn sehen kommen. Und nun holen wir uns wieder, was wir für unser Gehirn eingetauscht hatten, aber wir geben den Tausch nicht auf. Wir behalten, was wir besitzen. (T 112)
›Wir reisen‹. Der Mythos der Reise (Untertitel!), das utopische Projekt der Tropen ist also kein kolonialistisches, was die Europäisierung der Indianer bedeuten würde. Auch mit dem Bekanntmachen des kulturellen Eigenwertes der Eingeborenen in Europa ist noch nichts gewonnen. Beide Optionen werden von Brandlberger anfangs gleichwohl ausführlich erwogen: Sollte ich mit Hilfe meines Klemmers und des Mausers das Land der Dumaraleute erobern, eine Stadt gründen, Eisenbahnen anlegen, Kaffee- und Maniokplantagen errichten, eine Armee nach preußischem Muster formieren mit van der Dusen an der Spitze, oder eine Ingenieurschule für heranwachsende Indianer unter meiner höchsteigenen Leitung? (T 83)
Von der Idee, zum Impresario primitiver Kunst in Europa zu werden, war oben schon die Rede, explizit wird mehrfach auf die Praxis von Völkerschauen verwiesen, die noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Blüten trieb, man denke an die Völkerschauen Hagenbecks in Hamburg (z.B. mit Eskimos), an die Inszenierungen des Belgischen Königs Leopold mit ›seinen‹ Kongolesen oder an die Ashantee-Völkerschau im Wiener Prater, über die unter anderem Peter Altenberg geschrieben hat. All dies ist im Horizont des Tropen-Romans, doch greift seine chiastische Grundfigur selbstverständlich auch hier. Die drei Weißen inszenieren sich nämlich in dem Indianerdorf selbst als Völkerschau und verdienen sich anfangs so ihre Bananen und Brotfladen: Slim managete uns als europäische Show ziemlich glücklich. Ich wußte, daß er bereits einmal als Manager einer Buffalo-Bill-Truppe auf der Pariser Weltausstellung runde Summen gemacht hatte. […] »Heute große Vorstellung ›Europa in Pomacco‹. Kinder haben freien Zutritt! Die weißesten Indianer der Welt! Ein Stamm ohne Füße, einzig in seiner Art! Der dickste Mann der Welt, besondere Attraktion für das weibliche Geschlecht, groß und klein! Hereinspaziert! Noch nie dagewesen! Erstes und letztes Auftreten der dümmsten und ungeschicktesten Kerle auf Gottes Erdboden. Größter Lacherfolg des Jahrhunderts! Herrein, herreinspaziert meine Herrschaften!!« (T 59)
An diesem Zitat lässt sich noch einmal einiges ablesen. Zum einen wird das exotistische Prinzip der Völkerschauen einfach umgedreht, die Europäer sind die Attraktion für die Eingeborenen, und zwar durchaus mit den Attributen einer Freak-Show: Weil die Weißen Schuhe tragen, wirken sie wie ein ›Stamm ohne Füße‹, van den Dusen bringt eine im Dschungel ungekannte Korpulenz mit – der Blick auf die fremde Kultur findet im-
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mer Ungeschicktes und Lächerliches. Zum zweiten transportiert Müllers Text eine Menge an Details seiner Gegenwartskultur – Buffalo Bill wird erwähnt, der ja in der Tat als Held einer Indianershow umherzog, aber auch die Pariser Weltausstellung von 1900. Das geht bis ins Vokabular: Von ›managen‹ und ›Manager‹ ist die Rede, es wird, meist in Verbindung mit Jack Slim, eine mit dem Amerikanischen assoziierte Terminologie gebraucht. Rückblickend wirken manche Elemente bereits der frühen Texte Robert Müllers wie Zeugnisse der Neuen Sachlichkeit. Zum dritten wird von all diesen Dingen nicht einfach erzählt, sondern der Text, der Monolog Brandlbergers, imitiert mit Verve die rhetorischen Gesten der Ausrufer vor den europäischen Jahrmarktsbuden mit Eingriffen bis hinein in die Typographie; man beachte die Alliterationen sowie die doppelten Anführungszeichen (»Herrein, herreinspaziert meine Herrschaften!!«). Tropen ist auch ein Roman der sprachlichen routines.
10 Dietrich, der 1997 die gültige Verfahrensanalyse der Tropen vorgelegt hat, stellt fest, dass sich vor dem Hintergrund der paradoxalen Konstruktionen »konkret mimetische Lektüren des Romans ebenso wie die Deduktion kohärenter Gesellschafts-, Rassen-, Subjekt- etc. Theorien aus seinen Reflexionen [verbieten]«22 – ein Verdikt, dem man zunächst zustimmen muss. Seine Textverfahren weisen Tropen als einen Roman der emphatischen Moderne aus, deren Texturen sich ja ganz generell einem schlichten mimetischen oder ideologischen Verständnis verweigern. Dennoch hat sich bereits in unserem Schnelldurchgang gezeigt, dass im Nachvollzug der wichtigsten poetologischen Chiffren des Romans zugleich eine Fülle von Diskursen des jungen 20. Jahrhunderts ins Spiel kommt. Ebenso wenig wie die postmodern-dekonstruktivistisch anmutenden rhetorischen Vertextungs-Prinzipien muss man dabei diese Diskurse mühsam von außen an den Text herantragen – so explizit, wie er seine Tropen-haftigkeit bereits im Titel nennt, zitiert er in Vokabular und ausdrücklichen Bezugnahmen zeitgenössische Diskurse in seinen Text hinein: Exotismus, Primitivismus, Kolonialismus, Abstraktion der modernen Kunst, moderne Philosophie und Literatur, Dekadenz der europäischen Kultur, relativisti_____________ 22
Dietrich: Poetik der Paradoxie, S. 56. Dietrich kann sich dabei bereits auf einige Publikationen stützen, von denen die wichtigsten hier genannt seien: Helmut Kreuzer, Günter Helmes (Hg.): Expressionismus, Aktivismus, Exotismus. Studien zum literarischen Werk Robert Müllers (1887–1924). Göttingen 1981 – Stephanie Heckner: Die Tropen als Tropus. Zur Dichtungstheorie Robert Müllers. Wien, Köln 1991 – Thomas Köster: Bilderschrift Großstadt. Studien zum Werk Robert Müllers. Paderborn 1995.
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schen Historismus, Spiritismus und Okkultismus, Sexualität, Ausdruckstanz, Amerikanismus, Völkerschauen, Freak Shows und manches andere haben wir bereits benannt und diese Liste ist keineswegs vollständig. Es gehört – das haben wir zu zeigen versucht – zu den erstaunlichen Qualitäten dieses Romans, dass er solche Diskurse sehr konkret aufrufen kann, ohne dabei das subtile chiastische Gleichgewicht seiner Konstruktion zwischen Setzung und Aufhebung außer Kraft zu setzen. Bleibt allerdings immer noch die Frage, ob und inwiefern Robert Müller in diesem Roman darüber hinaus eigene kulturpolitische Positionen positiv verkündet. Dass Müller solche Positionen vertrat und ihre Verbreitung ihm ein starkes Anliegen war, zeigt sich insbesondere in seinem umfangreichen publizistischen und essayistischen Werk. »Müller war besessen von der Vision, ein Imperium und eine hybride Rasse zu gründen«,23 behauptet etwa Schwarz am Ende seiner ausführlichen, materialreichen Studie zu den exotistischen und kolonialistischen Kontexten des Romans. Und in der Tat: wenn es im Roman so etwas gibt wie den Ansatz zu einem positiven neuen ›Mythos‹, dann ist es jener ›Mythos der Reise‹, der von einer neuen Hybridkultur phantasiert. Diese Kultur hätte den IngenieursVerstand des Nordländers mit der Pace der Eingeborenen zu einem neuen produktiven ›Schöpfungsakt‹, einem neuen welthistorischen Kairos zu amalgamieren, wie es in der Beziehung von Brandlberger zu Zana ja zumindest angelegt ist. Robert Müller denkt und formuliert solche Phantasien bevorzugt im Rahmen einer Rassentheorie. Das stellt für den heutigen Leser eine gewisse Geschmacksbarriere dar, weil Rasse- und Züchtungsgedanken in Bezug auf Menschen sich im Verlaufe der Geschichte des 20. Jahrhunderts, vor allem durch den Rassendiskurs der Nationalsozialisten und seine realpolitischen Folgen, nachhaltig disqualifiziert haben. So ist man mitunter vorschnell dabei, Überlegungen mit entsprechendem Vokabular präfaschistische Züge zuzuschreiben – sei es als bewusste politische Verurteilung oder auch nur unterschwellig, durch ein gewisses Unbehagen bei der Lektüre. Im Roman ist der Rasse-Gedanke Müllers wie gesagt vor allem in der Figur Jack Slims verkörpert. Seiner kulturellen Hybrid-Identität zwischen Kultur, Politik, Dandy- und Abenteurertum entspricht auch seine Abstammung: Sein Vater ist Amerikaner arabisch-deutscher Abstammung, »seine Mutter Chilenin, spanisches Halbblut« (T 57), die Großmutter womöglich noch Kannibalin (vgl. T 61). Für seine exzentrischen geopolitischen Vorstellungen war, so heißt es bereits im Vorwort, »übrigens nicht nur die Sympathie für den reinen Typus des Westariers, sondern auch jene _____________ 23
Schwarz: Robert Müllers Tropen, S. 319.
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für das semitische Element, von dem er einen guten Teil in sich trug, ausschlaggebend« (T 9). An diesem Beispiel lässt sich die genannte Barriere noch einmal gut erläutern: Liest der heutige Leser etwa über »das die übrige Welt mit auflösenden Tendenzen speisende jüdische Volk« (T 9), wird ihm schon etwas mulmig. Nun heißt es aber im gleichen Zusammenhang, Slim sehe im Katholizismus und im Jüdischen »die Werte für jede Kulturbildung« (T 9) und vertrete daher eine Art konservativen Nihilismus, so relativiert sich der Eindruck schon wieder etwas. Vor allem muss man sich vor Augen führen, dass die Rassenlehre, die hier durchscheint, eben von einem Prinzip der Hybridisierung, der Rassenmischung, bestimmt wird, von dem man sich positive Effekte erhofft. Mögen der Deutsche Brandlberger oder die Indianerin Zana reine Rassen verkörpern – die Zukunft gehört ihnen nicht, sondern dem genetischen Komplett-Mix à la Jack Slim.24 Zu den positiv konnotierten Bastardisierungs-Plänen kommen bei Müller noch sexuelle und multikulturelle Hybriditäts-Vorstellungen hinzu, die jeder Art von rassistischem oder kulturellem Reinheitsbestreben schon im Ansatz widersprechen.25 Eher muss man sich wohl fragen, wie man die geo- und rassepolitischen Fantasien Slims/Müllers26 denn überhaupt verstehen und einordnen soll. Bereits das Potpourri von Attributen, Zuschreibungen und Plänen, das das fiktive Vorwort präsentiert, wirkt ja nicht selten ausgesprochen komisch, etwa wenn Slim fordert, »dem Papsttum dadurch seine Unzukömmlichkeit für die nördlicheren Nationen, Deutsche und Slawen, zu nehmen, daß man seinen Sitz in eine österreichische Provinz, nach Steiermark oder Tirol, verlegte« (T 8).
_____________ 24
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Bereits darin sind Müllers Rasse-Utopien mit denen der Nationalsozialisten vollständig unvereinbar, denn, wie Schwarz ausführlich darlegt, »Hitler lehnt im Gegensatz zu Müller jegliche Hybridisierung ab. Die ›Blutsvermischung‹«, die dieser propagiert, »betrachtet er als ›Ursache des Absterbens aller Kulturen‹, wer sich ›bastardisieren‹ lasse, sei dem ›Untergang‹ preisgegeben« (Schwarz: Robert Müllers Tropen, S. 258; die Binnenzitate stammen aus Mein Kampf ) . Vgl. zum gesamten Komplex der Rassentheorie Schwarz: Robert Müllers Tropen, S. 221-276. Weitere Kontexte des Romans wie Kartographie und Tropenkoller werden bei Schwarz materialreich aufgearbeitet. Ein anderes Beispiel für die Verkörperung einer Müller’schen Reflexionsfigur »als nahezu vampyrisches Produkt aus Rasse, Gender, Stimme, Stadt, Kultur und neuer Sprache« (Robert Matthias Erdbeer: Spaßige Rassen. Ethno-Flanerie und Gender-Transgression in Robert Müllers Manhattan [1923], in: Kristin Kopp, Klaus Müller-Richter [Hg.]: Die »Großstadt« und das »Primitive«. Text – Politik – Repräsentation. Stuttgart, Weimar 2004, S. 221257, hier S. 247) wäre Perez in Manhattan, der sich am Schluss in ein Girl verwandelt. Slim dient Müller wie gesagt auch in anderen Texten als Verkörperung des ZukunftsTypus, auch scheint er sich selbst gelegentlich als eine Art Jack-Slim-Typ inszeniert zu haben.
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Kann so etwas ernst gemeint sein? Ein Blick in das publizistische Werk Müllers, den wir an dieser Stelle nicht leisten können, würde eine Menge solcher zunächst absurd anmutender Dinge zutage fördern, allerdings würde er auch dort auf Textverfahren stoßen, die dem Status des Gesagten in durchaus ähnlicher Weise etwas Prekäres, Vorbehaltliches verleihen wie im Tropen-Roman. Dietrich vertritt sogar die These, »daß der Tropen-Roman sowohl thematisch als auch verfahrenstechnisch das Fundament der gesamten späteren schriftstellerischen Bemühungen Müllers ist«27 – das essayistische Werk ausdrücklich mit eingeschlossen. Stimmt das, dann helfen uns die vermeintlich nicht-fiktionalen Schriften Robert Müllers auch nicht wirklich weiter und wir bleiben auf die Tropen verwiesen.
11 Auf die Tropen verwiesen zu sein, heißt aber vor allem: auf Tropen verwiesen zu sein, und damit auf das Projekt der emphatischen Moderne. Irgendwo in seinen Ausführungen verkündet Jack Slim die Überwindung des 19. Jahrhunderts und des Fin de siècle als Zeitalter der Nerven, der feinen Beobachtungen und der Sehnsucht nach Ursprung und Wahrheit, und was er da sagt, erinnert einmal mehr an postmodernes Gedankengut: Wir haben die Sehnsucht überwunden; mit ihr wohl auch die Beobachtungen, all das, was man unter der Etikette der ›Analyse‹ verstand. Wir sind zu einer synthetischen Lebensform gekommen. Den Kombinationen ist freier Spielraum gelassen, die Kombination ist das Merkmal dieser Zeit. Es ist eine im letzten Grunde artistische Zeit; aber nicht dem Geschmack, sondern dem Wesen nach […]. (T 201)
Nicht die Analyse eines vermeintlich Gegebenen, sondern die Kombination, das freie Spiel, die Tropen, das Artistische als schöpferisches Prinzip – selbstverständlich spricht hier überall Nietzsche mit, zugleich hat aber das Buch, in dem solches zu lesen steht, auf Seite 201 bereits vielfach bewiesen, dass es formal durchaus Ernst macht mit dem, was es verkündet. Das artistische Spiel, von dem hier die Rede ist, betrifft außerdem neben der im engeren Sinne poetologischen auch andere Dimensionen, es betrifft ganze Welten bzw. die Welt als Ganze: In dieser Zusammenstellung haben Sie gleich wieder den kombinatorischen Zug. Die große Synthese bricht an. Wir stülpen Asien und Europa und Amerika aufeinander. Und was entsteht, ist eine Menschheit. Nicht nur Amerika ist jung; Europa ist noch viel jünger, viel jünger und seltsamer. Man sollte Forschungsreisen nach Europa antreten, nach dem wirklichen Europa! (T 201)
_____________ 27
Dietrich: Poetik der Paradoxie, S. 150.
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Die geo- und rassepolitischen Fantasien, heißt das, sind von der gleichen Art wie die literarischen, es sind ernste Spiele, Spiele im Bewusstsein dessen, dass es eine erste Wahrheit, eine wahre Welt, ein Zentrum nicht mehr gibt. »Nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt«, schreibt Nietzsche in der Geburt der Tragödie 28 (ein Lieblingszitat Gottfried Benns!). Robert Müller nimmt die Herausforderung an und schafft solche Welten-als-ästhetische-Phänomene im Grenzgebiet von Fiktion und Essayismus. Als Ergebnis emphatisch moderner Kombinationen, als Texturen, als ›Überzeugungen aus Wortspielen‹ befinden sie sich stets in jenem prekären Gleichgewicht, in dem zwei Seiten eines Chiasmus um ein leeres Zentrum balancieren, eine jeweils die Paradoxie der anderen. Zana und Fräulein Zauner, Wien und der Dschungel, Karl May und Nietzsche, Brandlberger und Slim, Arier und Juden, pathologische Phantasie und utopische Wahrheit, Krippenkult und abstrakte Kunst – der Roman vervielfältigt die Paradoxien und schafft so eine reiche Welt oder vielmehr: viele Welten, Phantoplasmen, Diegesen und Denkräume. Er schafft sie – und nimmt sie zugleich wieder zurück.29 Et vice versa, versteht sich. Wir wollen nichts beschönigen: Robert Müllers Tropen fordern vom heutigen Leser, wie viele historisch gewordene Texte, eine gewisse Investition. Es sind zweifellos einige Wasserräder und Sumpftexturen zu überstehen, bevor einem die Pace dieses Textes aufgeht. Lässt man sich aber ein auf die Mühen der Textur und die Mühlen der Reflexion, dann wird man reich belohnt; nicht umsonst hielt Robert Musil das Buch für eines »der besten der neuen Literatur überhaupt«.30 Müllers Roman ist dicht und raffiniert, er ist voller kühner Ideen, witziger Formulierungen und erzählerischer Geheimnisse, er ist eine Summa der angesagten Diskurse seiner Zeit; vor allem aber ist er durch und durch intelligent, nirgends enttäuscht er die Komplexitätserwartungen, die er selbst von den ersten Seiten an aufbaut. » – Verstehen Sie mich?« »Gewiß«, sagte ich schnell; »was ist daran nicht zu verstehen?« »Nein, dann verstehen Sie es nicht«, sagte Slim. »Ich dachte, Sie wüßten es schon.« (T 64)
_____________ 28 29 30
Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari. Bd. I. München 1980, S. 47. Wie ja paradoxerweise Slim, der Typus der Zukunft, den Roman nicht überlebt und auch das Brandlberger-Za(o)na-Gründungsprojekt einer neuen Rasse bereits im Vorwort als katastrophal gescheitertes vorgestellt wird. Robert Musil: Robert Müller [3. September 1924], in: Ders.: Prosa und Stücke Hg. v. Adolf Frisé. (Gesammelte Werke, Bd. II). Reinbek b. Hamburg 1978, S. 1131-1137, hier S. 1134.
HEINZ DRÜGH
Kein romanhafter Leitartikel. Zur Virulenz der ästhetischen Moderne in Heinrich Manns Roman Der Untertan (1918) 1. Satire, Realismus und Moderne Entschieden wie kein anderer Erzähltext des frühen 20. Jahrhunderts wird Heinrich Manns (1871–1950) Roman Der Untertan, die Geschichte vom gesellschaftlichen Aufstieg des kaisertreuen Papierfabrikanten Diederich Heßling, dem nicht ganz unumstrittenen Genre der Satire zugerechnet. Schon die Publikationsgeschichte dieses »Roman[s] des bürgerlichen Deutschen unter der Regierung Wilhelms II.«,1 an dem sein Verfasser seit 1906 arbeitet, ist maßgeblich dem satirischen Charakter des Textes geschuldet. So werden erste Auszüge bereits 1911 und 1912 im Simplicissimus, der deutschsprachigen Satirezeitschrift, veröffentlicht und in entsprechendem Duktus annonciert die moderne illustrierte Wochenschrift Zeit im Bild den im Januar 1914 beginnenden Vorabdruck des gesamten Werks: »Dieser Roman wird in den weitesten Kreisen Aufsehen erregen. Der Autor der Göttinnen (1903) und des Professor Unrat (1905) betritt damit ein in Deutschland bisher wenig gepflegtes Gebiet, das des satyrischen Zeitromans. Scharfe Kritik und beißende Satyre schrecken darin vor nichts zurück«.2 So überschwänglich diese Formulierung aus dem Dezember 1913, so kleinlaut der Ton am 1. August 1914, dem Tag der deutschen Mobilmachung für den Ersten Weltkrieg: »Im gegenwärtigen Augenblick«, schreibt die Redaktion an Heinrich Mann, »kann ein großes öffentliches Organ nicht in satirischer Form an deutschen Verhältnissen Kritik üben«,3 und so wird die Publikation des Untertans noch vor ihrer Vollendung gestoppt, im Übrigen mit Heinrich Manns Einverständnis, der sich lediglich den Verzicht auf eine redaktionelle Erklärung zu diesem Vorgang ausbe_____________ 1 2 3
Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt. Mit einem Nachwort v. Klaus Schröter u. einem Materialienanhang, zusammengestellt v. Peter-Paul Schneider. Studienausgabe in Einzelbänden. Hg. v. Peter-Paul Schneider. Frankfurt a.M. 1988, S. 206. Zitiert nach: Frederick Betz: Heinrich Mann. Der Untertan. Ergänzte u. überarbeitete Aufl. Stuttgart 2003, S. 85. Zitiert nach: Betz: Untertan, S. 85.
Heinrich Mann – Der Untertan
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dingt. Während des Krieges kann der Roman in Deutschland nicht mehr erscheinen. Auf die russische Übersetzung im Jahr 1915 und einen Privatdruck von Manns Verleger Kurt Wolff in Höhe von einem knappen Dutzend Exemplaren 1916 folgt die deutsche Buchveröffentlichung erst im Dezember 1918.4 Mit Publikationsdaten deckungsgleich zum Anfang und Ende des Ersten Weltkriegs konnte die Rezeption des Untertans kaum anders als in starren Bahnen verlaufen. »Erfolgreich und umstritten war nicht eigentlich ein Stück Literatur, sondern etwas, das als historisches Dokument und als polemischer Kommentar angesehen wurde«,5 resümiert Helmut Arntzen 1980. Schon die Zeitgenossen vernahmen im Untertan einen »literarische[n] Pamphletismus«, in dem die ästhetische Ambition zugunsten der politischen Aussage zurückgedrängt sei: »Mit Kunst hat das nur wenig oder gar nichts zu tun«,6 schreibt Paul Mack 1919 und auch der Heinrich Mann wohlgesinnte Richard Rieß bezeichnet im selben Jahr die Sprache des Untertans als »nüchterner«, als »nicht so artistisch«, verzichte sie doch ganz bewusst auf »manche früher bewunderte Schönheit« Heinrich Mann’scher »Diktion«.7 Mit dem Untertan zementiert Mann seinen bis heute gültigen Ruf bzw. Ruhm als politischer Autor, schreibt sich dadurch aber auf gewisse Weise auch aus dem Kanon der klassischen Moderne hinaus. »Keines der Werke Heinrich Manns« und schon gar nicht Der Untertan, befindet Renate Werner, zähle »zu den Paradigmen spezifischer ›Modernität‹«;8 eine Entwicklung sehr zum Unwillen des Autors, der sich im Dezember 1948 nicht ohne resignative Untertöne der rezeptionssteuernden Wirkung seines berühmtesten Romans entsinnt: »Einmal von einem Publikum festgelegt als ›politischer‹ Romancier, blieben Schönheiten meist unbeachtet; werden es bleiben […]«. »Als Verfasser eines romanhaften Leitartikels«, so Mann weiter, wolle er aber »nicht fortleben«.9 Eine andere, für verkappte Modernismen hellhörigere Perspektive auf den Roman lässt sich ausgehend von Kurt Tucholskys Bemerkungen aus der Zeitschrift Die Weltbühne entwickeln, in denen er 1919 den Untertan als _____________ 4 5 6 7 8 9
Vgl. ausführlich die Materialien zur Entstehungs- und Druckgeschichte in: Betz: Untertan, S. 77-91. Helmut Arntzen: Die Reden Wilhelms II. und Diederich Heßlings. Historisches Dokument und Heinrich Manns Romansatire, in: Literatur für Leser 3/1 (1980), S. 1-14, hier S. 1. Paul Mack: Der Untertan, in: Leipziger Neueste Nachrichten, 15. Januar 1919, S. 2. Zitiert nach: Betz: Untertan, S. 115f. Richard Rieß: Heinrich Mann und der ›Kaiserismus‹, in: Königsberger Hartung’sche Zeitung, 19. Januar 1919 (Sonntagsbeilage), S. 2. Zitiert nach: Betz: Untertan, S. 117. Renate Werner: Heinrich Mann. Zu seiner Wirkungsgeschichte in Deutschland, in: Dies. (Hg.): Heinrich Mann. Texte zu seiner Wirkungsgeschichte in Deutschland. München, Tübingen 1977, S. 5 (= Deutsche Texte 46). Heinrich Mann an Karl Lemke, 10. Dezember 1948, in: Heinrich Mann: Briefe an Karl Lemke und Klaus Pinkus. Hamburg 1964, S. 90f.
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Heinz Drügh
»Herbarium des deutschen Mannes« preist, als Kompendium, das seinen Gegenstand »ganz« oder »schlechthin«10 aufbewahre. Die naturwissenschaftlich-positivistische Grundierung eines solchen Willens zur Totalität betont Tucholsky noch 1927, wenn er den Untertan als den »AnatomieAtlas des Reichs«11 bezeichnet. Keineswegs gehe dieser in jenen von nicht wenigen Stimmen geäußerten Zuschreibungen auf, die ihn als »Karikatur! Parodie! Satire! Pamphlet!«12 abstempeln, als zornblinden »sozialkritische[n] Expressionismus«, als »Zerrbild ohne Wirklichkeitsgrund« oder gar als »Groteskkunst«.13 Die Wahrnehmungsform des Untertans sei vielmehr im Kern kühl registrierend, sei »bescheidene Fotografie«.14 Mag der Untertan auch in seinem Zugriff auf äußeres Geschehen nicht jene immensen »Stoffmassen«15 bewegen, wie Mann es dem prototypischen Realisten Balzac attestiert, mag ihm somit laut Thomas Nipperdey »die positivistische Leidenschaft zur Aneignung des Details«16 auf gewisse Weise ermangeln und mag die Geschichte Diederich Heßlings auch nicht im Stil jener für den frühen Heinrich Mann so prägenden Décadence-Texturen mit ihrer nach innen gewendeten Faktenhuberei als psychoziselierender roman d’analyse dargeboten sein:17 Manns wilhelminischer Roman bleibt dennoch und mit Konsequenzen für seine Modernität ein Text der Inventarisierung, ein »Panorama«.18 _____________ 10 11 12 13 14 15 16 17
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Kurt Tucholsky: Der Untertan, in: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Mary GeroldTucholsky u. Fritz J. Raddatz. Bd. I: 1907–1924. Reinbek b. Hamburg 1960, S. 383-387, hier S. 383f. Kurt Tucholsky: Mit Rute und Peitsche durch Preußen-Deutschland, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. II: 1925–1928. Reinbek b. Hamburg 1960, S. 854-859, hier S. 856. Tucholsky: Rute und Peitsche, S. 856. Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, in: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. XII: Reden und Aufsätze 4. Frankfurt a.M. 1974, S. 565f. Tucholsky: Rute und Peitsche, S. 856. Heinrich Mann: Eine Freundschaft. Gustave Flaubert und George Sand, in: Renate Werner (Hg.): Heinrich Mann. Eine Freundschaft. Gustave Flaubert und George Sand. Text, Materialien, Kommentar. München 1976, S. 7-42, hier S. 8. Thomas Nipperdey: War die wilhelminische Gesellschaft eine Untertanen-Gesellschaft?, in: Ders.: Nachdenken über die deutsche Geschichte. Essays. München 1986, S. 172-185, hier S. 172. Zum Einfluss der Décadence und speziell von Paul Bourget auf Heinrich Mann vgl. Klaus Schröter: Anfänge Heinrich Manns. Zu den Grundlagen seines Gesamtwerks. Stuttgart 1965, bes. S. 18-42 – Gerhard Loose: Der junge Heinrich Mann. Frankfurt a.M. 1979 – Dieter Kafitz: Décadence in Deutschland. Studien zu einem versunkenen Diskurs der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts. Heidelberg 2004 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 209). Zum Zusammenhang von positivistischem Verfahren und Décadence-Textur vgl. Moritz Baßler, Christoph Brecht, Dirk Niefanger, Gotthart Wunberg: Historismus und literarische Moderne. Mit einem Beitrag von Friedhelm Dethlefs. Tübingen 1996, S. 114-119. Wolfgang Emmerich: Heinrich Mann. Der Untertan. 4. Aufl. München 1993, S. 61.
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Zugespitzt und dennoch in aller Einlässlichkeit stellt der Untertan statt äußerer Fakten oder einer inneren Seelenlandschaft den Diskurs19 wie den Habitus der wilhelminischen Gesellschaft aus. Nicht umsonst spielt ein Großteil der Handlung an öffentlichen Orten wie der Schule, beim Studentenkommers oder in Gastwirtschaften, vor Gericht, in der Oper, bei Empfängen, Soireen oder Zeremonien wie der Enthüllung des Kaiserdenkmals am Schluss des Romans. Und auch der familiär-private Bereich gelangt vorwiegend in ritualisierten Momenten zur Darstellung: beim Sonntagsausflug, während der Weihnachtsfeier oder in der Hochzeitsnacht, so dass der ursprünglich von Mann vorgesehene Untertitel Geschichte der öffentlichen Seele unter Wilhelm II., der auf Betreiben der Zeit im BildRedaktion geopfert wurde, als überaus glücklich gewählt erscheint. Es ist also einerseits nicht abwegig, den Untertan als realistischen Roman zu lesen, als einen Text, der exemplarisch »mit literarischen Mitteln […] eine Geschichtsepoche«20 aufschließt, der die wilhelminische Gesellschaft in einer Weise zur Darstellung bringt, wie sie »kein Historiker […] je so eindringlich beschreiben«21 könnte. Andererseits sind dabei aber eben jene literarischen Mittel zu beachten, das »Artifizielle«,22 über das Manns Roman bei aller Wirklichkeitsbezogenheit gebietet. Realismus, das ist für Mann – wie der Essay über Gustave Flaubert und George Sand verdeutlicht – keine Angelegenheit naiver Abspiegelung. So inszeniert etwa Gustave Flauberts in jeder Hinsicht vorbildliche Madame Bovary eine Spielart des »realistische[n] Roman[s]«, deren derbe »Erdenfestigkeit« stets mit »Phantasie« gepaart ist, mit »traumhaft tiefen Sensationen«, einem sich nicht allein »bürgerlichen Väter[n]« verdankenden »Sinn für die Untergründe […], für die groteske Grundlinie im Menschen«.23 Einfacher und plakativer gesagt: Der Realismus, wie ihn Mann an Flaubert studiert, steht für eine Realitätserfassung, die zum einen die wirklichkeitsbildende, die performative Kraft der Rede im Visier hat und dabei zum anderen stets auf der Höhe der
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Ich verwende den Begriff ›Diskurs‹ hier im Singular, weil in Bezug auf Heinrich Mann mehr an konkrete Rede-Kontexte (wie beim Diskurs-Begriff nach Habermas) denn an alle möglichen in schriftlicher Form gebundenen Redeweisen aus den verschiedensten Wissensgebieten (den Focault’schen Diskurs-Begriff) zu denken ist. Implikationen des Habermas’schen Diskurs-Begriffs im Hinblick auf ein der Sprache innewohnendes rationales, auf Verständigung zielendes Telos sind damit in Bezug auf die erzählte Welt des Untertans freilich nicht verbunden. Emmerich: Untertan, S. 9. Hans-Ulrich Wehler: Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918. 6., bibliographisch erneuerte Aufl. Göttingen 1988, S. 93. Arntzen: Die Reden Wilhelms II., S. 4. Mann: Eine Freundschaft, S. 34f.
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literarischen Moderne operiert.24 Es nimmt daher nicht Wunder, dass sich die von einem neueren Handbuch angebotene Skizze eines Realismus, der in die Schule (post-)moderner Zeichentheorie gegangen ist, wie eine Beschreibung der Verfahren des Untertans liest: Die Sprache selber kann auch ein legitimer Gegenstand realistischer Darstellung sein, vor allem insofern sie (im Sinne der späten Wittgensteinschen Philosophie) als eine ›Lebensform‹ aufgefaßt wird. Denn Modalitäten und Vorgänge der Repräsentation und Reproduktion sind Teil der gesellschaftlichen Erlebnissphäre – und auch der Kunst, die diese Vorgänge thematisiert. Bis zu einem entscheidenden Grad besteht eine funktionierende soziale Welt aus Diskursen, die zirkulieren. Das […] bedeutet eben nicht, daß Diskurse bloß ästhetische Gegenstände sind; sie sind vielmehr wirklichkeitsbildend.25
2. Diskurs und Dialogizität Wenn der Untertan Wirklichkeit literarisch ausstellt, so führt er diese als wörtlich zu verstehende Wirklichkeit von Rede vor. Literarisch zur Debatte steht, wie Diskurs die Realität modelt, wie Sprache soziale Tatsachen formiert. Die Romanfiguren – allen voran Diederich Heßling und seine Gefährten – erscheinen aus dieser Perspektive trotz all ihres Redeaufwandes weniger als ausgefeilte Individuen denn als leere Subjekte, als Medien oder Sprechautomaten, wie bei Diederichs erstem Besuch der Familie Göppel deutlich wird: »Herr Göppel bekannte sich als freisinnigen Gegner Bismarcks. Diederich bestätigte alles, was Göppel wollte; er hatte über den Kanzler, die Freiheit, den jungen Kaiser keinerlei Meinung.«26 Entsprechend willenlos überkommt den jungen Heßling die Rede auch in der anbändelnden Plauderei mit Göppels Tochter Agnes, die seine erste Geliebte werden soll: »Ach ja, ihr Papa habe ihr gesagt, Herr Heßling studiere Chemie? ›Ja. Das ist überhaupt die einzige Wissenschaft, die Berechtigung hat‹, behauptete Diederich, ohne zu wissen, wie er dazu kam.« (U 19) Die allgemeine Unfähigkeit zur Kommunikation zeitigt dabei stets auch komische Effekte, etwa wenn Diederich zum gleichen Thema in ein Gespräch mit einer von Agnes’ Tanten verwickelt wird: _____________ 24 25 26
Vgl. Mann: Eine Freundschaft, S. 34f. In Bezug auf Flauberts Realismus heißt das für Mann insbesondere, ihn als Vorboten der Décadence zu lesen: »Ein Stück Weges noch: und wir finden Octave Mirbeau« (Mann: Eine Freundschaft, S. 35). Martin Swales: Epochenbuch Realismus. Romane und Erzählungen. Berlin 1997, S. 51 (für den Hinweis danke ich Anke Kramer). Heinrich Mann: Der Untertan. Roman. Mit einem Nachwort u. einem Materialienanhang v. Peter-Paul Schneider. Studienausgabe in Einzelbänden. Hg. v. Peter-Paul Schneider. Frankfurt a.M. 1991, S. 18. Im Folgenden mit der Sigle U belegt.
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»Was studieren Sie denn, junger Mann?« fragte sie. »Chemie.« »Ach so, Physik?« »Nein, Chemie.« »Ach so.« (U 23)
Von der Leere dieser konkreten Unterhaltung wie von den fortwährenden Schwierigkeiten, den sozialen Sprachverkehr unfallfrei zu meistern, ist Diederich denn auch leidlich genervt, so dass er die Tante, mit der das Gespräch ob dieser Auftaktpanne gleich ganz versiegt ist, »von feindseliger Schwermut erfüllt« »im stillen eine dumme Gans« nennt: »Die ganze Gesellschaft paßte ihm nicht.« (U 23) Entsprechend scheitern auch Diederichs Versuche, auf galante Weise das ebenso wie die Unterhaltung ins Stocken geratene Familienmahl bei den Göppels wieder in Gang zu bringen, im Stil einer Boulevardkomödie: Aber die Creme, auf die alle gespannt waren, blieb aus. Herr Göppel riet seiner Tochter, einmal nachzusehen. Bevor sie ihren Kompotteller hingesetzt hatte, war Diederich aufgesprungen – sein Stuhl flog an die Wand – und festen Schritts zur Tür geeilt. »Marie! Der Krehm!« rief er hinaus. Rot und ohne jemand anzusehen, ging er wieder an seinen Platz. Aber er merkte ganz gut, sie blinzelten sich zu. (U 22)
Als große Erleichterung für den kommunikativ mit guter Regelmäßigkeit an seine Grenzen Gelangenden erweist sich daher das Reglement der Studentenverbindung, in die Diederich während seines Berliner Studiums eintritt: Er sah sich in einen großen Kreis von Menschen versetzt, deren keiner ihm etwas tat oder etwas anderes von ihm verlangte, als daß er trinke. Voll Dankbarkeit und Wohlwollen erhob er gegen jeden, der ihn dazu anregte, sein Glas. Das Trinken und Nichttrinken, das Sitzen, Stehen, Sprechen oder Singen hing meistens nicht von ihm selbst ab. Alles ward laut kommandiert, und wenn man es richtig befolgte, lebte man mit sich und der Welt im Frieden. (U 31)
Auf solche Weise sozialisiert, kehrt Diederich als Doktor der Chemie in seine Heimat, die Provinzstadt Netzig, zurück. Dort ist er nach dem Tod des Vaters neuer Chef der familiären Papierfabrik und bei seinem »vollständige[n] Bekenntnis einer scharfen und schneidigen Gesinnung« (U 126) gegenüber dem Bürgermeister Scheffelweiß und dem ebenfalls linientreuen, sowie, obwohl selbst Jude, stramm antisemitischen Staatsanwalt Jadassohn kaum mehr zu bremsen: »Die Vorfrucht der Sozialdemokratie ist der Liberalismus! […] Ich stehe auf dem Standpunkt, in dieser harten Zeit haben wir Ordnung nötiger als je, und darum brauchen wir ein festes Regiment, wie unser herrlicher junger Kaiser es führt. Ich erkläre, daß ich in allem fest zu Seiner Majestät stehe...« Hier machten die beiden anderen Herren eine Verbeugung, die Diederich entgegennahm, indes er weiterblitzte. Im Gegensatz zu dem demokratischen Mischmasch, an den die absterbende Generation noch glaube, sei der Kaiser, der Vertreter der Jugend, die per-
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sönlichste Persönlichkeit, von erfreulicher Impulsivität und ein höchst origineller Denker. (U 125f.)
Und wie ein Echo lässt sich auch Jadassohn, obwohl sein Essen kalt ward, auf eine ausführliche Würdigung des kaiserlichen Charakters ein. Die Philister, Nörgler und Juden mochten an ihm aussetzen, was sie wollten, alles in allem war unser herrlicher junger Kaiser die persönlichste Persönlichkeit, von erfreulicher Impulsivität und ein höchst origineller Denker. Diederich glaubte dies auch schon festgestellt zu haben und nickte befriedigt. (U 130)
Vorgeführt wird eine Null-Kommunikation, die nicht auf den Austausch von Information oder gar von Argumenten abzielt, sondern nichts als die Hohlheit wie den Grad der Gleichschaltung von ehrgeizigen Aufsteigern bedeutet. Dennoch schwingt sich Diederich in seiner Heimatstadt zu einer politischen Instanz auf, maßgeblich bewirkt durch die von ihm vorgenommene Denunziation des freisinnigen Fabrikanten Lauer, Schwiegersohn des alten Herrn Buck, der »Verkörperung« (U 281) von Netzigs Bürgersinn. Heßling bringt Lauer ob einer kaiserkritischen (im übrigen auch antisemitischen) Äußerung vor Gericht und schließlich sogar hinter Gitter. Die Honoratioren der Stadt kann er daraufhin in alkoholisierter Runde gleichsam zu Pennälern schrumpfen lassen, die Auswendiggelerntes zum Besten geben: »Diederich war zum Äußersten entschlossen. An den Tisch geklammert, stemmte er sich von seinem Stuhl empor. ›Aber unser herrlicher junger Kaiser?‹ fragte er drohend. Von allen Seiten antwortete es: ›Persönlichkeit... Impulsiv... Vielseitig... Origineller Denker.‹« (U 155f.) Öffentliches Sprechen steht in Netzig also unter dem Zwang, stets das Gleiche und damit nichts zu sagen, ein Umstand, den der Text bis in die Wahl der Redeverben verdeutlicht: So lässt der Roman Diederich seine Kaiserpanegyrik wie ein überkochender Dampfkessel ›heraussagen‹ (vgl. U 126) und Jadassohn verpasst keine Gelegenheit, den jüdischen Warenhausbesitzer Cohn mit der Formel »›Wie haißt Cohn‹« antisemitisch nachzuäffen, ein sprachliches Handeln, das der Text mit der Formel »machte Jadassohn« (U 137) in all seiner Papageienhaftigkeit kennzeichnet. Eine gewisse Düsterkeit des Romans liegt freilich darin, dass auch jene Figuren, die nicht in den nationalistisch-reaktionären Sog geraten, keineswegs makellos im Hinblick auf ihre kommunikative Kompetenz sind. So nimmt der alte Buck, mitunter als die einzig positive Figur des Romans gehandelt,27 sein Gegenüber Diederich wahlweise nicht ernst genug oder _____________ 27
Dass der Roman an ihm geradezu mit zärtlicher Liebe hänge, ist seit Paul Blocks Rezension aus dem Jahr 1918 immer wieder behauptet worden (vgl. Paul Block: Buch des Propheten. Heinrich Manns Roman Der Untertan, in: Berliner Tagblatt 47, Nr. 639, 14. Dezember 1918. Zitiert nach: Betz: Untertan, S. 108). Und doch scheint mir dies Urteil mehr als alles andere eine Projektion von Diederichs stereotyper Reaktion auf den alten Buck darzustel-
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gar nicht erst wahr und gefällt sich statt dessen in schwelgender, manchmal larmoyanter Erinnerung an seine Rolle während der 1848erRevolution: »Er trat eilig zu seiner Bibliothek, bückte sich und tauchte aus einer staubigen Tiefe mit einem kleinen, fast quadratischen Buch auf. Er steckte es Diederich rasch zu, verstohlenen Glanz in seinem Gesicht, das errötet war. ›Da, nehmen Sie! Es sind meine »Sturmglocken«! Man war auch Dichter – damals.‹« (U 120f.) Erstaunlich genug, dass der Leser an solchen Stellen kaum umhin kann, sich Diederichs postwendender Bewertung: »›So ein alter Schwätzer […]‹« (U 121) anzuschließen. Das gleiche Epitheton gilt näher besehen auch für Bucks Sohn Wolfgang, einen freisinnigen Dandy, und wiederum hat Diederich bei seiner gedachten Replik die Lacher und damit den Leser für einen Moment auf seiner Seite: »›[…] Soll ich General werden und mein ganzes Leben auf einen Krieg einrichten, der voraussichtlich nie mehr geführt werden wird […]‹«, schwadroniert der junge Buck bei einem Besuch in Diederichs Studentenbude und fährt fort: »›[…] Oder ein womöglich genialer Volksführer, während das Volk doch schon so weit ist, daß es auf die Genies verzichten kann? Beides wäre Romantik, und Romantik führt bekanntlich zum Bankerott.‹ Buck trank zwei Kognaks nacheinander. ›Was soll ich also werden?‹ ›Ein Alkoholiker‹, dachte Diederich.« (U 81f.) Auch vor Gericht, wo er den von Diederich bezichtigten Lauer zunächst mit großem Erfolg verteidigt, lässt Buck junior am Ende pragmatisches Augenmaß vermissen, lässt »sich berauschen« und »mißbraucht« seinen momentanen »Erfolg«, um mit einem abschätzigen Bonmot über Wilhelm II. als »›gekrönten Künstler‹« (U 241) noch mehr zu glänzen, wodurch er auf einen Streich seine und die Chancen seines Mandanten verspielt. Dargeboten wird also ein ganzer Katalog menschlicher Dummheit, der nicht von ungefähr an Flauberts späten Roman Bouvard et Pécuchet denken lässt.28 Werden dort die verschiedensten Wissenschaftsdiskurse in den Mund zweier Dilettanten verpflanzt, die sich zum Studium in die Provinz zurückgezogen haben, eine Transposition, welche die »von Haus aus subjektlos-unpersönlich[e]« Attitüde des Szientismus nicht unbeschädigt lassen kann, ja mitunter slapstickhaft ruiniert, so resultiert der komische Effekt im Untertan ebenfalls zu einem Gutteil aus einer »Entpragmatisierung«,29 in diesem Fall der kaiserlichen Rede. Wenn der Roman Manieris_____________ 28 29
len, die darin besteht, dass Heßling in Erinnerung an Bucks einstiges Renommee bei jeder Begegnung der beiden ebenso peinlich wie unvermeidlich Tränen in die Augen schießen. Vgl. Ulrich Weisstein: Satire und Parodie in Heinrich Manns Roman Der Untertan, in: Klaus Matthias (Hg.): Heinrich Mann 1871/1971. Bestandsaufnahme und Untersuchung. Ergebnisse der Heinrich-Mann-Tagung in Lübeck. München 1973, S. 125-146, hier S. 146. Rainer Warning: Enzyklopädie und Idiotie. Flauberts Bouvard et Pécuchet, in: Waltraud Wiethölter, Frauke Berndt, Stephan Kammer (Hg.): Vom Weltbuch bis zum World Wide Web – Enzyklopädische Literaturen. Heidelberg 2005, S. 165-192, hier S. 174.
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men Wilhelms II. seinem Untertan Heßling in den Mund legt,30 dann vergrößert er den intellektuellen Schandfleck, den die Sprachmarotten des Herrschers schon für sich genommen bedeuten, ein ähnlicher Vorgang, wie ihn Ludwig Thoma bereits 1907 angesichts der schriftlichen Dokumentation der kaiserlichen Reden mit allem Hohn analysiert hat. Dadurch nämlich, so Thoma, dass das Wort des Herrschers aus seinem situativen Zusammenhang gelöst und zwischen Buchdeckeln archiviert wird, gelangt es erst in all seiner Penetranz in den Blick: »Man muß bedenken, daß im allgemeinen der Wert einer Rede erst dann gewürdigt werden kann, wenn sie gehalten worden ist«.31 Ohne ihren pragmatischen Kontext, will dies sagen, wirken die Worte des Kaisers nur umso hohler, kann die in ihnen konservierte »Physiognomie des Geistes«32 erst recht plastisch hervortreten – und das nicht zum Besten ihres Urhebers. Aus dem »autoritären Wort«, das »bedingungslose Anerkennung« verlangt, wird dadurch das schillernde, dialogische Wort, das sich eben nicht in seinem »geschlossenen Kontext erschöpfen«33 kann. Der Diskurs des Wilhelminismus wird so nicht nur ausgestellt, sondern mehr, er wird in eine für sein Pathos destruktive Schwingung gebracht, einer »Dialogizität« oder »Zweistimmigkeit« als »innerer Entzweiung des Wortes«34 ausgeliefert, deren meisterhafte Kultivierung laut Peter Stein nichts Geringeres darstellt als »Heinrich Manns spezifische[n] Beitrag zum modernen Roman«.35 Plakativ lässt sich dieser Vorgang in einer kommunalpolitischen Debatte nachvollziehen, an der Diederich, gerade zum Stadtverordneten aufgestiegen, teilnimmt: »›Deutschtum heißt Kultur‹«, dröhnt es dort aus seinem Mund, als ein Magistratsvertreter gegen die Kanalisation der Netziger Vorstadt die »finanztechnischen Bedenken« geltend macht, »›das hat kein Geringerer gesagt als Seine Majestät der Kaiser. Und bei anderer Gelegenheit hat Seine Majestät das Wort gesprochen: Die Schweinerei muß ein Ende nehmen« (U 325). Dass die Montage kaiserlicher O-Töne _____________ 30
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Etwa einen fatalen Hang zum Superlativ (›persönlichste Persönlichkeit‹) oder eine Schwäche für das »schmückende Beiwort« (vgl. etwa die stereotyp verwendete Floskel ›unser herrlicher junger Kaiser‹), wie sie Ludwig Thoma konstatiert (Ludwig Thoma: Die Reden Kaiser Wilhelms II. Ein Beitrag zur Geschichte unserer Zeit, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. VIII. Ausgewählte Gedichte und Aufsätze. München 1956, S. 303-319, hier S. 307f.) Vgl. dazu: Hartmut Eggert: ›Das persönliche Regiment‹. Zur Quellen- und Entstehungsgeschichte von Heinrich Manns Untertan, in: Neophilologus 55 (1971), S. 298-316 – Peter Sprengel: Kaiser und Untertan. Zur Genese von Heinrich Manns Roman, in: Heinrich Mann-Jahrbuch 10 (1992), S. 57-73. Thoma: Reden, S. 304. Thoma: Reden, S. 307. Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Hg. v. Rainer Grübel. Aus dem Russischen übersetzt v. Rainer Grübel u. Sabine Reese. Frankfurt a.M. 1979, S. 167, 230. Bachtin: Ästhetik, S. 214. Peter Stein: Heinrich Mann. Stuttgart, Weimar 2002, S. 39 (= Sammlung Metzler 340).
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in eine Debatte über »Abortgruben« und »deren Ausdünstungen« (U 325), der »merkwürdige Zusammenhang, in den Herr Doktor Heßling die Person des Kaisers« bringt, eigentlich schon »eine Majestätsbeleidigung darstelle« (U 326), merkt maliziös der freisinnige Doktor Heuteufel an.36 Die Verballhornung staatstragender Worte durch ihre Transposition in skatologische Kontexte – bewährtes Mittel karnevalistischer Komik37 – setzt sich indes fort, wenn Diederich in seiner Papierfabrikation, die er auch sonst gerne zu staatstragenden Aktionen nutzt, etwa dazu, die Netziger Zeitung als wichtigster Lieferant auf nationalen Kurs zu bringen, auf »ein neues Mittel zur sittlichen Hebung des Volkes« (U 434) verfällt: An den geeigneten Orten ließ er ein […] selbst erzeugtes Papier aufhängen, bei dessen Benutzung niemand umhinkonnte, die moralischen oder staatserhaltenden Maximen zu beachten, mit denen es bedruckt war. Zuweilen hörte er die Arbeiter einen von hoher Stelle stammenden Ausspruch einander zurufen, von dem sie auf diesem Wege überzeugt worden waren, oder sie sangen ein patriotisches Lied, das sich ihnen bei derselben Gelegenheit eingeprägt hatte. Ermutigt durch diese Erfolge, brachte Diederich seine Erfindung in den Handel. Sie trat unter dem Zeichen »Weltmacht« auf, und wirklich trug sie, wie eine großzügige Reklame es verkündete, deutschen Geist, gestützt auf deutsche Technik, siegreich durch die Welt. (U 434)
Dass solcher Geist natürlich, so die unmissverständliche Botschaft, eher für den Allerwertesten ist, stört die an dem Spektakel beteiligten Medien freilich wenig, die es schaffen, das phantasmatische Band zwischen Kaiser und Untertan immer fester zu zurren. So lobt die Netziger Zeitung Diederichs sprichwörtlich gewordenes »Kaiserhoch in der Kanalisationsdebatte« (U 332) als »die erfrischende Tat eines unbefangenen Patrioten« und auch der »›Berliner Lokal-Anzeiger‹«, das »Blatt Seiner Majestät«, ist »über das mutige Auftreten« Diederichs »des Lobes voll« (U 326). Es sei, schwelgt Diederich, sein »schönster Lohn […], daß der ›Lokal-Anzeiger‹ [s]einen schlicht bürgerlichen Namen vor die Allerhöchsten Augen selbst gebracht« (U 332) habe. Nicht genug damit, schafft es Heßling sogar, sein Konterfei mit demjenigen des Monarchen auf ein und demselben Titelblatt zu verewigen, und zwar auf seiner Hochzeitsreise, die er weniger an der Seite der Gattin denn – öffentlichkeitswirksam genug – im Windschatten Wilhelms verbringt, um diesen in Italien vor potentiellen Attentätern zu schützen. _____________ 36 37
Vgl. auch Karl Riha: »Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut«. Zur Struktur des satirischen Romans bei Heinrich Mann, in: Heinrich Mann. Hg. v. Heinz-Ludwig Arnold. 4., erweiterte Aufl. München 1986, S. 48-57, hier S. 52f. (= Text + Kritik, Sonderband). Vgl. Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Aus dem Russischen übersetzt u. mit einem Nachwort versehen v. Alexander Kaempfe. Frankfurt a.M. 1990.
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Den Höhepunkt jener vermeintlich »mystische[n]« (U 363) und in Wahrheit medientechnisch bewirkten Deckungsgleichheit von Kaiser und Untertan bildet indes jene angebliche Kaiser-Depesche anlässlich der Erschießung eines unbewaffneten Arbeiters, die in Wirklichkeit aus Diederichs Feder stammt. Von Alkohol und in nationaler Mission vergossenem Blut berauscht, diktiert Diederich dem Redakteur der Netziger Zeitung ein selbstverfasstes Telegramm, in dem der Kaiser sich persönlich an den beteiligten Wachtposten zu wenden scheint: »›Für Deinen auf dem Felde der Ehre vor dem inneren Feind bewiesenen Mut spreche Ich Dir Meine kaiserliche Anerkennung aus und ernenne Dich zum Gefreiten‹« (U 159f.). Allen Unkenrufen vorsichtigerer Gesinnungsgenossen zum Trotz, der Kaiser als vermeintlich »origineller Denker« werde sich wohl »nicht gern vorgreifen« (U 157) lassen, lässt der Monarch seinen Ghostwriter gewähren und die Depesche von seinem Hausblatt als höchsteigene Rede abdrucken. Der Kaiser, so ließe sich zuspitzen, wird in aller Öffentlichkeit von seinem Untertanen zurechtphantasiert, er wird von diesem gesprochen. Wie sehr ein solches Szenario dem üblichen Willen nach Urheberschaft der eigenen Rede widerstreitet, ist an der Reaktion der Gattin von Regierungspräsident Wulckow, einer Laiendichterin, auf eine Bemerkung des Lehrers Kühnchen abzulesen. Als dieser in liebedienerischer Gedankenakrobatik äußert, dass das Wulckow’sche Machwerk mit dem Titel Die heimliche Gräfin »›[…] schon mal […] vorausgeahnt worden […]‹« sei, »›[…] und zwar von keinem Geringeren als von unserm Altmeister Goethe in seiner Natürlichen Tochter […]‹« (U 297), lässt ihn die ›Dichterin‹ »eiskalt« abblitzen: »›Was sie da bemerken, Herr Professor, kann nur auf Verwechselung beruhen. Ist die Natürliche Tochter überhaupt von Goethe?‹ fragte sie und rümpfte mißtrauisch die Nase. […] ›Meine Schöpfungen sind sämtlich Originalarbeiten. […]‹« (U 298) Der Untertan schafft also ein Doppeltes: er dokumentiert das politische Klima im Kaiserreich am Ende des 19. Jahrhunderts und unterminiert zugleich die ideologischen Grundlagen des Wilhelminismus, indem er den autoritär-monologischen Gestus öffentlicher Rede mit den Mitteln komischer Romankunst ein ums andere Mal in schillernde Zweistimmigkeit überführt. Heinrich Manns berühmtester Roman mag daher wie ein zugespitzt-satirischer Text wirken, in der Art, wie er Rede als ebenso theatral wie performativ, d.h. in ihrer realitätsbildenden und damit ganz konkret Macht ausübenden Kraft vorführt, ist er weder literarästhetisch démodé noch unmodern im Hinblick auf seine Sprachreflexivität. – Mit der ästhetischen Moderne steht der Untertan indes noch auf weitere, bislang unbeachtet gebliebene Weise im Austausch, und zwar mit dem modernen Diskurs über die Populärkultur, ihrem Interesse am Banalen und am Körper in seiner unsublimierten Materialität. Um diesen Zusammen-
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hang vorzuführen, stelle ich den Untertan im Folgenden in den Horizont von Heinrich Manns frühem Werk, konkret: dem Décadence-Roman In einer Familie sowie der Erzählung Pippo Spano auf der einen sowie dem Roman Professor Unrat und den Essays aus dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts auf der anderen Seite, die als Scharniere zur späteren, politisierten Phase des Autors gelten.
3. Populärkultur und Körper38 Geradezu als Einfallstor für eine ganze Reihe von Unwägbarkeiten und Gefährdungen im Zuge der condition moderne, wie man sie nicht zuletzt aus der Décadence-Literatur kennt, fungiert im Hinblick auf Diederich Heßling die Begegnung mit dem anderen Geschlecht: namentlich mit Agnes Göppel, der Tochter eines Berliner Geschäftsfreunds von Heßling senior. Als Diederich, soeben als Student nach Berlin gezogen, dem »junge[n] Mädchen« vorgestellt wird, meldet sich sogleich sein Körper und lässt ihn »rosig überzogen« (U 18) dastehen. Als Agnes zudem eine Vorliebe für die schönen Künste erkennen lässt, hat Diederich, wie es scheint, leichtes Spiel, sie mit barschem Gestus abblitzen zu lassen: »Sie wollte wieder vom Theater anfangen, aber er schnitt mit rauher Stimme ab: er habe für so etwas keine Zeit.« (U 19) Die solcherart Abgewiesene lässt jedoch nicht locker: »Fräulein Göppel ließ ihren Beutel fallen; er bückte sich so nachlässig, daß sie ihn wiederhatte, bevor er zur Stelle war. Trotzdem sagte sie danke, ganz weich, fast beschämt – was Diederich ärgerte. ›Kokette Weiber sind etwas Gräßliches‹, dachte er. Sie suchte in ihrem Beutel.« (U 19) Kokett ist Agnes Göppel in Diederichs Augen, weil sie, wie er mit einer Mischung aus Eifersucht und Erleichterung kurz zuvor erfahren hat, »schon einen« hat, einen »Mensch[en] namens Mahlmann« (U 18f.), und dennoch unbeirrt mit dem jungen Heßling flirtet. Dieses Verhalten geht für Diederich Hand in Hand mit ihrem verstörenden Gerede »vom Theater« (U 19). »Die Kokette […] verfährt« nämlich, so Georg Simmel in seiner 1909 publizierten Psychologie der Koketterie, als interessiere sie sich nur für ihr jeweiliges Gegenüber, als sollte ihr Tun an dem vollen Maße einer, wie auch immer qualifizierten Hingebung münden. Nun aber ist dieser sozusagen logische Zwecksinn ihres Tuns gar nicht ihre Meinung, sondern sie läßt dies Tun konsequenzlos in der Luft verschweben, indem sie ihm ein
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Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich auf meinen Beitrag: Unter leisem Schnaufen. Diederich Heßling und die populärkulturelle Ästhetik des Leibes, in: Heinrich MannJahrbuch 24 (2006), S. 79-97.
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ganz anders gewendetes Ziel gibt: zu gefallen, zu fesseln, begehrt zu werden – aber ohne sich irgendwie daraufhin beim Wort nehmen zu lassen.39
Damit wird das Verhaltensmuster der Koketten, so Simmel weiter, »im höchsten Maße« von demjenigen bestimmt, »was Kant für das Wesen der Kunst erklärte: ›Zweckmäßigkeit ohne Zweck‹. […] Sie verfährt durchaus ›zweckmäßig‹, aber den ›Zweck‹, auf den dies Verfahren in der Reihe der Realität zugehen müßte, lehnt sie ab, verflüchtigt ihn in die rein subjektive Beglückung des Spieles«.40 In ihrem Beutel kramend, spielt Agnes Göppel ihr Spiel folglich nach allen Regeln der Kunst weiter: »›Jetzt hab ich es doch verloren. Mein englisches Pflaster nämlich. Es blutet wieder.‹ Sie wickelte ihren Finger aus dem Taschentuch. Er hatte so sehr die Weiße des Schnees, daß Diederich der Gedanke kam, das Blut, das darauf lag, müsse hineinsickern.« (U 19f.) Das rote Blut auf dem weißen Finger ist ein Eyecatcher, den Diederich aus dem »Märchenbuch« kennt, »dem geliebten Märchenbuch« (U 9), wie es schon im ersten Absatz des Romans heißt. Im Märchen vom Schneewittchen sticht sich deren Mutter mit einer Nadel in den Finger, woraufhin drei Tropfen Bluts in den Schnee fallen. »Und weil das Rote im weißen Schnee so schön aussah, dachte sie bei sich, ›Hätte ich ein Kind so weiß wie Schnee, so rot wie Blut […]‹«.41 Konstitutiv für den ästhetischen Reiz ist es also, dass die roten Blutstropfen auf dem Medium Schnee sichtbar bleiben. Diederich hingegen imaginiert, dass das Blut in den Schnee »hineinsickern müsse«, als könne nur dadurch, in einem Akt der ReInkorporierung des verströmten Lebenssaftes, jene unberührte Reinheit wiederhergestellt werden, als die Weiblichkeit zu imaginieren sowohl eine gewisse Angst vor dem anderen Geschlecht als auch sein bürgerlicher Anstand ihm gebieten. Es kommt aber ganz anders: »›Ich habe welches‹, [nämlich Pflaster; H.D.] sagte er, mit einem Ruck«, und geradezu eruptiv fährt die Szene fort: »Er ergriff ihren Finger, und bevor sie das Blut wegwischen konnte, hatte er es abgeleckt« (U 20). Dieser erste Körperkontakt zwischen Agnes und Diederich verrät eine Menge über die psychische Komplexität, die ein Charakter wie Diederich, den man meist für flach gehalten hat, aufweist. In der Tat bringt Diederich nämlich den reizvollen Anblick der roten Körperflüssigkeit zum Verschwinden, jedoch nicht auf die gleichsam diskret-hygienische Art, wie er _____________ 39 40 41
Georg Simmel: Psychologie der Koketterie, in: Ders.: Gesamtausgabe. Hg. v. Otthein Rammstedt. Bd. XII: Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918. Teilbd. 1. Hg. v. Rüdiger Kramme u. Angela Rammstedt. Frankfurt a.M. 2001, S. 37-50, hier S. 44f. Simmel: Psychologie der Koketterie, S. 44f. Sneewittchen, in: Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm. Vollständige Ausgabe auf der Grundlage der 3. Aufl. (1837). Hg. v. Heinz Rölleke. Frankfurt a.M. 1985, S. 235-244, hier S. 236 (= Bibliothek deutscher Klassiker 5).
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sie im Bild des Schnees assoziiert. Vielmehr verleibt sich der sonst so abweisend-spröde Untertan Agnes Göppels Blut geradezu gierig ein. Diederich Heßling ein Vampir? Soweit wird man wohl nicht gehen wollen, zumal er schnell wieder auf das Verhaltensmuster wissenschaftlicher Nüchternheit umschaltet, was Agnes nach kurzem Schreck über die Verletzung der Intimitätsgrenze denn auch zur Fortsetzung des Flirts ermutigt: »Was machen Sie denn?« Er war selbst erschrocken. Er sagte mit streng gefalteten Brauen: »Oh, ich als Chemiker probiere noch ganz andere Sachen.« Sie lächelte. »Ach ja, Sie sind ja eine Art Doktor... Wie gut Sie das können«, bemerkte sie und sah ihm beim Aufkleben des Pflasters zu. »So«, machte er ablehnend, und trat zurück. Ihm war es schwül geworden, er dachte: ›Wenn man nur nicht immer ihre Haut anfassen müßte! Sie ist widerlich weich.‹ (U 20)
Weichheit ist indes eine Eigenschaft, die Diederich alles andere als wesensfremd vorkommen muss. »Diederich Heßling war ein weiches Kind« (U 9), so lautet der berühmte erste Satz des Romans. In Situationen wie der vorgestellten führt Diederich mithin immer auch einen Kampf gegen sich selbst, agiert eine ›Männerfrage‹ aus, die sich – so Walter Erhart in seiner Studie über die Familienmänner in der Gründerzeitprosa – bei allen Unterschieden von den Texturen der Décadence an den politischen Realismus des Untertans weitervererbt hat. Deutlicher Hinweis darauf ist eben jene vampiristische Exaltation, die der Roman ausgerechnet dem wilhelminischen Biedermann Heßling gestattet. Dadurch gerät dieser unversehens in den Hallraum ebenso eines dekadenten Artisten wie Mario Malvolto aus der Erzählung Pippo Spano, der mit seiner Geliebten Gemma Cantoggi in vampiristisch-rauschhafter Erotik schwelgt. Saugt Malvolto mit seiner Kunst gleich einem Vampir dem Leben seinen Saft aus,42 so steht über die Gefährtin Cantoggi zu lesen: Gemma biß, stumm und wild, ihren Geliebten in den Hals, und dabei fielen ihre Blicke, vor Leidenschaft düster und haltlos, in den Garten zurück. Sie begehrte dorthin, sie ließ sich hinab und zog ihn hinein in ihr gewalttätiges Reich, zwischen Sträucher voll roter Blüten, die alle bluteten und nickten bei dem Fall der ineinander Verschlungenen.43
Wenn Diederich Agnes Göppel im Folgenden ziemlich schnöde abserviert, dann stehen stellvertretend mit ihr auch jene an der Schnittstelle von Geist und Körper situierten Pathologien der Moderne auf der Abschussliste, die Diederich Agnes zuschreibt: Nervosität, Melancholie (vgl. U 95) _____________ 42
43
Vgl. Heinrich Mann: Pippo Spano, in: Flöten und Dolche. Novellen. Mit einem Nachwort v. Heide Eilert u. einem Materialienanhang, zusammengestellt v. Peter-Paul Schneider. Studienausgabe in Einzelbänden. Hg. v. Peter-Paul Schneider. Frankfurt a.M. 1988, S. 9-58, hier S. 33. Vgl. dazu Renate Werner: Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus. Der frühe Heinrich Mann. Düsseldorf 1972, S. 150. Mann: Pippo Spano, S. 39.
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oder Hysterie (vgl. U 93), allesamt Ausdruck einer Überfeinerung, zu deren Zucht Diederich Handfestes geltend macht. Halb trotzig, halb apotropäisch schaufelt er deshalb unmittelbar nach der merkwürdig vampiristischen Vereinigung mit Agnes »große Mengen Kalbsbraten und Blumenkohl« (U 21) in sich hinein, nur um beim nächsten Besuch »noch mehr [zuzulangen] als das vorige Mal. Da doch alle meinten, er sei nur deswegen da« (U 25). Im Folgenden trumpft Diederich geradezu gegen die in Agnes Göppel verkörperte Gefährlichkeit einer geistigen Existenz auf: »›Noch gestern habe ich meinen Schiller verkauft. Denn ich habe keinen Sparren […]‹« (U 86). Und als Diederich »einmal an einem Wurstgeschäft« anhält, erklärt er gegenüber Agnes, dies und nichts anderes »sei für ihn der schönste Kunstgenuß« (U 86). Das Ausschließungsverhältnis SchillerWurst kommt freilich nicht von ungefähr, ist es doch einer von Schillers wichtigsten klassizistischen Programmpunkten in der Abhandlung Über Anmut und Würde, dass die vorbildstiftenden »Griechen […] das Materielle immer nur unter der Begleitung des Geistigen dulde[n]«.44 Gar nicht so anders stellt auch Georg Simmel, ein Vater moderner Hinwendung zu einer Kultur der Objekte, des alltäglichen Materials, in seiner Soziologie der Mahlzeit (1909) klar, dass die »physiologische Primitivität«45 der »Speise als Materie«46 eine der »niedrigsten Erscheinungen«47 überhaupt und deshalb jederzeit auf »das Prinzip einer unendlich höher gelegenen Ordnung«48 kultureller Zivilisierung zu perspektivieren sei. Was Diederich in polemischer Absicht und mit spießbürgerlichem Hass auf alles Geistige ausspricht, wäre also nicht bloß das literarische Pendant zu jener Gewaltsamkeit und Dämonie, wie sie etwa Otto Dix auf seiner Radierung Fleischerladen (1920) im Bürgerlichen ortet, sondern ließe sich auch – modelt man Diederichs Äußerung einmal zu einem Versatzstück ästhetischer Theorie um – als Anklang an eine Position lesen, die sich zeitgenössisch mit dem Untertan in Expressionismus, Futurismus oder Dadaismus findet. Die Rede ist von Versuchen, das vermeintlich niedere Material ästhetisch freizusetzen, Dinge in ihrer unsublimierten Objekthaftigkeit etwa als objets trouvés vorzuführen. Es wäre jedoch ein Missverständnis, wollte man Diederich Heßling ob dieses Befundes gleich als verkannten ästhetischen Visionär rehabilitieren. _____________ 44 45 46 47 48
Friedrich Schiller: Über Anmut und Würde, in: Ders.: Sämtliche Werke in 5 Bänden. Hg. v. Peter-André Alt, Albert Meier u. Wolfgang Riedel. Bd. V. Erzählungen. Theoretische Schriften. Hg. v. Wolfgang Riedel. München 2004, S. 433-488, hier S. 437. Georg Simmel: Soziologie der Mahlzeit, in: Ders.: Gesamtausgabe, Bd. XII, S. 140-147, hier S. 141. Simmel: Mahlzeit, S. 142. Simmel: Mahlzeit, S. 146. Simmel: Mahlzeit, S. 142.
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Des Nachdenkens wert erscheint allerdings die Frage, welche Affinität Diederich zu jenem am Beginn des 20. Jahrhunderts so nachhaltig aufkeimenden Interesse an der Ästhetik der Dinge, des Alltags, seiner material culture aufweist, an einer künstlerischen Sensibilität, die – wie Heinrich Mann registriert – insbesondere in populärkulturellen Vergnügungen ihren Gegenstand findet und diese durchaus als Ferment und nicht etwa als geistfernen Widerpart betrachtet: »Geist ist das Leben selbst«,49 schreibt Heinrich Mann lapidar in seinem Essay Geist und Tat (1910) und betont damit die Rückbindung des Intellekts an, ja letztlich sogar seine Rückführung auf die harte Materie. Vertreten wird damit nichts anderes als eine von verschiedensten Diskursen beförderte Basisoperation der ästhetischen Moderne. »Fort mit dem aristokratischen Künstlerstil«, verlangt Heinrich Mann in diesem Sinne mit Émile Zola in dem diesem gewidmeten Essay (1915): Von nun an soll »die Masse […] Gegenstand und Ziel seines Werkes«50 werden. Dass dies keine Aufkündigung, sondern im Gegenteil eine lebenserhaltende Modifikation der Moderne darstellt, wird in Anbetracht des Essays Eine Freundschaft über Gustave Flaubert und George Sand (1905/06) deutlich. Das Korrektiv zum Ästhetizismus Flauberts, den Heinrich Mann von Beginn an weniger als Realisten denn als emphatisch »Moderne[n]«,51 als prä-décadent liest, erscheint dabei in Person von George Sand und ihrer Auffassung einer art social. Hochzuschätzen ist demzufolge die »Liebe der Einfachen«,52 die Liebe zu allem, »was einen umgibt, zu alle[n] Meinungen, alle[n] Geräusche[n]«,53 und das heißt nicht zuletzt: die aufmerksame Hinwendung zu den unteren Volksschichten, zum »Arbeiter«, seiner »Lust am Lärm, am Gepränge und Gedränge«.54 Die Daseinszugewandtheit, die Flaubert in den späten Trois Contes findet, scheint freilich derart radikal, dass sie gleichsam als Schutz vor dem überbordenden human touch bloß noch vorgibt, »›Kunst‹«55 zu sein. Ungleich stärkere Emphase im Hinblick auf eine ästhetisch-modernistische Implementierung des massenkulturellen Phänomens ist da mit dem Schicksal des Professors Raat, genannt Unrat, verbunden, des Titelhelden von Heinrich Manns im gleichen Jahr wie der Flaubert/Sand-Essay erschienenen Roman. _____________ 49
50 51 52 53 54 55
Heinrich Mann: Geist und Tat, in: Macht und Mensch. Essays. Mit einem Nachwort v. Renate Werner u. einem Materialienanhang, zusammengestellt v. Peter-Paul Schneider. Studienausgabe in Einzelbänden. Hg. v. Peter-Paul Schneider. Frankfurt a.M. 1989, S. 1118, hier S. 13. Heinrich Mann: Zola, in: Ders.: Macht und Mensch, S. 43-128, hier S. 53. Mann: Eine Freundschaft, S. 11. Mann: Eine Freundschaft, S. 41. Mann: Eine Freundschaft, S. 29. Mann: Eine Freundschaft, S. 33. Mann: Eine Freundschaft, S. 41.
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Freilich begegnet der Professor der zur Debatte stehenden Soziosphäre zunächst mit deutlicher Reserviertheit: Das »Bedürfnis« der Schüler, »zu jagen, Lärm zu machen«, »Kraft ohne Verwendung auf nichtsnutzige Weise loszuwerden«, diese brodelnde Körperlichkeit, die der Ästhetizist Flaubert (und in seinem literarischen Windschatten Heinrich Mann) schätzen lernen, hat Raat »nie begriffen«,56 erst recht nicht auf seine leidlich alten Tage, in denen die Romanhandlung einsetzt. Als er aber in einem Aufsatzheft des Schülers Lohmann – eines dandyhaften Jünglings, in dessen Namen sich bekanntlich ein Anagramm des Autors Luiz Heinrich Mann verbirgt – eine derb-zotige »›Huldigung an die hehre Künstlerin Fräulein Rosa Fröhlich‹«57 vorfindet, da meldet sich sein Körper auf jene Weise, die wir schon bei Diederich Heßling kennengelernt haben: »Plötzlich, in dem Augenblick, da er es verstand, überflog etwas wie eine rosa Wolke die gewinkelten Wangen des Lehrers.«58 Ebenso fasziniert wie schockiert ist auch die weitere Reaktion des Lehrers auf die unverhoffte Konfrontation mit dem Verworfenen: »Er schloß das Heft, rasch und verstohlen, als wolle er nichts gesehen haben; öffnete es nochmals, warf es gleich wieder unter die beiden andern, atmete im Kampf.«59 Kein Wunder, dass sich das Heft schon am nächsten Tag an dieser »die Scham verletzende[n]« Stelle »schon gar nicht mehr schließen [lässt], so sehr auseinandergebogen«60 ist es – so die unmissverständliche Körpermetaphorik im Wortlaut. Wie magnetisch zieht es Raat im Folgenden in das Etablissement, wo besagte Künstlerin ihr Können zum Besten gibt. Dort trifft er auf: das »Volk« – »Lastträger, Dienstmädchen, de[n] Laternenanzünder, eine Zeitungsfrau«.61 »Keine Verständigung« ist mit diesen »möglich«, so Unrat fast im Stil einer Autosuggestion, sieht er sich doch einer Masse konfrontiert, die nur aus Körpern zu bestehen scheint, trinkenden, schwitzenden, dampfenden Körpern, deren »Münder« ohne Unterlass »zum Jubeln«62 offenstehen – ganz ähnlich wie diejenigen der Schüler zum »Schreie[n]«.63 »Die bloße weite Öffnung des Mundes« tut aber, das weiß der Altphilologe Raat aus Lessings Laokoon, sofern sie auf Dauer gestellt ist, »die widrigste _____________ 56 57 58 59 60 61 62 63
Heinrich Mann: Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. Mit einem Nachwort v. Rudolf Wolff u. einem Materialienanhang, zusammengestellt v. Peter-Paul Schneider. Studienausgabe in Einzelbänden. Hg. v. Peter-Paul Schneider. Frankfurt a.M. 1989, S. 16. Mann: Professor Unrat, S. 24. Mann: Professor Unrat, S. 22. Mann: Professor Unrat, S. 22. Mann: Professor Unrat, S. 24. Mann: Professor Unrat, S. 32. Mann: Professor Unrat, S. 33. Mann: Professor Unrat, S. 10.
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Wirkung von der Welt«,64 verstößt sie doch gegen das glatte, gleichsam fest verpanzerte Körperschema des Klassizismus und offenbart eine Vertiefung, eine »Invagination auf das Innere«, das an die Stelle der versuchten »Distanznahme von«65 eine nicht aufzulösende Verstrickung in die Sinnlichkeit, die Materialität des Leibes indiziert. Vor einem solchen Milieu muss Unrat sich wappnen und so projiziert er sein aufkeimendes Interesse an der verruchten Tänzerin an einen unverfänglicheren Ort: »Er wußte durch plötzliche Erleuchtung, Rosa Fröhlich sei die Barfußtänzerin, von der man jetzt so viel Aufhebens machte. Sie sollte herkommen und in dem Saal der Gesellschaft für Gemeinsinn ihre Künste sehen lassen.«66 Der genuine Ort der neuen Tanzkunst ist jedoch kein anderer als die urbane Halbwelt, sind Varietés67 wie das Etablissement Zum Blauen Engel, wo Unrat nach längerer Suche schließlich auf Rosa Fröhlich trifft. In diesem Ambiente wird die Körperkunst Tanz, die in der klassischen Moderne etwa von Hugo von Hofmannsthal als Korrektiv zum »Augiasstall begrifflichen Denkens« ausersehen wird, als »Vision der Existenz in purer Gegenwart«,68 wieder auf ihre Materialität zurückgeführt, derart geerdet aber nur umso nachdrücklicher mit den Befindlichkeiten der Moderne enggeführt. Inmitten »dieser von Musik in das Triebleben zurückgebannten Gehirne«69 erlebt Unrat den Auftritt von Rosa Fröhlich nämlich ganz im Stil der Ikone des neuen, freien Tanzes: Loïe Fuller, die ihren Körper als »bewegliche Lichtskulptur« inszeniert und sich bei ihren Auftritten einer Beleuchtungstechnik bedient, »die bereits in den 1880er Jahren durch die ›Chronophotographie‹ von Eadweard Muybridge und Étienne Marey erprobt«70 worden ist. Muybridge hält _____________ 64 65
66 67 68 69 70
Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, in: Ders.: Werke und Briefe, Bd. V/2. Hg. v. Wilfried Barner. Frankfurt a.M. 1990, S. 11-321, hier S. 29. Die Zitate stammen aus David E. Wellberys ingeniöser Laokoon-Lektüre: Die Geburt der Kunst. Zur ästhetischen Affirmation, in: Christoph Wulf, Dietmar Kamper u. Hans-Ulrich Gumbrecht (Hg.): Ethik der Ästhetik. Berlin 1994, S. 23-36, hier S. 25f. – Vgl. entsprechend auch die Schilderung von Rosa Fröhlichs Annäherungsversuch: »Sie beugte unerwartet ihre Büste vor, tastete mit ganz leichten Fingern unter Unrats Kinn, auf die kahlen Flecken zwischen seinen Barthaaren, und machte einen Mund wie zum Saugen« (Mann: Professor Unrat, S. 71). Mann: Professor Unrat, S. 38. Vgl. Ernst Günther: Varieté, in: Hans-Otto Hügel: Handbuch populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen. Stuttgart, Weimar 2003, S. 460-465, hier S. 462. Gabriele Brandstetter: Der Traum vom anderen Tanz. Hofmannsthals Ästhetik des Schöpferischen im Dialog Furcht, in: Freiburger Universitätsblätter 112 (Juni 1991), S. 37-58, hier S. 58. Mann: Professor Unrat, S. 53. Roger W. Müller-Farguell: Tanz, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hg. v. Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs u. Friedrich Wolfzettel. Bd. VI. Stuttgart, Weimar 2005, S. 1-15, hier S. 10.
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durch eine in Folge ausgelöste Reihe von Kameras einen Bewegungsablauf in seinen einzelnen Momenten fest und etabliert damit ein für die Entwicklung des Kinos wegweisendes Aufnahmeverfahren. Eine solch segmentierte Bilderkette lässt sich nämlich technisch, mithilfe eines Kinematographen, wieder in einen natürlich scheinenden Bewegungsfluss zurückübersetzen. Die Zeichen dieses Illusionsverfahrens stehen aber, das wird durch das Beispiel Muybridge klar, zunächst einmal auf Analyse, auf eine Zerlegung des Phänomens. So betont Jonathan Crary im Hinblick auf die Genese der Massenillusionstechniken mit Recht, dass, »die meisten weitverbreiteten Mittel«, mit deren Hilfe »›realistische‹ Effekte in der Sehkultur der Massen« erzeugt werden sollen, »tatsächlich auf einer radikalen Abstraktion und Neustrukturierung der optischen Erfahrung [fußen]«.71 Die weitere Schilderung von Unrats first contact mit der tanzenden Rosa Fröhlich erklärt sich vor diesem Hintergrund fast von selbst: »Dahinten durchbrach nur etwas Glänzendes den Rauch, ein sehr stark bewegter Gegenstand, etwas, das Arme, Schultern oder Beine, irgendein Stück helles Fleisch, bestrahlt von einem hellen Reflektor, umherwarf und einen großen Mund dunkel aufriß.«72 Hier finden sich wie Perlen auf einer Schnur die einschlägigen Modernesignale: angefangen bei der – behutsam – internen Fokalisierung (›dahinten‹), über den Akzent auf die unsublimierte Leiblichkeit (›helles Fleisch‹) und entsprechend die große, dunkel aufgerissene Mundhöhle bis eben zum Phänomen der Segmentierung des Schauobjekts in einzelne Körperteile, das von dem mit Interjektionen durchsetzten Satzgefüge gespiegelt wird. Neben Muybridges fotografischen Experimenten ließen sich im Zusammenhang des im späten 19. Jahrhundert virulenten Phänomens der Zerlegung aber auch die Taylorisierung von Arbeitsprozessen nennen oder die Psychophysik mit ihren optischen und akustischen Wahrnehmungsexperimenten oder eben – deutlich vor den von Expressionismus oder Dadaismus programmatisch vorgenommenen Wortzertrümmerungen – die décadencekritische Diagnose Paul Bourgets (dem Heinrich Mann seinen ersten Roman In einer Familie gewidmet hat). Bourget zufolge dekomponiert das literarische Verfahren, der Stil der Décadence die Einheit des Werks, um jede Seite ihrer Unverbundenheit zu überlassen und die Seite wiederum in Sätze und diese Sätze in für sich selbst stehende _____________ 71 72
Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert. Dresden 1996, S. 20. Mann: Professor Unrat, S. 53. Vgl. die Parallelstelle: »Unrat sah nochmals dahinten ein paar Arme, eine Schulter, irgendein heftig beleuchtetes Stück Fleisch inmitten einer Drehung bunter Farben aufglänzen, über dem Rauch, über dem Lärm...« (Mann: Professor Unrat, S. 72).
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Wörter zerfallen zu lassen.73 Wir sind und bleiben mit dem Professor Unrat also durchaus auf der Höhe von Problematiken der Moderne, indes mit der Besonderheit, dass Heinrich Mann nicht den Weg modernistischer Kollegen geht, diese Erfahrungen in den literarischen Verfahren forciert zu simulieren, sondern sie eher in narrativer und damit konventioneller wirkender Form zur Darstellung bringt. So herrscht an Momenten der Sprach-Atomisierung im Professor Unrat kein Mangel, wenn etwa die Schüler »mit Spannung« beobachten, wie »unter der Kreide« an der Tafel »Buchstaben entstehn«,74 oder wenn Unrat sich beim Eintreten in den Blauen Engel einem »Wirrwarr von Lauten«75 ausgesetzt sieht. Am deutlichsten aber wird die populäre, fast im Stil einer Boulevardkomödie vorgenommene Umsetzung modernistischer Sprachzerlegung (und -wiederzusammensetzung) in jener Szene, in der Rosa Fröhlich den längst nicht mehr gestrengen Lehrer Unrat zum stammelnden Pennäler degradiert: »[…] Was gibt er uns woll zu trinken?« Und sie legte, wie gestern, zwei ganz leichte Finger unter sein Kinn. »Wein?« riet Unrat. »Gut!« sagte sie mit Anerkennung. »Aber was für einen?« Unrat war unbewandert in der Weinkarte. Er suchte mit den Augen nach Hilfe, wie ein steckengebliebener Schüler. Kiepert und seine Frau sahen ihn gespannt an. »Mit S fängt es an«, sagte aufmunternd die Künstlerin Fröhlich. »Schâteau-«, meinte Unrat und schwitzte. Er war nicht Neuphilologe und brauchte nicht zu wissen, wie so ein Kellerausdruck buchstabiert ward. Er wiederholte: »Schâteau-« »I wo«, reimte sie... »Nach S kommt e.« Unrat fand nicht weiter. »Und dann k... Nee, Sie kommen aber auch auf nischt. Das is wirklich auffallend, daß er auf gar nichts kommt.« Unrats Miene leuchtete auf einmal von naivem Glück. Er hatte es heraus. »Sekt!« »Na gottlob!« sagte die Künstlerin Fröhlich.76
Als ebensolch kolportagehafte Verhandlung von Modernismen liest sich auch Unrats Reaktion auf Rosa Fröhlichs Sangeskünste.77 So ist es bei _____________ 73
74 75 76 77
»Un style de la décadence est celui où l’unité du livre se décompose pour laisser la place à l’indépendance de la page, où la page se décompose pour laisser la place à l’indépendance de la phrase, et la phrase pour laisser la place à l’indépendance du mot« (Paul Bourget: Baudelaire, in: Ders.: Essais de psychologie contemporaine. Études littéraires. Hg. v. André Guyaux. Paris 1993, S. 1-18, hier S. 14. Mann: Professor Unrat, S. 13. Mann: Professor Unrat, S. 51. Mann: Professor Unrat, S. 102f. Ariane Martin weist zu Recht darauf hin, dass Rosa für Unrat keine x-beliebige Varietésängerin oder gar eine Prostituierte ist, sondern eine veritable Künstlerin (vgl. Ariane Martin: Erotische Politik. Heinrich Manns erzählerisches Frühwerk. Würzburg 1993, S. 71f.).
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Rainer Maria Rilke in den Geschichten vom lieben Gott (1900/04) stellvertretend für den Künstler das göttliche Wesen, dessen Hände sich im Schöpfungsakt, vergraben in den Schmutz der Materie, gegenüber dem steuernden göttlichen Willen zu verselbstständigen scheinen: Um doch wenigstens eine kleine Freude zu haben nach aller Plage, hatte er seinen Händen befohlen, ihm den Menschen erst zu zeigen, ehe sie ihn dem Leben ausliefern würden. Wiederholt fragte er, wie Kinder, wenn sie verstecken spielen: ›Schon?‹ Aber er hörte als Antwort das Kneten seiner Hände und wartete. Es erschien ihm sehr lange. Da auf einmal sah er etwas aus dem Raum fallen, dunkel und in der Richtung, als ob es aus seiner Nähe käme. Von einer bösen Ahnung erfüllt, rief er seine Hände. Sie erschienen ganz vom Lehm befleckt, heiß und zitternd […].78
Heinrich Mann nimmt ein solches Arrangement auf, inszeniert die sich im Tun der Hände manifestierende Freisetzung des Körpers aber nicht als künstlerische Krisenerfahrung, sondern als unverhoffte Lustempfindung: […] der Saal klatschte, brüllte, jauchzte und trampelte. Unrat schlug plötzlich mehrmals die Hände zusammen, dicht unter seinen Augen, die es mit Staunen ansahen. Es befiel ihn eine große, unbedachte, nur schwer zu bändigende Lust, seine beiden Füße gleichzeitig gegen den Boden zu stoßen. Er war stark genug, es nicht zu tun. Aber die Versuchung erzürnte ihn auch nicht. Er lächelte heiter versonnen vor sich hin und stellte fest, das sei – demnach denn wohl – der Mensch. »Immer mal wieder – Gras fressen«, setzte er hinzu. »Ei freilich.«79
Die steifleinene Wortwahl des alten Lehrers kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem lärmenden Unterschichtenmilieu in Form einer populärkulturellen Übersetzung modernistischer Aspekte ein gehöriges Umsturzpotential zugetraut wird, bringt es doch à la longue nicht nur den Tyrannen Unrat zu Fall, sondern mit und durch ihn auch ein ganzes Gesellschaftssystem ins Wanken – ganz im Sinne jener von Unrat anfangs _____________ 78
79
Rainer Maria Rilke: Geschichten vom lieben Gott, in: Ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Hg. v. Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski u. August Stahl. Bd. III: Prosa und Dramen. Hg. v. August Stahl. Frankfurt a.M. 1996, S. 343-429, hier S. 351. Das Motiv ist in der Moderne kurrent, etwa auch in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910), wo die Verselbstständigung der Hände als Ausdruck ebenso visionären wie gefährdeten Künstlertums erlebt wird: »Aber es wird ein Tag kommen, da meine Hand weit von mir sein wird, und wenn ich sie schreiben heißen werde, wird sie Worte schreiben, die ich nicht meine« (Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: Ders.: Werke. Bd. III, S. 453-635, hier S. 490); oder in Gottfried Benns Gehirnen (1916), wo die Dissoziation von Wille und Körper prototypisch für den Zustand moderner Subjektivität zu einem geradezu emblematischen Bild gerinnt: »Dann nahm er selber seine Hände, führte sie über die Röntgenröhre, verschob das Quecksilber der Quarzlampe […]«; »Oft, wenn er von solchen Gängen in sein Zimmer zurückgekehrt war, drehte er seine Hände hin und her und sah sie an […]« (Gottfried Benn: Gehirne, in: Ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. Hg. v. Gerhard Schuster. Bd. III: Prosa 1. Stuttgart 1987, S. 29-34, hier S. 30, 32). Mann: Professor Unrat, S. 55.
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noch pejorativ so genannten »unseligen Sucht des modernen Geistes [und zu ergänzen wäre: der modernen Körperinszenierung], an den Grundlagen zu rütteln«.80 Mit Blick auf Manns Untertan sollte es nun nicht mehr abwegig erscheinen, in Diederich Heßlings spießbürgerlich-bornierter Abwehr der femme fatale bzw. fragile Agnes Göppel zumindest noch Anklänge an jene Ästhetik der Leibempfindung zu orten, die für Heinrich Mann, konsultiert man den Roman Professor Unrat, die frühen Essays oder auch den Roman Die kleine Stadt, nicht ohne Anziehungskraft sind. Gehen wir also abschließend noch einmal der Frage nach dieser populärkulturell implementierten Ästhetik in Bezug auf den gesamten Roman nach. Zu diesem Zweck ist die Wurstisotopie überhaupt in den Blick zu nehmen, wie sie sich ausgehend von der Warenauslage des Fleischereigeschäfts entspinnt: Da wäre zunächst jene Szene zu nennen, in der Diederich Heßling nach Beendigung der Affäre mit Agnes Göppel auf der Zugfahrt von Berlin zurück in die Heimat die Bekanntschaft von Guste Daimchen macht. Während die anderen weiblichen Reisenden indigniert auf Diederichs in bloßen Socken auf der Sitzbank liegende Füße reagieren, zieht Guste »einfach aus ihrem Beutel eine Wurst und [ißt] sie aus der Hand, wobei sie ihm zulächelt« (U 102). Die Attraktivität der Nahrung wie ihrer Konsumentin werden also von Beginn an miteinander verschleift, so dass wir im Folgenden aus Diederichs Optik von Gustes »dicke[m], rosige[n] Gesicht mit dem fleischigen Mund« erfahren und weiter von ihrem »Hals, der jung und fett war« (U 102) sowie von ihren Fingern, »die die Wurst hielten und selbst rosigen Würstchen glichen« (U 103). »Kolossal appetitlich sind Sie«, kommt Diederich denn auch gleich zur Sache, »wie ein frischgewaschenes Schweinchen« (U 103), woraufhin er von Guste eine saftige Ohrfeige kassiert. Damit sind die Weichen für eine Liebesbeziehung gestellt, in welcher der körperliche Aspekt, die fleischlichen, mitunter freilich auch sadomasochistisch akzentuierten Gelüste81 nicht an letzter Stelle rangieren und da_____________ 80 81
Mann: Professor Unrat, S. 45. Verwiesen sei hier nur auf Diederichs ›inoffizielle‹ Sicht der Intrigantin Ortrud aus dem Lohengrin: »Er verband Ortrud mit gewissen persönlichen Erinnerungen: ein ganz gemeines Luder, darüber war nichts zu sagen; aber irgendwas regte sich in ihm, wenn sie ihren Kerl einwickelte und unter sich hatte. Er träumte... Vor Elsa, der dummen Gans, mit der sie machte, was sie wollte, hatte Ortrud das gewisse Etwas voraus, das die energischen und strengen Damen haben. Elsa freilich konnte man heiraten. Er schielte nach Guste. ›Es gibt ein Glück, das ohne Reu‹, bemerkte Elsa; und Diederich zu Guste: ›Das wollen wir hoffen‹« (U 350). Mit den sadomasochistischen Aspekten von Diederichs Beziehung zu Guste (vgl. etwa U 445) beschäftigt sich auch Ariane Martin: Erotische Politik, bes. S. 194ff. Der zugrundeliegende »Zusammenhang von Triebstruktur und politischem Standort« (Martin: Erotische Politik, S. 197) bestätigt damit Lagaches These, dass »sadomasochistische Beziehungen vom Typus Beherrschung-Unterwerfung […] jede Interferenz der Macht implizier[en]« (D. Lagache: Situation de l’agressivité. Zitiert nach: Jean Laplanche, Jean-Bertrand
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bei Kontrasteffekte zur spießig-wilhelminischen Fassade bilden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Begegnung zwischen Diederich und Guste in der Heßling’schen Papierfabrik – Guste ist zu diesem Zeitpunkt noch mit Diederichs Antipoden, dem von Liebesdingen eher ennuierten Dandy Wolfgang Buck liiert. Diederichs Werben ist da schon zupackender, vor allem, als er mit Guste bei der Betriebsführung zu jenen Lumpensäcken gelangt, auf denen Diederich kurz zuvor ein Arbeiterpärchen in flagranti erwischt und daraufhin »natürlich« (U 252) gefeuert hat: »[…] In dieser Ecke, hinter den Säcken hier hab ich mal einen Arbeiter und ein Mädchen ertappt, wie sie gerade: Sie verstehen. Natürlich sind beide geflogen; und am Abend, jawohl, am selben Abend« – er hob den Zeigefinger, in seinen Augen entstand ein Schauder höherer Dinge – »haben sie den Kerl totgeschossen, und das Mädchen ist verrückt geworden.« Guste sprang auf. »War das –? Ach Gott, das war der Arbeiter, der den Wachtposten gereizt hat...? Also hinter den Säcken haben sie –?« Ihre Augen gingen über die Säcke, als suchte sie Blut darauf. Sie hatte sich nahe zu Diederich geflüchtet. Plötzlich sahen sie einander in die Augen; darin bewegten sich die gleichen abgründigen Schauder, des Lasters oder des Übersinnlichen. Sie atmeten hörbar einander an. Guste schloß, eine Sekunde lang, die Lider: da plumpsten sie auch schon beide auf die Säcke, rollten, ineinander verwickelt, hinab und durch den dunklen Raum dahinter, schlugen um sich, keuchten und prusteten, als seien sie dort unten am Ertrinken. (U 252f.)
Mögen Diederich und Guste auch noch so unbeholfen durch diese Liebesszene plumpsen, in all ihrem Gepruste und Gekeuche, dem (man vergleiche die erste Begegnung mit Agnes Göppel) stimulierenden Faktor des vergossenen Bluts, dem ›Schauder‹, den ›das Laster‹ erzeugt, offenbart sich doch auch ein Wunsch nach einer Subversion des Bestehenden, wie ihn Diederich schon angesichts des despotischen Vaters verspürt hat: »Ward« nämlich, so heißt es im ersten Kapitel des Romans, »irgendwie an den Herrschenden gerüttelt«, so empfindet Diederich »eine gewisse lasterhafte Befriedigung, etwas ganz unten sich Bewegendes, fast wie ein Haß, der zu seiner Sättigung rasch und verstohlen ein paar Bissen nahm« (U 16). Mit dieser ambivalenten Disposition, dem heimlichen Naschen am Verbotenen, an einer auch und gerade populärkulturell oder in den Empfindungen des Leibes vermittelten, sich nach Ausbruch aus Zwangssystemen sehnenden Haltung auf der einen und auf der anderen Seite einer schuldbewusst-verlogenen Abwendung von derselben, wäre auch Diederichs und _____________ Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt a.M. 1989, S. 451). Gustes Sadismus lässt sich also als Implementierung dessen lesen, was in Bezug auf den Regierungspräsidenten Wulckow entsprechend ambivalent als »warmblütige […] Gewaltsamkeit« (U 286) bezeichnet wird oder was Diederich, deutlich schriller, angesichts der blutrünstigen Kriegsgeschichten des Lehrers und Veteranen Kühnchen imaginiert: »Diederichs begeisterte Gefühle freilich mischten sich mit Schrecken, er mußte sich in die Lage des Franktireurs denken: Der kleine leidenschaftliche Greis kniete auf seiner Brust und setzte ihm die Klinge an den Hals« (U 152).
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Gustes Erlebnis in der Aufführung von Wagners Lohengrin zu beschreiben, der vielleicht prägnantesten Szene des Romans im Hinblick auf die Schnittstelle von Körper und Kunst. »Der Schicklichkeit zum Trotz«, lesen wir nämlich dort, setzen sich die noch Unverheirateten auf ein »breite[s] rote[s] Plüschsofa« in einer »Proszeniumsloge […], wo man nicht gesehen werden konnte«, ein Sofa, das »eingedrückt« und »fleckig«, wie es ist, »etwas reizvoll Fragwürdiges« (U 346) hat. Und beide genießen das Musikspektakel eher wie ein populäres Vergnügen denn wie eine hochkulturelle Veranstaltung. So stopft Guste ohne Unterlass »Pralinés« (U 349, 351) in sich hinein und Diederich singt Gassenhauer wie den Hochzeitsmarsch kurzerhand mit (darin nicht unähnlich den Dorfbewohnern während der Opernaufführung in Heinrich Manns Kleiner Stadt). Doch dies ist eben nur die eine Seite des Opernabends: Als Lohengrin und Elsa sich in ihrer Hochzeitsnacht ebenfalls auf einem »Sofa«, wie es heißt, den »›Wonnen, die nur Gott verleiht‹«, hingeben und das Orchester ihnen wie dem Publikum gehörig einheizt, da stimuliert dies auch Diederich und Guste »in ihrer stillen Loge« (U 351) zu leisem Schnaufen. Zu lauteren Exaltationen, zu denen sich ein radikal Moderner wie Charles Baudelaire durch Wagner hingerissen sah, zu einem von den »glühende[n] Klängen der Fleischeslust« evozierten Zittern der »Nerven« oder »Überschäumen« der »energischen Natur«,82 Exaltationen, wie sie noch Erich Wellkamp und seine Stiefmutter Dora im Roman In einer Familie während einer Tannhäuser-Aufführung mit den bekannt fatalen Konsequenzen erlebt haben, kommt es bei den Heßlings freilich nicht. Davor wehrt jener bürgerlich-nationale Kokon, der wie zur Abmilderung um Wagners Musikdrama gesponnen scheint (und zu dem das Libretto sowie die Inszenierung das ihre beitragen). So sieht Diederich in den Gesichtern der Akteure auf der Bühne »überall Neuteutonen« (U 347) und »überhaupt ward Diederich gewahr, daß man sich in dieser Oper sogleich wie zu Hause fühlte. Schilder und Schwerter, viel rasselndes Blech, kaisertreue Gesinnung, Ha und Heil und hochgehaltene Banner und die deutsche Eiche; man hätte mitspielen mögen« (U 347f.). Gustes Stichelei beim Verlassen der Oper, Lohengrin sei nichts weiter als »ein temperamentloser Hammel […]. Nicht einmal in der Hochzeitsnacht« habe »Elsa was von ihm gemerkt!« (U 353), bleibt denn auch die gleichsam letzte Aufwallung des Leibes im Zusammenhang des Wagner-Erlebnisses. Fortan hat Diederich das Wort und kann ungebremst über Wagners Musik als jene Kunst schwadronieren, »die wir brauchen«, seien hier doch, »in Text und Musik, alle nationalen Forderungen erfüllt« (U 353). _____________ 82
Charles Baudelaire: Richard Wagner und der Tannhäuser in Paris, in: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe in acht Bänden. Hg. v. Friedhelm Kemp u. Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost. Bd. VII. München, Wien 1992, S. 89-133, hier S. 109f.
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Dass das durch Wagners Musik »aufgereizte ›Begehren‹« sich »zu einem«, mit einer Formulierung aus der neueren Debatte über die Popkultur gesagt, »habituellen Aufbegehren gegen die herrschenden Mächte und Ordnungsprinzipien«83 auswachsen könnte, lässt sich also im Hinblick auf Diederich Heßling kaum sagen. In diesem Punkt ist der Untertan ein sehr viel statischeres und somit bittereres Buch als der vom Schwungrad der Moderne noch deutlich stärker angetriebene Professor Unrat. Gerät dort ein Tyrann und das durch ihn verkörperte Gesellschaftssystem nicht zuletzt durch die leibliche Erfahrung des Varietés ins Wanken, so bleiben entsprechende Erlebnisse im Untertan nicht weiter ins Gewicht fallende Irritationen in einem gesellschaftlichen mainstream, der sich kulturelle Abweichungen wie die Dargestellten kurzerhand einverleibt. Eine Rosa Fröhlich hätte im Untertan keine Chance mehr, den wilhelminischen Bürgern nachhaltig den Kopf zu verdrehen – schlaglichtartig abzulesen am Schicksal der ›verworfenen‹ (vgl. U 261) Pastorentochter Käthchen Zillich, die ihren Künsten in einem Etablissement mit dem einer Reminiszenz an den früheren Roman gleichkommenden Namen Grüner Engel (vgl. U 257) nachgeht, um schließlich als Edelprostituierte auf einem Ehrenplatz inmitten der Netziger Hautevolee der Enthüllung des Kaiser Wilhelm-Denkmals beizuwohnen. Aber auch wenn der Grundton hoffnungslos scheint, bleibt Der Untertan doch aufgrund seiner Körperinszenierungen, die auch Diederich Heßling als im Grunde bemitleidenswerte, weil geknechtete und sich nach Ausbruch sehnende Kreatur kenntlich machen, zum einen psychologisch nachvollziehbarer als ein Pamphlet, wird dadurch doch die Gefahr einer schematischen, letztlich langweiligen Dämonisierung der Hauptfigur vermieden. Zum anderen lässt die Exponierung des Leiblichen den Untertan aber nicht zuletzt als Kunstwerk lesen, das bei aller satirischen Zuspitzung und bei allem politischen Ingrimm mit den Problemen moderner Ästhetik in Verhandlung bleibt.
_____________ 83
Christian Höller: Widerstandsrituale und Pop-Plateaus. Birmingham School, Deleuze/Guattari und Popkultur heute, in: Tom Holert, Mark Terkessidis (Hg.): Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft. Berlin, Amsterdam 1996, S. 55-71, hier S. 60.
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Anspruch auf Modernität und traditionelle Gebundenheit. Thomas Mann: Der Zauberberg (1924) Die folgenden Überlegungen versuchen zu klären, ob, inwiefern, auf welche Weise und in welchem Umfang Thomas Manns (1875–1955) großer Roman Der Zauberberg, der 1924 veröffentlicht wurde, als moderner Roman bzw. als Roman der literarischen Moderne eingestuft werden kann. Und sie gehen weiterhin davon aus, dass genau diese Frage in die Kernfragen der Interpretation dieses Romans einführen kann.
Modernität Wenn man die Frage nach der Modernität stellt, muss man sich zunächst eine eigentümliche Diskrepanz in der entsprechenden Einschätzung dieses Romans vergegenwärtigen, die sich auf vier Ebenen nachverfolgen lässt. Man findet diese Diskrepanz sowohl auf der Ebene der Selbsteinschätzung und der Selbstinterpretation des Romans durch den Autor, man findet sie in der zeitgenössischen Rezeption und in der Forschungsgeschichte und man kann sie, wenn man den Umweg über diese Stationen genommen hat, auch am Roman selbst ablesen. All diese Ebenen laufen vermutlich in der vielschichtigen Kanonisierung dieses Romans im Kontext der deutschen Literaturgeschichte, der Geschichte der modernen Literatur und der literarischen Moderne und schließlich auch der Weltliteratur zusammen. So wird der Roman heute problemlos im Zusammenhang mit den anderen großen Werken der literarischen Moderne genannt und selbst noch seine – natürlich unzweifelhafte – Einordnung in die Reihe der in diesem Band behandelten Romane ist ein weiterer Beleg dafür, dass dieser Roman nicht nur zur literarischen Moderne gehört, sondern zugleich auch ein Paradigma des modernen Romans abgibt. So liefert Der Zauberberg mit der von ihm erzählten Geschichte wesentliche Metaphern, die zum zentralen semantischen Feld der literarischen Moderne gehören und die der Roman auch bis heute an die entsprechenden kulturellen Traditionen abgegeben hat. Insbesondere das Metaphern-
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feld der Krankheit wäre hier zu nennen, das die Krankheit einerseits mit gesteigerter Wahrnehmung und psychischer Sensibilität und sozialer Ausgrenzung, ebenso mit Erotik und mit Intellektualität, das aber andererseits die Krankheit mit dem Tod,1 dann auch mit dem Krieg und darüber hinaus mit einer Ästhetisierung des Todes, die erst durch das instrumentelle Töten im Krieg ein Ende findet, verbindet. Doch gerade diese einerseits deutlich fraglose und dabei meistens wenig reflektierte Kanonisierung als moderner Roman muss aber auf der anderen Seite den gegenteiligen Reflex, die Infragestellung seiner Modernität hervorrufen. Textanalytisch wenig signifikant, aber heuristisch sehr wertvoll ist die problematische Selbsteinschätzung des Romans durch Thomas Mann, nicht zuletzt deshalb, weil er gerade dort, wo er die Positionierung seines Romans in seiner Zeit und die zeitgenössische Rezeption sehr sensibel registriert hat, diese Beobachtungen problematisiert und dann selbst wiederum in sein schriftstellerisches Selbstverständnis einfließen lässt. Einerseits bezeichnet er seinen Roman – zum Beispiel in der späteren Einführung in den »Zauberberg«, einem Vortrag aus dem Jahre 1939 vor Studenten der Universität Princeton, der ab 1939 den Ausgaben des Romans als Leseanleitung beigegeben wurde – ohne jede Scheu als »modernen Roman«,2 kurz darauf auch als »modernverzwickt«.3 Auf der anderen Seite jedoch entwickelt Thomas Mann, zumal mit Blick auf andere markante Autoren der literarischen Moderne, insbesondere auf Proust und Joyce, ein Problembewusstsein und eine gewisse Skepsis hinsichtlich der Modernität des eigenen Romans und des gesamten Schaffens seit dem Zauberberg. So freut er sich regelrecht, wenn er bzw. Der Zauberberg, aber auch die späteren Arbeiten, nicht zuletzt der Doktor Faustus, im Zusammenhang mit Joyce und Proust erwähnt, besprochen oder gar thematisiert werden.4 Einerseits bezeichnet er sich »im Vergleich mit Joyce« (und in diesem Zusammenhang auch mit Picasso) als »flauer Traditionalist«.5 Dieses Urteil wird er später, in der Entstehung des »Doktor Faustus«, als »Vorurteil« bezeichnen und weitgehend zurücknehmen; es bleibt nur etwas, was er _____________ 1 2 3 4
5
Vgl. Thomas Mann: Einführung in den Zauberberg, in: Ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. XI: Reden und Aufsätze 3. Frankfurt a.M. 1990, S. 602-617, hier S. 613. Mann: Einführung in den Zauberberg, S. 602. Mann: Einführung in den Zauberberg , S. 616. Vgl. Thomas Mann an Max Rychner, 7. September 1929, in: Thomas Mann: Selbstkommentare. Der Zauberberg. Frankfurt a.M. 1992, S. 103 – Thomas Mann an Jacques Mercanton, 6. Juli 1949 (ebd., S. 155) – Thomas Mann an Caroline Newton, 16. November 1948, in: Thomas Mann: Selbstkommentare. Doktor Faustus. Die Entstehung des Doktor Faustus. Frankfurt a.M. 1988, S. 239. Thomas Mann an Gerhard Albersheim, 7. Oktober 1944, in: Ders.: Selbstkommentare. Doktor Faustus, S. 36.
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»traditionelle Gebundenheit«6 nennt. Auf der anderen Seite aber nimmt er für sich in Anspruch, Joyce »garnicht so fern«7 zu stehen. Was man über den Ulysses sagt, soll auch für seine Romane gelten: »[…] ›»Ulysses« is a novel to end all novels.‹ Das trifft wohl auf den ›Zauberberg‹, den ›Joseph‹ und ›Doktor Faustus‹ nicht weniger zu…«,8 so Thomas Mann in der Entstehung des »Doktor Faustus«. Thomas Mann hebt dabei auf ein Merkmal des Romans ab, das die Romanform selbst aushebelt – so, in seinen Worten, »als käme auf dem Gebiet des Romans heute nur noch das in Betracht, was kein Roman mehr sei«9 – und gerade dadurch die Modernität des Romans ausmacht: ein Roman, der kein Roman mehr ist.10 Was Thomas Mann – natürlich nur in indirekter Vermittlung, da »der direkte Zugang zu dem Sprachwerk des Iren«11 ihm verschlossen sei – am Ulysses als ein solches Merkmal der Modernität auffällt, ist, einer Ulysses-Interpretation von Harry Levin zufolge, die Tatsache, wonach »Joyce’s technique passes beyond the limits of realistic fiction«.12 Damit ergibt sich ein Gegensatz von realistischem Roman des 19. Jahrhunderts, vertreten beispielsweise durch Dickens oder Zola, und modernem Roman des 20. Jahrhunderts. Dieses realistische Moment bezieht sich auf das Doppelmoment von Darstellung und Dargestelltem. Gegenüber dem modernen Roman – und es handelt sich dabei nur um eine Rückprojektion – ist der realistische Roman ein Roman mit realistischer Welt und realistischer Erzählweise. Daraus resultiert seine Einschätzung als traditionell. Die Welt selbst wird also nicht durch eine transzendente Bedeutungsebene überlagert und das Erzählen konzentriert sich ausschließlich auf die mimetisch orientierte Wiedergabe eben dieser Welt und der in ihr ablaufenden und von ihr vielfach determinierten Geschichte. Der moderne Roman hingegen gewinnt seine Kontur gerade durch die Absetzung vom traditionellen, realistischen Roman. Er unterläuft dieses Erzähl- und Geschichtenmodell, indem er die dargestellte Welt so stark symbolisiert, dass das Erzählen sich nicht mehr in einer Geschichte erschöpft, sondern über sich hinausweist. Genau das sieht Thomas Mann in seiner späteren Selbstinterpretation im Zauberberg gegeben, was den An_____________ 6 7 8 9 10 11 12
Thomas Mann: Die Entstehung des Doktor Faustus, in: Ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. XI, S. 145-301, hier S. 204; vgl. auch ebd., S. 210. Thomas Mann an Bruno Walter, 1. März 1945, in: Ders.: Selbstkommentare. Doktor Faustus, S. 54. Mann: Die Entstehung des Doktor Faustus, S. 204f. Mann: Die Entstehung des Doktor Faustus, S. 204; vgl. auch ebd., S. 211. Vgl. Thomas Mann an André von Gronicka, 20. November 1948, in: Ders.: Selbstkommentare. Doktor Faustus, S. 241. Mann: Die Entstehung des Doktor Faustus, S. 204. Zitiert nach: Mann: Die Entstehung des Doktor Faustus, S. 205; vgl. auch ebd., S. 210f.
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spruch auf Modernität rechtfertigt: »Sie [die Geschichte] arbeitet wohl mit den Mitteln des realistischen Romanes, aber sie ist kein solcher, sie geht beständig über das Realistische hinaus, indem sie es symbolisch steigert und transparent macht für das Geistige und Ideelle.«13 So sensibel Thomas Mann diese Problematik registriert hat und in dieser Gegenüberstellung seinen eigenen Roman kritisch und rehabilitierend zugleich einschätzt, so wenig darf doch der Zauberberg aus der Perspektive der zeitgenössischen Kritik auf dieses Schema reduziert werden. Vielmehr ist es so, dass man für Thomas Manns Werk bis zum Zauberberg den Traditionalismus-Vorwurf, wenn überhaupt, gelten lassen kann, dass aber spätestens mit dem Zauberberg genau diese Diskussion entbrannt war. Die Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe dokumentiert im Kommentarband zum Zauberberg auch die zeitgenössische Kritik. Dort heißt es: Fasst man die Zielpunkte der Kritik zusammen, so offenbart sich im Zentrum der Angriffe etwas, das man wohl am präzisesten als Modernität von Thomas Manns Roman bezeichnen könnte: man begehrt dagegen auf, dass die äußere Handlung zurücktritt; dass umfänglich reflexive, ja essayistische Passagen eindringen; dass die Figuren durch Ironie der rückhaltlosen Einfühlung entzogen werden; dass geistige Konflikte nicht weniger zum Erzählen reizen können als individuelle Erlebnisse, geistige Positionen aber durch einen konsequenten Perspektivismus relativiert werden; dass die Kompositions-Techniken der Leitmotivik wie des Zitierens und Anspielens, so wenig sie damals bereits verstanden wurden, die intellektuelle Aktivität von Lesern einfordern, die sich ans Hingerissenwerden gewöhnt haben.14
Das lässt sich gleichzeitig als ein Katalog zeitgenössischer Vorstellungen von der Modernität eines Romans lesen. Der Zauberberg selbst wird dadurch als moderner Roman lesbar, was gängige Kategorisierungen relativiert: Nachdem Forschung und Feuilleton lange den »modernen« Kafka gegen den »traditionellen« Thomas Mann ausgespielt haben, kann die Lektüre der frühen Rezensionen lehren, dass Mann mit dem Zauberberg für das breite Publikum in Deutschland, das Gros der Kritik eingeschlossen, der Wahrnehmung des modernen Romans die Bahn zu brechen hatte.15
Und selbst Walter Benjamin, der in seinem Urteil über Thomas Mann in diesem Schema befangen war, revidiert nach dem und anlässlich des Zauberbergs seine Meinung.16 Nimmt man all dies zusammen, so erkennt man, dass genau diese Frage nach der Modernität alle relevanten Ebenen und Aspekte des Ro_____________ 13 14 15 16
Mann: Einführung in den Zauberberg, S. 612. Michael Neumann: Kommentar, in: Thomas Mann: Der Zauberberg. Roman. Kommentar v. Michael Neumann. Frankfurt a.M. 2002, S. 112 (= GKFA V/2). Neumann: Kommentar, S. 113. Vgl. Neumann: Kommentar, S. 113f.
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mans umfasst und dass gerade im Rahmen diskrepanter Einschätzungen die zentralen Interpretationspunkte zur Sprache kommen. Zu nennen sind insbesondere (1.) die Ebene der dargestellten Geschichte, ihrer mimetischen Qualität einerseits und ihrer semantischen, im engeren Sinn symbolischen, mythologischen und konzeptionellen Überhöhung andererseits, (2.) die Ebene der Darstellung, des realistischen Erzählers einerseits und seiner Problematisierung der erzählten Geschichte andererseits, was auf eine dritte Ebene verweist, nämlich (3.) die Ebene der Zeit des Romans und im Roman, die als Diskrepanz zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit, genauer gesagt zwischen beschriebener Zeit und Zeit der Beschreibung oder zwischen Geschichte im Text und Genese des Textes zu rekonstruieren ist, und schließlich (4.) die letzte Ebene der Position des Zauberbergs in der Struktur der Genese des Gesamtwerkes, das einerseits zwischen der Fortführung des traditionellen Romans im Ausgang von den Buddenbrooks und das andererseits als Beginn moderner Schreibweisen schon mit Blick auf die Josephs-Romane und den Doktor Faustus oszilliert.
Die erzählte Geschichte Überblickt man den gesamten Roman, so kann man sagen, dass er trotz seiner umfangreichen Anlage eine zwar ungewöhnliche, aber im Prinzip doch einfache Geschichte erzählt. Ein junger Mann, Hans Castorp, 23jährig, fährt im Jahre 1907 von Hamburg ins Gebirge in das Sanatorium ›Berghof‹ bei Davos, um dort für drei Wochen seinen Vetter Joachim Ziemßen zu besuchen. Aus diesen drei Wochen werden aber sieben Jahre, in denen der junge Mann in engeren Kontakt mit einer Reihe von anderen Figuren tritt, die für seine persönliche, intellektuelle ebenso wie emotionale Entwicklung entscheidende Bedeutung bekommen. Zudem erlebt er in diesen sieben Jahren auch ein Liebesabenteuer, das in einer einzigen Liebesnacht kulminiert und danach nicht wieder aufgenommen wird, bevor der Krieg schließlich diesen Aufenthalt zwangsweise beendet. In den Wirren und Schlachten des Ersten Weltkrieges, »im Getümmel, in dem Regen, der Dämmerung«17 verliert der Erzähler Hans Castorp »aus den Augen«. Die letzte Anrede des Erzählers an die Figur deuten deren Tod an: »Deine Aussichten sind schlecht […], und wir möchten nicht hoch wetten, dass du davonkommst.« (Z 1085) _____________ 17
Thomas Mann: Der Zauberberg. Roman. Hg. u. textkritisch durchgesehen v. Michael Neumann. Frankfurt a.M. 2002, S. 1084 (= GKFA V/1). Im Folgenden mit der Sigle Z belegt.
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Die Geschichte selbst, ihr narratives Substrat, ist kaum dazu angetan, die Modernität dieses Romans zu begründen. Es ist keine moderne Geschichte, keine Geschichte, die Modernität zum Ausdruck bringt, noch ist es eine Geschichte, die moderne Erzählverfahren provoziert. Die Anrede an die Figur macht es schon deutlich. Diese Geschichte präsentiert sich als erzählte Geschichte. Und der Roman hat einen Prolog, einen so genannten Vorsatz, in dem der Vorsatz, eine Geschichte, die Geschichte des Hans Castorp, zu erzählen, auch noch explizit gemacht wird. Der Erzähler nimmt hier eine auktoriale Position ein, die er im Laufe des Romans mit dem Fokus auf seinen Helden zugunsten einer personalen Perspektive zwar vielfach aufgibt,18 aber gerade diese Form des Erzählens muss doch traditionell anmuten, vor allem dann, wenn man auf jene Romane achtet, die als paradigmatisch und als avanciert gleichermaßen gelten, auf Musil, Broch, Kafka oder Döblin und insbesondere im internationalen Bereich auf Proust oder Joyce. Gegenüber diesen Romanen wirkt der Zauberberg mit seiner Art des Erzählens nicht mehr so fraglos modern. Thomas Mann selbst hat diesen Umstand als Problem eingeschätzt und sich dabei vor allem an James Joyce und an dessen Ulysses gemessen. Macht man sich also auf die Suche nach der Modernität des Romans, gilt es einerseits auf dessen innere Struktur zu achten und die damit verknüpften Transzendierungen, und andererseits auf die Situierung des Romans in der Moderne selbst. Diese beiden Aspekte betreffen sowohl die räumliche Struktur im Roman, also die räumliche Struktur des Zauberbergs selbst,19 als auch die zeitliche Struktur des Romans. Damit ist sowohl die Zeit gemeint, die der Roman erzählt, seine erzählte Zeit, die immerhin sieben Jahre umfasst, als auch jene Zeit, die das Erzählen, besser gesagt: die Konzeption und Niederschrift dieses Romans in Anspruch genommen hat, die sogar noch mehr, nämlich über zwölf Jahre umfasst. Beide Koordinatenlinien, die räumliche und die zeitliche, nehmen ihren Ausgang in Davos im Jahre 1912.
Eine heuristisch wichtige Quelle Genau an diesem Ort, genau zu dieser Zeit hatte Thomas Mann die Idee zu seinem Roman spontan aus jenen Eindrücken entwickelt, die er im Mai und Juni 1912 bei einem Besuch seiner Frau Katja in Davos, die sich zu _____________ 18 19
Vgl. hierzu Eskandar Abadi: Erzählprofil und Erzähltechnik im Roman Der Zauberberg. Eine Untersuchung zu Auktorialität und Perspektive bei Thomas Mann. Münster 1997. Vgl. hierzu Ursula Reidel-Schrewe: Die Raumstruktur des narrativen Textes. Thomas Mann – Der Zauberberg. Würzburg 1992.
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dieser Zeit dort in einem Sanatorium aufhalten musste, empfunden hatte. Katja Mann schreibt später, dass ihr Mann »von dem ganzen Milieu so impressioniert [gewesen sei], auch von allem, was ich ihm erzählte, dass er gleich daran dachte, über Davos eine Novelle zu schreiben«.20 Dass diese Erfahrung Thomas Manns stoffhaltig war und dass er dies augenblicklich bemerkt hatte, steht außer Frage. Doch für die Strukturierung des Stoffes können womöglich auch literarische Quellen verantwortlich gemacht werden. Eine der strukturell wichtigsten Quellen für den Roman und für die von ihm erzählte Geschichte ist vermutlich der Roman Schiffe, die sich nachts begegnen von Beatrice Harraden (1864–1936), der im englischen Original erstmals 1894 erschienen ist und auf deutsch schon im Jahre 1895 veröffentlicht wurde, und zwar in der Reihe Engelhorn’s allgemeine Romanbibliothek in Stuttgart, die belletristische Erfolgsliteratur zu günstigen Preisen herausgebracht hat. Der Roman erzählt die Geschichte einer jungen, 26jährigen Frau, Bernhardine, die in London bei ihrem Onkel lebt und von dort in die Schweiz in das Sanatorium ›Petershof‹ kommt, um sich zu kurieren. Sie lernt Kurgäste, Patienten, Bedienstete und Einheimische kennen und versucht auch hier, karitativ zu wirken. Insbesondere gelingt es ihr, einen anderen Kurgast, den so genannten »unangenehmen Menschen«21 Robert Allisten, aus seiner mit Zynismus gepaarten Depression zu befreien, so dass er sich in Bernhardine verliebt. Sie genest, wird aber, wieder in London, vom Lastwagen überfahren. In welchem Maß Thomas Mann sich von diesem Roman hat leiten lassen, ja selbst die Frage, ob er ihn überhaupt gekannt hat – dafür sprechen die strukturellen Übernahmen – kann dahingestellt bleiben, sofern man nur den heuristischen Nutzen erkennt, der sich zeigt, wenn man die beiden Romane überblendet. Insbesondere kann diese Vorlage helfen, den räumlichen Charakter in seiner handlungskonstitutiven und ideologischen Funktion eines solchen Raumes zu erhellen. Vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, dass das Sanatorium einen gesellschaftlichen Mikrokosmos darstellt, der in seiner Komplexität, auch gegenüber den Gesellschaftsschilderungen der großen realistischen Romane, stark reduziert ist. Das erlaubt es, die Charaktere in besonderer Weise herauszustellen, geradezu zu typisieren, um auf dieser Grundlage den jeweiligen Konflikt stärker zu akzentuieren. Dass dabei der Zauberberg gegenüber Harradens Roman – er hat nur 160 Seiten – wieder Komplexität gewinnt, versteht sich von selbst. Während Bernhardine ihre philanthropische Anlage zur vollen Geltung bringen und dabei einen unglücklichen Menschen durch die Liebe glück_____________ 20 21
Katja Mann: Meine ungeschriebenen Memoiren. Frankfurt a.M. 1974, S. 85. Beatrice Harraden: Schiffe, die sich nachts begegnen. Stuttgart o.J. [1895], S. 11.
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lich machen kann, steht Hans Castorp in einem komplexen Spannungsfeld unterschiedlichster narrativer, konzeptioneller, ideologischer Einflüsse, die von den Figuren seines Umfeldes pointiert repräsentiert werden – von Madame Chauchat, von Lodovico Settembrini, Leo Naphta, Mynheer Peeperkorn und selbst den Doktoren Behrens und Krokowski – einem Spannungsfeld, in dem er sich überhaupt erst auf die Suche nach sich selbst machen muss.22 Und dennoch, so unterschiedlich komplex die erzählten Geschichten in einem vergleichbaren Rahmen angelegt sind, so ähnlich sind sich doch auch bestimmte zentrale Aussagen, die die Romane machen. So setzt auch der Zauberberg auf die Liebe, wenn Hans Castorp bzw. der Erzähler im personalen Erzählstil feststellt, dass nur die Liebe, nicht aber die Vernunft dem Tode entgegenstehe (vgl. Z 569). Dass dies allerdings eine Erkenntnis ist, die der Zauberberg – anders als das melodramatische Ende von Harradens Trivialroman – durch sein Ende selbst noch einmal problematisiert, wenn nicht sogar zurücknimmt, zeigt jedoch auch die völlig unterschiedlichen Ebenen an, auf denen die beiden Romane jeweils angesiedelt sind.
Der semantische Raum des Zauberbergs Aber gerade deswegen ist der einfachere Roman von solchem heuristischen Interesse. So kann man weiterhin aus ihm ableiten, dass es einen immanenten Zusammenhang zwischen der Krankheit als semantischer Kennzeichnung des Ortes und der Entwicklung, Problematisierung, Durchsetzung – und eben auch Zurücknahme – philanthropischer Positionen gibt. Dies hängt wiederum mit der textuellen Verfassung des Raumes des Sanatoriums bzw. des Zauberbergs zusammen. Was Thomas Mann mit der symbolischen Steigerung meint, meint nichts anderes als eine Semantisierung des Raumes. Die eigentliche Funktion des Handlungsortes ›Zauberberg‹ besteht in seiner Semantisierung. Und grundlegend für diese Semantisierung des Raumes ist zunächst die zugrunde liegende Raumdefinition. Dieser Raum ist ein abgeschlossener Raum, was bedeutet, dass die Bewegung der Figuren über die Raumgrenze hinweg starken Restriktionen unterliegt. Prinzipiell kann man sagen, dass alle Figuren, die diesen Raum betreten, ihn nicht mehr lebend verlassen. Exemplarisch und geradezu sujetbildend für diese Struktur ist die erzählte Geschichte Hans Castorps selbst. Er will nur drei Wochen bleiben, bleibt aber sieben Jahre und verlässt dann das Sanatorium nur, um im Ersten Weltkrieg vermutlich den _____________ 22
Zur Quellenlage der Figuren vgl. Neumann: Kommentar, S. 67ff.
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Tod zu finden. Wenn eine Figur das Sanatorium überhaupt verlässt, dann nur um den Preis des Todes. Insofern ist das Schicksal von Joachim Ziemßen, den Hans Castorp ursprünglich besuchen wollte, geradezu symptomatisch. Zwar spielt der Text mit der Möglichkeit, dass der kranke Joachim Ziemßen gesundet, während der gesunde Hans Castorp erkrankt und zu einem genuinen Bewohner und Patienten des Berghofes wird, doch nimmt der Text diese Möglichkeit wieder zurück. In einer einzigen Szene wird diese Gegenläufigkeit demonstriert: Castorp und Ziemßen befinden sich beide bei Dr. Behrens zur Untersuchung. Während Ziemßen gegen den dringenden Rat des Arztes die Therapie abbricht, wird Hans Castorp, der unbedingt bleiben will, für gesund erklärt (vgl. Z 630f.) Ziemßen verlässt auf eigene Verantwortung das Sanatorium, um seinen Militärdienst anzutreten, erkrankt aber erneut, muss ins Sanatorium zurückkehren, wo er dann schließlich stirbt. Hans Castorp wird erst sehr viel später, zu Beginn des Ersten Weltkrieges, seinen Militärdienst antreten und voraussichtlich umkommen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Hans Castorp bei zwei Ausflügen, bei denen er sich auf eigene Faust vom Sanatorium entfernt, existenziell entscheidende Erfahrungen macht, wenn auch nur (oder gerade) im Medium psychischer Entrückung, im Medium des Traums. Zuerst, als er sich an seine erste homoerotische Jugendliebe Pribislav Hippe erinnert, und dann ganz prominent im Schnee-Kapitel, wo er sich bei einem Skiausflug im Schneesturm verirrt, einschläft und träumt. In diesem Traum sieht er zunächst eine idyllische Landschaft und darauf ein Schreckensszenario kinderfressender Hexen. Schließlich eröffnet sich ihm im Traum die Perspektive auf die Möglichkeit, die Gegensätze zwischen Lebensbejahung und der »Sympathie mit dem Tode« (Z 988)23 zu überwinden.24 So wie der Weg vom Zauberberg zurück ins Flachland mit dem Tod korreliert wird, so führen auch die Ausflüge Hans Castorp in semantische Bereiche, die zumindest todesnah oder wie das erotische Moment mit dem Tod verknüpft ist. Auch Settembrini ist eine Figur, die zwar das Sanatorium, nicht aber die Welt des Sanatoriums verlassen kann. Noch deutlicher wird dies an den anderen beiden Männerfiguren um Hans Castorp, Naphta und Peeperkorn. Sie kommen in diesen Raum und sterben dort, beide übrigens _____________ 23
24
Vgl. auch Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, in: Ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. XII: Reden und Aufsätze 4, S. 7-589, hier S. 424 – Thomas Mann an Heinrich Mann, 13. November 1913, in: Thomas Mann – Heinrich Mann. Briefwechsel 1900–1949. Frankfurt a.M. 1968, S. 104. Vgl. Hermann Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung. 2. Aufl. München 1991, S. 181ff., 205 – Hans Wysling: Der Zauberberg, in: Thomas-Mann-Handbuch. Hg. v. Helmut Koopmann. Frankfurt a.M. 2005, S. 397-422, hier S. 398, 400, 408ff. – Neumann: Kommentar, S. 17f.
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durch Selbstmord, nachdem sie in erster Linie vor Hans Castorp ihre ideologischen Überzeugungen bzw. Lebensmaximen geäußert haben. Die einzige Figur, die diese Grenze mehrfach überschreiten kann, ist Madame Chauchat. Dass sie gleichzeitig diejenige Figur ist, die – anders als die anderen Figuren – mehrere Sexualpartner in Folge hat: sie ist mit einem Russen verheiratet, verbringt eine Liebesnacht mit Hans Castorp, verlässt das Sanatorium und kommt mit ihrem letzten Liebhaber, Mynheer Peeperkorn, zurück, scheint auf einen Zusammenhang zwischen Sexualität, Weiblichkeit und Überlebensfähigkeit hinzuweisen.25 Für die Männerfiguren gilt jedoch, dass der Raum des Sanatoriums ein tödlicher Raum ist, was durch ein zweites, geradezu charakteristisches Merkmal unterstrichen wird. Der Raum des Sanatoriums ist ein Raum der Krankheit, nicht nur in dem einfachen Sinn, dass hier Kranke versammelt werden, sondern auch in dem Sinn, dass hier die Krankheit selbst funktionalisiert wird.
Krankheit und Erotik als Merkmale des semantischen Raumes Der Raum des Sanatoriums bzw. des Zauberbergs ist ein Raum, in dem die Krankheit als semantisches und insofern auch als ein ideologisches Element ausgestellt und offenbar gemacht werden kann. Krankheit als semantisches Merkmal des Raumes wird zugleich als Prinzip der Gesellschaftsstruktur dargestellt. Krankheit als semantisches Merkmal des Raumes des Sanatoriums erlaubt es nun, aus dem Raum des Sanatoriums generell einen semantischen Raum zu machen.26 Es ist die Krankheit, die den Raum auszeichnet und im eigentlichen Wortsinne definiert und somit auch abschließt und damit die Bewegungsmöglichkeiten der Figuren einschränkt. Gleichzeitig schafft die Krankheit mit diesen räumlichen Effekten auch so etwas wie eine Eigengesetzlichkeit im Raum des Sanatoriums, was allein schon mit dem Titelbegriff des ›Zauberbergs‹ zum Ausdruck gebracht wird. Damit wird auf Wagners Venusberg im Tannhäuser ebenso wie auf den Hexenberg der Walpurgisnacht aus Goethes Faust I angespielt.27 Vor allem aber meint der Zauberberg einen Raum, in dem geradezu magisch die Strukturen menschlicher und gesellschaftlicher Realität offengelegt werden können. Im Roman selbst dient hierfür das Röntgenbild als anschauliches Beispiel. Die Krankheit ist also ein Merkmal, das in der Realität verankert ist, aber die Realität gleichzeitig in einer Weise transzen_____________ 25 26 27
Vgl. Wysling: Der Zauberberg, S. 406. Zum erzähltechnischen Konzept des semantischen Raumes vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. 2. Aufl. München 1981, Kap. 8. Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung, S. 197.
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diert, dass dadurch die Bedingungsfaktoren eben dieser Realität aufgedeckt werden können. Den Begriff ›Zauberberg‹ hatte Thomas Mann wohl von Nietzsche und insbesondere aus dessen Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik.28 In Nietzsches Konzeption ist der Zauberberg der Sitz der Götter. Für den Menschen der griechischen Antike hat – Nietzsche zufolge – der Zauberberg die Funktion, die Entsetzlichkeiten des Lebens zu überformen und eine lebensfähige Situation zu schaffen.29 Genau dieser Übergang wird bei Nietzsche mit dem Gegensatz des Dionysischen und des Apollinischen bezeichnet. Damit ist ein kulturelles Erklärungsmuster gegeben, das Thomas Mann vielfach, so auch in diesem Roman, aufgegriffen hat. Der Zauberberg ist damit die Scheidelinie zwischen diesen beiden Sphären, zugleich ein Austragungsort für die jeweils waltenden, antagonistischen Lebensprinzipien, die sich damit verbinden. Wenn man aber an die drei Bezugspunkte Wagner, Goethe und Nietzsche denkt, wenn man zudem an das Röntgenbild von Clawdia Chauchat denkt, das Hans Castorp mitgenommen hat und das fast wie ein Aktbild als erotische Reminiszenz gehandhabt wird, dann wird deutlich, dass das Element der Krankheit sehr eng mit dem der Erotik verknüpft ist. Es ist immerhin der kranke Raum des Sanatoriums, in dem Hans Castorp aus seinem Nachbarzimmer nicht nur eindeutige erotische Geräusche in der Nacht nach seiner Ankunft vernehmen muss (vgl. Z 62f.), sondern der in diesen sieben Jahren auch für Hans Castorp zu einem erotischen Raum, zum Ort seiner wohl einzigen Liebesnacht wird, und da die Krankheit als semantisches Merkmal es erlaubt, die Krankheit nicht nur zu funktionalisieren, sondern auch zu thematisieren, wird sie – in dem Vortrag von Dr. Krokowski, der unter dem Generalthema »Die Liebe als krankheitsbildende Macht« (Z 178) bzw. kurz »Die Macht der Liebe« (Z 192) steht – ganz offen mit der Liebe in Zusammenhang gebracht: »Alle Krankheit«, so das Fazit von Dr. Krokowski, sei »verwandelte Liebe« (Z 196). Das wird durch den Kontext unterstrichen: Schon zuvor träumte Hans Castorp von seiner Jugendliebe Pribislav Hippe; und während des Vortrages, dem er deswegen nur unkonzentriert folgt, betrachtet er Clawdia Chauchat und stellt dabei Überlegungen zum erotischen Reiz des weiblichen Körpers und seiner Bekleidung an, der ganz im Dienst der »Fortpflanzung des _____________ 28
29
Vgl. hierzu Erkme Joseph: Nietzsche im Zauberberg. Frankfurt a.M. 1996 (= ThomasMann-Studien 14) – Michael Hinz: Verfallsanalyse und Utopie. Nietzsche-Rezeption in Thomas Manns Zauberberg und in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften. St. Ingbert 2000 – Peter Pütz: Krankheit als Stimulans des Lebens. Nietzsche auf dem Zauberberg, in: Das Zauberberg-Symposium 1994 in Davos. Hg. v. Thomas Sprecher. Frankfurt a.M. 1995, S. 249-264 (= Thomas-Mann-Studien 11). Vgl. hierzu Wysling: Der Zauberberg, S. 414.
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Menschengeschlechts« (Z 198) stehe. Das Dingsymbol, zugleich ein Männlichkeitssymbol, das beide Figuren in einen erotischen Kontext stellt, ist ein Bleistift, ein Crayon (Z 520), den Castorp sich von Hippe und Jahre später von Madame Chauchat leiht. Der Vortrag selbst gerät damit im direkten Fortgang der Erzählung zur Abstraktion einer subjektiven Liebeserfahrung, die den Zusammenhang von Krankheit und Erotik herausstellt. Im semantischen Raum der Krankheit sind also erotisches und Krankheitserleben direkt miteinander gekoppelt. Das eine ist die Disposition für das andere. Beide sind auch deswegen so eng aneinander gebunden, weil sie beide eng mit dem Merkmal des Todes als lebensverneinende Kräfte verknüpft sind. Es ist gerade die Krankheit, die die Todesnähe der Erotik aufzeigt. Aber die Krankheit besitzt in diesem semantischen Raum generell einen moribunden Charakter, ist also in vielen Fällen eine Krankheit zum Tode. Dieser Zusammenhang von Erotik und Tod dient aber andererseits dazu, damit die Grundlage vorzubereiten, auf der dann ein Gegenpol zumindest diskursiv und argumentativ situiert werden kann: die Liebe als lebensbejahende Kraft. Damit wird die eigentliche Funktion der Krankheit offenbar: Sie eröffnet ein semantisches Feld, das durch die beiden Pole Tod und Liebe strukturiert ist und das zugleich das Spannungsfeld ist, auf dem Hans Castorp innerhalb des semantischen Raumes des Zauberbergs seinen Weg der Selbstfindung zurücklegt. Die Krankheit, mit der Hans Castorp konfrontiert wird, versetzt ihn in jenen psychischen Ausnahmezustand, der es überhaupt erst erlaubt, ihn zum Exempel seiner Suche und seiner Bewegung zwischen Liebe und Tod zu machen. Die Frage, ob er dabei tatsächlich krank und infiziert ist oder nicht, verliert in dem Maße an Bedeutung, in dem es hier auch nicht um eine realistische Schilderung der dargestellten Welt geht, sondern diese Welt selbst mit Hilfe der Krankheit zu einem semantischen Raum transzendiert wird. Genau darin liegt der Unterschied zwischen einem realistischen und einem semantischen Merkmal. Und das ist die eigentliche raumbildende Funktion des semantischen Merkmals der Krankheit. Dieses Merkmal erlaubt zum einen die Definition eines abgeschlossenen Raumes, der den Charakter eines gesellschaftlichen Mikrokosmos besitzt. Aber zum anderen ist dieser Raum nicht nur eine Verkleinerung eines Gesellschaftsraumes, sondern zugleich eine Verdichtung und eine Transzendierung dieser realistischen Idee von Gesellschaft und der mimetischen Idee ihrer literarischen Repräsentation. Von großer Bedeutung ist jedenfalls, dass man die Krankheit nicht selbst als Merkmal der Gesellschaft versteht. Es würde den Roman unzulässig verkürzen, würde man von diesem Merkmal darauf schließen, dass es nur um die Darstellung einer kranken Gesellschaft gehe. Die Gesellschaft des
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Zauberbergs ist zwar durchaus ein Abbild der Gesellschaft, aber eben nicht nur. Das semantische Merkmal der Krankheit macht zugleich deutlich, dass es sich im abgeschlossenen Raum des Zauberbergs um eine exklusive Gesellschaft der Ausgeschlossenen handelt, so sehr sie auch ihre gesellschaftlichen Positionen, sei es als Frau oder als Mann, als Offizier oder als Staatsanwalt, noch mitführen. Die Krankheit als semantisches Merkmal erlaubt es geradezu, Liebe und Tod als die entscheidenden Organisationsprinzipien, als die entscheidende semantische Achse in der Anthropologie, Gesellschaftsdarstellung und Weltrepräsentation auszuformen. Krankheit ist daher kein Widerspruch zur mikrokosmischen Struktur der Gesellschaft auf dem Zauberberg, sondern ihr Korrelat. Nur über das semantische Merkmal der Krankheit kann die Gesellschaft auf dem und im Zauberberg als Gesellschaft im Kleinen dargestellt werden, nur über sie sind all die Typisierungen und Zuspitzungen möglich. Denn nur über dieses Merkmal werden alle damit verknüpften Figurenbewegungen, in allererster Linie die des Hans Castorp, und die damit einhergehenden Konflikte vor den Horizont dieser semantischen Achse gerückt. Vor dieser semantischen Achse verlieren die realistischen Aspekte der Gesellschaftsdarstellung an Bedeutung und in dem Maße, wie sie sie verlieren, gewinnen jene Aspekte an Bedeutung, die über den Realismus hinausweisen. Vor diesem Hintergrund lassen sich eine Reihe von Widersprüchen beobachten, die der Roman entfaltet: So wie die Zauberberg-Gesellschaft ein Gesellschaftsmodell im Kleinen und doch auch wieder nicht darstellt, weil sie die realistische Gesellschaftsdarstellung verletzt, so ist auch Hans Castorp ein Mitglied dieser Gesellschaft und ist es doch bis zum Schluss nie wirklich ganz. Wenn man nun danach fragt, inwiefern so allgemeine und grundlegende semantische Pole wie die von Liebe und Tod als spezifisches Kennzeichen eines modernen Romans gelten können, so ist man bei der Antwort darauf an dieselbe Struktur verwiesen. So müssen zwar Liebe und Tod als zeitenthobene Kategorien aufgefasst werden, aber bereits mit dem Vorsatz und schließlich mit dem Hinweis auf ein konkretes und unübersehbares historisches Faktum am Ende des Romans wird die Zeitgebundenheit des Romans und der erzählten Geschichte festgestellt. Auch die Krankheit selbst mag als zeitenthobene Kategorie gelten, doch durch die Art und Weise, wie sie hier funktionalisiert und als semantisches Merkmal instrumentalisiert wird, bekommt sie einen geradezu zeittypischen Charakter. So, wie die Krankheit selbst ein Phänomen in der dargestellten Welt des Textes ist, aber als semantisches Merkmal zugleich ein literarisches Instrument des Textes, diese Welt mitsamt ihrer Darstellung zu überschreiten, so ist diese semantische Funktionalisierung der Krankheit zugleich ein Merkmal der Modernität des Romans.
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Die folgende Textanalyse unter der Blickrichtung auf die Modernität des Romans muss nun also genau jene Strukturen aufdecken, die über das zentrale semantische Merkmal der Krankheit aufgespannt werden. Modern ist dieser Roman also weniger in seiner Erzählweise, als vielmehr in der Konstruktion eines semantischen Raumes auf der Basis dieses zentralen semantischen Merkmals. Modernität liegt hier im Erzählten, nicht im Erzählen, bestenfalls könnte man sagen, dass Modernität hier eine erzählerische Konstruktion darstellt.
Zeitroman, Zeit im Roman, Zeit des Romans: die Moderne und der Erste Weltkrieg Doch könnte diese Konstruktion ihre moderne Wirkung nicht entfalten, wenn sie nicht selbst auf komplexe Weise in die Zeit der Moderne regelrecht verwoben wäre. Man darf nicht vergessen, Thomas Mann beginnt mit der Konzeption dieses Romans (der zu dieser Zeit noch gar nicht ›Roman‹ heißt, sondern noch als Novelle geplant wird), als Der Tod in Venedig noch nicht einmal beendet war und – was schwerer wiegt – als die Umstände, die der Roman aufgreift, um die erzählte Geschichte an ein Ende zu bringen, noch nicht einmal abzusehen waren. Als Thomas Mann begann, die Geschichte zu erzählen, war die Geschichte selbst noch gar nicht an ein Ende gekommen. Die Geschichte beginnt ungefähr im Jahre 1907 und endet im Jahre 1914, die Konzeption und Niederschrift beginnt im Jahre 1912 und endet im Jahre 1924. In der Zeit zwischen 1912 und 1914 überschneiden sich erzählte Zeit und Erzählzeit des Zauberbergs. In diese unmittelbare Vorkriegszeit fällt auf der Ebene der erzählten Geschichte die letzte Phase der Ausarbeitung jenes Konfliktpotenzials, mit dem der Held Hans Castorp so konfrontiert ist, dass er selbst dafür keine Lösung mehr findet, und es fällt auf der Ebene der Erzählung der Geschichte jene konzeptionelle Phase, in der sich das Zauberberg-Projekt allmählich zu einem Roman-Plan verdichtet. Das bedeutet aber, dass die erzählte Geschichte die Erzählung der Geschichte gerade in jener entscheidenden Zeitspanne der Vorkriegszeit selbst noch einmal einholt. Thomas Mann sieht hierin »das Mysterium der Zeit«,30 das für diesen Roman konstitutiv ist. Er hat daher für den Roman den Gattungsbegriff des ›Zeitromans‹ vorgeschlagen und ihm eine doppelte Definition gegeben: Er [Der Zauberberg; O.J.] ist ein Zeitroman in doppeltem Sinn: einmal historisch, indem er das innere Bild einer Epoche, der europäischen Vorkriegszeit, zu entwerfen versucht, dann aber, weil die reine Zeit selbst sein Gegenstand ist, den er
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Mann: Einführung in den Zauberberg, S. 611.
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nicht nur als die Erfahrung seines Helden, sondern auch in und durch sich selbst behandelt. Das Buch ist selbst das, wovon es erzählt; denn indem es die hermetische Verzauberung seines jungen Helden ins Zeitlose schildert, strebt es selbst durch seine künstlerischen Mittel die Aufhebung der Zeit an durch den Versuch, der musikalisch-ideellen Gesamtwelt, die es umfaßt, in jedem Augenblick volle Präsenz zu verleihen und ein magisches ›nunc stans‹ herzustellen.31
Zunächst zur historischen Dimension dessen, was Thomas Mann auf diese Weise als Zeitroman bezeichnet. Als der Krieg am 1. August 1914 ausbricht, ist Thomas Mann sofort bewusst, dass die Geschichte Hans Castorps mit eben diesem Ereignis an ihr Ende kommen wird. Dieses Ende besitzt für die Konzeption eine entscheidende Bedeutung, weil die Erzählung von Beginn an so angelegt ist, dass sie an ein solches Ende kommen musste. Auch darin drückt sich die Eigentümlichkeit der Modernität des Romans aus. Die Erzählung ist immerhin so traditionell konzipiert, dass sie Anfang und Ende haben musste und diese beiden Ereignisse konstitutiv sind für die Geschichte wie auch für ihre Erzählung. Auf diese beiden Ereignisse stützt sich der Spannungsbogen der erzählten Geschichte. Dies unterstreicht eher ihren traditionellen Charakter. Dass diese Geschichte ein vages, offenes Ende insofern hat, als der Tod des Helden nicht explizit bestätigt, sondern nur mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen wird, fällt dabei nicht ins Gewicht. Modern hingegen ist aber der Krieg als terminierendes Ereignis, das in die Erzählzeit fällt und erst in der Erzählzeit als terminierendes Ereignis aufgenommen wird. Schon am 22. August 1914 schreibt Thomas Mann an seinen Verleger Samuel Fischer: Das Problem, das mich nicht erst seit Gestern ganz beherrscht: der Dualismus von Geist und Natur, der Widerstreit von civilen und dämonischen Tendenzen im Menschen, – im Kriege wird dieses Problem ja eklatant, und in die Verkommenheit meines ›Zauberberges‹ soll der Krieg von 1914 als Lösung hereinbrechen, das stand fest von dem Augenblick an, wo es los ging […].32
Der Krieg hat demnach die Funktion, ein Konfliktpotenzial zur vollen Entfaltung zu bringen, das geradezu zeittypisch schon vor dem Krieg angelegt war. Als terminierendes Ereignis hat der Krieg eine retrospektive Bedeutung. Er lässt die Ereignisse in seinem Vorfeld als Vorgeschichte erscheinen. Die Geschichte des Zauberbergs läuft also, nachdem erst einmal dieses Ende der Geschichte feststand, geradezu zwangsweise, mit einer immanenten Logik, auf dieses Ende zu. Nun ist aber der Erste Weltkrieg selbst ein Ereignis, das einen grundsätzlichen Wandel nicht nur der politischen Verhältnisse, sondern der _____________ 31 32
Mann: Einführung in den Zauberberg, S. 611f. Thomas Mann an Samuel Fischer, 22. August 1914, in: Ders.: Selbstkommentare. Der Zauberberg, S. 11. Vgl. auch Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkunh, S. 194.
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gesamten Lebenswelt mit sich bringt. Thomas Mann selbst schreibt im zitierten Brief von einer »Friedenswelt, die jetzt mit so erschütterndem Getöse zusammengestürzt ist«.33 Nun kann man diese geschichtsbildende Kraft eines solchen Ereignisses selbst wiederum mit Modernität in Verbindung bringen. Die grundlegende Veränderung eines kulturellen Makrokosmos, wie es das Europa der Vorkriegszeit darstellt, verdichtet nicht nur die Tendenzen der Moderne, wie es Thomas Mann für die Konzeption beschreibt, sondern markiert auch einen Epochenwechsel, da nun auch politisch Realität wird, was kulturell schon vielfach antizipiert wurde. Von einer literarischen Moderne spricht man mit Blick auf die neuen Tendenzen in der Literatur um 1900. Der Erste Weltkrieg kann daher insgesamt als Terminus ad quem der Kultur der Moderne um 1900 gelten; er ist, wenn man so will, ein modernes Ereignis unüberbietbarer Größenordnung. Wenn nun ein Roman den Ersten Weltkrieg selbst thematisiert, so kann er allein dadurch zu einem modernen Roman werden. Im Zauberberg wird der Erste Weltkrieg aber nicht allein thematisiert, er bekommt eine für die erzählte Geschichte konstitutive narrative Funktion. Ja, mehr noch: Der Krieg wird zu einem Sinnhorizont, vor dem die einzelnen Tendenzen der Vorkriegszeit, die im Roman als ideologische Positionen verhandelt werden, überhaupt erst ihre volle Bedeutung gewinnen. Auf den Krieg sind alle diese Positionen zu beziehen. Sowohl Settembrinis Behauptung der Vernunft als auch die irrationale Gegenkraft, verkörpert durch Naphta, sind lediglich Positionen, die in ihrer Unvereinbarkeit nicht nur zur Vorgeschichte des Krieges gehören, sondern die mörderische Gewalt schon mit vorbereiten. Anschaulich wird dies im Duell der beiden in ihren Positionen ebenso dogmatischen wie unversöhnlichen Disputanten, in dem der eine, Settembrini, zwar in die Luft schießt, der andere, Naphta, jedoch Selbstmord begeht. Am deutlichsten wird dies aber an Castorp selbst. Im semantischen Raum des Zauberbergs begegnet er zwar wie nirgendwo bisher in seinem Leben seiner persönlichsten Disposition, dem »Ästhetenproblem«34 der ›Sympathie mit dem Tode‹, aber im Zauberberg begegnen ihm auch die entscheidenden Gegenkräfte zu der aus dieser Sympathie resultierenden Tendenz. Aber dass Hans Castorp, auch wenn es einzelne Momente gibt, in denen sich für ihn eine positive Lösung abzeichnet, schließlich diesen Konflikt dennoch nicht überwinden kann, wird aus der Perspektive des Krieges und seines
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Mann an Samuel Fischer, 22. August 1914, S. 11. Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung, S. 194.
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möglichen und wahrscheinlichen Endes her gleichermaßen als entscheidende »Vorgeschichte des Krieges«35 deutbar und gedeutet. Damit aber gewinnt der Krieg in seiner zeitlichen Dimension eine Funktion, die ganz ähnlich der Funktion des semantischen Raumes des Zauberbergs selbst ist. Beide Momente, das räumliche Moment des Zauberbergs und das zeitliche Moment des Krieges, lassen die handlungsleitenden Konflikte des Helden überhaupt erst in ihren für die Geschichte konstitutiven Strukturen hervortreten, beide Momente verleihen dem, was in ihnen – räumlich und zeitlich – geschieht, überhaupt erst die Bedeutung, beide sind Pole der Orientierung. Der Krieg wird damit zum zeitlichen Korrelat des Raums des Zauberbergs. Weiterhin ist dem Kriegsbeginn nicht nur das Ende des Romans gegeben, sondern mit dem Krieg selbst entsteht überhaupt erst die Konzeption des Projekts als Roman.36 Noch im Juni 1914 ist von einer Novelle die Rede, im Mai 1915 »spricht [Thomas Mann] erstmals kühn von einem ›Roman‹, dann aber doch wieder von einer ›Erzählung‹ oder ›größeren Erzählung‹, Ende 1916 vorsichtig von einem ›kleinen Roman‹. Erst ab 1917 bleibt es unumwunden bei ›Roman‹!«37 In dieser Ausweitung des Projekts über die Gattungsgrenzen hinweg, in dieser Selbstfindung des Projekts in der Form eines Romans ist der Krieg nicht nur Sinnhorizont der erzählten Geschichte, sondern gleichzeitig auch Prinzip und Movens der Konzeption des Romans selbst. Der Zauberberg ist also ein moderner Roman, nicht nur weil er eine moderne Geschichte oder auch eine Geschichte der Moderne erzählt, sondern auch, weil er das Moderne, das mit dem Ersten Weltkrieg gegeben ist, zum Strukturprinzip seiner Konzeption macht. Modern ist der Roman in seiner Genese. Seine Genese ist vielfach und konstitutiv bedingt durch Entwicklungen, die die Moderne ausmachen und determinieren. Und gerade deswegen ist der Roman auf besondere Weise mit dem Zeitgeschehen, das er sowohl inhaltlich als auch thematisch als auch strukturell aufnimmt, verknüpft. So wie die Genese seiner Form aus diesem Zeitgeschehen – nicht zuletzt auch nach dem Ersten Weltkrieg – hervorgeht, so kann er sich umgekehrt dem Zeitgeschehen öffnen und es strukturbildend in seine Konzeption aufnehmen.38 Da dies, _____________ 35 36 37 38
Mann an Samuel Fischer, 22. August 1914, S. 11. – Vgl. hierzu auch Stefan Bodo Würffel: Zeitkrankheit – Zeitdiagnose aus der Sicht des Zauberbergs. Die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges – in Davos erlebt, in: Das Zauberberg-Symposium 1994 in Davos, S. 197-224. Vgl. hierzu auch Heinz Saueressig (Hg.): Besichtigung des Zauberbergs. Biberach a.d.R. 1974. Neumann: Kommentar, S. 19. Vgl. Eva Wessell: Der Zauberberg, in: Interpretationen. Thomas Mann. Romane und Erzählungen. Hg. v. Volkmar Hansen. Stuttgart 1993, S. 121-150, hier S. 138 – Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung, S. 194.
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wie gesagt, Ereignisse der Moderne sind, handelt es sich beim Zauberberg um einen modernen Roman. Und schließlich betrifft die Zeitstruktur auch Thomas Manns eigene Entwicklung. Man darf nicht vergessen, dass Thomas Mann während der langen Phase der Konzeption und Niederschrift von 1912 bis 1924 selbst ganz erhebliche intellektuelle und weltanschauliche Krisen durchlebt hat und schließlich zu einer neuen, nicht nur politischen Orientierung gelangt ist.39 Dass nun Hans Castorp zwischen verschiedenen Positionen schwankt, dass er ganz unterschiedlichen pädagogischen Einflüssen, erotischen Verstrickungen und intellektuellen Infektionen, um die Krankheitsmetapher des Romans aufzugreifen, ausgesetzt ist, ist auch auf diese lange Entstehungszeit des Romans zurückzuführen. Der Roman bringt nicht nur die erheblichen Veränderungen, ja geradezu grundlegenden Umwälzungen in der politischen ebenso wie in der kulturellen Landschaft zum Ausdruck, er dokumentiert darüber hinaus auch noch die gewaltigen Verwerfungen in der Weltanschauung ihres Autors. Der Roman dokumentiert damit seine eigene Genese – und das macht ihn zu einem Zeitroman in einer besonderen Bedeutung des Begriffs. Insofern ist der Begriff des Zeitromans durchaus nützlich, wenn es gilt, seine Modernität zu erfassen. Und aus demselben Grund kann man dem Ergebnis von Hermann Kurzke, dass es sich »letzten Endes nicht um einen Zeitroman« handele, schwerlich zustimmen. Sein Argument lautet: »Nicht die Mimesis der Vorkriegszeit steuert die Auswahl der Details, sondern eine schopenhauerisierende Metaphysik, die alles Wirkliche zur Allegorie entwertet, weil sie auf ein anderes verweisen lässt.«40 Doch damit wird der Begriff des Zeitromans allzu eng auf die historische Dokumentation festgelegt und die Semantisierung nicht nur des Raumes des Zauberbergs, sondern einzelner Details, und darauf stützt sich Kurzke und nennt dann auch das Zigarrenrauchen Castorps als Beispiel, fälschlich gegen diese Zeitstruktur ausgespielt. Doch der Raum und die Zeit bedingen sich hier, wie gezeigt, gegenseitig. Die Semantisierungen sind ebenso an den Raum gebunden, in dem sich das erzählte Geschehen abspielt, wie an die Zeit. Es ist sogar so, dass dasjenige, was mit dem Begriff des Zeitromans bezeichnet wird, die Voraussetzung für all die Semantisierungen darstellt, die der Roman vorführt und die schon in Thomas Manns Selbsteinschätzung einen modernen Roman ausmachen. Aber selbst wenn man sich sowohl von Thomas Manns Idee eines modernen Romans als auch von seiner Idee eines Zeitromans distanziert und statt dessen nur auf den strukturellen Gehalt blickt, der sich mit diesen Begriffen textanalytisch _____________ 39 40
Vgl. Jürgen Jacobs, Markus Krause: Der deutsche Bildungsroman. Gattungsgeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. München 1989, S. 211. Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung, S. 211.
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verbinden lässt, dann erkennt man Strukturen, die als Strukturen des modernen Romans identifiziert werden dürfen. Um es deutlich zuzuspitzen: Der Zauberberg ist als Zeitroman ein moderner Roman.
Ästhetik und Politik und die Überwindung der ›Sympathie mit dem Tode‹ Dies wird insbesondere an den politischen Essays deutlich, die Thomas Mann während der langen Zeit der Konzeption und Niederschrift des Romans zusätzlich geschrieben hat. Zu nennen sind insbesondere der große frühere Essay Betrachtungen eines Unpolitischen aus dem Jahre 1918 und der Essay Von deutscher Republik, zuerst als Rede gehalten, aus dem Jahre 1922. Dass man diese Texte, namentlich den früheren, als Parerga lesen darf, darauf macht Thomas Mann selbst aufmerksam.41 Diese Essays enthalten demnach nicht zuletzt politische Erwägungen, die zugleich konzeptionelle Überlegungen für den ideologischen Hintergrund der Romanhandlung abgeben. Als Thomas Mann in einem Brief 1917 Paul Amann die Konzeption des Romans erläutert, macht er ganz klar: »Und die Betrachtungen muß ich nur deshalb schreiben, weil infolge des Krieges der Roman sonst intellektuell überlastet worden wäre.«42 Aus dieser Blickrichtung erscheinen die Betrachtungen eines Unpolitischen als so etwas wie das konzeptionelle Substrat aus dem Roman, um diesen stärker auf die Handlung und die Darstellung des Konfliktes konzentrieren zu können. Sie dienen – wie Hermann Kurzke sagt – schlichtweg »der stofflichen Entlastung des Romans«.43 Nimmt man beide Essays zusammen, so erkennt man gerade auf diesem Gebiet, wo, anders als im Roman, die Konzeptionen sozusagen ohne stoffliche Anreicherung, ohne fiktionale Ausgestaltung durch eine erzählte Geschichte, zum Ausdruck kommen, wie deutlich der Erste Weltkrieg selbst in die Konzeptionsphase des Romans eingeflossen sein muss. Denn es geht ja nicht nur darum, den Krieg als bedeutungsstiftendes Element der erzählten Geschichte und der Erzählung der Geschichte zu funktionalisieren. Der Krieg bringt eine ganz erhebliche Veränderung in der politischen Einschätzung des Krieges durch Thomas Mann mit sich, die erst einmal in das narrative Substrat des Zauberbergs eingearbeitet werden muss_____________ 41 42 43
Ich stütze mich hier auf eine Formulierung von Wysling: Der Zauberberg, S. 407, zum Essay Über die Ehe aus dem Jahre 1925. Thomas Mann an Paul Amann, 25. März 1917, in: Ders.: Selbstkommentare. Der Zauberberg, S. 15. Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung, S. 194.
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te. Oder, wenn man den Blickwinkel wechselt, so könnte man auch sagen, dass der Zauberberg und seine Konzeption diese veränderte Einstellung nicht nur integrieren, sondern geradezu auffangen, abfedern und schließlich auch anschaulich, fiktional erproben mussten. Dass der Roman so unmittelbar davon betroffen war, liegt auch daran, dass es Thomas Mann nicht nur um politische Ansichten zu tun war, sondern immer auch um den Zusammenhang von Politik und Ästhetik. Erst aus diesem Zusammenhang heraus war auch die kulturkonstitutive Bedeutung zu erklären, die Thomas Mann im früheren Essay dem Krieg im Hinblick auf eine Einschätzung der und des Deutschen geben wollte. Will man diese Veränderungen so zusammenfassen, dass dadurch die für den Roman und seine Konzeption entscheidende Veränderung sichtbar wird, so könnte man von einer veränderten Einschätzung hinsichtlich der kulturellen Bedeutung des Krieges sprechen. Sahen die Betrachtungen eines Unpolitischen den Krieg als Möglichkeit der kulturellen Selbstbehauptung der Deutschen, so hat der Krieg im späteren Essay »sein positives Element verloren«.44 Diese veränderte Bedeutung wiederum muss auf eine veränderte Konstellation kulturbildender Kräfte zurückgeführt werden, die im Roman als ideologische Prinzipien wiedererkennbar sind. Im früheren Essay erscheint der Krieg geradezu als Lösung von Konflikten eines in sich selbst befangenen Ästhetentums,45 das darüber hinaus auch noch so etwas wie Kulturbildung mit sich brachte. Darin drückt sich eine versteckte Hoffnung auf, dass Krieg Ästhetik und Politik nicht nur versöhnt, sondern wechselseitig in Dienst nimmt. Mit dem späteren Essay wird klar, dass die Hoffnung getrogen hatte. Vielmehr gilt es, dasjenige Motiv, das diese Hoffnung überhaupt erst getragen hatte, selbst zu überwinden und in eine Konstellation ausgleichender und ausgeglichener Gegensätze zu integrieren. Nunmehr wird, wenn man auf Hans Castorps Geschichte blickt, dies die eigentliche ästhetische Leistung mit politischen – Thomas Mann würde in diesem Zusammenhang sagen – republikanischen Implikationen. Strukturell gesehen könnte man sagen, dass die frühere Position nicht mehr den ideologischen Hintergrund abgeben kann, sondern nun selbst zum Gegenstand weitergehender Reflexionen im Roman geworden ist und in einer auf Ausgleich bedachten Konstellation relativiert wird. Dieses Motiv ist die ›Sympathie mit dem Tode‹.46 Diese Wendung galt Thomas Mann zunächst als »Formel und Grundbestimmung aller Roman_____________ 44 45 46
Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung, S. 195. Vgl. Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung, S. 194. Vgl. Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung, S. 194, und zur Vorgeschichte des Begriffs ebd., S. 179ff. – Wysling: Der Zauberberg, S. 408ff. – Jacobs, Krause: Der deutsche Bildungsroman, S. 213f.
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tik«47 (XII, S. 424), sie wird zuerst in einem Brief an Heinrich Mann, dann aber in einem Brief an Paul Amann aus dem Jahre 1915 verwendet, der bereits die Konzeption des Zauberbergs skizziert: Ich hatte vor dem Kriege eine größere Erzählung begonnen, die im Hochgebirge, einem Lungensanatorium spielt, – eine Geschichte mit pädagogisch-politischen Grundabsichten, worin ein junger Mensch sich mit der verführerischsten Macht, dem Tode, auseinanderzusetzen hat und auf komisch-schauerliche Art durch die geistigen Gegensätze von Humanität und Romantik, Fortschritt und Reaktion, Gesundheit und Krankheit geführt wird, aber mehr orientierend und der Wissenschaft halber, als entscheidend. Der Geist des Ganzen ist humoristischnihilistisch, und eher schwankt die Tendenz nach der Seite der Sympathie mit dem Tode.48
Und noch im Jahre 1942, im Vortrag über Joseph und seine Brüder wiederholt Thomas Mann diese dichotomische Struktur, die er dann als Dialektik ausgibt und die er in den Kontext des Zeitromans stellt: Der Held jenes Zeitromans war nur scheinbar der freundliche junge Mann, Hans Castorp, auf dessen verschmitzte Unschuld die ganze Dialektik von Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit, Freiheit und Frömmigkeit pädagogisch hereinbricht: in Wirklichkeit war es der homo dei, der Mensch selbst mit seiner religiösen Frage nach sich selbst, nach seinem Woher und Wohin, seinem Wesen und Ziel, nach seiner Stellung im All, dem Geheimnis seiner Existenz, der ewigen Rätsel-Aufgabe der Humanität.49
Daraus geht hervor, dass dieses Motiv im semantischen Raum des Zauberbergs Teil einer grundsätzlichen Oppositionsrelation wird, die zur Grundstruktur des gesamten Romans wird. Hermann Kurzke hat dies, gestützt vor allem auf die Arbeit von Børge Kristiansen,50 als »Antithesenschema« abermals in seiner oppositionellen Struktur herausgearbeitet.51 Grundmuster dieses Schemas ist die Gegenüberstellung von bürgerlicher Form und unbürgerlicher Unform, die zum Ausdruck bringt, dass die bürgerliche Lebensform es ist, die dem Leben überhaupt erst Form verleihen kann. Auf der Seite der bürgerlichen Form stehen Figuren wie Settembrini, auf der Gegenseite Figuren wie Chauchat oder Hippe (oder auch, wenn man die Entwicklungslinie zurückverfolgt, Tadzio). Unter die bürgerliche Form subsumiert Kurzke – und ich ergänze und variiere diese Liste geringfügig – erzählerische Elemente wie das Flachland, den Westen, die Gesundheit, _____________ 47 48 49 50 51
Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 424. Thomas Mann an Paul Amann, 3. August 1915, in: Ders.: Selbstkommentare. Der Zauberberg, S. 12. Thomas Mann: Joseph und seine Brüder, in: Ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. XI, S. 654-669, hier S. 657f. Vgl. Børge Kristiansen: Unform – Form – Überform. Thomas Manns Zauberberg und Schopenhauers Metaphysik. 2. Aufl. Bonn 1985. Vgl. Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung, S. 198; der Begriff «Antithesenschema« findet sich auf S. 187.
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das Licht (der Aufklärung), das Siezen, die deutsche Sprache, die deutliche Aussprache, die guten Manieren, die Nichtraucher, die Arbeit, das Land, das Bewusstsein, die Politik und die Disziplin, auf der Gegenseite die Höhe und den Zauber des Bergs, die Krankheit (aber auch die Erotik ist unbedingt dazuzuzählen), die Dämmerung oder Dunkelheit (der Romantik), das Duzen, das Russische oder das Französische, das Lallen, die schlechten Manieren (Türenknallen), die Raucher, die Faulheit, das Meer bzw. den Schnee, den Traum und Rausch, die Musik bzw. generell das Ästhetische, das Sich-Gehenlassen. Einige dieser Oppositionsrelationen sind aus anderen Texten her bekannt, insbesondere z.B. die Gegenüberstellung von Disziplin und Sich-Gehenlassen in der Charakterisierung Gustav von Aschenbachs, andere sind in dieser narrativen Entfaltung neu, wie die Gegenüberstellung von Gesundheit auf der einen Seite und die Verbindung von Krankheit und Erotik auf der anderen Seite. So sehr aber auch ein solches Schema die Komplexität des Romans zu vereinfachen scheint, so brauchbar ist es doch, wenn es darum geht, Orientierungspole der semantischen Grundstruktur zu eruieren. Aber noch in anderer Hinsicht besitzt dieses Schema eine gewisse Plausibilität. Dass sich solche Dichotomien aufspannen lassen, muss gleichermaßen auf die traditionelle Erzählweise des Romans zurückgeführt werden. So wie die Erzählung in einem klaren Spannungsbogen zwischen dem Ausgangspunkt des Eintritts in den Zauberberg und dem Austritt in den Ersten Weltkrieg verläuft, so deutlich wird das Spektrum jener Orientierungspole entfaltet, die den Weg des Helden zwischen Anfang und Ende der Geschichte determinieren. In dieser klaren Entfaltung der Erzählstruktur und mithin auch in seiner Erzählweise ist der Roman durchaus traditionell. Aber wenn gesagt wurde, dass der Roman als Zeitroman modern ist, dann bestätigt sich dies insbesondere an den dynamischen Veränderungen, die die Geschichte innerhalb dieser Konstellation vornimmt. Diese Dynamik ist eine Dynamik der Werkentwicklung selbst, wie sie im Zauberberg und hier vor allem an der Fortführung des erotischen Komplexes zum Ausdruck kommt, wie auch an der Dynamik in der Konstellation konzeptioneller und ideologischer Positionen innerhalb des Raumes des Zauberbergs.
Gustav von Aschenbach und Hans Castorp: Homosexualität und Ehe Beide Momente, die Dynamik der Werkentwicklung ebenso wie die Dynamik innerhalb des Romans, werden mit Blick auf die Veränderungen gegenüber dem Tod in Venedig 1912 besonders deutlich. So wie der Zauberberg seinen narrativen ebenso wie konzeptionellen Abschluss durch den
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Krieg findet, so hat er seinen Ursprung darin, dass sich Thomas Mann einem neuen und anderen Stoff zuwendet, mit dem er sich von der Novelle Der Tod in Venedig abwendet und absetzt. Die Arbeit am Tod in Venedig war noch nicht abgeschlossen, als sich die erste Idee zum Zauberberg ergab. Berühmt geworden sind Thomas Manns Einschätzungen zum Verhältnis dieser beiden Werke; die erste stammt aus dem Jahre 1913, als er in einem Brief an Ernst Bertram von einer »Art von humoristischem Gegenstück zum ›Tod i[n] V[enedig]‹«52 spricht, die andere aus der Zeit nach der Publikation des Romans, aus einem Brief an Oskar H. A. Schmitz aus dem Jahre 1925, wo er nochmals die ursprünglich recht bescheidene Konzeption als »eine Art von Satyrspiel zum ›Tod in Venedig‹«53 wiederholt. In der Tat finden sich zahlreiche Unterschiede, die jedoch so deutlich aufeinander zu beziehen sind, dass darin das Prinzip einer direkten alternativen Differenzierung zu sehen ist. Hermann Kurzke hat die wichtigsten Entsprechungen herausgestellt; er ordnet Gustav von Aschenbach Hans Castorp zu, Venedig Davos, den »Hadesführer[n]« und Todesboten der Novelle die »Totenrichter«54 des Romans Behrens und Krokowski, Tadzio Clawdia Chauchat, der Cholera die Tuberkolose und dem Meer den Schnee. In der Entwicklung von Gustav von Aschenbach zu Hans Castorp wird eine Konfliktlinie vom Frühwerk verlängert und auf eine neue Ebene gehoben. Gustav von Aschenbach hatte ja schon ein Problem gelöst, das die frühen Ästheten und Dandys gerade nicht lösen konnten, nämlich die Verbindung von Ästhetentum und Bürgerlichkeit. Doch auch diese Verbindung war nur um den Preis des Todes zu bewerkstelligen. Dass nunmehr Hans Castorp überhaupt kein Ästhet und keine Künstlerfigur mehr ist, befreit diese Figur nicht nur von diesem Problem, sondern erlaubt es nun auch, die mit dem Ästhetentum verbundene Sympathie mit dem Tode als Position zu objektivieren und damit selbst zum Gegenstand der Konzeption des Romans zu machen. Es geht nun nicht mehr um einen Konflikt zwischen Bürgerlichkeit und Künstlertum, vielmehr ist dieser Konflikt aufgehoben in einen wesentlich grundlegenderen Konflikt zwischen der Sympathie mit dem Tode auf der einen Seite und dem Bekenntnis zum Leben auf der anderen Seite. War also der Knabe Tadzio selbst eine Figur, die durch ihre homoerotische Ausstrahlung das Konzept des geradezu aseptischen Bürgerkünstlers Gustav von Aschenbach in Frage stellen konnte, so nimmt Clawdia Chauchat zwar dessen erotisches Poten_____________ 52 53 54
Thomas Mann an Ernst Bertram, 24. Juli 1913, in: Ders.: Selbstkommentare. Der Zauberberg, S. 7. Thomas Mann an Oskar A. H. Schmitz, 20. April 1925, in: Ders.: Selbstkommentare. Der Zauberberg, S. 63. Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung, S. 193.
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zial auf, entfaltet es aber auf einem anderen Gebiet. Dass hier eine Entwicklungslinie besteht, wird am deutlichsten an den homoerotischen Komponenten auch dieser erotischen Erfahrung von Hans Castorp. Deswegen ist die Reminiszenz an den Jugendfreund Pribislav Hippe auch immer noch leitend für die erotische Erfahrung mit Clawdia Chauchat. Zwar wird damit zugleich ein homoerotisches Element in dieser Beziehung reaktiviert, aber doch zugleich auch schon weiterentwickelt.55 Dass Hans Castorp kein Künstler wie Gustav von Aschenbach ist, findet seine Entsprechung darin, dass die Figur der Clawdia Chauchat, trotz aller homoerotischen Reminiszenzen, eben kein Knabe mehr ist. Diesen Übergang zwischen Tadzio und Clawdia Chauchat, obschon sie beide mehr oder weniger, tatsächliche oder potenzielle Todesfiguren sind, kann man sich in seiner konzeptionellen Entwicklung am bestem mit einem Blick auf Thomas Manns Essay Über die Ehe aus dem Jahre 1925, also kurz nach dem Zauberberg geschrieben, verdeutlichen, ein Essay, der Hans Wysling zufolge »als Parergon zum Zauberberg gelesen werden muß«.56 Hermann Kurzke hat das ›Antithesenschema‹ entfaltet, das Thomas Mann in diesem Essay nutzt, um seine Idee der Bisexualität zu konkretisieren, und das zugleich ein strukturelles Dispositiv jenes Konflikts abgibt, der dann auch der oppositionellen Konstellation zwischen Settembrini und Chauchat, zwischen Vernunft und Eros zugrunde liegt.57 Auf der einen Seite stehen demnach die Homosexualität, die Kunst und der Tod, auf der anderen die Ehe und das Leben. Künstlertum und Bürgertum, und somit auch Ästhetik hier und Ethik dort, werden gegenübergestellt. Die erste Sphäre wird mit Unnützlichkeit, Unfruchtbarkeit, mit Libertinage und mit Individualismus, mit Verantwortungslosigkeit und Pessimismus, die andere mit Nützlichkeit und Kindern, Treue, Lebenstüchtigkeit und sozialer Verantwortung, mit Pflichtgefühl und -erfüllung verknüpft.
Settembrini, Chauchat, Naphta Anders als bei Tadzio geht es nicht mehr allein um unterschiedliche Lebenskonzepte, sondern um die Frage nach Leben und Tod überhaupt. Denn die Figur der Clawdia Chauchat ist die deutlichste Verkörperung des Zusammenhangs von Krankheit und Erotik. Damit vereint diese Figur die _____________ 55 56 57
Vgl. hierzu Karl Werner Böhm: Die homosexuellen Elemente in Thomas Manns Zauberberg, in: Hermann Kurzke (Hg.): Stationen der Thomas-Mann-Forschung. Beiträge seit 1970. Würzburg 1985, S. 145ff. Wysling: Der Zauberberg, S. 407. Vgl. Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung, S. 187.
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beiden wichtigsten Tendenzen, die auf die Auflösung nicht nur der bürgerlichen Formen, sondern des Lebens selbst hinführen, und damit wird sie im ersten Teil des Romans, also in den ersten fünf Kapiteln (das ist zugleich der Inhalt des ersten Bandes in der zweibändigen Buchausgabe der Erstausgabe des Jahres 1924), auch zum wichtigsten Gegenspieler von Settembrini,58 noch bevor die andere Gegenfigur zu Settembrini, Leo Naphta, auftritt. Der grundlegende Gegensatz, der mit diesem Figurenpaar anschaulich gemacht wird, ist nicht der zwischen unterschiedlichen pädagogischen Positionen, sondern zwischen Vernunft und Eros.59 Dennoch gibt es Ähnlichkeiten: Beide Männer, der Künstler Gustav von Aschenbach und der Bürgersohn Hans Castorp, können sich, einmal eingetreten, nicht mehr aus jenem Bereich befreien, den diese Figuren repräsentieren. Doch wo Tadzios Auftreten noch sehr eng an den Tod Gustav von Aschenbachs geknüpft ist, kann man den Tod Castorps, der ohnehin vage ist, keinesfalls Clawdia Chauchat direkt anlasten. Und das ist vielleicht die entscheidende Veränderung: Der Konflikt wird nicht nur grundlegender, sondern mit Clawdia Chauchat in der Konstellation anderer Figuren, insbesondere Settembrini im ersten Teil und Peeperkorn im zweiten Teil des Romans, gelingt es dem Erzähler, am Beispiel Hans Castorps diesen Konflikt selbst noch einmal reflexiv einzuholen. Dass sich im späteren Verlauf des Romans Settembrini und Naphta gegenüberstehen, ist also bereits durch den Gegensatz von Settembrini und Chauchat vorbereitet gewesen, aber nicht in dem Sinne, dass Naphta an die Stelle Chauchats tritt, sondern dass der Gegensatz Settembrini– Naphta eine Neukonstellation des ersten Gegensatzes mit sich bringt. Mit diesen beiden Gegenspielern wird der erste Gegensatz zwischen Eros und Vernunft vielmehr abgelöst und sogar in seinem Charakter verändert. In der Gegenüberstellung mit Chauchat warnt Settembrini vor allem vor der Verführungskraft jener Verbindung aus Krankheit und Erotik, die die Frau verkörpert. Er benutzt dazu das mythologische Bild der Verwandlung der Männer in Schweine aus der Odyssee (vgl. Z 375).60 Dass nun gerade beim Versuch, ein Schwein zu zeichnen, Hans Castorp von Clawdia Chauchat jenes Männlichkeitssymbol, einen Bleistift, erhält dessen Rückgabe ihn endgültig ihrer erotischen Verführungskraft anheimfallen lässt, muss nicht verwundern und zeigt die enge Motivtextur des Romans. Die neue Konstellation führt zu einer stärkeren Theoretisierung und Pädagogisierung des Konflikts. Settembrini gilt als Vertreter der Aufklärung, sein zentraler Gedanke ist der des »Fortschrittes und der Aufklä_____________ 58 59 60
Vgl. Jacobs, Krause: Der deutsche Bildungsroman, S. 217. Vgl. Wysling: Der Zauberberg, S. 401. Vgl. Jacobs, Krause: Der deutsche Bildungsroman, S. 218.
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rung« (Z 96; vgl. auch Z 373), seine zentralen Werte bzw. Ideen sind »Persönlichkeit, Menschenrecht, Freiheit« (Z 602). In der Auseinandersetzung mit Naphta geht es ihm nicht mehr um eine Gegenkraft gegen die Sympathie mit dem Tode, sondern um eine aufklärerische Position, die in der Zivilisation – im Sinne des Zivilisationsliteraten, wie ihn Thomas Mann im Essay Betrachtungen eines Unpolitischen entworfen hat – ihren höchsten kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Wert besitzt. Naphta hingegen ist eine sehr komplexe Figur, in die verschiedenste Vorgaben eingeflossen sind.61 Gegenüber Settembrini predigt Naphta den »heiligen Terror, dessen die Zeit bedarf« (Z 1057). In der Krankheit – im völligen Gegensatz zu Settembrini – sieht er die »Würde des Menschen« (Z 701) und dementsprechend leugnet seine Pädagogik die zentralen Werte von Settembrinis Weltbild: Alle wahrhaft erzieherischen Verbände haben von jeher gewußt, um was es sich in Wahrheit bei aller Pädagogik immer nur handeln kann: nämlich um den absoluten Befehl, die eiserne Bindung, um Disziplin, Opfer, Verleugnung des Ich, Vergewaltigung der Persönlichkeit. Zuletzt bedeutet es ein liebloses Mißverstehen der Jugend, zu glauben, sie finde ihre Lust in der Freiheit. Ihre tiefste Lust ist der Gehorsam. (Z 603)
Selbst seine politische Position ist schwer zu charakterisieren, umfasst sie doch sowohl reaktionäre als auch progressive Positionen zwischen katholischem Konservatismus und kommunistisch-proletarischer Revolution. Zusammenfassend könnte man sagen, dass er all jene Positionen synthetisiert, die gegenüber der aufgeklärten Zivilisation eines Settembrini als Radikalisierungen gelten können. Daran wird aber auch deutlich, dass diese synthetische Figur mit jüdischer Herkunft, jesuitischer Ausbildung und revolutionärem Engagement in der Funktion aufgeht, die Gegenposition zu Settembrini zu besetzen. Während es bei Settembrini und Chauchat noch um die Möglichkeiten der Einflussnahme und der Rekrutierung bzw. der Verführung ging, so geht es nunmehr zwischen Settembrini und Naphta um die Ausformulierung pädagogischer Positionen. Im Zuge ihrer radikalisierten ideologischen Positionen verlieren die beiden ihr Objekt, Hans Castorp nämlich, aus den Augen,62 was wiederum zur Folge hat, dass sich Castorp selbst von diesem Konflikt distanziert, wo es »ihm […] schien, als ob irgendwo inmitten zwischen den strittigen Unleidlichkeiten, zwischen rednerischem Humanismus und analphabetischer Barbarei das gelegen sein müsse, was man als das Menschliche oder Humane versöhnlich ansprechen durfte« _____________ 61 62
Vgl. hierzu Herbert Lehnert: Leo Naphta und sein Autor, in: Orbis Litterarum 37 (1982), S. 47-69. Vgl. hierzu Joachim Schoepf: Die pädagogischen Konzepte in Thomas Manns Zauberberg und ihre Wirkung auf die Hauptfigur Hans Castorp. Marburg 2001.
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(Z 788). Eben dadurch gelingt es ihm, diesen Konflikt auf eine neue Ebene zu heben und somit auch zu überwinden. Dies geschieht vor allem im Schneetraum.63 Er beginnt, unterstützt von Settembrini, als Loslösung vom Zauberberg, führt Castorp aber in die Sphäre von Krankheit und Erotik in der Rückerinnerung an Chauchat, ihre Augen und den Bleistift, zurück. Der Traum wird in einer Situation größter Orientierungslosigkeit geträumt und in seinem Ergebnis führt er zu einer neuen Orientierung, die aber anscheinend nicht von Bestand ist. Die beiden ersten Teile des Schneetraums, die idyllische Sonnenlandschaft und der Kannibalismus der Hexen im Tempel, können als bildhafte Verdichtungen unterschiedlicher Positionen der Kulturtheorie gelesen werden, in denen auch so etwas wie die unterschiedlichen Orientierungspole auf dem Weg Hans Castorps und nicht zuletzt die unterschiedlichen pädagogischen Positionen von Settembrini und Naphta auf allegorische Weise zum Ausdruck kommen. Der Schneetraum stellt das Ende einer Transitionsphase dar, die Hans Castorp zwischen Settembrini und Naphta durchläuft. Mit dem Fazit oder der Lehre, mit dem »fabula docet«,64 gelingt es Hans Castorp, diesen Gegensatz zu überwinden und sich »über das antithetische Gerede der beiden Pädagogen«65 hinwegzusetzen, indem er eine synthetische Position formuliert: Tod oder Leben – Krankheit, Gesundheit – Geist und Natur. Sind das wohl Widersprüche? Ich frage: sind das Fragen? Nein, es sind keine Fragen, und auch die Frage nach ihrer Vornehmheit ist keine. Die Durchgängerei des Todes ist im Leben, es wäre nicht Leben ohne sie, und in der Mitte ist des Homo Dei Stand – inmitten zwischen Durchgängerei und Vernunft – wie auch sein Staat ist zwischen mystischer Gemeinschaft und windigem Einzeltum. (Z 747)
Nach diesem Traum erscheinen ihm die Gegensätze nicht mehr als Gegensätze, die beiden Pädagogen aber als »Schwätzerchen« (Z 867), und er selbst fühlt sich als »Herr der Gegensätze« (Z 748). Als echte Synthese geht es dabei nicht um einen Kompromiss, sondern um ein erfolgreich absolviertes Durchgangsstadium und um eine neue Position, die die bisherigen Positionen deswegen überwinden kann, weil sie eine neue Qualität mit ins Spiel bringt. Die Absage an die Sympathie des Todes bringt Hans Castorp zu einer Bejahung des Lebens in Liebe: Ich will dem Tode keine Herrschaft einräumen über meine Gedanken! Denn darin besteht die Güte und Menschenliebe, und in nichts anderem. Der Tod ist eine große Macht. […] Vernunft steht albern vor ihm da, denn sie ist nichts als Tu-
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Wysling: Der Zauberberg, S. 411, nennt dessen Deutung eine bleibende «Crux der ThomasMann-Forschung«. Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung, S. 204. Wysling: Der Zauberberg, S. 415.
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gend, er aber Freiheit, Durchgängerei, Unform und Lust. Lust, sagt mein Traum, nicht Liebe. Tod und Liebe, – das ist ein schlechter Reim, ein abgeschmackter, ein falscher Reim. Die Liebe steht dem Tod entgegen, nur sie, nicht die Vernunft, ist stärker als er. […] Auch Form ist nur aus Liebe und Güte: Form und Gesittung verständig-freundlicher Gemeinschaft und schönen Menschenstaats – in stillem Hinblick auf das Blutmahl. […] Ich will dem Tode Treue halten in meinem Herzen, doch mich hell erinnern, daß Treue zum Tod und Gewesenen nur Bosheit und finstere Wollust und Menschenfeindschaft ist, bestimmt sie unser Denken und Regieren. Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken. Und damit wach’ ich auf… (Z 748; Hervorhebung im Original)
Diese Überwindung bislang immer deutlicher herausgestellter dichotomischer Strukturen durch die Liebe scheint nun so etwas zu sein wie der Zielpunkt der Argumentation des Romans. Dafür spricht, dass die entscheidende Erkenntnis sogar durch Kursivierung markiert wird. Dafür spricht auch, dass Thomas Mann selbst unzufrieden war, dass durch den Fortgang des Romans diese Synthese selbst wiederum in Frage gestellt wird. Thomas Mann spricht von einem »kompositionellen Fehler«, weil das »positive Erlebnis«66 nicht festgehalten wird und die Entwicklungslinie sich wieder, wie er es schon 1915 formuliert hatte, nach der Seite der Sympathie mit dem Tode zuneigt. Daneben gibt es weitere Faktoren, die dafür sprechen, dass damit nicht die Position des Romans selbst formuliert worden ist. So ist diese Erkenntnis selbst ein Produkt eines Traumes, nicht eines wachen Zustandes, der Bewusstheit. Zudem gibt es am Ende des Schnee-Kapitels ein Selbstdementi: »Was er geträumt, war im Verbleichen begriffen. Was er gedacht, verstand er schon an diesem Abend nicht mehr so recht.« (Z 751) Hermann Kurzke hat nach der Bedeutung und möglichen Einschätzung dieses ›Selbstdementis‹ gefragt und verweist dabei auf die Zweideutigkeit des Gedankentraums. Seine Erklärung zielt auf eine Unvereinbarkeit der ästhetischen und der ethischen Position, die in Hans Castorps Synthese zum Ausdruck kommt. »Was aber der politische Ethiker Thomas Mann in der aktuellen Tagespolitik für nötig hielt, konnte der Ästhet nicht mitvollziehen.« Und weiter: »Liest man ihn genau, so zeigt sich deutlich, dass er emotional bejaht (Treue zum Tode im Herzen), was er gedanklich verneint.«67 Diese Position Kurzkes beruht auf einer Deutung des Romans, die selbst wiederum auf einem Schopenhauer’schen Pessimismus ruht. Demnach beschreibt die Handlung des Romans eine argumentative Linie, deren Richtung grundsätzlich nach unten gerichtet, also auf die negativen Werte und konkret auf die Sympathie mit dem Tode ausgerich_____________ 66 67
Zitiert nach: Jacobs, Krause: Der deutsche Bildungsroman, S. 213; vgl. auch Wysling: Der Zauberberg, S. 412. Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung, S. 205.
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tet ist, weil es zwar die ethisch unhaltbare, aber die ästhetisch wesentlich interessantere Option darstellt. Doch man darf hier weder vorschnell Thomas Manns Selbstdeutung folgen noch Schopenhauers Philosophie als ausschließlichen Interpretationshorizont heranziehen. So wie der Schneetraum das Ende einer Transitionsphase darstellt, so ist er auch selbst einer fortgesetzten Folge von Transformationen und Neukonstellationen unterworfen. Von daher zeigt sich eine gewisse Notwendigkeit, auch noch einmal diese Position in Frage zu stellen. Stünde der Schneetraum wirklich am Ende des Romanes, hätte es des anderen Endes, des Krieges, nicht bedurft. Daran kann man ablesen, dass Thomas Manns Vermutung eines kompositionellen Fehlers durch die Anlage des Textes nicht gedeckt wird. Dass sich der Held also in einem Konfliktfeld zwischen Eros und Vernunft befindet, das sich zu einem pädagogisch-politischen Spannungsfeld zwischen Zivilisation und Radikalität wandelt, das eine Synthese erfährt, die selbst wiederum widerrufen wird, ist hingegen vielmehr Kennzeichen der Modernität des Romans. Das Moderne des Romans besteht also auch darin, alle Positionen und ihre Gegenüberstellungen und ihre Überwindungen in immer neuen Konstellationen als Struktur der Moderne selbst auszuweisen. Die Frage, ob und inwiefern Hans Castorp »Herr der Gegensätze« geworden ist, wird damit hinfällig; bedeutsam und insofern modern ist vielmehr der Umstand, dass er es gerade nicht schafft.68
Bildungsroman, Entwicklungsroman, Initiationsroman Und daher ist es auch angezeigt, ein weiteres großes Problem aus der Interpretationsgeschichte dieses Romans unter der Perspektive seiner Modernität zu betrachten. So wie sich die Frage, ob Hans Castorp Herr der Gegensätze geworden ist, auflöst, in derselben Weise – zumal es sich im Grunde genommen um dieselben Fragen handelt – löst sich auch die Frage auf, ob der Zauberberg ein Bildungsroman ist. Thomas Mann selbst hat diese Diskussion angeregt, indem er seinen Roman schon während der Konzeptionsphase, vor allem aber auch nach der Publikation in späteren Selbstkommentaren als Bildungsroman, so z.B. in seiner Einführung in Princeton, bezeichnet69 und ihn insbesondere in die Tradition des Paradigmas des deutschen Bildungsromans, in die von Goethes Wilhelm Meister, gestellt hat. Er spricht von einem »Versuch […], die Linie des Bildungs- und Entwicklungsromans, die Wilhelm Meister-Linie fortzuset_____________ 68 69
Vgl. Wysling: Der Zauberberg, S. 416. Vgl. Wessell: Der Zauberberg als Chronik der Dekadenz, S. 140.
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zen«70 und von einer »Bildungsgeschichte und Wilhelm Meisteriade«.71 So wie die Interpretation des Schneetraums eine Crux in der Thomas-MannForschung darstellt, so auch diese Frage nach dem Bildungsroman.72 Beide Fragen hängen insofern zusammen, als der Schneetraum eine Lehre formuliert, die durchaus als Ergebnis eines Bildungsweges, zumal Hans Castorp die ›Schule der Pädagogen‹ Settembrini und Naphta durchlaufen hat, festgehalten werden könnte, würde sie durch den Roman nicht selbst wiederum zurückgenommen. Geht man streng nach formalen Kriterien, die man dem Gattungskonzept des Bildungsromans unterstellen kann, so ist der Zauberberg nur sehr schwerlich als ein solcher Bildungsroman zu bezeichnen. Zu diesem Konzept gehört ein Bildungsweg, der verschiedenste Stationen durchläuft, die, solange sie durchlaufen werden, als zufällig erscheinen, die aber am Ende des Romans von einer Instanz, die den Bildungsweg überwacht, selbst und gerade dann, wenn er nicht geradlinig verläuft und Sackgassen aufzuweisen scheint, als notwendige Stationen ausgegeben werden. Bildung bedeutet dabei die Entfaltung von Anlagen, die im Individuum von Anfang an angelegt sind, deren Potenzial aber erst durch psychische und soziale Erfahrungs- und Reifeprozesse aktualisiert werden muss. Am Ende des Bildungsromans hat der Held zu sich selbst gefunden und eine höhere Stufe seiner Bewusstheit erreicht. Allein der Blick auf die unwahrscheinliche Überlebenschance Hans Castorps widerspricht diesem Konzept grundlegend. Dass aber Hans Castorp durchaus eine Entwicklung durchmacht, hat man in der Forschung als Beleg herangezogen, den Zauberberg als Bildungsroman zu lesen, wobei man durchaus abweichende oder parodistische Elemente berücksichtigt hat.73 In ihrem Überblick heben Jürgen Jacobs und Markus Krause auf die Unentscheidbarkeit dieser Frage ab.74 Sie gehen dabei insbesondere auf die Position von Terence J. Reed ein, mit der diese Unentscheidbarkeit erklärt werden kann. Ihm zufolge ist Hans Castorp sowohl ein Repräsentant der Vorkriegszeit als auch ein Medium zur Formulierung jener Erkenntnisse, die dem ›Zeitenwandel‹ des _____________ 70 71 72 73 74
Thomas Mann an Max Rychner, 7. August 1922, in: Ders.: Selbstkommentare. Der Zauberberg, S. 32; so auch im Tagebuch am 15. Juli 1921, vgl. Thomas Mann: Tagebücher 1918– 1921. Frankfurt a.M. 1979, S. 531. Thomas Mann an Arthur Schnitzler, 4. September 1922, zitiert nach: Wysling: Der Zauberberg, S. 419f.; vgl. auch Jacobs, Krause: Der deutsche Bildungsroman, S. 210. Vgl. hierzu grundsätzlich Jacobs, Krause: Der deutsche Bildungsroman, S. 207-223. So z.B. Jürgen Scharfschwerdt: Thomas Mann und der deutsche Bildungsroman. Stuttgart 1967. Vgl. Jacobs, Krause: Der deutsche Bildungsroman, S. 222f.
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Ersten Weltkriegs entspringen.75 Vor diesem Hintergrund gehen Jacobs und Krause davon aus, »daß unter den gegeben historischgesellschaftlichen Zuständen das Bildungsproblem nicht mehr als individuelles lösbar ist«.76 Dennoch könnte man mit ihnen den Zauberberg als modernen Bildungsroman bezeichnen, weil er »die Schwierigkeit von deren Realisierung [der Realisierung einer als sinnvoll erlebten Existenz; O.J.] in der modernen Welt reflektieren und in seiner Werkgestalt sichtbar machen«77 kann. Und damit ist bereits formuliert, wie man diese Frage beantworten kann: Der Zauberberg ist ein moderner Bildungsroman, also ein Bildungsroman unter den Bedingungen der Moderne. Das heißt aber auch, dass darin eine erhebliche Abkehr vom ›klassischen‹ Bildungsideal vorliegt. Dies betrifft insbesondere die aufsteigende Linie der damit implizierten Bildungsbiographie. Thomas Mann selbst war dieses Problem durchaus bewusst. Deswegen hat er sein Konzept einer Steigerung, das durchaus als Alternative zum ›klassischen‹ Bildungsweg begriffen werden kann, ins Feld geführt, wenn er z.B. ausführt, dass Hans Castorps Geschichte »die Geschichte einer Steigerung« sei, »aber sie ist Steigerung auch in sich selbst, als Geschichte und Erzählung.«78 Wie schon bei der Zeitstruktur, so holt auch hier die erzählte Geschichte die Erzählung der Geschichte wieder ein. Das Konzept der Bildung, abstrahiert im Konzept der Steigerung, wird vom Handlungsweg des Helden auf die Selbstentfaltung des Romans verlagert. Thomas Mann hat zwei weitere Begriffe genannt, um den Roman gattungstypologisch einordnen zu können: Er nennt ihn auch »Initiationsroman« bzw. Roman eines »Quester[s]«.79 Mit diesen Begriffen rückt der Handlungsweg und damit die räumliche Struktur stärker in den Blickpunkt. In der Tat ist der Zauberberg der Roman einer Initiation, aber einer Initiation, die nicht zur Transition werden kann. Dass aus den drei geplanten Wochen sieben ungeplante Jahre werden, ist auch darauf zurückzuführen, dass Hans Castorp diese Reise in einer Transitionsphase seines Lebens beginnt. Sein Studium hat er beendet und er wird, so hat er es ursprünglich geplant, nach dieser Reise ein Volontariat antreten und damit ins Berufsleben als Schiffsbau-Ingenieur eintreten. Diese Transitionsphase _____________ 75
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Vgl. Terence J. Reed: Der Zauberberg. Zeitenwandel und Bedeutungswandel 1912–1924, in: Saueressig (Hg.): Besichtigung des Zauberbergs, S. 81ff. – Michael Neumann: Ein Bildungsweg in der Retorte. Hans Castorp auf dem Zauberberg, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 10 (1997), S. 133-148. Jacobs, Krause: Der deutsche Bildungsroman, S. 222. Jacobs, Krause: Der deutsche Bildungsroman, S. 223. Mann: Einführung in den Zauberberg, S. 612. Mann: Einführung in den Zauberberg, S. 614, 615.
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entspricht einem bestimmten Modell des Lebenslaufs jugendlicher, männlicher Helden, das sich seit der Goethezeit und dem ›klassischen‹ Bildungsroman bis weit in den Realismus hinein gehalten hat. Solche Transitionsphasen sind meistens mit Erlebnissen und Initiationsriten verbunden, die den Helden aus seiner angestammten Welt herausreißen, um ihn auf den Eintritt in eine neue Welt vorzubereiten. Häufig sind solche Initiationsriten z.B. mit ersten sexuellen Erlebnissen verbunden, so auch bei Hans Castorp. Das Entscheidende ist jedoch, dass Hans Castorp zwar in diese Transitionsphase eintritt, er sie aber aus eigenem Antrieb nicht mehr verlassen kann und will. Er bleibt in der Transitionsphase, sie ist kein Übergang, sondern wird zu einem eigenen Lebensabschnitt. Als er sie durch die Gewalt der Verhältnisse unfreiwillig verlässt, bedeutet dies mit großer Wahrscheinlichkeit gleichzeitig seinen Tod. Aber nur weil die Transitionsphase keine Transition mehr garantiert, kommt es überhaupt zu dem fortgesetzten Prozess von Konstellierungen und Rekonstellierungen ideologischer Positionen, der als Kennzeichen der Moderne zu gelten hat. Transitionsphasen werden nicht mehr auf einem individuellen Lebensweg verlassen, sondern nur noch durch eine gewaltsame Veränderung der gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen. Damit wird aber nicht nur das Charakteristikum der Individualität aus dem Bildungskonzept herausgebrochen und auf die soziale Ebene verlagert, vielmehr wird das Verhältnis von Bildung des Individuums und sozialer Rahmung auf den Kopf gestellt. Nicht das Individuum verändert sich in seinem Bildungsprozess, sondern die soziale Rahmung verändert sich in der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs, wie sie im Zauberberg zum Ausdruck kommt, ebenso hintergründig wie nachhaltig, und das Individuum bleibt – zumindest räumlich – statisch und wird damit zum Objekt in diesem Prozess von Konstellierungen und Rekonstellierungen ideologischer Positionen. So kann man, wenn man dies noch für sinnvoll hält, den Zauberberg durchaus als modernen Bildungsroman bezeichnen, modern in dem Sinne, dass die ›klassische‹ Bildungsidee im Grunde genommen widerrufen wird. Die Modernität des Romans erscheint daher nur als Negativ des Bildungsromans. Tragfähiger erscheint die Einschätzung als Zeitroman, weil damit eine positive Bestimmung der Modernität des Zauberbergs gegeben ist. Die Umstellung vom Individuellen auf das Soziale zeigt, dass der Bildungsroman eigentlich im Zeitroman aufgegangen ist – und das ist die eigentliche Modernität des Zauberbergs.
MANFRED ENGEL
Franz Kafka: Der Process (1925) î Gerichtstag über die Moderne1 1. Entstehung und Romanstruktur Franz Kafkas (1883–1924) Process ist einer der berühmtesten Romane der Weltliteratur, eine Ikone der europäischsprachigen Moderne. Aber von welchem Text reden wir eigentlich, wenn wir vom Process reden? Gibt es diesen Roman überhaupt? Solche Fragen drängen sich auf, wenn man die Textausgabe zur Hand nimmt, die den Status des Manuskripts am getreuesten reproduziert: Der Process-›Band‹ der Historisch-Kritischen Ausgabe2 besteht aus einem etwa DIN A4-formatigen Kartonschuber, der als Romantext 16 einzeln gebundene Hefte enthält. Diese tragen zwar ›Überschriften‹ î in denen der Kenner _____________ 1
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Kafkas Process wird im Folgenden zitiert nach der Kritischen Ausgabe (Franz Kafka: Schriften – Tagebücher – Briefe. Kritische Ausgabe [KA]. Hg. v. Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley u. Jost Schillemeit. Der Proceß. Textband u. Apparatband. Hg. v. Malcolm Pasley. Frankfurt a.M. 1990); Sigle: P für den Textband, P:A für den Apparatband; Zitate aus der Historisch-Kritischen Ausgabe (Franz Kafka: Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte [HKA]. Hg. v. R. Reuß u. P. Staengle.: Der Process. Faksimile-Edition. Hg. v. Roland Reuß unter Mitarbeit v. Peter Staengle. Basel, Frankfurt a.M. 1997) erfolgen mit der Sigle P/FKA und dem Hefttitel; Zitate aus den Gesammelten Werken (Franz Kafka: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. 11 Bde. Hg. v. Max Brod: Der Prozeß. Frankfurt a.M. 1950) mit der Sigle P/GW. Der Werktitel folgt der Schreibung Kafkas (und damit auch FKA); Max Brod normalisierte zu Prozeß, die KA zu Proceß. Die heftige Kontroverse zwischen den Anhängern der Editionsprinzipien der Kritischen Ausgabe und denen der Historisch-kritischen Ausgabe, die längst die Form eines Glaubenskrieges angenommen hat, soll hier weder ausführlich referiert noch kommentiert werden. Zugrunde liegen ihr (neben fundamentalen Differenzen in Bezug auf Autorenautorität und Werk-Begriff) vor allem unterschiedliche Auffassungen über die Rolle des Editors als, sehr vereinfacht gesagt, aktiver Text(re-)konstrukteur bzw. radikalphilologischer Textzeugenreproduzent. Jeder Literaturwissenschaftler wird für die HKA dankbar sein î ganz besonders im Falle des Process. Ich bezweifle allerdings sehr, dass der nicht-wissenschaftliche Leser mit ihrer Textdarbietung viel anfangen kann. Daher scheint mir die (in Details natürlich immer anfechtbare) Konstitution einer Lesefassung auch zum Aufgabenbereich eines Editors zu gehören î zumindest, wenn er sich nicht nur einem anonymen Textzeugen, sondern auch Autor wie Leser verpflichtet weiß.
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Manfred Engel
gängiger Ausgaben leicht Kapitel-Titel wiedererkennt î, ihre Reihenfolge ist aber in keiner Weise markiert. Man könnte sich einen Leser denken, der diese Hefte mischt wie Spielkarten î und seine Lektüre dann mit demjenigen beginnt, das zufällig an oberster Stelle zu liegen kommt. Da jedoch eines den Titel Ende trägt und ein anderes î in den meisten Ausgaben Verhaftung überschrieben î nach allen Regeln der Wahrscheinlichkeit an den Anfang des Textes gehört, wird unser imaginärer Leser schnell vom Kartenspieler zum Detektiv werden und die vom Autor intendierte Kapitelfolge zu ergründen suchen. Einige Kriterien dafür gibt es durchaus: Jahreszeitenangaben, explizite und implizite Vor- oder Nachzeitigkeiten, Wahrscheinlichkeiten für Handlungszusammenhänge etc. Schnell wird unserem Amateurherausgeber auch auffallen, dass einige der Hefte bzw. ›Kapitel‹ abgeschlossen sind (mindestens: es zu sein scheinen), andere nur begonnen3 î was die Sortieraufgabe natürlich nicht eben erleichtert. Welch detektivischen Scharfsinn unser Leser jedoch auch immer entfalten mag, nie wird er es zu mehr bringen können als zu einem Teilerfolg: Zwar sind längst nicht alle Kombinationen plausibel î aber die eine, definitiv richtige, wird sich mit Sicherheit nie eruieren lassen.4 Wer nach einer Erklärung für diese seltsame Textgestalt sucht, wird nach der Entstehungsgeschichte des Textes fragen î und dazu die Editionsberichte der einschlägigen Ausgaben konsultieren. Hier und in anderen Publikationen haben Kafka-Experten die Handschrift genau beschrieben und mit großem Scharfsinn ihre Genese zu rekonstruieren versucht.5 Begonnen hat Kafka mit der Arbeit am Process um den 11. August 1914, abgebrochen wurde sie am 20. Januar 1915.6 Fast alles Übrige ist mehr oder weniger unsicher: Aller Wahrscheinlichkeit nach hat Kafka zunächst den Romananfang geschrieben î also das Kapitel Verhaftung î, unmittelbar danach (vielleicht sogar gleichzeitig) den Romanschluss (Ende). Über die Niederschrift der übrigen Kapitel wissen wir letztlich nur, _____________ 3
4 5 6
Auch diese Unterteilung ist freilich nicht eindeutig: Sie wurde seit Brods Erstdruck für drei der dort als abgeschlossen geltenden zehn Kapitel in Frage gestellt (B.’s Freundin, Kaufmann Block [auf dem Einschlagblatt des Konvoluts steht Kaufmann Beck î ein Schreibfehler?, eine bewusste Änderung Kafkas?] Kündigung des Advokaten und Im Dom). Außerdem könnten zwei der ›unvollendeten‹ Kapitel auch vom Autor vollendet, mindestens aber weiter fortgeführt worden sein, als der erhaltene Manuskriptbestand ausweist (Kampf mit dem DirektorStellvertreter [im Manuskript: Kampf mit Dir Stellv ] und Fahrt zur Mutter). Einen Überblick über die in Editionen praktizierten und in Aufsätzen vorgeschlagenen Kapitelanordnungen gibt Reuß in seinem editorischen Beiheft (FKA/P; Franz Kafka Hefte 1 [im Folgenden zitiert als: Beiheft], S. 33-36). In jüngerer Zeit etwa Malcom Pasley im Apparatband der KA (vgl. P/A 7-129) und in seinem Büchlein: Franz Kafka. Der Proceß. Die Handschrift redet. Marbach 1990, sowie Roland Reuß in seinem editorischen Nachwort (vgl. HKA/P, Beiheft, S. 1-25). Reuß vermutet allerdings eine spätere î nicht genauer datierbare î Arbeitsphase, in der Kafka den niedergeschriebenen Text redigiert hat (vgl. FKA/P, Beiheft, S. 9).
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dass sie sicher nicht in der Reihenfolge eines linearen Handlungsverlaufes erfolgte; mit hoher Wahrscheinlichkeit hat Kafka verschiedentlich an mehreren Kapiteln gleichzeitig gearbeitet.7 Die Niederschrift erfolgte in großformatigen Quartheften. Vermutlich nach Abbruch der Arbeit trennte Kafka die Hefte auf und ordnete die losen Blätter in Konvoluten, die entweder mit einem Deckblatt versehen oder in ein gefaltetes Einschlagblatt gelegt wurden;8 in beiden Fällen hat Kafka auf diesen ›Titelblättern‹ stichwortartig den Inhalt notiert (diese Formulierungen werden heute üblicherweise als Kapitelüberschriften verwendet), aber keinerlei Hinweise zur Reihenfolge gegeben. So weit, in etwas vereinfachter Darstellung, der Befund. Er erklärt sich zum einen aus Kafkas Schreibverfahren, verweist zum anderen aber auf Eigenheiten von Kafkas Erzählen, die als spezifisch modern gelten dürfen. Beide Aspekte sind nicht voneinander zu trennen î aber auch nicht einfach miteinander identisch. Zunächst zu Kafkas Schreibweise: Gültige literarische Produktion war für Kafka inspiriertes Schreiben, ohne vorgefassten Plan, ohne vorgegebenen gedanklichen Gehalt, getragen allein vom Entfaltungs- und Bedeutungspotential seiner Bilder und Geschichten. In idealer Form war ihm eine solche Niederschrift beim Urteil gelungen. Die Erzählung entstand in der Nacht vom 22. zum 23. September 1912: »von 10 Uhr abends bis 6 Uhr früh in einem Zug geschrieben. […] Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele«.9 Ein derart extremer Inspirationismus gründet natürlich in der Überzeugung, dass literarisches Schreiben nur dann Werke von Rang und Geltung hervorbringt, wenn es nicht vom Bewusstsein des Schreibenden gesteuert wird î und eben deshalb die Grenzen seines Denkens und Wissens überschreiten kann. Der so Schreibende weiß mehr und anderes, als ihm im Zustand kalkulierenden Räsonierens zugänglich wäre î was bei Kafka (und anders als etwa bei Freud) _____________ 7
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Den genauesten Datierungsversuch zu den Kapitelniederschriften hat Pasley vorgelegt (vgl. P:A 111-123), wobei allerdings nicht alle seiner Indizienbeweise überzeugen können; eindeutige Kriterien (d.h. Erwähnungen in datierten Tagebucheintragungen Kafkas) liegen nur für wenige Kapitel vor. Nach Pasleys Deutung wurde ersteres für »abgeschlossene Kapitel oder […] solche, die kurz vor dem Abschluss standen«, getan, letzteres für Kapitel, die »weit davon entfernt waren, abgeschlossen zu sein« (P:A 124f.). Beim ›ersten‹ Konvolut ist das Deckblatt vermutlich verloren gegangen; außerdem umfasst es als einziges wohl zwei, durch einen Querstrich getrennte Kapitel. Verhaftung und Gespräch mit Frau Grubach / Dann Fräulein Bürstner sind also Herausgebertitel (seit Max Brods Erstedition). Tagebucheintrag vom 23. September 1912, in: Franz Kafka: Tagebücher. Kritische Ausgabe. Hg. v. Hans-Gerd Koch, Michael Müller u. Malcolm Pasley. Frankfurt a.M. 1990, S. 460f.
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zugleich Unter- wie Überbewusstes meint.10 Aber er ›weiß‹ es eben als an Bilder und Geschichten gebundene literarische Rede; will er daraus eine begriffliche Aussage ableiten, muss er sich seinem eigenen Text gegenüber wie ein Interpret verhalten î was Kafka in seinen Aufzeichnungen wie in Gesprächen mit Freunden ja auch oft genug getan hat.11 Natürlich muss eine solche Arbeitsweise bei epischen Großformen zu Problemen führen î nicht umsonst hat Kafka keinen seiner drei Romane abschließen können. Während der Arbeit am Process notiert er: »Wieder eingesehen, daß alles bruchstückweise und nicht im Laufe des größten Teiles der Nacht (oder gar in ihrer Gänze) Niedergeschriebene minderwertig ist«.12 Das trifft auf Romane mit Notwendigkeit zu î kein Wunder also, dass Kafka hier sein Schreibprinzip auf die Einzelkapitel anzuwenden suchte und dass diese sich daher tendenziell verselbstständigten. Kafkas Schwierigkeiten mit größeren Erzähleinheiten gründen jedoch ebenso in der Tatsache, dass er einen emphatischen Werkbegriff î die Forderung nach maximaler ästhetischer Geschlossenheit und innerer Notwendigkeit eines Textes î mit der Absage an das Organisationsprinzip verbindet, das eine solche Geschlossenheit in einem Erzähltext mit der größten Leichtigkeit und Sicherheit herstellen kann: das altbekannte Gesetz der erzählerischen Ordnung. Dieses gründet Erzählen auf eine zur Handlung geordnete Folge von Ereignissen, deren Minimalstruktur (mit Aristoteles) die Einheit von Anfang, Mitte und Ende ist13 und deren minimale Verknüpfungsprinzipien (Syntagmen) die chronologische Folge und der kausale Zusammenhang sind. Viele Autoren haben größere Erzählwerke ohne vorgegebenen Plan begonnen (oder ihre Pläne im Verlauf _____________ 10
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Anders als in der psychoanalytischen Theorie der Textentstehung führt inspiriertes, sozusagen ›automatisches‹ Schreiben (»fast bewußtlos«; Kafka: Tagebücher, S. 710) nach Kafkas Auffassung nicht nur zum Ausdruck des Unbewussten, sondern auch zu einer den nur individuellen Fall weit übergreifenden Sinnfigur und zu einer gültigen ästhetischen Gesamtgestalt des Textes. Vgl. die folgende, für Kafkas Werkstreben höchst illustrative Tagebuchaufzeichnung vom 19. Dezember 1914: »Anfang jeder Novelle zunächst lächerlich. Es scheint hoffnungslos, daß dieser neue noch unfertige überall empfindliche Organismus in der fertigen Organisation der Welt sich wird erhalten können, die wie jede fertige Organisation danach strebt sich abzuschließen. Allerdings vergißt man hiebei, daß die Novelle falls sie berechtigt ist, ihre fertige Organisation in sich trägt, auch wenn sie sich noch nicht ganz entfaltet hat« (Kafka: Tagebücher, S. 711). Vgl. etwa Kafka: Tagebücher, S. 491-493, 723. Kafka: Tagebücher, S. 706; 8. Dezember 1914. »Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat. Ein Anfang ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht. Ein Ende ist umgekehrt, was selbst natürlicherweise auf etwas anderes folgt, und zwar notwendigerweise oder in der Regel, während nach ihm nichts anderes mehr eintritt. Eine Mitte ist, was sowohl selbst auf etwas anderes folgt als auch etwas anderes nach sich zieht« (Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S. 25).
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des Schreibens geändert) î dann war es aber eben die Handlung (einschließlich der sich in ihr entfaltenden und sie bestimmenden Charaktere), die den Erzählfluss trug und die Ereignisse und Ereignissequenzen integrierte. Dieses Sicherheitsnetz der erzählerischen Integration fehlt bei Kafka weitgehend. Am Process lässt sich anschaulich demonstrieren, wie Kafka das beschriebene Grundgesetz der erzählerischen Ordnung sowohl zu bewahren wie zu unterlaufen sucht. Am Morgen seines 30. Geburtstages wird Josef K., ein unauffälliger Bankprokurist, in seinem Pensionszimmer ›verhaftet‹. Das zumindest ist der Begriff, den Kafka verwendet14 î obwohl der Vorgang mit einer Verhaftung im uns vertrauten Sinne ebenso wenig zu tun hat wie der folgende ›Prozess‹ mit einem uns vertrauten Gerichtsverfahren. Genau ein Jahr später, also am Vorabend seines 31. Geburtstages, wird K. von zwei »bleichen und fetten« Männern in »Gehröcken« und mit »Cylinderhüten« (P 305) in seiner Wohnung abgeholt, in einen vor der Stadt gelegenen Steinbruch geführt und hingerichtet. Kafkas Process hat also sehr wohl einen Anfang und ein Ende (und sogar einen präzise auf ein Jahr terminierten Handlungszeitraum). Dass Kafka den Romanschluss höchstwahrscheinlich unmittelbar nach dem Anfang niederschrieb, war offensichtlich eine Sicherheitsmaßnahme, um sein neues Projekt vor dem Schicksal des abschlusslos gebliebenen Verschollenen zu bewahren: Er begann die Niederschrift mit einer Rahmenkonstruktion, die dann nur noch auszufüllen war. Einfach war das Problem der ausgesparten ›Mitte‹ allerdings nicht zu lösen. Es lag im Wesen von Kafkas eigentümlichem ›Gericht‹, dass die einfache ›Geschichte‹ eines Strafprozesses nicht erzählt werden konnte. Denn dieses Gericht erhebt keine klare Anklage, betreibt keine schulgerechte Ermittlungsarbeit î außer seltsam leer laufenden ›Verhören‹ î, kennt kein Gerichtsverfahren im uns vertrauten Sinne (obwohl es Richter und Verteidiger gibt) und verkündet kein Urteil. Um die leere Mitte zwischen ›Anfang‹ und ›Ende‹ dennoch zu füllen, verwendet Kafka vier Verfahren, von denen nur die ersten beiden zum Repertoire traditioneller, also erzählorientierter Epik gehören. (1.) Entwicklung des Helden: Mit der ›Verhaftung‹ tritt in Josef K.s wohl geordnetes Leben ein ganz ›Anderes‹ ein. Es wäre daher mehr als plausibel, dass er durch diesen Einbruch selbst zu einem Anderen würde. Dies geschieht î und es geschieht nicht. Nicht zufällig ist es eine Passage im Schlusskapitel, in der der Held selbst seinen ›Prozess‹ als einen Veränderungsprozess imaginiert: _____________ 14
Die erste Formulierung im Manuskript lautete: »war er eines Morgens gefangen« (P:A 161).
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Ich wollte immer mit zwanzig Händen in die Welt hineinfahren und überdies zu einem nicht zu billigenden Zweck. Das war unrichtig, soll ich nun zeigen, daß nicht einmal der einjährige Proceß mich belehren konnte? Soll ich als ein begriffsstütziger Mensch abgehen? Soll man mir nachsagen dürfen, daß ich am Anfang des Processes ihn beenden und jetzt an seinem Ende ihn wieder beginnen will. Ich will nicht, daß man das sagt. (P 308)15
Der Roman weiß von einer solchen Veränderung allerdings nur wenig zu erzählen: Der Prozess zerstreut und ermüdet den Helden zusehends; er lenkt ihn ab von der bisher sein Leben einseitig bestimmenden Fixierung auf die Geschäftswelt, so dass seine Stellung in der Bank zunehmend von seinem Erzrivalen, dem ›Direktor-Stellvertreter‹, unterminiert wird. Und ihn befallen zunehmend Zweifel an seiner Schuldlosigkeit î er erwägt schließlich sogar, als »Verteidigungsschrift« eine »Lebensbeschreibung« anzufertigen und dabei »bei jedem irgendwie wichtigern Ereignis [zu] erklären, [...] ob diese Handlungsweise nach seinem gegenwärtigen Urteil zu verwerfen oder zu billigen war und welche Gründe er für dieses oder jenes anführen konnte« (P 149). Aber diese Selbstzweifel bleiben halbherzig und punktuell und können sich nicht wirklich gegen die Grunddominanten in K.s Verhalten durchsetzen: den Prozess abzuwehren und jeden Gedanken an Schuld zu verdrängen. (2.) Aufbau einer fiktionalen Welt: Der Process beginnt in medias res und mit dem Einbruch eines radikal ›Anderen‹, ›Fremden‹. Damit sind sozusagen zwei Vektoren gegeben, in deren Richtungen der epische Raum des Romans auszuschreiten (bzw. zu konstituieren) ist. Wir erfahren Details über K.s Lebensgestaltung, erleben ihn in der Geschäftswelt, im Umgang mit anderen Beamten, Kunden, mit dem ihm wohlgesinnten Direktor und dem feindseligen Direktor-Stellvertreter.16 Wir lesen, dass sein Vater früh gestorben ist, seine alte und fast erblindete Mutter auf dem Land lebt (und von ihrem Sohn nur selten besucht wird)17 und dass die sonstige Verwandtschaft allein aus einem Onkel18 und dessen siebzehnjähriger Tochter _____________ 15
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Dass K. hier immer noch vom Urteil der (Nach-)Welt geleitet wird, spricht allerdings ebenso gegen eine radikale Veränderung seiner bisherigen Haltung wie der Romanschluss: Zwar vermeidet K. jeden Versuch, seinen Henkern zu entkommen (darauf bezieht sich der zitierte Passus). Er vermag es jedoch nicht, das ›Urteil‹ selbst zu vollstrecken: »K. wußte jetzt genau, daß es seine Pflicht gewesen wäre, das Messer […] selbst zu fassen und sich einzubohren« (P 311) – daher der Schlusssatz des Romans: »›Wie ein Hund!‹, sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.« (P 312) Mindestens ebenso bemerkenswert ist eine Implikation des vorletzten Satzes im obigen Zitat: Weiterleben hieße für K., den Prozess neu zu beginnen î nicht mehr: ihm zu entkommen. Vgl. auch das Fragment Kampf mit dem Direktor-Stellvertreter. Ein nur begonnenes Kapitel trägt die Überschrift Fahrt zur Mutter. Sein Name wechselt im Manuskript von Karl zu Albert; er war Vormund K.s, lebt auf dem Land und sucht seinen Neffen im Kapitel Der Onkel / Leni auf, um ihn zu überreden, den befreundeten Advokaten Huld zu konsultieren.
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Erna (vgl. P 120-122) besteht. Wir lernen die Pensionswirtin Frau Grubach kennen und eine Mitbewohnerin namens Fräulein Bürstner, die K. bisher ignoriert hat, die für ihn am Abend des Verhaftungstages aber auf seltsam abrupte Weise zu einem Objekt des Begehrens wird (vgl. Kap. Gespräch mit Frau Grubach / Dann Fräulein Bürstner). Und wir erfahren, dass K. eine ›Geliebte‹ namens Elsa hat î eine Kellnerin in einem Weinlokal, die er einmal wöchentlich aufsucht (vgl. P 30, 86f., 144f.).19 Weitere Sozialkontakte pflegt K. kaum: Er arbeitet bis 9 Uhr abends, macht dann meist einen Spaziergang und besucht einen Honoratiorenstammtisch.20 Zugleich erweitert sich unser Wissen über das rätselhafte Gericht: K. wird von den ›Wächtern‹ Franz und Willem und einem ›Aufseher‹ verhaftet, wird zu einem Verhör einbestellt (Kap. Erste Untersuchung), sucht denselben Sitzungssaal eine Woche später noch einmal auf (Im leeren Sitzungssaal / Der Student / Die Kanzleien) und gelangt dabei in die Gerichtskanzleien. Er beauftragt den Advokaten Huld mit seiner Verteidigung (Der Onkel / Leni) und entzieht ihm später das Mandat wieder, wobei er einen anderen Angeklagten, den Kaufmann Block, kennen lernt (Kaufmann Block / Kündigung des Advokaten). Durch Vermittlung eines Fabrikanten sucht er Rat und Hilfe beim Gerichtsmaler Titorelli (Advokat / Fabrikant / Maler).21 Im Kapitel Im Dom begegnet K. schließlich noch dem ›Gefängniskaplan‹. Bei diesem Ausschreiten des epischen Raumes ergeben sich natürlich Ansätze zu kleineren Handlungssequenzen und zu Nebenhandlungen: So haben etwa die beiden Wächter im Kapitel Verhaftung K.s Wäsche an sich genommen (vgl. P 10); im Kapitel Erste Untersuchung klagt sie K. deswegen öffentlich an (vgl. P 65), im Kapitel Der Prügler werden sie dafür bestraft (vgl. P 109). Wichtiger noch sind zwei sich anscheinend anbahnende ›Liebesgeschichten‹: eine zwischen K. und Fräulein Bürstner, die allerdings jäh abbricht,22 und eine mit Leni, der Bediensteten des Advokaten. Beide bleiben aber unentfaltet î was am Fragmentcharakter des Textes liegen mag oder, wahrscheinlicher, daran, dass K. zu einer wirklichen Liebesbeziehung unfähig ist. (3.) Serialisierung: Die beschriebenen Ansätze zur Bildung erzählerischer Syntagmen erzeugen so nur schwache Bindungen (die im Manu_____________ 19 20 21 22
Ausführlich vorgestellt worden wäre sie wohl im (nur begonnenen) Kapitel Zu Elsa. Zu den Stammtischmitgliedern gehört auch der Staatsanwalt Hasterer (vgl. P 23); vgl. das Fragment Staatsanwalt. Vgl. auch das Fragment Das Haus. Ursprünglich sollte diese Beziehung wohl ein zentrales Handlungselement sein î nicht umsonst tritt Fräulein Bürstner (oder eine ihr ähnlich sehende Frau) im Schlusskapitel noch einmal auf, was K. dazu bewegt, jeden Widerstand aufzugeben (vgl. P 307-309; vgl. auch P 167). Im Fortgang des Schreibens scheint ihre Rolle allerdings zunehmend an Leni überzugehen (vgl. bes. P 278) – was die Entscheidung der KA stützt, das die BürstnerHandlung fortsetzende Kapitel B.’s Freundin aus dem Haupttext zu entfernen.
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skript zudem weitgehend unausgeführt bleiben). Wesentlich stärker integrierend wirken eine ganze Reihe von paradigmatischen Bezügen. Deren Grundlage sind konstante Verhaltensmuster K.s: seine Versuche, das Gericht (und jedes Nachdenken über ›Schuld‹) abzuwehren und an seiner bisherigen Lebensweise festzuhalten, sein instrumentell-rationales Denken und sein Argumentieren und Agieren in Macht- und Kampfkonstellationen. Da all dies der Welt des Gerichtes gegenüber offensichtlich unangemessen ist, ergeben sich daraus ebenso konstante Fehleinschätzungen seiner Lage. Auf diesen Konstanten basieren spezifischere Serienbildungen, wie sie etwa die Figurenkonstellation des Textes bestimmen: die Reihe der Vermittlerfiguren, der Helfer und Ratgeber, die K. in seinem Prozess geradezu zwanghaft sucht (der Advokat Huld, der Gerichtsmaler Titorelli, der Gefängnisgeistliche), und die Reihe der Frauenfiguren (Fräulein Bürstner, die Frau des Gerichtsdieners, Leni), die für K. zugleich Objekte des Begehrens wie »Helferinnen«23 in seinem Prozess sind.24 (4.) Abymisierung:25 Verschiedentlich sind in den Roman Elemente eingefügt, die dessen Essenz zu kondensieren scheinen, auf jeden Fall aber eine dichte und weit ausstrahlende Semantik aufweisen. Am wichtigsten ist hier natürlich die Türhüterlegende (vgl. P 292-295); zu nennen wären aber auch einige Gemälde: die Richterbilder beim Advokaten (vgl. P 141f.) und bei Titorelli (vgl. P 195-197) sowie die Grablegungsszene im Dom (vgl. P 280). So weit eine erste Textbeschreibung, die im zweiten Kapitel zu erweitern und auf ihre spezifische Modernität hin zu befragen sein wird. Für den Herausgeberstreit bedeutet all dies, dass der Process zwar als vollendeter Roman in der Tat nicht existiert, dass sein Fragmentcharakter jedoch seine Geschlossenheit und Lesbarkeit erstaunlich wenig beeinträchtigt. Die dominant paradigmatische Organisation des Textes bewirkt, dass Erweiterungen (›Vervollständigungen‹) das Gesamtbild zwar bereichert, ›amplifiziert‹, aber nicht wesentlich verändert hätten. Insofern hat der Kunstgriff der Rahmenbildung durchaus funktioniert: Unter den drei
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»Ich werbe Helferinnen, dachte er fast verwundert, zuerst Fräulein Bürstner, dann die Frau des Gerichtsdieners und endlich diese kleine Pflegerin [Leni], die ein unbegreifliches Bedürfnis nach mir zu haben scheint« (P 143; vgl. auch P 203). Auf ähnlich paradigmenhafte Weise integrierend wirken Schlüsselmotive, die den Text durchziehen, etwa das Motiv des Fensters î oft verbunden mit dem Motiv des Beobachtetwerdens î, das Motiv des Hand-Reichens, das Licht-Motiv. Mit dem der Heraldik entlehnten Begriff des ›mise en abîme‹ bezeichnet man Einlagen, die, nach dem Prinzip der ›Puppe in der Puppe‹, das Ganze des Textes im verkleinerten Maßstab enthalten; im frühromantischen Sinne wäre ›Abymisierung‹ also ein Verfahren der ›Potenzierung‹.
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Romanfragmenten Kafkas ist der Process, trotz seiner ungewöhnlichen Überlieferung, der geschlossenste Text.26
2. Der Process als moderner Roman Wer die Modernität eines Textes bestimmen will, muss zunächst klären, von welchem Moderne-Begriff er ausgeht. Ich verwende im Folgenden den strengen und eng gefassten Begriff einer ›ästhetischen Moderne‹, die im deutschsprachigen Raum in den 1890er Jahren beginnt (wesentlich inspiriert durch die Rezeption des französischen Symbolismus), ihre Höhepunkte im expressionistischen Jahrzehnt (in dem sich auch die Avantgarde als radikale Variante der ästhetischen Moderne herausbildet) und in der Weimarer Republik hat und nach 1945 eine (vielfältig modifizierte) Spätphase erlebt, die bis etwa 1970 reicht. Konstitutiv ist für diese Großepoche der Bruch mit der Ästhetik des Realismus (einschließlich des Naturalismus), der sich î wie die Malerei als Leitkunst der Moderne paradigmatisch vorführt î bis hin zum völligen Bruch mit der Referenz steigern kann.27 Dabei handelt es sich natürlich nicht um eine rein binnenkünstlerische Negation, sondern um eine Globalabsage an den Wirklichkeits- und Subjektivitätsbegriff des Realismus. Leitfiguren für diesen Neuansatz sind, mindestens im deutschsprachigen Raum, Schopenhauer und Nietzsche, die einen nicht mehr logozentrischen, anti-empiristischen Wirklichkeitsbegriff28 vertreten, der der traditionellen Metaphysik ebenso eine Absage erteilt wie dem sich formierenden _____________ 26
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Damit erscheint auch die Herstellung einer Lesefassung durchaus gerechtfertigt. Wenn die hier versuchte Textbeschreibung zutrifft, so erweist sich eine zentrale These von Roland Reuß als fragwürdig, mindestens als höchst ungenau: »Kafkas Schreiben [hatte] im Schreibvorgang selbst, nicht in dessen Resultat, dem Text, einem Werk, sein Telos« (FKA/P, Beiheft, S. 24). In einem rein existenziellen Sinne mag die Aussage zwar zutreffen î Schreiben war für Kafka eine Existenzmöglichkeit (was allerdings nicht heißt, dass er nicht nach geschlossenen Werken gestrebt hätte, die allein er für gelungen hielt). Sie verfehlt aber die paradigmatische Struktur, die sowohl den Verschollenen wie den Process (in etwas geringerem Maße auch das Schloss) bestimmt. Ein solches Schreiben in selbstähnlichen Einheiten impliziert einen nicht-linearen, nicht erzählerisch integrierten Begriff des epischen Werkes. Vgl. zu diesen knappen und notwendigerweise pauschalen Thesen meine ausführlicheren Darlegungen in: Rilke als Autor der literarischen Moderne, in: Manfred Engel, Dorothea Lauterbach (Hg.): Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2004, S. 507-528 – Kafka und die Poetik der klassischen Moderne, in: Manfred Engel, Dieter Lamping (Hg.): Franz Kafka und die Weltliteratur. Göttingen 2006, S. 247-262. Beide sehen in der empirischen Erscheinungswelt ein Konstrukt des wahrnehmenden und rational ordnenden Ich. Für Schopenhauer (und viele Künstler der Moderne) eröffnet daher allein die innere Erfahrung (Kafka nennt sie die »innere Welt«) den Zugang zu einer ›tieferen‹, ›wahreren‹ Wirklichkeitsdimension.
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szientistischen Weltbild.29 So dekonstruierend sich die Künstler der Moderne jedoch gegenüber allen eingespielten Wahrnehmungs-, Denk- und Wertekonventionen verhalten, so wenig ist die große Mehrheit von ihnen pauschal dekonstruktivistisch gesinnt. Ganz im Gegenteil gehen sie davon aus, dass es die Aufgabe der Kunst sei, die Defizite der Modernisierung zu bekämpfen und mit rein künstlerischen Mitteln lebenspraktisch unverzichtbare Sinnfiguren zu erzeugen î Schopenhauer und Nietzsche haben dafür den Begriff der ›Kunstmetaphysik‹ geprägt. Im Bereich der Epik bedeutet die Absage an Weltbild wie Poetik des Realismus die Absage an das bereits erwähnte Gesetz der erzählerischen Ordnung. Robert Musil hat in seinem Mann ohne Eigenschaften dafür die klassische Begründung geliefert, wenn er seinen Helden Ulrich erkennen lässt, daß das Gesetz [des] Lebens, nach dem man sich, überlastet und von Einfalt träumend, sehnt, kein anderes sei als das der erzählerischen Ordnung! Jener einfachen Ordnung, die darin besteht, daß man sagen kann: »Als das geschehen war, hat sich jenes ereignet!« Es ist die einfache Reihenfolge, die Abbildung der überwältigenden Mannigfaltigkeit des Lebens in einer eindimensionalen, wie ein Mathematiker sagen würde, was uns beruhigt; die Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, eben jenen berühmten »Faden der Erzählung«, aus dem nun also auch der Lebensfaden besteht. Wohl dem, der sagen kann »als«, »ehe« und »nachdem«! […] Das ist es, was sich der Roman künstlich zunutze gemacht hat: […] dieser ewige Kunstgriff der Epik, mit dem schon die Kinderfrauen ihre Kleinen beruhigen, diese bewährteste »perspektivische Verkürzung des Verstandes« […]. Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler. […] sie lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, daß ihr Leben einen »Lauf« habe, irgendwie im Chaos geborgen.30
Eine vollständige Suspension dieser ›erzählerischen Ordnung‹ bleibt dabei natürlich die seltene Ausnahme. Es geht vielmehr darum, im Erzählen (als einer temporal-kausalen Ordnung der Wirklichkeit, die sich im Realismus des 19. Jahrhunderts mit einer ›plastisch‹-detaillierten Außenweltdarstellung und einer psychologisch vertieften Charakterzeichnung verbindet) nicht mehr das primäre Prinzip der Textorganisation zu sehen î was impliziert, dass neue Verfahren der epischen Integration gefunden werden müssen, die sich mit reduzierter Referenz und reduzierter Individualpsychologie verbinden lassen.31 _____________ 29 30 31
Gegenüber gängigen Missverständnissen ist darauf zu insistieren, dass diese Absage eine aktive und bewusste Entscheidung ist und nicht bloß die passive Reaktion auf eine angebliche Unabbildbarkeit der modernen Welt oder eine mysteriöse ›Krise der Repräsentation‹. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, in: Ders.: Gesammelte Werke in 9 Bdn. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek 1978. Bd. II, S. 650 (Zweiter Teil, Kap. 122). Die beiden letzten Aussagen bedürften ausführlicher Erläuterungen, die hier nicht gegeben werden können. Natürlich referieren auch moderne Texte auf die modernistische Lebens-
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Das ist, vergröbert und pauschal formuliert, die selbstgestellte Aufgabe, die alle Erzähler der ästhetischen Moderne zu bewältigen suchen. Die dafür gefundenen Lösungen differieren von Autor zu Autor: Es gibt nicht die eine Form modernen Erzählens, wohl aber ein Ensemble beschreibbarer Verfahren mit ihren je eigenen Funktionen und weltanschaulichen Implikationen. Im Folgenden soll die spezifische ›Modernität‹ des Process im knappen Überblick skizziert werden. Dabei versuche ich weiterhin, gehaltliche Deutungen auf das unverzichtbare Minimum zu beschränken. Die zu beschreibenden Strukturen sind so auch als Vorgaben gemeint, an denen Interpretationen des Textes zu messen wären. Es wurde bereits gezeigt, dass der Process nicht nach dem Gesetz erzählerischer Ordnung organisiert ist î und zwar nicht wegen seines Fragmentcharakters, sondern weil eine solche Art der epischen Integration Kafkas Ästhetik widersprach. Ebenso wenig strebte er offensichtlich eine plastisch-detaillierte Wirklichkeitswiedergabe an (wie jeder Leser bemerkt, der nach Hinweisen zur Imagination von Personen und Örtlichkeiten sucht). Und seine Romanfiguren wären, nach realistischen Maßstäben, nur als ›flat characters‹ zu bezeichnen, da sie auf wenige Grundcharakteristika reduziert und nur minimal individualisiert sind. So weit der realismusbezogene Negationskatalog, der sich leicht verlängern ließe, mit dem allein sich moderne Texte aber natürlich nicht zureichend beschreiben lassen. Was also sind Kafkas Erzählverfahren (über die bereits beschriebenen Techniken der Serialisierung und Abymisierung hinaus)? (1.) Weltbildende Metaphern: Ein zentraler Zug von Kafkas Erzähltexten î den man mit gleichem Recht und gleicher Problematik als ›phantastisch‹ und ›parabolisch‹ beschrieben hat î besteht darin, dass seine Textwelten wesentlich aus reifizierten Metaphern konstruiert sind, also aus Metaphern, die innerhalb der fiktionalen Welt keinen metaphorischen Status mehr haben, sondern schlicht und einfach ›wirklich‹ sind.32 Das lässt sich am Process leicht nachzeichnen: Wesentlicher Bestandteil seines Weltentwurfs ist das ›Gericht‹, das K. verhaften und schließlich hinrichten lässt î eine weit verzweigte Behörde mit dem ganzen institutionellen Repertoire und Umfeld, das Gerichtsinstanzen zu haben pflegen. Offensichtlich aber widerspricht ihr Agieren all unserem Weltwissen über Gerichte, obwohl die im Text entworfene Welt keineswegs in toto anders ist als die uns ver_____________
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welt (nur eben nicht mehr in traditionell mimetischer Weise) und natürlich enthalten sie eine explizite oder implizite Psychologie (nur ist es eben nicht mehr eine kausal argumentierende Individualpsychologie – was natürlich auch eine Absage an Freuds, in ihrem Grundgestus gut aufklärerische, Psychoanalyse einschließt). In der Lyrik beschreibt man dies als ›absolute Metaphorik‹, in der Epik gibt es für diese Verselbstständigung der Bildlichkeit (bzw. Sprachlichkeit) des Textes, seit Gottfried Benn, den Begriff der ›absoluten Prosa‹.
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traute. In Josef K. haben wir als Leser einen innerfiktionalen Stellvertreter, der unser Erstaunen und Befremden über Abweichungen vom Vertrauten immer wieder artikuliert î so schon in der Reaktion auf seine Verhaftung: Was waren denn das [die ihn verhaftenden ›Wächter‹] für Menschen? Wovon sprachen sie? Welcher Behörde gehörten sie an? K. lebte doch in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede, alle Gesetze bestanden aufrecht, wer wagte ihn in seiner Wohnung zu überfallen? (P 11)
Andere Romanfiguren sind mit dieser Instanz anscheinend vertrauter (wie etwa K.s Onkel), die sich im Verlauf des Romans als geradezu ubiquitär erweist. Nach Auskunft des Malers Titorelli gilt: »Es gehört ja alles zum Gericht« (P 202) und: »Gerichtskanzleien sind doch fast auf jedem Dachboden« (P 222).33 Mitten in einer uns prinzipiell vertrauten Wirklichkeit hat sich also plötzlich eine zweite aufgetan, die jedoch integraler Bestandteil der ersten zu sein scheint. Das ist genau die Zweiweltenstruktur, die uns aus phantastischer Literatur vertraut ist î nur ohne das dort gängige Motiv-Repertoire des ›Wunderbaren‹. Stattdessen verbindet sich das Gericht mit hochsignifikanten Leitbegriffen wie ›Gesetz‹ und ›Schuld‹ und mit Bedeutungskondensaten (wie den bereits erwähnten Bildern und der Türhüterlegende), die die Lesekonventionen von ›uneigentlichen‹ (allegorischen oder parabolischen) Texten aufrufen î allerdings ohne dass der übliche Deutungsschlüssel mitgeliefert oder doch wenigstens impliziert würde. Der Deutungsimpuls, der von dieser reifizierten Metapher ausgeht î genauer: der uns überhaupt erst dazu bringt, die Textwelt für metaphorisch (›uneigentlich‹) zu halten î, wird durch weitere Eigenheiten von Kafkas Erzählen noch verstärkt: zum einen durch überscharf fokussierte Details (einzelne Objekte, Eigenheiten von Aussehen und Kleidung, Mimik und Gestik), die in ihrer Selektivität keinen ›Realismus-‹, sondern einen Signifikanz-Effekt erzeugen; zum anderen durch Verhaltensweisen von Romanfiguren, die unserem Weltwissen widersprechen, seltsam oder sogar ›grotesk‹ anmuten.34 All dies trägt dazu bei, den Roman ›uneigentlich‹ und ›bedeutend‹ wirken zu lassen î und erzeugt beim Leser die permanente Deutungsprovokation (und -frustration), die für Kafkas Texte charakteristisch ist. (2.) Nach der Logik des Traumes î Innenwelt als Außenwelt: Zu den verblüffendsten Eigenheiten der Romanwelt gehören die geheimnisvollen Bezüge, die zwischen K.s Innerem und der Gerichtswelt bestehen: Als K. _____________ 33 34
Das Prügler-Kapitel zeigt zudem, dass auch in K.s Bank Gerichtsaktivitäten stattfinden, bezeichnenderweise in einer ›Rumpelkammer‹. Etwa wenn sich der »Aufseher« im Verhaftungskapitel »einen harten runden Hut, der auf Fräulein Bürstners Bett lag«, »vorsichtig mit beiden Händen« aufsetzt, »wie man es bei der Anprobe neuer Hüte tut« (P 25).
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zu seinem ersten Verhör bestellt wird, erfährt er zwar Tag (Sonntag) und Ort (ein Haus in einer Vorstadt), nicht aber den Zeitpunkt. Er entscheidet sich, um 9 Uhr einzutreffen (vgl. P 50-52), verspätet sich jedoch um etwas über eine Stunde – und der Richter begrüßt ihn mit den Worten: »Sie hätten vor einer Stunde und fünf Minuten erscheinen sollen« (P 59). Auch das Eintreffen seiner Henker kommt für K. nicht unerwartet: »Ohne daß ihm der Besuch angekündigt gewesen wäre, saß K. […] schwarz angezogen in einem Sessel in der Nähe der Türe […], in der Haltung wie man Gäste erwartet« (P 305). Nicht weniger mysteriös sind die Abläufe im Dom-Kapitel: K. soll »einem italienischen Geschäftsfreund der Bank« (P 270) den Dom zeigen; dieser bleibt aus î doch K. wird durch einen Kirchendiener zu einer »Nebenkanzel« verwiesen (vgl. P 282-285), von der ihn der Gefängnisgeistliche mit seinem Namen anruft (vgl. P 286). Und ein letztes, besonders bezeichnendes Beispiel: In einer Rumpelkammer der Bank hat K. miterlebt, wie die beiden Wächter wegen seiner Anschuldigung bestraft wurden. Am Abend des nächsten Tages öffnet er die Kammertür erneut; doch hinter ihr scheint die Zeit stehen geblieben zu sein: »Alles war unverändert, […] der Prügler mit der Rute, die noch vollständig angezogenen Wächter, die Kerze auf dem Regal« (P 117). Solch seltsame Korrespondenzen zwischen Innen- und Außenwelt kennen wir sonst nur aus Träumen (die in der Tat zu den wichtigsten Inspirationsquellen für Kafkas Schreiben gehören)35 î aber der Process ist nirgendwo als Traum markiert.36 Und doch ist das Gericht über K. gekommen, wie ein Gedanke aus verdrängten Tiefen des Inneren, den abzuwehren man nur nicht geistesgegenwärtig genug war.37 (3.) Kafkas Variante personalen Erzählens: Personales Erzählen î in der Terminologie Franz Stanzels und Jürgen Petersens:38 ein Erzählen aus dem Wahrnehmungs-, Wissens- und Deutungshorizont einer Romanfigur _____________ 35 36
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Vgl. dazu Manfred Engel: Traumnotat, literarischer Traum und traumhaftes Schreiben bei Franz Kafka. Ein Beitrag zur Oneiropoetik der Moderne, in: Bernard Dieterle (Hg.): Träumungen. Traumerzählungen in Literatur und Film. St. Augustin 1998, S. 233-262. Poetikgeschichtlich gesehen ist die Darstellung von Innenwelt als Außenwelt eine der wichtigsten Neuerungen des Expressionismus î und damit das stärkste Argument für Kafkas Zugehörigkeit zu dieser Literaturepoche. Der Kafka-Text, in dem diese Affinitäten am offensichtlichsten werden, ist natürlich die Beschreibung eines Kampfes. »Wäre ich gleich nach dem Erwachen […] aufgestanden und ohne Rücksicht auf irgendjemand, der mir in den Weg getreten wäre, […] gegangen, […] es wäre nichts weiter geschehen, es wäre alles, was werden wollte, erstickt worden. Man ist aber so wenig vorbereitet« (P 34). Die Erklärung für diese mangelnde Geistesgegenwart hat Kafka bezeichnenderweise gestrichen: »Man ist doch im Schlaf und im Traum wenigstens scheinbar in einem vom Wachen wesentlich verschiedenen Zustand gewesen […]. Darum sei auch der Augenblick des Erwachens der riskanteste Augenblick im Tag« (P:A 168). In der Terminologie Gérard Genettes: ›interne Fokalisierung‹.
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heraus39 î gehört zu den Errungenschaften des (Spät-)Realismus, die die Moderne begierig aufgreift. Mit ihm verschwindet der Erzähler als alles wissende und deutende Instanz aus dem Roman, der Leser bleibt auf den beschränkten ›point of view‹ einer Text-Figur angewiesen.40 Diese Perspektivierung erfolgt bei Kafka oft unmarkiert41 î und ist vom Leser umso sicherer zu erschließen, je vertrauter er mit K.s Denk- und Wertungsgewohnheiten geworden ist. Am leichtesten zu erkennen ist die Wahrnehmungsbegrenzung (die daher häufig als Perspektivierungssignal fungiert). So wissen wir im Verhaftungskapitel ebenso wenig wie K., was vor seiner Zimmertüre vor sich geht, bevor K. selbst sie geöffnet hat (vgl. P 8), oder erkennen erst mit ihm, dass die schon die ganze Zeit beim Verhör anwesenden »drei jungen Leute« Beamte aus seiner Bank sind (vgl. P 20, 23, 24, 26f.).42 Eine deutlich größere Herausforderung stellt für den î zudem hier ja noch ›unkonditionierten‹ î Leser der erste Satz des Romans dar: »Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet« (P 7). Nur der Konjunktiv im Nebensatz könnte daraufhin deuten, dass es sich bei Unschuldserklärung und Verleumdungsvermutung nicht um Erzähleraussagen, sondern um Gedanken Josef K.s handelt. Als letztes Beispiel sei noch auf K.s erstes Verhör verwiesen. Von dem Augenblick an, da er den Sitzungssaal betritt, schätzt er die Situation falsch ein: Er fühlt sich an eine politische Versammlung erinnert und meint, dass es im Publikum zwei Parteien gebe (vgl. P 58). Entsprechend agiert er auch und hält eine politische Rede, in der er sich zum uneigennützigen Anwalt der öffentlichen Sache stilisiert: was mir geschehen ist, ist ja nur ein einzelner Fall und als solcher nicht sehr wichtig, da ich es nicht sehr schwer nehme, aber es ist das Zeichen eines Verfahrens wie es gegen viele geübt wird. Für diese stehe ich hier ein, nicht für mich. […] Was ich will, ist nur die öffentliche Besprechung eines öffentlichen Mißstandes (P 64f.).
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Nur in Bezug auf diese haben wir ›Innensicht‹, nur ihre Gedanken und Gefühle lernen wir kennen; alle anderen Romangestalten sind uns î wie der Perspektivfigur î nur in Außensicht zugänglich. Kafka verstärkt diesen Effekt noch, indem er dem ›showing‹ eindeutig den Vorzug vor dem ›telling‹ gibt; allzu reflektierende und deutende Passagen hat er konsequent aus dem Manuskript gestrichen (vgl. etwa das in Anm. 37 zitierte Beispiel). Eindeutige Perspektivmarkierungen sind Wendungen wie: ›glaubte‹, ›möglicherweise‹, ›wahrscheinlich‹, ›offenbar‹, ›schien‹ etc. oder der Gebrauch der erlebten Rede. Wie so oft im Roman ist K.s Fehlleistung explizit markiert î hier in erlebter Rede: »Wie hatte K. das übersehen können? Wie hatte er doch hingenommen sein müssen, von dem Aufseher und den Wächtern, um diese drei nicht zu erkennen« (P 27). Das belegt zugleich, wie haltlos K.s Beteuerungen waren, in der Verhaftungssituation immer souverän und überlegen gewesen zu sein.
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Damit î wie auch in Details der Darstellung der Verhaftung î lügt K. schamlos (nur sein Namensvetter K. aus dem Schloss wird ihn darin noch übertreffen). Das Beispiel illustriert die wichtigste Eigenheit von Kafkas personalem Erzählen: Obwohl uns der Roman (von wenigen auktorialen Einsprengseln abgesehen) nur K.s Wahrnehmungen und Interpretationen vermittelt,43 signalisiert der Text uns dennoch auf raffinierte Weisen, dass K.s Weltdeutungen wie Selbstdarstellungen44 falsch sind (ohne uns freilich mit einer ›richtigen‹ Deutung zu versehen). Kafkas personales Erzählen hat also einen doppelten Wirkungsmechanismus: Zum einen werden wir hineingezogen in Josef K.s Denk- und Erlebensweise, sehen die Romanwelt mit seinen Augen und tendieren daher dazu, uns mit ihm zu identifizieren. Zum anderen jedoch sind wir, wenn wir nur genau lesen, immer wieder gezwungen, uns von ihm zu distanzieren, sein Verhalten nicht nur als irrig und unangemessen, sondern oft auch als unmoralisch, ja skrupellos zu erkennen. Das könnte ein wichtiger Ansatz für die Interpretation des Textes sein: Sollen wir so vielleicht den Josef K. in uns entdecken – und uns von ihm distanzieren? (4.) Folgelasten der Modernisierung: Natürlich ist Modernität nicht ausschließlich eine formale Kategorie, sondern hat auch inhaltliche45 und gehaltliche Aspekte. Nur kann auf diese nicht eingegangen werden, ohne sich bereits an einer Deutung des Romanes zu versuchen. Ich kann hier also nur pauschal behaupten, was erst in Kapitel 4 zu belegen sein wird: Auch in seinem Wirklichkeits- und Subjektivitätsbegriff wie in seiner Kritik der Folgelasten der Modernisierung erweist sich der Process als moderner Roman.
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Nur an einer Stelle werden wir dadurch über K.s Fehleinschätzung der Situation belehrt, dass wir eine romaninterne Gegenperspektive erhalten: Bei seinem Gang durch die Gerichtskanzleien war K. anderen Angeklagten begegnet, die angstvoll auf ihn reagierten; K., der sich ihnen weit überlegen glaubt, meint in seinem Hochmut, dass man ihn wohl für einen Richter halte (vgl. P 93-95). Kaufmann Block aber war unter den Angeklagten und kann K. aufklären: Diese hatten vielmehr zu erkennen gemeint, dass K. »gewiß und bald verurteilt« (P 237) würde. Wobei es sich ebenso um bewusste Lügen wie um (meist auf Verdrängung beruhende) Selbsttäuschungen handeln kann. Damit ist nicht die bloße Darstellung einer î im soziologischen Sinne î ›modernen‹ Lebenswelt gemeint, da diese allein kein Signum von ästhetischer Modernität ist î sonst wären der Naturalismus und die Neue Sachlichkeit ja Teil der ästhetischen Moderne, was sie offensichtlich nicht sind.
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3. Forschungspositionen Kafkas Texte nicht deuten zu wollen, ist schlechterdings unmöglich. Im Falle des Process sind mindestens zwei Fragen unabweisbar: (1.) Was meint der zentrale Metaphernkomplex von Prozess/Gericht/Gesetz? (2.) Wie steht es mit der Schuld des ›Angeklagten‹ î ist Josef K. Opfer oder Täter? Wer K. für schuldig hält, wird darüber hinaus fragen müssen, (3.) ob es sich dabei um eine konkrete und vermeidbare Schuld handelt (womit der Roman eine Moral bekäme: Handle nicht wie Josef K.!) oder um eine Verschuldung, die dem Menschen (vielleicht: dem Menschen der Moderne) generell eigen ist (dann würde der Roman eine anthropologische, philosophische, kulturgeschichtliche, vielleicht auch religiöse Aussage machen).46 Wie immer die Antworten ausfallen mögen î ein Kriterium sollte eine Interpretation, die dem Text gerecht werden will, auf jeden Fall erfüllen: Ihre Antworten dürfen nicht trivialisierend sein. Die Komplexität von Kafkas Werken ergibt und rechtfertigt sich daraus (und das gilt für moderne Texte generell), dass der Verfasser seine Selbst- und Weltdeutung nur literarisch – in Bildern und Geschichten – geben konnte. Interpreten sind demgegenüber unvermeidlicherweise auf eine begrifflich-diskursive Sprache verpflichtet. Das kann aber nicht rechtfertigen, komplexe und spezifische Texte auf Gemeinplätze zu reduzieren î zumal wenn es die Gemeinplätze des kurrenten Diskurses sind. Die Uneinigkeit der Kafka-Forschung ist längst notorisch. Und in der Tat lassen sich auch zum Process die vielfältigsten (und abwegigsten) Deutungen finden.47 In ihrer großen Mehrheit gehören die Interpretationen allerdings vier Hauptrichtungen zu, die im Folgenden kurz typologisch charakterisiert werden sollen (wobei ich weitgehend auf Einzelnachweise verzichte).48 _____________ 46 47
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Außerdem wären (4.) die seltsame Verschränkung von Innen- und Außenwelt, (5.) die besondere Form des personalen Erzählens und (6.) die extreme Hermetik der Gerichtsinstanz, an der alle Deutungsversuche scheitern, zu klären. Wer den wenig empfehlenswerten Versuch machen will, sich mit der ganzen Fülle der publizierten Interpretationen zu konfrontieren, sei verwiesen auf: Maria Luise CaputoMayr, Julius Michael Herz (Hg.): Franz Kafka. Internationale Bibliographie der Primärund Sekundärliteratur. Bd. 1: Bibliographie der Primärliteratur 1908–1997, Bd. 2: Kommentierte Bibliographie der Sekundärliteratur 1955–1997, Teil 1: 1955–1980, Teil 2: 1981– 1997 mit Nachträgen zu Teil 1. 2., erweiterte Aufl. München 2000. Einen knappen allgemeinen Forschungsbericht gibt: Michael Müller: So viele Meinungen! Ausdruck der Verzweiflung. Zur Kafka-Forschung, in: Franz Kafka. Sonderband Text + Kritik. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 1994, S. 8-41. Unerwähnt bleiben dabei: die werkimmanente Kafka-Forschung, die sich, durchaus verdienstvoller Weise, auf Textanalysen konzentrierte; die Gender-Forschung (die sich zumeist an eine der anderen diskutierten Richtungen anschließt); sowie, als jüngste (und we-
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(1.) Biographische bzw. psychoanalytische Deutungen: Im Zentrum steht hier immer der bekannte Vaterkonflikt Kafkas, was auch die ›Schuld‹ Josef K.s als Schuldgefühl dem übermächtigen Vater gegenüber lesbar macht (wie es autobiographisch etwa der Brief an den Vater beschreibt). Im Fall des Process lässt sich das noch ergänzen um das Schuldgefühl gegenüber der Verlobten Felice Bauer: Am 12. Juli 1914, also kurz vor Beginn der Niederschrift, war die Verlobung im Berliner Hotel Askanischer Hof (ein erstes Mal) gelöst worden, und zwar unter Umständen, die Kafka im Tagebuch als »Gerichtshof im Hotel«49 bezeichnete. Solch biographische Deutungen sind bei Kafka immer zutreffend50 – und immer unzureichend. Wie bei zahlreichen Autoren der Moderne wurzelt Kafkas Schreiben ganz im Existenziellen als Authentizität wie Geltung fundierendem Wahrheitsgrund. Dieses Persönliche wird jedoch als î anthropologisch wie historisch î repräsentativ aufgefasst und daher konsequent verallgemeinert. Psychoanalytische Lektüren erklären, in ihrer dogmatischen Variante, dieses (wie jedes) biographische Substrat mit ihrem Passepartout des Ödipus-Komplexes î dann ist das Gericht eben eine Vaterinstanz, mit der K. in seinem sexuellen Begehren vergeblich kämpft (und alle Frauenfiguren werden zur Mutter-Imago). Das wird so nur der unterschreiben können, der die Freud’sche Lehre nicht für ein historisches Konstrukt, sondern für schlechterdings wahr hält. Aber natürlich gibt es auch undogmatischere Varianten, die an die im Text unübersehbaren Thematisierungen von Begehren und Macht anknüpfen können: Peter-André Alt hat etwa in seiner 2005 erschienenen Kafka-Monographie vorgeschlagen, die Welt des Process als Objektivierung des psychischen Systems und seiner Strukturen zu lesen. Das ist eine höchst bedenkenswerte These, nur müsste zu ihrer Konkretisierung die im Roman tatsächlich entfaltete Struktur dieses psychischen Systems, also eben Kafkas Auffassung von ihm, rekonstruiert werden, wenn man den literarischen Text und seinen heuristischen Wert ernst nehmen will. Psychoanalytische Interpreten lesen diesen aber einfach als Illustration psychoanalytischer Theoreme (bei Alt handelt es sich um eine poststrukturalistisch reformulierte Psychoanalyse: Freud mit Foucault _____________ 49 50
nig überzeugende) Richtung, die postkoloniale Kafka-Deutung (vgl. etwa: John Zilcosky: Kafka’s Travels. Exoticism, Colonialism, and the Traffic of Writing. New York 2003). Kafka: Tagebücher, S. 658; 23. Juli 1914. So mag der Ursprung der Gerichtsmetapher (als Inspirationsimpuls) durchaus in diesem Tagebucheintrag liegen und die Figurenkonstellation Josef K. î Fräulein Bürstner î Fräulein Montag mag durchaus ihren Ursprung im Beziehungsdreieck Kafka – Felice Bauer – Grete Bloch haben. Offensichtlich bewegt sich der Roman jedoch so weit von diesen Inspirationsanlässen weg, wie das literarische Texte meist zu tun pflegen î weswegen solcher Biographismus in der Literaturwissenschaft längst als obsolet gilt (in der Kafka-Forschung aber immer noch fröhliche Urstände feiert).
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und einem Schuss Derrida vermischt). Das führt zu allegorischen Lesarten, nach denen beispielsweise die Advokaten »den Wächtern« »entsprechen«, »die nach Freud an der Schwelle zum Bewußtsein stehen und die Mächte des Unbewußten – als Repräsentanten der Anklagebehörde î zurückzudrängen suchen«.51 (2.) Soziologische Lektüren: Kafkas Werk realistisch zu lesen, heißt, es als (verfremdetes) dichterisches Abbild unserer Lebenswelt zu deuten. Das tun wir alle, wenn wir einen Verwaltungs- oder Behördenakt als ›kafkaesk‹ bezeichnen. In einer solchen Lektüre wird der Process zur Gestaltung der verwalteten Welt, der vielfältigen Einengungen und Bedrohungen, die das Individuum heute durch anonyme Mächte erfährt, zur Anklage des Kapitalismus, zur prophetischen Vorwegnahme der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts oder, aktueller und à la Foucault, zur Verbildlichung der das Begehren unterdrückenden ›Macht‹. Gemeinsam ist all diesen Interpretationen ihre unverbrüchliche Solidarität mit Josef K., dem unschuldigen Opfer. Auch solche Lektüren haben ihr offensichtliches Recht. Natürlich bezieht sich Kafka auf Strukturen der modernen Welt (Bürokratie, Geschäftswelt) und natürlich ist Macht ein Grundthema seiner Texte. Die Frage ist nur, worin diese Macht für Kafka ihren Ursprung hat – wirklich in gesellschaftlichen Strukturen, die unschuldige (und per se gute) Individuen unterjochen? (3.) Dekonstruktivistische Lektüren: Dieses (die Kafka-Forschung in den letzten zwei Jahrzehnten dominierende) Forschungsparadigma hat zwei einfache Leseregeln, die sich auf jeden Text anwenden lassen: (a) Literarische Texte handeln immer nur vom Schreiben, sind also totaliter selbstbezüglich; (b) dabei thematisieren sie immer nur die ›différance‹, die NichtPräsenz von Sinn und Bedeutung î und damit das unabweisliche Scheitern aller Sinnstiftungs- bzw. Deutungsakte.52 So problematisch dekonstruktivistische Interpretationen generell sein mögen (wie die psychoanalytischen sind sie radikal ahistorisch und in der Anwendung ihres interpretatorischen Passepartout gleichgültig gegenüber jeder Textspezifität) î bei Kafka haben sie ihr offensichtliches fundamentum in re (bzw. in textu), wie etwa das auf die Türhüterlegende folgende Deutungsgespräch bezeugt. Zu glauben, dass Literatur immer nur von _____________ 51 52
Peter-André Alt: Franz Kafka: Der ewige Sohn. München 2005, S. 404f. Auch hier gibt es natürlich undogmatischere Varianten, etwa in der kürzlich von Oliver Jahraus veröffentlichten Monographie: Kafka. Leben, Schreiben, Machtapparate. Stuttgart 2006. Jahraus sucht nach einem Mittelweg zwischen den Extremen einer rein inhaltlichen bzw. einer rein dekonstruktivistischen Lektüre (vgl. ebd., S. 299). Ich kann im Ergebnis allerdings nicht viel mehr als eine Bindestrich-Synthese zwischen Foucault und Derrida sehen, die ohne jede bewusstseinsgeschichtliche Spezifik bleibt.
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Literatur oder vom Deuten handle, halte ich allerdings für eine déformation professionnelle von Literaturwissenschaftlern.53 Außerdem wäre zu fragen, welche Art von Deutungsakten im Roman an welchen Deutungsobjekten scheitert – nur dann wäre die Interpretation die eines Kafka-Textes und nicht die simple Applikation des ebenso bekannten wie fragwürdigen différance-Theorems. (4.) Religiöse und existenzialistische Lektüren: Religiöse Deutungen des Process wurden von Max Brod inauguriert, der das Gericht als eine Erscheinungsform der richtenden Gottheit verstand. Zusammen mit existentialistischen Deutungen î hier liegt K.s Schuld in seiner seinsvergessenen, an das ›man‹ verlorenen, ›uneigentlichen‹ Existenzweise54 î dominierten sie von der Erstpublikation bis in die 1960er Jahre die Lektüre Kafkas im Allgemeinen wie die des Process im Besonderen. Gerade das aber macht sie für historisch orientierte Interpreten interessant: Sie sind, schon rein zeitlich gesehen, ›näher‹ am Text bzw. an der Selbstdeutung Kafkas, der seine historische Repräsentanz gerade in seinem säkularisierten ›Westjudentum‹ sah.55 Zudem nehmen nur religiöse und existentialistische Interpreten die religiöse Metaphorik des Textes ernst und nur sie halten K. für schuldig î was mir überzeugender scheint als die heute dominierende Verdrängung religiöser Aspekte56 und die immer noch weit verbreitete Parteinahme für Josef K. Allerdings haben religiöse Interpretationen à la Brod auch mindestens zwei unübersehbare Schwächen: Zum einen war Kafka vom immer noch gläubigen Ostjudentum wie vom neuen, zionistischen Versuch einer jüdischen Identitätsfindung zwar ganz offensichtlich fasziniert î wurde dadurch aber selbst weder gläubiger Jude noch Zionist. Zum anderen er_____________ 53 54
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Natürlich deuten auch Juristen Gesetzestexte î das reduziert das Gericht aber nicht auf eine Hermeneutikmetapher (und macht Josef K. nicht einfach zum schlechten, da dekonstruktivistisch unaufgeklärten Interpreten). Ein maßgeblicher Vertreter dieser Interpretation ist Beda Allemann mit seinem noch immer höchst lesenswerten Aufsatz: Franz Kafka. Der Prozeß, in: Benno von Wiese (Hg.): Der deutsche Roman. Düsseldorf 1963, Bd. 1, S. 234-290 u. 439-441. Freilich ist das existentialistische Deutungsmodell historisch bereits einen Schritt weit von Kafka entfernt; vgl. die präzise Abgrenzung in Dorothea Lauterbach: »Unbewaffnet ins Gefecht« – Kafka im Kontext der Existenzphilosophie, in: Manfred Engel, Dieter Lamping (Hg.): Franz Kafka und die Weltliteratur. Göttingen 2006, S. 305-325. Vgl. etwa die bekannte Passage im Brief an Milena vom November 1920, in der sich Kafka als »der westjüdischste« aller »Westjuden« bezeichnet (Franz Kafka: Briefe an Milena. Hg. v. Jürgen Born u. Michael Müller. Frankfurt a.M. 1986, S. 308. Fortgeführt wird sie eigentlich nur in den Interpretationen, die Kafkas jüdischen Kulturund Denkhintergrund ernst nehmen. Dies kann zu plattem Positivismus führen, zu anregenden Spekulationen (wie bei Walter Benjamin und Gershom Scholem), aber auch zu differenzierten Textdeutungen wie etwa in der grundlegenden Monographie von Ritchie Robertson: Kafka. Judentum, Gesellschaft, Literatur. Stuttgart 1988.
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scheint die Gerichtswelt im Roman als viel zu schäbig und korrupt, um einfach als Offenbarung des Göttlichen aufgefasst zu werden.
4. Deutungsvorschlag Ich habe meinen eigenen Deutungsversuch sehr bewusst an den Schluss des Beitrages gestellt und werde ihn, ebenso bewusst, nur knapp skizzieren. Es wäre naiv zu hoffen, dass die Interpretation eines Kafka-Textes je auf allgemeine Zustimmung rechnen könnte (was, wie ich hoffe, für eine genaue Textbeschreibung mindestens nicht im gleichen Maße gilt). Strukturanalyse und Forschungsüberblick dürften gezeigt haben, worauf die Deutungsvielfalt im Falle des Process beruht: zum einen (und ganz allgemein) natürlich auf der erläuterten Kombination von Deutungsprovokation und Deutungssabotage, die den Text leicht zum Rorschachtest werden lässt, zur bloßen Projektionsfläche für Weltdeutungsgrundmuster von Lesern wie Interpreten; zum anderen (und spezifischer) auf der Engführung theologischer, psychologischer, soziologischer und hermeneutischer Kategorien im Process, die die Interpreten geradezu nötigt, eine dieser Textebenen zur Metaebene für alle anderen zu erklären. Historisch orientierte Interpreten, die von Kafkas Selbstexplikationen und vom bewusstseinsgeschichtlichen Kontext der frühen Moderne ausgehen, wie ich das im Folgenden tue, werden die religiöse Textdimension ernster nehmen als aktualisierende Interpreten (was aber natürlich keine Rückkehr zu Deutungen à la Brod bedeuten kann). 4.1 Die Dreiteilung der Romanwelt Ich habe die Romanwelt bisher als Doppelwirklichkeit aus Alltags- und Gerichtswelt beschrieben (wie es die meisten Interpreten tun). Liest man genauer, wird man aber von drei Wirklichkeitsbereichen sprechen müssen. Die Welt des Gerichtes ist in vielfältige Hierarchien gegliedert: Über den unteren Instanzen, die wir allein kennen lernen, steht noch ein ›oberstes‹ ›hohes‹ Gericht, das von seinem ganz anderen ontologischen Status her als eigener, dritter Raum gelten muss. K. erinnert sich an diese Instanz kurz vor seinem Tode: »Wo war das hohe Gericht bis zu dem er nie gekommen war?« (P 312) Titorelli weiß zu berichten, dass nur dieses »oberste, für Sie, für mich und für uns alle ganz unerreichbare Gericht« »das Recht endgiltig freizusprechen [hat]. Wie es dort aussieht wissen wir nicht und wollen wir
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nebenbei gesagt auch nicht wissen« (P 213).57 Diese absolute Ferne teilt das hohe Gericht mit dem ›Gesetz‹. Beide sind das ganz ›Andere‹ zu unserer Lebenswelt î und damit radikal unzugänglich und unverstehbar. In der Terminologie traditioneller Metaphysik wären sie das ›Absolute‹ genannt worden; Kafka wird in den rund drei Jahre später in Zürau entstandenen Aphorismen dafür stark metaphysiklastige Begriffe wie »die geistige Welt« oder »das Unzerstörbare [in uns]«58 verwenden. Freilich sind diese Aphorismen keine ausformulierte Metaphysik, sondern höchst komplexe Texte, nicht Schlüssel zum Werk, sondern ebenso verschlossen wie dieses î daher erschließen Aphorismen und Erzähltexte einander allenfalls wechselseitig.59 Kehren wir also zu unserer Beschreibung der Romanwelt zurück: Während das ›oberste Gericht‹ oder ›Gesetz‹ tatsächlich das ganz ›Andere‹ zur Lebenswelt wäre, sind die unteren Gerichtsinstanzen, die wir im Roman allein kennen lernen, eine Art von Hybride zwischen ›Gesetz‹ und Alltagswelt, in der sich ›Anderes‹ und Wohlvertrautes auf eigentümliche Weise verbinden. Anders sind sie, weil mit ihnen in K.s Leben ein absoluter Maßstab, ein (Selbst?-)Rechtfertigungsappell tritt,60 der in seiner Radikalität über alle bloß gesetzlichen oder moralischen Verhaltensregeln weit hinausreicht.61 Wohlvertraut ist die Gerichtswelt der unteren Instanzen _____________ 57
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Dass die Helfer und Vermittler am höheren Gericht desinteressiert sind, liegt daran, dass sie dort keine Macht haben. Auch Advokaten sind vor ihm nicht mehr zugelassen (vgl. P 162f.; nach einem von Kaufmann Block überlieferten Gerücht gibt es allerdings auch »große Advokaten« [P 242-244]). Wie oft bei Kafka verbindet sich diese ominöse höchste Instanz mit einer historischen Indizierung: Früher gab es »alte große Richter« (P 204), nach deren Vorbild die heutigen gemalt werden wollen; alte »Legenden« (P 207) berichten von Freisprüchen. Franz Kafka: KA, Band: Nachgelassene Schriften und Fragmente [im Folgenden zitiert als NSF]. Hg. v. Jost Schillemeit. Frankfurt a.M. 1992, Bd. II, S. 31, 59; vgl. auch S. 55, 58, 65, 66. Was sich an den Aphorismen allerdings deutlich ablesen lässt, sind Differenzpunkte zur traditionellen Metaphysik, die auch für den Process gelten: (a) Kafka verwendet keine einfache Zwei-Welten-Lehre nach dem Muster Immanenz vs. Transzendenz î für ihn gibt es nur eine Wirklichkeit (vgl. z.B. NSF II 59, 62); eng damit zusammenhängend: (b) das ›Unzerstörbare‹ liegt in jedem Individuum (vgl. z.B. NSF II 55, 66) î so wie es in der Türhüterlegende (einen etwa zeitparallelen Begriff Georg Simmels aufgreifend) um ein ›individuelles Gesetz‹ geht. Wollte man die knappste und metaphysikfernste Formulierung dafür suchen, so könnte sie vielleicht lauten: Die geistige Welt ist für Kafka ein inneres Gebot (vgl. NSF II 85-87). Dies ist der Kern meines Deutungsvorschlags, für dessen größten Vorteil ich halte, dass er fast nichts anderes ist als eine Paraphrase des Romangeschehens î keine auf (metaphorischen) Analogien beruhende Allegorese, sondern eine verallgemeinernde Metonymie î und dass er von der Textebene ausgeht, die der Roman selbst als die primäre setzt. Dem absoluten Maßstab korrespondiert die absolute Strafe î die uns, die wir mit relativen Maßstäben operieren, als völlig inadäquat erscheinen muss.
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dagegen, weil sie in ihren Grundzügen nichts anderes zu sein scheint als das zur Kenntlichkeit entstellte Zerrbild unserer Lebenswelt. Der Gerichtsbereich, den wir tatsächlich kennen lernen, ist schäbig, armselig und schmutzig (vgl. z.B. P 88, 93, 103), seine Vertreter sind eitel und prätentiös (vgl. z.B. P 142, 196), agieren in rigiden Hierarchie- und Machtstrukturen. Und selbst wenn K.s Behauptung, das Gericht bestehe »fast nur aus Frauenjägern« (P 290) überspitzt sein mag, so kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass sexuelles Begehren sich hier ebenso häufig wie offen manifestiert. All diese Verhaltensweisen kennen wir auch aus K.s Lebenswelt, nur dass sie dort unter Konventionen und Höflichkeitsformeln versteckt bleiben. Man vergleiche etwa den subtilen Machtkampf zwischen K. und dem Direktor-Stellvertreter mit der brutalen Demütigung des Kaufmanns Block durch den Advokaten; K.s Aggressionsakt, in dem er einem Untergebenen einen Brief aus der Hand nimmt und zerreißt (vgl. P 354f.),62 mit der brutalen Gewalt und dem offenen Sadismus der Prüglerszene; oder das erotische Geplänkel zwischen K. und Fräulein Bürstner, das in einem leidenschaftlichen Kuss gipfelt (vgl. P 3948), mit dem Verhalten des Untersuchungsrichters, der sich die begehrte Frau gewaltsam ins Bett holen lässt (vgl. P 85f., 89f.). Einerseits ist das Gericht also ein Gegenentwurf zur Alltagswelt î so radikal anders, dass er nicht nur ihren Denkkategorien größten Widerstand leistet, sondern sich in ihr nicht einmal in Reinform manifestieren kann (also als ›Gesetz‹ oder ›hohes Gericht‹). Andererseits dekuvriert er die Lebenswelt, legt in ihr (Trieb-)Strukturen bloß, die ansonsten unauffällig blieben. Über den metaphysischen oder quasi-metaphysischen Status des ›Gesetzes‹ lässt sich nur spekulieren, seine Funktion in Bezug auf die Alltagswelt ist jedoch präzise beschreibbar. Daher sollte eine Interpretation von dieser Funktion ausgehen î das aber heißt, nach dem ›Angeklagten‹ Josef K. zu fragen, der der offensichtliche Repräsentant der Alltagswelt und daher auch das prädestinierte Objekt zur Manifestation der Einwirkungen des ›Gesetzes‹ ist.
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»Das allerdings was er am liebsten getan hätte, hatte er nicht tun dürfen, Kullych zwei laute Schläge auf seine bleichen runden Wangen zu geben« (P 355).
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4.2. Josef K. und seine ›Schuld‹ Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Josef K. kaum als ausdifferenziertes Individuum gelten darf. Er ist ein Typus, der Repräsentant einer kollektiven kulturellen Identität,63 die für Kafka die der säkularisierten Moderne ist. Deren Oberfläche ist bestimmt durch ein wohl angepasstes Agieren in etablierten sozialen Rollen und Konventionen, das geleitet wird von Aufstiegsstreben, Durchsetzungsstärke, Selbstkontrolle und (instrumenteller) Rationalität. Die Problematik dieser Verhaltensweisen, ihre Defizite wie ihre Motivationen, werden erst deutlich, wenn sie in das verfremdende Licht der andersartigen Gerichts-Welt rücken. Betrachten wir etwa die folgende Reflexion K.s, die ich für einen wesentlichen Schlüssel zum Textverständnis halte: Vor allem war es, wenn etwas erreicht werden sollte, notwendig jeden Gedanken an eine mögliche Schuld von vornherein abzulehnen. Es gab keine Schuld. Der Proceß war nichts anderes, als ein großes Geschäft, wie er es schon oft mit Vorteil für die Bank abgeschlossen hatte [...]. Zu diesem Zwecke durfte man allerdings nicht mit Gedanken an irgendeine Schuld spielen, sondern den Gedanken an den eigenen Vorteil möglichst festhalten (P 168).
Dass jemand im Geschäftsleben sachlogisch und zielorientiert agiert, ist uns nicht nur vertraut, sondern gilt uns auch als (mehr oder weniger) akzeptabel, zumindest wenn wir die Ausdifferenzierung der Moderne in unterschiedliche Teilsysteme mit je eigenen Wertelogiken verinnerlicht haben. Der Transfer in einen Raum, der schon im ersten Satz des Romans als der einer Entscheidung über ›gut‹ und ›böse‹ definiert ist, lässt dieses Handeln allerdings in einem ganz anderen Licht erscheinen î ebenso wie die rücksichtslose Instrumentalisierung von Menschen als Mittel zum Zweck (in der K. aus dem Schloss seinen Vorgänger noch weit übertreffen wird). Und die kategorische Abwehr jedes Nachdenkens über ›Schuld‹ î uns durchaus wohl vertraut aus szientistischen Konzepten einer globalen sozialen oder biologischen Determination des Menschen î, erscheint im Horizont der Ethik bereits als implizites Schuldbekenntnis. Obwohl K. den Gedanken an Schuld stets zu verdrängen sucht, gerät er in seinem neuen Leben immer wieder in Situationen, in denen er sich ethischen Überlegungen nicht entziehen kann: etwa, wenn er selbst zum Objekt ›unethischen‹ Verhaltens wird (so in seiner vielfältig moralisch argumentierenden Verteidigungsrede beim ersten Verhör; vgl. P 64-70) oder es an Personen erlebt, mit denen er sich identifizieren kann (wie etwa bei der Demütigung Blocks durch den Advokaten; vgl. P 259-269). Die Prüg_____________ 63
Den Begriff übernehme ich von Lauterbach: »Unbewaffnet ins Gefecht«, S. 322.
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lerszene, in der K. mit nackter Gewalt und elementarem physischem Leiden konfrontiert wird, führt sogar dazu, dass er, zum ersten und einzigen Mal im Roman, ein radikal ethisches Verhalten zumindest erwägt: eine »Aufopferung«, in der er sich »selbst ausgezogen und dem Prügler als Ersatz für die Wächter angeboten« (P 115) hätte. Natürlich weist K. diesen Gedanken – wie auch jede Schuld (»es war nicht seine Schuld« [P 114]) î weit von sich. Signifikant ist jedoch, dass er ihn nun überhaupt denken kann. Im Raum des Gerichtes wird K. jedoch nicht nur mit der Schuldfrage konfrontiert; hier werden auch andere Defizite und Leerstellen in seiner kulturellen Identität manifest, die ihm verborgen blieben, solange »die Gedanken an die Bank […] ihn […] ganz […] erfüll[t]en« (P 338): die emotionale Leere und soziale Bezuglosigkeit seiner Existenz und das Ausblenden ›geistiger‹ Welten wie der der Kunst (vgl. P 272) oder der Religion.64 Die Konfrontation mit der Gerichtswelt zeigt schließlich auch die unbewussten Triebregungen auf, die den vermeintlich rationalen und sachlogischen Oberflächen seiner Lebenswelt zugrunde liegen. Das betrifft, erstens, die Hierarchie- und Machtstrukturen, die eben nicht einfach objektive Strukturen sind, sondern Produkte eines durchaus triebhaften Machtstrebens der Subjekte, eines ›Willens zur Macht‹, in dem sich eine elementare vitale ›Kraft‹ manifestiert, über die K. in seinen besten – oder schlimmsten î Zeiten auch verfügte und die nun an den DirektorStellvertreter übergegangen ist (P 187).65 Macht ist bei Kafka das Resultat von Macht-Kämpfen, in denen sich der vital Stärkere durchsetzt î praktisch alle Gesprächsszenen des Romans und alle sozialen Interaktionen demonstrieren dieses Machtstreben, den Kampf um die »Plus-Situation«,66 die Position der »Überlegenheit« (z.B. P 16), die es ermöglicht, mit dem Anderen zu »spielen« (z.B. P 26, 347). Je mehr K. seine Selbstkontrolle
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Für K.s Säkularisierung hat Kafka im Dom-Kapitel evidente Bilder gefunden: K. plant eine kunsthistorische Besichtigung der Kirche, hat sich dazu mit einem »Album der städtischen Sehenswürdigkeiten« ausgerüstet, das er erschrocken wegwirft, als der Geistliche ihn fragt, ob es sich um ein »Gebetbuch« handle – »Laß das Nebensächliche« (P 288), hatte er K. zuvor aufgefordert. Ebenso emblematisch für den Traditionsbruch der modernen Kultur ist der Kontrast zwischen dem »ewigen Licht« in der Kirche, das K.s kunsthistorische Betrachtung des Altarbildes stört, und der »elektrischen Taschenlampe« (P 280f.), deren er sich bedient. Dass K. sich im Dom geradezu reflexhaft »bekreuzigt« (P 284), zeigt übrigens, dass er christlich erzogen wurde. Bezeichnenderweise ist der humane und mitfühlende Direktor demgegenüber als krank und »leidend« (z.B. P 276) gezeichnet. Ein Begriff aus Alfred Adlers Individualpsychologie, deren enorme kulturdiagnostische Relevanz für die Zeit der frühen Moderne die Freud-fixierte Literaturwissenschaft nie wirklich erkannt hat.
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verliert, desto deutlicher wird die nackte und brutale Aggression bloßgelegt, die hinter diesem Machtwillen steckt.67 Offensichtliches Pendant dieses vitalen Machtstrebens ist, zweitens, ein ebenso aggressives sexuelles Begehren. Vor seinem Prozess hatte K. sein Triebleben genauso rational organisiert wie den Rest seiner Existenz î wöchentliche Besuche bei Elsa, mit der ihn keine emotionale Beziehung verbindet, genügten zur Triebabfuhr. Mit der Lockerung seiner Fixierung auf die Bankwelt steigt jedoch auch die Intensität seines sexuellen Begehrens î etwa in der jähen Faszination durch die Frau des Gerichtsdieners, die ihn imaginieren lässt, dass »dieser üppige gelenkige warme Körper im dunklen Kleid aus grobem schweren Stoff durchaus nur [ihm] gehörte« (P 83). Es ist jedoch nicht nur sexuelles Begehren, das sich nun machtvoll aus seiner Verdrängung befreit, sondern ebenso eine Sehnsucht nach menschlicher Nähe und »Fürsorge«, die K. jetzt »bezaubert«, während er sie früher »eher abgelehnt als hervorgelockt hatte« (P 335). Durchaus selbst darüber verblüfft, muss er sich Leni gegenüber eingestehen: »Nun ja, ich habe sie lieb« (P 246). Wenn die Oberflächlichkeit von K.s Existenz aufgebrochen wird, treten also nicht nur Machtwille und (ebenfalls stark machtaffines) Begehren hervor. Zu Kafkas (von Freud klar geschiedener) Tiefenpsychologie der modernen Identität gehört ebenso die Annahme eines verdrängten Strebens nach dem ›Gesetz‹, also so etwas wie ein Gewissen, ein elementar ethisches Streben (für Freud nur Effekt eines kulturell induzierten ›ÜberIch‹). Das wird in der Haupthandlung des Romans erst evident, wenn man Kafkas Verschränkung von Innen- und Außenwelt ernst nimmt. In dieser Romanwelt gibt es nichts einfach nur Äußeres – dann kann aber auch die ›Verhaftung‹ keine bloße Fremdeinwirkung externer Mächte sein.68 Selbst auf der Handlungsebene ruft K. ja durch sein »Läuten« (P 7) den Wächter herbei.69 Unmittelbar thematisch wird dieses Begehren nach dem Gesetz in der Türhüterlegende.
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So reflektiert K. etwa im Sitzungssaal: »Wenn er zuhause bliebe und sein gewohntes Leben führen würde, war er jedem dieser Leute tausendfach überlegen und konnte jeden mit einem Fußtritt von seinem Wege räumen« (P 86). Wie dünn diese Decke der Kultur ist, zeigt sich schon im ersten Kapitel – etwa in dessen Schlusssatz »nur Kaminer stand mit seinem Grinsen zur Verfügung, über das einen Spaß zu machen leider die Menschlichkeit verbot« (P 29). Gerichtspersonen weisen K. wiederholt darauf hin, so etwa der Gefängnisgeistliche: »Das Gericht will nichts von Dir. Es nimmt Dich auf wenn Du kommst und es entläßt Dich wenn Du gehst« (P 304). In eben dem Zustand traumnaher mangelnder Geistesgegenwart, in dem rationale Verdrängungen und Ausgrenzungen (noch) nicht funktionieren (vgl. das Zitat in Anm. 37).
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4.3. Die Türhüterlegende Eigentlich ist diese viel umrätselte Geschichte klar und einfach, im Kontext des Romans sogar eine schulgerechte Parabel mit einer evidenten Moral. Der Geistliche erzählt sie K., weil er sich über das Wesen des Gerichtes täuscht (vgl. P 292) î und K. beweist diese Täuschung dadurch, dass er im Deutungsgespräch hartnäckig daran festhält, dass das Gericht eine täuschende Instanz sei, die den Angeklagten feindselig und aggressiv entgegenträte. Diese sozusagen äußerliche Botschaft lässt freilich das zentrale Rätsel der Geschichte ungelöst, das in einem Paradoxon besteht: Dem zum Gesetz strebenden70 »Mann vom Lande« wird der Eintritt verwehrt, obwohl der Türhüter dem Sterbenden schließlich erklärt: »dieser Eingang war nur für Dich bestimmt« (P 294f.). Naheliegenderweise haben viele Interpreten versucht, dieses Paradoxon aufzulösen. Das Verhalten des ›Mannes vom Lande‹ stellt offensichtlich keine gültige Auflösung dar: Er verwartet sinnlos sein Leben – und beschränkt seine Aktivitäten auf vergebliche Versuche, den Türhüter zu beeinflussen. Für ihn wie für K. gilt somit der Vorwurf des Geistlichen: »Du suchst zuviel fremde Hilfe« (P 289).71 Welche anderen Optionen hätte es jedoch gegeben? Natürlich hätte der Mann einfach weggehen können. Übertragen auf Josef K. hieße das: Ein Leben zu führen wie vor dem Prozess î was kaum eine gültige Lösung sein dürfte. Die andere Option wäre gewesen, sich um die Warnungen des Türhüters nicht zu scheren und einfach durch das Tor zu gehen (was vor allem autoritätskritische Interpreten gerne empfehlen). Ich halte mich hier an die simple Alltagsmaxime: Wer kann, der tut. Der Mann vom Lande konnte offensichtlich nicht – und da er ein parabolischer Held ist, also eine Figur von großer Allgemeingeltung, gibt es keinen vernünftigen Grund anzunehmen, dass eine solche Tat menschenmöglich wäre. Man hat zu Recht darauf verwiesen, dass ein Aphorismus Kafkas sich wie eine direkte Antwort auf das Türhüter-Paradoxon liest: »Theoretisch gibt es eine vollkommene Glücksmöglichkeit: An das Unzerstörbare in _____________ 70
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Erst kurz vor seinem Tod erkennt er, mit verdunkeltem Augenlicht, »den Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht« (P 294). Dass wir mit dem Tod ins ›Gesetz‹ eingehen, ist in Kafkas Welt nirgendwo garantiert; wohl aber ermöglicht das Sterben als Los-Lassen aller Denkkategorien und Selbstbehauptungsstrategien der ›sinnlichen Welt‹ eine Selbstmanifestation des Gesetzes als ›Licht‹ (weswegen wohl auch K.s beglückender Halbtraum im Fragment Das Haus î vgl. bes. P:A 346 î eine Sterbensvision ist) und eine Apotheose der Individualität (so im Text Ein Traum aus dem Landarzt, der zwar nicht zum Process-Manuskript gehört, aber ein Paralipomenon im weiteren Sinne ist î ebenso wie die während der Arbeit am Roman geschriebene Erzählung In der Strafkolonie). Allerdings ist K., bei aller Unfähigkeit zur Schuldreflexion, weniger vermittlerfixiert als andere Angeklagte (wie etwa der Kaufmann Block).
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sich glauben und nicht zu ihm streben« (NSF II, 128).72 Das ist freilich nur eine ›theoretische‹ Möglichkeit, die zudem das Paradoxon nicht auflöst, sondern ein ihm adäquat paradoxes Verhalten empfiehlt. î Wenn Kafka eine Botschaft an den modernen Menschen haben sollte, so wäre es wohl genau diese.73
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In der ersten Niederschrift ist das Wort »nicht« unterstrichen (NSF II 65). Man könnte erwägen, dieses Fazit mit einer rätselhaften Reflexion K.s kurz vor Romanschluss in Verbindung zu bringen: »Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen der leben will, widersteht sie nicht« (P 312). Wenn man Kafkas vielfach beteuertem Todeswunsch glaubt, wäre der Lebenswille eher ein negativer Impuls, ein VerharrenWollen in der ›sinnlichen Welt‹. Da K. aber erst in seinem Prozess erfahren hat, was leben heißt, ließe sich der Passus auch anders lesen, nämlich als Option, das un-logische Paradoxon zu leben î was Kafka nur schreibend tun konnte.
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Endlich besiegte Zeit. Hermann Hesses Roman Der Steppenwolf (1927) 1. Das Welttheater des Inneren, über das Hermann Hesse (1877–1962) im Steppenwolf nachdenkt und das er am Ende des Werkes in das Bild eines Magischen Theaters überführt, ist in der deutschen Literatur seit dem 18. Jahrhundert auf sehr unterschiedliche Weise ausgeleuchtet worden. Der im Jahr 1927 veröffentlichte Roman verbindet die Traditionen pietistischer Selbstbefragung und empfindsamer Innerlichkeit, romantischer Selbstversunkenheit und biedermeierlicher Introspektion zu einem Werk, welches als ein Reflex auf die Relativität und Selbstreferentialität der Moderne eine kultur- und zivilisationskritische Position einnimmt. »In unsrer Zeit ist der Dichter […] zwischen der Maschinenwelt und der Welt intellektueller Betriebsamkeit gleichsam in einen luftleeren Raum gedrängt und zum Ersticken verurteilt«, schreibt Hesse 1929 im Bekenntnis des Dichters, »denn der Dichter ist ja Vertreter und Anwalt gerade jener Kräfte und Bedürfnisse des Menschen, denen unsere Zeit fanatisch den Krieg erklärt hat.«1 Bereits in dem Vorwort des fingierten Herausgebers, das Peter de Mendelssohn, auf Gerhart Hauptmanns Buch der Leidenschaft hinweisend, als einen Versuch des Autors deutet, sich »vom allzu direkten autobiographischen Bezug zu distanzieren«,2 bereits im Vorwort wird herausgestellt, dass die Aufzeichnungen Harry Hallers, des Steppenwolfes, nicht »bloß die pathologischen Phantasien eines einzelnen, eines armen Gemütskranken« sind, sondern »ein Dokument der Zeit, denn Hallers Seelenkrankheit ist […] nicht die Schrulle eines einzelnen, sondern die Krankheit der Zeit _____________ 1 2
Hermann Hesse: Bekennntis des Dichters, in: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Volker Michels. Bd. XIV: Betrachtungen und Berichte 1927–1961. Frankfurt a.M. 2003, S. 394f., hier S. 394. Peter de Mendelssohn: Die unheimliche Kreuz- und Querspinne, in: Volker Michels (Hg.): Materialien zu Hermann Hesses Der Steppenwolf. Frankfurt a.M. 1972, S. 251-263, hier S. 254.
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selbst«.3 Wie Thomas Mann in seinem drei Jahre zuvor veröffentlichten Roman Der Zauberberg erzählt Hesse die Geschichte eines Einzelnen nicht um seiner selbst willen, sondern um der Geschichte willen, die aus dem Leid des Individuums erwachsend zu einem Sinnbild wird für die Zeit, für jene fünfzehn Jahre zwischen dem Ende des Ersten Weltkrieges im November 1918 und der Ernennung Adolf Hitlers zum Kanzler des Deutschen Reiches im Januar 1933, in denen die erste deutsche Republik ihrem Ende entgegenstrebte und die deutsche Literatur, aus dem langen Schatten des Idealismus heraustretend, zu einem Versuchsfeld intellektueller Möglichkeiten werden konnte. Im Kontext der Werke der deutschen Literatur der 1920er Jahre, die sich thematisch wie stilistisch von den Konventionen einer als verbraucht und letztlich auch belastet betrachteten Tradition emanzipieren, scheint der Steppenwolf mit seiner an der romantischen Schreibart Joseph von Eichendorffs und Ludwig Uhlands oder dem biedermeierlichen Ton Adalbert Stifters und Eduard Mörikes geschulten Sprache und Bildlichkeit den Versuch zu unternehmen, die Neuromantik des späten 19. Jahrhunderts fortzusetzen. Bereits 1927 deutet Hugo Ball Hesse in diesem Sinne als einen Verteidiger der Romantik vor der »Psychose einer sehr anders gearteten Welt«.4 Aber die Krise des Individuums, von der schon Clemens Brentano und E.T.A. Hoffmann wussten, wird bei Hesse weitaus radikaler und kompromissloser beschrieben, als dies in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts möglich war. Die Bilder und Metaphern dieses Romans sind eine literarische Anverwandlung der wissenschaftlichen Psychoanalyse Sigmund Freuds wie der nihilistischen Philosophie Friedrich Nietzsches. In dem Bewusstsein um die geistesgeschichtliche Verfasstheit seiner Gegenwart formuliert der Roman Kritik an der Moderne innerhalb der Moderne. Bei den zeitgenössischen Lesern des Werkes ist ein zwischen Faszination und Befremden changierendes Erschrecken zu beobachten, ein Erschrecken darüber, dass die Verzweiflung des Individuums in der Moderne nicht reflexiv gebrochen wird, sondern aus einem inneren Monolog unmittelbar zum Leser spricht und gleichwohl der epischen Tradition der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert verpflichtet bleibt. »Es gibt neben dem Idylliker und Asketen einen robusten, veitstänzerischen, flagellantischen Hesse«, notiert Hugo Ball und kommt zu dem Schluss, dass in diesem »ernsten Buche […], mit negativen Vorzeichen, die Romantik noch _____________ 3 4
Hermann Hesse: Der Steppenwolf, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. IV: Die Romane. Der Steppenwolf, Narziß und Goldmund, Die Morgenlandfahrt. Frankfurt a.M. 2001, S. 5-203, hier S. 23. Im Folgenden mit der Sigle ST belegt. Hugo Ball: Ein mythologisches Untier, in: Michels (Hg.): Materialien, S. 266-272, hier S. 268.
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einmal«5 ist. Julia Moritz hat in diesem Kontext darauf aufmerksam gemacht, dass die Transformation tradierter Bilder und Schreibkonventionen, die ein wesentliches Element der Poetik Hermann Hesses ausmacht, ein reflexiver Prozess ist, der seinerseits charakteristisch ist für die literarische Moderne.6 Die schwierige Balance, die der Steppenwolf hält zwischen Tradition und Avantgarde, zwischen literarisch-fiktionaler Reflexion einer autobiographischen Befindlichkeit, zeit- und gesellschaftskritischer Positionsbestimmung und kunsttheoretischem Diskurs, hat unter den zeitgenössischen Lesern wie den nachfolgenden Interpreten den Blick dafür verstellt, dass der Roman weniger eine selbstreferentielle Phänomenologie der Verzweiflung ist als der Versuch, diese mit den Mitteln der Literatur zu überwinden. Es sind die, wie Hans Mayer bereits 1964 formuliert hat, in Hesses Werk gestalteten »komplexen Beziehungen zwischen autobiographischer Substanz, Künstlerproblematik und Gesellschaftskrise«,7 welche die im Kontext der literarischen Moderne diskutierte Subjektivität des Subjektes, zu der die psychologisch orientierte Dialektik des Romans einen wesentlichen Beitrag leistet, überlagert und wirkungsgeschichtlich verschattet haben.
2. Die Zeit zwischen der Veröffentlichung seiner indischen Dichtung Siddhartha im Jahr 1922 und dem Abschluss des Steppenwolf-Manuskriptes 1927 ist für Hesse eine Phase äußerer Beunruhigung und innerer Bedrängnis.8 Am 14. Juni 1923 erfolgt die Scheidung von seiner ersten Frau, Maria Bernoulli, am 11. Januar des folgenden Jahres die Eheschließung mit Ruth Wenger. Die Ehe wird jedoch bereits am 2. Mai 1927, noch vor Erscheinen des Romans, wieder geschieden. Hesse leidet unter der Nervenkrank_____________ 5 6
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Ball: Ein mythologisches Untier, S. 271f. »Indem Hesse die Notwendigkeit einer ›Umdeutung seelischer Werte‹ betont und deren Funktionsmechanismen beschreibt, erfaßt er das reflexive Prinzip der Modernisierung, auch wenn er die realen, uns heute evidenten Konsequenzen dieses Prozesses zu jener Zeit noch gar nicht voll abschätzen konnte.« (Julia Moritz: Inbegriff der Kunst. Die Verwandlung von Zeit in Raum durch Musik. Metamorphosen des Chronotopos und Paradoxien der Sujet-Gestaltung bei Hermann Hesse, in: Andreas Solbach [Hg.]: Hermann Hesse und die literarische Moderne. Kulturwissenschaftliche Facetten einer literarischen Konstante im 20. Jahrhundert. Aufsätze. Frankfurt a.M. 2004, S. 305-321, hier S. 310) Hans Mayer: Hermann Hesse Steppenwolf, in: Michels (Hg.): Materialien, S. 330-344, hier S. 338. Vgl. hierzu auch Ralph Freedman: Hermann Hesse. Autor der Krisis. Eine Biographie. Frankfurt a.M. 1999, S. 358-405.
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heit seiner ersten Frau und der Lungentuberkulose seiner zweiten; er selbst krankt an einer bereits chronisch gewordenen Entzündung der Augen, Ischias, Gicht und Schlaflosigkeit. Die Winter verbringt er in den Jahren 1923/24 und 1924/25 in Basel, in den Folgejahren in Zürich, die Sommer in der Casa Camuzzi in Montagnola, nur unterbrochen von Kuraufenthalten in Baden bei Zürich und einer Deutschlandreise, die ihren literarischen Niederschlag in der 1927 veröffentlichten Nürnberger Reise findet. Da er finanziell auf die Tantiemen seiner in Deutschland verlegten Werke angewiesen ist, trifft ihn die Inflation der Jahre vor der Weltwirtschaftskrise besonders hart und zwingt ihn zu einem großen Arbeitspensum. Er verfasst Rezensionen, kurze Feuilletons für deutsche und schweizer Zeitungen und Zeitschriften und schreibt Vor- und Nachworte zu Anthologien und Leseausgaben der klassischen deutschen und asiatischen Literatur. Mehr jedoch als durch die privaten Konflikte und finanziellen Schwierigkeiten sind die mittleren 1920er Jahre für den fast fünfzigjährigen Autor durch eine individuelle Entwicklungskrise geprägt, die ihren literarischen Ausdruck in einer langen und prozesshaften Suche nach einer neuen künstlerischen Ausdrucksform findet. So schreibt er in einem Brief vom 10. November 1926 an Stefan Zweig: »Es ist ja nicht bloß das Problem des Mannes, der zu altern beginnt und die schwierigen Jahre um 50 kosten muß, sondern mehr noch das Problem des Autors, dem sein Beruf zweifelhaft und fast unmöglich geworden ist, weil ihm Boden und Sinn verloren gingen.«9 In dieser Situation beginnt er mit der Niederschrift eines Romans, der werkgeschichtlich die Grenze seines Alterswerkes markiert und der wirkungsgeschichtlich das Bild des Schriftstellers Hermann Hesse bis in die Gegenwart maßgeblich geprägt hat. Der Prosafassung des Steppenwolfs gehen Skizzen und Vorstudien des Themas voraus, die bis in das Jahr 1922 zurückreichen und die 1928 in dem von Samuel Fischer in Berlin betreuten Band Krisis zum Teil veröffentlicht worden sind. Das stetig sich verdichtende Gefühl der Einsamkeit und Isolation des alternden Künstlers, das der Autor wiederholt als ein zentrales Thema des Romans herausgestellt hat, spiegelt sich bereits in den im Frühjahr 1922, noch während der Arbeit am Siddhartha, entstandenen autobiographischen Aufzeichnungen Aus dem Tagebuch eines Entgleisten. Zwei weitere Fragmente zum Steppenwolf entstehen zwischen November 1924 und März 1925 in Basel, ebenso wie das Märchen vom Steppenwolf, das in endgültiger Form als Tractat vom Steppenwolf zum kompositorischen Mittelpunkt des Werkes werden sollte. Im darauf folgenden Winter 1925/26 entstehen die Krisis_____________ 9
Hermann Hesse: Gesammelte Briefe. Hg. v. Ursula u. Volker Michels. Bd. II: 1922–1935, Frankfurt a.M. 1979, S. 155.
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Gedichte, die, weil Samuel Fischer weder bereit war, sie als eigenständige Publikation noch als Teil des Romans zu veröffentlichen, zunächst im November 1926 in Auswahl in der Neuen Rundschau unter dem Titel Der Steppenwolf. Ein Stück Tagebuch in Versen erschienen und schließlich ebenfalls in den als limitierten Privatdruck publizierten Band Krisis aufgenommen wurden. Weitere Passagen des Romans entstehen zwischen Februar und September 1926. Mit der durchgehenden Niederschrift des Steppenwolfs beginnt Hesse am 15. Dezember 1926 in seiner Züricher Wohnung am Schanzengraben und schließt sie in den Weihnachtstagen ab. Bereits am 11. Januar 1927 beendete er die Reinschrift des Typoskriptes.10 Die Buchausgabe erschien schließlich zum 50. Geburtstag Hesses zeitgleich mit der ersten, von Hugo Ball verfassten Biographie des Schriftstellers im Berliner S. Fischer Verlag.11
3. Mit Balls Monographie setzt eine Tradition der Deutung ein, die in dem Roman eine literarische Verarbeitung der psychischen Entwicklungskonflikte des Autors erkennt und die – erweitert um psychoanalytische Ansätze – das Verständnis des Steppenwolfes ebenso wie die Wirkungsgeschichte der Werke Hesses insgesamt bis in die Gegenwart bestimmt.12 Dass der Roman als Seelenbiographie und individuelle Selbstanalyse in der Tradition der Bekenntnisliteratur des Pietismus gelesen werden kann, wird nicht nur durch die subjektive, die Intimität eines Tagebuchs fingierende Erzählhaltung nahegelegt; auch verschiedene Briefe aus der Entstehungszeit sowie Selbstdeutungen Hesses stützen diesen interpretatorischen Zugang. Während jedoch Texte wie die Tagebuchaufzeichnungen Ulrich Bräkers oder die Lebensbeschreibung Heinrich Jung-Stillings die Entwicklungsgeschichte des Autors bekenntnishaft reflektieren, werden im Steppenwolf – darin ist er Karl Philipp Moritz’ Roman Anton Reiser vergleichbar – autobiographische Konflikte in die fiktiven Figuren und Handlungsverläufe _____________ 10 11 12
Vgl. hierzu Rudolf Probst: Zur Entstehung von Hesses Der Steppenwolf, in: Regina Bucher (Hg.): »Höllenreise durch mich selbst«. Hermann Hesse. Siddhartha, Steppenwolf. Zürich 2002, S. 139-158. Vgl. Hugo Ball: Hermann Hesse. Sein Leben und sein Werk. Berlin 1927. Als Neuausgabe ist verfügbar: Hugo Ball: Hermann Hesse. Sein Leben und sein Werk. Hg. v. Volker Michels. Göttingen 2006 (= Sämtliche Werke und Briefe, Bd. VIII). Vgl. u.a. Joseph Mileck: Hermann Hesse. Life and Art. Berkeley/California 1978, S. 174197 – Eugene L. Stelzig: Hermann Hesse’s Fictions of the Self. Autobiography and the Confessional Imagination. Princeton/New Jersey 1988, S. 201-224 – Günter Baumann: Der Heilige und der Wüstling. Tiefenpsychologische Grundlagen von Siddhartha und Der Steppenwolf, in: Bucher (Hg.): »Höllenreise durch mich selbst«, S. 43-58.
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eines literarischen Textes eingeschrieben. Das eine wird zum Abbild des anderen, aber indem Mikro- und Makrokosmos in eins fallen, bewahrt das Werk das Abbild der Wirklichkeit und erzeugt durch den Medienwechsel zugleich eine Differenz. Walter Benjamin, der die Relation zwischen Faktischem und Fiktionalem wiederholt thematisiert hat, findet in einer Reflexion über das epische Werk Nikolai Lesskows zu einer auch in Bezug auf Hesses Roman angemessenen Beschreibungskategorie, wenn er konstatiert, dass der »Erzählung die Spur des Erzählenden, wie die Spur der Töpferhand auf der Tonschale«,13 anhaftet. Auch wenn die gesellschaftliche und berufliche Stellung des durch die Initialen seines Namens – Harry Haller – an den Autor selbst erinnernden Protagonisten unbestimmt bleiben, so wird spätestens in dem in die Aufzeichnungen integrierten Tractat vom Steppenwolf die künstlerische Natur seines Wesens deutlich, weshalb das Werk auch in der Tradition der Künstlerromane des 18. und 19. Jahrhunderts gelesen worden ist.14 Die Spannung zwischen der kreativen Erlebniswelt des Subjekts und den lebenspraktischen Ansprüchen der Gesellschaft, die sowohl eine existentielle Erfahrung von Alterität als auch eine tragische Zerrissenheit bedingen, haben darüber hinaus Deutungsansätze befördert, die in dem Roman eine Reflexion über die gesellschaftliche Krise der Zeit erkennen.15 Während Hesses frühe Romane und Erzählungen das Individuum schmerzhaft prägende Dualismen in einander kontrapunktisch ergänzenden Figurenpaaren darstellen, verdichtet der Steppenwolf das Bewusstsein des Gespaltenseins in der Figur Harry Hallers und akzentuiert damit zugleich den individuellen wie den kollektiv-zeitsymptomatischen Charakter dieses Konfliktes.16 Dass der Autor im Prozess der Entstehungsgeschichte mit unterschiedlichen Gattungen experimentiert, bevor er schließlich zur Form des _____________ 13 14
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Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, in: Ders.: Schriften. Hg. v. Theodor W. Adorno u. Gretel Adorno. Bd. II. Frankfurt a.M. 1955, S. 229-258, hier S. 238. Vgl. hierzu Peter Huber, der in seiner Interpretation die verschiedenen Traditionen, denen der Roman verpflichtet ist, untersucht hat. Peter Huber: Der Steppenwolf. Psychische Kur im deutschen Maskenball, in: Interpretationen. Hermann Hesse. Romane. Stuttgart 1994, S. 76-112. Vgl. Bettina L. Knapp: Hermann Hesse: Demian und Der Steppenwolf. Von der psychischen »Inflation« zur Entfremdung, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 20/2 (1988), S. 79-106 – Walter Delabar: Von der Radiomusik des Lebens: Hermann Hesses literarische Verarbeitung der gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse. Zum Steppenwolf, in: Solbach (Hg.): Hermann Hesse und die literarische Moderne, S. 256-270. Alfred Wolfenstein bezeichnet Harry Haller bereits 1927 als einen »Mischling unsrer Zeit« (Alfred Wolfenstein: Wölfischer Traktat, in: Michels [Hg.]: Materialien, S. 272-276, hier S. 273).
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»Prosa-Steppenwolfes«17 findet, wie er das Werk selbst in einem auf den 21. Januar 1927 datierten Brief an seine Schwester Adele bezeichnet, und dass er dem abgeschlossenen Werk keine Gattungsbezeichnung zuordnet, zeigt zum einen den von der zeitgenössischen Kritik wie der Forschung betonten experimentellen Charakter des Textes. So vergleicht Thomas Mann im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe des Demian die formale Konzeption des Werkes mit den Arbeiten James Joyce’ und André Gides.18 Zum anderen dekuvriert die Kollage epischer und reflexiver Textsorten den Ansatz des Werkes, einer psychologisch-philosophischen Betrachtung eine literarische Gestalt zu geben. Werkgeschichtlich betrachtet ist der Steppenwolf, sowohl auf das entwicklungspsychologische Thema wie die paradigmatisch ausgeführten Figuren bezogen, eine Weiterentwicklung und Fortschreibung der früheren Romane. Während jedoch Hans Giebenrath in dem 1906 veröffentlichten Roman Unterm Rad an dem streng religiösen und moralisch repressiven Erziehungssystem seiner Zeit zerbricht, legen die autoritären Normen, innerhalb deren Harry Haller sozialisiert worden ist, den Grundstein für die Ausbildung seiner schizoiden Persönlichkeit. »Obgleich ich über das Leben des Steppenwolfes sehr wenig weiß,« konstatiert der Herausgeber im einleitenden Vorwort, »habe ich doch allen Grund zu vermuten, daß er von liebevollen, aber strengen und sehr frommen Eltern und Lehrern in jenem Sinne erzogen wurde, der das ›Brechen des Willens‹ zur Grundlage der Erziehung macht«. (ST 14) Unterm Rad ist die Geschichte eines Einzelnen, der an seiner Zeit scheitert,19 der Steppenwolf hingegen ist der Versuch, aus einer kulturkritischen Diagnose Möglichkeiten zu entwickeln, dieses Scheitern zu überwinden. Literaturgeschichtlich stehen sowohl Harry Haller als auch Hans Giebenrath damit im Kontext eines individualpsychologischen und zugleich zeitsymptomatischen Konfliktes, den im frühen 20. Jahrhundert bereits Thomas Mann in der Erzählung Tonio Kröger (1903), Robert Musil in den Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) und Rainer Maria Rilke in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) literarisch bearbeitet haben. Die kritische Auseinandersetzung mit den negativen Implikationen der bürgerlichen Moralvorstellungen für den Einzelnen spiegelt sich jedoch nicht erst in dem in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts wiederholt aufgegriffenen Konflikt zwischen Außenseitertum und Bürgertum, sondern bereits in den kulturkritischen Reflexionen Friedrich Nietzsches im späten 19. Jahrhundert. _____________ 17 18 19
Hesse: Gesammelte Briefe, Bd. II, S. 162. Vgl. Siegfried Unseld: Hermann Hesse. Werk- und Wirkungsgeschichte. Frankfurt a.M. 1985, S. 117. Vgl. hierzu Sikander Singh: Hermann Hesse. Stuttgart 2006, S. 80-89.
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4. Der Steppenwolf ist in drei Abschnitte gegliedert: Das Vorwort des Herausgebers hat, in der Tradition der Herausgeberfiktionen der Romantik, die Funktion, die Realität des Erzählten zu bezeugen, indem es – eine textimmanente Distanz zwischen dem einleitenden Bericht und den nachfolgenden Aufzeichnungen erzeugend – die Leserhaltung dialektisch relativiert. Daher haben auch die Aufzeichnungen Harry Hallers einen ambivalenten Charakter zwischen fiktionalem Geschehen und autobiographischem Bericht. Den kompositorischen Mittelpunkt des Werkes bildet jedoch der Tractat vom Steppenwolf. Gattungsgeschichtlich betrachtet ist der Traktat eine non-fiktionale Abhandlung über eine philosophische, religiöse, ethische oder wissenschaftliche Fragestellung. Die lehrhafte Intention dieser seit dem 18. Jahrhundert in der deutschen Literatur nur noch selten gebrauchten Textsorte wird im Steppenwolf, indem der Traktat die unbewussten inneren Vorgänge des Protagonisten objektivierend darstellt, wieder aufgegriffen und zugleich – sowohl durch die Form eines »dünnen, schlecht auf schlechtem Papier gedruckten Jahrmarktsbüchleins« (ST 41)20 als auch durch die inhaltliche Fortschreibung und die Verknüpfung mit dem Thema der fiktionalen Aufzeichnungen – ironisch verworfen. Diese bereits durch die Zusammenstellung unterschiedlicher Textsorten erzeugte Mehrdeutigkeit des Textes korrespondiert mit der relativierenden, polyperspektivischen Erzählhaltung, die in jedem der drei Teile des Werkes wechselt. Während im Vorwort der anonym bleibende Herausgeber in der ersten Person berichtet, wie er zu den nachfolgend veröffentlichten Aufzeichnungen gelangt ist, in denen Harry Haller als erzählendes Ich fungiert, tritt der auktoriale Erzähler des Tractates zwar als erzählendes Medium in das Bewusstsein des Lesers, gewinnt jedoch keine personalen Charaktereigenschaften. Die allwissende Erzählhaltung des Tractates verweist zudem auf die Tradition des Bildungs- und Erziehungsromans, auf die das Werk in verschiedener Hinsicht anspielt.21 Zum einen ist der Steppenwolf dem Einzelheldschema des Entwicklungsromans verpflichtet, zum anderen wird die Ausbildung und Entwicklung der Persönlichkeit Harry Hallers, analog zu der Funktion der Turmgesellschaft in Johann Wolfgang von Goethes für die Gattung zum Leitbild gewordenen Bildungsroman Wilhelm Meisters _____________ 20 21
In einem Brief vom 29. Mai 1927 an Alice Leuthold betont Hesse ebenfalls den »sonderbaren, jahrmarkthaften Charakter, den der Traktat in der Geschichte hat« (zitiert nach: Michels [Hg.]: Materialien, S. 119). Vgl. hierzu Huber: Psychische Kur im deutschen Maskenball, S. 80f.
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Lehrjahre, durch das Magische Theater gelenkt. Diese Wechsel- und Referenzbeziehungen zu der fiktionalen Gattung des Romans kontrastieren mit dem für die Textsorte des Traktates charakteristischen vermittelndexpositorischen Anspruch. Im Gegensatz zu Hesses frühen Romanen löst sich das Werk damit von der epischen Tradition der Klassik und Romantik und erreicht durch die Kontamination fiktiver und fingiert non-fiktiver Textsorten eine neue literarische Ausdrucksform. Dieser narratologische Befund zeigt sich auch in dem formalen Aufbau des Werkes, der zwei Strukturprinzipien verpflichtet ist. Zum einen sind die Reflexionen des Lichts auf den feuchten Straßen der Stadt zu Beginn der Aufzeichnungen, wie die Spiegelungen im Magischen Theater, nicht nur ein thematisch wiederkehrendes Motiv des Werkes. In der Anlage folgt auch das formale Gefüge des Textes dem Prinzip der Spiegelung. So werden die in der subjektiven Innensicht ausgebreiteten Konflikte der Aufzeichnungen Harry Hallers sowohl in dem Vorwort des Herausgebers als auch in dem Tractat vom Steppenwolf aufgegriffen und durch eine durch den erzählerischen Perspektivenwechsel erzeugte Distanz relativierend gespiegelt. Damit erscheint die Problematik Hallers strukturell in einer wiederholten Spiegelung, die ihrerseits in den Bildern des Spiegelkabinetts am Ende des Werkes zurückgeworfen und diversifiziert wird. Andererseits zeigt sich diese erzähltheoretische Beobachtung auch in dem von Hesse selbst akzentuierten, musikalischen Kompositionsformen verpflichteten Aufbau des Werkes.22 So schreibt er in einem Brief am 13. November 1930: »Rein künstlerisch ist der ›Steppenwolf‹ mindestens so gut wie ›Goldmund‹, er ist um das Intermezzo des Traktats herum so streng und straff gebaut wie eine Sonate und greift sein Thema reinlich an.«23 Dem Schema der Sonatenform folgend werden in dem Vorwort des Herausgebers die Themen aufgestellt, in den Aufzeichnungen Harry Hallers und dem Tractat vom Steppenwolf gegeneinander gestellt, ineinander verwoben und in der Schlussszene im Magischen Theater moduliert und zum spannungslösenden Höhepunkt zurückgeführt. Der Traktat erscheint aus dieser Perspektive als eine Reprise, als eine freie Wiederholung der Exposition, was narratologisch durch den Wechsel vom Ich-Erzähler zum auktorialen Erzähler verdeutlicht wird. Vorwort und Traktat sind jedoch nicht nur durch das Thema miteinander verbunden. Indem sie den Konflikt des Protagonisten, die innerseelische Zerrissenheit zwischen Kultur und Trieb, Menschlichem und Animalischem, Sublimation und Affekt in _____________ 22 23
Vgl. hierzu auch Theodore Ziolkowski: The Steppenwolf: A Sonata in Prose, in: Ders.: The Novels of Hermann Hesse. A Study in Theme and Structure. Princeton/New Jersey 1965, S. 178-228. Hermann Hesse: Ausgewählte Briefe. Erweiterte Ausgabe. Hg. v. Hermann u. Ninon Hesse. Frankfurt a.M. 1974, S. 36f.
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der Außensicht darstellen, kontrastieren sie mit den Betrachtungen Harry Hallers, die in der Ich-Form, als innerer Monolog, den psychischen Innenraum erschließen. Wenn Hesse in einem Brief an Georg Reinhart vom 18. August 1925 den Steppenwolf als ein »sehr phantastisches Buch«24 bezeichnet, klingt bereits an, dass er die für die Gattung des Romans konstitutive Korrespondenz von realer Lebenswirklichkeit und innertextlicher Realität verwirft, um zu einem erzählerischen Verfahren zu gelangen, welches das textimmanente Geschehen als ein Geschehen im psychologischen Innenraum gestaltet. Daher führt die Schlussszene im Magischen Theater, das Harry Haller nach dem Maskenball betritt, nicht nur den Handlungsbogen zu einem Ende, sondern bildet zugleich eine hermeneutische Reflexion über das Erzählganze. Sie ist ein Hinweis darauf, dass sich das gesamte Geschehen im seelischen Innenraum des Protagonisten abspielt. Pablo formuliert dies ganz explizit: »[…] Sie sehnen sich danach, diese Zeit, diese Welt, diese Wirklichkeit zu verlassen und in eine andre, Ihnen gemäßere Wirklichkeit einzugehen, in eine Welt ohne Zeit. Tun Sie das, lieber Freund, ich lade Sie dazu ein. Sie wissen ja, wo diese andere Welt verborgen liegt, daß es die Welt Ihrer eigenen Seele ist, die Sie suchen. Nur in Ihrem eigenen Inneren lebt jene andre Wirklichkeit, nach der Sie sich sehnen. Ich kann Ihnen nichts geben, was nicht in Ihnen selbst schon existiert, ich kann Ihnen keinen andern Bildersaal öffnen als den Ihrer Seele. Ich kann Ihnen nichts geben, nur die Gelegenheit, den Anstoß, den Schlüssel. Ich helfe Ihnen, Ihre eigene Welt sichtbar machen, das ist alles.« (ST 165)
Die Bedeutung des Steppenwolfs für die Entwicklung des deutschen Romans im 20. Jahrhundert liegt darin, dass Hesse ein erzählerisches Verfahren entwickelt, das, einerseits traditionelle epische Techniken aufgreifend und sich andererseits aus der Nachfolge des psychologischen Erzählens des 18. und 19. Jahrhundert lösend, den literarischen Text zu einer Spielund Projektionsfläche für die Vorstellungen, Bilder und Erscheinungen des Unbewussten macht. Während Gustave Flauberts Roman Madame Bovary, Theodor Fontanes Effi Briest, Rainer Maria Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge oder Stefan Zweigs Novelle Verwirrung der Gefühle die innerseelischen Motive und Reaktionen im Spannungsfeld von subjektivem Empfinden und äußerer, lebensweltlicher Begebenheit darstellen und analysieren, tritt im Steppenwolf das äußere Geschehen zurück und weicht der Darstellung der Person und ihres psychologischen Innenraums. Und während dieser Ansatz bei James Joyce oder Virginia Woolf zu einer Ausdifferenzierung des personalen Erzählens führt und letztlich zum inneren Monolog und stream of consciousness, erreicht Hesse mit dem Steppenwolf durch die Kombination traditioneller Formelemente und Vorstellungswelten mit Unbewusstem und Traumhaftem eine paradoxe Objektivation, _____________ 24
Zitiert nach: Michels (Hg.): Materialien, S. 49.
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die, indem sie das Logisch-Rationale überwindet, die psychischen Mechanismen, die den Menschen beherrschen, durch scheinbare Realitätsbezüge im Sinne der Überwirklichkeit des Surrealismus sichtbar macht. Das Magische Theater ist daher nicht nur als ein intertextueller Verweis auf den Bildungsroman in der Tradition des Wilhelm Meister zu verstehen, die Chiffre des Bühnenraums eröffnet die Möglichkeit, das vielschichtigkomplexe innerseelische Geschehen im Raum eines Textes zu objektivieren.
5. Als ein innerer Monolog ist Der Steppenwolf zunächst als eine Reflexion über die das abendländische Bewusstsein spaltende Dichotomie des Dionysischen und Apollinischen zu lesen, die Friedrich Nietzsche in der Nachfolge der Vorstellungen der frühen Romantik in seiner 1872 veröffentlichten Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik ausgearbeitet hat. Bereits während ihres ersten Gespräches mit Harry im Tanzlokal formuliert Hermine diesen Gegensatz: »Ideal und tragisch lieben, o Freund, das kannst du gewiß vortrefflich, ich zweifle nicht daran, alle Achtung davor! Du wirst nun lernen, auch ein wenig gewöhnlich und menschlich zu lieben.« (ST 123) Schon in seiner 1870 entstandenen Betrachtung über die Dionysische Weltanschauung führt Nietzsche die griechische Kunst auf den auf die Gottheiten Apollo und Dionysos rekurrierenden Stilgegensatz zurück. Indem er zwischen einem auf Form, Ordnung und Begrenzung gerichteten und einem rauschhaft entgrenzenden, die Individualität aufhebenden Prinzip unterscheidet, akzentuiert er den auf die Antike bezogen ahistorisch applizierten, aber für die Moderne symptomatischen Widerspruch von Schönheit und Bedeutung.25 Zum einen exemplifiziert Hesse diesen Dualismus an den inneren Konflikten Harry Hallers, indem er dem sublimierenden Idealismus des Menschen die ungezähmte Wildheit und zügellose Triebhaftigkeit des Steppenwolfes entgegenstellt. Zum anderen verweist das Ende des Romans im »Figurenspiel« (ST 203), vor dem Hintergrund der Geburt der Tragödie gelesen, auf die ambivalente Natur des Dionysos. Diese Doppelnatur ist auch in der Parallelführung des Figurenpaars Hermine und Harry angelegt. So bemerkt Hermine, nachdem Harry zum ersten Mal mit Maria getanzt hat: _____________ 25
Vgl. Friedrich Nietzsche: Dionysische Weltanschauung, in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München, Berlin 1980, Bd. I, S. 554-577.
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»Ich verzweifle nicht, Harry. Aber am Leben leiden – o ja, darin bin ich erfahren. Du wunderst dich, daß ich nicht glücklich bin, weil ich doch tanzen kann und mich an der Oberfläche des Lebens so gut auskenne. Und ich, Freund, wundere mich, daß du vom Leben so enttäuscht bist, da du doch gerade in den schönsten und tiefsten Dingen heimisch bist, im Geist, in der Kunst, im Denken! Darum haben wir einander angezogen, darum sind wir Geschwister. Ich werde dich lehren, zu tanzen und zu spielen und zu lächeln, und doch nicht zufrieden zu sein. Und werde von dir lernen, zu denken und zu wissen, und doch nicht zufrieden zu sein. Weißt du, daß wir beide Kinder des Teufels sind?« (ST 122)
Hesse folgt dem Gedanken Nietzsches, für den das Primat der theoretischen Erkenntnis – welches das sokratische Denken prägt und über die Aufklärung zum mechanistischen Weltbild der Moderne führt – zugleich die tragische Einsicht in die eingeschränkte Möglichkeit, die Welt rational zu verstehen, bedingt. Doch während Nietzsche diesen Widerspruch in der spätromantischen Musik Richard Wagners aufgehoben sieht, formuliert der Steppenwolf die These, dass der moderne Mensch nur in einer klassisch-überzeitlichen Kunst – paradigmatisch durch Mozart und Goethe repräsentiert – Trost finden kann. In dem Gespräch mit Mozart im Magischen Theater reflektiert der Text die Synthese des tragischen und des komischen, des sokratischen und des mythischen, des menschlichen und des göttlichen Prinzips, die Nietzsche anstrebt.26 Dass der Roman dem erkenntnistheoretischen Problembewusstsein dieses Ansatzes folgt, zeigt sich, als Mozart über das durch das Medium des Radios entstellte und verzerrte Concerto grosso in F-Dur von Georg Friedrich Händel zu Harry Haller bemerkt: »Wenn Sie dem Radio zuhören, so hören und sehen Sie den Urkampf zwischen Idee und Erscheinung, zwischen Ewigkeit und Zeit, zwischen Göttlichem und Menschlichem.« (ST 199) Durch den symbolischen Mord Harrys an Hermine im Magischen Theater wird Nietzsches Synthesegedanke keineswegs unterlaufen. Indem der Akt des Tötens zu einer Spiegelung wird, zu einer Phantasmagorie des psychischen Innenraums, gelangt Haller zu der Einsicht, dass er die Abgründe seines Inneren »nochmals und noch oft zu durchwandern« (ST 203) hat, bevor er die Heiterkeit der Unsterblichen erreicht. So sagt Pablo nach dem Mord: »Du hast dich da arg vergessen, du hast den Humor meines kleinen Theaters durchbrochen und eine Schweinerei angerichtet, du hast mit Messern gestochen und unsre hübsche Bilderwelt mit Wirklichkeitsflecken besudelt.« (ST 203) Die Kunst überwindet die Wirklichkeit in der Imagination. Bevor Harry Haller das Magische Theater betritt, lässt Pablo ihn in einen Wandspiegel blicken, der die scheinbar fest umrissene Persönlichkeit fragmentiert und in ihre Entwicklungsstufen _____________ 26
Julia Moritz benennt diesen Dualismus vor dem Hintergrund eines kulturwissenschaftlichen Ansatzes als ›Ratio und Magie‹ (vgl. Julia Moritz: Inbegriff der Kunst, S. 308-314).
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auflöst. Indem der Text die Individuation, die Konturierung des Ich zu einer sich ihrer selbst bewussten Persönlichkeit symbolisch zurücknimmt, variiert er den Gedanken Nietzsches, der im 10. Paragraphen der Geburt der Tragödie die Kunst als eine Hoffnung bezeichnet, die durch die Individuation entstandene Absonderung und Vereinsamung zu überwinden und zu der »Einheit alles Vorhandenen«27 zu finden. Damit werden die Erscheinungen des Magischen Theaters nicht nur zu Spiegelungen und Projektionen des psychischen Innenraumes des Ich-Erzählers, sondern zu einem Sinnbild für die Kunst im Sinne Nietzsches. Zugleich betrachtet Hesse im Steppenwolf diesen Konflikt auch im Hinblick auf religionsphilosophische Implikationen. In der zeitgenössischen Rezeption wie der Forschung hat diese für das Verständnis des Textes wichtige Perspektive wenig Beachtung gefunden, obwohl der Autor mehrfach auf den Aspekt hingewiesen hat. So notiert er im Januar 1933 (Brief an Horst Schwarze): »Nehmen Sie aus dem ›Steppenwolf‹ das mit, was nicht nur Zeitkritik und Zeitproblematik ist: den Glauben an den Sinn: an die Unsterblichen.«28 Und in einem Brief vom 4. Mai 1931 schreibt er: Man muß an Stelle der Zeitgötzen einen Glauben setzen können. Das habe ich stets getan, im »Steppenwolf« sind es Mozart und die Unsterblichen und das magische Theater, im »Demian« und im »Siddhartha« sind dieselben Werte mit andern Namen genannt. Mit dem Glauben an das, was Siddhartha die Liebe nennt, und mit Harrys Glauben an die Unsterblichen kann man leben, dessen bin ich sicher. Man kann mit ihm nicht nur das Leben ertragen, sondern auch die Zeit überwinden.29
Harry Haller ist, wie die Figuren in den vorangegangenen Romanen Hesses, ein Suchender. Und wenngleich der Steppenwolf primär die Selbstwerdung des Individuums thematisiert sowie die sie disponierenden kulturellen, sozialen und zeitgeschichtlichen Einflüsse, kann er zugleich als eine Betrachtung über das Potential des Religiösen in einem atheistischen Zeitalter gedeutet werden. Während der Text einerseits der Entfremdung des modernen Menschen nachspürt, während er die Anonymität und Vereinsamung des Einzelnen in der Stadt thematisiert und damit auch im literaturgeschichtlichen Kontext der Großstadtromane Rainer Maria Rilkes oder Alfred Döblins zu lesen ist, ist er zugleich eine Reflexion über die Möglichkeit des Glaubens und die Sinnhaftigkeit der menschlichen Existenz in einer nach dem Tod Gottes sinn- und haltlos gewordenen Welt. In dieser Lesart ist der Steppenwolf auch eine Ausführung und Weiterentwick_____________ 27 28 29
Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. I, S. 11-156, hier S. 73. Hesse: Gesammelte Briefe, Bd. II, S. 366. Hesse: Ausgewählte Briefe, S. 53.
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lung der bereits im Siddhartha aufgeworfenen Fragen.30 Wenn die Spiegelungen des Magischen Theaters die Individuation aufzuheben vermögen, so meint die visionäre Lebensreise Harry Hallers, das Erleben vergangener, ungelebter und zukünftiger Lebensabschnitte, ihre erneute, sich verdichtende Gegenwart, auch den Sieg über die Zeit. »Zum Frommsein braucht man Zeit,« sagt Hermine in ihrem ersten Gespräch zu Harry Haller, »man braucht sogar noch mehr: Unabhängigkeit von der Zeit!« (ST 99). Somit sind die Phantasmagorien des Magischen Theaters nicht nur Ausdruck der von dem buddhistischen Gedanken des Nirvana inspirierten Vorstellung einer Überwindung des Selbst, sondern auch der zeitlosen Kontinuität des Geistigen, der transzendenten Dimension der Kunst. Die Leichtigkeit der Unsterblichen, die schwebende Heiterkeit, der Haller in der Traumgestalt Goethes ebenso begegnet wie in dem Spiegelbild Mozarts, ist eine Chiffre für die endlich besiegte Zeit. – Endlich besiegte Zeit – das ist am Ende des Steppenwolfs Hermann Hesses Definition von Kunst. Die Apotheose der Kunst als eine ästhetisierende Religion ist jedoch nicht, in der Nachfolge des bildungsbürgerlichen Idealismus des 19. Jahrhunderts, als ein eskapistischer Versuch zu verstehen, sondern vor dem Hintergrund des an der Grenze zwischen Einsamkeit und Verlassenheit oszillierenden Bewusstseins der Moderne. Der Ruhm existiert nur so für die Bildung, er ist eine Angelegenheit der Schullehrer. Der Ruhm ist es nicht, o nein! Aber das, was ich Ewigkeit nenne. Die Frommen nennen es Reich Gottes. Ich denke mir: wir Menschen alle, wir Anspruchsvolleren, wir mit der Sehnsucht, der Dimension zuviel, können gar nicht leben, wenn es nicht außer der Luft dieser Welt auch noch eine andre Luft zu atmen gäbe, wenn nicht außer der Zeit auch noch die Ewigkeit bestünde, und sie ist das Reich des Echten. Dazu gehört die Musik von Mozart und die Gedichte deiner großen Dichter, es gehören die Heiligen dazu, die Wunder getan, die den Märtyrertod erlitten und den Menschen ein großes Beispiel gegeben haben. Aber es gehört zur Ewigkeit ebenso das Bild jeder echten Tat, die Kraft jedes echten Gefühls, auch wenn niemand davon weiß und es sieht und aufschreibt und für die Nachwelt aufbewahrt. Es gibt in der Ewigkeit keine Nachwelt, nur Mitwelt. (ST 145f.)
Im Steppenwolf zeigt sich die für Hesses Denken charakteristische Synthese divergenter Traditionen. In dem Bild des leidenden Menschen findet er den leidenden Gott, sowohl im Sinne des die Schmerzen der Individuation an sich erfahrenden Gottes Dionysos, in seiner lachenden und weinenden Doppelnatur, als auch im Sinne des Mensch gewordenen, »im Garten Gethsemane« (ST 65) vereinsamten, leidenden christlichen Gottes. Gott _____________ 30
Vgl. hierzu Singh: Hesse, S. 146-160.
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wird zu einer Chiffre für den psychischen Innenraum wie den ästhetischen Reflexionsraum. Und diese Menschen, deren Leben ein sehr unruhiges ist, erleben zuweilen in ihren seltenen Glücksaugenblicken so Starkes und unnennbar Schönes, der Schaum des Augenblicksglückes spritzt zuweilen so hoch und blendend über das Meer des Leides hinaus, daß dies kurze aufleuchtende Glück ausstrahlend auch andere berührt und bezaubert. So entstehen, als kostbarer flüchtiger Glücksschaum über dem Meer des Leides, alle jene Kunstwerke, in welchen ein einzelner leidender Mensch sich für eine Stunde so hoch über sein eigenes Schicksal erhob, daß sein Glück wie ein Stern strahlt und allen denen, die es sehen, wie etwas Ewiges und wie ihr eigener Glückstraum erscheint. (ST 48)
Das Leben bezieht seinen Wert und seinen Sinn aus der Möglichkeit, das leidhafte Bewusstsein des Selbst und der Welt in der und durch die Kunst zu transzendieren. Damit weist Hesse einen anderen Weg aus der schmerzhaften, in dem rationalistischen Atheismus der Aufklärung wurzelnden modernen Erkenntnis der Einsamkeit. Indem das Schlussbild des Steppenwolfs die Balance hält zwischen literarischem Erzählen und philosophischer Betrachtung, zwischen der dichterischen Verwandlung individualpsychologischer Konflikte und Zeitsymptomatik, zwischen religiöser und erkenntnistheoretischer Reflexion, zwischen Vision und Illusion, akzentuiert der Text die salvatorische Bedeutung der Kunst, deren freundliche Täuschung das zersplitterte Bewusstsein im Raum einer ästhetischen Gegenwart erneut zu einem bedeutungsvollen Ganzen zusammenzufügen vermag.
6. Vor diesem Hintergrund erschließt sich auch die Funktion und Bedeutung Hermines, Marias und Pablos, die zwar als Figuren einer textimmanenten Realität erscheinen und als solche – die Turmgesellschaft aus Goethes Wilhelm Meister zitierend – die Entwicklung des Protagonisten lenken, jedoch nichts anderes darstellen als Manifestationen des Unbewussten, Repräsentationen seiner ungelebten, inneren Möglichkeiten einerseits sowie literarische Figurationen des dualistischen Anima/AnimusKonzeptes Carl Gustav Jungs andererseits. Das Androgyne, wesenhaft Unbestimmte der Figur Hermines wird bereits während des ersten gemeinsamen Abendessens thematisiert, wenn sie sich als »eine Art Spiegel« (ST 106) deutet, in dem Harry sich selbst zu erkennen vermag. Die dem Gespräch sich anschließende Vorausdeutung auf den Mord, den er in dem spannungslösenden Höhe- und Schlusspunkt des Textes an ihr verüben wird, beinhaltet ebenfalls einen Hinweis darauf, dass die Lösung seiner
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Konflikte nicht in der Auseinandersetzung mit der Welt zu finden ist, sondern in sich selbst. Die sein bisheriges Leben schmerzhaft disponierende Dichotomie von Mensch und Steppenwolf wird in den Spiegelungen des Theaters aufgehoben und weicht der Einsicht in die Vielschichtigkeit und Vielgestaltigkeit des Selbst. Ohne Zweifel haben Sie ja längst erraten, daß die Überwindung der Zeit, die Erlösung von der Wirklichkeit, und was immer für Namen Sie Ihrer Sehnsucht geben mögen, nichts andres bedeuten als den Wunsch, Ihrer sogenannten Persönlichkeit ledig zu werden. Sie ist das Gefängnis, in dem Sie sitzen. (ST 166)
Indem der Steppenwolf innerseelische Reaktionen und Motive analysiert und das Erkenntnisinteresse auf die Differenz zwischen dem subjektiven Empfinden des Individuums und der äußeren Lebenswelt lenkt, steht er zwar in der Tradition des Bildungs- und Erziehungsromans des 19. Jahrhunderts. Zugleich spiegelt das Werk jedoch eine Wandlung im Selbstund Weltempfinden des Menschen, die nach der Zäsur des Ersten Weltkrieges in der subjektiven Tendenz der erzählenden Prosa Hesses offensichtlich wird. Der epische Text bildet nicht mehr die äußere Wirklichkeit ab – reflektiert nicht mehr im Sinne des traditionellen Zeit- oder Gesellschaftsromans die sozialen, politischen, gesellschaftlichen und historischen Verfasstheiten eines spezifischen Epochenkontextes – sondern die innere Wirklichkeit des Individuums. Während Hesses Frühwerk in der Nachfolge des poetischen Realismus Gottfried Kellers die äußeren Daseinsbedingungen und ihre Implikationen für die innerseelische Entwicklung des Heranwachsenden oder des kreativ-schöpferischen Menschen beleuchtet und sowohl in Bezug auf die Figurenzeichnung als auch auf die Handlungsführung dem mimetischen Paradigma verpflichtet bleibt, werden die Romane und Erzählungen durch die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse zu vielschichtig-komplexen Sinnbildern für den seelischen Innenraum. Die reflexive Tendenz und relative Konfliktlosigkeit der Handlung im Frühwerk mündet in die allegorisch erscheinenden Figuren und die abstrakten, der Wirklichkeit räumlich wie zeitlich enthobenen Handlungsräume des Steppenwolfes. Bereits in dem zu Beginn der 1920er Jahre entstandenen Kurzgefaßten Lebenslauf reflektiert der Autor über den von der literarischen Kritik schon früh konstatierten mangelnden Wirklichkeitsbezug seiner Werke: Man spricht mir den Sinn für die Wirklichkeit ab. Sowohl die Dichtungen, die ich dichte, wie die Bildchen, die ich male, entsprechen nicht der Wirklichkeit. Wenn ich dichte, so vergesse ich häufig alle Anforderungen, welche gebildete Leser an ein richtiges Buch stellen, und vor allem fehlt mir in der Tat die Achtung vor der Wirklichkeit. Ich finde, die Wirklichkeit ist das, worum man sich am allerwenigsten zu kümmern braucht, denn sie ist, lästig genug, ja immerzu vorhanden, während schönere und nötigere Dinge unsre Aufmerksamkeit und Sorge fordern. Die Wirklichkeit ist das, womit man unter gar keinen Umständen zufrieden sein, was
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man unter gar keinen Umständen anbeten und verehren darf, denn sie ist der Zufall, der Abfall des Lebens. Und sie ist, diese schäbige, stets enttäuschende und öde Wirklichkeit, auf keine andre Weise zu ändern, als indem wir sie leugnen, indem wir zeigen, daß wir stärker sind als sie.31
Hesse steht mit dieser Selbstdeutung in einer literarischen Tradition, die mit der Ausbildung des Subjektivismus in Folge der anthropozentrischen Konzeption der Aufklärung im epischen Erzählen nicht mehr die Möglichkeit erkennt, das Objektive darzustellen, sondern die Erscheinungsformen des Realen subjektiv zu reflektieren. Das Erkenntnisinteresse richtet sich seit den religiös motivierten Seelenbiographien des Pietismus und den Innen- und Außenwelt programmatisch zur Kongruenz bringenden Texten der Romantik auf die Darstellung des subjektiven Charakters der Welt. »Beinahe alle Prosadichtungen, die ich geschrieben habe, sind Seelenbiographien, in allen handelt es sich nicht um Geschichten, Verwicklungen und Spannungen, sondern sie sind im Grunde Monologe, in denen eine einzige Person, eben jene mythische Figur, in ihren Beziehungen zur Welt und zum eigenen Ich betrachtet wird«, bekennt Hesse in einem Arbeitsnacht überschriebenen Aufsatz aus den späten 1920er Jahren. »Man nennt diese Dichtungen ›Romane‹. In Wirklichkeit sind sie keineswegs Romane, so wenig wie ihre großen, mir seit der Jünglingszeit heiligen Vorbilder, etwa der ›Heinrich von Ofterdingen‹ des Novalis oder der ›Hyperion‹ Hölderlins, Romane sind.«32 Indem das Unbestimmte und Ausschnitthafte der Aufzeichnungen Hallers am Ende als das »kleine Lebensspiel des Augenblicks« (ST 110) dekuvriert wird, wie Hermine in einem der ersten Gespräche mit Haller formuliert, spiegelt sich der Polyperspektivismus der Erzählhaltung auch in dem offenen Schluss des Romans. In dem verschwindenden Ich und dem am Ende der Aufzeichnungen verschwindenden Ich-Erzähler wird die bereits im Tractat vom Steppenwolf formulierte Einsicht in die Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit des Menschen auch episch manifest.33 Individualpsychologisch gelesen vermitteln die Szenen im Magischen Theater die Erkenntnis, dass der Identitätskonflikt des Individuums nicht bipolar determiniert ist und nur gelöst werden kann, indem der Einzelne die »hunderttausend Figuren des Lebensspiels« (ST 203) als ihm zugehörig begreift und annimmt, jede Facette des Selbst in das Sein und Werden der Persona integriert. »Der Mensch ist ja keine feste und dauernde Gestal_____________ 31 32 33
Hermann Hesse: Kurzgefaßter Lebenslauf, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. XII: Autobiographische Schriften II. Selbstzeugnisse, Erinnerungen, Gedenkblätter und Rundbriefe. Frankfurt a.M. 2003, S. 46-63, hier S. 57f. Hermann Hesse: Eine Arbeitsnacht, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. XII, S. 123-127, hier S. 123f. Walter Delabar spricht in diesem Kontext von dem »Helden«, der am Ende »dem Roman abhanden kommt« (Delabar: Von der Radiomusik, S. 270).
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tung«, heißt es bereits im Tractat, »er ist vielmehr ein Versuch und Übergang, er ist nichts andres als die schmale, gefährliche Brücke zwischen Natur und Geist.« (ST 63) Wenn aber das Magische Theater als eine Chiffre für das Unbewusste im Sinne C.G. Jungs gelesen werden kann, bedeutet dies zugleich, dass nicht nur das Vergangene, aus dem Bewusstsein Abgesunkene und Verdrängte manifest wird; die Spiegelungen und theatralischen Erscheinungen – die Hochjagd auf Automobile, die Anleitung zum Aufbau der Persönlichkeit, das Wunder der Steppenwolfdressur, Alle Mädchen sind dein und Wie man durch Liebe tötet – sind zugleich das Reservoir zukünftiger psychischer Situationen, die bereits in der Erinnerung enthalten sind. Die Chiffre des Theaters meint damit keine Katharsis, keine aus dem Leiden erwachsende Möglichkeit zu Läuterung und Wandlung, sondern eine sich stetig vollziehende Metamorphose des Selbst. In Bezug auf das Bewusstsein des Subjekts und die Frage nach der Möglichkeit seiner Beziehungen zu einer außerhalb seiner Selbst liegenden Wirklichkeit, die von der Erkenntnistheorie der Moderne grundlegend in Frage gestellt worden ist, ist der Steppenwolf Ausdruck einer epochenspezifischen, existentiellen Verzweiflung. Während jedoch Lenz’ Irrweg in Georg Büchners gleichnamiger Erzählung als eine frühe Gestaltung der dissoziativen Tendenzen der Moderne die Dekonstruktion des idealistischen Glaubens an die Möglichkeit des Sich-selbst-Wissens in der Tradition Immanuel Kants aufzeigt, zeugt das Leben Harry Hallers »von der Sehnsucht nach einer neuen Sinngebung für das sinnlos gewordene Menschenleben« (ST 30).
7. Das Leiden am Selbst ist zugleich ein Leiden an der Zeit und als solches eine Anteilnahme am Drama der Welt. Der individuelle Konflikt Harry Hallers hat, indem er den Widerspruch zwischen dem idealistischen Individualismus und dem mechanistischen Weltbild der Moderne spiegelt, zugleich eine paradigmatische Bedeutung. Diesen Aspekt betont auch der Autor, wenn er nach Erscheinen des Werkes in einem Brief an Erhard Bruder aus dem Oktober 1928 schreibt: »Und so ist die Verzweiflung Harrys keineswegs nur die an sich selbst, sondern die an der Zeit.«34 Während die literarischen Manifestationen der Moderne in den Jahren der Neuen Sachlichkeit als kühle Kunst des Gleichmuts und der Wehmut erscheinen, dokumentiert der Steppenwolf den Versuch, eine Antwort auf _____________ 34
Hesse: Gesammelte Briefe, Bd. II, S. 198.
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die Konflikte zu formulieren, die in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts aufgezeigt, aber nicht gelöst werden. Die Moderne ist in Hallers Aufzeichnungen durch zwei Merkmale gekennzeichnet. Die zwischen Ablehnung und Sehnsucht changierende Haltung des Ich-Erzählers gegenüber den Konventionen und Traditionen der bürgerlichen Welt, die bereits im Vorwort des Herausgebers thematisiert wird, hat in den Deutungsansätzen der Hesse-Forschung die Kritik des Romans an dem Phänomen der sich in Folge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert ausbreitenden Massengesellschaft überlagert. Denn bereits zu Beginn seiner Aufzeichnungen bekennt Harry: Ich kann weder in einem Theater noch einem Kino lang aushalten, kann kaum eine Zeitung lesen, selten ein modernes Buch, ich kann nicht verstehen, welche Lust und Freude es ist, die die Menschen in den überfüllten Eisenbahnen und Hotels, in den überfüllten Cafés bei schwüler aufdringlicher Musik, in den Bars und Varietés der eleganten Luxusstädte suchen, in den Weltausstellungen, auf den Korsos, in den Vorträgen für Bildungshungrige, auf den großen Sportplätzen. (ST 32)
Während Hesses frühe Romane und Erzählungen das regressive Konzept einer Sehnsucht nach der verlorenen Idylle in der Tradition des programmatischen Vergangenheitsglaubens der schwäbischen Romantik motivgeschichtlich fortschreiben, thematisiert der Steppenwolf sowohl die Anonymität der Großstadt als auch die gesellschaftlichen wie individualpsychologischen Implikationen dieser Erfahrung für den Einzelnen. Das spiegelt sich bereits in den anfänglichen Beobachtungen des fiktiven Herausgebers: »Ein zu uns, in die Städte und ins Herdenleben verirrter Steppenwolf – schlagender konnte kein andres Bild ihn zeigen, seine scheue Vereinsamung, seine Wildheit, seine Unruhe, sein Heimweh und seine Heimatlosigkeit.« (ST 19f.) Im Gegensatz zu Malte Laurids Brigge ist Harry Haller jedoch nicht nur Objekt dieser Erfahrungen. Die in Rainer Maria Rilkes Roman dem Leser überantwortete kritische Reflexion über die Erscheinungen der Moderne wird durch die Erzählhaltung des Steppenwolfes unmittelbar gestaltet, indem die Aufspaltung des Ich-Erzählers in ein menschliches und ein animalisches Prinzip und die komplementäre Anordnung der Figuren die Gleichzeitigkeit von Handlung und Beobachtung, Geschehen und kritischer Betrachtung ermöglichen.35 Diese dialektische Erzählweise kommt ebenfalls zum Tragen, wenn der Utilitarismus als ein weiteres Merkmal der Moderne beschrieben wird. »Der ›moderne‹ Mensch liebt die Dinge nicht mehr, nicht einmal sein Heiligstes, sein Automobil, das er baldmöglichst gegen eine bessere Marke hofft, tauschen zu _____________ 35
Zur Lenkung des Lesers im Roman vgl. auch Helga Esselborn-Krumbiegel: Strategien der Leserlenkung in Demian und Der Steppenwolf, in: Solbach (Hg.): Hermann Hesse und die literarische Moderne, S. 271-284, hier S. 279-284.
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können«, notiert Haller. »Dieser moderne Mensch ist schneidig, tüchtig, gesund, kühl und straff, ein vortrefflicher Typ, er wird sich im nächsten Krieg fabelhaft bewähren.« (ST 151) Acht Jahre vor der Erstveröffentlichung von Walter Benjamins Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit thematisiert Hesse den Warencharakter der Kunst als Verlust von Authentizität. Die gesellschaftlichen Veränderungen, die Haller aus der Distanz eines Außenseiters beschreibt, sind nicht nur äußerlicher Natur, vielmehr hat die, um den Begriff Benjamins aufzugreifen, Reproduzierbarkeit der Warenwelt auch eine das Wesenhafte des menschlichen Seins berührende Dimension, deren letzte Konsequenz die Erfahrung der Entfremdung ist. Während die Zentralmetapher des Totenreiches in dem gleichnamigen Roman des dänischen Realisten Hendrik Pontoppidan in sich noch das Bewusstsein des Gewesenen, Vergessenen und vom historischen Fortschritt Überholten trägt und Thomas Mann dieses Selbstgefühl des Einzelnen im Zauberberg als das Transitorische einer ungewiss gewordenen Gegenwart akzentuiert, zeigt Hesses Roman die Leere eines Zwischenreiches aus der Perspektive eines »aus der Zeit herausgefallenen« (ST 151) Menschen. In dem Bekenntnis »kein moderner Mensch noch auch ein altmodischer« (ST 151) zu sein, spiegelt sich sowohl die individuelle Vereinsamung des Protagonisten als auch die kulturkritische Einsicht der Entfremdung als eines Merkmals der Zeit. Bereits Christian Schärf hat herausgestellt, dass Hesse »in einem fundamentalen, konzeptionellen Widerstreit mit der ästhetisch-literarischen Moderne«36 steht. Während Franz Kafkas Werke eine irreparabel und unlesbar gewordene Welt hermetisch inszenieren, während die Sprache der Literatur in der Moderne die Relation von Zeichen und Bezeichnetem zunächst hinterfragt, letztlich dekonstruiert und somit selbstreferentiell wird, bleibt Hesse mit dem Steppenwolf dem Glauben an die Möglichkeit verhaftet, mit den Mitteln der Sprache eine über den Bereich des Literarisch-Fiktionalen hinausweisende Sinnhaftigkeit zu erzeugen. In der Verweigerung des Individuums gegenüber dem Kollektiv, der Revolte des Einzelnen gegen die Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft, die der Roman thematisiert, liegt eine tiefe Skepsis gegenüber tradierten Handlungsmustern und vorgedachten Denkschemata. Das Werk Hesses, das in seiner Sprache und Bildlichkeit wie kein anderes Œuvre der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts der Romantik verpflichtet ist, ist jedoch keine Fortschreibung der antibürgerlich-eskapistischen Tendenzen eines Joseph von Eichendorff. Im Kontext des politischen und geistesge_____________ 36
Christian Schärf: Hermann Hesse und die literarische Moderne. Der Dichter als Missionar, in: Solbach (Hg.): Hermann Hesse und die literarische Moderne, S. 87-100, hier S. 94.
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schichtlichen Paradigmenwechsels des frühen 20. Jahrhunderts hat sein Individualismus auch eine Tendenz in das Revolutionäre und Anarchische.37 Die Revolte des jungen Hesse gegen das autoritäre Erziehungsideal seines pietistischen Elternhauses grundiert die lebenslange Verweigerung des Schriftstellers gegenüber dem Primat des Kollektiven vor dem Individuellen, gegenüber dem limitierenden Einfluss gesellschaftlicher Verbote auf die Freiheit des Einzelnen. »Ich gehorche nicht und werde nicht gehorchen«,38 schreibt der fünfzehnjährige Hesse an seinen Vater während seines erzwungenen Aufenthaltes in der Nervenheilanstalt Stetten. Das pubertäre Anathema gerinnt im literarischen Werk zu der »Forderung an den Menschen, das Höchste aus sich zu machen oder mindestens jene geistige Welt zu achten«.39 Die Freiheit bedeutet die Möglichkeit des Einzelnen zu individuellem Werden und Sein. Insofern ist Hesses Roman gerade in der Dominanz des Imaginativ-Intuitiven ein politisches Werk. Es proklamiert keinen biedermeierlichen Rückzug des Individuums in das Private, sondern eine Besinnung des Menschen auf sich selbst, auf die »Förderung und Bereicherung in der Entwicklung der Individualität«.40 Wie der einzelne Mensch die Welt zu bessern vermag, indem er Mensch ist, kann die Dichtung die Welt bessern, indem sie Dichtung ist. Die Autonomie des literarischen Kunstwerkes bedingt seine Relevanz für den gesellschaftlichen Diskurs. »Jeder von uns muß über sich selbst, über seine Gaben, Möglichkeiten und Eigenheiten Klarheit suchen und sein Leben in den Dienst der Vervollkommnung, der Selbstwerdung stellen«, schreibt Hesse in einem Brief des Jahres 1961. Wenn wir das tun, dann dienen wir auch zugleich der Menschheit, denn alle Werte der Kultur (Religion, Kunst, Dichtung, Philosophie etc.) entstehen auf diesem Weg. Auf ihm wird der oft verlästerte ›Individualismus‹ zum Dienst an der Gemeinschaft und verliert das Odium des Egoismus.41
In der Replik auf den Brief eines japanischen Schülers spiegelt sich nicht nur das Bemühen des Schriftstellers, die Fragen, mit denen die Leser seiner Werke an ihn herantreten, zu beantworten, sondern auch das zentrale Thema des Steppenwolfes. Die Einsamkeit als Seinszustand, die seit der Aufklärung nicht mehr ein nur literarisches Motiv ist, sondern ein ontologisches Bewusstsein, das die existentielle Verunsicherung des Menschen _____________ 37 38 39 40 41
Alfred Wolfenstein nennt bereits 1927 den Steppenwolf »einen Revolutionär des Ichs« (Wolfenstein: Wölfischer Traktat, S. 273). Ninon Hesse (Hg.): Kindheit und Jugend vor Neunzehnhundert. Hermann Hesse in Briefen und Lebenszeugnissen. Frankfurt a.M. 1973–1974, Bd. I, S. 261. Hesse: Ausgewählte Briefe, S. 412. Hesse: Ausgewählte Briefe, S. 262. Hesse: Ausgewählte Briefe, S. 544.
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bedingt, wird in Hallers Aufzeichnungen zu der produktiven Erfahrung des Einzelnen, indem sie nicht in die Verzweiflung des Nihilismus, nicht in die Revolte des Existentialismus, sondern auf den Weg der Selbsterkenntnis führt.
8. Bereits das Zentralsymbol des Romans – der Steppenwolf – ist Ausdruck einer existentiellen Form der Verzweiflung. Indem die Unvereinbarkeit seines animalisch-triebhaften Wesens mit den Konventionen der bürgerlichen Lebenswelt durch ihre dialektische Bezogenheit akzentuiert wird, bedingt die Doppelnatur Harry Hallers ein stetiges Gefühl von Entfremdung. Anni Carlsson hat in einem Aufsatz aus dem Jahr 1972 zudem darauf hingewiesen, dass hinter dem Steppenwolf »Nietzsches Gegensatz der niederen und höheren Spezies, des Herdentiers und des differenzierten Einzelnen, des Genies«42 steht, und damit die Kontinuität der im Sturm und Drang einsetzenden Stilisierung des künstlerisch-kreativen Menschen bis in die Literatur des 20. Jahrhunderts betont. Das Gefühl der Ausweglosigkeit und des Unglücklichseins ist jedoch nicht nur Symptom der depressiven psychischen Disposition einer gespaltenen Persönlichkeit, sondern eine Befindlichkeit, die sie strukturell kennzeichnet und dadurch auch die Erscheinungsformen derselben im Alltag bestimmt. Als ein symbolisches Geschehen, innerhalb dessen die Handlung des Romans wie das Figureninventar zu Repräsentationen psychischer Erscheinungen des seelischen Innenraums werden, sind Entfremdung und Angst jedoch nicht nur als Ausdruck einer innerseelisch determinierten Not einerseits und eines Leidens an den Erscheinungen der Zeit andererseits zu lesen. Indem Haller der Frage nachgeht, wie »diese Lähmung, dieser Haß«, »diese Verstopftheit aller Gefühle, diese tiefe böse Verdrossenheit, diese Dreckhölle der Herzensleere und Verzweiflung« (ST 76) über ihn gekommen ist, wird deutlich, dass seine leidhafte Existenz keineswegs nur den Schmerz eines Einzelnen bezeichnet, sondern Chiffre ist und literarisches Bildnis des am Sein verzweifelnden Menschen. Im Nachwort zu der 1941 veröffentlichten Schweizer Lizenzausgabe des Steppenwolfes betont Hesse, dass sein Werk »keineswegs das Buch eines Verzweifelten ist«, dass die Geschichte Hallers »zwar eine Krankheit und _____________ 42
Anni Carlsson: Zur Geschichte des Steppenwolfsymbols, in: Michels (Hg.): Materialien, S. 377-381, hier S. 378. Vgl. auch David Horrocks: Harry Haller as »höherer Mensch«: Nietzschean Themes and Motifs in Hermann Hesse’s Der Steppenwolf, in: German life & letters 46 (1993), S. 134-144.
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Krisis darstellt, aber nicht eine, die zum Tode führt, nicht einen Untergang, sondern das Gegenteil: eine Heilung« (ST 207f.). Der Autor formuliert damit eine Replik auf Søren Aabye Kierkegaards 1849 erschienene Schrift Sydommen til døden (Die Krankheit zum Tode), deren begriffliche Bestimmung der Verzweiflung als ein Stagnieren des Selbst in den Aporien seiner dialektischen Verfassung als Diagnose der Verfasstheit des modernen Menschen im 20. Jahrhundert wirkungsmächtig geworden ist. Im Gegensatz zu den literarischen und philosophischen Reflexionen über die Verzweiflung als notwendiges Resultat eines Bewusstseins, das sich nicht zu Ende denken kann, die in den Schriften Rainer Maria Rilkes und Robert Musils, Martin Heideggers und Karl Jaspers’ formuliert werden, ist die »schon Gewohnheit und Form gewordene Verzweiflung« (ST 12), die Krankheit des Selbst, die Hesse in der Figur des Steppenwolfes betrachtet, keine strukturelle Unentrinnbarkeit. Bereits in einem 1919 veröffentlichten Beitrag über Kierkegaard konstatiert der Autor über das Werk des dänischen Religionsphilosophen: »seine Probleme sind die unseren, wenn auch sein Weg nicht der unsere zu werden braucht«.43 Verzweiflung im Sinne Kierkegaards meint die unhintergehbare Einsicht in die Endlichkeit. Der Tod erscheint nicht als die endliche Erlösung der Verzweiflung, sondern als ihre Ursache, oder wie in der Krankheit zum Tode formuliert wird: »Solchermaßen heißt zum Tode krank sein nicht sterben können, jedoch nicht so, als ob da Hoffnung für das Leben wäre, nein die Hoffnungslosigkeit ist, daß selbst die letzte Hoffnung, der Tod, nicht ist.«44 Die Verzweiflung als Krankheit zum Tode und die Hoffnung als Wille zum Leben fallen in Kierkegaards Betrachtung in eins: Wenn der Tod die größte Gefahr ist, hofft man auf das Leben; wenn man aber die noch entsetzlichere Gefahr kennen lernt, hofft man auf den Tod. Wenn also die Gefahr so groß ist, daß der Tod die Hoffnung geworden, so ist Verzweiflung die Hoffnungslosigkeit, nicht einmal sterben zu können.45
Diese Denkfigur als Diagnose des paradoxen Bewusstseins prägt auch den Steppenwolf. Über die Einladung bei dem jungen Professor, deren unglücklicher Verlauf Harry Haller in dem Bewusstsein der Entfremdung von sich selbst und von der menschlichen Gemeinschaft durch die nächtlichen Straßen der Stadt irren lässt und die als misslungene Abendunterhaltung ironisch auf die ›Abendunterhaltung‹ im Magischen Theater verweist, notiert er in seinen Aufzeichnungen: _____________ 43 44 45
Hermann Hesse: Neue Kierkegaard-Ausgaben, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. XVIII: Die Welt im Buch III. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1917–1925. Frankfurt a.M. 2002, S. 169. Søren Aabye Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, in: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes [u.a.]. Abt. 24/25. Gütersloh 1985, S. 13. Kierkegaard: Krankheit zum Tode, S. 13f.
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Ich sah keinen Weg, dem Gefürchteten zu entrinnen. Würde im Kampf zwischen Verzweiflung und Feigheit heute auch vielleicht die Feigheit siegen, morgen und jeden Tag würde von neuem die Verzweiflung vor mir stehen, noch erhöht durch die Selbstverachtung. […] Todmüde saß ich zuweilen auf einer Bank, auf einem Brunnenrand, auf einem Prellstein, hörte mein Herz klopfen, wischte mir den Schweiß von der Stirn, lief wieder weiter, voll tödlicher Angst, voll flackernder Sehnsucht nach Leben. (ST 85)
Wie Die Krankheit zum Tode thematisiert der Steppenwolf den innersten Kern des Subjektbewusstseins. Indem Kierkegaard den Menschen als Synthese unterschiedlicher Faktoren bestimmt und die Notwendigkeit eines Dritten herausstellt, das diese Synthese in ein Selbstverhältnis zu bringen vermag, deutet er die Verzweiflung als Krise des Selbst, als das »Mißverhältnis im Verhältnis einer Synthese, die sich zu sich selbst verhält«.46 Die Unmöglichkeit des Sich-selbst-Wissens wird von der Struktur des Selbst bedingt. »Verzweiflung ist eine Krankheit im Geist, im Selbst, und kann somit ein Dreifaches sein: verzweifelt sich nicht bewußt sein ein Selbst zu haben (uneigentliche Verzweiflung); verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen; verzweifelt man selbst sein zu wollen.«47 Die Antagonismen in der Persönlichkeit Harry Hallers versinnbildlichen weniger den Konflikt zwischen dem schöpferischen Menschen und der Gesellschaft in der Tradition des Künstlerromans, sondern das seiner Selbst entfremdete Bewusstsein des modernen Individuums. Während der Mensch in der Moderne an dem Absoluten seiner der sinngebenden Instanz entkleideten Existenz verzweifelt und – wie die philosophischen und literarischen Diskurse des 19. und 20. Jahrhunderts belegen – zwischen einem skeptischen Nihilismus und einem revoltierenden Existentialismus oszilliert, während Kierkegaard dieses Problem durch die, wie Hesse formuliert, »herbste, sprödeste, im Grund liebloseste Art von Christentum«48 auflöst und Martin Heidegger, das Werk des dänischen Religionsphilosophen radikalisierend, das Leben als ein Dasein zum Tode betrachtet,49 wagt Hesses Roman den Versuch, dem in der Aporie endenden Bewusstsein des modernen Menschen ein alternatives Sinnangebot zu eröffnen. Der Steppenwolf ist nicht nur eine Phänomenologie der Verzweiflung, sondern negiert, indem er die Transzendenz durch die Kunst substituiert, den Existentialismus der Moderne. Nach der ersten mit Maria verbrachten Nacht notiert Haller: Meine Seele atmete wieder, mein Auge sah wieder, und für Augenblicke ahnte ich glühend, daß ich nur die zerstreute Bilderwelt zusammenraffen, daß ich nur mein
_____________ 46 47 48 49
Kierkegaard: Krankheit zum Tode, S. 11. Kierkegaard: Krankheit zum Tode, S. 8. Hesse: Neue Kierkegaard-Ausgaben, S. 169. Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1986, §§ 46-53.
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Harry Hallersches Steppenwolfleben als Ganzes zum Bilde zu erheben brauche, um selber in die Welt der Bilder einzugehen und unsterblich zu sein. War denn nicht dies das Ziel, nach welchem jedes Menschenleben einen Anlauf und Versuch bedeutete? (ST 136)
In dem surrealen Ende des Romans im Magischen Theater fallen psychischer Innenraum und textimmanente Realität, Finale eines epischen Geschehens und Verschwinden des Ich-Erzählers deshalb zusammen, weil das Subjektbewusstsein seine letzte Verwandlung erfahren hat und zum Kunstwerk selbst geworden ist. In Hermann Hesses Roman verblasst die subjektive Wirklichkeit zur Kunst, die Erscheinung zur Form, das Außen zum Innen und das Bewusstsein zum Text. Das Lachen der Unsterblichen, in dem die letzten Worte Harry Hallers verklingen, ist nicht nur die Manifestation eines mundus inversus im Sinne der Bachtin’schen Rabelais-Deutung, sondern eine Chiffre für die salvatorische Macht der Kunst, für jenen Zufluchtsraum, der Zeit wie Subjekt endlich besiegt und in die Imagination zurückverwandelt.50 Es war ohne Gegenstand, dies Lachen, es war nur Licht, nur Helligkeit, es war das, was übrigbleibt, wenn ein echter Mensch durch Leiden, Laster, Irrtümer, Leidenschaften und Mißverständnisse der Menschen hindurchgegangen und ins Ewige, in den Weltraum durchgestoßen ist. Und die »Ewigkeit« war nichts andres als die Erlösung der Zeit, war gewissermaßen ihre Rückkehr zur Unschuld, ihre Rückverwandlung in den Raum. (ST 147)
_____________ 50
Weil im Lachen das »Ideal-Utopische und das Reale« zusammenfallen, definiert Bachtin das Karnevaleske als »das Leben selbst – in einer eigenen, spielerischen Ausformung« (Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Hg. v. Renate Lachmann. Frankfurt a.M. 1987, S. 59, 55).
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Faszination und Faschismus in Alfred Döblins ›Epos der Moderne‹ Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf (1929) Alfred Döblin (1878–1957) und der Berliner Alexanderplatz werden wechselweise miteinander konnotiert. Man könnte fast sagen, es handle sich um Synonyme. Mit seinem Roman Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf hat Döblin 1929 diesem Ort in Berlin seine Handschrift, seine Signatur aufgedrückt. Es ist von daher nur folgerichtig, wenn der Architekt Daniel Libeskind 1993, als er an einem Wettbewerb für die Wiederbebauung des Alexanderplatzes teilnahm, sich ganz konkret an der Hand von Alfred Döblin orientierte, um sich von ihr für seinen Entwurf inspirieren zu lassen. Gänzlich unesoterisch, sondern im Gegenteil ganz realistisch an der städtebaulichen Integration des Traumas Holocaust interessiert, auf der Suche nach der Geschichte dessen, was seiner Meinung nach in Berlin »zu etwas scheinbar Geschichtslosem traumatisiert worden [ist]«,1 erblickte Libeskind in Döblins Hand die »›Handfläche‹ des Alexanderplatzes«.2 Hier erkannte Libeskind »die Lebenslinien, die Liebeslinien, die Linien des Todes und die Linien der Arbeit«.3 Döblins Hand wurde Libeskind zur »menschliche[n] Matrix« für die Gestaltung einer traumatisch bedingten Leere des historischen Bewusstseins, »die – gerade weil sie in der Vergangenheit begründet ist – in die Zukunft weist«.4 Gezeichnet von einem strukturellen Trauma, gezeichnet von der Abwesenheit dessen, was im Dritten Reich geschehen ist, wäre der Alexanderplatz in Berlin nur einer neben anderen Plätzen dieser Stadt und anderer Städte. Der Alexanderplatz in Berlin wurde einzig durch Döblin zu einem, wie Libeskind sagt, »halb-profanen öffentlichen Raum«,5 zu einem _____________ 1 2 3 4 5
Daniel Libeskind: trauma/void, in: Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster. Hg. v. Elisabeth Bronfen, Birgit R. Erdle u. Sigrid Weigel. Köln, Weimar, Wien 1999, S. 3-26, hier S. 7. Libeskind: trauma/void, S. 7. Libeskind: trauma/void, S. 7. Libeskind: trauma/void, S. 7. Libeskind: trauma/void, S. 6.
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Raum also, der zur anderen Hälfte ein sakraler öffentlicher Raum ist. Seit Döblins Bestseller ist dieser Platz nicht mehr »als etwas völlig Normales«6 anzusehen. Unter dem Eindruck Döblins stehend war es Libeskind unmöglich, den durch Krieg versehrten Platz mit »so-und-soviele[n] Quadratmeter[n] neuer Büroflächen, so-und-sovielen Quadratmeter[n] Wohnflächen [wiederanzueignen]«.7 Fast alles, was der Zweite Weltkrieg übrig gelassen hatte, war abgerissen worden. Wieder aufgebaut worden waren das Berolina- und das Alexanderhaus. In den Jahren 1966 bis 1971 war eine untertunnelte, autofreie Betonwüste geschaffen worden, mit ›Weltzeituhr‹ und ›Brunnen der Völkerfreundschaft‹ sowie Fernsehturm. Und 1993 eben wollten die Stadtplaner den Platz neu gestalten. Den dazu ausgerufenen Wettbewerb gewann allerdings nicht Daniel Libeskind. Preisgekrönt wurde ein Entwurf mit dreizehn Wolkenkratzern aus der Hand des Berliner Architekten Hans Kohlhoff. Er ist noch nicht umgesetzt worden. Die Geschichte des Alexanderplatzes in Berlin ist nicht nur wesentlich mit der Geschichte vom Franz Biberkopf verbunden, die Döblin Ende der bewegten 1920er Jahre der lesenden Weimarer Republik erzählt. Das historische Gedächtnis des Platzes reicht mindestens 200 Jahre zurück zum Tag seiner Taufe am 25. Oktober 1805. An diesem Tag traf der russische Zar Alexander I. in der preußischen Hauptstadt ein, um König Friedrich Wilhelm III. und Königin Luise zur Teilnahme am Koalitionskrieg gegen Frankreich zu bewegen. Zu Ehren des Gastes wurde der Platz vor den Königskolonnaden in ›Alexanderplatz‹ umbenannt. Damit zeichnet sich eine Geschichte des Platzes ab, die vom Thron eines Monarchen in die Niederungen eines exemplarischen Jedermann aus dem Proletariat führt. In der nunmehr 200-jährigen Geschichte des Alexanderplatzes spiegelt sich die Geschichte der Moderne, die um 1800 ihren signifikanten Ausgang nimmt, die sich um 1900 dynamisiert und deren Dynamik um 2000 als Produzentin eines kollektiven Traumas zu reflektieren ist. Im Berliner Alexanderplatz kreuzen sich Literatur- und Gesellschaftsgeschichte auf symptomatische Art und Weise. Wie der Text Döblins so ist auch der Platz selber zu einem Klassiker der Moderne geworden. Die Verflechtungen von historischer und poetologischer Architektur dieses Denkmals der Moderne zu beschreiben, ist Anliegen dieses Beitrages. Zu diesem Zweck beginnt er mit der Relektüre von Döblins Roman, reflektiert dessen Besonderheiten im Kontext von Döblins Poetologie und diese wiederum im Kontext der programmatischen Moderne um 1900, um sie dann schließlich an die Grundlagen der welthistorischen Moderne um 1800 anzuschließen. _____________ 6 7
Libeskind: trauma/void, S. 7. Libeskind: trauma/void, S. 6.
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1. Elementares Der Titel des Romans beinhaltet eine fokussierende Perspektive. Angesteuert wird ein Ort von einem umgebenden großen Ganzen herkommend. Wie ein Schaffner kündigt der Autor eine Bahnstation an, an welcher Halt gemacht werden soll. Wir sind nicht allein. Ein erzählender Schaffner steuert seine lesenden Fahrgäste auf einem durch Gleise vorgegebenen Weg fahrplanmäßig durch die Berliner Welt. Wir sitzen in einem Zug und schauen durch die Fensterscheiben nach draußen. Die Bewegung von Berlin Alexanderplatz bekommt mit dem Titel den Charakter einer gemütlichen Stadtrundfahrt an einem Sonntagnachmittag. Die Geschichte, die wir zu hören bekommen werden, handelt laut Untertitel von einem Mann, einem gewissen Franz mit dem mitleiderregenden Nachnamen Biberkopf, mit dem man nicht tauschen möchte. Der Vorname ist reiner Durchschnitt, typisch deutsch. Auf den Stadtführer ist Verlass: Er überfordert seine Gäste nicht, sondern kommt deren Aufnahmevermögen entgegen, wenn er mit dem bestimmten Artikel in der Präposition ›vom‹ suggeriert, dass man den Mann, um den es ihm geht, schon kennt. Franz Biberkopf soll der typisch deutsche Mann von nebenan sein, ein Kumpel von uns, zumindest unser Nachbar. Unweigerlich erhebt sich die Frage: Was hat dieser Otto-Normalmann in der Fabulierkunst zu suchen? Was macht dessen Leben geschichtsträchtig? Was bringt einen Stadtführer dazu, die Lebensstationen eines Franz Biberkopf am festen Band einer Geschichte zusammenzuschnurren und Stadttouristen mit einem durchschnittlichen Schicksal zu behelligen? Der Autor weiß um den Effekt seiner Darstellungskunst. Mit der durch den Titel seiner Erzählung geweckten Fragehaltung des Publikums rechnend, biegt er diese anschließend um in eine Haltung fraglosen, unkritischen, hingebungsvollen Zuhörens: Anhand eines Inhaltsverzeichnisses gibt er ein Mammutprogramm bekannt, das mit neun Büchern und zahlreichen Kapiteln dem Publikum aufwartet, um es rigoros in die Sitze zu drücken. Womöglich aufkeimender Unwille wird zunichte gemacht, indem der Autor in einem sich anschließenden Vorwort alle Fragen bündig beantwortet, die sich mit dem Titel seiner Erzählung aufgedrängt hatten: »Dies Buch berichtet von einem ehemaligen Zement- und Transportarbeiter Franz Biberkopf in Berlin. Er ist aus dem Gefängnis, wo er wegen älterer Vorfälle saß, entlassen und steht nun wieder in Berlin und will anständig sein.«8 _____________ 8
Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. Hg. v. Werner Stauffacher. Zürich, Düsseldorf 1996, S. 11. Im Folgenden mit der Sigle BA belegt. Die 45. Taschenbuchauflage im Deutschen Taschenbuch Verlag von 2006 entspricht in Wortlaut und Seitenzahl dieser verbindlichen historisch-kritischen Ausgabe.
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Mit seiner Vorrede etabliert der Autor einen Erzähler, dessen Erzählhaltung der eines bänkelsängernden Moritatenerzählers entsprechen wird. Als ein solcher wird er zu Zwecken einer sensationellen Unterhaltung in grellen Bildern von einer Handlung berichten, die mit Straftaten, womöglich Mordtaten gesättigt sein wird, wobei aber auch die ›Moral der Geschicht‹ nicht zu kurz kommt. Im weiteren Verlauf der Vorrede wird die Spannung dahingehend aufgebaut, dass der Haftentlassene Biberkopf zwar »anständig sein [will]« (BA 119), dies aber nicht lange durchhalten kann. In einer Konzentration auf den elementaren, ja initiatorischen Charakter des weiteren Werdegangs des vom Autor auserwählten Helden wird dieser dreimal von einem anonymen ›Es‹ in seinem zum »Lebensplan« (BA 11) nobilitierten gutmütigen Vorsatz, anständig zu sein, gestört. Wenn Döblin seinen Helden durch ein anonymes ›Es‹ »zur Strecke [bringen]« und ihm »de[n] Star [stechen]« (BA 11) will, so verraten die aggressiven Formulierungen, dass ihm an einer Art persönlicher Abrechnung mit dem ehemaligen Zement- und Transportarbeiter gelegen zu sein scheint. Der Autor beabsichtigt, Biberkopf klar zu machen, und zwar »aufs deutlichste«, »woran alles lag« (BA 11). Das Projekt des Autors mutet hoffnungslos an, unterschlägt er es doch, Biberkopfs Verbrechen zu benennen, zieht es stattdessen vor, auffallend lapidar von »ältere[n] Vorfälle[n]« (BA 11) zu sprechen, und lässt so ein Kapitalverbrechen vermuten, das Biberkopf im Zuchthaus abgebüßt hat. Der Autor verfügt jedoch über einen Referenzpunkt für seinen pädagogischen Optimismus hinsichtlich einer bereits zu Anfang verloren erscheinenden Existenz. Denn Biberkopf ist keinesfalls ein bösartiger Verbrecher, wie man meinen könnte. Er wird als »unser guter Mann« (BA 11) vorgestellt, als einer also, der von Grund auf gutmütig ist, und von daher stehen die Chancen auf seine grundsätzliche Besserung gut. Wo anscheinend die Haft nicht gegriffen hat, soll nun die Dichtkunst, die sprachgewaltige Mentorschaft eines besserwissenden, sich wahrlich allmächtig gebärdenden Erzählers Abhilfe schaffen. Dieser unternimmt den Versuch, einen offenbar besinnungslos gebliebenen Haftentlassenen zum besseren Menschen zu machen: »Das furchtbare Ding, das sein Leben war, bekommt einen Sinn.« (BA 11) Döblins Erzählprojekt mutet wie eine erzieherische Maßnahme an, mit welcher er nicht nur den Biberkopf, sondern auch sein Publikum in die Schülerschaft einer moralischen Anstalt verwandelt. Der Autor beendet seine Vorrede mit erhobenem Zeigefinger: »Dies zu betrachten und zu hören wird sich für viele lohnen, die wie Franz Biberkopf in einer Men_____________ 9
Der Text aller Zitate der Seiten 11 und 12 ist im Original kursiv.
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schenhaut wohnen und denen es passiert wie diesem Franz Biberkopf, nämlich vom Leben mehr zu verlangen als das Butterbrot.« (BA 12) Die suggestive Identifizierung des Publikums mit einem Straftäter ist eine Anmaßung, die die Sprache verschlägt und mundtot macht. Die mutmaßliche Repräsentativität des Falles geht auf Kosten eines Publikums, das auszog, um sich unterhalten zu lassen und in der Gefangennahme durch den Autor Döblin gelandet ist. Dem kriminalisierten Publikum wird zusammen mit Biberkopf »eine Gewaltkur« (BA 11) verordnet. Wir werden weniger zu Zeugen als zu Opfern einer ambitionierten Therapie gemacht. Eingesperrt wie Biberkopf es einst gewesen ist, wird das Publikum von vornherein darauf festgelegt, sich mit Biberkopf zu solidarisieren. Sollte er sich nicht bessern, ist es auch um die Freiheit des Publikums schlecht bestellt. Aber mit Gewalt wird der Autor seinen Protagonisten unter sein Gesetz zwingen. Auch wenn wir sicherlich erfahren werden, in welche Paragraphen sich dieses Gesetz gliedert, so ist doch Gewalt sein Exponent. Wir sitzen zwar im Zug, der auf die Station ›Berlin Alexanderplatz‹ zusteuert, sind aber gleichwohl oder -übel unter die Räder geraten. Wenn wir, wie der Autor sagt, »am Schluß den Mann wieder am Alexanderplatz stehen [sehen], sehr verändert, ramponiert, aber doch zurechtgebogen« (BA 11), werden auch wir – so viel steht fest – eine Erfahrung gemacht haben, die uns für den Rest unseres Lebens in den Knochen sitzen wird. Mit seiner exemplarischen Sinngebungstortur bietet Berlin Alexanderplatz eine Prosa der Gewalt. Eventuell sich regendes Selbstmitleid aufseiten des Publikums, das sich fragt, wie es bloß in diese Geschichte hineingeraten konnte, vernichtet der Autor am Ende seiner Vorrede dadurch, dass in seiner moralischen Erklärung der Vorwurf ›selber schuld‹ mitschwingt. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass wir wie Biberkopf »in einer Menschenhaut wohnen« (BA 12), wobei diese Formulierung einer Drohgebärde gleichkommt, mit welcher der Autor uns auf den Leib rücken und uns unser erstes und letztes Domizil, den eigenen Körper, streitig machen will. Und auch wenn wir keine Haftentlassenen sind und schon gar keine Mörder, ist es uns »passiert wie diesem Franz Biberkopf«, »vom Leben mehr zu verlangen als das Butterbrot« (BA 12). Denn wir wollten ja ein Buch lesen und haben, warum auch immer, Döblins Roman Berlin Alexanderplatz gekauft. Aus der Perspektive des Autors haben wir damit den Kapitalfehler einer Anmaßung begangen. Dass wir mit dem Buchkauf ein One-way-ticket in die Hölle einer »Gewaltkur« (BA 11) erworben haben, konnten wir nicht wissen, aber jetzt ist es zu spät. Döblin schert Verbrechen und Bücherkauf über einen Kamm mit folgendem Resultat: Der Bücherkauf wird zum Verbrechen inkriminiert und das Verbrechen zur Episode eines Stadtbummels bagatellisiert. Döblin hat eine eigentümliche Rechtsvorstellung,
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im Zuge deren er willkürlich bestimmt, wann das Maß voll ist und der Bescheidenheitspegel seiner Klientel überschritten ist. Mit Biberkopf jedenfalls stehen wir unter Generalverdacht, sind wegen Anmaßung vom Autor Döblin vorsichtshalber verhaftet worden und auf Gedeih oder Verderb der »Gewaltkur« ausgeliefert, die der Arzt Döblin sich für seinen Roman vorgenommen hat. Das erste Buch beginnt mit einem Erzählerbericht, welcher den Ausgangspunkt des Geschehens sowohl benennt als auch zu entfalten ankündigt. Unter der Überschrift Erstes Buch hält der bänkelsängernde Erzähler gleichsam eine Bildtafel hoch, die für Überschaubarkeit und Vergegenwärtigung des Geschehens bei seinen Zuhörern sorgt. Biberkopf »verläßt […] das Gefängnis Tegel, in das ihn ein früheres sinnloses Leben geführt hat« (BA 13). Dass es dem Erzähler wie dem Autor egal ist, was Biberkopf verbrochen hat, wundert nun nicht mehr. Es war ganz einfach »sinnlos« und wird nun mit Sinn gesättigt werden. In der Vorrede zum Ersten Buch erfahren wir nichts, was wir nicht schon aus der Vorrede zum Roman wüssten. Das vermittelt zwar Sicherheit, im Hinblick auf die angekündigte Gewaltkur aber nicht gerade eine beruhigende. Und so macht uns die erste Kapitelüberschrift noch einmal bewusst, auf welchem Weg wir uns befinden: »Mit der 41 in die Stadt« (BA 15). Als Zuginsasse identifiziert, ist Biberkopf nun tatsächlich einer von uns, sind wir als Zuginsassen mehr denn je dieser Biberkopf, für den die »Strafe beginnt« (BA 15). Döblin wird an ihm und an uns ein Exempel statuieren. Warum? Wozu? – Das ist die erkenntnisleitende Fragehaltung, die es sich im Zuge der rigoros verschriebenen »Gewaltkur« zu bewahren gilt. Was der Autor mit der Vorrede bewirkt, macht der Erzähler zu seinem Prinzip: Prologische Vorabinformationen liefern zu allen neun Büchern den elementaren Bezugsrahmen der autoritären Sinngebungstortur, innerhalb dessen sich Biberkopfs Dasein entfalten soll, um auf das rechte Maß zurechtgestutzt zu werden. Die Handlung umfasst den Zeitraum zwischen Biberkopfs Entlassung aus der Haftanstalt Tegel bis hin zu seiner symbolischen Wiedergeburt nach dem Tod des ›alten‹ Biberkopf in der Irrenanstalt Buch. Dem Haftentlassenen erscheint Berlin von Anfang an als Gegner, als unheimliches Gegenüber. Aufgrund seiner Unsicherheit überzieht Biberkopf sein wiedererlangtes Leben in Freiheit mit dem existenziellen Pathos eines Eroberungsfeldzuges (vgl. BA 239). Gleichzeitig bringt Biberkopfs Unsicherheit eine elementare regressive Sehnsucht mit sich, die am Ende des Romans mit der abermaligen Einlieferung des Protagonisten in die heimatlich bergenden Mauern einer Anstalt erfüllt zu sein scheint. Biberkopf unternimmt drei Versuche, Berlin zu erobern. Diese verteilen sich wie folgt auf die neun Bücher des Romans: Dem ersten Erobe-
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rungsversuch sind drei Bücher gewidmet, dem zweiten und dritten jeweils nur noch zwei, so dass die beiden letzten Bücher der ausführlichen Aufhebung von Biberkopfs Eroberertum gelten können. Alle drei Eroberungsversuche beginnen erfolgversprechend und enden mit einem unheilvollen »Schlag« (BA 105). Nachdem Biberkopf seine anfängliche Schwäche überwunden und Berlin mit der Vergewaltigung Minnas (vgl. BA 39) zurückerobert hat (Erstes Buch), ihm die Stadt infolgedessen wie ein neu gewonnenes »Paradies« (BA 49) erschienen ist und er beschlossen hat, »anständig« (BA 66) zu bleiben (Zweites Buch), trifft ihn der erste Schlag in Form eines Verrates durch seinen Gefährten Lüders (Drittes Buch). Mittels Alkohol ›überwindet‹ Biberkopf den ersten Schlag, beschließt, nicht mehr zu arbeiten (vgl. BA 132f.), und kommt bei der Beobachtung eines Einbruchs auch dahin, seinen Vorsatz, »anständig« (BA 148) zu sein, anzuzweifeln (Viertes Buch). Trotzdem versucht er es zunächst noch einmal, auf ›anständigem‹ Weg als Zeitungshändler die Stadt zu erobern, gerät dann aber in die schlechten Kreise der Einbrecherbande von Pums und Reinhold (vgl. BA 176) und liefert sich schließlich einen Machtkampf mit Reinhold, der ihm dabei den zweiten Schlag zufügt: Reinhold wirft Biberkopf vor ein Auto (vgl. BA 212) und macht ihn zum einarmigen »Krüppel« (BA 226) (Fünftes Buch). Diesmal überwindet Biberkopf den Schlag mit Hilfe seiner früheren Freundin Eva (vgl. BA 225f.) und seiner neuen Freundin Mieze (vgl. BA 256), die beide im ältesten Gewerbe der Welt tätig sind, während Biberkopf das ebenso alte Gewerbe des Einbruchs betreut (vgl. BA 318). Im Unterschied zu seinen beiden Freundinnen allerdings fasst Biberkopf sein Gewerbe nicht als Arbeit auf, denn vom Arbeiten hat er sich ebenso wie von seinem Vorsatz, ›anständig‹ zu sein, definitiv verabschiedet (vgl. BA 245), nachdem er ihn als Folge eines »Zuchthausknall[s]« (BA 253) identifiziert hat. Es versteht sich (fast) von selbst, dass Biberkopf neben seinen Einbrüchen quasi ›ehrenamtlich‹ als Zuhälter ›arbeitet‹ (vgl. BA 265) (Sechstes Buch). Der dritte Eroberungsversuch Biberkopfs gipfelt in einem zweiten Machtkampf mit Reinhold (vgl. BA 309), der Biberkopfs Freundin Mieze ermordet und ihm damit den ultimativen Schlag zufügt (vgl. BA 346) (Siebtes Buch). Jetzt verfällt Biberkopf anfänglich der Verstörung, dann der Raserei und schließlich dem Wahn (Achtes Buch). Das letzte Buch zeigt Biberkopf am Rande des Todes; in seinem »Stuporzustand« (BA 425), seiner »Katatonie« (BA 427), wie es klinisch exakt heißt, rückt ihm der Tod zu Leibe und belehrt ihn über sein zurückgelegtes Leben und die falschen Prinzipien, die darin zum Tragen gekommen sind. In der Irrenanstalt Buch erlebt Biberkopf seine Initiation, wird gleichsam neu ›geba-
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cken‹ (vgl. BA 439) und als neuer Mensch, als »Franz Karl Biberkopf« (BA 447), wieder ins Leben entlassen, das er nunmehr als »Hilfsportier in einer mittleren Fabrik« (BA 453) und mit Hilfe einer Haltung des Beobachtens und Nachdenkens meistert: »Wach sein, wach sein, […] wach sein, Augen auf, aufgepaßt […]« (BA 454) – so lautet das Mantra dessen, der vom Schicksal einer erzählerischen Rosskur abgerichtet worden ist und dessen aggressives Potential nunmehr im Rhythmus marschierender Soldaten aufgeht, mit dem der Erzähler seine Moritat vom Franz Biberkopf beschließt: Es geht in die Freiheit, die Freiheit hinein, die alte Welt muß stürzen, wach auf, die Morgenluft. Und Schritt gefaßt und rechts und links und rechts und links, marschieren, marschieren, wir ziehen in den Krieg, es ziehen mit uns hundert Spielleute mit, sie trommeln und pfeifen, widebum, widebum, dem einen gehts grade, dem andern gehts krumm, der eine bleibt stehen, der andere fällt um, der eine rennt weiter, der andere liegt stumm, widebum, widebum. (BA 454f.; im Original kursiv)
2. Pädagogisches Mittels der sorgfältigen demonstrativen Gliederung seines Stoffes sorgt der Erzähler für die Überschaubarkeit des Handlungsverlaufs. So zeichnet sich bis zum Schluss des Romans deutlich ab, dass Biberkopf keine Entwicklung durchläuft. Die unschuldige Vitalität des Haftentlassenen mutiert infolge der erzählerischen Schicksalsschläge nach und nach in Aggression, die nach und nach vom Marschrhythmus kanalisiert wird. Bei seinem dritten Eroberungsfeldzug durch die Stadt ist der Protagonist wieder bei der kriminellen Situation angelangt, deretwegen er in Tegel eingesessen hatte. Nachdem er einen zweiten Schlag hinnehmen musste, erreicht Biberkopf seinen persönlichen existenziellen Tiefpunkt. Er sehnt sich in die bergenden Mauern der Haftanstalt zurück, steigt sogar in die Elektrische Nr. 41 (vgl. BA 283), wo er einschläft und von der Polizei aufgegriffen wird, die ihn zu seiner Freundin Mieze bringt. Wie er seinerzeit seine Geliebte Ida mit einem Küchengerät im Affekt totgeschlagen hat (vgl. BA 99), so begeht Biberkopf nunmehr einen Totschlag geistiger Art gegen seine Freundin Mieze: Und da ist Franz weg, nur eine Sekunde. Sein Arm liegt um ihre Hüfte geschlungen und ist ganz starr. Aber in Gedanken hat Franz eine Bewegung machen müssen. Sein Gesicht ist dabei steinhart. Er hat in Gedanken – ein kleines Holzinstrument – in der Hand gehalten und von oben her – einen Schlag gegen Mieze geführt, gegen ihren Brustkorb, einmal, zweimal. Und hat ihr die Rippen zerbrochen. Krankenhaus, Friedhof, der Breslauer. (BA 290)
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Mit dieser Reminiszenz des ehemals begangenen und abgebüßten Verbrechens setzt die Metamorphose des gesamten geistigen Horizonts von Biberkopf ein. Mit ihr dringt der mutmachende Rhythmus des stampfenden Marschtaktes eines Kampfliedes immer mehr in den Vordergrund der Erzählung, mit dem sie schließlich auch ausklingt. Von vornherein vom Erzähler an ihrer freien Entfaltung gehindert, staut sich Biberkopfs anfänglich unschuldige Vitalität immer mehr auf bis hin zu Mordphantasien. Diese hasserfüllte Aggression wird dann umgelenkt von der Ebene privater Auseinandersetzung auf die des Kollektivs, wird diszipliniert zu Zwecken militärischer Nutzung. Kämpfte Biberkopf auf seinen Stadteroberungsfeldzügen alleine, so hat er am Schluss begriffen, dass es »schöner und besser [ist], mit andern zu sein«, ja dass das Miteinandersein sogar ein Naturgesetz ist, denn »ein Mensch kann nicht sein ohne viele andere Menschen« (BA 453). Verstößt man gegen dieses elementare Gesetz menschlichen Daseins und »geht« »allein«, »[kommt] viel Unglück […] davon« (BA 453). In Berlin Alexanderplatz wird das Ich des Protagonisten verroht zum schieren Potential der Gleichschaltung von Menschen, die in der erzählerischen Vision als harmonisches Miteinander erscheint. Die Überschrift zum Schlusskapitel des neunten und letzten Buches – »Und Schritt gefaßt und rechts und links und rechts und links« (BA 451) – verrät, dass die erzählerische Intention ganz auf die Kollektivierung des Bewusstseins im stampfenden Marschrhythmus setzt. In seinem letzten Kapitel bilanziert der Erzähler die erfolgreiche Integration von Biberkopfs vitalem Selbstbehauptungsanspruch in die Dynamik der Masse: »Er steht zum Schluß als Hilfsportier in einer mittleren Fabrik. Er steht nicht mehr allein am Alexanderplatz. Es sind welche rechts von ihm und links von ihm, und vor ihm gehen welche, und hinter ihm gehen welche.« (BA 453) Biberkopf meint verstanden zu haben, »sich gewöhnen [zu müssen], auf andre zu hören, denn was andere sagen, geht mich auch an« (BA 453). Der Weckruf »Wach sein, wach sein, […] wach sein, Augen auf, aufgepaßt […]« (BA 454), der die letzten Sätze des Textes durchhallt, ist an eine kritisch anmutende Einstellung gekoppelt, die »erst alles [nachrechnen] will«, »was andere sich ausgedacht haben« (BA 454), weil der Gebrauch der Vernunft es ist, der die Menschen von den Tieren, genauer von den »Ochsen« unterscheidet, die »eine Zunft [bilden]« (BA 454). Man könnte von daher meinen, dass das resolute Marschgetrommel des bänkelsängernden Erzählers am Schluss des Romans von einer dämonischen Ironie gebrochen ist10 und nicht geradewegs ins kriegerisch aufgeladene Horn _____________ 10
Vgl. Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im 20. Jahrhundert. München 2004, S. 349 – Sabine Schneider: Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf, in: Dies. (Hg.): Lektüren für das 21. Jahrhun-
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der Nationalsozialisten bläst. Indes bleiben die letzten Verlautbarungen Biberkopfs über sein erlangtes Wissen auf tautologischem Niveau stecken: »Wir wissen, was wir wissen, wir habens teuer bezahlen müssen.« (BA 454) Damit aber schließt sich der intendierte Gebrauch der Vernunft kurz mit den beliebig aufladbaren Leerformeln ›Anständigsein‹, ›Zusammensein‹, ›Wachsein‹: Auf andere zu hören ist eine ebenso beliebig manipulierbare Einstellung wie die des Anständigseins, mit der Biberkopf als Haftentlassener in die Welt Berlins gestartet war, und die des Wachseins, mit der er als Geläuterter aus der Erziehungsanstalt seines Autors entlassen wird. Der Text liefert kein Ironiesignal für die Relativierung des die Marschtrommel schlagenden Erzählers. Vor dem Hintergrund des autoritären erzählerischen Gebarens, das den Roman auf mehr als vierhundert Seiten durchherrscht, erscheint der erzählerische Gestus am Schluss nicht als ein mutwillig aufgesetzter. Die Marschemphase fügt sich nahtlos-harmonisch der erzählerischen Absichtlichkeit, durch die Biberkopf schließlich die Lektion seines Schöpfers ›schluckt‹ und ›kapiert‹, dass es anmaßend ist, »vom Leben mehr zu verlangen als das Butterbrot« (BA 12). Berlin Alexanderplatz inszeniert den Vorgang des »Abdanken[s] der bewußten Kritik zugunsten der Urahnungen von Blut und Boden«,11 wie ihn die Psychologen Mitscherlich in ihrem wichtigen Buch Die Unfähigkeit zu trauern (1967) mit Bezug auf das kollektive Verhalten während des NS-Regimes beschrieben haben. Am Ende ist Biberkopf beim »Butterbrot« angelangt, mit dem er zufrieden ist, wie der Autor es sich für seinen Zögling in der Vorrede des Romans vorgestellt hat. Nicht von ungefähr klingt die Alliteration in der Redewendung ›Blut und Boden‹ mit derjenigen im Kompositum ›Butterbrot‹ perfekt zusammen. Mit den Mitscherlichs kann man sagen, dass Biberkopfs Wachsein und sein zweifelhaft kritischer Vernunftgebrauch in einem Begriff von Wachsein konvergieren, der »das Stabilisieren eines falschen Bewußtseins«12 meint, wie Hitler es forderte. Wie dieser ruft Döblin seinem lesenden Publikum »Deutschland erwache!« zu, insofern er seine Erzählung einzig und allein darauf angelegt hat, dass sich bei seinem literarischen Geschöpf zu ihm als seinem Schöpfer und geistigen Führer ein »Hörigkeitsverhältnis« einstellt, »das heißt ein Verhältnis eines hohen Grades von _____________ 11 12
dert. Klassiker und Bestseller der deutschen Literatur von 1900 bis heute. Würzburg 2005, S. 37-57, hier S. 55. Alexander u. Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. Mit einem Nachwort zur unveränderten Neuausgabe. 22. Aufl. München, Zürich 1991, S. 74. Mitscherlich: Unfähigkeit zu trauern, S. 74.
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Unfreiheit«,13 das »im falschen Bewußtsein […] aber als Selbstgefühl, als ein Gefühl der Befreiung erlebt [wird]«.14 Genau dieses paradoxe Erwachen zur Hörigkeit hält das Schlusstableau von Berlin Alexanderplatz fest. Es macht Sinn, dass Döblin sein Exempel an einem Typus statuiert, dessen geistiger Horizont weit unter dem Niveau des Publikums angesiedelt ist. Als Unterprivilegierter und zudem Haftentlassener ähnelt Biberkopf einem kleinen Kind, das erst lernen muss, sich in der Welt zurecht zu finden. Als tabula rasa ist er eine leichte Beute für einen, der auf Herrschaft aus ist und seine Vorstellung von Recht und Ordnung durchsetzen möchte. Gleich einem züchtigenden Schulmeister »ruft« der Herr der Geschichte schon zu deren Beginn seinen Zögling her an seinen Gottes Thron ähnelnden Katheder, und zwar »zu keinem Spiel, sondern zum Erleben seines schweren, wahren und aufhellenden Daseins« (BA 47). Döblin verfolgt sein Geschöpf vom Auszug aus dem Gefängnis an, um in ihm das zarte Pflänzchen Autonomie, das in ihm wächst und ganz unschuldig mit ›Anständigsein‹ etikettiert ist, an der Wurzel zu packen und auszureißen. Weil Biberkopf gar nicht erst die Chance erhält, seine Autonomie auszubauen und sein Prinzip des Gehorsams gegenüber sich selbst und anderen zu überprüfen, tritt im Laufe der Erzählung nicht ein Verlust von Autonomie […] ein, […] sondern ein Auswechseln der Werte, die ja im einzelnen für den Betreffenden ohnehin ohne Bedeutung sind, solange das Prinzip des Gehorsams das ganze Wertsystem beherrscht. Es bleibt bei der Idealisierung [von elterlichen Autoritätspersonen], die ja leicht auf den Führer übertragen werden kann.15
Döblins exemplarische Erziehungsmaßnahme setzt ganz auf gewaltsame Zurichtung unter der legitimatorischen Berufung auf »das Leben«, das dem Helden »hinterlistig ein Bein [stellt]« und das dieser »nicht begreift« (BA 105). Sie setzt nicht auf die Genese eines Bewusstseinszustandes. Insofern handelt es sich bei Berlin Alexanderplatz nicht um einen Entwicklungsroman. Dafür fehlt ihm die wichtigste Voraussetzung: nicht nur die des psychologischen Erzählens, sondern vor allem die des Respekts vor der individuellen Autonomie seines Protagonisten. Die Sehweise des Autors auf sein literarisches Geschöpf ist gänzlich einer bestimmten pädagogischen Tradition verhaftet: der Schwarzen Pädagogik. Mit der Schwarzen Pädagogik ist eine Haltung charakterisiert, die nicht nur in der faschistischen, sondern in verschiedenen Ideologien mehr oder weniger offen zutage tritt. Die Verachtung und Verfolgung des schwachen Kindes sowie die Unterdrückung des Lebendigen, Kreativen, Emotionalen im Kind und im eigenen Selbst durchziehen so viele Bereiche unseres Lebens, daß
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Mitscherlich: Unfähigkeit zu trauern, S. 74. Mitscherlich: Unfähigkeit zu trauern, S. 74. Alice Miller: Am Anfang war Erziehung. Frankfurt a.M. 1980, S. 140.
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sie uns kaum mehr auffallen. Mit verschiedener Intensität und unter verschiedenen Sanktionen, aber fast überall findet sich die Tendenz, das Kindliche, d.h. das schwache, hilflose, abhängige Wesen so schnell wie möglich in sich loszuwerden, um endlich das große, selbständige, tüchtige Wesen zu werden, das Achtung verdient. Begegnen wir diesem Wesen in unseren Kindern wieder, so verfolgen wir es mit ähnlichen Mitteln, wie wir es mit uns bereits taten, und nennen es ›Erziehung‹.16
Für die Haltung der Schwarzen Pädagogik sind folgende Aspekte charakteristisch: 1. daß die Erwachsenen Herrscher (nicht Diener!) des abhängigen Kindes seien; 2. daß sie über Recht und Unrecht wie Götter bestimmen; 3. daß ihr Zorn aus ihren eigenen Konflikten stammt; 4. daß sie das Kind dafür verwantwortlich machen; 5. daß die Eltern immer zu schützen seien; 6. daß die lebendigen Gefühle des Kindes für den Herrscher eine Gefahr bedeuten; 7. daß man dem Kind so früh wie möglich seinen ›Willen benehmen‹ müsse; […]. Die Mittel der Unterdrückung des Lebendigen sind: Fallen stellen, Lügen, Listanwendung, Verschleierung, Manipulation, Ängstigung, Liebesentzug, Isolierung, Mißtrauen, Demütigung, Verachtung, Spott, Beschämung, Gewaltanwendung bis zur Folter.17
Zur Schwarzen Pädagogik gehört auch, dem Kind von Anfang an Meinungen zu vermitteln wie die, »daß eine hohe Selbsteinschätzung schädlich sei; […] daß eine niedrige Selbsteinschätzung zur Menschenfreundlichkeit führe; […] daß das Verhalten wichtiger sei als das Sein […]«.18 Döblin war die Haltung der Schwarzen Pädagogik im Zuge seiner schulischen Sozialisation in Fleisch und Blut übergegangen. Das geht hervor aus einer Reihe von Essays, die im Umfeld von Berlin Alexanderplatz entstanden sind. Am 28. Oktober 1927 veröffentlichte Döblin unter dem Titel Arzt und Dichter ein Selbstporträt, in welchem er eine ernüchternde und resignative Bilanz seines bisherigen Lebens und Schaffens zog und seine kommerziellen Misserfolge als Arzt und als Dichter beklagte. Döblins Selbstporträt ist Ausdruck einer grundsätzlichen Standortbestimmung, im Zuge deren er den Elitismus seiner bisherigen Werke kritisch als künstlerische Sackgasse revidiert und an einen Befreiungsschlag zu denken beginnt. Die Auseinandersetzung mit Schulerlebnissen spielt dabei eine wichtige Rolle. Im Mai 1927, vier Monate vor Beginn der Arbeit an seinem neuen Berlin-Roman, wetterte Döblin wider die abgelebte Simultanschule, wobei »düstere Wolken [seiner] eigenen Schulzeit [auftauchten]« und er »Herren mit den würdigen und flotten Bärten« vor seinem geistigen Auge vorbei defilieren sah und »schneidige Stimmen«19 hörte. Hier spricht Döb_____________ 16 17 18 19
Miller: Am Anfang war Erziehung, S. 77. Miller: Am Anfang war Erziehung, S. 77. Miller: Am Anfang war Erziehung, S. 78. Alfred Döblin: Wider die abgelebte Simultanschule, in: Ders.: Kleine Schriften III (1925– 1933). Hg. v. Anthony W. Riley. Zürich, Düsseldorf 1999, S. 103-110, hier S. 104.
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lin eine deutliche Sprache hinsichtlich seiner ambivalenten, ja opportunistischen Grundeinstellung, wenn er die Schule einerseits im Rückgriff auf das berüchtigte französische Staatsgefängnis an der Porte St. Antoine in Paris als »Bastille unserer Jugend« bezeichnet und andererseits beteuert, dass »die ganze Sache uns nicht [interessierte]«, »waren [wir] [doch] vollkommen beschäftigt mit der Notwendigkeit, versetzt zu werden«.20 Allein die Aussicht, mit dem Abitur in der Hand »frei, ledig und ungebunden« zu sein, motivierte zu seelischen Verbiegungen, die sich erst in Form von »Erinnerungsträumen an die Bastille unserer Jugend«21 rächten. In diesem Zusammenhang prononciert Döblin eine Wendung, die zum Erkennungszeichen der mentalen Verfasstheit einer ganzen Generation im Nachkriegsdeutschland nach dem Dritten Reich werden sollte: »Und wir wußten gar nichts!«22 Bezeichnend für Döblins durchaus zeitkonforme, angepasste Mentalität in der präfaschistischen Ära ist auch sein Plädoyer für eine »Gewalt«, »die geistig allgemein und also auch auf dem Gebiet des Schulwesens maßgebend und allgemein verbindlich wäre«.23 Auf der Schule hatte Döblin einen »unauslöschlich[en]« »Haß« »gegen die Machthaber auf dem Katheder« angesammelt, den er als »das Zarentum der Subalternen«24 bezeichnet. Kurz vor Beginn seiner Arbeit an Berlin Alexanderplatz nimmt er sich vor, sich »einmal« den im Gefängnis der Schule angesammelten Hass »vom Leibe zu schreiben«,25 die ›Bastille seiner Jugend‹ gewissermaßen zu erstürmen und so das Fanal einer neuerlichen Revolution zu setzen, wie es ehemals die Erstürmung der Pariser Bastille am 14. Juli 1789 im Hinblick auf die Französische Revolution gewesen ist. Mit Döblins Zorn auf die Schul-Bastille scheint das ebenfalls ›schreckliche‹ Kindheitserlebnis auf dem Jahrmarkt in Resonanz getreten zu sein, von dem Döblin bereits zehn Jahre zuvor in seiner ›Selbstbiographie‹ Doktor Döblin (1917/1918) berichtet hatte.26 Ein Moritatenerzähler hatte in dem kleinen Jungen eine unendliche Einsamkeit, Todesangst und Verwirrung ausgelöst, die ähnlich traumatisch fixiert blieb wie das Erlebnis ›Schule‹: Er [Alfred Döblin; J.S.] lief viel allein auf den Straßen herum; einmal lief er auf den Jahrmarkt; da war an einer Bude eine Moritat angemalt, grell bemalte Lein-
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Döblin: Wider die abgelebte Simultanschule, S. 106. Döblin: Wider die abgelebte Simultanschule, S. 106. Döblin: Wider die abgelebte Simultanschule, S. 106. Döblin: Wider die abgelebte Simultanschule, S. 108. Döblin: Wider die abgelebte Simultanschule, S. 106. Döblin: Wider die abgelebte Simultanschule, S. 106. Vgl. Alfred Döblin: Doktor Döblin. Selbstbiographie (1917/1918), in: Ders.: Schriften zu Leben und Werk. Hg. v. Erich Kleinschmidt. Olten, Freiburg i.Br. 1986, S. 14-23, hier S. 19.
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wand, entsetzliche Totschlagszene; der Junge lief ganz verwirrt nach Hause, das Bild konnte er nicht loswerden, es ängstigte ihn viel; lange Jahre später noch verließ ihn nicht der schreckliche Eindruck, dessen Pein er sich zu entziehen suchte.27
1928, anlässlich seines fünfzigsten Geburtstages, versuchte Döblin in einem autobiographischen Abriss mit dem Titel Erster Rückblick die Motive und Bedingungen seines literarischen Schaffens zu ergründen und widmete dabei der Darstellung seiner Schulerlebnisse ein eigenes Kapitel.28 Hier rechnet der ehemalige Schüler Döblin in Gestalt eines ›Einladers‹ mit seinen ehemaligen Lehrern ab, die als gespenstische Tote vor das Tribunal von Döblins Jüngstem Gericht zitiert werden. Döblin stellt sich hier auf das Katheder, verwandelt die ehemals Machthabenden in seine Schülerschaft und zieht sie zur Rechenschaft für die von ihnen seinerzeit an ihm und seinen Mitschülern begangenen Taten. Als Gespenstersonate betitelt, ist dieses Kapitel ein halbfiktionaler Text, der aus dem prosaischen Kontext herausragt. Die prononcierte Literarisierung der ehemaligen Schulerlebnisse bildet gewissermaßen die Vorstufe zu Berlin Alexanderplatz: Die für die Gespenstersonate grundlegende Tendenz, zwischen Opfern und Tätern zu nivellieren, indem das einstige Opfer Döblin sich aufs Katheder stellt und die erlittenen Machtmittel nun gegen seine einstigen Peiniger kehrt, hat sich in Berlin Alexanderplatz verselbstständigt; wo sich in der Gespenstersonate durch die Struktur der Gegenüberstellung eine zur Kritik einladende Differenz auftut, ist in Berlin Alexanderplatz das besinnungslose Ausagieren von in der Schulzeit erfahrenen Demütigungen getreten, insofern Biberkopf als Geschöpf des Autors zugleich dessen wehrloses Opfer ist. In der Gespenstersonate übt Döblin sich in der Kunst willkürlicher Machtausübung, um sie in Berlin Alexanderplatz zur Perfektion zu steigern. Die Gespenstersonate versammelt in Rede und Widerrede alle Momente Schwarzer Pädagogik, die in Berlin Alexanderplatz ungebremst an Biberkopf zur Anwendung kommen: das »planmäßige Ignorieren«29 der Individualität des Schülers, dessen Leben »durch Gedanken«, »durch Scham, durch Furchtsamkeit« »schwer« gemacht wird, wobei »die Schuld« »immer«30 bei diesem liegt und in einer generalisierten Selbstbezichtigung zu verinnerlichen ist; die Versachlichung des Schülers sowie des Unterrichtsstoffes zum Drillmaterial der Lehrer, was als »Barbarei« und nicht als »Erziehung«31 zu bezeichnen ist; die Schule als Ort, wo man Latein und Lügen _____________ 27 28 29 30 31
Döblin: Doktor Döblin, S. 19. Vgl. Alfred Döblin: Erster Rückblick (August 1928), in: Ders.: Schriften zu Leben und Werk, S. 108-177. Döblin: Erster Rückblick, S. 144. Döblin: Erster Rückblick, S. 145f. Döblin: Erster Rückblick, S. 150.
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lernt, an welchem Individualität verabschiedet und Mitläufertum eingeübt wird, wo es gilt, »Mimikry« als Verhaltensstandard in »das Ich [des Schülers] einzuhämmern« wie mathematische »Lehrsätze«, »Beweise«, »Formeln«;32 dass zweimal sitzen bleibt, wer wie Döblin das mathematische Kalkül preußischer Sachlichkeit nicht beherzigt;33 die Schule als Zuchthaus, als staatlich sanktionierte »Bastille«,34 in der den als weibisch diffamierten »Gefühlen«35 – »Sie sprechen mit Empfindung, im Affekt. Was soll das hier. Sind wir Männer? […] gehen Sie zur Ihrer Mutter. […] Wie steht’s mit der Sachlichkeit? Schützen Sie keine Gefühle vor.«36 – eine klare Absage erteilt und Kaltblütigkeit gelernt wird – »Zum Teufel, wo gehobelt wird, fallen Spänne.«37 – und wo die Herausforderung darin besteht, die Lehrer an Kaltblütigkeit zu übertreffen;38 die Inszenierung der Schulzeit als einen traumatisierenden »Unfall«, im Zuge dessen die »Seele [erkrankt], weil sie sich […] nicht wehren [kann], weil sie zu heftig, zu plötzlich überrumpelt, überrascht [wird]«,39 und wo sich das Opfer »immer [fragen]« muss: »was habe ich nur getan?«;40 die zweifelhafte »Bewältigung« der »Granatexplosion« Schule in dem Lebensmotto ›Was uns nicht umbringt, härtet uns ab‹ – »Der Schock heilt aus, das Gleichgewicht zwischen innerer Kraft und äußerem Stoß wird wieder hergestellt. So wie ein Boxer lernt, seine Bauchmuskeln gegen einen gefährlichen Schlag hart zu machen«;41 und das finale »Unterliegen«42 des Schülers. Zentral für die Schule als Brutstätte von Männlichkeit und Militarismus war der Turnunterricht. Auch wenn Döblin als sportlich unbegabter Schüler sich dagegen als Feingeist zur Wehr setzte und sich zu Nietzsche und Schopenhauer bekannte – »Das waren meine Ichs! Ich habe schon als Quartaner gedacht und geschrieben.«43 –, so handelt er sich damit nicht von vornherein den Kredit kritischen Denkens ein. Es handelt sich um einen bloß formalen Akt der Opposition. Denn der erkenntnistheoretische Teil in den Kultbüchern der oppositionellen Intelligenz war vom geringsten Wert. »Über das aktuell Modische hinaus lag die ideologische Bedeutung zumal des Zarathustra im Versuch, geistesaristokratische Positi_____________ 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43
Döblin: Erster Rückblick, S. 150, 152, 156. Vgl. Döblin: Erster Rückblick, S. 150, 157. Döblin: Erster Rückblick, S. 158, 162. Döblin: Erster Rückblick, S. 158, 156. Döblin: Erster Rückblick, S. 149, 156. Döblin: Erster Rückblick, S. 149. Vgl. Döblin: Erster Rückblick, S. 157f. Döblin: Erster Rückblick, S. 158, 148. Döblin: Erster Rückblick, S. 158. Döblin: Erster Rückblick, S. 158, 148f. Döblin: Erster Rückblick, S. 158, 161. Döblin: Erster Rückblick, S. 151.
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onen des gesellschaftlichen ›Oben‹ zu befestigen.«44 In Döblins Bekenntnis zur Literatur ist eine geistesaristokratische Gesinnung am Werk, die repräsentativ ist für seine literarischen Mitstreiter auf dem Zug der Moderne. Döblins Geistesaristokratie entspricht, dass er mit zunehmender politischer Frustration – 1928, also während seiner Arbeit an Berlin Alexanderplatz, trat Döblin aus der SPD aus – eine Position der »Überparteilichkeit« bezog und in einer politischen Krisenzeit, in der »Pillen zur Heilung verlangt [wurden], […] eine neue Theorie über den Begriff der Krankheit [anbot]«.45 In einem Brief vom Juni 1930 an Gustav Hocke plädierte Döblin dafür, den »Sozialismus wieder als ›Utopie‹ herzustellen, als reine Kraft, Element in uns, seine Verwirklichung oder Annäherung an ihn mit neuen Mitteln zu versuchen«.46 Mit der Haltung der Überparteilichkeit einher ging ein Hunger nach dem Mythos,47 für den die radikale Rechte jener Zeit berüchtigt ist. Mythos bedeutet eine von konkreten Inhalten befreite Weise des Bedeutens, mit Hilfe deren ein größter gemeinsamer Nenner hergestellt und der Verlust von Ideologien und Utopien kompensiert werden kann. Der zeittypische Hunger nach dem Mythos macht offenbar, um was es ideologischen und utopischen Entwürfen immer schon geht: um die Art und Weise, wie hier Botschaften ausgesprochen werden, nämlich in der ordnungsstiftenden Form des totalen Entwurfs. Die irrationalistische Mythensucht der Intellektuellen in den 1920er Jahren steuerte unweigerlich auf die nationalsozialistische Ideologie zu und setzte Döblin wie auch Thomas Mann oder Hermann Broch gerade als Emigranten unter Legitimationsdruck. Zu Beginn des reformpädagogisch beseelten 20. Jahrhunderts, das – Ironie der Geschichte – anhand des Titels von Ellen Keys bahnbrechendem Buch von 1900 als Das Jahrhundert des Kindes in die Geschichte nicht nur der Pädagogik eingehen sollte, steht der Allianz von Reformpädagogik und Friedensbewegung (Montessori, Key) die Allianz von literarischer Moderne und Militarismus im Sinne einer Orientierung an autoritären, _____________ 44 45
46 47
Walter Fähnders: Avantgarde und Moderne 1890–1933. Stuttgart, Weimar 1998, S. 80. Wulf Köpke: Alfred Döblins Überparteilichkeit. Zur Publizistik in den letzten Jahren der Weimarer Republik, in: Thomas Koebner (Hg.): Weimars Ende. Prognosen und Diagnosen in der deutschen Literatur und politischen Publizistik 1930–1933. Frankfurt a.M. 1982, S. 318-329, hier S. 328. Vgl. dazu auch Antje Büssgen: Intellektuelle in der Weimarer Republik, in: Intellektuelle im 20. Jahrhundert in Deutschland. Ein Forschungsreferat. Hg. v. Jutta Schlich. 11. Sonderheft Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Tübingen 2000, S. 161-246, insbes. S. 213-215. Alfred Döblin: Briefe. Hg. v. Heinz Graber. Olten, Freiburg i.Br. 1970, S. 161. Vgl. Theodore Ziolkowski: Der Hunger nach dem Mythos. Zur seelischen Gastronomie der Deutschen in den Zwanziger Jahren, in: Reinhold Grimm, Jost Hermand (Hg.): Die sogenannten Zwanziger Jahre. Bad Homburg v.d.H., Berlin, Zürich 1970, S. 169-202.
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patriarchalischen Denkmustern unverkennbar und bedenklich gegenüber. Döblins Roman, der die aufkeimende Autonomie seines Helden verfolgt und ausrottet, ist kein Entwicklungsroman. Er ist aber ein Bildungsroman, insofern er Stellung nimmt zur Bildungstradition.48 Dem Autor von Berlin Alexanderplatz bedeutet Bildung Initiation in eine von Autoritäten vorgegebene Welt von Männlichkeit und Militarismus. Berlin Alexanderplatz bildet einen Initiationsprozess nach, für den die Gliederung in drei Phasen (Bedrohung, Tod, Wiedergeburt) strukturbildend ist und im Zuge dessen Bildungsgut wie beispielsweise die Bibel als Drillmaterial fungiert.49 Der Erzähler gestaltet seine Erzählung als einen dezisionistischen Akt: Er bricht mit Biberkopfs persönlicher Geschichte, um eine Jetztzeit zu inaugurieren, eine unbedingte Präsenz, in welcher der Verlust der Gegenwart halt- und sicherheitgebender Überzeugungen kompensiert und der Zögling auf ewige Werte wie Leben, Sinn und Wahrheit und auf einen anonymen Geistführer eingeschworen wird. Mühsame Erziehungs- und Beziehungsarbeit ist zugunsten von Vernichtungsarbeit suspendiert, und dies ganz auf der Linie der Konservativen Revolution, einer Sammelbezeichnung für die rechten Strömungen zwischen Deutschnationalen und Nationalsozialisten, denen das ›Leben‹ und seine Dynamik zum »kulturellen Kampfbegriff«50 wurde, zu dem sie mit einem revolutionären Sprung nach vorn zurückkehren wollten. Wie der Konservativen Revolution, so eignet auch der pädagogischen Dynamik von Berlin Alexanderplatz »die innere Paradoxie eines Denkens […], das sich auf angeblich unvergängliche Werte stützt, diesen Werten aber […] erst durch einen radikalen Umsturz neue Geltung verschaffen, ja mehr noch: das sie durch dezisionistische Setzung überhaupt erst schaffen zu müssen glaubt«.51 Döblin macht Biberkopf zum Opfer einer Pädagogik, die sich auf Höheres beruft, um hemmungslos Frustrationen zu entladen, die im Zuge erzieherischer Zurichtung verinnerlicht worden sind.52 Mit Döblins Vor_____________ 48 49 50 51
52
Vgl. dazu auch Susanne Ledanff: Bildungsroman versus Großstadtroman, in: Sprache im technischen Zeitalter 77 (1981), S. 85-114, hier S. 98. Vgl. dazu auch Matthias Hurst: Tod und Wiedergeburt: literarische Formen der Initiation und Individuation, in: Wirkendes Wort 52/2 (2002), S. 257-275, hier S. 274. Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland. 1918–1933. Frankfurt a.M. 1983, S. 172. Richard Herzinger: Feldzeichen des Nichts. Die Gewaltphilosophie der Konservativen Revolution und der Chiliasmus der deutschen Übermoderne, in: Frauke Meyer-Gosau, Wolfgang Emmerich (Hg.): Gewalt. Faszination und Furcht. Jahrbuch für Literatur und Politik in Deutschland 1 (1994), S. 72-95, hier S. 80. Zur mentalen Bedeutsamkeit der Konservativen Revolution im Kontext der literarischen Moderne vgl. auch Jutta Schlich: A propos Weltuntergang. Zu Heiner Müller u.a. Heidelberg 1996, S. 52-58. Im Unterschied zum Genre des Schülerromans, der seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis weit ins 20. Jahrhundert hinein boomt, berichtet Döblin in Berlin Alexanderplatz nicht kritisch und/oder affirmativ über Inszenierungen von Macht in der kleinen Ge-
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satz, sich »einmal« den im Gefängnis der Schule angesammelten Hass »vom Leibe zu schreiben«,53 wird die psychodynamische Tatsache sinnfällig, dass der seinerzeit angestaute, »ungelebte, weil verbotene Zorn […] sich leider nicht [auflöst], sondern [sich] mit der Zeit [verwandelt] in einen mehr oder weniger bewußten Haß gegen das eigene Selbst oder gegen andere Ersatzpersonen, der sich verschiedene, für den Erwachsenen […] erlaubte und gut angepaßte Wege der Entladung sucht«.54 Das Phänomen Holocaust veranlasst dazu, die Folgen der in Berlin Alexanderplatz mustergültig inszenierten Schwarzen Pädagogik deutlicher zu sehen: Auf dem Hintergrund der aufgestauten Ablehnung des Kindlichen in unserer Erziehung läßt es sich beinahe leicht begreifen, daß Männer und Frauen ohne auffallende Schwierigkeiten eine Million Kinder als Träger der gefürchteten eigenen Seelenanteile in die Gaskammer geleitet haben. Man kann sich sogar vorstellen, daß sie sie angeschrien, geschlagen oder photographiert haben und hier endlich ihren frühkindlichen Haß ableiten konnten. Ihre Erziehung war von Anfang an darauf ausgerichtet, alles Kindliche, Spielerische, Lebendige in sich abzutöten. Die Grausamkeit, die ihnen zugefügt wurde, der seelische Mord am Kind, das sie einst waren, mußten sie in der gleichen Weise weitergeben: sie mordeten im Grunde immer neu das eigene Kindsein in den zu vergasenden jüdischen Kindern.55
Bei der Ausführung der so genannten ›Endlösung‹ »handelte es sich um Männer und Frauen, denen ihre eigenen Gefühle nicht im Wege standen, weil sie vom Säuglingsalter an dazu erzogen worden waren, keine eigenen Gefühlsregungen zu spüren, sondern die Wünsche der Eltern als die eigenen zu erleben«.56 Nur Menschen, denen wie Franz Biberkopf das Fühlen gründlich ausgetrieben wird, lassen sich »über Nacht zu Massenmördern umfunktionieren«.57 Mit Berlin Alexanderplatz als Musterbuch Schwarzer Pädagogik lässt sich verstehen, dass der Holocaust nicht das Werk von einigen Perversen gewesen ist, zumal bei den Massenmördern die für die perversen Erkrankungen spezifischen Merkmale, wie Isolierung, Einsamkeit, Scham und Verzweiflung […] vollständig [fehlten]: diese waren nicht isoliert, sondern aufgehoben in der Gruppe; sie haben sich
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sellschaft ›Schule‹, sondern inszeniert selber Macht. Zur Thematisierung von »Schule als Kulturfrage« (S. 6) in der Literatur vgl. Matthias Luserke: Schule erzählt. Literarische Spiegelbilder im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 1999 – Ders.: »Dieses grausame, entartete, wilde Geschlecht«. Über die literarische Darstellung der Schule als Ort männlicher Sozialisation, in: Karin Tebben (Hg.): Abschied vom Mythos Mann. Kulturelle Konzepte der Moderne. Göttingen 2000, S. 49-64. Döblin: Wider die abgelebte Simultanschule, S. 106. Miller: Am Anfang war Erziehung, S. 80. Miller: Am Anfang war Erziehung, S. 107f. Miller: Am Anfang war Erziehung, S. 101. Miller: Am Anfang war Erziehung, S. 101.
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nicht geschämt, sondern waren stolz, sie waren nicht verzweifelt, sondern euphorisch oder stumpf.58
3. Rhetorisches Kolloquialisierung Biberkopf ist kein Mitläufer. Er wird vom Erzähler allererst dazu gemacht. Der physischen Gewalt, die ihm wie dem lesenden Publikum durch die Schläge des Erzählers zuteil wird, korrespondiert eine Gehirnwäsche mit Mitteln der Erzähltechnik. In Berlin Alexanderplatz dominiert der Erzählerstandpunkt. Dies zeigt sich nicht nur im autoritären Gestus der Vorreden, sondern auch im inneren Monolog und in der erlebten Rede, die diesem Roman seine charakteristische Signatur verleihen. Hier kommen die Figuren in Gemeinschaft mit dem Erzähler zu Wort. Beim inneren Monolog, der sich durch die Verwendung von erster Person Singular und Präsens auszeichnet, fällt die Markierung des Übergangs von Erzählerrede zu direkter Personenrede weg: »Franz merkt, ich geh vor die Hunde – und er gibt Befehle. Vielleicht geh ich kaputt, schadt nichts, aber ich geh nicht kaputt. Vorwärts. Man bindet ihm mit seinem Hosenträger den Arm ab.« (BA 223) Der innere Monolog, mit dem die Passage beginnt, ist so kurz gehalten, dass keine Emanzipation der Figurenrede von der des Erzählers möglich ist. So kommt es, dass sich der geistige Horizont des Erzählers unmerklich in der Figur erfolgreich einnistet: Biberkopf macht sich die brutale Sichtweise des Erzählers zu eigen, derzufolge es ›nichts schadet‹, wenn er ›vor die Hunde geht‹. Die Beschuldigungsstrategie des Erzählers geht in der Selbstbezichtigung seiner Figur nahtlos auf, deren Vitalismus ja seit der Vorrede als ausgemachtes Grundübel gilt und das sich der Erzähler auszurotten vorgenommen hat. Biberkopf soll ja lernen, vom Leben nicht »mehr zu verlangen als das Butterbrot«, d.h. wenn Biberkopf bis jetzt geglaubt hat, mit zwei Armen durchs Leben laufen zu müssen, dann hat er sich gehörig getäuscht. Wieso braucht man zwei Arme, wenn man auch mit einem sein Butterbrot essen kann? Wenn Biberkopf meint, an dem ihm von seinem Gegenspieler Reinhold zugefügten Armverlust zugrunde zu gehen, ist das ein Problem seiner hybriden Verfassung, und es schadet nichts, sondern ist vielmehr gut, wenn die vergeht, sei es auch mit Biberkopf zusammen – das ist die Sichtweise des Erzählers, die im inneren Monolog von der Figur erfolgreich anverwandelt wird. _____________ 58
Miller: Am Anfang war Erziehung, S. 101.
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Auch wenn in Berlin Alexanderplatz der innere Monolog eingesetzt wird, so kommt er aufgrund seiner jeweiligen Kürze nicht zum Tragen. Deshalb erscheint die erlebte Rede als dominantes Stilmerkmal des Textes.59 Mehr noch als der innere Monolog macht die erlebte Rede in Berlin Alexanderplatz deutlich, dass die Anpassung des Erzählers an seine Figuren dazu dient, in deren Inneres einzudringen und dort im Sinne der programmatischen Erziehungsabsicht geistige Prozesse zu manipulieren. Symptomatisch dafür ist Biberkopfs Reminiszenz an die zurückliegende Mordtat nach dem zweiten Schlag: Und da ist Franz weg, nur eine Sekunde. Sein Arm liegt um ihre Hüfte geschlungen und ist ganz starr. Aber in Gedanken hat Franz eine Bewegung machen müssen. Sein Gesicht ist dabei steinhart. Er hat in Gedanken – ein kleines Holzinstrument – in der Hand gehalten und von oben her – einen Schlag gegen Mieze geführt, gegen ihren Brustkorb, einmal, zweimal. Und hat ihr die Rippen zerbrochen. Krankenhaus, Friedhof, der Breslauer. (BA 290)
In der erlebten Rede ist der Erzählerstandpunkt deutlich markiert durch die Verwendung der dritten Person Singular und der Zeitform der Vergangenheit. Zwar erscheint der auktoriale Erzählerstandpunkt relativiert, insofern er stark nach unten nivelliert und sich gedanklich und stilistisch an die Personenrede anpasst; die Verwendung des Berliner Dialekts und des Jargons des Zuhältermilieus über weite Strecken des Romans bekräftigen diesen Eindruck. Der Erzähler bleibt aber vermittelnde Instanz, die Rede verselbstständigt sich nicht. Dadurch aber, dass Erzählerbericht und Figurenrede in der erlebten Rede derart fluktuieren, dass nicht mehr auszumachen ist, ob eine bestimmte Textpartie zum Erzählerbericht gehört oder subjektive Äußerung Biberkopfs ist, bietet dieses Darstellungsmittel das geeignete Forum zur Manipulation des Bewusstseins nicht nur der Figuren, sondern auch des Publikums. Die Annäherung von Erzählersprache an Figurensprache bezeichnet man in der Erzähltheorie als »Kolloquialisierung«,60 als Form »kollektiven Sprechens«,61 in der die Figur mit ihren unartikulierten Gefühlsregungen in Gemeinschaft mit dem Erzähler zu Wort kommt. Man bekommt dadurch den Eindruck von einem »Erzählmedium«,62 das sich empathisch den Erlebnisverfassungen seiner Figuren anpasst und deren Impulse und Imaginationen in reiner Medialität gleich einem Seismographen aufzeich_____________ 59 60 61 62
Kiesel: Literarische Moderne, S. 336 sowie S. 534, Anm. 180, argumentiert für die Bezeichnung ›erlebte Rede‹ und gegen eine Differenzierung in erlebte Rede und inneren Monolog. Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. 2., verbesserte Aufl. Göttingen 1982, S.251. Albrecht Schöne: Döblin. Berlin Alexanderplatz, in: Der deutsche Roman vom Barock bis zur Gegenwart. Struktur und Geschichte. Hg. v. Benno von Wiese. Düsseldorf 1963, Bd. 2, S. 291-325, hier S. 318. Wolfgang H. Schober: Erzähltechniken in Romanen. Eine Untersuchung erzähltechnischer Probleme in zeitgenössischen Romanen. Wiesbaden 1975, S. 69.
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net. In Berlin Alexanderplatz wird durch die erlebte Rede der Eindruck bewirkt, »die Geschichte erzähle sich gleichsam selbst«.63 Der Eindruck von der Autonomie des Geschehens wird durch auktoriale Kommentare verstärkt, in denen sich der Erzähler an das lesende Publikum richtet, um seine Konstruktionsleistung an der Geschichte vom Franz Biberkopf zu leugnen und an ein anonymes Fatum zu delegieren, dem er wie seine Figuren ausgeliefert sei: »Ein anderer Erzähler hätte dem Reinhold wahrscheinlich jetzt eine Strafe zugedacht, aber ich kann nichts dafür, die erfolgte nicht.« (BA 218) Aber auch die Leserapostrophierungen sind kolloquialisierte Rede dahingehend, dass der Erzähler über sie dem Publikum seine Meinung diktiert: Es gibt einige unter den Lesern, die besorgt sind um Cilly. Was wird aus dem armen Mädchen, wenn Franz nicht da ist, wenn Franz nicht lebt und tot ist und einfach nicht da ist? Oh, die wird sich schon durchschlagen, machen Sie sich keine Sorgen, um die müssen Sie sich gar keine Sorgen machen, die Sorte fällt immer wieder auf die Beine. (BA 220)
Mit seinen Leserapostrophierungen gibt sich Döblins Roman sehr modern. Sein Erzähler greift, wie es Adorno in seinem Aufsatz Standort des Erzählers im Roman (1954) für die Rezeption des modernen Romans paradigmatisch formuliert hat, »einen Grundbestand im Verhältnis zum Leser an«.64 Adorno zufolge wird mittels erzähltechnischer Illusionsbrechungen die im Roman des 19. Jahrhunderts unverrückbare ästhetische Distanz eingezogen, dem Leser »die kontemplative Geborgenheit vorm Gelesenen [zerschlagen]«65 und ihm die Konsumierfreude zugunsten kritischer Reflexion des Mitgeteilten genommen, breche der moderne Erzähler das Tabu, das im traditionellen Roman »über der Reflexion liege«, wo sie als »Kardinalsünde gegen die sachliche Reinheit«66 gelte. In eben diesem Sinne Adornos verrät der Erzähler von Berlin Alexanderplatz zu Beginn des sechsten Buches, dass er es sich selbst »versprochen [habe], […] zu dieser Geschichte nicht stille zu sein«, »obwohl es nicht üblich [sei]«. (BA 217) Ebenso wenig aber wie die moderne Kolloquialisierung von Erzähler- und Figurenrede im Modus der erlebten Rede der respektvollen Hingabe an die Figuren dient, um sie in ihrer Emanzipation zu unterstützen, ebenso wenig dienen die Leserapostrophierungen der Reflexion. Die ästhetische Distanz wird eingezogen zum Zweck der Indoktrination des lesenden Publikums. _____________ 63 64 65 66
Schober: Erzähltechniken, S. 43. Theodor W. Adorno: Standort des Erzählers im Roman, in: Ders.: Noten zur Literatur I. Frankfurt a.M. 1981, S. 41-48, hier S. 46. Adorno: Standort des Erzählers, S. 46. Adorno: Standort des Erzählers, S. 45.
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Wir haben es in Berlin Alexanderplatz mit einem Erzähler zu tun, der sich seiner Vermittlungsfunktion nur allzu bewusst ist und dieses Bewusstsein zur Manipulation seiner fiktiven wie realen Klientel ausnutzt. In der erlebten Rede praktiziert der Erzähler eine Mimikry, um den Widerstand seiner Figuren gar nicht erst aufkommen zu lassen und so diese wie auch das lesende Publikum in seinem Sinne zu programmieren. In Berlin Alexanderplatz macht der Erzähler aus der bloßen Form der erlebten Rede eine inhaltlich bestimmte, nämlich den Modus eines Strafvollzugs. Hier erlebt das Publikum eine »langsame Enthüllung«, »wie Franz sie erlebt« (BA 217). Unter dem Eindruck von Berlin Alexanderplatz wird der erzähltechnische Terminus ›erlebte Rede‹ richtiggehend als Strafe aufgeladen, wie sie die Züchtigungsformel ›Jetzt kannst du was erleben!‹ der Schwarzen Pädagogik vorsieht. Der Erzähler von Berlin Alexanderplatz will, dass seiner Klientel die Augen aufgehen und ihr Blick ganz auf ihn fixiert ist. Metaphorisierung Gleich der barocken Fortuna lässt der Herr der Geschichte drei Schicksalsschläge auf sein Geschöpf niedersausen. Wo lediglich seine erzählerische Intention am Werke ist, delegiert Döblin die Verantwortung für die erzieherische Zurichtung seiner Figur an das metaphorische Jenseits. Denn was in der Vorrede das anonyme ›Es‹ oder ›Leben‹, ist im Roman selbst die Dampframme. Die Bauarbeiten am Alexanderplatz, wo 1928, zu der Zeit, als Döblin seinen Roman verfasst, »die gewaltsamsten Veränderungen vorgehen, Bagger und Rammen ununterbrochen in Tätigkeit sind, der Boden von ihren Stößen, von den Kolonnen der Autobusse und U-Bahnen zittert, tiefer als sonstwo die Eingeweide der Großstadt bloßgelegt sind«,67 mutieren über die Dampframme zur Metapher der Vergewaltigung eines Menschen: Der Hammer der Dampframme »ist nicht bloß der Hammer, der die Stahlpfeiler in den U-Bahnschacht einrammt, nicht bloß Zeichen konstruktiver Dynamik, sondern gleichzeitig der Hammer, welcher den Menschen Schicksalsschläge zuteilt, also Zeichen transzendenter Mächte«.68
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Walter Benjamin: Krisis des Romans. Zu Döblins Berlin Alexanderplatz (1930), in: Ders.: Gesammelte Schriften III. Hg. v. Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt a.M. 1972, S. 230236, hier S. 233. Renate Möhrmann: Biberkopf, was nun? Großstadtmisere im Berliner Roman der präfaschistischen Ära. Dargestellt an Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz und Hans Falladas Kleiner Mann – was nun?, in: Diskussion Deutsch 9 (1978), S. 133-151, hier S. 146.
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Sämtliche Widrigkeiten, die Biberkopf zustoßen, stehen im Zeichen der Hammermetapher.69 Sie fungiert als eine Art »säkularisierte Fortuna«,70 deren Willkür der Mensch ohnmächtig ausgeliefert ist. So heißt es auch von Biberkopfs Freundin Mieze: »Sie wurde zerschlagen, weil sie dastand, zufällig neben dem Mann, und das ist das Leben, ist schwer zu denken.« (BA 417) Gleichzeitig aber deutet Döblins Erzähler über die dreimal (vgl. BA 136, 146, 224) einmontierte Parallelgeschichte vom Schlachthof als Zentralort und Inbegriff organisierter Vernichtung sich selbst als Schlächter, welcher mit lustvoll besetzter Grausamkeit den »in die Schlachthalle« seiner Erzählung »getrieben[en]« »große[n] weißen Stier« »mit dem aufgehobenen Hammer« (BA 141) zur Strecke bringt: Einzeln tritt das große starke Tier, der Stier, zwischen seinen Treibern durch das Tor. […] Er wird mit Stöcken und Stößen vor den Schlächter getrieben. Der gibt ihm, damit er besser steht, mit dem flachen Beil noch einen leichten Schlag gegen das Hinterbein. […] Das Tier steht, sonderbar leicht gibt es nach, als wäre es einverstanden und willige nun ein, nachdem es alles gesehn hat und weiß: das ist sein Schicksal, und es kann doch nichts machen. Vielleicht hält es die Bewegung des Viehtreibers auch für eine Liebkosung, denn es sieht so freundlich aus. […] Da steht der aber hinter ihm, der Schlächter, mit dem aufgehobenen Hammer. Blick dich nicht um. Der Hammer, von dem starken Mann mit beiden Fäusten aufgehoben, ist hinter ihm, über ihm und dann: wumm herunter. Die Muskelkraft eines starken Mannes wie ein Keil eisern in das Genick. […] Von rechts und links umwandert ihn der Henker, kracht ihm neue gnädige Betäubungsladung gegen den Kopf, gegen die Schläfen, schlafe, du wirst nicht mehr aufwachen. (BA 141)
Sakralisierung Neben der Metaphorisierung ist es eine heilsgeschichtlich aufgeladene Dämonisierung, über die der Erzähler seine pädagogischen Maßnahmen verschleiert und so zum Erfolg bringt. Dass beide Strategien ineinander übergehen, verdeutlicht eine Textstelle, in welcher das unnachgiebige Material, mit dem die Hammermetapher kalkuliert, auf ›die Welt‹ projiziert und dort mit Teufelshörnern versehen wird: Die Welt ist von Eisen, man kann nichts machen, sie kommt wie eine Walze an, auf einen zu, da ist nichts zu machen, da kommt sie, da läuft sie, da sitzen sie
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Aus den Vorreden zu den einzelnen Büchern: Drittes Buch: »Hier erlebt Franz Biberkopf […] den ersten Schlag« (BA 105). Fünftes Buch: »Jetzt fällt der erste schwere Streich auf ihn« (BA 163). Sechstes Buch: »[…] es muß noch geschehen, daß der Hammer gegen ihn saust« (BA 215). Siebentes Buch: »Hier saust der Hammer, der Hammer gegen Franz Biberkopf« (BA 301). Achtes Buch: »Es hat nichts genutzt. Es hat noch immer nichts genutzt. Franz Biberkopf hat den Hammerschlag erhalten, er weiß, daß er verloren ist, er weiß noch immer nicht, warum« (BA 355). Möhrmann: Biberkopf, was nun?, S. 147.
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drin, das ist ein Tank, Teufel mit Hörnern und glühenden Augen drin, sie zerfleischen einen, sie sitzen da, mit ihren Ketten und Zähnen zerreißen sie einen. Und das läuft, und da kann keiner ausweichen. (BA 210)
Die Vorstellung von einem substantiellen Bösen, die in Biberkopfs Gegenspieler Reinhold menschliche Gestalt gewinnt, wird im Rückgriff auf alte biblische Vorstellungen ausgebaut und sakralisiert. Anhand des Bildes von der Hure Babylon aus der Apokalypse des Johannes (vgl. BA 237 – Offb. 17) wird Berlin zum eigenmächtigen Gegenüber substantialisiert, auf Kosten der inneren Stimmigkeit des Romans: Auch wenn Biberkopf beim Auftritt der Großen Hure Babylon bereits davon abgekommen ist, beim flotten Mädchenhandel Reinholds mitzumachen, wundert es doch, dass ausgerechnet ein Mann sich gegen das Hurentum zur Wehr setzen soll. Biberkopfs Berlinfeldzüge werden nicht nur mit der Vision von Berlin als Hure Babylon biblisch gesättigt, sondern auch dadurch, dass der Erzähler den Protagonisten mit Hiob, Abraham und Isaak identifiziert und so ins Religiöse überhöht. Mit fortschreitender Handlung häufen sich die religiösen Parabeln und Bezüge und wird Biberkopf vom Erzähler aufgefordert, sich wie Isaak freudig ans Schlachtmesser zu liefern. Symptomatisch für Döblins Strafseligkeit in Berlin Alexanderplatz ist die jubilatorische Passage im siebten Buch, die da lautet: Halleluja, halleluja, Franz hat es erlebt, den Gesang, den Ruf. Das Messer kam an seine Kehle, Franz, halleluja. Er bietet seinen Hals an, er will sein Leben suchen, sein Blut. Mein Blut, mein Inneres, so kommt es endlich heraus, das war eine lange Reise, bis es kam, Gott war das schwer, da ist es, da hab ick dir, warum wollt ich nicht auf die Bußbank, wär ick nur früher gekommen, ach, ich bin ja da, ich bin angelangt. (BA 312)
1948, in seinem Epilog, hat Döblin noch einmal klar gestellt, dass »Opfer […] das Thema des ›Alexanderplatz‹« war und dass die Bilder vom Schlachthof, von der Opferung Isaaks, das durchlaufende Zitat: ›Es ist ein Schnitter, der heißt Tod‹ hätten aufmerksam machen sollen. Der ›gute‹ Franz Biberkopf mit seinen Ansprüchen an das Leben läßt sich bis zu seinem Tod nicht brechen. Aber er sollte gebrochen werden, er mußte sich aufgeben, nicht bloß äußerlich.71
In Berlin Alexanderplatz benutzt Döblin die Großstadt, um an einem unsicheren, aber gutgläubigen und vertrauensseligen Haftentlassenen die Rezeptionsgewohnheit eines frommen »Dörflers«72 zu etablieren. Mit dem kunstvoll und innovativ gehandhabten Einsatz der Montage »setzt [Döblin] seinen Helden einer unübersehbaren« und »widerspruchvollsten« »Zei-
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Alfred Döblin: Epilog, in: Ders.: Schriften zu Leben und Werk, S. 287-320, hier S. 313. Möhrmann: Biberkopf, was nun?, S. 145.
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chenfülle aus«, damit »dieser das eine, ihm zugedachte [alte biblische] Zeichen […] begreift«,73 das da lautet: Opfer, Reue.
4. Programmatisches Berlin Alexanderplatz ist, wie Döblin in einer Stellungnahme zu seinem Text 1932 erklärt hat, »die Weiterführung und Konkretisierung, auch die Erprobung der bei der geistigen Vorarbeit erreichten Gedankenposition«.74 Döblin hat seine Gewaltkur gegen etwaige Zweifel hinsichtlich der Barbarei seines Verfahrens in naturphilosophischen und erzähltheoretischen Überlegungen vor und nach Berlin Alexanderplatz hinlänglich abgesichert. Die programmatischen Essays der 1920er und 1930er Jahre sind: Das Ich über der Natur (1927), Der Bau des epischen Werks (1929) und Unser Dasein (1933). Das naturphilosophische Buch Unser Dasein entstand ab 1928, also gleichzeitig mit dem Roman Berlin Alexanderplatz, an dem Döblin 1927 zu schreiben anfing, der 1928 so gut wie abgeschlossen war und der 1929 erschien. Der Essay Der Bau des epischen Werks erschien 1929, wurde von Döblin jedoch bereits am 10. Dezember 1928 im Auditorium Maximum der Berliner Universität als Vortrag gehalten. Döblins Roman ist entsprechend die dichterische Umsetzung der Gedankenposition, die der Autor in allen drei Texten explizit gemacht hat. Aufbauend auf seine Überlegungen in Das Ich über der Natur stellt Döblin in seinem Buch Unser Dasein fest, dass der Mensch »Stück und Gegenstück«75 der Welt ist. Döblin zufolge ist das Subjekt ein in den »Grundriß des Weltaufbaus«76 eingelassenes unbedeutendes Massenpartikelchen, das mit der Welt in Resonanz steht. Dieser Resonanz soll das Subjekt inne werden, um sich vornehmlich als ›Stück der Welt‹ zu begreifen. Als ›Gegenstück der Welt‹ ist das Individuum bei Döblin weniger gefragt. Das wird deutlich an Döblins Begriff der ›Individuation‹, den C.G. Jung für die phasenhafte Entwicklung des Individuums geprägt hat. Er ist bei Döblin negativ besetzt. Döblin spricht von »unvollständige[r] Individuation«77 in einem Sinne, der dieses Manko zu beheben trachtet nach dem Motto: Wenn die Individuation des Menschen schon unvollständig ist und er ein Stück und Gegenstück der Welt ist, dann sollte diese Unvollständigkeit dahingehend vervollkommnet werden, dass das Individuum _____________ 73 74 75 76 77
Möhrmann: Biberkopf, was nun?, S. 145. Alfred Döblin: Mein Buch Berlin Alexanderplatz, in: Ders.: Schriften zu Leben und Werk, S. 215-217, hier S. 216. Alfred Döblin: Unser Dasein. Olten, Freiburg i.Br. 1964, S. 291. Döblin: Unser Dasein, S. 231. Döblin: Unser Dasein, S. 70.
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seinen Subjektanspruch überwindet. Denn wenn die Welt an subjektiven Sinnkonstruktionen gemessen wird, ist sie nur als lebensfeindliche und daseinsbedrohende Gegenwelt erfahrbar. Und das Leiden des Subjekts am Dasein ist Symptom dafür, dass es ein ›uneigentliches Dasein‹ lebt. Für Döblin ist es »eine überirdische, ekstatische, übermenschliche und gedanklich übersteigerte Figur […], die unter dem Atmen, Essen, Trinken, Begehren leidet«.78 Damit gibt er eine Diagnose von sich selbst als einem Intellektuellen, die als eine solche recht eigentlich nicht verallgemeinerbar ist. Genau das aber macht Döblin in seinen naturphilosophischen Überlegungen wie dann auch in seinem Roman, wo selbst ein einfacher Transportarbeiter und Haftentlassener zum Repräsentanten der intellektualistisch determinierten ekstatischen Daseinshaltung wird. Im Lichte von Döblins Naturphilosophie muss Biberkopf stellvertretend für die Menschheit lernen, seine subjektive Übersteigerung zu überwinden, indem er gewaltsam dazu gebracht wird, den Tod als Gegenpol seines falschen Vitalismus ins Dasein hineinzunehmen. Döblin zufolge wird der Mensch erst in der Hingabe an den Tod von seiner Überspanntheit des Wollens und Forderns, seiner vitalen Hybris befreit. Erst im Todesbewusstsein kann er seiner Einheit mit dem überindividuellen Ganzen inne werden. Deshalb muss Biberkopf, der durch das Dastehen (vgl. BA 11, 15, 453 u.ö.), die elementare Gebärde der Selbstbehauptung charakterisiert ist, gebrochen werden, oder, um es mit Döblins harten Worten aus Unser Dasein zu formulieren: »Es muß der Weg in die völlige Vernichtung, die Auslöschung, die Zernichtung gegangen sein.«79 ›Zernichtung‹ ist die Therapie des Doktor Döblin, die dieser für seine mutmaßlich hybriden, an vitaler Blindheit leidenden Patienten vorsieht, damit diese aufnahmefähig werden für die Stimme der Welt. Resonanz, dieses physikalische Phänomen, bekommt in Unser Dasein universale Gültigkeit zugesprochen. Sie bezieht sich auf das »Anklingen von Ähnlichkeiten und Gleichheiten zwischen dem Erkannten und dem Erkennenden«.80 Allerdings funktioniert Resonanz in der Döblin’schen Universalversion einseitig: Nicht das Ich soll sich der Welt verständlich machen; vielmehr soll die Stimme der Welt die »Violinsaiten«81 im Ich zum Tönen bringen, damit diesem sein Eingebettetsein als Organismus in das vielschichtig gegliederte organische Weltsystem bewusst werde. Für Döblin ist die Resonanz »ein Mittel für die Formung lebender […] Massen. […] Es erfolgt durch sie Erweckung, Auslösung. […] Die Resonanz _____________ 78 79 80 81
Döblin: Unser Dasein, S. 229. Döblin: Unser Dasein, S. 476. Döblin: Unser Dasein, S. 171. Döblin: Unser Dasein, S. 171.
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begründet das Du in der Welt«,82 nicht das Ich. Über Resonanz erfährt sich das Ich als »Echo«83 des Weltgrundes, es erfährt, dass es nicht allein ist. Auf das Niveau der Masse zurückgeholt, muss das Ich nicht mehr am Dasein, am Essen, Trinken etc. leiden. Resonanz und ›Zernichtung‹ gehen für Döblin Hand in Hand. Sie sind sogar miteinander identisch, wenn Döblin Resonanz als eine Methode vorsieht, die »im menschlichen Kollektivleben, bei der Ausbreitung von Ideen, bei der Erziehung und Schulung eine mächtige Rolle [spielt]«.84 So wird denn auch der Leserschaft von Unser Dasein über die Resonanz von Döblins Rhetorik ›Zernichtung‹ zuteil: Das Versagen, die vollkommene Ohnmacht muß da sein, die Zunge mit Schweigen geschlagen, alle Worte dumm und lächerlich. […] Jetzt erst ist das erfolgt, was erfolgen muß, ehe man eine einzige Bewegung machen darf, ehe man ein einziges Wort aussprechen darf: die Einreihung. Vorher hingst du wie Rauch über der Erde, warst nicht da und glaubtest etwas zu sein. Es war Besinnungslosigkeit. In den Gespinsten von falschen unwahren Worten warst du gefangen, jetzt bist du heraus, es ist etwas Schweres geschehen, das erste, das dir überhaupt geschah – du weißt, und du bist. Du bist angekoppelt an das Sein. Die Zernichtung ist da.85
Döblin selbst endet im Zuge seiner Philosophie der ›Zernichtung‹ als Hohepriester. Seine ultimative Rezeptur für das Dasein schlechthin beschließt der philosophierende Arzt mit einer Lobpreisung, bei der er die Weihe der seelsorgerischen Stellvertretung richtiggehend an sich reisst. Gleich einer Litanei beginnt und endet das letzte Kapitel von Unser Dasein mit folgendem Satz: »Laßt mich den großen Himmel loben, laßt mich die weite Erde loben, laßt mich die Tiere, Pflanzen, Menschen loben, und laßt mich bitten, daß ich nichts verfehle.«86 Döblin setzt sich selbst als Fürsprecher eines mutmaßlich gequälten Volkes ein, das er gleich Moses in ein von Gott verheißenes Land zu führen gedenkt. In Unser Dasein erweist sich Döblin als ein Hohepriester, der die soziale Wirklichkeit allererst herstellt, von deren Gesetzmäßigkeiten er wie von ontologischen Fakten handelt: Nachdem er die Einzelorganismen ›zernichtet‹ hat, stilisiert er sich zur ›Welt‹, die als Litanei resonantisch im ›Volkskörper‹ seiner Hörerschaft widerhallt. Für die Umsetzung seiner knapp fünfhundertseitigen ›Physik der Masse‹ wird Döblin – soviel ist
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Döblin: Unser Dasein, S. 171f. Döblin: Unser Dasein, S. 171. Döblin: Unser Dasein, S. 172. Döblin: Unser Dasein, S. 476. Döblin: Unser Dasein, S. 477.
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sicher – bei jeder Gelegenheit mit seinem Perfektionismus, ›nichts verfehlen‹ zu wollen, eintreten.87 Döblins philosophischem Perfektionismus entspricht in seinen erzähltheoretischen Verlautbarungen die Behauptung eines moralischen Überlegenheitsanspruches des Dichters über Gott und die Welt. Im Bau des epischen Werks kündigt der Autor an, zum »frischen Urkern des epischen Kunstwerks«88 vordringen zu wollen. Die Naturalisten mit ihren Milieustudien werden von Döblin als ›Realitätsbeschnüffler‹ verspottet: Wenn sie sich »rühmen […], […] sehr wahr und fast dokumentarisch die Geschichte einer Epoche oder einer Familie oder eines Menschen gegeben [zu] haben«,89 erliegen sie Döblin zufolge einer Illusion; denn ihre ›Realistik‹ sei nichts weiter als Imitation der Oberfläche der Realität.90 Das naturalistische »Dogma des eisernen Vorhangs«, »die sogenannte Objektivität des Erzählers«,91 erscheint Döblin »dürftig, armselig, ja burlesk«.92 Döblin hingegen will das große Ganze, will Epos statt Roman und will sogar die Autorität im Epischen übertreffen: »hin zum frischen Urkern des epischen Kunstwerks […] heißt meines Erachtens noch hinter Homer gehen«.93 Unter Berufung auf Homer zielt Döblins epischer Bericht auf »das Exemplarische des Vorgangs und der Figuren«: »Es sind da starke Grundsituationen, Elementarsituationen des menschlichen Daseins, die herausgearbeitet werden, es sind Elementarhaltungen des Menschen, die in dieser Sphäre erscheinen […].«94 Während Homer allerdings noch auf die Solidargemeinschaft zwischen Autor und Publikum bauen konnte – »ein ehrliches Verhältnis, auf begründetem Vertrauen beruhend«95 –, während bei Homer »berichten [noch] hieß ›Wahres berichten‹«,96 muss sich der moderne Epiker etwas einfallen lassen, um seinen Bericht zu beglaubigen. Anders als Homer kann er nicht mehr mit »einer Anzahl einfacher Menschen« rechnen, die sich in einem »kindlichen Urzustand der Vermischung von Traum, Phan_____________ 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96
Unser Dasein ist die naturphilosophische Version zu Gustave Le Bons Psychologie der Massen (1895). Alfred Döblin: Der Bau des epischen Werks (1928), in: Ders.: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Hg. v. Erich Kleinschmidt. Olten, Freiburg i.Br. 1989, S. 215-244, hier S. 227. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 222f. Vgl. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 219, 225. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 226. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 223. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 227. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 218. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 218. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 220.
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tasie und Realität«97 befinden. Da »heute« »nicht geglaubt«98 werde, müsse der Epiker Mittel erfinden, um die Aufmerksamkeit seines Publikums gefangen zu nehmen. Dieses Mittel besteht in der Verfremdung oder Episierung des Romans: Wie Brecht das Drama episierte oder verfremdete durch den Einsatz von Vorreden, so müsse der Epiker seinen Roman episieren oder verfremden durch Lyrisierung und Dramatisierung. Lyrisierung werde erzielt durch Subjektivierung des Berichts, durch das Hineinspringen des Erzählers in seine Welt, durch sein »Überlegenheitsgelächter über die Fakta, ja über die Realität als solche«, wie Döblin es »mit Nietzsches Worten«99 formuliert. Der »lyrische« »Eingriff«, über den der Erzähler »seine Figuren [beklopft]«, sei ein »spottende[r] Eingriff«.100 Dramatisierung werde erzielt durch die Hingabe an die Produktivkraft der Sprache, welche eine Eigendynamik besitze. Lasse sich der Erzähler von der Sprache faszinieren, verliere er nach und nach die Kontrolle über das entstehende Werk und gebäre so einen Bilderreichtum, schaffe einen gedrängten Ablauf, stelle Fakten plastisch hin, ohne sie zu erklären oder zu deuten.101 Döblin hat diese assoziative Schreibweise schon 1913 in seinem Berliner Programm mit dem Obertitel An Romanautoren und ihre Kritiker auf den Begriff »Kinostil«102 gebracht. Er bewirkt, dass »das Ganze […] nicht […] wie gesprochen [erscheint], sondern wie vorhanden«.103 Analog zum brutalen Gestus der ›Zernichtung‹ in seiner Naturphilosophie setzt Döblin in seiner Erzähltheorie den Gestus des ›Durchstoßens‹ als primäre Aufgabe des Epikers ins Recht: Es gelte die »Tageswahrheiten« zu »zerleg[en]«, »in die Realität einzudringen oder sie gar zu durchstoßen«: Der wirklich Produktive […] muß zwei Schritte tun: er muß ganz nahe an die Realität heran, an ihre Sachlichkeit, ihr Blut, ihren Geruch, und dann hat er die Sache zu durchstoßen, das ist seine spezifische Arbeit. Der erste Schritt ist schon der Schritt jeden guten Schriftstellers, und man sieht: jedem epischen Autor hat ein guter Schriftsteller vorauszugehen.104
Döblins Naturalismus ist der eines Ich über der Natur, das mittels eines »Überlegenheitsgelächter[s] über die Fakta« »notorische Nichtfakta«105 produzieren will und deshalb ein grundsätzlich gläubiges Publikum _____________ 97 98 99 100 101 102
Döblin: Bau des epischen Werks, S. 220. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 220. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 221f. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 225f. Vgl. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 233f. Alfred Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm, in: Ders.: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur, S. 119-122, hier S. 121. 103 Döblin: Berliner Programm, S. 122. 104 Döblin: Bau des epischen Werks, S. 219. 105 Döblin: Bau des epischen Werks, S. 221.
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braucht. Das, was Döblins Epiker an Elementarsituationen aufspürt, ist auf einen schriftstellerischen Subjektivismus zurückzuführen, der gleichwohl allgemeinverbindlich sein will. Diesem dient die Technik der Verfremdung oder Illusionsbrechung, wenn mit ihr »Augenblicklichkeit«106 hergestellt wird, ein ›eigentliches‹ Dasein, in welchem das Gewesene und das Zukünftige in das Gegenwärtige hineingenommen sind und zudem das Publikum mit dem Berichteten verschmilzt. Über ›Augenblicklichkeit‹ findet die dichterische Welt im Publikum ihr unanzweifelbares Echo. Durch »vollkommene Leichtigkeit und Verspottung der Realität« in der »Berichtform des Fabulierens« möchte Döblins Epiker sich selbst und seinem Publikum einen »ungeheure[n] Lustgewinn [gewähren]«.107 Döblin sieht das moderne Epos als orgiastische Erfahrung vor, über die er zusammen mit seinem Publikum zur »überreale[n] Sphäre« vordringen will, zur »Sphäre einer neuen Wahrheit und einer ganz besonderen Realität«.108 Auch wenn Döblin das Publikum als einen Faktor erzählerischer Produktion in seine erzähltheoretischen Überlegungen mit einbezieht, so ist doch bereits von deren Konzeption her fraglich, ob der versprochene ungeheure Lustgewinn beidseitig sein kann. Dagegen spricht zweierlei: zum einen die egomanisch anmutende Selbstbezogenheit des Dichters, die in der Erklärung mitklingt, dass der Dichter im Fabulieren »sich selbst« entdecke und zum »tollste[n] und verwirrendste[n] Erlebnis«109 werde; zum anderen Döblins Selbstverständnis als »ein heutiger armer Autor«, der zu beklagen hat, dass »kein greifbares Volksdenken mehr da [ist] oder nur sehr rudimentär«.110 Döblins Erzählphilosophie des per aspera ad astra, sein blutig imaginiertes Durchstoßen der Tatsachenwelt hin zu einer Überrealität, lebt nicht von einer partnerschaftlichen Haltung des Autors seinem Publikum gegenüber; sie lebt von einer Bevormundung, im Zuge deren das Publikum auf die Seite der Tatsachen gerät, die vom Epiker auf ihr eigentliches Dasein hin beklopft, verspottet und durchstoßen werden, so wie es im Roman Franz Biberkopf widerfährt. Auch wenn, wie Döblin richtig bemerkt, das »epische Werk […] in statu nascendi [vorliegt]« und »der Leser […] den Produktionsprozeß mit dem Autor [mitmacht]«,111 so sorgt er in Berlin Alexanderplatz dafür, dass beide die Erzählung unterschiedlich erleben: Die Vergewaltigung der Realität durch den Epiker mag für diesen ein ungeheurer Lustgewinn sein, für das Publikum ist sie »eine Gewaltkur«, wenn ihm gleich Biberkopf »der Star gestochen« (BA 11) wird. _____________ 106 107 108 109 110 111
Alfred Döblin: Das Ich über der Natur. Berlin 1928, S. 65. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 222. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 223. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 226. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 229. Döblin: Bau des epischen Werks, S. 235.
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Dass Döblins »Spiel mit der Realität« auf einen gewaltsamen Lustgewinn auf Kosten seiner Figuren, seines Publikums, ja der »Realität als solche[r]«112 aus ist, macht der Zusatz sinnfällig, mit dem er seine Verfremdungstechnik versieht: das Beklopfen der Figuren, das SichEinmischen des Epikers »in die Vorgänge«, seine Teilnahme »am Leben seiner Figuren« hat »nicht spielerisch« zu erfolgen, »sondern mit allem Ernst«.113 Diese erzähltheoretische Disponierung führt in der erzähltechnischen Umsetzung dazu, dass das Prinzip eines homo ludens von dem des homo oeconomicus dominiert wird, der mit kommerzieller Rationalität seine Figur wie sein Publikum in einen Läuterungsprozess verwickelt, indem er sie, wie Döblin es 1955 in seinem Nachwort zur DDRLizenzausgabe des Romans genannt hat, »Spießruten laufen«114 lässt und ›zernichtet‹. Döblins erzähltheoretisches Programm ist vom modernistischen Überholungsgestus beseelt. Döblin will Homer übertreffen, indem er hinter diesen zurückgeht auf »Grundsituationen […] des menschlichen Daseins«,115 die – paradoxerweise – gleichzeitig eine überreale Sphäre darstellen und von einer überrealen Wahrheit künden sollen. Mit seinem ambitionierten Programm nimmt es Döblin nicht nur mit der literarischen Tradition auf, sondern auch mit der literarischen Innovation: Er will nicht nur Homer unter- und überbieten, sondern zudem den literaturgeschichtlich so genannten Konsequenten Naturalismus eines Arno Holz an Konsequenz übertreffen. In seiner Akademie-Rede über Arno Holz (1930) schreitet Döblin den Weg Vom alten zum neuen Naturalismus ab: Von neuem wird erkannt, daß Literatur zum lebenden Volk gehört und zu seinen Sorgen. Wir sehen aus dem Vorgang Holz: eine organisch-funktionelle Beziehung zwischen Volk und Literatur ist dringend erforderlich, aber sie konnte nicht hergestellt werden in der Situation um 1900. […] Um Naturalismus im echten und vorbildlichen Sinn von Arno Holz zu treiben, haben wir notwendig in Deutschland […] Senkung des Gesamtniveaus der Literatur. Aus dem Bildungskäfig, in dem unsere heutige Literatur steckt, in dem sie von breiten Volksmassen nur als Attribut der feinen Leute angesehen wird, muß sie heraus. Der unterbrochene Weg von Arno Holz ist weiterzugehen.116
_____________ 112 Döblin: Bau des epischen Werks, S. 221f. 113 Döblin: Bau des epischen Werks, S. 226. 114 Alfred Döblin: Nachwort zur DDR-Ausgabe von Berlin Alexanderplatz, in: Schriften zu Leben und Werk, S. 463-465, hier S. 464. 115 Döblin: Bau des epischen Werks, S. 218. 116 Alfred Döblin: Vom alten zum neuen Naturalismus. Akademie-Rede über Arno Holz, in: Ders.: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur, S. 263-270, hier S. 269f. (Hervorhebung im Original).
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Döblin geht davon aus, dass der naturalistische Weg von Arno Holz durch den Druck der »Literaturabnehmer«117 aus dem gehobenen Bürgertum unterbrochen worden ist. »Das starke deutsche Bügertum konnte zwar die Geburt des Naturalismus nicht verhindern, aber es vermochte ihn langsam zu erdrücken«, »weil es das Bildungsmonopol«118 hatte. Für Döblin »stellt« der Naturalismus eines Holz in dessen »gesamte[m] spätere[n] Werk« »eine Überwinterungsform des Naturalismus [dar]«,119 weil er sich darin von den Problemen der Zeit abgewandt und individualistischen Problemen zugewandt habe. Deshalb gelte es, an die ursprüngliche, »wahrhaft revolutionäre Haltung«120 von Holz zu erinnern. Döblin schlägt vor, die mathematische epochemachende Formel aus Holz’ Schrift Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze (1890), »k = n - x«, »in Fraktur zu schreiben und zu ihr Trommeln zu schlagen«.121 Es gelte also, die Fakten wieder radikal für sich sprechen zu lassen und das künstlerische Handwerk bei deren Bearbeitung gegen Null tendieren zu lassen. Döblins Ziel ist es, für mehr als »zehn bis zwanzig Prozent des deutschen Volkes« zu schreiben, insbesondere für die »Arbeiterbewegung«, die »den Naturalismus [zwar] gebären,« »aber […] nicht am Leben erhalten [konnte]«.122 Mit seiner Erneuerung des ursprünglichen und revolutionären konsequenten Naturalismus von Holz zieht Döblin gegen den »Individualismus, das verruchte Übel der Deutschen«,123 zu Felde. Er will die Tatsache rückgängig machen, dass Holz »die naturalistische Front zurückverlegt [hat]«, »in das Lager des gehobenen Bürgertums übergegangen« und dort »mit dem zerbrochenen Fahnenschaft in der Hand gestorben [ist]«.124 Um nicht das Holz’sche »Martyrium der Verkennung« erleiden zu müssen und die »Verachtung der Masse« zu ernten für den Verrat an der Natur und die Andienung an »aristokratische Gesichtspunkte«,125 definiert Döblin sein schriftstellerisches Tun als »geistige Hilfe[leistung]« am geistig notleidenden Volk und erneuert die naturalistische Formel zum »Schlachtruf«: »die Natur, die Realität! Mit allen Mitteln der Kunst die Wahrheit! Für das Leben und für ein wirkliches Volk!«126 – so die Schlussemphase von Döblins Akademie-Rede über Arno Holz. _____________ 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126
Döblin: Vom alten zum neuen Naturalismus, S. 266. Döblin: Vom alten zum neuen Naturalismus, S. 266. Döblin: Vom alten zum neuen Naturalismus, S. 267. Döblin: Vom alten zum neuen Naturalismus, S. 264. Döblin: Vom alten zum neuen Naturalismus, S. 264. Döblin: Vom alten zum neuen Naturalismus, S. 266. Döblin: Vom alten zum neuen Naturalismus, S. 267. Döblin: Vom alten zum neuen Naturalismus, S. 267. Döblin: Vom alten zum neuen Naturalismus, S. 268. Döblin: Vom alten zum neuen Naturalismus, S. 270.
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Döblin will der Isolation der »Autoren der höheren Literatur« entgehen, die »im ganzen nur der Verfeinerung einer gehobenen Klasse [dienen]«.127 Deshalb sucht er »Rückhalt an der Masse, an den achtzig Prozent des deutschen Volkes«,128 die der konsequente Naturalismus hätte erreichen können, wäre er nur konsequent genug gewesen. Mit Berlin Alexanderplatz scheint Döblin ein Stück konsequenter Naturalismus dahingehend gelungen zu sein, dass er ja damit in der Tat einen Bestseller geschrieben hat: Der ersten Auflage folgten bald weitere; bis 1933 wurden insgesamt fünfzigtausend Exemplare gedruckt; bereits 1930 erschien eine Übersetzung ins Niederländische und zwischen 1931 und 1936 folgten neun weitere Übertragungen. Mit Berlin Alexanderplatz hatte Döblin erreicht, was er sich vorgenommen hatte: weg von den Achtungserfolgen, weg von den kommerziellen Misserfolgen, hin zur publizistischen Breitenwirkung. Es scheint, als habe er »geistige Hilfe« geleistet, wo sie nötig war. Döblins Erfolg relativiert sich jedoch, setzt man Berlin Alexanderplatz ins Verhältnis zu Hans Falladas realistischem Krisenbestseller Kleiner Mann, was nun? (1932). Dieses Buch erzielte astronomische Auflagenziffern, welche die Millionengrenze überschritten, und wurde in zweiundzwanzig Sprachen übersetzt. Fallada präsentiert in seinem Roman mit Johannes Pinneberg einen ›kleinen Mann‹ aus der Welt der Angestellten, die Siegfried Kracauer in seiner Studie Die Angestellten (1930) porträtiert hatte. Fallada kannte dessen aus einer Umfrageforschung abgeleitete Diagnose, dass Warenhaus und Büro am Ende der Weimarer Zeit die gesellschaftlichen Bezirke sind, in denen sich die größte Ausbeutung abspielt. Arbeiter und Proletarier seien kaum voneinander zu unterscheiden, mehr noch sei »der Durchschnittsarbeiter, auf den so mancher kleine Angestellte gern herabsieht, […] diesem oft nicht nur materiell, sondern existenziell überlegen«.129 »Geistig obdachlos« stünde die Masse der Angestellten der Ausbeutung hilfloser gegenüber als »der Arbeiter-Proletarier«.130 Fallada schildert dementsprechend die Lebenswelt der kleinbürgerlichen Angestellten, die in den Krisenjahren nach dem Ersten Weltkrieg verzweifelt darum kämpfen, der Arbeitslosigkeit zu entgehen. Die Antwort auf die Ratlosigkeit vermittelnde Titelfrage »Was nun?« bleibt der Roman schuldig. Er steht ganz im Dienst der Wirklichkeit, welche den kleinen Leuten übel mitspielt. Durch Intrigen verliert Pinneberg seine Stellung in der Provinzstadt, durch Schikane seinen Posten in dem Berliner Kaufhaus Mandel. Pinneberg endet als einer von sechs Millionen heruntergekom_____________ 127 Döblin: Vom alten zum neuen Naturalismus, S. 266. 128 Döblin: Vom alten zum neuen Naturalismus, S. 266. 129 Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. Frankfurt a.M. 1930, S. 17. 130 Kracauer: Die Angestellten, S. 117.
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menen Arbeitslosen, flüchtet in die Arme seiner Freundin ›Lämmchen‹ und hofft auf die moralische Besserung der Mächtigen. Wo Döblin die Großstadt in einmontierten Werbeanzeigen, Zeitungsmeldungen, Börsennachrichten, Schlagertexten, Gesetzestexten etc. zu Wort kommen lässt und seine fingierte Kundschaft beim dialektgefärbten Wort nimmt, äußert sich Falladas realistischer Darstellungswille in minutiösen Schilderungen des Familienalltags der Pinnebergs und ebenfalls in der Berücksichtigung des dialektalen Umgangstons. Während Döblins artistische Montage alltäglicher Versatzstücke Großstadtlärm simuliert, um darin die gottesunterwürfige Strafseligkeit des Alten Testaments als eine Art basso continuo glückenden Lebens zu Gehör zu bringen, erzählt Fallada gänzlich eindimensional die wirkliche Großstadtmisere als potenzierte Kleinstadtmisere. Während Döblin die ausbeuterische Gesinnung der Machthabenden sich zu eigen macht und seinen Biberkopf laut eigener Aussage »Spießruten laufen«131 lässt, zeigt Fallada das permanente Spießrutenlaufen der Angestellten unter den »Schinder[n], die aus Menschen Tiere machten«.132 Während sich in Döblins Roman Großstadtorientierung und Anspruch auf ein zeitlos und überreal gültiges Epos auf die Synthese ›Strafvollzugsanstalt Berlin Alexanderplatz‹ belaufen, nimmt Fallada die Not seines kleinen Mannes ernst und ergreift gerade die Massen, die Kracauer beschrieben hatte.133 Während Biberkopf an seinem hinter der Bibel verschanzten Erzähler scheitert, wieder aufersteht und nichts begreift, bekommt Pinneberg die ökonomischen und sozialen Auswüchse des kapitalistischen Systems am Ende der Weimarer Republik zu spüren und erkennt das usurpatorische Prinzip der zur Gewinnsteigerung eingesetzten ersten Rationalisierungsmaßnahmen der deutschen Wirtschaft. Pinnebergs Credo »Zeugnisse nützen nichts. Tüchtigkeit nützt nichts. Anständig aussehen nützt nichts. Demut nützt nichts«134 liest sich wie eine Antwort auf Döblins Berlin Alexanderplatz. War Biberkopfs AnständigkeitsEmphase durch den auktorialen Erzähler annulliert und durch eine Apologie der Demut ersetzt worden, so desavouiert Falladas Pinneberg auch noch diese Option auf eine glückende Existenz. Von metaphysischem Rätselraten und alttestamentlichen Bestrafungen weit entfernt, ist Fallada der Wirklichkeit ungleich näher als Döblins Epos der Moderne. Fallada stülpt der Alltagsebene nicht die Ewigkeitsebene über, setzt dem Urbanen nicht das Mythische auf, sondern schildert »einen konkreten Berufstyp inmitten einer Vielfalt von anderen, ebenso konkret gesehenen Berufsty_____________ 131 Döblin: Nachwort zur DDR-Ausgabe von Berlin Alexanderplatz, S. 464. 132 Hans Fallada: Kleiner Mann – was nun? Hamburg 1958, S. 218. 133 Vgl. Helmut Lethen: Neue Sachlichkeit 1924–1932. Studien zur Literatur des weißen Sozialismus. Stuttgart 1970, S. 156f. 134 Fallada: Kleiner Mann – was nun?, S. 7.
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pen in einer genau lokalisierbaren wirtschaftlichen und politischen Krisensituation.«135 Fallada und Döblin wenden sich beide den Unterprivilegierten zu. Beide unterhalten zu ihnen »keine Schreibtischbeziehung«.136 Anders als Döblin aber, der als Armenarzt mit den Benachteiligten der Gesellschaft vertraut ist, kennt Fallada das Milieu aus seinen unreputierlichen Berufstätigkeiten als Adressenschreiber, Nachtwächter und Annocenwerber. Hatte Döblin es trotz seiner Leistungsschwierigkeiten in der Schule zum Studium und darüber hinaus zum Arzt geschafft, so »kapitulierte [Fallada] schon früh vor den Leistungshürden der Gesellschaft«.137 Fallada weist nicht nur ›eine abgebrochene Schulbildung vor‹, sondern ging darüber hinaus in die Geschichte der Pädagogik ein über eine Reihe von Schülerselbstmorden, mit denen sich die durch zahlreiche reformpädagogische Beiträge sensibilisierte Öffentlichkeit zu Beginn des Jahres 1911 auf drastische Weise konfrontiert sah. Hans Fallada, dessen Nachname ursprünglich Ditzen lautete, besuchte das Königin Carola-Gymnasium in Leipzig, an welchem im Schuljahr 1910/11 nacheinander drei der begabtesten Oberprimaner Selbstmord begingen, darunter auch Falladas Freund Erich Pöschmann. Wenige Wochen nach dessen Tod setzte sich der Außenseiter Ditzen alias Fallada mit der Idee des Suizids auseinander, wechselte nach einem zweimonatigen Klinikaufenthalt an das Fürstliche Gymnasium in Rudolstadt, wo er mit einem ebenfalls suizidalen Schulfreund die Vereinbarung traf, jeder von ihnen solle ein Drama verfassen, der Autor des schlechteren Dramas solle dann Suizid verüben und der Überlebende das Werk des anderen veröffentlichen. Ditzen alias Fallada überlebte, kam in die psychiatrische Klinik der Universität Jena, dann für eineinhalb Jahre in ein Privatsanatorium bei Gera, verfiel nach seiner Entlassung im Herbst 1913 der Morphium- und Alkoholsucht und begann 1917 als Angestellter in einem Kartoffelzuchtbetrieb mit der literarischen Verarbeitung seiner Jugend- und Schulerlebnisse.138 In Falladas Biographie hat das staatliche Erziehungssystem, dessen Individualitätsfeindlichkeit Gustav Landauer in seinem Essay Selbstmord der Jugend (1911) den Kampf erklärt hatte, drastischere Spuren hinterlassen als in derjenigen Döblins, der sich, um mit Landauer zu sprechen, mit den »dumm-grausamen Schulmeistern im Zuchthaus Schule« zu
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Möhrmann: Biberkopf, was nun?, S. 139. Möhrmann: Biberkopf, was nun?, S. 137. Möhrmann: Biberkopf, was nun?, S. 138. Vgl. dazu York-Gothardt Mix: Selbstmord der Jugend und Erziehungsalltag im Kaiserreich, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 44 (1994), S. 63-76, hier S. 64.
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arrangieren verstand und dadurch »gebrochen und mit dem Spülwasser des schalen Philistertums beschmutzt«139 wurde. Obwohl Fallada und Döblin sich beide den von deutschen Romanautoren verabscheuten Themen ›Großstadt‹ und ›Kleine Leute‹ zuwandten, ließ Fallada künstlerischen Elitismus weit mehr hinter sich als Döblin. Ob der ungleich geringere kommerzielle Erfolg von Berlin Alexanderplatz daran lag, dass der Roman, wie in der Forschung behauptet, »allein schon aufgrund seiner komplizierten Textstruktur kein massenhaft gelesenes Buch werden [konnte]«,140 ist zu bezweifeln. Denn die übersichtliche Anordnung der Geschichte vom Franz Biberkopf durch den auktorialen Erzähler gleicht die rezeptionsästhetischen, ihrerseits durch strenge motivliche Verknüpfung entschärften Inkommensurabilitäten der Montagetechnik und Assoziationsgestaltung hinreichend aus; die desillusionistisch eingesetzte Dramatisierung und Lyrisierung des Romans ist auf das Hier und Jetzt einer Indoktrination verpflichtet und erfordert kein anstrengendes kritisches Denken. Von der intellektuellen Elite zum avantgardistischen Meisterwerk deklariert und hymnisch gefeiert, scheint Berlin Alexanderplatz das Bedürfnis der Intellektuellen nach geistiger Führerschaft bedient zu haben für ein Volk, dessen handfeste materielle Not den notorischen Anspruch der Wortmächtigen auf handfeste Macht stimuliert haben mochte. Im Unterschied zu Falladas realistischem Naturalismus ist Döblins Naturalismus ein vitalistischer, der aufs Elementare zielt. Dabei fungiert die aufgerissene Baustelle Alexanderplatz im Roman nicht, wie Walter Benjamin in seiner enthusiastischen Rezension des Buches von 1930 denkt, als pars pro toto, um die »Eingeweide«141 des Funktionssystems Stadt bloßzulegen, es sei denn, man besteht darauf, dass Döblin mit der literarisch traditionsreichen und damals schon abgegriffenen Imagination von Berlin als Hure Babylon142 und der ausgreifenden Darstellung von Zuhälterei und Prostitution als dem ältesten Gewerbe der Welt den Nerv der Zeit trifft. Mehr als den Nerv der Zeit trifft Döblin damit den eines verschämten Bürgertums und befriedigt dessen Bedürfnis nach einem gediegen erregenden Bildungsquiz, bei dem sich dann Bibelfestigkeit und entsprechende Exegetenspitzfindigkeit nach dem drei- bis vierfachen Schriftsinn behaupten können.143 _____________ 139 Gustav Landauer: Selbstmord der Jugend, in: Ders.: Zwang und Befreiung. Eine Auswahl aus seinem Werk. Hg. v. Hans-Joachim Heydorn. Köln 1986, S. 228f. 140 Kiesel: Literarische Moderne, S. 47. 141 Benjamin: Krisis des Romans, S. 233. 142 Vgl. dazu Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 3., überarbeitete u. erweiterte Aufl. Stuttgart 1988, S. 667-681, insbes. S. 679. 143 Vgl. dazu repräsentativ Kiesel: Literarische Moderne, S. 343-347, insbesondere S. 345, der die typologisch-allegorische Verstehens- und Deutungsweise von der Bibel auf den literari-
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Im Zeichen der Dampframme, die den Alexanderplatz aufreißt, legt Döblin die Eingeweide seines Protagonisten und seines Publikums bloß. Dass Döblin seinen epischen Enthüllungsbericht mit einem Läuterungsprozess seines Helden versieht, macht seinen mutmaßlich radikalen Naturalismus zum Umschlagphänomen, das dorthin zurückkehrt, wovon Holz sich programmatisch abgewendet hatte – zum bürgerlichen Realismus eines Fontane beispielsweise, der bekanntlich ein idealistischer war, und zwar in genau dem Sinne von Döblin: Die Darstellung alltäglichen, ›miserablen‹ Materials sei nicht mit Realismus zu verwechseln; sie »[verhalte] sich«, so Fontanes berühmt gewordenes Diktum, »zum echten Realismus wie das rohe Erz zum Metall: die Läuterung fehlt«.144 Bei Döblin heißt es in der programmatischen Vorrede zu seinem Roman dem Paradigma des bürgerlichen Realismus entsprechend, dem »frechen, ekelhaften und erbärmlichen Unsinn« von Biberkopfs Leben »Sinn« (BA 11) geben. Berlin Alexanderplatz kann demnach als ein »proletarischer Roman für das Bürgertum«145 gelten, als den Bernhard von Brentano ihn 1929 in seiner Rezension bezeichnet hat. Der Name des Rezensenten weist den Weg zurück zur Zeit um 1800, zur Romantik, der ersten Epoche moderner Literatur. Dort endet auch Döblins frühes Bekenntnis zum Naturalismus (1920). Nachdem er hier, wie dann auch im Bau des epischen Werks, Homer als Vorbild erwählt hat, um dessen in der Ilias bei der Beschreibung des Schild des Achilles mustergültig zum Vorschein kommenden Realismus als »produktiven Kern des Epos«146 zu feiern, nimmt Döblin schließlich Zuflucht bei ›Goethes Brüsten‹. Döblin bezichtigt sich selbst dabei ironischerweise, »reaktionär«147 zu sein. Sein Gang zu den epischen Müttern endet hier beim Ahnvater moderner Literatur, der Döblin zufolge ein genaues Gespür für die Natur der Dinge hatte, als er formulierte: »Wo faß ich dich, unendliche Natur? Euch Brüste, wo? Ihr Quellen allen Lebens.«148 Döblins augenzwinkernder genüsslicher Umgang mit der Tradition verhilft dazu, die ernste Emphase der programmatischen Moderne hinter sich zu lassen und diese im Lichte der welthistorischen Moderne seit 1800 _____________ 144 145 146 147 148
schen Text Berlin Alexanderplatz anwendet und sich dafür auf deren »fundamentale Bedeutung« »für anspruchsvolle moderne Texte« (S. 345) beruft. Theodor Fontane: Unsere lyrische und epische Poesie (1853), in: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. XXI: Literarische Essays und Studien, Teil 1. München 1963, S. 7-33, hier S. 12. Bernhard von Brentano: o.T., zitiert nach: Ingrid Schuster, Ingrid Bode (Hg.): Alfred Döblin im Spiegel der zeitgenössischen Kritik. Bern 1973, S. 212. Döblin: Bekenntnis zum Naturalismus (24. Dezember 1920), in: Ders.: Kleine Schriften I (1902–1921). Hg. v. Anthony W. Riley. Olten, Freiburg i.Br. 1985, S. 291-294, hier S. 291f. Döblin: Bekenntnis zum Naturalismus, S. 294. Zitiert nach: Döblin: Bekenntnis zum Naturalismus, S. 294.
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gelassen zu sichten. Statt auf der Unterschiedlichkeit von Romantik und programmatischer Moderne zu beharren und deren im Kampf gegen die Tradition eingesetzter suggestiver Rhetorik aufzusitzen,149 gilt es, Kontinuitäten zu sehen. Döblins regressive Zuflucht zu ›Goethes Brüsten‹ erhellt das regressive Moment, das der programmatischen Moderne seit ihrer Ausrufung zum Jahreswechsel 1886/87 im Berliner Magazin für Litteratur des In- und Auslandes innewohnt. Bei der Erarbeitung der zehn Thesen der freien litterarischen Vereinigung »Durch!«, zu deren Mitgliedern Gerhart Hauptmann, Arno Holz und Johannes Schlaf gehörten, war der Berliner Literaturhistoriker Eugen Wolff federführend gewesen. 1888 dann veranschaulicht Wolff unter dem Titel Die jüngste deutsche Litteraturströmung und das Princip der Moderne seine Vorstellungen von einer modernen Literatur. Der Text ist als Gründungsmanifest der deutschsprachigen literarischen Moderne in die Literaturgeschichte eingegangen. Höhepunkt von Wolffs Ausführungen ist die Allegorisierung der Moderne durch ein Weib, ein modernes, d.h. vom modernen Geist erfülltes Weib, zugleich Typus, d.h. ein arbeitendes Weib, und doch zugleich ein schönheitsdurchtränktes, idealerfülltes Weib, d.h. von der materiellen Arbeit zum Dienste des Schönen und Edlen zurückkehrend, etwa auf dem Heimweg zu ihrem geliebten Kind, – denn sie ist keine Jungfrau voll blöder Unwissenheit über ihre Bestimmung, sie ist ein wissendes, aber reines Weib, und wild bewegt wie der Geist der Zeit, d.h. mit flatterndem Gewand und fliegendem Haar, mit vorwärtsschreitender Gebärde, freilich nicht durch ihre überirdische Erhabenheit in den Staub nötigend, aber durch ihren Inbegriff aller irdischen Schönheit begeisternd mit fortreißend, – das ist unser neues Götterbild: die Moderne!150
Wolffs Bild wurde vielfach als Ausdruck einer ›Feminisierung der Moderne‹ gelesen.151 Die jüngste Studie von Urte Helduser über die Geschlechterprogramme in den Konzepten der literarischen Moderne um 1900 (2005) verdeutlicht hingegen den »wesentlich differenzierteren Einsatz von Geschlechterbildern«152, der bei Wolffs Allegorie zum Tragen kommt. Wolff präsentiert seine Allegorie der Moderne im Rahmen eines fiktiven Streitgesprächs zwischen einem Historiker, einem Ästhetiker, einem Dichter, einem Moralisten, einem Bürger und einem Naturforscher. Das »Ideal der Moderne« in Gestalt einer Frau stößt auf den Widerstand des Moralisten, der auf dem »Kampf gegen das Backfisch- und Altjungferntum« sowie _____________ 149 Vgl. dazu Kiesel: Literarische Moderne, S. 20-23. 150 Zitiert nach: Gotthart Wunberg (Hg.): Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende. Stuttgart 1971, S. 40 (Hervorhebung im Original). 151 Vgl. repräsentativ Kiesel: Literarische Moderne, S. 19f. Weitere Belege sowie deren diskurskritische Diskussion in: Urte Helduser: Geschlechterprogramme. Konzepte der literarischen Moderne um 1900. Köln 2005. 152 Helduser: Geschlechterprogramme, S. 2.
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gegen »Blaustrumpfschmierer« und auf dem »männliche[n] Zug der Poesie«153 beharrt. Mit der Intervention des Moralisten kommt der konservative Zug in den Blick, der mit der Allegorisierung der Moderne in Gestalt einer Frau gegeben ist: Abstrakte Ideale wie Nation oder Revolution werden traditionell mit einer weiblichen Figur verkörpert; da die Funktionsweise der Allegorie auf einer willkürlichen Zuordnung beruht, bedeutet eine weibliche Allegorie nicht automatisch, dass das Verkörperte ›weiblich‹ ist; bei Wolff verkörpert die Allegorie Begriffe wie ›Realismus‹, ›Fortschritt‹, ›naturwissenschaftlicher Geist‹ und ›Bewegung‹; die Frauengestalt dient der Werbung für diese abstrakten Vorstellungen; gleichzeitig dokumentiert Wolff mit seiner Wahl einer Proletarierin einen Wandel der Geschlechterrollen, der durch das In-Erscheinung-Treten von Arbeiterinnen in der Öffentlichkeit im ausgehenden 19. Jahrhundert vorangetrieben wird; »als Vorstellung moderner Weiblichkeit unterscheidet sich diese Figur jedoch deutlich vom Ideal der ›modernen Frau‹, das zeitgleich die Frauenbewegung proklamiert«,154 deren – freilich weithin unpolitisierten – Prototyp die erwerbstätige, finanziell und erotisch unabhängige, selbstbewusste, Auto fahrende, Zigaretten rauchende Neue Frau der 1920er Jahre darstellt.155 Vom Effekt her ist Wolffs Allegorisierung der Moderne in Gestalt einer Arbeiterin die »gedruckte Fassung der Germania vom Niederwalddenkmal«.156 Als Sinnbild eines zum ›Volkskrieg‹ stilisierten Waffengangs und als gepanzerte Mutterfigur für die Gefallenen war diese Germania »Zeugnis aufrechten Untertanengeistes im Kaiserreich und zudem beliebteste Taufpatin im Vereinswesen der Ruderer, der Schützen und Turner, der Burschenschafter, Männergesangsgruppen und Kriegsveteranen, die am Stammtisch das gleichnamige Bier tranken.«157 Wolffs negative Konnotierung weiblicher Emanzipation im Sinne einer Einforderung von Teilhabe an der Moderne als ›blaustrümpfig‹ birgt auf ihrer Kehrseite einen Männlichkeitswahn. Dieser ist insofern bedenklich, als mit der bildungspolitischen Position, nach der die Frauen aus dem Bereich von Literatur und Kultur ferngehalten werden sollen, die Berufung auf die moderne naturwissenschaftliche Weltanschauung einhergeht, mit der eine ›natürliche Bestimmung‹ der Frau für Haus und Familie zementiert und _____________ 153 154 155 156
Zitiert nach: Wunberg: Dokumente der literarischen Moderne, S. 40. Helduser: Geschlechterprogramme, S. 9. Vgl. dazu Petra Bock, Katja Koblitz (Hg.): Neue Frauen zwischen den Zeiten. Berlin 1995. Gotthart Wunberg: Nachwort, in: Ders. (Hg.): Dokumente der literarischen Moderne, S. 245-251, hier S. 246. 157 Marie-Louise von Plessen: Germania aus dem Fundus, in: Dies. (Hg.): Marianne und Germania 1789–1889. Frankreich und Deutschland. Zwei Welten – eine Revue. Berlin 1997, S. 31-36, hier S. 34f.
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nationale Gesundheit befördert werden soll. Die für moderne Literaturproduktion geforderte Orientierung am naturwissenschaftlichen Wissen erhält von hier aus eine grundsätzlich konservative Valenz.158 Wie Wolffs Modernevision ist Döblins programmatischer Modernismus gleichzeitig auf Bodenständig-Elementares wie Überlegen-Überreales aus, auf Traditionell-Archaisches wie auf Modern-Übermodernes, auf unhintergehbare Regression wie auf unendliche Progression. Mit seiner paradoxen Denkkultur liegt Döblin exakt auf der Linie der programmatischen Moderne des Berliner literarischen Vereins Durch!, deren Aporien er teilt. Gegen die »fatale Zahmheit und Weichlichkeit der literarischen Durchschnittskonsumenten« und deren »[Feigheit] vor den Realien« zu Felde ziehend, sich zum Naturalismus bekennend, um sich dezidiert von Selbstreflexion zu verabschieden, um »nicht [sich]«, sondern »die Welt [zu] erobern«, »[sich] an ihr [zu] bereichern, Bresche zu schlagen in ihre Geheimnisse«,159 feiert Döblin eine Mannhaftigkeit, deren Traditionalismus sich noch am ehesten als modern im Sinne von ›neu‹ verstehen lässt, bringt man ihn in Verbindung mit der zeitgenössisch virulenten Kulturströmung Konservative Revolution. Von dem skizzierten Hintergrund der programmatischen Moderne bleibt bei Döblin an poetologischer Modernität genau das übrig, was die Romantik bereits um 1800 proklamiert hatte: a) der Dichter als Arzt und Kunst als Therapeutikum der Gesellschaft (Novalis Monolog [1798/99], Friedrich Schiller Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen [1795]) – Funktionen, die sich aus der Autonomisierung der Kunst herleiten, welche wiederum dem Faktum der Ausdifferenzierung der Gesellschaft, mithin des Bildungssystems, geschuldet ist; die Ausdifferenzierung wird als Überforderung erlebt, in der Dichotomie Kunst vs. Gesellschaft gleichsam eingefroren und überkompensiert, indem die Kunst mit einem Überlegenheitsanspruch versehen wird; b) die Autonomie der Sprache und die daraus resultierende Aufgabe des Dichters, sich der Eigendynamik der Sprache hinzugeben (Novalis Monolog [1798/99]); c) die Hybridisierung literarischer Texte durch die Vereinigung der Gattungen, insbesondere durch das In-Berührung-Setzen von Philosophie, Poesie und Rhetorik (Friedrich Schlegel Athenäums-Fragmente [1798-1801, 116. Fragment]); d) das rhetorische Kalkül dient der Intention, das Leben zu poetisieren; im Zuge der pragmatischen Wende der Literatur soll das Publikum in den Lektüreprozess involviert werden über Sympraxis, das zeichengelenkte Mitmachen der Textbewegung; dabei fungiert die romantische Ironie, die eine zwischen Ideal und Wirklichkeit, jedenfalls zwischen zwei _____________ 158 Vgl. Helduser: Geschlechterprogramme, S. 9f. – Wolff: Die jüngste deutsche Litteraturströmung, in: Wunberg: Dokumente der literarischen Moderne, S. 37. 159 Döblin: Bekenntnis zum Naturalismus, S. 293.
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disparaten Größen oszillierende Textstruktur ist, als performative Technik, die das Publikum in den Stand eines ›nachschaffenden Künstlers‹ (Novalis) versetzen soll; e) im Rahmen des prätentiösen Programms einer ›Universalpoesie‹ (F. Schlegel) die Priorisierung der raumgreifenden, progressiv auf totale Welterfassung zusteuernden Form des Romans, wodurch die Literaturgeschichte ihre erste genuin literarische Epochenbezeichnung – Romantik – bezieht; f) als Themenlieferant die moderne Leitdifferenz Individuum vs. Gesellschaft mit ihren Optionen von exzentrischer und quietistischer Inszenierung von Individualität, für welche einmal Goethes Jugendroman Die Leiden des jungen Werthers (1774) und dann dessen Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) paradigmatisch sind; und schließlich g) die Etablierung von Kunst als absolutem Erklärungsmodell von Wirklichkeit durch Remythisierung, i.e. durch Orientierung am Mythos als einem ›Kunstwerk der Natur‹ (Friedrich Schlegel Gespräch über die Poesie [1800]).160 All diese Aspekte frühromantischer Programmatik hat Döblin reformuliert und mit seinem als Epos gedachten Berlin Alexanderplatz mustergültig auf das Tablett der Literaturgeschichtsschreibung gelegt. Auch die programmatischen Romantiker gaben sich im übrigen angesichts der aufbrechenden Geschlechterverhältnisse frauenfreundlich, zelebrierten die Geselligkeit, die durch das Prinzip der Symphilosophie geprägt und der die Form des Gesprächs dienlich sein sollte, worin alle Beteiligten Meister und Schüler zugleich sein sollten. Indes ist auch Friedrich Schlegels fiktives Gespräch über die Poesie (1800) programmatische männliche, monologische, monolithische Selbstaussage, im Zuge deren das Zuhören zur sprachlosen Rezeption aufseiten der beteiligten Frauen verkommt.161 Am modernen Selbst- und Weltverständnis der männlichen Intellektuellen hat sich seitdem prinzipiell nichts geändert: Goethes ›Welt‹ sind die weiblichen ›Brüste‹, auf die Döblin sich als bekennender Naturalist bezieht; die programmatische Moderne ist die »gedruckte Fassung der Germania vom Niederwalddenkmal« für den literarischen »Herrenabend«;162 und Döblins Berlin ist eine mit babylonischen Wassern gewaschene omnipotente und omnipräsente Hure, die, obgleich unentbehrlich für Döblins Stadtvision, schließlich zum Verschwinden gebracht wird, _____________ 160 Zur frühromantischen Programmatik vgl. Jutta Schlich: Erneuerung der Kommunikation aus dem Geiste mathematischer Formelsprache – Novalis’ Monolog als Individuum, in: Helmuth Kiesel, Klaus Lubbers, Patricia Plummer (Hg.): Subversive Romantik. Berlin 2003, S. 373-399. 161 Vgl. dazu Renate Kühn: Der Leser – die Frauen. Resultate einer pragmatischen Lektüre von Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 30 (1986), S. 306-338, hier S. 338. 162 Wunberg: Nachwort, S. 246.
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während Biberkopf seine Läuterung in der Heilanstalt Buch erlebt, weshalb der Schluss von Berlin Alexanderplatz, wie der Autor ja später zugegeben hat, »im [guten alten] Himmel spielen [müßte]«.163 Auch wenn die literarischen Innovationen der letzten 200 Jahre anzuerkennen sind – im Kontext einer Moderne, die auf das Dritte Reich zugesteuert ist, sind sie nicht unbedingt als Ausdruck von Veränderungen in den Prämissen aufzufassen. In Döblins erzählerischer Programmatik zeigt sich eine für die literarische Moderne insgesamt charakteristische kristallisierte Mentalität. Diese bringt »Neuigkeiten«, »Überraschungen« und »echte Produktivitäten«164 hervor, dies aber in einem schon abgesteckten Feld und auf der Basis schon eingelebter Grundsätze. Während man den Eindruck munterster Geschäftigkeit vermittelt bekommt, befinden sich die Programmatiker literaturgeschichtlich gesehen in einem Zustand der dualistischen Erschöpfung von Alternativen.165 In der programmatischen Moderne der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spitzen sich die Probleme zu, mit denen man sich bereits zu Beginn der welthistorischen Moderne um 1800 konfrontiert sah. Der Prozess der Modernisierung brachte die Umstellung der Gesellschaft von einer standesmäßigen auf eine funktionale Differenzierung mit sich und bewirkte so eine neue Wahlfreiheit der Lebensentwürfe, die auch das Verhältnis der Geschlechter zueinander dynamisierte. Schon damals wurden diese Momente modernen Lebens von den Kulturmachern nicht so sehr als willkommene Herausforderung gesehen, sondern als Überforderung erlebt und in einem dichotomisierenden ordo-Denken gleichsam eingefroren. Kunst vs. Leben, Individuum vs. Gesellschaft, Mann vs. Frau, Spiel vs. Ernst, Gesundheit vs. Krankheit, Wahrheit vs. Lüge, neuer vs. alter Naturalismus, aristotelisches vs. episches Theater, Erwachsener vs. Kind, Verstand vs. Gefühl, positiv vs. negativ sind Spielarten eines imperialistischen dichotomen Denkstils, der in den programmatischen Texten der literarischen Moderne seit 1800 am Werke ist und in deren poetischen Erzeugnissen zum Tragen kommt.166 Hier wird Vielfalt, die sich im Zuge des Modernisierungsprozesses dem Individuum eröffnet, mit Hilfe eines dualistischen Entweder-Oder_____________ 163 Döblin: Briefe, S. 166. 164 Arnold Gehlen: Studien zur Anthropologie und Soziologie. Neuwied, Berlin 1963, S. 321. 165 Vgl. Gehlen: Studien zur Anthropologie und Soziologie, S. 321. Mit dem Begriff ›Mentalität‹ ist »eine […] Stufe« »unterhalb der Doktrinen« angesprochen, »auf der einheitsstiftende Prozeße wirksam werden können«: »Mentalitäten sind auf einem niedrigeren Bewußtseinsniveau angesiedelt als Ideologien. […] Das Spannungsfeld, in dem sie sich konstituieren, ist durch Faktoren der longue durée wie Klassen- und Schichtzugehörigkeit, Geschlechtscharaktere und ähnliches bestimmt, daneben aber auch durch historische Erfahrungen« (Stefan Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution. Darmstadt 1995, insbes. S. 25-48, hier S. 33). 166 Vgl. dazu Jutta Schlich: Literarische Authentizität. Prinzip und Geschichte. Tübingen 2002.
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Denkens reduziert auf überschaubare Visionen von Welt. Sie sind im Dritten Reich in der so genannten ›Endlösung‹ kulminiert. Hier hat die Dichotomie Arier vs. Juden Weltgeschichte gemacht.
5. Trauriges Die Forschung zu Berlin Alexanderplatz lobt – von einer Ausnahme abgesehen167 – unisono die darin zur Anwendung kommende Montagetechnik und Assoziationsgestaltung als ein absolutes Novum in der deutschen Literaturgeschichte. Die Frage nach dem cui bono geflissentlich aussparend, befördern die Interpreten die Vorstellung von den Goldenen Zwanziger Jahren, wonach »Begriffe wie ›Großstadtmisere‹ und ›präfaschistische Ära‹ auf den ersten Blick etwas fehl am Platze erscheinen«.168 Berlin Alexanderplatz wird als Ausdruck einer »Poetik der Erleuchtung«169 gefeiert, indem man Döblins Darstellungstechnik an seine psychiatrischen Erfahrungen und die damit einhergegangenen Einsichten in die Wahnbildung rückbindet. Historisch gesehen ist die in der Literaturwissenschaft praktizierte Loslösung der erzähltechnischen Aspekte Montage und Assoziationsgestaltung von deren ideologischer Indienstnahme äußerst bedenklich: Die industrielle Vernichtung von Juden und anderen als nicht-arisch inkriminierten Minderheiten im Dritten Reich sollte die Verabsolutierung von Technik ein für allemal in Misskredit gebracht haben; der Holocaust sollte ein unvergessliches Beispiel dafür sein, dass die besinnungslose Fixierung auf Fortschrittlichkeit mit der Eliminierung kritischen Denkens einhergeht. Wird man der rezeptionsästhetischen Folgen von Döblins erzählerischer Tortur in Berlin Alexanderplatz inne, kommt zum Vorschein, dass Döblin von der Fabel, der Methode und vom Tenor her gesehen das Epos der präfaschistischen Ära geschrieben hat. Die literarische Trauerarbeit, die _____________ 167 Einzig Renate Möhrmann dringt in ihrem ideologiekritischen Beitrag von 1978 zu der sich durch die Gewaltsamkeit von Döblins Erzählweise aufdrängenden Frage vor: »Aber worin bestand denn eigentlich des frommen Hiobs Vermessenheit? Doch nur darin, daß er sich, nachdem er seine Söhne und Töchter, seine Knechte und Herden verloren hatte und vom Scheitel bis zur Sohle mit Aussatzschwären verunstaltet war, mit dem verzweifelten Ruf an Gott wandte: ›Verdamme mich nicht; laß mich wissen, warum du mit mir haderst.‹« (Möhrmann: Biberkopf, was nun?, S. 141f. – Hiob 10,2) Und Möhrmann zieht die mutige Schlussfolgerung: »Es ist also gerade das Erkennen- und Verstehenwollen, was ihn gegen das Verdikt der absoluten Gottesunterwürfigkeit, gegen die Maxime ›Selig ist der Mensch, den Gott straft‹ verstoßen läßt« (S. 142 – Hiob 5,17). 168 Möhrmann: Biberkopf, was nun?, S. 133. 169 Kiesel: Literarische Moderne, S. 332 – Ders. bereits in: Literarische Trauerarbeit. Das Exilund Spätwerk Alfred Döblins. Tübingen 1986, S. 201-230.
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Döblin in seinem Exil- und Spätwerk geleistet haben soll,170 ist um eine literaturwissenschaftliche Trauerarbeit zu ergänzen. Sie könnte bei einer Formulierung Brechts beginnen, derzufolge gerade die »wertvolle[n] hochentwickelte[n] technische[n] Elemente« wie »Innerer Monolog […], Stilwechsel […], Dissoziation der Elemente […], assoziierende Schreibweise […]« bei gleichzeitiger Gestaltung von politischer Indifferenz in einer krisenhaften Zeit des Übergangs – Biberkopfs Wandel vom Einzelgänger zum Mitläufer ist an parteipolitische Entsagungen gebunden – diesen Text bestenfalls zu einem »Dokument der Ausweglosigkeit«171 machen. Brecht, der sich selbst als kämpferischen Realisten verstand, wollte mit dieser Apostrophierung Döblins Roman als reaktionär stempeln. Vor dem Hintergrund der in diesem Beitrag als nervus rerum des Romans dargelegten Schwarzen Pädagogik könnte Brechts Formulierung jedoch zur Reflexion auf traumatisierende Erfahrungen anhalten, die seinerzeit im Zuge schulischer Sozialisation gemacht worden sind und die, wenngleich immer verdeckter und subtiler, heute noch wirksam sind. Literaturwissenschaftliche Trauerarbeit macht sich an der ideologischen Indienstnahme von Erzähltechnik fest und fragt nach literaturgeschichtlicher Kontinuität dort, wo Diskontinuität behauptet wird, wie sie umgekehrt dort nach Diskontinuität fragt, wo Kontinuität behauptet wird. Wo die Literaturwissenschaft eine Kontinuität zwischen Alfred Döblin, Ingeborg Bachmann und Elfriede Jelinek herzustellen versucht, ist dann eine deutliche Zäsur zu wahren: Gerade Bachmann in ihrem Großstadtroman Malina (1971) und Jelinek repräsentativ in Lust (1989) vergegenwärtigen mit denselben innovativen Erzähltechniken wie Döblin den ›Krieg mit anderen Mitteln‹ und zeigen unmissverständlich faschistische Strukturen auf im zwischenmenschlichen Miteinander, vor allem im Verhältnis der Geschlechter zueinander, als deren Keimzelle die Familie gilt.172 Die besinnungslose Rede von den Innovationsmerkmalen Montagetechnik und Assoziationsgestaltung unterschlägt oder überspielt eine Differenz, die sich auf nichts weniger beläuft als die zwischen Faschismus einerseits und Faschismuskritik andererseits. Berlin Alexanderplatz hat bis heute faszinierend gewirkt. An der Moritat vom Franz Biberkopf kann man lernen, dass Faszination von lat. fascinatio, von ›Beschreiung‹, ›Behexung‹ herkommt. Döblins bänkelsängerndes _____________ 170 Vgl. das gleichnamige Buch von Kiesel: Literarische Trauerarbeit. 171 Bertolt Brecht: Notizen über realistische Schreibweise, in: Ders.: Schriften zur Literatur und Kunst 2. 1934 – 1941. Frankfurt a.M. 1967, S. 173-205, hier S. 188. 172 Vgl. dazu Jutta Schlich: Phänomenologie der Wahrnehmung von Literatur. Am Beispiel von Elfriede Jelineks Lust (1989). Tübingen 1994 – Dies.: Inzest und Tabu. Ingeborg Bachmanns Malina (1971), gelesen nach den Regeln der Kunst. Königstein i.Ts. 2008 [im Druck].
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Jahrmarkts- oder Alexanderplatzgeschrei setzt den Verstand außer Kraft und vernagelt richtiggehend den Kopf, will man eine Formulierung aktualisieren, die Anna Seghers in ihrem Roman Der Kopflohn (1933) anlässlich der Beschreibung einer Wahlkampfveranstaltung der NSDAP gefunden hat: »Die Punkte [des vom Redner deklamierten Programms] fielen wie Nägel in [die] Stirnen [der Zuhörer].«173 An Berlin Alexanderplatz kann man lernen, dass der moralisch Aufgeregte nichts gegen die Not der Welt tut, sondern selbst Teil dieser Not ist. Man kann hier lernen, dass die Haltung der Schwarzen Pädagogik »ein zerstörerischer Virus [ist], mit dem zu leben wir von klein auf gelernt haben«.174 Man kann hier lernen, wie ein Klassiker der Moderne nach der persönlichen Trauerarbeit einer jeden einzelnen Leserin und eines jeden einzelnen Lesers schreit.
_____________ 173 Anna Seghers: Der Kopflohn. Roman aus einem deutschen Dorf im Spätsommer 1932. Amsterdam 1933, S. 33. Ähnlich exakt hat Marie Luise Kaschnitz in ihrem Roman Elissa (Berlin 1937, insbes. S. 7, 26f.) den Prozess der mentalen Unterwerfung von Kindern durch das Brüllen des Vaters beschrieben. 174 Miller: Am Anfang war Erziehung, S. 311.
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Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32) und der Modernismus aus englischer Sicht Einführung: der Modernismus als Bildungsethos in England nach dem Zweiten Weltkrieg Als ich in Cambridge in den 1960er Jahren ein Studium der Germanistik begann, war der eigentliche britische Modernismus schon vorbei. Wichtige Vertreter wie etwa James Joyce (1882–1939), W.B. Yeats (1865–1939), Joseph Conrad (1857–1924), Virginia Woolf (1882–1941) und D.H. Lawrence (1885–1930) waren schon tot. Der Geist des Modernismus lebte jedoch in den Dozenten der ›Departments of English‹ an den Universitäten weiter – der berühmte Anglist F.R. Leavis war noch auf den Straßen von Cambridge zu sehen und zu bewundern. Er wanderte als heiliger Stadtstreicher ohne Socken herum und verkündete die Botschaft der Literatur als höchstes Gut und Quelle moralischer Weisheit.1 Akademiker haben auch das Leben der Dichter hervorgehoben, aber vor allem ihre Werke waren wichtig. Studenten haben sich auch mit der Sekundärliteratur beschäftigt, aber in den kurzen ›essays‹, die sie Woche für Woche über die Literatur schrieben, stand die Interpretation des gegebenen literarischen Werks an erster Stelle: der Geist des Autors sollte unmittelbar mit dem Studenten kommunizieren! Als Student wusste man zwar, dass der Modernismus sich in der Auflösung befand (wie in Deutschland wird die Periode des Hochmodernismus etwa von 1890 bis 1930 angesetzt)2 und verschiedenen Bewegungen wich – Marxisten, Anhänger des Empirio-Kritizismus, Psychoanalytiker forderten zwar die traditionelleren Akademiker heraus, waren aber in der Min_____________ 1
2
Gerald Graff zum Beispiel erklärt: »[Rilke, Valéry, Joyce und Yeats] preached a kind of salvation through art [and creative fiction offers] realisation of values in an inherently valueless world« (Gerald Graff: The Myth of the Postmodernist Breakthrough, in: Malcolm Bradbury [Hg.]: The Novel Today. Contemporary Writers on Modern Fiction. London 1977, S. 217-249, hier S. 217). Vgl. Roger Fowler: A Dictionary of Modern Critical Terms. London 1973.
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derheit. Nur die fortschrittlichsten Forscher der neuen Generation hatten die Postmoderne gewittert und stellten die Unabhängigkeit des schöpferischen Geists in Frage. Die meisten Forscher waren wie die Modernisten davon überzeugt, dass ein Geist von seiner Umgebung unabhängig ist, dass der Dichter die Sprache verwendet und nicht umgekehrt. Als ›research student‹ (Doktorand) in den 1960er Jahren stand ich unter dem Einfluss von Lehrern, die selber im Zeitalter des Modernismus erzogen worden waren. Ich verstand mich nicht als ›Literaturwissenschaftler‹, sondern als ›literary critic‹, wie sich damals viele englische Akademiker nannten. Die Literatur, so dachten viele, ließe sich nicht so erforschen wie die harten Wissenschaften; jedes Urteil über einen Schriftsteller oder ein Werk war – die Formel wurde immer wieder verwendet – ›a matter of opinion‹. Das bedeutete aber keineswegs, dass man ohne Weiteres das schreiben konnte, was man wollte. Damals war die Universität noch voller Menschen – mein Doktorvater J.P. Stern war einer davon –, die unter Wittgenstein studiert hatten, und dieser Denker hatte ein Klima geschaffen, das die Sprache der Arbeit eines jeweiligen Akademikers einer schonungslosen Kritik unterwarf. Für Wittgenstein und seine Schüler war die Verbindung zwischen den Worten und der Welt eine gestörte, aber die Worte mussten genau aufeinander abgestimmt sein.3 Man durfte sich auf keinen Fall im Laufe einer Arbeit widersprechen, keine Unklarheiten wurden geduldet, Verallgemeinerung wurde ausgelacht, das Übertreiben war verpönt. Wenn man etwas behauptete, musste man es begründen, jede Aussage über ein literarisches Werk musste von einem entsprechenden Zitat aus dem Text begleitet werden. Von Wittgenstein stammte auch teilweise die Überzeugung, dass das geistige Leben ungeheure, ja fast übermenschliche Herausforderungen an den Intellektuellen stellte. Dies war also der Kontext meiner Arbeit an einer Dissertation. Ich freute mich, in Robert Musil (1880–1942) einen Dichter gewählt zu haben, der offenbar die Literatur so wichtig nahm wie die Akademiker, die mich beeinflusst hatten.4 Ich vertiefte mich gleich in die Lektüre des Mann ohne Eigen_____________ 3
4
Wittgenstein hatte im Verlauf seines Lebens eine Entwicklung vom Positivismus zum Skeptizismus durchlaufen; er hatte in der Arbeit, die als Dissertation in Cambridge angenommen wurde, nämlich sein Tractatus Logico-Philosophicus (1921), einen Versuch gemacht, durch eine strenge Version der Sprache zumindest einige Aspekte der Außenwelt abzubilden. Später aber kam er zu dem Entschluss, dass die Worte das Flussbett unserer Erfahrung bilden – sie stehen zwischen uns und der Welt. Man könnte also sagen, dass sich im Geist Wittgensteins die Wendung vom Positivismus und Realismus zum Modernismus abspielte. In einem Essayentwurf behauptet Musil, die Dichtung habe »eine Wichtigkeit […], die weit über die Wichtigkeit andrer menschlicher Tätigkeiten emporragt« (Robert Musil: [ohne Titel], in: Ders.: Gesammelte Werke in zwei Bänden. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978, Bd. II, S. 1327-1330, hier S. 1327).
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schaften,5 begeisterte mich für die Klarheit und Schönheit seiner Sprache und verstand meine Tätigkeit als einen Kontakt, ›mind to mind‹ mit Musil, also mit diesem damals erst vor fünfundzwanzig Jahren verstorbenen Dichter und Denker, der ganz eindeutig den Modernisten zuzuordnen war.
Bradburys Definition des Modernismus Malcolm Bradbury verstand den Modernismus als Vertrauensverlust: »novelists lost the confidence of the nineteenth century in reality; in progressive sequence; in growth of relations between individuals and their moral and social progess«.6 Was war die Folge? Die Schriftsteller »turned inward to examine, not just the symbolic and mythic resources of fiction, but also the complexities and anxieties of creative consciousness, the angle of vision, the point of view, the grammar of presentation«.7 Bradburys Formulierungen weisen auf wichtige Merkmale des Modernismus hin: ›lost confidence in reality‹ – die Abwendung von der Welt der ›Wirklichkeit‹; the ›turning inward‹ – die Wende von der Außenwelt zur Welt des Innern; ›the angle of vision, the point of view‹ – die Konzentration auf die Sehweise der im Werk dargestellten Personen, die alle die Welt etwas anders erleben als die Mitmenschen (also eine bewusste Subjektivität im Gegensatz zur erdichteten Objektivität des Realismus); ›the grammar of presentation‹ – das Eigentümliche der Erzähltechnik im jeweiligen Roman, das Eigenwillige der Struktur. Das sind alles Aspekte, die für einen ›research student‹ in den 1960er Jahren bei seinem Studium des Mann ohne Eigenschaften wichtig waren und die auch jetzt wesentliche Seiten des Romans beleuchten; unten werden wir sie einzeln untersuchen.
Abwendung vom Realismus Mein Doktorvater in Cambridge, J.P. Stern, hatte im Hinblick auf Musils Leistung als ›novelist‹ im Mann ohne Eigenschaften Bedenken. Statt seinen Lesern ein leidenschaftliches Bild der dargestellten Welt, die Energie der dargestellten Personen zu vermitteln, ging Musil, so Stern, gleichsam wie _____________ 5 6 7
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. I. Im Folgenden mit der Sigle MoE belegt. Bradbury: Introduction, in: The Novel Today, S. 7-21, hier S. 9. Bradbury: Introduction, S. 9. Vgl. auch Malcolm Bradbury, James McFarlane: The Name and Nature of Modernism, in: Modernism 1890–1930. Hg. v. Malcolm Bradbury u. James McFarlane. London 1976, S. 19-55.
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eine Hausfrau vor, die eine Zwiebel schält: Er nahm der dargestellten Epoche Schicht für Schicht ihre Illusionen ab, bis nach Sterns Auffassung nichts übrig blieb. Nach der Lektüre der Arbeit dieses intellektuellen Sezierers blieb den Lesern nichts anderes übrig, als, wie Stern es formulierte, »to hide the occasional tear«,8 wie nach der entsprechenden Tätigkeit in der Küche. Ich wehrte mich gegen dieses Urteil über Musils Schaffen und fand, und finde noch immer, dass Stern dabei wichtige Aspekte von Musils Leistung als Schriftsteller verkannte, aber es trifft trotzdem teilweise auf Musils Arbeit zu. Musil hat die Gabe, spannend und überzeugend zu erzählen und dabei die Leser in eine fiktive Situation hineinzuführen, die Erlebnisse einer fiktiven Person zu vermitteln. Aber im Roman setzt er sich Aufgaben, die sich schwer miteinander vertragen: Er lässt die Welt Österreichs vor dem Ersten Weltkrieg im Roman wieder auferstehen, doch gleichzeitig unterwirft er diese Welt einer zersetzenden Kritik. Die Kritik kommt vor allem indirekt in einer souveränen Ironie zum Ausdruck. Er will die Gründe untersuchen, die zum Sterben dieser Welt beigetragen haben. Was ihn interessiert, ist: »das Geistig-Typische, […] das Gespenstische des Geschehens«.9 Er war also kein Schriftsteller des Zeitalters des Realismus – er war ein Modernist. Am Anfang von Teil III des Mann ohne Eigenschaften10 trifft der Held, Ulrich, seine verheiratete Schwester, die siebenundzwanzigjährige Schönheit Agathe. Sie haben sich seit Jahren nicht mehr gesehen. Sie sind in dem Haus ihres eben verstorbenen Vaters untergebracht; der Vater war ein angesehener Rechtsanwalt und Stütze des österreichisch-ungarischen Establishments. In einem Geheimfach des väterlichen Schreibtisches entdecken sie eine Sammlung unanständiger Bilder und Witze. Die hier aufgedeckten Schwächen des Vaters sind für sein Zeitalter ›geistig-typisch‹. Obwohl Ulrich sich in seinem öffentlichen Auftreten wie in seinem Privatleben eher non-konformistisch verhält, kann er seine starke Ablehnung nicht verdrängen: »Das ist der letzte Rest der Mystik!« […] »In der gleichen Lade liegen da die strengen sittlichen Ermahnungen des Testaments und diese Jauche!« […] »Ich
_____________ 8 9 10
J.P. Stern: Viennese Kaleidoscope, in: The Listener, 1 November 1962, S. 722f., hier S. 723. Musil: Gesammelte Werke, Bd. II, S. 939. Der Mann ohne Eigenschaften wurde ursprünglich als Roman in vier Teilen geplant, wiederum in zwei Bände unterteilt, die jeweils zwei Teile enthalten sollten – einen relativ kurzen Anfangsteil, zwei längere Hauptteile und einen kurzen abschließenden Teil. Von diesen Teilen sind Teil I und Teil II vollständig, Teil III wurde nicht zu Ende geführt und für Teil IV sind nur kurze Notizen im Nachlass vorhanden. Zu Lebzeiten Musils wurden Teil I und Teil II im ersten Band 1930, der unvollendete Teil III 1932 als ein unvollendeter zweiter Band veröffentlicht. Diese Bände wurden als ›Erstes Buch‹ und ›Zweites Buch‹ bezeichnet.
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glaube, daß alle Vorschriften unserer Moral Zugeständnisse an eine Gesellschaft von Wilden sind. Ich glaube, daß keine richtig sind. Ein anderer Sinn schimmert dahinter. Ein Feuer, das sie umschmelzen sollte.« (MoE 769)
Hier drückt Ulrich ein ironisch-entrüstetes Urteil über die Generation seiner Eltern aus, für die der Schein wichtiger war als die Wahrheit.
Moralische Ambivalenz als Lebenskunst – Bonadea als ›geistig-typische‹ Zeitgenossin Die Hauptfiguren des Mann ohne Eigenschaften, Ulrich und Agathe, lehnen also die Welt ihres Vaters ab. Diese Welt ist die österreichisch-ungarische Monarchie, die damit verbundene Gesellschaft mit ihren Gewohnheiten, Hierarchien, Weltanschauungen, Konflikten und einer unerschütterlichen und Musil recht irritierenden Selbstzufriedenheit. (Es ist charakteristisch für die distanzierende Erzählweise im Roman, dass Musil diese Welt aus der Perspektive eines Psychologen beobachtet: Ulrichs Mätresse Bonadea ist nicht nur Untersuchungsobjekt für das sexuelle Verhalten des Bürgertums und den Unterschied zwischen äußerem Anstand und geheimer Sünde, sie steht auch als Beispiel für das Verhältnis zwischen Gefühlen und Selbstwahrnehmung bzw. Selbstverständnis des Individuums. In dem Kapitel mit der Überschrift »Bonadea, Kakanien; Systeme des Glücks und Gleichgewichts« (MoE 522) erklärt der Verfasser, wie Bonadea es fertig bringt, trotz ihrer Affäre mit Ulrich mit ihrem Mann und zwei Söhnen ein anscheinend von keinem schlechten Gewissen geplagtes Leben zu teilen. Ihr ›System des Glücks‹ kann nur funktionieren, weil es unter der Schwelle ihres Bewusstseins dafür sorgt, dass die verschiedenen Aspekte ihres Daseins nicht miteinander in Berührung kommen. Auf diese Weise kann Unschuld neben Genuss und Familienverantwortung neben Fehltritt bestehen; man erkennt hier genau die Einteilung in voneinander abgeschlossene Sphären des Lebens, die Ulrich und Agathe in dem Lebenswandel des Vaters entdeckten. Durch die Mittel der Ironie, die das Benehmen Bonadeas verständlich, ja sogar menschlich machen, lässt der Erzähler durchblicken, inwiefern ihre Handlungen Teil einer Welt der ›Wirklichkeit‹ sind, die unparteiischen Beobachtern wie Musil und seiner Persona Ulrich moralisch nicht akzeptabel und auf die Dauer unhaltbar erscheinen.) Eine Krise ist im Anzug – Der Mann ohne Eigenschaften drückt die Kritik des Autors über den moralischen Stand der zeitgenössischen Zivilisation aus. Die
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Krise wäre am geplanten (aber nicht ausgeführten) Ende des Mann ohne Eigenschaften erfolgt, als der Held in den Ersten Weltkrieg ziehen sollte.11
Ulrich nimmt ›Urlaub vom Leben‹ Im Mann ohne Eigenschaften distanzieren sich Held und Autor-Erzähler von der ›Wirklichkeit‹. Es ist das Jahr 1913; Ulrich hat gerade den Entschluss gefasst, »sich ein Jahr Urlaub von seinem Leben zu nehmen, um eine angemessene Anwendung seiner Fähigkeiten zu suchen« (MoE 47). Die Orientierung in einer sterbenden Kultur ist nicht leicht: Ulrich hatte keine Befriedigung auf den Wegen gefunden, die ihm offenstanden, als Soldat, als Ingenieur und als Akademiker (alles Wege, die Musil selber eingeschlagen und dann verworfen hatte).12 Ulrich beschließt also, für zwölf Monate so zu leben, als ob alles nur provisorisch wäre, als ob sein Leben in dieser Periode nur ein wissenschaftliches Experiment wäre, das gewissermaßen außerhalb des Gebiets der Moral vor sich ginge.13 Wer die ›Wirklichkeit‹ ablehnt, nimmt für sich eine ungewöhnliche Freiheit in der Gestaltung seines Lebens in Anspruch. Und wer ist dieser Ulrich? Ulrich ist für Musil, wie Nadermann es formuliert, die »Utopie seiner selbst«,14 also der Mensch, der Musil selber gewesen wäre, wenn er an der psychologischen, gesellschaftlichen und physiologischen Gestaltung seines Selbst hätte mitarbeiten können (!). Durch den Abstand zum jüngeren Selbst – zur Zeit, als er intensiv am Roman zu arbeiten anfängt, ist der Autor über vierzig, der Romanheld dreiunddreißig (der Held bleibt immer gleich alt, während der Autor im Verlauf der Arbeit am Roman die letzten Jahrzehnte seines Lebens verbraucht) – schafft Musil eine ironische Distanz zu seinem fiktiven Selbst. Ulrich ist davon überzeugt, dass zwischen dem inneren Menschen und den Äußerlichkeiten seines Lebens ein Bruch entstanden ist (genau so, wie Bonadeas öffentliches und privates Verhalten nicht miteinander versöhnt werden können). Es ist Musils Absicht, so argumentiert Matthias Luserke, _____________ 11
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In einer Notiz in seinem Nachlass schreibt Musil: »Alle Linien münden in den Krieg.« (MoE 1902) Musils Nachlass wurde als CD-ROM veröffentlicht – vgl. Robert Musil: Der literarische Nachlass. Hg. v. Friedbert Aspetsberger, Karl Eibl u. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1992. Im Folgenden werden die Nachlasstexte mit Mappengruppe (römisch), Mappe (arabisch) und Seite (arabisch) nachgewiesen, wie etwa: II/3/41. Vgl. Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 93-247. Vgl. dazu Annette Gies: Musils Konzeption des ›Sentimentalen Denkens‹ – Der Mann ohne Eigenschaften als literarische Erkenntnistheorie. Würzburg 2003, S. 171. Peter Nadermann: Schreiben als anderes Leben: eine Untersuchung zu Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Frankfurt a.M. 1990, S. 10.
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einen Beitrag zur Heilung dieses Bruchs zu leisten: »[Musil] formuliert […] den Willen zur Einheit von Verstand und Gefühl, den Willen […] das Bewußtsein [des Menschen] vertikal zu erweitern, bis zur Einbeziehung aller denktranszendenten emotionalen, sensuellen usw. Erlebnisweisen des Menschen.«15 Ulrich ist Zeitgenosse und dieser Unterschied zwischen Sein und Schein, zwischen äußerem und innerem Menschen ist typisch für das Zeitalter. Der Begriff ›Mann ohne Eigenschaften‹ wurde für Ulrich von seinem Jugendfreund und Rivalen Walter geprägt.16 Für Walter ist ein Mann ohne Eigenschaften »›[…] der Menschenschlag, den die Gegenwart hervorgebracht hat!‹« (MoE 64). Die Formel ›Mann ohne Eigenschaften‹ bezeichnet also sowohl diesen einen ungewöhnlichen Menschen als auch die zeitgenössische Menschheit im Ganzen. Der Begriff ist begrenztgrenzenlos: Er ist sowohl als Zeitphänomen zu verstehen als auch zeitlos, insofern, als er in der Mystik seine Wurzeln hat.17 Dieser Begriff hängt auch mit einem anderen Aspekt des Romans zusammen, nämlich der Relativierung des Geschehens, dem Gefühl, dass alle Handlungen in dem Kontext von anderen möglichen aber zufällig nicht ausgeführten alternativen Handlungen verstanden werden können. Dieses Spiel der Möglichkeiten ist auch mit einem wiederkehrenden Bild im Mann ohne Eigenschaften verbunden. Auf dem Weg nach Hause gegen Ende von Teil II wird Ulrich von einer Prostituierten angesprochen. Er interpretiert ihren Annäherungsversuch als »die menschliche Komödie[,] auf der Schmiere gespielt« (MoE 652). Ein anderer Mensch, mit dem er sich innerlich beschäftigt, kommt ihm jetzt in den Sinn, nämlich der Mörder »Moosbrugger, der krankhafte Komödiant, der Prostituiertenjäger« (MoE 652). Immer wieder wird im Text des Mann ohne Eigenschaften für die ›Wirklichkeit‹ die Metapher des Theaters verwendet. Musil vertauscht das Wirkliche und das Fiktive: Weil das Innenleben des Menschen – das Gebiet der echten Gefühle – nicht zum Ausdruck kommt, besteht die öffentliche Wirklichkeit aus Handlungen, die einfach zur Schau gestellt werden, die sich auf der ›Bühne‹ der Öffentlichkeit abspielen. Es ist aber für den Helden nicht leicht, zum zeitgenössischen Leben Abstand zu halten, weil die Strömung der Wirklichkeit ihn mitreißt. Ein hoher österreichischer Aristokrat will ihn für ein Unternehmen gewinnen, das eine Überzeugung verkörpert, die Ulrichs ›Urlaub‹ entgegengesetzt ist: Graf Leinsdorf will eine Bewegung ins Leben rufen, die geradezu die _____________ 15 16 17
Matthias Luserke: Wirklichkeit und Möglichkeit: Modaltheoretische Untersuchung zum Werk Robert Musils. Frankfurt a.M., Bern, New York u.a. 1987, S. 43. Vgl. MoE, Teil I, Kapitel 17: »Wirkung eines Mannes ohne Eigenschaften auf einen Mann mit Eigenschaften« (S. 60-67). Vgl. dazu Jochen Schmidt: Ohne Eigenschaften: Eine Erläuterung zu Musils Grundbegriff. Tübingen 1975, S. 12.
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Kraft und Überlebensfähigkeit der Vorkriegsgesellschaft feiern soll. Sie wird später schlicht »die Parallelaktion« (MoE 87) genannt, weil sie einer aus demselben Glauben geborenen Bewegung in Preußen entstammt. Eine Vielfalt von Komitees wird gegründet, deren Funktion darin besteht, die Idee zu entdecken, mit deren Hilfe das siebzigste Jubiläum des ›Friedenskaisers‹ Franz Joseph I. am besten gefeiert werden kann. (Inwiefern dieses Unternehmen ironisch untergraben wird, ist sofort daran erkennbar, dass alle Leser des Romans wissen, dass der Friedenskaiser vor der geplanten Feier gestorben ist, dass ›sein‹ Frieden in den fürchterlichen Frontkämpfen des Ersten Weltkriegs verloren ging und dass das österreichisch-ungarische Weltreich im Jahre 1918 zur Zeit des geplanten Festes schon im Sterben lag und bald von einer Republik ersetzt wurde.) Aber dieses fiktive, dem Scheitern geweihte Unternehmen hat auch einen positiven Bezug. Es kann als Anregung für eine Idee Ulrichs angesehen werden, die er führenden Teilnehmern der Parallelaktion unterbreitet, nämlich als satirischer Prototyp des so genannten »Erdensekretariat[s] der Genauigkeit und Seele« (MoE 597). Im Erdensekretariat sollten, nach Ulrichs Auffassung, die Energien vieler Menschen in einen Versuch zusammenfließen, die Errungenschaften der Wissenschaft mit einer systematischen Erforschung der Welt der Gefühle zu kombinieren und auf diesem Weg die Zukunft der Zivilisation mitzugestalten.18 Als Ulrich für diese Idee plädiert, lehnt sie Paul Arnheim, ein preußischer Unternehmer und Intellektueller, entschieden ab. Für Arnheim stand bekanntlich der Industrielle und Autor Walter Rathenau Modell.19 Arnheim ist Realist, er verteidigt das Erbe von Ulrichs Vater, dem Wirklichkeitsmenschen, gegen die Ansichten des Sohnes, des Möglichkeitsmenschen. Ulrich, der gerade seinen ›Urlaub vom Leben‹ – also seinen Rückzug aus der Welt der altösterreichischen Wirklichkeit – beginnen will, verfängt sich in dem Netz von Leinsdorfs Beziehungen. Als unabhängiger Denker verleugnet Ulrich die österreichische Gesellschaft und findet sie überholt. Am Anfang des 20. Jahrhunderts ist diese Epoche des Imperialismus schon ein Anachronismus und zur Zeit der Niederschrift gehört das Reich schon der Geschichte an, aber gerade diese ›Wirklichkeit‹ (die kaum ein Jahr nach Anfang der Erzählung im Weltkrieg untergehen wird) überwältigt ihn und zwingt ihn, ihren Willen zu tun. In einer Umkehrung des Wortsinnes, wie er sonst im Mann ohne Eigenschaften gebraucht wird – eine _____________ 18
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Obwohl die Parallelaktion als Satire konzipiert wurde, ist vielleicht in folgendem Tagebucheintrag eine Anregung für dieses Unternehmen auszumachen: »Nietzsche […] und zehn geistige Arbeiter, die das thun, was er nur zeigte, brächte uns einen Culturfortschritt von tausend Jahren.« (Robert Musil: Tagebücher. 2 Bde. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1976, Bd. I, S. 50) Vgl. Corino: Robert Musil, S. 870-875.
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linguistische Ambivalenz, die für den Roman typisch ist – findet Ulrich die Kraft der bestehenden Verhältnisse »überraschend wirklich« (MoE 86). An späterer Stelle im Mann ohne Eigenschaften sieht Ulrich ein, dass der ›Urlaub vom Leben‹ nirgendwo hingeführt hat und dass seine Energie eher in den Versuch investiert werden sollte, mit seiner Schwester zusammenzuleben und die Welt des Inneren auf diese Weise gründlich zu erforschen (vgl. MoE 801).
Die Wende nach innen – Gedanken und Gefühle Die Außenwelt bietet keinen festen Halt für den Schriftsteller des Modernismus. Man zieht sich in die Festung des Bewusstseins zurück. Was Peter Childs über die Werke der Modernisten im Allgemeinen schreibt, trifft auch für Musils Roman zu: »Modernist writing ›plunges‹ the reader into a confusing and difficult mental landscape which cannot be immediately understood but which must be moved through and mapped by the reader in order to understand its limits and meanings.«20 Musil nennt diesen inneren Bereich das »Senti-Mentale«21 – es ist ein Begriff, der das Gebiet der Gedanken und Gefühle umfasst. Es ist sowohl ein Zufluchtsort als auch ein besonderes Forschungsgebiet für Musil, weil er hier einen grundlegenden Unterschied im Denken und Fühlen moderner Menschen entdeckt, wenn diese Innenwelt mit den Erfahrungen früherer Generationen verglichen wird. Musil formuliert: »[Es muss] irgend einmal eine bis an den Grund reichende Veränderung im Verhalten des Menschen gegeben habe[n], die ungefähr so gewesen sein müsse, wie wenn ein Verliebter nüchtern wird: er sieht dann wohl die ganze Wahrheit, aber etwas Größeres ist zerrissen worden« (MoE 874). Die Schriftsteller des Modernismus filtern die Welt durch die Gehirne ihrer Charaktere und befassen sich eingehend mit dem Filterungsprozess.
Angles of vision; points of view Bei englischen Romanen des Modernismus liegt der Subjektivismus der Erzählung oft auf der Hand. In Virginia Woolfs Roman The Years (1937) wandert die Erzählperspektive immer wieder von einer dargestellten Person zur nächsten, wobei eine bestimmte Szene manchmal aus der _____________ 20 21
Peter Childs: Modernism. London, New York 2000, S. 4. Vgl. Musils Erklärung dieses Begriffs im Nachlass, II/3/41. Vgl. auch Gies: Musils Konzeption des ›Sentimentalen Denkens‹.
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Perspektive zweier Charaktere erlebt wird und die dadurch entstandenen Bilder und Deutungen nicht voll zur Deckung kommen. Im Mann ohne Eigenschaften werden die Leser durch den ruhigen und teilweise ironischen Erzählton davon abgelenkt, dass sich in dem Roman die dargestellte Welt aus den Wahrnehmungen und Gefühlen vieler einzelner Menschen zusammensetzt. Es sind Individuen, die gemeinsam durch ihre Vorstellungen die Substanz der im Mann ohne Eigenschaften dargestellten ›Wirklichkeit‹ produzieren. Musils Text weist eine Folge von Bewusstseinszuständen auf, die jeweils von den individuellen Menschen abhängig sind, die der Reihe nach im Zentrum der Handlung stehen. Es entsteht dadurch eine Art Erzählteppich mit Löchern, wo das Gewebe fehlerhaft ist, wo ein Muster nicht zu einem andern passt. Diesen Prozess erkennen wir zum Beispiel an der Stelle, wo der Erzähler die Fehlerhaftigkeit der Justiz betont, die Moosbrugger in stereotype Begriffe einzuordnen versucht, die mit seinem tatsächlichen Erleben sehr wenig zu tun haben: »Die Genauigkeit […], mit der der sonderbare Geist Moosbruggers in ein System von zweitausendjährigen Rechtsbegriffen gebracht wurde, glich den pedantischen Anstrengungen eines Narren, der einen freifliegenden Vogel mit einer Nadel aufspießen will […]« (MoE 247f.). Eine Situation, die auf der gegenseitigen Missdeutung von Absichten bei dem verliebten Paar Arnheim und Diotima beruht, wird ironisch veranschaulicht in der Kapitelüberschrift »Schweigende Begegnung zweier Berggipfel« (MoE 182)! Das, was in Romanen des Realismus ›Wirklichkeit‹ ist, ist in Musils Roman fragwürdig geworden. (Joseph Conrad lässt die zuversichtliche Weltanschauung der Europäer am Kontakt mit Afrika scheitern, eine kritische Einstellung, die folgendes Zitat aus seinem Roman Heart of Darkness [1902] veranschaulicht: »Once, I remember, we came upon a man-of-war anchored off the coast [of Africa]. It appears the French had one of their wars going on thereabouts. […] In the empty immensity of earth, sky, and water, there she was, incomprehensible, firing into a continent.«22) Durch den Kontakt mit anderen Welten entsteht ein sekundärer mentaler Stoff, ein Gewebe von gemeinsamen Vorstellungen, welche die Menschen eines bestimmten Zeitalters teilen. Man gestaltet unbewusst ein kollektives, aber weitgehend fiktives Zusammensein, eine für die Zivilisation des neueren Zeitalters hergestellte Weltanschauung, die einer kritischen Untersuchung der tatsächlichen Beziehungen des Individuums mit der Außenwelt nicht standhält. Die Krise, die sich im Modernismus ausdrückt, macht dieses Gewebe ›Wirklichkeit‹ fadenscheiniger als im zuversichtlichen Positivismus des 19. Jahrhunderts, aber im Unbewussten flicken die Zeitgenossen daran und tun so, als wären die Löcher nicht _____________ 22
Joseph Conrad: Heart of Darkness. London 1902, S. 20.
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vorhanden. Der Blick nach innen zeigt eine Vielfalt von geistig-emotionalen Erfahrungen auf – wahre Modi des Seins, die neben der kollektiven Fiktion der Wirklichkeit bestehen. Musil führt uns eine lange Reihe von subjektiv erfassten Erfahrungen vor, die von Menschen stammen, die voneinander grundverschieden sind: der geistesgestörte Moosbrugger, der in seiner Gefängniszelle die reale Welt verlässt und in einen wohligen Solipsismus versinkt;23 der Mogul, Arnheim, dessen privates Skulpturenmuseum das Leben schon längst verstorbener Männer vorführt, die weit intensivere Emotionen erlebten als er (vgl. MoE 187); der Soldat, General Stumm von Bordwehr, der in die ihm völlig fremde Hofbibliothek geht und sich von dort, beunruhigt durch die Vorstellung, dass die Hochburg des Geistes in der Tat ein Irrenhaus ist, schleunigst zurückzieht;24 der Erziehungsexperte, Lindner, dessen eigener Sohn unerziehbar bleibt;25 das Dienstmädchen, Rachel, das plötzlich erkennt, dass die neu gekaufte Unterwäsche ihrer bisher als Inbegriff der Moral verehrten Herrin ein Zeichen ist, dass die Gute sich auf einen Seitensprung vorbereitet (vgl. MoE 500); das Ehepaar, Walter und Clarisse, das ohne Erfolg versucht, seine sexuellen Spannungen beim gemeinsamen Klavierspiel zu sublimieren (vgl. MoE 48). Und wie stellt Musil das innere Leben seines Protagonisten, sein privates Denken dar? Es ist bei einer ironischen Erzählweise vielleicht nicht überraschend, dass gerade das Wichtige als nebensächlich getarnt wird. Musil analysiert Ulrichs Bewusstsein in einem Kapitel mit der selbstkritischen Überschrift: »Ein Kapitel, das jeder überschlagen kann, der von der Beschäftigung mit Gedanken keine besondere Meinung hat« (MoE 111). In diesem Kapitel wird Ulrich dargestellt, wie er ein mathematisches Problem zu bewältigen versucht – also geradezu ein Paradebeispiel eines schwerarbeitenden Gehirns. Hier verwendet Musil für die Denkprozesse in der Psyche seines Helden das Bild eines Hundes mit einem langen Stock im Maul, der durch eine enge Türöffnung hindurch will. Birgit Nübel hat die Entdeckung gemacht, dass das Bild von dem Philosophen und Physiker Ernst Mach stammt. Dies macht deutlich, dass Musil nach Anregungen sucht, die in seinem Roman dargestellte Welt mit der außerliterarischen Wirklichkeit der Zeit zu verknüpfen.26 Ein Leser, der den Mann ohne Eigenschaften so liest, als wäre er ein typischer realistischer Roman, wird in diesem Kapitel keinen Fortschritt in der eigentlichen Handlung erkennen _____________ 23 24 25 26
Vgl. MoE, Teil II, Kapitel 87: »Moosbrugger tanzt«, S. 393-398. Vgl. MoE, Teil II, Kapitel 100: »General Stumm dringt in die Staatsbibliothek ein […]« (S. 459-465). Vgl. MoE, Nachlass-Kapitel 43, »Der Tugut und der Tunichtgut […]« (S. 1066-1072). Vgl. Birgit Nübel: Robert Musil. Essayismus als Selbstreflexion der Moderne. Berlin 2006, S. 493f.
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– er kann tatsächlich, von dieser Perspektive aus gesehen, das Kapitel überspringen. Aber in diesem Kapitel, wie in dem Mann ohne Eigenschaften als Ganzem, geht es Musil weder um die Wiedergabe einer Handlung noch um die Rekonstruktion eines privaten Augenblicks in der Gesamtheit der österreichischen Gesellschaft – Musil versucht das moderne Leben innerhalb/außerhalb des eigentlichen Romangeschehens als befremdliches und reformbedürftiges Phänomen darzustellen. So erzeugt er in seinen Lesern gerade den Abstand zur Gegenwart, der Ulrichs Denken kennzeichnet.
»The grammar of presentation« – das Infragestellen der Handlung des Mann ohne Eigenschaften In den Romanen des Hochrealismus können sich Leser leicht orientieren. Es ist, als ob die Erzähler den Lesern etwa folgende Worte ins Ohr flüstern würden: ›Sie können mir vertrauen. Ich kenne die Welt, von der ich schreibe. Sie besteht aus Gegenständen, die Bestand haben; aus Menschen, deren Eigenschaften ich gut kenne und die ich Ihnen genau beschreiben werde, aus Situationen, die zwar komplex sind, die ich jedoch ausreichend erklären kann. Ich weiß, mein Wissen hat Hand und Fuß und ich gebe es an Sie weiter.‹ Die Leser werden typischerweise am Anfang des entsprechenden Romans in eine fiktive vergangene Situation zurückgeführt, Personen werden vorgestellt, eine Handlung fängt an, die die Leser in den Kreis der vorgestellten Personen hineinzieht und sich in meist gleichmäßigem Tempo bis zum Ende des Romans fortsetzt. Im Roman der Moderne wird das Erzählen problematischer: In Thomas Manns Der Zauberberg zum Beispiel wird der Erzählfluss zum ›Mitspieler‹; die Zeit verlangsamt sich oder fließt schneller, je nach dem subjektiven Gewicht der zu erzählenden Erfahrung für den Helden. In Der Steppenwolf teilt Hermann Hesse sein Werk in verschiedene Segmente ein, die sich überschneiden, von verschiedenen ›Erzählern‹ geschrieben werden und deren Bezug zueinander schwer zu erkennen ist, weil der Leser nicht genau weiß, welche der hier geschilderten Erlebnisse ›wirklich‹, welche nur geträumt sind. Robert Musil geht im Mann ohne Eigenschaften einen eigenen Weg: Er berichtet von Erfahrungen, die zum Teil in seinen eigenen Erinnerungen fest verankert sind (mit einigen Ausnahmen, darunter die durch den Filter der Satire dargestellte Parallelaktion, ein Unternehmen, das offenbar von Musil erfunden wurde, obwohl die Menschen, die er hier porträtiert, auf
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lebenden Modellen basieren).27 Dabei zerlegt er die eigene und die allgemein-österreichische Vergangenheit, sorgt aber dafür, dass sich die Leser von weiten Teilen der dargestellten Welt distanzieren, indem er sich verschiedener literarischer Mittel bedient: Er unterbricht seinen Erzähltext immer wieder mit essayistischen Einschüben, die das Geschehen kommentieren und relativieren.28 Während die Schriftsteller des Realismus das unmittelbare Erleben und die Gegenständlichkeit der Welt darstellen, verwendet Musil immer wieder abstrakte Wörter, verfremdende Bilder und Begriffe, die die Leser zum Nachdenken auffordern (wie etwa ›Wirklichkeit‹, ›Moral‹, ›Geist‹, ›Seele‹, ›der andere Zustand‹).29 Der Held versucht die Außenwelt in ein Netz innerer Vorstellungen einzufangen, wie etwa die »Utopie des exakten Lebens«30 und die »Utopie des Essayismus«.31 (Musil ärgerte sich darüber, dass einige Schriftsteller ihn eher als Denker denn als Dichter einstuften, doch kann man dieses Urteil leicht verstehen!) Es ist gar nicht verwunderlich, dass ein mit Musil befreundeter Mathematiker den Begriff des ›Gedankenexperiments‹ auf Musils Roman anwendete.32 Aber nicht nur der Modernismus an sich, sondern der Lebensweg des Autors und die Zeitgeschichte überhaupt arbeiteten am Mann ohne Eigenschaften mit.
Genese des Mann ohne Eigenschaften, Konzepte und Schwierigkeiten der Ausführung Musil hatte in den 1920er Jahren eine lange Folge von Romanen geplant.33 Mit der Zeit aber verdichteten sich seine Pläne um zwei Hauptthemen mit einer Zentralfigur, Ulrich, einem noch relativ jungen, bürgerlichwohlhabenden, gutaussehenden Privatgelehrten und Frauenhelden. Das _____________ 27 28 29 30 31
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Vgl. Corino: Robert Musil, S. 843-935. Wie wir schon gesehen haben, fungieren manche Kapitelüberschriften als Wegweiser für diesen Prozess. Innerhalb von wenigen Zeilen auf einer Seite aus Teil II, Kapitel 40, erscheint zum Beispiel das Wort ›Geist‹ mehr als ein Dutzend Mal (vgl. MoE 152). Vgl. MoE, Teil II, Kapitel 61, S. 244-247, wobei er die Frage zu beantworten versucht: Wie kann man sein Leben nach den Prinzipien der Wissenschaft führen? Vgl. MoE, Teil II, Kapitel 62, S. 247-257. Dies ist ein weiterer, aber pragmatischerer Versuch, sein Leben geistig zu ordnen, mit dem Blick auf das Zukünftige gerichtet, weil die Prinzipien, an denen sich die westliche Moral orientiert, überholt sind und nicht mehr funktionieren. Vgl. dazu Philip Payne: Robert Musil’s The Man without Qualities. A Critical Study. Cambridge 1988, S. 75-81. Vgl. Musil: Tagebücher, Bd. I, S. 353; vgl. auch die Liste von sieben potentiellen Romantiteln, ebd., S. 364.
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erste Unternehmen, in dem sich Ulrich verfängt, ist, wie wir oben sahen, die Parallelaktion. Dies war ein literarisches Vehikel für eine Studie über Europa in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, deren Haupthandlung sich in einer für die europäische Zivilisation typischen Metropole abspielt, die als ein nur leicht verkleidetes Wien erkennbar ist. (Hier wird den Lesern ein Querschnitt der geistigen, geschäftlichen, politischen und anderen gesellschaftlichen Bemühungen in der zeitgenössischen Welt angeboten. Der Autor bereitete sich mit intensiven Lektüren auf den Roman vor.34 Er nahm auch eine Reihe von repräsentativen Menschen unter seine ›sentimentale‹ Lupe – das heißt, in wiederholten einsamen Geistesexperimenten in seiner eigenen Wohnung drang er förmlich in ihre Psyche ein. Die Vorbereitung für diese inneren Porträts waren persönliche Beobachtungen seiner ›Versuchsobjekte‹ und die Analyse ihrer Schriften, die für Musil als ausgebildeten Psychologen den Zugang zu ihrem Innenleben freimachten. Auf diese Weise untersuchte Musil sie gleichsam ›von innen heraus‹ und schlich sich in ihre Sichtweise und Weltanschauung ein – er hatte in seinem Studium gelernt, seinen eigenen Geist als eine Art Laboratorium zu benutzen.) Musils Behandlung der Parallelaktion war in hohem Maße kritisch, weil sie sich mit einer zur Zeit der Niederschrift (in den späten 1920er Jahren bis zum Anfang der 1940er Jahre) bereits dem Untergang geweihten Phase der europäischen Zivilisation befasste, die Musil schon vor dem Untergang für wertlos hielt. Dieser Teil des geplanten Romans war also weitgehend auf die Vergangenheit ausgerichtet und entsprechend negativ. (Alle wichtigen Persönlichkeiten der Parallelaktion weisen mangelhafte Weltanschauungen und Charakterschwächen auf: Graf Leinsdorf – der Leiter der Parallelaktion, der diese Verantwortung dem Vertrauen schuldet, das ihm das Establishment entgegenbringt – besitzt weder den Verstand noch das Fingerspitzengefühl, um sich im Strom der von der Gegenwart ausgelösten Einflüsse über Wasser zu halten; Diotima, deren Salon Schauplatz des Geschehens um die Parallelaktion ist, findet hier die Gelegenheit, sich mit ihrem Schwärmen für die Literatur der Neuromantik zu schmücken und sich auch gegen ihren für ihr Gefühl viel zu vernünftigen Mann, einen hohen Beamten, zu behaupten; Arnheim stellt hier sein ungewöhnliches Allgemeinwissen zur Schau und tarnt so die geschäftlichen Interessen, die ihn nach Wien gebracht haben – er ist Waffenlieferant und will sich Zugang zu den galizischen Ölfeldern sichern; Clarisse, die Frau von Ulrichs Jugendfreund Walter, die sich nur am Rande der Parallelaktion bewegt, versucht ihre Bekanntschaft mit Ulrich, dem Eh_____________ 34
Vgl. Musil: Tagebücher, passim; Gunther Martens schreibt vom »Simultanschachspiel mit mehreren Wissenschaften und Wissensformen« (Gunther Martens: Beobachtungen der Moderne in Hermann Brochs Die Schlafwandler und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Rhetorische und narratologische Aspekte von Interdiskursivität. München 2006, S. 22).
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rensekretär der Parallelaktion, auszunutzen, indem sie ihn für ihr Projekt eines Nietzsche-Jahrs zu gewinnen versucht.35) Doch hat diese Kritik auch eine positive Seite, insofern, als dabei eine neue Moral als Maß verwendet wird – allerdings eine Moral, die noch keine feste Form angenommen hat.36 Musils Versuche, diese moralische Neuordnung in einer von ihm konzipierten möglichen Zukunft der Zivilisation zu veranschaulichen, werden nur schattenhaft realisiert, weil er den Mann ohne Eigenschaften nicht zu Ende schreiben konnte.37 Das zweite große Thema sollte im zweiten Buch des Mann ohne Eigenschaften (von Teil III an) das Gleichgewicht im Roman wieder herstellen und eine Botschaft für die Zukunft der europäischen Zivilisation enthalten. Da aber dieses zweite Buch nicht fertig wurde, wiegt das dort dargestellte Positive die Kritik des ersten Buches nicht auf. Im zweiten Buch werden Handlungsstränge des ersten fortgesetzt, doch liegt das Hauptinteresse auf dem Zusammenleben des Helden mit seiner Schwester Agathe, deren erster Mann sehr früh gestorben ist und die zur Zeit des Todes ihres Vaters nicht mehr zu ihrem zweiten Mann zurückkehren will. Ulrich hat sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen, aber nach dem Tod des Vaters – ein Ereignis, welches mitten in seinen ›Urlaub vom Leben‹ fällt – kommen sie wieder zusammen, um sich auf das Begräbnis vorzubereiten. Genauso wie Ulrich keine »angemessene Anwendung seiner Fähigkeiten« (MoE 47) gefunden hat und sich in einer Lebenskrise befindet (von der die Kapitel am Ende des ersten Buches berichten), so befindet sich auch Agathe in einem Geisteszustand, der ihr ganzes bisheriges Leben als verfehlt verurteilt und sie bis an den Rand des Selbstmordes treibt. Agathe und Ulrich hatten eine geschützte Kindheit in gutbürgerlichen Verhältnissen und wurden von der Kultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts geprägt; sie wollen aber beide mit ihrem eigenen historisch bedingten Selbst brechen. Bruder und Schwester bauen eine kleine andere Welt innerhalb dieser Gesellschaft auf, eine ›Insel‹ 38 des anderen Benehmens in _____________ 35 36 37
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Ulrich ist selber mitschuldig an diesem Interesse – er hat ihr Nietzsches Werke zur Hochzeit geschenkt (vgl. MoE 49)! Vgl. zum Beispiel die so genannte »Moral des nächsten Schritts« (MoE 733). Zu der Arbeit am Roman sowohl vor als auch nach dem Erscheinen der zwei Bücher des Mann ohne Eigenschaften zu Lebzeiten Musils vgl.: Walter Fanta: Die Entstehungsgeschichte des Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil. Wien 2000. Einen guten Überblick über die Entstehung des Romans bietet die Grafik auf S. 53. Vgl. Teil III, Kapitel 8, »Familie zu zweien«: Agathe hat die Möbel in dem Haus des verstorbenen Vaters umgestellt, um »eine höchstpersönliche Halbinsel« (MoE 717) zu schaffen. Diese Neuordnung ist eine bewusste Auflehnung gegen den Ordnungssinn des Vaters, unter dem sie und Ulrich gerade in diesem Familienhaus gelitten hatten. Das Bild der »Insel ihrer Kindheit« (MoE 719) wird in diesem Kapitel verwendet. Vgl. auch Teil II, Kap. 29: »Erklärung und Unterbrechungen eines normalen Bewußtseinszustandes«, wo man den
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dieser dem Untergang geweihten Gesellschaft. Ulrichs ›Urlaub vom Leben‹ von Teil II des Romans weicht einem ›vacation within life‹: Ulrich und Agathes Suchen nach dem so genannten ›anderen Zustand‹ in Teil III. Wenn jemand sich in dieser senti-mentalen Verfassung befindet, dann verschwindet der Abstand des Geistes zu seiner Umgebung. Zugleich aber steht sie in einer engen Beziehung zur Ethik und zur Güte. In der Erforschung dieses von Mystikern beschriebenen Erlebnisses komplementieren sich die Geschwister.39 Ulrich hat sich schon seit seiner Jugend mit dem Denken befasst und weil ihm die letzte Klarheit fehlt und der von ihm erwünschte moralische Durchbruch nicht gelingen will, ist er geistig und seelisch ausgelaugt. Agathe ist lebensmüde und sogar dem Selbstmord nahe, doch ist sie geistig unverbraucht, aufnahmefähig und besitzt eine Willenskraft, die dem Bruder abgeht. Er denkt; sie will die Folgen seines Denkens in Taten umsetzen. Für Ulrich ist, wie wir schon sahen, die zeitgenössische Moral durch Heuchelei und Selbstinteresse geradezu unmoralisch geworden. Er will die Möglichkeiten des anderen Zustands ausschöpfen und eine neue Moral erdenken, er zögert aber, etwas zu tun, weil sein Gehirn immer wieder Gründe aufwirft, die einer bestimmten Handlung im Wege stehen. Agathe, von seiner Ablehnung der zeitgenössischen Moral überzeugt, bringt Ulrich dazu, mit ihr zusammen vom Standpunkt der gegenwärtigen Weltverfassung her ›Unrecht zu tun‹. Die Geschwister verfälschen das Testament des Vaters, weil sonst Agathes unliebsamer Mann den für sie bestimmten Anteil nach patriarchalischem Vorrecht in Anspruch nähme. Diese Handlung sollte die Geschwister in offene Feindschaft gegenüber der Gegenwart bringen. Die Folgen werden aber nicht in den von Musil veröffentlichten Teilen des Romans erzählt, weil die Handlung abbricht, bevor die Tat ans Licht kommt. Noch wichtiger für den Protest der Geschwister gegen die bestehende Ordnung der Welt (ein Protest, der als modernistischer Zug bewertet werden kann) ist ihr persönliches Verhältnis zueinander. Musil gibt Hinweise darauf, dass das Verhältnis sich in Richtung des Inzests bewegt.40 In der Forschung gibt es zwei Lager: Das eine, das den Inzest durch die Behandlung des Themas in den zu Lebzeiten Musils veröffentlichten Teilen für vorprogrammiert und für die Integrität des Romans für unvermeidlich hält, das andere, das sich _____________ 39 40
Satz findet: »alle Äußerungen des Inneren sind heute solche rasch wieder aufgelöste Inseln eines zweiten Bewußtseinszustands« (MoE 115). Musils Aufnahme vieler Zitate aus Martin Bubers Werk untersucht Dietmar Goltschnigg: Mystische Tradition im Roman Robert Musils. Martin Bubers Ekstatische Konfessionen im Mann ohne Eigenschaften. Heidelberg 1974. Vgl. Teil III: Kap. 12: »Heilige Gespräche. Wechselvoller Fortgang«: »wer das, was zwischen diesen Geschwistern vorging, nicht schon an Spuren erkannt hat, lege den Bericht fort, denn es wird darin ein Abenteuer beschrieben, das er niemals wird billigen können« (MoE 761).
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auf Musils unveröffentlichte Manuskripte aus den letzten Jahren seines Lebens stützt, wo Ulrich und Agathe sich zurückzuhalten scheinen. Musil selber scheint auch gegen Ende des Lebens noch keinen festen Entschluss gefasst zu haben, wie sich das Verhältnis der Geschwister zueinander entwickelt. Gerade diese Unentschiedenheit – diese Offenheit der Möglichkeiten für die Entwicklung der Handlung, welche Musils Denken entspricht; auch der Zivilisation stehen viele mögliche Entwicklungen zur Verfügung – kann als ein Charakteristikum des Romans der Moderne gesehen werden und vielleicht hätte Musil die Frage, ob Bruder und Schwester Inzest begehen, auch dann noch in Ungewissheit schweben lassen, wenn er sein Werk zu Ende geführt hätte. Musil liebte das Schwebende; im Gespräch mit Oskar Maurus Fontana um 1932 sagte er über den Mann ohne Eigenschaften: »Am liebsten wäre mir, ich würde am Ende einer Seite mitten in einem Satz mit einem Komma aufhören.«41 Der Mann ohne Eigenschaften ist also eine Fusion zweier schwer miteinander zu versöhnender Hauptthemen: zum einen die Kritik an der europäischen Kultur, wie sie hauptsächlich von einem Zeitgenossen in Wien erlebt wird; zum anderen ein äußerst problematisches Verhältnis zwischen einem Mann und einer Frau, welches Einblick gewähren sollte in eine mögliche Zukunft für die europäische Zivilisation.42 Was die Übersicht über das Werk besonders erschwert, ist nicht nur die Unabgeschlossenheit des Ganzen, sondern auch die Komplexität der Themen des Mann ohne Eigenschaften. Musil verwendete Ideen- und Schmierblätter, um sich im eigenen Roman zu orientieren.43 Zu Lebzeiten Musils wurden nur zwei Teile vollständig realisiert, nämlich der erste Teil Eine Art Einleitung mit 18 Kapiteln und der zweite Teil Seinesgleichen geschieht mit 104 Kapiteln, die zusammen den ersten Band bilden. Musil fing das zweite Buch an, das ursprünglich die vollständigen Teile III und IV enthalten sollte, aber erschöpft von der immensen Anstrengung, die seine Gesundheit schädigte, die ersten beiden Teile fertig zu schreiben, blieb er nach weiteren zwei Jahren mitten in dem dritten Teil (und zwar nach Kapitel 38 des zweiten Buches) stecken, und in den nächsten zehn Jahren gelang es ihm nicht, auch nur Teil III, geschweige denn Teil IV für den Druck bereit zu stellen. Die unmittelbaren Gründe für dieses Versagen waren Ermüdung, Musils Gesundheitszustand und der Aufstieg des Nationalsozialismus, der Musils Existenz als Schriftsteller bedrohte und ihn im Jahre 1938 ins Exil in die Schweiz trieb. Aber andere wichtige Faktoren waren die Schwierigkeit des _____________ 41 42 43
Zitiert nach: Karl Corino: Das Daimon der Möglichkeit: Vom Scheitern Robert Musils, in: Rowohlt-Literaturmagazin 30 (1992) [Siegreiche Niederlagen], S. 62-71, hier S. 66. Ulrich fragt sich, ob das Verhältnis mit seiner Schwester das Potential besitzt, sich »bis zu einer brausenden Gemeinschaft aller« (MoE 876) zu entwickeln. Vgl. Fanta: Die Entstehungsgeschichte, S. 312.
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Unternehmens selbst und die damit verbundene Unsicherheit darüber, wie die Hauptthemen weitergeführt und schließlich abgerundet werden sollten (darunter die Entwicklung der Parallelaktion, die Testamentsfälschung, das Verhältnis zwischen den Geschwistern, der Fortgang der MoosbruggerHandlung, die mit dem Schicksal von Clarisse, der emotional-labilen Frau von Ulrichs Freund Walter verbunden wird, wie sie langsam in den Wahnsinn hineingleitet).44 Für alle diese Themen gibt es in Musils literarischem Nachlass mehrere, oft sehr detaillierte Entwürfe, aber sehr viele wurden schon in den 1920er Jahren niedergeschrieben, und weil sich die Handlung und Struktur des Ganzen im Laufe der Jahre verändert hatte, passten sie nicht mehr in das neuere Konzept. (Der jüngere Protagonist der frühen Manuskripte, der damals andere Namen trug – Achilles und Anders, um nur zwei davon zu nennen – war viel unternehmungslustiger als sein Nachfahre Ulrich aus den veröffentlichten Segmenten des Mann ohne Eigenschaften: Er hatte zum Beispiel einen Versuch unternommen, den Gewalttäter Moosbrugger aus dem Gefängnis zu befreien. Auch mit der Unterstützung seiner tapfereren Schwester wäre es dem reiferen und vorsichtigeren Ulrich nie in den Sinn gekommen, etwas dermaßen Waghalsiges zu unternehmen.)45 Auch wenn äußere Verhältnisse und ein problematischer Gesundheitszustand die Arbeit am Roman nicht aufgehalten hätten, stand seiner Fertigstellung noch vieles im Weg. Als Gegner der zeitgenössischen Wirklichkeit wollte Musil das Potential der Zukunft offenhalten. Die ästhetische Gestalt des Werks durfte dementsprechend nicht zu fest sein. Ein Held ›ohne Eigenschaften‹ verlangte ein Werk, das seine Möglichkeiten nicht einschränkte. Wo andere Schriftsteller eine bestimmte Romanstruktur vor der Niederschrift festlegen und sich daran halten, wollte Musil in seinem Werk noch die neuesten Entwicklungen der Zeitgeschichte mitklingen lassen. Deshalb enthält Der Mann ohne Eigenschaften Hinweise auf Entwicklungen, die lange nach der eigentlichen Zeitspanne der Handlung selbst stattfinden.46 In seiner Einführung in die englische Übersetzung von Auszügen aus dem Nachlass des Mann ohne Eigenschaften (eine Auswahl, die _____________ 44 45 46
Vgl. Fanta: Die Entstehungsgeschichte, S. 5. Einen Einblick in Musils frühe Konzeptionen der Materialien, aus denen der Roman später entstand, gibt Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Urfassung 1922. Aus dem Nachlaß hg. v. Simona Vanni. Pisa 2004. Ein Beispiel ist die Anspielung darauf, dass der auf Walther Rathenau basierte Großgeschäftsmann Arnheim, wie Rathenau selber, nach dem Weltkrieg Minister in der Weimarer Republik werden könnte – vgl. MoE 96; ein weiteres ist der Hinweis im Titel des dritten Teils des Romans: Der ursprüngliche Titel ›Die Verbrecher‹ wird durch die Formel ›Ins Tausendjährige Reich‹ ersetzt – eine Formulierung, die zwar auf das die Welt der Wirklichkeit angreifende Experiment der Geschwister hinweist, nämlich das Millennium der Mystiker – aber unverkennbar auch noch den Größenwahn der Nationalsozialisten ins Auge fasst.
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auf tiefen Nachlasskenntnissen basiert), schreibt Burton Pike Folgendes: »[T]he extent to which Musil regarded this novel as experimental was extraordinary. […] From his point of view, the entire text ought to have remained ›open‹ from the beginning until it had all been written and he could then revise the text as a whole.«47 Die Musil-Forschung tut sich schwer mit der Interpretation seiner Nachlass-Manuskripte; Musil selber hatte aber eine weit schwierigere editorische Belastung – er gab im Mann ohne Eigenschaften sein eigenes Leben heraus.
Die Mythologisierung des Autobiografischen Das Verhältnis von Ulrich und Agathe basiert auf dem Zusammenleben von Musil und seiner Frau Martha – gelegentlich nannte Musil sie ›Schwester‹ als Ausdruck der Zuneigung und Harmonie, die ihr Eheleben prägten. Im Tagebuch weist Musil auch auf das kurze Leben des ersten Kindes seiner Eltern hin, einer Tochter namens Elsa, die noch vor seiner Geburt starb – mit dieser Schwester betrieb er, wie er es formulierte, »einen gewissen Kultus«;48 das verstorbene Kind lebt wieder im Roman, allerdings ist sie jetzt keine ältere, sondern die jüngere Schwester von Musils Persona, Ulrich. Agathe und Ulrich sind einander körperlich ähnlich und während sie eine Wohnung teilen, fühlen sie sich wohl in der Gesellschaft des anderen. Agathe übernimmt die Führung in entscheidenden Augenblicken, etwa indem sie die Handschrift des Vaters im Testament fälscht.49 Ulrich zeigt eine für einen Mann im Zeitalter des Patriarchalismus außergewöhnliche Empfindsamkeit.50 Ihr Verhältnis bietet eine neue Gewichtsverteilung in den Beziehungen von Männern und Frauen. Sie sind einander so nahe geworden, dass man fast sagen könnte, sie schmelzen zu einem Fabelwesen zusammen, das aus einer hermaphroditischen Gestalt mit vier Beinen und vier Armen besteht. Wie viele andere Schriftsteller des Modernismus51 treibt Musil manchmal das Spiel mit der Mytho_____________ 47
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Burton Pike: Preface, in: Robert Musil: The Man without Qualities. 2 Bde. Hg. v. Burton Pike. New York 1995, Bd. II, S. xi-xvi, hier S. xif. Obwohl jede Manuskriptseite schon unzählige Male verändert und neu formuliert worden war, hatten die Drucker des Mann ohne Eigenschaften enorme Schwierigkeiten mit Musil, der die Fahnenabzüge verwendete, um seine Kapitel erneut umzuschreiben. Musil: Tagebücher, Bd. I, S. 952. Siehe MoE, Teil III, Kapitel 15, »Das Testament«, S. 792-802. Unter Umständen fühlt sich Ulrich »schmal, zart, dunkel und weich wie eine im Wasser schwebende Meduse, sobald er ein Buch las, das ihn ergriff« (MoE 159). Die Schriftsteller des Modernismus suchten einen anderen Halt und griffen auf Strukturen zurück, die ihnen die Geschichte der Zivilisation anbot, vor allem auf die Kultur der Antike. Stevick formuliert folgendermaßen: »[the] modernist imagination [uses] myth without
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logie sehr weit. Musil war von Isis und Osiris fasziniert und schrieb ein Gedicht zu diesem Thema, von dem er behauptete, es »enthalte in nucleo den Roman«.52 Weil der Roman unvollendet blieb, wissen wir nicht, wie Musil das Verhältnis der Geschwister zueinander entwickelt hätte, ob sie tatsächlich Inzest begangen hätten, ob und wie ihr Verhältnis enden würde, was aus der Testamentsfälschung oder anderen Episoden der Handlung geworden wäre. Mit Sicherheit aber hat Der Mann ohne Eigenschaften starke Wurzeln in der Vergangenheit der Zivilisation, insbesondere in der Welt der klassischen Antike. Teil III des Romans hat nicht nur einen Bezug zur ägyptischen Mythologie, sondern wie bei anderen Werken des Modernismus53 auch zur Welt der klassischen Antike.
Musil und die Vorsokratiker im Mann ohne Eigenschaften Die klassische Welt spielte am Anfang des 20. Jahrhunderts, zur Zeit als Musil an der Universität Berlin studierte, eine weit wichtigere Rolle als heute. Musil hatte dort Gelegenheit, die Geburtsstunde der griechischen Zivilisation durch Vorlesungen über die vorsokratische Philosophie zu erleben – ob er diese Vorlesungen tatsächlich besucht hat, wissen wir nicht, aber sein Interesse für die Vorsokratiker ist in seinen Tagebüchern belegt.54 Der Text des Mann ohne Eigenschaften bezeugt sein reges Interesse an einem Denken, das eher in sein eigenes Weltbild passte als die Anschauungen mancher neuzeitlicher Wissenschaftler. Oben sahen wir, wie Ulrich die pornographischen Bilder seines Vaters fast feierlich vom Ofenfeuer vernichten ließ. In der Welt der vorsokratischen Denker wurde das Feuer als eines der Grundelemente angesehen, aus denen sich das Universum zusammensetzt. Eine solche Anschauung verband einen Versuch, die Welt wissenschaftlich zu erfassen (natürlich aus einer früheren und notwendig naiven Perspektive), mit einem dichterischen Sinn des Zusam_____________
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any particular belief, as an organising structure for literary works« (Philip Stevick: Scheherezade runs out of plots, goes on talking ..., in: Bradbury (Hg.): The Novel Today, S. 186-216, hier S. 202). Das im doppelten Sinne klassische Beispiel dafür in der englischsprachigen Dichtung ist der Roman Ulysses von James Joyce – wo vierundzwanzig Stunden im Leben des Protagonisten Leopold Bloom auf die Erlebnisse des Odysseus auf der Rückreise durch das Mittelmeer nach Griechenland hinweisen und sie mutatis mutandis im zeitgenössischen Dublin wiederholen. Musil: Tagebücher, Bd. I, S. 847. Man denke an Ulysses oder an Thomas Manns Anspielung auf das Theater Griechenlands mit seiner ›Tragödie‹, der Erzählung Der Tod in Venedig, und dem anschließenden und damit verbundenen ›Satyrspiel‹ Der Zauberberg. Vgl. zu Musils Interesse für die Vorsokratiker und die antike Philosophie im Allgemeinen Musil: Tagebücher, Bd. I, S. 77, 341, 399, 472, 623, 756.
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mengehörens aller Dinge der Welt. Im Mann ohne Eigenschaften verbindet Musil die Strenge der Wissenschaft mit einem fast mystischen, grenzenverwischenden Sinn eines weltumfassenden Ganzen. (Diese Sichtweise ist eher mit der neuen Physik vereinbar als mit dem Positivismus, der das 19. Jahrhundert prägte, und dem Realismus, der sich daraus ableitete.) Folgende Übersicht über einen Strang aus dem Erzählstoff in frühen Kapiteln des zweiten Buchs bietet Einblick in diese vorsokratische Sichtweise. Wie wir oben sahen, zeichnet nach Der Mann ohne Eigenschaften, Teil III, Kapitel 2, »etwas Hermaphroditisches« (MoE 686) Agathes Wesen aus und lässt uns darüber nachdenken, dass Mann und Frau nicht so weit auseinander stehen, wie man in der Kultur zu Anfang des 20. Jahrhunderts zu denken pflegte. Das Prinzip der aus Grundelementen bestehenden Welt wird gleich am Anfang von Teil III, Kapitel 3, angeschlagen, wo Ulrich beim Erwachen »wie ein Fisch aus dem Wasser schnellt« (MoE 686). (Das Wasser war für den Vorsokratiker Thales das Grundelement.55) Ulrich, stark erfrischt, nimmt im Studierzimmer seines Vaters ein früher abgebrochenes mathematisches Problem wieder auf. Diese Arbeit befasst sich mit »physikalischen Gleichungen des Wassers« (MoE 687) und Ulrichs Gedanken, offenbar von der Begegnung mit der Schwester angeregt, drehen sich um Wasser, gleichsam um eine Art Auflösung der Eigenschaften von Mann und Frau in einem biologischen Urstoff, um das SichVermengen und dann wieder Sich-Bekämpfen dieser Urelemente: »›Wir alle sind ja Organismen […], die sich in einer unfreundlichen Welt mit aller Kraft und Begierde gegeneinander durchsetzen müssen. Aber mit seinen Feinden und Opfern zusammen ist jeder doch auch Teilchen und Kind dieser Welt […]‹« (MoE 687). Der Erzähler lässt wieder die in Teil II, Kapitel 116, dargelegten einander entgegengesetzten Prinzipien von Gewalt und Liebe durchblicken, was als Bezug zu Empedokles interpretiert werden kann.56 Das Hermaphroditische taucht in Teil III, Kapitel 3, wieder auf (vgl. MoE 688f.), wobei das Zusammensein von Bruder und Schwester Reflexionen sowohl im Helden als auch im Erzähler hervorruft, die wiederum direkt mit der Handlung des Romans selber – mit dem Inzestthema und der Testamentsfälschung – in Zusammenhang stehen. Wir erfahren hier, dass Ulrich sich als Kind »danach sehnte, ein Mädchen zu sein« (MoE 690), und durch ein besonders lebhaftes Gleich-nis (»[es] war, als ob man den Inhalt eines Glases Wasser ohne das Glas in die Hand nehmen wollte« [MoE 693]) werden wir sowohl an das Wasser als auch _____________ 55 56
»Aristotle says that Thales thought that the earth floated on water, and all things came from water« (K.S. Kirk, J.E. Raven: The Presocratic Philosophers. A Critical History with a Selection of Texts. Cambridge 1957, S. 88). Vgl. zum Beispiel Kirk, Raven: The Presocratic Philosophers, S. 326f., die Empedokles’ Grundelemente als »love« und »strife« übersetzen.
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(durch die Anregung der Etymologie, ein Gebiet, mit dem sich Musil intensiv beschäftigte) an die Vorstellung der wissenschaftlichen Gleich-ung erinnert. Einige Seiten weiter wird derselbe Strang des Erzählstoffs weitergesponnen. In Teil III, Kapitel 11, »Heilige Gespräche – Beginn«, gehen die vorsokratischen Bilder in das Thema der Moral über. Die Moral ist Sache des Bewusstseins, ein senti-mentales Urteil, welches das Gebiet des Philosophen betritt. Unter dem Einfluss von Gesprächen mit ihrem Bruder und von ihrer eigenen dadurch angeregten Lektüre denkt Agathe hier über ihren allzu bürgerlichen und pädagogisch-pedantischen zweiten Mann nach. Dabei scheint Heraklit ihre Gedanken mitzugestalten: »[…] das Feuer, das in dem ungezügelten Verlangen Agathes, ihren Mann zu beseitigen, als Stichflamme ausgebrochen war, [schwelte] unter der Asche weiter.« (MoE 746)57 Die Moral ist »eine Ordnung der Seele und der Dinge, beide umfassend« (MoE 746). Ein Satz weiter, und die ›Ordnung‹ wird schon in ihr Gegenteil gewendet: »Wenn Ulrich von Moral sprach, bedeutete es darum eine tiefe Unordnung« (MoE 746) – der Erzähler bietet eine Vorstellung an, dann, innerhalb von wenigen Zeilen, dreht er seine eigene Aussage um. Ein Sokrates (und auch ein Realist) würde wohl diese Umkehrung des Begriffs für irrational erklären, aber es wird auf der übernächsten Seite erklärt: »Die moralischen Werte [sind] nicht absolute Größen, sondern Funktionsbegriffe« (MoE 748), d.h. sie beruhen nicht auf ewigen unveränderlichen Gesetzen, sondern nehmen ihre Färbung aus der jeweiligen Situation. Was unter spezifischen Umständen falsch ist, ist unter anderen richtig – ein Heraklit hätte Musils Worten zugestimmt, weil für ihn alles im Fluss ist, nichts bleibt unverändert.58 Dies kann auch als der Einfluss der Bücher verstanden werden, die Agathe in der Bibliothek ihres Vaters zur Verfügung hat. Sie stöbert im »juridischen und philosophischen Büchernachlaß« (MoE 749) ihres Vaters. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass diese Bibliothek mit ihren Gipsstatuetten von Minerva und Sokrates (vgl. MoE 770) auch eine Sammlung vorsokratischer Aphorismen enthält. Auf jeden Fall strömt der Einfluss der Vorsokratiker auf Agathe und Ulrich ein, in wenigen Zeilen tauchen deren Grundelemente auf, ›Erde‹, ›Luft‹, ›Wasser‹ (hier aber vorläufig kein ›Feuer‹): »Zuweilen gingen sie im Garten spazieren, […] überall [trat] die von der Nässe aufgedunsene Erde zutage […] Die Luft war blaß wie etwas, das lange in Wasser gelegen hat.« (MoE 749) Auf der übernächsten Seite tauschen Agathe _____________ 57 58
Feuer ist für Heraklit das Urelement: »All things are in equal exchange for fire and fire for all things, as goods are for gold and gold for goods« (Kirk, Raven: The Presocratic Philosophers, S. 196). Das entsprechende Epigramm von Heraklit lautet: »Alles ist in Bewegung und nichts bleibt stehen. Man kann nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen« (zitiert nach: Die Vorsokratiker. Übersetzt u. hg. v. Wilhelm Nestle. Jena 1908, S. 118).
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und Ulrich Vorstellungen von dem »heiligen Weg« (S. 751) hin zu jenem ›anderen Zustand‹, von dem die Mystiker schwärmen. Agathe sagt: »›Man vergißt manchmal das Sehen und Hören, und das Sprechen vergeht einem ganz. Und doch fühlt man gerade in solchen Minuten, daß man für einen Augenblick zu sich gekommen ist.‹« (MoE 751) Ulrich antwortet so, als ob die Vorsokratiker ihm Worte ins Ohr flüstern würden. Hier haben wir in wenigen Zeilen nicht nur ›Erde‹, ›Luft‹ und ›Wasser‹, sondern auch das früher fehlende ›Feuer‹, auch wenn dieses letzte Element nicht von Ulrich erwähnt, sondern vom Erzähler nach Ulrichs Rede hinzugefügt wird: »Es ist dem ähnlich, daß man auf eine große spiegelnde Wasserfläche hinausschaut: das Auge glaubt Dunkel zu erblicken, so hell ist alles, und jenseits am Ufer scheinen die Dinge nicht auf der Erde zu stehn, sondern schweben in der Luft mit einer zarten Überdeutlichkeit, die beinahe schmerzt und verwirrt. Es ist ebensowohl eine Steigerung wie ein Verlieren in diesem Eindruck. Man ist mit allem verbunden und kann an nichts heran. Du stehst hüben und die Welt drüben, überichhaft und übergegenständlich, aber beide fast schmerzhaft deutlich, und was die sonst Vermengten trennt und verbindet, ist ein dunkles Blinken, ein Überströmen und Auslöschen, ein Aus- und Einschwingen. Ihr schwimmt wie der Fisch im Wasser oder der Vogel in der Luft, aber es ist kein Ufer da und kein Ast und nichts als dieses Schwimmen!« Ulrich dichtete wohl; doch das Feuer und die Festigkeit seiner Sprache hoben sich von ihrem zarten und schwebenden Inhalt metallen ab. (MoE 751; Hervorhebungen Ph.P.)
Wenige Seiten später – in Kapitel 12 »Heilige Gespräche. Wechselvoller Fortgang« – spricht Ulrich wieder vom »männlichen und weiblichen Prinzip, vom Hermaphroditismus der Urphantasie« (MoE 754). Er spielt also wieder auf die Art und Weise an, wie das, was Gestalt hat, dem Urchaos entstammt. In diesem Kapitel werden weitere Gedanken zur Moral dargelegt und die Geschwister versuchen wieder, etwas vom ›anderen Zustand‹ in Worte zu fassen; am Ende entdeckt Ulrich die pornographischen Bilder, die er mit fast feierlicher Rede, die seine ungewöhnlich starke Reaktion auf das anrüchige Benehmen seines von der Gesellschaft hochgelobten Vaters zum Ausdruck bringt, Stück für Stück in den brennenden Ofen wirft, in das »Feuer, das sie umschmelzen sollte« (MoE 769).
Abschließende Bemerkungen Der Blick auf Musil von England aus zeigt deutlich, dass der Modernismus nicht vom Ärmelkanal aufgehalten wurde, sondern sich europaweit ausbreitete. Einsichten, die für englischsprachige Schriftsteller wie James Joyce, W.B. Yeats, D.H. Lawrence, Joseph Conrad, Samuel Beckett und Virginia Woolf gelten, treffen auch auf Musil zu. Die Rezeption Musils in der englischsprachigen Kultur ist nicht so glücklich verlaufen, wie Musil es
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verdient hätte – dass Musil in dem Cambridge Companion to Modernism 59 auch nicht einmal erwähnt wird, ist charakteristisch für die insulare Einstellung vieler Briten und eher für diesen Essayband beschämend, als dass es Musils internationalen Ruf beeinträchtigt – aber die ausgeprägten modernistischen Züge im Mann ohne Eigenschaften sind durchaus als Zeichen einer engen kulturellen internationalen Verwandtschaft zu verstehen.
Rezeptionsgeschichte und Forschung Die Reaktion auf das erste Buch des Mann ohne Eigenschaften (1930) war außerordentlich stark, bei dem unvollständigen zweiten Buch (1932) aber konnte schon ein Nachlassen des Interesses erkannt werden. Zu Lebzeiten Musils erschienen keine weiteren Kapitel und die Veröffentlichung eines Nachlassbandes (1943) durch Martha Musil blieb fast ohne Resonanz. Musil wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit nahezu vergessen. 1949 erschien dann ein Artikel von Musils englischen Übersetzern Ernst Kaiser und Eithne Wilkins, der seine Bedeutung hervorhob.60 Im Jahre 1952 belebte die Veröffentlichung einer neuen Edition des Mann ohne Eigenschaften von Adolf Frisé das Interesse an Musil und löste gleichzeitig eine Kontroverse aus: Frisé habe in Nachlassteilen aus dem Roman willkürlich eingegriffen und eine im Urteil mancher Kritiker unzulässige Fortsetzung konstruiert. (Trotzdem bildete diese Edition die Grundlage für den Ausbau der Leserschaft und für das wachsende Interesse in der Literaturwissenschaft.) Erst durch die Veröffentlichung von Musils Tagebüchern (1976) und das Erscheinen einer Neuedition des Romans und der anderen literarischen Werke im Jahre 1978 sowie der Briefe im Jahre 198161 festigte sich der akademische Ruf eines Mannes, der sein Leben und sein unvergleichliches Wissen für den Ruf und für die Rezeption des Autors einsetzte. Seit den späten fünfziger Jahren ist die Sekundärliteratur zu Musil ständig gewachsen. Eine 2003 erschienene Studie von Tim Mehigan ist bei der Orientierung in diesem Bereich von besonderem Wert.62
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Vgl. Cambridge Companion to Modernism. Hg. v. Michael Levenson. Cambridge 1999. Vgl. Ernst Kaiser, Eithne Wilkins: Empire in Time and Space, in: Times Literary Supplement 48 (28. Oktober 1949), S. 689f. Vgl. Robert Musil: Briefe 1901–1942. 2 Bde. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1981. Vgl. Tim Mehigan: The Critical Response to Robert Musils The Man without Qualities. Rochester, New York 2003.
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Ein Mann ohne Eigenschaften im Wartesaal Europas. Erich Kästners Fabian. Die Geschichte eines Moralisten (1931) 1 »Die Geschichte eines Moralisten erzählen, heißt die Geschichte einer Moral erzählen, heißt erzählen, wie ein Mann eine neue Moral sucht«,1 schrieb Hermann Kesten in der Rezension zu Erich Kästners (1899–1974) Fabian. Die Geschichte eines Moralisten. Eine neue Moral zu suchen ist nicht das Privileg von Kästners Fabian, auch Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften in Musils gleichnamigem Roman, sucht eine neue Moral. Fabian hat auch sonst Ähnlichkeiten mit dem um ein Jahr älteren Helden, der im Übrigen wie Fabian anfangs dreißig ist. Hat sich Ulrich zu Beginn des Romans ein Jahr Urlaub vom Leben genommen und vertritt er das Ideal des essayistischen Lebens, so behauptet Kästners Fabian von sich, er lebe provisorisch. Vor dem Ersten Weltkrieg habe er »in einem großen Wartesaal«2 gesessen, der Europa hieß. »Und jetzt sitzen wir wieder im Wartesaal und wieder heißt er Europa! Und wieder wissen wir nicht, was geschehen wird. Wir leben provisorisch, die Krise nimmt kein Ende.« (F 52) Hat Ulrich mehrere Berufe ausgeübt, ohne dass ihn einer wirklich befriedigt hätte, so sagt Fabian von sich, es komme nicht darauf an, welchen Beruf er ausübe. Die Orientierungs- bzw. Ziellosigkeit, welche Ulrich in den Straßen Wiens herumirren und auf Abwege geraten lässt,3 wird in Fabian schon im ersten Kapitel ebenfalls dadurch bedeutet, dass Fabian nicht weiß, wo er ist: Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Wenn man am Wittenbergplatz auf den Autobus 1 klettert, an der Potsdamer Brücke in eine Straßenbahn umsteigt,
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Hermann Kesten: Abrechnung mit der Moral, in: Tagebuch 12 (1931), S. 1833f., hier S. 1833f. Erich Kästner: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten, in: Ders.: Möblierte Herren. Romane. München 1998, S. 7-203, hier S. 52. Im Folgenden mit der Sigle F belegt. »Aber nun hat er sich trotzdem dabei ein wenig vergangen und mußte einen Augenblick anhalten, um zu begreifen, wo er war, und den nächsten Weg nach Hause zu finden.« (Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978, S. 362)
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ohne deren Nummer zu lesen, und zwanzig Minuten später den Wagen verläßt, weil plötzlich eine Frau drinsitzt, die Friedrich dem Großen ähnelt, kann man wirklich nicht wissen, wo man ist. (F 10)
Wenn es Ulrich in Sachen Moral zum Generalstabsdienst zieht,4 so hat Fabian sich dazu entschlossen, erst einmal die Menschen daraufhin anzuschauen, ob sie sich dazu eignen, »anständig und vernünftig« (F 46) zu sein. Macht interessiert Fabian ebenso wenig wie Ulrich, der seine Offizierslaufbahn und die damit verbundene Vorstellung, sie sei »ein Instrument die Welt zu ihrem Heil [zu] brennen und [zu] schneiden«,5 ziemlich rasch als Irrweg erkannt hat. Eine weitere Gemeinsamkeit der beiden Helden ist die erotische Anziehungskraft, die sie auf Frauen ausüben, sie werden von ihnen begehrt, auch wenn sie auf sexuellem Gebiet eher zurückhaltend sind. Diese Eigenschaft teilen sie mit einem andern Helden derselben Epoche, mit Franz Biberkopf aus Döblins Berlin Alexanderplatz. Sowohl Ulrich wie Fabian machen zu Beginn des Textes die Bekanntschaft mit einer Nymphomanin, die mit einem Richter bzw. einem Rechtsanwalt verheiratet ist und im Laufe des Textes regelmäßig wieder auftaucht. Während Fabian vor Frau Moll die Flucht ergreift, zieht sich Ulrich in Bonadea widerwillig eine Geliebte zu. Die übereinstimmenden Züge der Helden sind so frappant, dass man in ihnen wohl einen neuen Typus eines männlichen Helden sehen muss: der auf das andere Geschlecht erotisch wirkende Intellektuelle, der nicht an den Machtspielen der Welt teilnimmt, der die Welt beobachtet und die Symptome einer Welt zusammenstellt, die sich in der Krise befindet. In seiner Untersuchung über den Zeitroman der Neuen Sachlichkeit stellt Martin Lindner fest, dass dieser eine besondere Vorliebe hat für einen »freischwebenden«6 Protagonisten, der sich zur Umwelt skeptisch und distanziert verhält. Diesem Heldentypus entsprechen offensichtlich sowohl der Mann ohne Eigenschaften wie Fabian, auch wenn Ulrich auf eine viel generellere und auch ausführlichere Weise die Probleme der Zeit reflektiert als Fabian, der uns nur selten reflektierend gezeigt wird. Die Übereinstimmungen sind jedenfalls frappant. Es geht im Folgenden vielmehr darum, Kästners Fabian als einen Roman der Moderne und insbesondere der Strömung der Neuen Sachlichkeit, zu der er unbestritten gehört, zu untersuchen und ihn im Kontext der Neuen Sachlichkeit zu verorten, und zwar im Gegensatz zu den bestehenden Arbeiten, nicht indem die bekannten Themen wie Darstellung der _____________ 4 5 6
»Und so zog es Ulrich in der Moral mehr zum Generalstabsdienst als zum alltäglichen Heldentum des Guttuns.« (Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 28) Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 36. Martin Lindner: Leben in der Krise. Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Stuttgart 1994, S. 362.
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Großstadt, Film, Sport usw. verfolgt werden,7 sondern indem die typischen Denkfiguren und anthropologischen Vorstellungen sowie die Diskussion der Normen im Roman untersucht werden. Kästners Selbstaussagen, sein Vorwort und der Anhang zum Roman, die einen fatalen Einfluss auf die Interpretationen des Romans ausgeübt haben, sollen nicht berücksichtigt werden.8 Die meisten Interpretationen lassen sich von diesen Texten, die in ihrem Stellenwert selbst wieder zu hinterfragen wären, leiten.9 Damit geht es der vorliegenden Interpretation weder darum, Kästner als Erzieher der Nation zu sehen,10 noch die Leistung des Romans vor allem auf dem Gebiet der Moral zu sehen.
2 Mit der Darstellung der Großstadt mit allen Begleiterscheinungen von den Verkehrsmitteln über die Bordelle, Rummelplätze, Cafés, Reklame und Zeitungsredaktionen reiht sich der Roman in die von den Romanen der Neuen Sachlichkeit bevorzugt behandelten Themen ein.11 Dasselbe gilt für seine Erzählweise: Der Roman ist in einem nüchternen, wenn auch oft ironischen Stil geschrieben. Obwohl größtenteils aus _____________ 7
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Dies macht z.B. Britta Jürgs: Neusachliche Zeitungsmacher, Frauen und alte Sentimentalitäten. Erich Kästners Roman Fabian. Die Geschichte eines Moralisten, in: Neue Sachlichkeit im Roman. Neue Interpretationen zum Roman der Weimarer Republik. Hg. v. Sabina Becker u. Christoph Weiß. Stuttgart 1995, S. 195-211. Die Untersuchungen des Romans sind, durch Kästners Vor- und Nachwort gelenkt, vor allem der Frage der Moral nachgegangen. Insbesondere die äußerst einflussreiche, weil stark verbreitete Interpretation von Egon Schwarz (Erich Kästner. Fabian. Die Geschichte eines Moralisten. Fabians Schneckengang im Kreise, in: Interpretationen. Romane des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1993, Bd. 1, S. 236-258) bleibt im Grunde bei einer Paraphrasierung stehen, die zudem unreflektiert die moralischen Kategorien der Adenauerzeit auf Kästner anwendet und ihm moralische Absichten unterlegt, die im Text nicht nachzuweisen sind. Claudia Albert weist zu Recht darauf hin, dass Vorwort und Anhang zur Textstrategie gehören, ihre Kritik schießt aber, indem sie weitgehend auf Textbelege verzichtet, weit übers Ziel hinaus. Besonders die Behauptung, dass Fabians Äußerungen zur Moral die Länge von Leitartikeln annehmen oder gar den Charakter einer Predigt hätten, lässt sich kaum belegen. Man hat überhaupt den Eindruck, dass die meisten, die über Fabian schreiben, wenig Bezug auf den Text nehmen (vgl. Claudia Albert: Konstruierte Autorenrolle: Erich Kästner zwischen Moral und Unterhaltung, in: Literatur für Leser 26/2 [2003], S. 82101). »Fabian als Erzieher?« lautet der Titel des Nachworts der Ausgabe von Gerhard Seidel im Aufbau-Verlag (Berlin, Weimar 1976), die verdienstvollerweise den Text der Erstausgabe bringt. Der Roman kommt in den einschlägigen Abhandlungen zur Neuen Sachlichkeit von Sabina Becker (Neue Sachlichkeit. 2 Bde. Köln, Weimar 2000) und Martin Lindner nur am Rande vor. Der Beitrag von Britta Jürgs bleibt sehr an der Oberfläche des Romans stecken, indem sie ihn einfach auf die Themen der Neuen Sachlichkeit hin untersucht.
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der Perspektive von Fabian erzählt wird, sehen wir doch kaum je in sein Inneres. Wir erhalten keine Gelegenheit, uns mit ihm zu identifizieren. Auffällig und an die Reportage erinnernd ist auch das rasante Tempo des Romans: Der ganze Roman dauert bloß zwölf Tage, was man dank der detaillierten Zeitangaben genau nachvollziehen kann.12 Am dritten Tag geht Fabian mit Cornelia Battenberg nach Hause, am vierten Tag wird er arbeitslos, am achten Tag verlässt ihn Cornelia, um Karriere als Filmschauspielerin zu machen. Ebenfalls am achten Tag geht Fabian mit einer verheirateten Frau ein neues Verhältnis ein, am neunten Tag erschießt sich Labude. Am zwölften Tag ertrinkt Fabian. In dieser Zeit ist der Mann von Frau Moll als Betrüger entlarvt worden, hat sie ein Bordell eröffnet und auch schon wieder geschlossen. Als weiteres charakteristisches Merkmal wären auch noch die Distanz schaffenden Kapitelüberschriften zu nennen.13 Dargestellt wird in Fabian eine Welt, die sich in der Krise befindet, was wiederum bezeichnend ist für die Literatur der Moderne, die ständig den Werteverlust thematisiert, am Ende der 1920er Jahre scheint sich dieses Krisenbewusstsein in der Richtung der Neuen Sachlichkeit noch gesteigert zu haben, so dass Martin Lindner seine Untersuchung des neusachlichen Zeitromans geradezu mit Leben in der Krise überschreiben konnte. Die ›Krise‹ ist, wie Lindner nachweist, eine zentrale Vorstellung sowohl der Lebensideologie wie auch der auf dieser fußenden ästhetischen Richtung der Neuen Sachlichkeit. Die Krise sollte letztlich in die Utopie eines neuen Lebens führen,14 wie es ja im Mann ohne Eigenschaften ausführlich thematisiert wird. Bei Kästner wie bei andern Autoren der Neuen Sachlichkeit führt die Krise zunächst einmal zu Überlebensstrategien in einer Welt, die durch äußerliche Konventionen gekennzeichnet ist, die aber wiederum in Auflösung begriffen sind.15 _____________ 12
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Die Tage sind ungleich auf die Kapitel verteilt: 1. Tag: 1.-3. Kap., 2. Tag: 4.-7. Kap., 3. Tag: 8.-10. Kap., 4. Tag: 11. Kap., 5. Tag: 12. Kap., 6. Tag: 13. Kap., 7. Tag: 14. Kap., 8. Tag: 15.-16. Kap., 9. Tag: 17.-19. Kap., 10. Tag: 20.-21. Kap., 11. Tag: 22.-23. Kap., 12. Tag: 24. Kap. Deborah Smail weist ebenfalls auf das generell hohe Tempo hin (vgl. Deborah Smail: White-collar Workers, Mass Culture and Neue Sachlichkeit in Weimar Berlin. A Reading of Hans Fallada’s Kleiner Mann – was nun? Erich Kästner’s Fabian and Irmgard Keun’s Das kunstseidene Mädchen. Bern, Berlin 1999, S. 55 [= Britische und irische Studien zur deutschen Literatur 16]). Vgl. dazu Lindner: Leben in der Krise, S. 364. Vgl. Lindner: Leben in der Krise, S. 165. Vgl. F 157, 186: »Wir stecken in einer Zeit, wo der ökonomische Kuhhandel nichts ändert, er wird den Zusammenbruch nur beschleunigen oder vergrößern. Wir stehen an einem der seltenen geschichtlichen Wendepunkte, wo eine neue Weltanschauung konstituiert werden muß, alles andere ist nutzlos.« »Ich kann Ihnen verraten, daß die Menschheit mit Ausnahme der Pastoren und Pädagogen nicht mehr weiß, wo ihr der Kopf steht. Der Kompaß ist kaputt, aber hier in diesem Haus [der Schule] merkt das niemand.«
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Kästner stellt diese Krise und die damit verbundenen Auflösungserscheinungen auf verschiedenen Ebenen dar. Die Krise wird zunächst einmal ganz direkt thematisiert. Schon im dritten Kapitel gibt der Wirtschaftsredakteur Malmy eine Diagnose: »Wenn das, woran unser geschätzter Erdball heute leidet, einer Einzelperson zustößt, sagt man schlicht, sie habe die Paralyse.« (F 31) Statt nun den Erdball einer Kur zu unterziehen, behandle man ihn mit Kamillentee, der »nur bekömmlich ist und nichts hilft« (F 31). Auf den Protest eines Kollegen hin, er solle »diese ekelhaften medizinischen Vergleiche« lassen, spricht er davon, dass die einen niederträchtig und die andern dämlich seien, um dann einen zweiten medizinischen Vergleich zu brauchen: »Der Blutkreislauf ist vergiftet« (F 32). Für Malmy ist klar, dass sich etwas ändern muss, aber es ist ihm ebenso klar, dass die Menschheit nicht bereit ist, sich zu ändern. Malmy ist überzeugt, dass sich die »Gegenwartskrise ohne eine vorherige Erneuerung des Geistes« nicht lösen lässt, dass Versuche, die Krise ökonomisch zu lösen, »Quacksalberei« seien (F 32). Man kann sich auch hier wiederum an den Mann ohne Eigenschaften erinnert fühlen, wo es Ulrich ebenfalls um eine Erneuerung des Geistes geht, wo es darum geht, die Prinzipien der Wissenschaft auf das Leben und die Moral anzuwenden. Auch der Arzt, bei dem Labude und Fabian die beiden politischen Streithähne, die sich gegenseitig angeschossen haben, abliefern, gibt eine medizinische Diagnose des politisch-ökonomischen Zustandes: »Der Kontinent hat den Hungertyphus. Der Patient beginnt bereits zu phantasieren und um sich zu schlagen.« (F 57) Die Frage stellt sich, wie sich diese Krise in der dargestellten Welt äußert, denn es soll ja nicht nur über die Krise geredet werden, sondern diese muss auch dargestellt werden, in der dargestellten Welt sichtbar werden. Zunächst einmal greift Kästner zu einer für die Literatur der frühen Moderne typischen Denkfigur, er zeigt uns die Auflösung von Grenzen auf verschiedenen Ebenen.16 Es gibt keine topographischen und sozialen Grenzen mehr. Nicht nur Fabian bewegt sich in allen Quartieren und sozialen Schichten Berlins, sondern es wird auch ausdrücklich betont, dass er sogar dort verkehrt, wo er nicht hingehört. So heißt es von Labude und Fabian, dass sie Haupts Säle liebten, »weil sie nicht hierher gehörten« (F 44). Fabian findet, Cornelia Battenberg gehöre nicht in den »Saustall« (F 77) des Ateliers von Ruth Reitler. Der Mensch lebt im Unterschied zu den Personen der realisti_____________ 16
Zur Auflösung der Grenzen in der Moderne vgl. Michael Titzmann: ›Grenzziehung‹ vs. ›Grenztilgung‹. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme ›Realismus‹ und ›Frühe Moderne‹, in: Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten und realistische Imagination. Festschrift für Marianne Wünsch. Hg. v. Hans Krah u. ClausMichael Ort. Kiel 2002, S. 181-209.
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schen und naturalistischen Literatur nicht mehr in seiner angestammten, zu seiner sozialen Rolle gehörenden Umgebung. Wie Fabian kommen auch Ruth Reitler und Cornelia Battenberg aus der Provinz. Labude kommt zwar aus Berlin, wohnt aber nicht in der großbürgerlichen Umgebung seines Elternhauses, sondern in der so genannten ›Wohnung zwei‹. Aber auch Labudes Elternhaus, welches ein ›griechischer Tempel‹ oder ein ›Wohnmuseum‹ genannt wird, wird nicht eigentlich bewohnt (vgl. F 66f.). Es gehört ebenso wenig zu den Bewohnern wie Ulrichs Schlösschen, das mit seinem »etwas verwackelten Sinn«17 keine Auskunft über seinen Bewohner gibt.18 Schließlich wird auch die Grenze zwischen Stadt und Land aufgehoben. Als die zwei Freunde, nachdem sie Zeuge der oben erwähnten Schießerei zweier politischer Feinde geworden sind, auf ein Auto warten, meint Labude: »Kommt denn hier gar kein Auto? Es ist wie auf dem Dorf.« (F 53) Als Fabian mit Cornelia durch Berlin geht, wird die Stille betont, die Blumen in den Vorgärten, »sogar der Mond scheint in dieser Stadt«, bemerkt Cornelia und Fabian fragt: »Ist es nicht fast wie zu Hause?« (F 84). Doch dann meint er, dies sei eine Illusion und weist auf die schmutzigen Geschäfte hin, die in unmittelbarer Nähe getätigt werden, so als ob dies nur in der Stadt möglich wäre. Zusammenfassend stellt er fest: »Im Osten residiert das Verbrechen, im Zentrum die Gaunerei, im Norden das Elend, im Westen die Unzucht, und in allen Himmelsrichtungen der Untergang.« (F 85) Dadurch stellt er explizit den Zusammenhang zwischen den moralischen Zuständen und der Krise her. Die Auflösung der moralischen Normen und das materielle Elend werden als Manifestationen der Krise interpretiert, diese scheint aber nicht die Voraussetzung für eine Erneuerung zu sein, sondern direkt in den Untergang zu führen. Auf Cornelias Frage, was nach dem Untergang komme, antwortet er: die »Dummheit«, worauf Cornelia sagt: »In der Stadt, aus der ich bin, ist die Dummheit schon eingetroffen.« (F 85) Die Dummheit ist, wie sich später erweist, auch in Fabians Vaterstadt schon eingetroffen.19 Auch in dieser _____________ 17 18 19
Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 12. Vgl. Smail: White-collar Workers, Mass Culture and Neue Sachlichkeit in Weimar Berlin, S. 126, die darauf hinweist, dass es wie in Fabian auch in Keuns Kunstseidenem Mädchen zahlreiche Hinweise gibt, dass die Personen nicht in ihre Umgebung passen. Die Dummheit ist ebenfalls ein Thema der Zeit, welches aber noch wenig Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden hat. Das Motto von Ödön von Horváths Geschichten aus dem Wienerwald lautet: »Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die Dummheit.« Musil hat einen Aufsatz über die Dummheit verfasst und in Elias Canettis Blendung spielt die Dummheit eine zentrale Rolle. Vgl. Rosmarie Zeller: Über die Dummheit. Satirische Züge in Elias Canettis Roman Die Blendung, in: Ecritures et langages satiriques en Autriche (1914–1938). Satire in Österreich. Etudes réunies par Jeanne Benay et Gilbert Ravy. Bern 1999, S. 449-466.
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Beziehung unterscheidet sich also die Provinz nicht von der Großstadt, ebenso wenig wie in Bezug auf den Normenzerfall. Als Fabian nach Hause zurückkehrt, stellt er fest, dass man da genauso korrupt ist wie in der Hauptstadt, dass die Familienväter da ebenso ins Bordell gehen wie in der Hauptstadt. Durch die Begegnung mit den Erinnerungen an die Kindheit, durch die Erkenntnis, dass die Schule durch heimliche Gewalt aus den Kindern »gehorsame Staatsbeamte und bornierte Bürger« (F 184f.) machte, durch die Erinnerung an den Drill der militärischen Ausbildung wird sowohl der Kinderzeit wie auch der Provinz jeder Anschein der Idylle genommen. Hier geht genauso die Lüge um wie in der Stadt.20 Durch die Erkenntnis, dass auch in der Provinz, die am Anfang noch als Ausweg aus der negativen Situation der Großstadt gesehen wird,21 die Lüge herrscht, kehrt der Roman an den Anfang zurück, wo die Lüge in der Zeitung thematisiert wird. Es gibt nicht eine heile Provinz und eine verdorbene Großstadt, sondern es gibt nur eine Welt, in der gelogen werden muss, um sich durchzuschlagen. Fabian nimmt die Krise offenbar nicht als ein Durchgangsstadium wahr, sondern als eine Art Dauerzustand der Menschheit. Andere Grenzen, die aufgehoben werden, sind die Grenzen zwischen ›normal‹ und ›nicht-normal‹. In den Augen seiner Familie ist der Erfinder, der sich nach einem durch seine Maschinen verursachten Arbeitsunfall zurückgezogen hat, verrückt, während dies Fabian nicht so zu sehen scheint und die Interpreten des Romans in ihm gar einen verantwortungsvoll Handelnden sehen, was doch übertrieben sein dürfte.22 Kästner ist kaum so naiv gewesen zu meinen, man könne die Welt durch ein individuelles Opfer verändern. Wenn man den Erfinder hingegen als verrückten Intellektuellen interpretiert, so ist er ein Beispiel mehr für die unscharfe Grenze zwischen ›verrückt‹ und ›normal‹. Dafür spricht auch Fabians Bemerkung gegenüber Cornelia Battenberg, man solle zunächst einmal alle Menschen für verrückt halten (vgl. F 85). In der »Cousine« scheinen in Fabians Augen lauter »gebürtige Abnormitäten« (F 81) zu verkehren, was sich auf das Geschlecht der Damen bezieht. Auf Fabians Frage im Atelier der Bildhauerin: »Wie viele weibliche Wesen sind eigentlich hier?« erhält er von der Battenberg die Antwort: »Ich bin das einzige.« (F 76) Kästner geht in der Tat sogar so weit, dass er die Grenze zwischen den Geschlechtern _____________ 20 21
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»Hatte er immer nur die Lüge gespürt, die hier umging […]?« (F 184) So fragt sich Fabian: »Warum saß er nicht zu Hause, bei seiner Mutter? Was hatte er hier in dieser Stadt, in diesem verrückt gewordenen Steinbaukasten zu suchen? Blumigen Unsinn schreiben, damit die Menschheit noch mehr Zigaretten rauchte als bisher?« (F 39) In der Provinz könnte er sich dieselben Fragen stellen und er bekommt ja auch ein Angebot als Reklamefachmann, um ›Unsinn‹ zu schreiben. So z.B. Schwarz: Erich Kästner. Fabian, S. 237.
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aufhebt: Eine Reihe von Frauen benehmen sich wie Männer, so insbesondere jene in der »Cousine«: »Sie tranken Schnaps, und manche trugen Smokingjacken und hochgeschlossene Blusen, um den Männern recht ähnlich zu sein.« (F 80) Ruth Reiter wird ›der Baron‹ genannt (vgl. F 82) und hat »mit dem Abendakt ein gutgehendes Verhältnis« (F 76). Umgekehrt tritt in der Atelierszene ein morphiumsüchtiger Doktor in Frauenkleidern auf. Auf die Spitze getrieben wird das Spiel mit der Selow, von der Labude sagt, sie empfinde »nicht wie eine normale Frau« (F 97), er glaube, sie sei homosexuell. Zu nennen wäre auch Irene Moll, die sowohl in Bezug auf die von ihr angewendete körperliche Gewalt wie auch in Bezug auf ihre Realisierung eines Männerbordells eigentlich eine Männerrolle einnimmt, was Fabian gleich zu Beginn im Bild des »männlichen Harems« (F 17) ausdrückt. Wenn man die Erscheinung nicht unter moralischem Gesichtspunkt als Ausdruck der Verdorbenheit der Großstadt ansieht, wie es meistens in der Forschungsliteratur geschieht, sondern als Aufhebung der festen Grenzen, so erhält das Phänomen eine weitere Dimension und wird ein Ausdruck der viel generelleren Krise, die für die dargestellte Welt charakteristisch ist. In seiner Untersuchung zu Zeitromanen der Neuen Sachlichkeit stellt Martin Lindner fest, dass Männlichkeit und Sachlichkeit weitgehend identisch sind. Man hat das Gefühl, dass ein Ungleichgewicht zwischen Männlichem und Weiblichem herrscht, indem die Frauen sich den Männern in Habitus und Kleidung annähern, wobei man zugleich auf eine künftige Aufhebung dieses Ungleichgewichts hofft.23 Unter den Begriff Grenzüberschreitung bzw. Auflösung von Grenzen kann man auch die Tatsache subsumieren, dass die Menschen zu Waren werden, wie Waren behandelt werden. Fabian kommt sich im Hause Moll wie ein Rodelschlitten vor (vgl. F 18), über den verhandelt wird. Cornelia behauptet, die Frauen würden wie Waren behandelt, während man sie früher wie Geschenke behandelt habe. Fabian kommentiert dies mit: Heute ist das Geschenk eine Ware, die null Mark kostet. Diese Billigkeit macht den Käufer mißtrauisch. Sicher faules Geschäft, denkt er. Und meist hat er recht. Denn später präsentiert ihm die Frau die Rechnung. Plötzlich soll er den moralischen Preis des Geschenks rückvergüten. In seelischer Valuta. Als Lebensrente zahlen. (F 78)
Man kann die Ausdrucksweise Fabians selbst wiederum als eine Auflösung von Grenzen sehen, indem von menschlichen Beziehungen in der Sprache _____________ 23
Vgl. Lindner: Leben in der Krise, S. 175. Es ist hier nicht der Ort auszuführen, wie sehr auch Musil an dieser Vorstellung partizipiert, wobei er aber immer wieder die Utopie eines ganzheitlichen Lebens betont, in dem ein Gleichgewicht zwischen Männlichem und Weiblichem bestehen würde. Hinzuweisen wäre auch auf die Vorstellung der Hermaphroditen in der phantastischen Literatur der Zeit wie in Gustav Meyrincks Golem.
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der Wirtschaft gesprochen wird. Ebenso wird von der Krise, in der sich die dargestellte Welt befindet, wie oben erwähnt, in Ausdrücken der Medizin gesprochen, was besonders zu Beginn des Textes auch thematisiert wird. Im Unterschied zu Döblin, der die verschiedenen Sprachen durch das scharfe Aufeinandertreffen in der Montage akzentuiert, erreicht Kästner, wie übrigens auch Musil, die Vielsprachigkeit im Sinne Bachtins durch die Übertragung eines Sachverhalts in eine fremde, das heißt metaphorisch gebrauchte Sprache.24
3 In einer Welt, in der sich die semantischen Grenzen auflösen, stellt sich die Frage nach den moralischen Normen bzw. nach richtig und falsch in verschärfter Weise. Der Titel suggeriert, dass wir »Die Geschichte eines Moralisten« lesen, dass also der Held irgendwie den Anspruch erhebt, moralisch zu sein.25 Doch wie kann man moralisch sein in einer Zeit, die keine verbindlichen moralischen Normen mehr kennt? Wenn man ›Moralist‹ auf die französischen Moralisten des 17. Jahrhunderts bezieht,26 wie das in der Forschung manchmal gemacht wird, so wird die Diskrepanz zu Kästners Gebrauch des Wortes nur umso deutlicher: Im 17. Jahrhundert gab es verbindliche moralische Normen, 1930 wird gerade die Verbindlichkeit dieser Normen in Frage gestellt. Im Zusammenhang mit Berlin Alexanderplatz hat Döblin erklärt, wie er bei der Begegnung mit seinen Patienten »ein eigentümliches Bild von der Gesellschaft« gewonnen habe, »wie es da keine so straff formulierbare Grenze zwischen Kriminellen und Nichtkriminellen gibt, wie an allen möglichen Stellen die Gesellschaft – oder besser das, was ich sah – von Kriminalität unterwühlt war.«27 _____________ 24 25
26 27
Zum Begriff vgl. Michail M. Bachtin: Das Wort im Roman, in: Ders.: Die Ästhetik des Wortes. Hg. u. eingeleitet v. Rainer Grübel. Frankfurt a.M. 1979, S. 154-300. Volker Ladenthin (Die Große Stadt bei Erich Kästner, in: Euphorion 90/3 [1996], S. 317335) versteht »Geschichte eines Moralisten« gestützt auf das in der Ausgabe von 1950 abgedruckte Nachwort als die von einem Moralisten verfasste Geschichte. Ich kann diese Deutung nicht nachvollziehen. Sie steht auch offensichtlich im Widerspruch zu der Auffassung der Zeitgenossen, wie sie z.B. in Kestens Rezension (s. Anm. 1) zum Ausdruck kommt. Wenn sich Kästner in der Nachkriegszeit, die wahrscheinlich weit prüder war als die 1930er Jahre, damit zu retten versucht, dass er sein Buch als didaktisches und nicht als literarisches ausgibt, braucht das uns als Literaturwissenschaftlerinnen, denen es um die semantischen Strukturen geht, nicht zu stören. Claudia Albert wirft Kästner aus einer nicht nachvollziehbaren Position vor, dass er Descartes und Schopenhauer nur oberflächlich zitiere (vgl. Albert: Konstruierte Autorenrolle, S. 88f.). Alfred Döblin: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Hg. v. Erich Kleinschmidt. Olten, Freiburg i.Br. 1989, S. 43.
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Kästner lässt denn auch keine Zweifel darüber aufkommen, dass es im Fabian nicht um bürgerliche Moralvorstellungen geht, und schon gar nicht »um eine Satire gegen den wildgewordenen Sexus der präfaschistischen Jahre«, um die »Symptome sexueller Entgleisung«,28 wie es in einer Interpretation heißt. Schon auf der ersten Seite fragt Fabian den Kellner, ob er hingehen soll oder nicht, wobei sich ziemlich rasch herausstellt, dass sich diese Frage auf einen Klub bezieht, den man auch als gehobenes Bordell bezeichnen könnte. Fabian zeigt eine gewisse Neugier, dieses Etablissement kennenzulernen. Dass der so genannte Klub über strenge Regeln verfügt, die einzuhalten sind, sollte in diesem Zusammenhang ebenfalls beachtet werden. Fabian zeigt in der Folge keinerlei moralische Bedenken, mit Frau Moll im Taxi nach Hause zu fahren. Wenn er ihre stürmischen Umarmungen abzuweisen versucht, so nicht aus moralischen, sondern aus rein körperlichen Gründen. Als der Mann von Frau Moll auftritt, ist Fabian zwar »verwundert« (F 17), aber er hat nicht etwa ein schlechtes Gewissen, sich mit einer verheirateten Frau eingelassen zu haben. Wenn er am Ende flieht, so wiederum nicht aus moralischen Gründen, sondern weil er von den Schlägen erfahren hat, die Irene Moll ihren Liebhabern zu verabreichen pflegt. Von ihrer körperlichen Kraft hat er ja schon im Taxi einen Vorgeschmack bekommen. Dass Fabian keineswegs enge Moralvorstellungen hat, zeigt sich auch in seinem Gespräch mit der Hauswirtin, welche sich über einen andern Zimmerherrn beklagt, der gleichzeitig mehrere Damen mit aufs Zimmer nimmt. Er stellt sachlich fest: »Es ist weithin bekannt, daß sich, von einem gewissen Alter ab, beim Menschen Bedürfnisse regen, die im Widerspruch zur Moral der Vermieterinnen stehen.« (F 40) Dass die Vermieterin diesen leisen Tadel mit dem Hinweis, sie verstehe ›manches‹, sie sei ja auch noch nicht so alt, zurückweist, belegt, dass es mit ihren moralischen Skrupeln nicht so weit her ist. Es geht ihr vielmehr darum, bei der neuen Mieterin keinen schlechten Eindruck zu hinterlassen, also den äußeren Anschein zu wahren, während das Ehepaar Moll und das Ehepaar Labude offenbar darauf keinen Wert mehr legen. Auch die späteren Episoden, die sich in Bordellen und in Kabaretts abspielen, ergeben dasselbe Bild eines Fabian, der ganz selbstverständlich ohne schlechtes Gewissen an solchen Orten verkehrt. Das Verhältnis zu der verheirateten Frau scheint ihn auch nicht besonders zu stören, auch da geht er aus eigenen Stücken, nachdem er den wahren Zivilstand der Frau kennt, wieder hin. Allerdings scheint er wenig Interesse an rein sexuellen Abenteuern zu haben. Er ist immer sehr zurückhaltend, so beim Besuch im Atelier der Bildhauerin, wo sich Labude nach kurzer Zeit mit der Knulp auf dem Sofa wälzt, während sich Fabian mit Cornelia Battenberg _____________ 28
Schwarz: Erich Kästner. Fabian, S. 239.
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nur unterhält und es erst zu Hause zu körperlichen Annäherungen kommt. Auch im Bordell seiner Heimatstadt ist er zurückhaltend und folgt nur jener Prostituierten, die es nicht um des Geldes willen tut. Wenn die Anständigkeit nicht darin besteht, das nicht zu tun, was kleinbürgerliche Normen verbieten, dann fragt sich, was denn der »Sieg der Anständigkeit« (F 85) wäre, auf den Fabian wartet? Offensichtlich ist es nicht die ›Moral der Vermieterinnen‹, noch jene der bürgerlichen Gesellschaft, welche weder Bordellbesuche noch außereheliche Beziehungen zulässt. Fabian ist, obwohl er einmal als Kleinbürger bezeichnet wird, kein Franz Biberkopf, der anständig bleiben will und sich über eine Ehebruchszene in einem Roman D’Annunzios entsetzt, während er selbst alle Arten von sexuellen Beziehungen unterhält und in kleinkriminellen Kreisen verkehrt.29 Wenn man sich fragt, wo die Grenzen der Anständigkeit in den Augen Fabians überschritten sind, so muss man jene Stellen heranziehen, wo sich Fabian über eine Situation negativ äußert. Es ist dies zum ersten Mal beim Besuch des Ateliers der Bildhauerin der Fall, er spricht hier von einem »Saustall« und erklärt: »Ich bin kein ausgesprochener Tugendbewahrer, und trotzdem betrübt es mich, wenn ich sehen muß, daß eine Frau unter ihrem Niveau lebt.« (F 77) Cornelia wehrt sich sogleich, sie sei auch kein Engel und erzählt, sie sei schon von zwei Männern sitzen bzw. stehen gelassen worden, so dass sie ihre Mutter eine Dirne genannt habe. Cornelia hat offensichtlich in dieser Hinsicht keine großen Probleme, sie wird sich schließlich, wenn auch nicht ganz freiwillig, an den Filmproduzenten verkaufen. Man könnte mit Fabians Worten sagen, dass dieses Verhalten auch unter ihrem Niveau sei, es wird jedoch im Roman selbst nicht bewertet. Auffällig ist, dass ihre Begründung, warum sie Fabian verlässt, derjenigen ähnlich ist, welche Fabian für die ausweglose Situation des Mannes anführt, der, ob er heiratet oder nicht, in jedem Fall verantwortungslos handelt: Wenn er heiratet und arbeitslos wird, hat er seiner Frau gegenüber verantwortungslos gehandelt, wenn er nicht heiratet und die Frau darüber unglücklich wird, ist es auch verantwortungslos. Er schließt mit der Feststellung: »Das ist eine Antinomie, die es früher nicht _____________ 29
»Ich will dafür ein Beispiel geben aus dem Werk von d’Annunzio, Lust, paß auf, d’Annunzio heißt das Oberschwein, n Spanier oder Italiener oder aus Amerika. Hier sind die Gedanken des Mannes so von der ihm fernen Geliebten erfüllt, daß ihm in einer Liebesnacht mit einer Frau, die ihm als Ersatz dient, der Name der wahren Geliebten gegen seinen Willen entflieht. Da schlägts dreizehn. Nee, du, Kollege, mit so was, da mach ich nicht mit. […] Als Ersatz dient. Kautschuk als Gummi. Kohlrüben statt richtiges Essen. Haste mal gehört, als Ersatz dient ne Frau, n Mädchen? Nimmt sich ne andere, weil er seine grade nicht hat, und die neue merkts und dann ist gut und die soll vielleicht nicht piepen? Das läßt der drucken, der Spanier. Das würde ich als Setzer nicht drucken.« (Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. Olten, Freiburg i.Br. 1966, S. 75)
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gab« (F 77), womit er dem Krisenbewusstsein nochmals Ausdruck gibt.30 Cornelia schreibt ihm, er wäre schon bald recht unglücklich, wenn sie jetzt nicht ginge, weil dann die Not zu groß würde. Sie meint, dass sie nur zusammenbleiben könnten, wenn sie jetzt gehe (vgl. F 137), nicht zuletzt auch deshalb, weil sie Fabian offenbar nicht zutraut, dass er in diesem Fall richtig handeln könne. Als Reaktion auf diese Haltung Cornelias meint Fabian, er hätte doch dieses eine Mal richtig handeln und Verantwortung übernehmen wollen, den Beweis dafür erbringt er allerdings nicht. Er meint, dass er »selber einmal den Arm erheben« könnte statt nur »Schläge« (F 138) einzustecken. ›Schläge‹ im wörtlichen Sinn wird er tatsächlich austeilen, und zwar Weckherlin, dem Assistenten, der Labude durch seine Lüge in den Tod getrieben hat. Diese Schläge machen aber Labude nicht wieder lebendig und unterstreichen eigentlich nur die Sinnlosigkeit seines Todes und von Fabians Handlungsweise. Auch die Ohrfeige, die er dem zu früh heimgekehrten Ehemann der Frau im Norden gibt, ist keine Heldentat, bezeichnenderweise entschuldigt er sich auch dafür (vgl. F 153). Das heißt, wenn er den Arm erhebt, tut er es nicht, um sein Leben in die Hand zu nehmen, sondern im Affekt. Auf die Frage, was denn anständig und vernünftig wäre, wo die Grenzen der Moral liegen, gibt der Roman offensichtlich keine Antwort. Es scheint im Roman auch keine Figur zu geben, die die richtige Moral verkörpert, denn Fabians Mutter, die nur am Rande auftritt, kann wohl schon darum nicht dafür gelten, weil sie keinen Prüfungen ausgesetzt wird.31 Das richtige Verhalten zeigt sich erst dann, wenn man in dieser Welt handeln muss, das ist ebenfalls ein Thema, das im Mann ohne Eigenschaften immer wieder reflektiert wird, gerade auch in Auseinandersetzung mit der Sozialutopie, wie sie Hans Sepp vertritt, und in Ulrichs Reflexionen über eine neue Moral.32 Als moralisch könnte noch am ehesten Labude gelten, der auch der einzige ist, der sich schämt, nachdem er sich im Atelier der Bildhauerin mit der Kulp und später mit der Selow amüsiert hat.33 Labude wird an einer Stelle ein moralischer Mensch genannt, dessen Ehrgeiz es immer schon gewesen sei, »seinen Lebenslauf ohne Konzept und ohne Fehler gleich ins Reine zu schreiben. […] Sein Sinn für Moral war eine Konsequenz der Ordnungsliebe« (F 97). Durch das Verhalten von Leda ist seine Moral lädiert worden, so ist wohl auch zu erklären, dass er Leda _____________ 30 31 32 33
Wie Egon Schwarz zu behaupten, Fabian trage als »Idealzustand die intakte Ehe im Sinne« (Schwarz: Erich Kästner. Fabian, S. 239), geht sicher völlig am Text vorbei und wird bezeichnenderweise auch durch kein Zitat belegt. Als Fabian nachts bei Cornelia vorbeigehen will, bemerkt die Mutter nur: »Früher wäre das nicht möglich gewesen« (F 111). Vgl. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, bes. Kap. 113. »Labude schien sich vor Fabian und vor sich selber zu schämen.« (F 80)
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ohrfeigt, als er sie mit einem Liebhaber erwischt. An Labude demonstriert Kästner, dass die Moral etwas Äußerliches ist, nicht zufällig wird sie das »Geländer« (F 97) des Charakters genannt.34 In diesem Sinne ist auch der Selbstmord von Labude kein Zeichen von Charakterstärke, wie er im Abschiedsbrief indirekt selbst eingesteht, wenn er schreibt, dass ihn Fabian über die »mikroskopische Bedeutung [s]eines wissenschaftlichen Unfalls« (F 157) aufgeklärt habe. Ja, in seinem Gespräch mit dem toten Labude sagt Fabian klar: »Du warst ein guter Mensch, du warst ein anständiger Kerl […], aber das, was du vor allem sein wolltest, das warst du nicht. Dein Charakter existierte in deiner Vorstellung, und als die zerstört wurde, blieb nichts übrig als ein Schießeisen.« (F 162) Im Gegensatz zu Fabian meinte Labude einen Charakter zu haben, damit wäre er eine Figur aus einem realistischen, aber nicht aus einem modernen Roman, in diesem Sinn ist es nur logisch, dass er in der Welt des modernen Romans sterben muss. Labude ist Krisen nicht gewachsen, während Fabian nie stabilisiert wird und sich mit dem Provisorischen, das die Epoche kennzeichnet, arrangiert.35 Ob Kästner dies für die richtige Haltung hält, kann bezweifelt werden, wenn man an das Ende von Fabian denkt. Denn soll man seinen Tod wirklich nur als Unfall verstehen? Wie kommt jemand, der nicht schwimmen kann, dazu, ins Wasser zu springen, um jemanden zu retten, den er ja auf jeden Fall als Nichtschwimmer nicht retten kann? Will er sich den Anschein geben, eine gute Tat zu tun, um in Wirklichkeit Selbstmord zu begehen? Dies wäre dann die endgültige Destruktion eines Moralisten, der in einem banalen Sinn keiner ist. Als weitere Person, die allenfalls als moralische Instanz in Frage käme, wäre der Wirtschaftsredakteur Malmy zu nennen, der eine Analyse der Zeit gibt, die nicht sehr verschieden ist von derjenigen Fabians. Malmy erkennt, dass das System falsch ist, aber er fühlt sich nicht fähig, etwas dagegen zu tun. Auch in dieser Hinsicht gleicht er Fabian. Was Malmy fordert, ist eine Erneuerung des Geistes, während die andern meinen, mit wirtschaftlichen Maßnahmen seien die Probleme zu lösen. Auf diese Lösung schwenkt sogar Fabian vorübergehend ein, wenn er in einer der seltenen erlebten Reden meint: »Vielleicht war es wirklich nicht nötig auf die sittliche Hebung der gefallenen Menschheit zu warten? Vielleicht war das Ziel der Moralisten, wie Fabian einer war, tatsächlich durch wirtschaftliche Maßnahmen erreichbar? […] War die Frage der Weltordnung nichts anderes als eine Frage der Geschäftsordnung?« _____________ 34 35
Man könnte auch hier wiederum auf Musil verweisen, für den die Moral zum Bereich des »Seinesgleichen geschieht« (Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 357) gehört. »›Zum Donnerwetter!‹ rief Labude, ›wenn alle so denken wie du, wird nie stabilisiert! Empfinde ich vielleicht den provisorischen Charakter der Epoche nicht ?‹« (F 52)
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(F 177) Diese Unsicherheit Fabians ist ein weiteres Indiz dafür, dass er als Moralinstanz nicht in Frage kommt. Ein weiterer Aspekt, der mit der Frage nach der richtigen moralischen Position zusammenhängt, ist der Komplex der Lüge. »Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht«,36 sagt K. in Kafkas Process, als er die Auslegung der Türhütergeschichte erfährt. Die Nicht-Übereinstimmung von Innen und Außen, das Doppelleben, gehört zu den grundlegenden Themen der Moderne. Man denke nur an Schnitzlers Reigen, an Leutnant Gustl oder Fräulein Else, aber auch an ein Drama wie Horváths Geschichten aus dem Wienerwald oder dessen Roman Jugend ohne Gott. Die Personen der Literatur der Moderne haben im Allgemeinen keine Probleme damit, dass sie lügen müssen, dass sie in verschiedenen Situationen verschiedene Personen verkörpern, dass sie ein Doppelleben führen. Es ist bezeichnend, dass Cornelia Battenberg im Film eine Frau spielen soll, die bald »ein unerfahrenes Mädchen« ist, bald »ein ordinäres Weib« oder »ein hirnloses elegantes Luxusgeschöpf«, wobei sich schließlich herausstellen soll, »daß ich ein ganz anderes Wesen bin, als ich selber glaube« (F 169). Fabian fürchtet, dass Cornelia am Schluss so werden könnte, wie es der Filmregisseur will, sich also ganz entfremdet würde. Aber Cornelia, die sich als Spezialistin für Filmrecht in eine Filmschauspielerin verwandelt, ist wohl schon immer eine Verwandlungskünstlerin, eine Frau ohne Eigenschaften. Der Unterschied zwischen dem Rollenspiel und der Lüge ist fließend. Frau Moll führt mit dem Einverständnis ihres Gatten ein Doppelleben, ebenso wie all jene Ehemänner, die abends ins Bordell gehen, was aber die Ehefrauen nicht erfahren sollen (wie z.B. in der Provinz). Der alte Labude unterhält eine junge Schauspielerin, während sich seine Frau im Tessin vergnügt. Die Geschichte vom Vater, der im Bordell auf seine eigene Tochter trifft (vgl. F 85), findet sich so auch in Horváths Geschichten aus dem Wienerwald, wo der Zauberkönig seine Tochter Marianne nackt auf der Bühne sieht. Solche Geschichten sind nur besonders krasse Beispiele für die generelle Verlogenheit oder, je nach Perspektive, Widersprüchlichkeit der Gesellschaft, die Ulrich schon ganz zu Beginn des Mann ohne Eigenschaften reflektiert, die Menschheit liefere »den Strolchen mit Blei gefüllte Gummischläuche in die Hand, um den Leib eines Mitmenschen damit krankzuschlagen, und stellt für den einsamen und mißhandelten Leib hinterdrein Daunenbetten bereit«.37 Schon im dritten Kapitel, als Fabian mit Münzer in die Zeitungsredaktion geht, wird das Thema Lüge ausführlich behandelt. Es ist klar, dass alle lügen, nur in unterschiedlichem Maß. Von Münzer, der eine Meldung erfindet, um die Zeitung zu füllen, zu Malmy, _____________ 36 37
Franz Kafka: Der Proceß. Hg. v. Malcom Pasley. Frankfurt a.M. 1990, S. 303. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 27.
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der auch lügt, aber im Unterschied zu Münzer nicht an seine Lügen glaubt, ist nur ein gradueller Unterschied. Fabian ist von der allgemeinen Lügerei keineswegs ausgenommen. Seine Zigarren-Reklame ist ja, wie schon die auf die Höhe des Kölner Doms vergrößerte Zigarre zeigt, nichts anderes als ein gigantischer Betrug. Immerhin will er sein Gewissen nicht »chloroformieren« (F 198) und beschließt, die Arbeit bei der rechten Zeitung in seiner Heimatstadt nicht anzunehmen. Er belügt auch seine Mutter, der er nicht sagt, dass er arbeitslos ist, sondern er lässt sich von ihr von der Arbeit abholen. Später will er den Eltern verschweigen, dass er eine Stelle bei der ›Tagespost‹ haben könnte (vgl. F 198). Ohne gewisse Lügen scheint es in dieser Gesellschaft nicht gehen zu können, auch wenn Fabian sozusagen in guter Absicht lügt. Jedenfalls hat Fabian nie ein schlechtes Gewissen, wenn er lügt.
4 Wenn die Welt in der Krise dargestellt werden soll, kann der Roman nicht eine kohärente Welt, die so etwas wie einen Sinn suggeriert, aufbauen. Obwohl dem Roman ein strenges Zeitgerüst zugrunde liegt, ist die Handlung doch sehr heterogen und vom Zufall gelenkt.38 Nicht zufällig kommt das Schicksal als Gegenspieler des Zufalls nur in ironischem Zusammenhang vor. Schicksal als metaphysische Instanz kann es logischerweise in der rationalen Welt, die der Roman darstellt, nicht mehr geben. Döblin ironisiert das Schicksal in Berlin Alexanderplatz auf mehrfache Weise, indem er den Griechischlehrer darüber sinnieren lässt, dass man ganz ohne Schicksal auskommt, um das Unglück eines arbeitslos gewordenen Intellektuellen zu erklären.39 In Bezug auf die Geschichte von Franz Biberkopf betreibt der Erzähler eine eigentliche Irreführung mit dem Schicksal, indem er zunächst suggeriert, dass das Schicksal Biberkopf misshandelt, bis dieser erkennen muss, dass er selbst schuld ist an seinem Unglück. In Kästners Fabian kommt das Schicksal an einigen auffälligen Stellen, aber bezeichnenderweise immer nur in ironischem oder fiktionalem Zusammenhang vor. Schon im ersten Kapitel wird das Schicksal ironisch eingeführt, indem Fabian das Schicksal beschwört, dem Auto, in welchem er _____________ 38
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In einem nur im Typoskript erhaltenen Kapitel »Fabian und die Kunstrichter« bemerkt Kästner: »Der Zustand lebt mehr denn je vom Zufall. Wovon, so fragte sich der Autor, soll die Darstellung des Zustands leben? Jeder Tag ist für den, der ihn erlebt eine Reise im verkehrten Zug ans falsche Ziel.« (F 202f.) »Man soll nicht dicke tun mit seinem Schicksal. Ich bin Gegner des Fatums. Ich bin kein Grieche, ich bin Berliner.« (Döblin: Berlin Alexanderplatz, S. 57)
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mit Frau Moll fährt, weitere Kurven und damit weitere Verwicklungen zu ersparen, was lapidar kommentiert wird mit: »Das Schicksal hatte Ausgang.« (F 14) Das Schicksal hat hingegen offenbar keinen Ausgang, als es in der Ballade Die Todesfahrt eines gewissen Paul Müller eine Comtesse mit ihrem Liebhaber, einem Offizier, auf der Landstraße im dicken Nebel zusammenstoßen lässt, was in dem Vers endet: »Und so vollzog sich das Geschick.« (F 61) Das schicksalhafte Zusammentreffen in der Ballade wird kontrastiert durch die gleich anschließend beschriebene vermeintliche Erkennungsszene, eine ironische Anspielung auf solche Szenen in Schicksalstragödien, in welcher ein Badewannenfabrikant in Fabian einen ehemaligen Schulkollegen zu erkennen glaubt, was schon deswegen nicht stimmen kann, weil der andere in Marburg in die Schule gegangen ist. In der Wirklichkeit gibt es weder solche tragischen Zusammenstöße noch so emotionale Wiedererkennungsszenen, wie sie in ernsthafter Manier in einem Stück vorgeführt werden, wo ein flotter Student seine Mutter wiederfindet. Das Ereignis wird kommentiert: »Doch das Schicksal schritt, so schnell es konnte.« (F 143) Die einzige richtige Geschichte scheint sich anzukündigen, als im Zusammenhang mit Labude die Kriminalpolizei bei Fabian auftaucht. Insbesondere die Vermieterin wittert ein Verbrechen, weil am selben Tag auch Cornelia verschwunden ist. Fabian macht sich denn auch lustig über die Phantasie der Vermieterin: »›Ihre Phantasie hat die Motten. Das möchte Ihnen passen, ein kleines Liebesdrama mit letalem Ausgang, wie? Frau Hohlfeld als Zeugin in Trauerkleidung, Ihre beiden Untermieter in allen Zeitungen abgebildet, der Mörder Fabian auf der Anklagebank, bilden Sie sich keine Schwachheiten ein!‹« (F 154) Die Kriminalgeschichte wird noch etwas weiter gesponnen, weil die Damen aus dem Atelier der Bildhauerin sich im Nebenzimmer des toten Labude befinden. Doch auch diese scheinbare Geschichte löst sich in Nichts auf. Solche dramatischen Geschichten werden nur noch in der ›Literatur‹ erzählt, Kästner hingegen erzählt, wie es sich für einen Autor der Neuen Sachlichkeit gehört, die Wirklichkeit, welche aus Nichtigkeiten, Zufällen, sinnlosen Handlungen wie dem Tod Labudes oder Fabians besteht.40 Kästner erzählt definitiv die Geschichte nicht, die die Leser gerne lesen möchten.41 Er geriert sich auch _____________ 40
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Er erzählt so sehr die Wirklichkeit, dass die Kästner-Forschung immer wieder Parallelen zu Kästners Leben herstellt und einzelne Figuren mit realen Personen vergleicht, was nichts zur Erhellung des Textes beiträgt. Hingegen handelt es sich hierbei um ein in der Richtung der Neuen Sachlichkeit verbreitetes Verfahren. Vgl. Lindner: Leben in der Krise, S. 361ff. Vgl. dazu auch die Bemerkungen im Kapitel »Fabian und die Kunstrichter«: »Dieses Buch nun hat keine Handlung. […] Es treten wichtige Personen auf und verschwinden vor der Zeit. Es kommen unwichtige Leute daher und kehren mit einer Heftigkeit, die ihnen gar nicht zukommt, immer wieder.« In Bezug auf den Tod Labudes und Fabians wird die Fra-
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nicht als Erzieher oder Moralist, denn dazu müsste er eine Geschichte von der Art der Ballade erzählen. Er müsste einen bestimmten Standpunkt einnehmen und nicht den Faschisten und Kommunisten in einem Taxi in dasselbe Spital bringen lassen. Der Verzicht auf einen fixen Standpunkt, die Weigerung, eine Lösung für die Krise anzudeuten, hat wahrscheinlich dem Roman im Gegensatz zu vielen andern Romanen der Zeit das Überleben bei einem breiten Publikum gesichert.
_____________ ge gestellt: »Warum versagte der Autor ihrem Tod die Notwendigkeit? Man könnte beinahe vermuten, es handle sich um eine Absicht.« (F 202)
ARIANE MARTIN
Kultur der Oberfläche, Glanz der Moderne. Irmgard Keuns Roman Das kunstseidene Mädchen (1932) Bereits im Frühjahr 1932 kündigte der Berliner Verlag Universitas nach dem Überraschungserfolg des Debütromans Gilgi – eine von uns (1931) den zweiten Roman seiner jungen Autorin Irmgard Keun (1905–1982) an. Laut Programmvorschau sollte er den Titel Mädchen ohne Bleibe tragen,1 was das soziale Elend der von Arbeitslosigkeit und politischen Umbrüchen geprägten späten Weimarer Republik zu thematisieren versprach. Angekündigt war also ein Zeitroman, der sich den sozialen Rändern widmen und das Schicksal eines obdachlosen Mädchens darstellen würde. Als der Roman dann im Juni 1932 herauskam, trug er allerdings einen völlig anderen Titel: Das kunstseidene Mädchen. Mit der Signifikanz dieses Titels war der Akzent verlagert, denn mit dem Adjektiv ›kunstseiden‹ zur Charakterisierung der Titelfigur enthält er mehr kulturelle als soziale Implikationen und verweist latent auf den Aspekt des Artifiziellen. Kunstseide jedoch ist keine echte Seide, sondern ein industriell hergestellter billiger, gleichwohl aber glänzender Stoff. »Glanzstoff«2 gibt der Brockhaus von 1931 als Synonym für Kunstseide an. Mehr Schein als Sein – diese Assoziation legt das Adjektiv ›kunstseiden‹ nahe, mit dem die aufstiegsorientierte Titelheldin des Romans charakterisiert ist, jene Doris, die aus kleinsten Verhältnissen stammt und keinen anderen Wunsch hat, als diesen: »Ich will so ein Glanz werden, der oben ist.«3 _____________ 1
2 3
Vgl. den auf Frühjahr 1932 datierten Prospekt Die Bücher der Universitas Deutsche VerlagsA.G., S. 9, Standort: Historisches Archiv des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels in der Deutschen Bibliothek (Frankfurt a.M.), Prospektsammlung, Mappe Universitas-Verlag. Der Keun betreffende Wortlaut des Prospekts ist im Zusammenhang einer Dokumentation ihrer Erstrezeption in der Weimarer Republik nachgedruckt. Vgl. Stefanie Arend, Ariane Martin (Hg.): Irmgard Keun 1905/2005. Deutungen und Dokumente. Bielefeld 2005, S. 71f. Vgl. auch das Faksimile der Verlagsankündigung in Hiltrud Häntzschel: Irmgard Keun. Reinbek b. Hamburg 2001, S. 37. Das Romanmanuskript ist nicht überliefert. Der große Brockhaus. Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden. 15., völlig neubearb. Aufl. Bd. X. Leipzig 1931, S. 729. Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen. Roman. Nach dem Erstdruck von 1932, mit einem Nachwort u. Materialien hg. v. Stefanie Arend u. Ariane Martin. Berlin 2005, S. 44. Im Folgenden mit der Sigle KM belegt.
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Die Titelheldin, deren Glück signalisierender Name Doris sie in etymologischer Lesart als Gottesgeschenk auszeichnet, steht mit diesem Wunsch im Roman keineswegs alleine da. Über ihre Freundin Tilli Scherer, bei der Doris in Berlin unterkommt, heißt es ebenfalls: »Sie will auch ein Glanz werden.« (KM 75) Doris und Tilli repräsentieren einen urbanen weiblichen Typus im Berlin der frühen 1930er Jahre vor der nationalsozialistischen Machtübernahme, in jener Metropole der Moderne, die sich in den so genannten ›goldenen‹ 1920er Jahren konstituierte. Erstrebenswertes Leben ist ihnen »nicht Gehalt, sondern Glanz«.4 Dies schrieb Siegfried Kracauer 1929 über die metaphysische Obdachlosigkeit der Masse der kleinen Angestellten, die in der Weimarer Republik im neuen Berufsbild der Sekretärin oder Stenotypistin vor allem auch weiblich waren, weiblich wie Tilli und Doris. Sie sind ›kunstseidene‹ Mädchen, fixiert auf Kommerz und Kino, auf glänzende Oberfläche, auf Mode und mondänes Leben, von dem ihre Lebensrealität aber weit entfernt ist. Exemplarisch anhand des ›kunstseidenen‹ Mädchens Doris, das ein ›Glanz‹ werden will, beleuchtet Irmgard Keun in ihrem Roman kulturkritisch (und in der unverkennbaren Sympathie für ihre Figur Doris auch affirmativ) den zugleich faszinierenden und fragwürdigen Glanz der Moderne der späten Weimarer Republik. Der Roman Das kunstseidene Mädchen diagnostiziert diese Moderne als eine Kultur der Oberfläche. Ohne metaphysische Implikationen, ganz diesseitig und jenseits ideologischer Positionen nahm die Autorin die Moderne mit ihrem Roman in den Blick, erfasste ihr wesentliches Erscheinungsbild, ihr Selbstverständnis, ihre Wahrnehmung. Neben den inhaltlichen Implikationen einer kulturkritisch geprägten Bestandsaufnahme der Signatur der Moderne ist der Roman auch formal der Moderne verpflichtet – in seinem stilistisch unkonventionellen und im Rekurs auf Techniken des Films wie Schnitt oder Montage dezidiert modernen erzähltechnischen Verfahren. Er ist dabei durchgängig in der IchPerspektive der Titelfigur erzählt, die sich naiv und selbstverständlich als modern versteht, die Moderne der Weimarer Republik erlebt, sie reflektiert und nicht zuletzt verkörpert. Damit hat der Roman, der sich mit seiner zumindest ungefähren Entsprechung von Erzählzeit und erzählter Zeit forciert als unmittelbarer Zeitroman ausweist (er handelt von Sommer 1931 bis Anfang 1932 und dürfte in dieser Zeit auch niedergeschrieben worden sein), programmatisch teil an der Moderne, heißt doch »Kritik an der Moderne […] stets auch Kritik in der Moderne«.5 Der Roman par_____________ 4 5
Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. Frankfurt a.M. 1971, S. 91. Matthias Luserke-Jaqui: »Technische Kulturarbeit«? Überlegungen zum Begriff der ›Klassischen Moderne‹, in: Ders. (Hg.): »Alle Welt ist medial geworden.« Literatur, Technik, Na-
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tizipiert formal und inhaltlich an der in der Weimarer Republik etablierten und inzwischen ›klassisch‹ gewordenen Moderne, die er in einem spezifischen Gestus der Authentizität plastisch beschreibt. Um diese Form und Inhalt verknüpfende Lesart detaillierter zu illustrieren, gilt es zunächst die Handlungsstruktur mitsamt der formalen Konzeption vorzustellen (1), dann die zeitgenössische Rezeption in der Weimarer Republik sowie die Ansätze der neueren Forschung zu skizzieren (2), um anschließend die zentralen Diskurse des Romans in den Blick zu rücken: Mode, Großstadt und Kino (3).
1. Der Roman ist in drei Teile gegliedert, deren Titel mit ihrer jahreszeitlichen Metaphorik vom Sommer über den Herbst zum Winter auf eine Verfallsgeschichte deuten: Ende des Sommers und die mittlere Stadt (erster Teil), Später Herbst – und die große Stadt (zweiter Teil), Sehr viel Winter und ein Wartesaal (dritter Teil). Die Handlungsstruktur ist als episodisch erzählte Bildungsgeschichte angelegt, das Ende aber bleibt offen. Das konsumorientierte ›material girl‹ Doris, »ein Mädchen, das weiter will und Ehrgeiz hat« (KM 13), stammt aus kleinsten Verhältnissen. Sie will nicht länger ein tristes Dasein als kleine Büroangestellte führen, sie möchte stattdessen »so ein Glanz werden, der oben ist« (KM 44), wobei sie sich darunter ein glamouröses Leben vorstellt, wie sie es aus dem Kino kennt. Im Bewusstsein ihrer erotischen Wirkung auf Männer, ihrem einzigen Kapital, entschließt sie sich zum Ausstieg aus dem alten in ein vermeintlich neues Leben, das zunächst als kleine Statistin im Theater ihrer Heimatstadt beginnt. Dort entwendet sie einen teuren Pelzmantel, einen Feh, um mit ihm – bis hierher reicht der erste Teil – in Berlin den sozialen Aufstieg zu schaffen, was ihr nicht gelingt. Der zentrale zweite Teil, dessen Handlungszeit auf den Tag genau vom 28. September bis zum 24. Dezember 1931 zu datieren ist, erzählt von der hoffnungsfrohen Ankunft in Berlin und präsentiert in einem bunten Bilderbogen die Welt der Großstadt in ihrem äußeren Glanz als kommerzielle und kulturelle Metropole der Weimarer Republik, wobei auch die sozialen Probleme und politischen Spannungen der Zeit zur Sprache kommen. Die Heldin flaniert durch die großen Straßen Berlins, vorbei an den Kaufhäusern und Kinos, durch die Vergnügungslokale, begibt sich in _____________ turwissenschaft in der Klassischen Moderne. Internationales Darmstädter MusilSymposium. Tübingen 2005, S. 9-22, hier S. 20 (= KULI. Studien und Texte zur Kulturgeschichte der deutschsprachigen Literatur 4).
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einen Reigen von wechselnden Männerbekanntschaften. Dies alles ist plastisch in Szene gesetzt durch die Ich-Perspektive der Protagonistin mit ihrem optimistischen Naturell. Dieser Optimismus wird angesichts der Diskrepanz von Wunsch und Wirklichkeit zunehmend auf harte Proben gestellt. Der Glanz der Oberfläche wird problematisiert, die Moderne gerät ins Zwielicht, die von Kracauer diagnostizierte metaphysische Obdachlosigkeit wird von Irmgard Keun im Schicksal ihrer Heldin gegenständlich. Obdachlos und am Rande der Prostitution wird Doris im dritten Teil von einem Mann aufgelesen, den seine Frau verlassen hat. Sie entwickelt Zuneigung zu diesem Mann, der sie aus Mitleid und Einsamkeit aufgenommen hat, verlässt ihn allerdings, da sie erkennt, dass dieser ganz auf seine Ehefrau fixiert ist, mit der sie dann ein Treffen und damit die Versöhnung mit deren Gatten arrangiert. Das offene Ende des Romans zeigt die Protagonistin wieder herumirrend auf dem Weg zum »Wartesaal Zoo« und mit der im letzten Satz explizit formulierten Ahnung, dass ihre Sehnsucht nach Liebe und menschlicher Geborgenheit stärker ist als ihre materielle Orientierung am Glanz der Moderne, denn auf »den Glanz kommt es nämlich vielleicht gar nicht so furchtbar an« (KM 204f.). Demnach wäre der Roman als Darstellung zu lesen, »wie die Oberfläche und ihre Oberflächlichkeit […] brüchig werden«,6 zugleich aber ist die Oberfläche im Roman handlungsleitend als Projektionsfläche präsent, als Objekt der Sehnsucht der Protagonistin in ihrer Fixierung auf den ›Glanz‹ damit eigentlicher Gegenstand des Erzählten. Auch wenn ein elegischer Ton im dritten Teil die Atmosphäre stärker prägt als im ersten und zweiten Teil des Romans, so wird dieser Ton doch selbst hier noch unterlaufen durch den charakteristischen Witz der IchErzählerin, durch die Komik ihrer pointierten Beschreibung, durch einen Stil, der Sentimentalität durch Sachlichkeit bricht – durch rhetorische Mittel wie insbesondere das häufig verwendete Zeugma, die zahlreichen Anakoluthe oder die auffälligen Metonymien,7 aber auch durch die Synästhesien oder Ellipsen, überhaupt durch die kühnen Metaphern und assoziativen Bildsprünge sowie insgesamt durch den mal asyndetisch, mal polysyndetisch reihenden Stil, der als sprachliches Stakkato Tempo und Unmittelbarkeit vermittelt. »Forcierte Prosa«8 – die stilistisch kunstvoll _____________ 6 7
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Häntzschel: Irmgard Keun, S. 43. Vgl. Renate Kühn: Das kunstvolle kunstseidene Mädchen. Zu dem gleichnamigen Roman von Irmgard Keun, in: Gerhard Rademacher (Hg.): Becker – Bender – Böll und andere. Nordrhein-westfälische Literaturgeschichte für den Unterricht. Essen 1980, S. 65-72, hier S. 71f. Vgl. Volker Klotz: Forcierte Prosa. Stilbeobachtungen an Bildern und Romanen der Neuen Sachlichkeit, in: Rainer Schönhaar (Hg.): Dialog. Literatur und Literaturwissenschaft im
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vermittelte Komik erfasst plastisch Mentalitäten und Verhaltensweisen und sorgt für die eigenwillige zeitdiagnostische Prägnanz des Romans.
2. Der Roman Das kunstseidene Mädchen zählt zu den meistverkauften Büchern des Jahres 1932.9 Seine Verfasserin war eine Erfolgsautorin, die jedoch nicht in erster Linie als Unterhaltungsschriftstellerin gesehen wurde, sondern deren Romane in der Kritik kontrovers diskutiert wurden. Die Zeitgenossen haben Keuns zweiten Roman sehr unterschiedlich beurteilt,10 was angesichts des ideologisch weit gespannten Meinungspektrums in der Weimarer Republik nicht verwundert. So nahm die konservative und deutschnationale Presse vor allem aus sexualmoralischen Gründen Anstoß an Inhalt und Stil. Der Roman wühle »in der Gosse«, gestalte mit der promiskuitiven Heldin »Untermenschentum« in einem »tollen, widersinnigen Geschreibsel«, Keun möge gefälligst »deutsch schreiben, deutsch reden und deutsch denken« und die »nahezu gemeinen Anwürfe gegen die deutsche Frau sich versagen«.11 Grundsätzlich missbilligt wurde das jenseits jeder idealistischen oder moralisierenden Tendenz gestaltete moderne Sujet. Hier gehe es »in den Schmutz hinein«, der Roman habe als Ziel, dem »Götzen Materie die unbedingte Herrschaft zu geben«.12 Der Verfasserin wurde damit übelgenommen, dass sie die Moderne als eine Kultur der Oberfläche identifizierte. Die Ambivalenz des ›Glanzes‹ wurde dabei ignoriert. Neben der Empörung über die mit Sympathie gestaltete »Hurerei« einer »Nutte«13 lag dann auch der erstmals am 26. Juni 1932 scharf formulierte Plagiatsvorwurf (Keuns Roman weise allzugroße Ähnlichkeiten auf mit den Romanen Gentlemen prefer Blondes von Anita Loos und Karriere von Robert Neumann),14 der in der konservativen _____________ 9 10 11 12 13 14
Zeichen deutsch-französischer Begegnung. Festgabe für Josef Kunz. Berlin 1973, S. 244271, zu Das kunstseidene Mädchen S. 260-271. Vgl. Häntzschel: Irmgard Keun, S. 40f. Vgl. die Dokumentation der Erstrezeption des Romans in: Arend, Martin (Hg.): Irmgard Keun 1905/2005, S. 71-84, in welcher die im Folgenden zitierten zeitgenössischen Rezensionen nachgedruckt sind. [Kurt Herwarth] Ball: Kosmos Flam, in: Hammer. Blätter für deutschen Sinn 31 (1932), Nr. 727/728, S. 251f., hier S. 252. Meta Scheele: Die Frau und die Gegenwart. Neue Frauenbücher, in: Berliner BörsenZeitung, 21. August 1932. M[artha] M[aria] Gehrke: Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen, in: Vossische Zeitung, 26. Juni 1932. Vgl. die Dokumentation der Auseinandersetzung zwischen Irmgard Keun, Kurt Tucholsky und Robert Neumann über den Plagiatsvorwurf in Arend, Martin (Hg.): Irmgard Keun
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Presse erhoben worden war, im mangelnden Verständnis moderner Literatur begründet. Immerhin hat der inzwischen angesichts etablierter moderner Schreibweisen, zu denen auch intertextuelle Verfahren gehören, nicht mehr nachvollziehbare Plagiatsvorwurf mittlerweile komparatistische Untersuchungen angeregt.15 Die linksliberale Presse dagegen lobte den Roman. Kurt Tucholsky beispielsweise, der Keun bereits angesichts ihres Erstlingsromans als eine »schreibende Frau mit Humor«16 gefeiert hatte, würdigte auch Das kunstseidene Mädchen als ein »durch und durch originelles Buch, das den Leser unwiderstehlich in seinen Wirbel von toller Laune, tiefem Gefühl und tragischer und komischer Verstrickung zieht«, der Roman gebe aber »bei aller überwältigenden Komik ein erschütterndes Bild unseres aus den Fugen geratenen Daseins« und wachse sich »zu einer erschütternden Anklage gegen die Gesellschaft«17 aus. Während Tucholsky die tragikomische Gesellschaftskritik durch subversiven Humor hervorhob, haben andere Rezensenten angesichts des direkten Gegenwartsbezugs den Roman mehr soziologisch ambitioniert gelesen, die Heldin als »Abzeichnung eines Zeittypus«,18 als »Typ der kleinen Angestellten von heute«,19 »die von der Schreibmaschine aus die Karriere machen, ›ein Glanz‹ werden wollen, was zwischen den Straßen, den Lokalen und zweifelhaften Betten abläuft«.20 Alle diese Rezensenten zielten auf das für die Kultur der Weimarer Republik charakteristische Weiblichkeitskonzept ›neue Frau‹, jenen als Inbegriff der Modernität geltenden weiblichen Sozialtypus der berufstätigen und sich modern verstehenden Frau, den auch die neuere Forschung immer _____________
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1905/2005, S. 131-136. Vgl. zum Plagiatsvorwurf außerdem Kerstin Barndt: Sentiment und Sachlichkeit. Der Roman der neuen Frau in der Weimarer Republik. Köln, Weimar, Wien 2003, S. 169-184. Vgl. Livia Z. Wittmann: Erfolgschancen eines Gaukelspiels. Vergleichende Beobachtungen zu Gentlemen Prefer Blondes (Anita Loos) und Das kunstseidene Mädchen (Irmgard Keun), in: Carleton Germanic Papers 11 (1983), S. 35-49 – Katharina von Ankum: Material Girls. Consumer Culture and the »New Women« in Anita Loos’ Gentlemen Prefer Blondes and Irmgard Keun’s Das kunstseidene Mädchen, in: Colloquia Germanica 27/2 (1994), S. 159-172. Peter Panter [d.i. Kurt Tucholsky]: Auf dem Nachttisch, in: Die Weltbühne 28/5 (1932), S. 177-180, hier S. 180. Vgl. Arend, Martin (Hg.): Irmgard Keun 1905/2005, S. 66f. Kurt Tucholsky: Das kunstseidene Mädchen. Roman von Irmgard Keun, in: GewerkschaftsArchiv. Monatsschrift für Theorie und Praxis der gesamten Gewerkschaftsbewegung 9 (1932), Bd. 17, Nr. 1, S. 37f. Fritz Walter [d.i. Friedrich Wallensteiner]: Zwei Bücher über die Liebe, in: Berliner BörsenCourier, 12. Juni 1932. Friedrich Weissinger: Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen, in: Die literarische Welt 8/31 (1932), S. 5. [Franz] Blei: Das kunstseidene Mädchen, in: Der Querschnitt 12/7 (1932), S. 528f. Franz Blei hat aber darauf hingewiesen, dass dennoch »nirgends das steingraue Gesicht des Soziologischen fatal aus den Zeilen schaut«.
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wieder in den Blick genommen hat, da er als Ikone der Weimarer Moderne und kultureller Mythos fasziniert. Entsprechend ist Das kunstseidene Mädchen als ein Roman der ›neuen Frau‹ interpretiert worden.21 So wurde die Protagonistin Doris allgemein als Fiktionalisierung der ›neuen Frau‹ im Kontext der Neuen Sachlichkeit verstanden,22 als Figuration der ›neuen Frau‹ im Hinblick auf ihre Berufstätigkeit,23 nämlich als weibliche Angestellte im Konflikt mit ihrer Arbeit,24 oder im Hinblick auf ihre erotische Libertinage als »Weiblichkeitsdarstellerin«25 im Kontext des liberalen zeitgenössischen Sexualdiskurses. Die ›neue Frau‹ jedenfalls gilt als eines der »Schlüsselbilder«26 des kulturellen Umbruchs in der Weimarer Republik, welches Irmgard Keun literarisch erfasst habe. Diese Deutungsperspektive steht wissenschaftsgeschichtlich im Zusammenhang mit der Wiederentdeckung der zuvor vergessenen Autorin Ende der 1970er Jahre durch die feministische Literaturwissenschaft, in deren Nachfolge biographische Lesarten sich ebenso etablierten wie generell Fragen nach weiblicher Lebenserfahrung, weiblicher Identität und nicht zuletzt ›weiblichem Schreiben‹ (von Überlegungen also zu einer
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Vgl. insbesondere die Studie von Barndt: Sentiment und Sachlichkeit, S. 167-208. Vgl. James McPherson Ritchie: Irmgard Keun’s Weimar Girls, in: Publications of the English Goethe Society 60 (1989/90), S. 63-79 – Doris Rosenstein: »Mit der Wirklichkeit auf du und du«? Zu Irmgard Keuns Romanen Gilgi, eine von uns und Das kunstseidene Mädchen, in: Sabina Becker, Christoph Weiß (Hg.): Neue Sachlichkeit im Roman. Neue Interpretationen zum Roman der Weimarer Republik. Stuttgart, Weimar 1995, S. 273-290 – Deborah Smail: White-collar Workers, Mass Culture and ›Neue Sachlichkeit‹ in Weimar Berlin. A Reading of Hans Fallada’s Kleiner Mann – was nun?, Erich Kästner’s Fabian and Irmgard Keun’s Das kunstseidene Mädchen. Bern, Berlin 1999 – Andrea Capovilla: Fiktionalisierungen der ›Neuen Frau‹ im Kontext der Neuen Sachlichkeit: Frieda Geier, Helene Willfüer, das »kunstseidene Mädchen«, in: Friedbert Aspetsberger, Konstanze Fliedl (Hg.): Geschlechter. Essays zur Gegenwartsliteratur. Innsbruck, Wien, München 2001, S. 96-113, hier S. 103-105. Vgl. Christa Jordan: Zwischen Zerstreuung und Berauschung. Die Angestellten in der Erzählprosa am Ende der Weimarer Republik. Frankfurt a.M. 1987, S. 81-117. Vgl. Anne Elizabeth Kautz: The Fruits of Her Labor. Working Women and Popular Culture in the Weimar Republic. Ann Arbor 1997, S. 183-196. Kerstin Barndt: »Engel oder Megäre«. Figurationen einer ›Neuen Frau‹ bei Marieluise Fleißer und Irmgard Keun, in: Maria E. Müller, Ulrike Vedder (Hg.): Reflexive Naivität. Zum Werk Marieluise Fleißers. Berlin 2000, S. 16-34, hier S. 28. Vgl. Doris Rosenstein: »Die neue Frau« – »Die große Stadt«. Schlüsselbilder des kulturellen Umbruchs am Anfang der 30er Jahre in Romanen von Irmgard Keun und Heinz Steguweit, in: Dieter Breuer, Gertrude Cepl-Kaufmann (Hg.): Moderne und Nationalsozialismus im Rheinland. Vorträge des interdisziplinären Arbeitskreises zur Erforschung der Moderne im Rheinland. Paderborn 1997, S. 163-177.
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»Frauensprache«27 über Diskussionen »of women’s silence or speechlessness in literature«28 bis hin zu von Lacan inspirierten29 postmodernen Perspektivierungen des ›Anderen‹ in der Geschlechterdifferenz). Das kunstseidene Mädchen ist dabei in erster Linie mit Blick auf die Wirklichkeitsbezüge als Zeitroman aufgefasst worden, etwa als »Roman der inneren Zeitgeschichte«30 nach der Lesart Kracauers. Die Protagonistin Doris wurde in der Regel als eines jener »Girls in Crisis«31 mit Blick auf die weibliche Lebenswirklichkeit betrachtet, wobei literarisch fiktionalisierter weiblicher Lebensentwurf32 und Identitätsprozess33 sowie generell weibliches Emanzipationsbestreben34 nicht selten allzu autobiographisch begriffen wurden. Autobiographische Deutungen fallen bei weiblichen Autoren offenbar leichter als bei männlichen, auch wenn Irmgard Keun mit ihrer kleinen Diebin Doris etwa so viel zu tun hat wie Alfred Döblin mit seinem Zuchthäusler Franz Bieberkopf aus Berlin Alexanderplatz. Obwohl rezeptions- und forschungsgeschichtliche Untersuchungen zu Irmgard Keun noch relativ spärlich gesät sind,35 so sind biographistische Lesarten, die den Roman Das kunstseidene Mädchen beispielsweise schlicht als »Selbstreflektionen der Autorin«36 interpretieren, inzwischen doch mit guten Gründen kritisiert worden.37 _____________ 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37
Vgl. Gerd Schank: Das kunstseidene Mädchen von Irmgard Keun. Skizze einer Frauensprache, in: Hans Ester, Guillaume van Gemert (Hg.): Annäherungen. Studien zur deutschen Literatur und Literaturwissenschaft im 20. Jahrhundert. Amsterdam 1985, S. 35-64. Ritta Jo Horsley: »Warum habe ich keine Worte? … Kein Wort trifft zutiefst hinein«. The Problematics of Language in the Early Novels of Irmgard Keun, in: Colloquia Germanica 23 (1990), Nr. 3/4, S. 297-313, hier S. 298. Vgl. Annette Keck: »... und bin eine Bühne«. Imaginäres zwischen Keun und Lacan, in: Erich Kleinschmidt, Nicolas Pethes (Hg.): Lektüren des Imaginären. Bildfunktionen in Literatur und Kultur. Köln, Weimar, Wien 1999, S. 109-127. Irene Lorisika: Frauendarstellungen bei Irmgard Keun und Anna Seghers. Frankfurt a.M. 1985, S. 144. Richard W. McCormick: Gender and Sexuality in Weimar Modernity. Film, Literature, and »New Objectivity«. New York 2001, S. 129. Vgl. Stephanie Bender: Lebensentwürfe im Romanwerk Irmgard Keuns. Taunusstein 2000, S. 43-59. Vgl. Monika Shafi: »Aber das ist es ja eben, ich habe keine Meinesgleichen«. Identitätsprozeß und Zeitgeschichte in dem Roman Das kunstseidene Mädchen von Irmgard Keun, in: Colloquia Germanica 21 (1988), S. 314-325. Vgl. Katharina Viebrock: Von weiblicher Freiheit. Figuren bei Virginia Woolf, Irmgard Keun, Jean Rhys. Königstein i.Ts. 2002, S. 61-103. Vgl. Anke Berns: Die Rezeption des literarischen Werkes von Irmgard Keun. Cádiz 2002. Ingrid Marchlewitz: Irmgard Keun. Leben und Werk. Würzburg 1998, S. 120. Vgl. Hiltrud Häntzschel: Vom wissenschaftlichen Umgang mit den Leerstellen im biographischen Material. Ein Werkstattbericht am Beispiel Irmgard Keuns, in: Irmela von der Lühe, Anita Runge (Hg.): Biographisches Erzählen. Stuttgart, Weimar 2001, S. 115-125, zu Marchlewitz S. 123f. (= QuerElles. Jahrbuch für Frauenforschung 6).
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Ungeachtet solcher auf die Autorin fixierten Deutungsansätze hat sich die neuere Forschung auf die Wirklichkeitsbezüge des Romans zur späten Weimarer Republik konzentriert.38 Diese dominierende wirklichkeitsbezogene Lesart der Forschung ist insofern plausibel, als die Themen und Motive des Romans ja tatsächlich der unmittelbaren Gegenwart der Jahre 1931/32 entnommen sind. Die überaus dicht gestreuten Authentizitätssignale reichen immerhin von zeitgenössischen Schlagern über die Damenmode bis hin zum Kino, wobei der Film das besondere Interesse der Forschung gefunden hat.39 Zu identifizieren ist über den Bereich der Kulturindustrie und Popularkultur hinaus aber auch generell das soziale und politische Leben jener Zeit. Und es sind die »Authentizitätseffekte von Keuns Zeitroman«, welche für die »Brisanz« der Erstrezeption zwischen den politischen Fronten »ausschlaggebend«40 waren. Das Etikett ›Zeitroman‹ jedenfalls ist durchaus legitim, auch wenn die Handlungsstruktur zugleich an Elemente des Entwicklungs- oder Bildungsromans denken lässt. Was romantypologische Zuordnungen angeht, so ist Das kunstseidene Mädchen von der neueren Forschung auch als Schelmenroman und damit Doris als Pikara gelesen worden.41 Damit wäre der Roman eine moderne Simpliziade und in eine Reihe mit anderen neopikaresken Romanen des 20. Jahrhunderts zu stellen, die häufig als Parodien oder Travestien von Bildungsgeschichten daherkommen. Dafür, den Roman als Schelmenroman zu lesen, spricht immerhin die charakteristische Ich-Form der fiktiven Autobiographie mitsamt der episodischen Erzählstruktur oder die Tatsache, dass die Heldin von ›niederer‹ Herkunft und eine gesellschaftliche Außenseiterin ist, als Abenteurerin in verschiedenen, auch kriminellen oder moralisch anrüchigen, Rollen umherzieht und sich durch die Welt schlägt. Anknüpfend an die kriminellen oder moralisch anrüchigen Elemente, die für den pikarischen Roman konstituierend sind, bietet der Schelmenroman Das kunstseidene Mädchen selbst, und zwar in _____________ 38
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Vgl. Doris Rosenstein: Irmgard Keun. Das Erzählwerk der dreißiger Jahre. Frankfurt a.M. 1991, S. 9-125 – Urte Helduser: Sachlich, seicht, sentimental. Gefühlsdiskurs und Populärkultur in Irmgard Keuns Romanen Gilgi, eine von uns und Das kunstseidene Mädchen, in: Arend, Martin (Hg.): Irmgard Keun 1905/2005, S. 13-27. Vgl. Leo A. Lensing: Cinema, Society, and Literature in Irmgard Keun’s Das kunstseidene Mädchen, in: The Germanic Review 60/4 (1985), S. 129-134 – McCormick: Gender and Sexuality in Weimar Modernity, S. 129-146 – Lorna Jane Sopcak: The Appropriation and Critique of the Romance Novel, Film, and Fashion in Irmgard Keun’s Weimar Prose. Humor, Intertextuality, and Popular Discourse. Ann Arbor 1999. Kerstin Barndt: »Eine von uns?« Irmgard Keuns Leserinnen und das Melodramatische, in: Walter Fähnders, Helga Karrenbrock (Hg.): Autorinnen der Weimarer Republik. Bielefeld 2003, S. 137-162, hier S. 138. Vgl. Heinrich Detering: Les vagabondes. Le retour des héroines picaresques dans le roman allemand, in: Ėtudes Littéraires 26/3 (1993/94), S. 29-43, hier S. 33-39 – Barndt: Sentiment und Sachlichkeit, S. 184-186.
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humoristischer Weise mit Blick auf den Diebstahl des Fehs und die Flucht der Protagonistin vor der Polizei, eine auf einen Romantyp zielende Lesart an. Doris sagt: »Ich bin ein Detektivroman.« (KM 58) Auch wenn diese Äußerung der Komik des Romans verpflichtet ist – hier lässt sich eine Brücke schlagen vom Schelmenroman zum Zeitroman. Der Detektivroman als mit dem Genre der Abenteuergeschichte verwandter Typ des Kriminalromans mit seinem standardisierten Erzählmuster nämlich verweist wiederum auf die spezifische Integration aktueller Realitätsbezüge, indem er als identifikatorisches Bekenntnis der Protagonistin in den Mund gelegt ist. Aber ebenso wie ein Detektivroman als populäres Genre der Unterhaltungsliteratur ist Das kunstseidene Mädchen etwa auch ein BerlinRoman42 – »ich bin Berlin« (KM 88) sagt Doris ebenfalls von sich. Der Roman jedenfalls bietet für eine romantypologische Einordnung selbst Lesarten an, die lediglich auf den ersten Blick ›nur komisch‹ sind, tatsächlich aber weitere Interpretationsperspektiven eröffnen, indem das Element des Spielerischen zutage tritt. Er inszeniert ein Leben als Täuschungsspiel,43 zumindest spielt er anhand seiner zentralen Diskurse Mode, Großstadt und Film virtuos mit jenen Oberflächen, welche die Moderne vergegenständlichen.
3. Die zentralen Diskurse des Romans repräsentieren die Moderne als Kultur der Oberfläche und sind vor diesem Hintergrund miteinander vernetzt. Es ist dies eine visualisierte Kultur, eine Kultur des Sehens. Bei der Mode geht es um Sehen und Gesehen werden. Mode und Moderne gehören zusammen.44 Die Präsenz der Mode im Roman ist an das großstädtische _____________ 42
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Vgl. Katharina von Ankum: »Ich liebe Berlin mit einer Angst in den Knien«. Weibliche Stadterfahrung in Irmgard Keuns Das kunstseidene Mädchen, in: Katharina von Ankum (Hg.): Frauen in der Großstadt. Herausforderung der Moderne? Dortmund 1999, S. 159-191 [Katharina von Ankum: Gendered urban spaces in Irmgard Keun’s Das kunstseidene Mädchen, in: Katharina von Ankum (Hg.): Women in the Metropolis. Gender and modernity in Weimar culture. Berkeley, Los Angeles, London 1997, S. 162-184] – Klaus R. Scherpe: Doris’ gesammeltes Sehen. Irmgard Keuns kunstseidenes Mädchen unter den Städtebewohnern, in: Irmela von der Lühe, Anita Runge (Hg.): Wechsel der Orte. Studien zum Wandel des literarischen Geschichtsbewußtseins. Festschrift für Anke Bennholdt-Thomsen. Göttingen 1997, S. 312-321 – Ariane Martin: Glanz und Elend der großen Stadt. Berlin 1931/32 in Irmgard Keuns Roman Das kunstseidene Mädchen, in: Matthias Bauer (Hg.): Berlin. Medien- und Kulturgeschichte einer Hauptstadt im 20. Jahrhundert. Tübingen, Basel 2007, S. 173-188. Vgl. Gudrun Raff: Leben: Szenen eines Täuschungsspiels. Zu literarischen Techniken Irmgard Keuns. Diss. Hamburg 2000, S. 35-98. Vgl. Julia Bertschik: Mode und Moderne. Kleidung als Spiegel des Zeitgeistes in der deutschsprachigen Literatur (1770–1945). Köln, Weimar, Wien 2005.
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Leben gebunden, welches sich ebenfalls vor allem optisch erschließt. Dass Sehen für das Kino konstitutiv ist, versteht sich ohnehin, wobei die Filmindustrie wiederum in der Metropole besonders präsent ist. Filmisch schließlich gestaltet sich im Roman auch die Wahrnehmung der großstädtischen Moderne und programmatisch auch dessen narratives Verfahren. »Ich denke nicht an Tagebuch […]. Aber ich will schreiben wie Film«, sagt Doris sich ganz zu Anfang des Romans, als sie ihr Tagebuch beginnt, und »wenn ich später lese, ist alles wie Kino – ich sehe mich in Bildern« (KM 10f.). Immerhin konstituiert zuallererst das Sehen den Selbstentwurf der Protagonistin,45 genau genommen: das Sehen und Gesehen werden. Deshalb ist die Mode für Doris so wichtig. Sie ist fixiert auf ihr Äußeres, auf ihren Teint, ihre Figur und ihre Frisur, vor allem aber auf ihre Kleidung, von der ständig die Rede ist und die modisch sein muss. »Ich möchte ein Kleid haben aus blaßrosa Tüll mit silbernen Spitzen und einer dunkelroten Rose an der Schulter – ich werde versuchen, daß ich eine Stelle kriege als Mannequin« (KM 30), überlegt Doris beispielsweise, die ganz genau weiß, was modern ist und was unmodern. Alles, was sie an Geld zur Verfügung hat, investiert sie in Mode, denn »komplett in Garderobe« zu sein stellt für sie »eine große Hauptsache« (KM 13) dar, wie es bereits zu Beginn des Romans heißt. Bald darauf wird sie sich auf ungesetzliche Weise jenen Mantel aneignen, welcher ihre Flucht nach Berlin und somit den weiteren Handlungsverlauf des Romans begründet. Der Feh, jener wertvolle Pelzmantel aus sibirischem Eichhörnchenfell, den Doris im Theater ihrer Provinzstadt gestohlen hat und wegen dieses Diebstahls sie in die Metropole Berlin entflieht, zieht sich zum Dingsymbol verdichtet leitmotivisch durch den Text. Wie unter einem inneren Zwang hat sie den Mantel in ihren Besitz gebracht, sich quasi in ihn verliebt – so süßer, weicher Pelz. So zart und grau und schüchtern, ich hätte das Fell küssen können, so eine Liebe hatte ich dazu. Es sah nach Trost aus und Allerheiligen und nach hoher Sicherheit wie ein Himmel. Es war echt Feh. […] Und der Pelz war für meine Haut wie ein Magnet und sie liebte ihn, und was man liebt, gibt man nicht mehr her, wenn man es mal hat. (KM 59f.)
Das Verhältnis der Protagonistin zu diesem Pelzmantel, den sie nicht mehr lassen möchte, fand Simone de Beauvoir so eindrücklich, dass sie 1949 in ihrem berühmten Buch Le Deuxième Sexe darauf einging. Die Toilette ist deshalb für viele Frauen so wichtig, weil sie ihnen die Welt und ihr eigenes Ich zugleich in der Illusion liefert. Ein deutscher Roman, Das kunstseidene Mädchen, erzählt, welche Leidenschaft ein armes junges Mädchen für einen echten Feh-Mantel empfindet. Sie liebt die wohltuende Wärme, die Zärtlichkeit
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Vgl. Anne Fleig: Das Tagebuch als Glanz: Sehen und Schreiben in Irmgard Keuns Roman Das kunstseidene Mädchen, in: Arend, Martin (Hg.): Irmgard Keun 1905/2005, S. 45-60.
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seines Pelzes geradezu sinnlich. Unter kostbaren Pelzen liebt sie ihr eigenes verwandeltes Ich. Endlich besitzt sie die Schönheit der Welt, die sie nie umfangen 46 hatte, das strahlende Schicksal, das nie ihr eigen geworden war.
Doris’ Flucht wegen des Pelzes und übrigens auch im Pelz (sie trägt ihn auf der Flucht) ist eine Flucht in den Pelz, der ihr mit seiner Wärme aber auch den Liebhaber ersetzt. »Um mich war der Mantel und hatte mehr schlagendes Herz für mich als Hubert.« (KM 60) Wenn es im Roman eine glückliche Liebesbeziehung gibt, dann ist es diejenige von Doris zu dem gestohlenen Mantel, in den sie sich einhüllt und in dem sie sich geschützt fühlt, zugleich aber der Welt signalisieren will, sie selbst sei das, was der Pelz repräsentiert. »So hochelegant bin ich in dem Pelz. Der ist wie ein seltener Mann, der mich schön macht durch Liebe zu mir. […] Der Mantel will mich, und ich will ihn, wir haben uns.« (KM 62) Sie identifiziert sich mit einer teuren modischen Oberfläche, welche für sie nicht nur materiell, sondern vor allem auch emotional wertvoll ist. Dieser Wert entfaltet sich für Doris jedoch erst dort entscheidend, wo ihrer Ansicht nach modische Eleganz gewürdigt wird, in der Großstadt, denn zur Metropole gehört für sie die Mode. Dass die Frauen in Berlin »schick« (KM 65) gekleidet sind, fällt ihr gleich bei ihrer Ankunft auf. Es ist vor allem der Kommerz, der Glanz des Kapitalismus, der in den Kaufhäusern und Geschäften in den breiten Straßen des Berliner Westens auf Doris seinen Reiz ausübt, obwohl sie sich die angebotenen Waren nicht leisten kann. »Da war ich zuerst auf dem Kurfürstendamm, da stand ich vor einem Schuhgeschäft, da sah ich so süße Schuhe« (KM 76), erzählt sie beispielsweise, und an anderer Stelle: »ich gehe die Tauentzien – und Geschäfte mit rosa Korsetts verkaufen in einem auch grüne Pullover« (KM 101). Durch und durch geprägt von »ihrer Vorstellung von Glück als Konsumparadies«47 beeindruckt sie auch das prächtige Kaufhaus des Westens am Wittenbergplatz. »Und Menschen am KaDeWe, das ist so groß und mit Kleidern und Gold und […] Damen, die kaufen drinnen« (KM 101). Für sie selbst ist dieser Luxus freilich unerschwinglich, sie kann nur flanierend in ihrer Schaulust schwelgen. Wie mit ihrem Pelzmantel (als Repräsentation von Mode), so identifiziert sich Doris auch mit Berlin (als Repräsentation von Großstadt). Die Stadt sei voll von ungeheurem Leben, bunt, aufregend und spannend. Doris fühlt sich zumindest nach ihrer unmittelbaren Ankunft den Massen zugehörig, die hier für Berlin stehen – »ich gehörte gleich zu den Berlinern so mitten rein« (KM 70). Sind es zu Beginn jene Menschenmassen, denen Doris sich zugehörig fühlt, so wird dieses emotionale Erlebnis bald relati_____________ 46 47
Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Reinbek b. Hamburg 1968, S. 514. Shafi: Identitätsprozeß und Zeitgeschichte, S. 316.
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viert, als sie die Anonymität in der Großstadt spürt. Zwischenmenschliche Beziehungen fehlen, der Wunsch danach ist aber da. »Berlin ist so schön, Berlin ist ein lieber Gott, ich möchte ein Berliner sein und zugehören.« (KM 87) Sie erfährt rasch, dass soziale Integration in der Metropole ein schwieriges Unterfangen ist. »Und Berlin ist sehr großartig, aber es bietet einem keine Heimatlichkeit, indem daß es verschlossen ist.« (KM 85) Sie fühlt sich isoliert. Gleichwohl aber wird Berlin von ihr als schön, großartig, enorm, fabelhaft wahrgenommen. »Es ist eine fabelhafte Stadt.« (KM 66) Die Wertschätzung der Großstadt, welche stets superlativisch oder jedenfalls emphatisch positiv apostrophiert wird, ist uneingeschränkt. »Alle sollten nach Berlin. So schön.« (KM 90) Es ist die Kultur der reinen Oberfläche, des Glanzes, der Doris begeistert, ein Glanz, den sie in ihrer Person verkörpert sehen möchte. »Doris hat sich mit den Oberflächen der Metropole verbündet«,48 weil sie sich in ihnen wiedererkennt und die Großstadt zugleich zur Projektionsfläche ihrer Aufstiegshoffnungen taugt. Deshalb ist sie trotz gelegentlicher Niedergeschlagenheit froh, nicht mehr zuhause zu sein. »Ich liebe ja meine Mutter mit einer Sehnsucht und bin doch so froh, daß ich fort bin und bin in Berlin, und es ist eine Freiheit, ich werde ein Glanz.« (KM 91) Berlin scheint der Garant für den Erfolg ihres Aufstiegsprojektes, die Stadt mit ihrer Warenwelt und Vergnügungsindustrie bedeutet für sie zugleich die sichtbare Präsenz jenes Glanzes, den sie ersehnt. Die Begeisterung für Berlin jedenfalls entzündet sich an der Oberfläche, an der Vielfalt der Eindrücke, welche die großstädtische Moderne vermittelt. Die emotionale Entgrenzung, die Doris bei ihrer Ankunft in Berlin erlebte, korrespondiert mit ihrer entgrenzten Wahrnehmung, die synästhetisch die überwältigenden sinnlichen Eindrücke vermischt. Sehen, hören, riechen, schmecken, »mit allen Sinnen liefert sie sich der Stadt aus – taktil, optisch, akustisch, mit der Nase, der Haut, mit den Geschmacksnerven nimmt sie die Stadt in sich hinein«.49 Berlin ist als sinnlich wahrnehmbarer Ort für die Protagonistin derart präsent, dass sie sich in der Großstadt verliert oder findet, je nachdem, wie man ihre Erfahrungen bewertet. Ich bin in Berlin. Seit ein paar Tagen. […] Ich habe Maßloses erlebt. Berlin senkte sich auf mich wie eine Steppdecke mit feurigen Blumen. Der Westen ist vornehm mit hochprozentigem Licht […]. Wir haben hier ganz übermäßige Lichtreklame. Um mich war ein Gefunkel. Und ich mit dem Feh. (KM 65)
So beginnt der zweite Teil des Romans mit der Beschreibung ihrer ersten Eindrücke von Berlin. Sie »verschmilzt […] symbiotisch mit ihrem Ber_____________ 48 49
Johannes Roskothen: Verkehr. Zu einer poetischen Theorie der Moderne. München 2003, S. 13. Rosenstein: Irmgard Keun, S. 70.
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lin«,50 sie identifiziert sich mit der Stadt, wie das Changieren zwischen ›ich‹ und ›wir‹, zwischen Individuellem und Kollektivem verrät. Das zum Vergleich mit der Wirkung Berlins auf die Protagonistin von ihr gewählte Bild der exotisch geblümten Decke lässt erkennen, dass Doris sich von der Stadt eingehüllt fühlt, eingehüllt wie von ihrem Feh. Zugleich aber verweist die kunsthandwerkliche Machart dieser Decke auf den Bereich des künstlich Hergestellten. Auch die Lichter der Großstadt, die Leuchtreklamen oder auch die Lichtspielhäuser, sind künstlicher, technischer Natur. Überhaupt sind es insbesondere die glamourösen Aspekte, die Lichter und Farben, welche Berlin als schillernd charakterisieren. »Berlin ist mir ein Ostern, was auf Weihnachten fällt, wo alles voll geschillerten Betrieb ist« (KM 91). Selbst die Verkehrsmittel strahlen vor Licht, womit sogar die bedrohlichen Aspekte etwa der U-Bahn nivelliert erscheinen. »Es gibt eine Untergrundbahn, die ist wie ein beleuchteter Sarg auf Schienen«. (KM 65) Die fast ausschließlich auf die schillernde Dingwelt bezogene Identifikation der Protagonistin mit der Großstadt und ihren Lichtern mündet schließlich in das entsprechende Bekenntnis: »Mein Leben ist Berlin, und ich bin Berlin.« (KM 88) Dieses Bekenntnis spricht Doris aus, nachdem sie eines der zahlreichen Lokale Berlins besucht hat, das Residenz-Casino, kurz ›Resi‹ genannt, das mit seinen Leuchtfontänen um die Tanzfläche sowie anderen künstlichen Effekten und technischen Raffinessen zu den bekanntesten Vergnügungsstätten Berlins in der Weimarer Republik zählte. Das ›Resi‹ bot eine spektakuläre Ausstattung, die ganz dem Geschmack der Protagonistin von Keuns Roman entspricht. Zwar besucht Doris zahlreiche Lokale und erwirbt sich bei »ihrem unermüdlichen Routieren durch die Stätten des nächtlichen Amüsements […] einen fast soziologischen Überblick über die Bevölkerung Berlins«,51 aber es ist vor allem dieses Lokal, das von Doris als repräsentativ für den Glanz der Großstadt wahrgenommen wird. Dieses Lokal steht für das Berlin, mit dem Doris sich uneingeschränkt identifiziert. Es sei »gar kein Lokal, das ›Resi‹«, sondern »lauter Farbe und gedrehtes Licht, […] ein betrunkener Bauch, der beleuchtet wird, es ist eine ganz enorme Kunst. Sowas gibt es nur in Berlin. Man denke sich alles rot und schillert noch und noch und immer mehr und wahnsinnig raffiniert« (KM 87). Das ganze pseudoluxuriöse Ambiente und Interieur dieses Lokals wird in plastischen Bildern beschrieben, wobei es wieder die Farben und Lichter sind, das Schillernde und Glänzende, welches Doris be_____________ 50 51
Scherpe: Doris’ gesammeltes Sehen, S. 314. Rosenstein: Irmgard Keun, S. 64.
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rauscht. Das ›Resi‹ steht für den Glanz, den Doris sich erträumt und in Berlin sporadisch findet. Neben dem Licht ist es auch die Musik, welche Doris die Wirklichkeit vergessen lässt. »Das ist die Liebe der Matrosen…« – der erfolgreiche Schlager Das ist die Liebe der Matrosen, der fortan den Roman leitmotivisch durchzieht, begegnet erstmals im ›Resi‹ – »das ›Resi‹ war so schön – das ist die Liebe der Matrosen – jawohl Herr Kapitän, jawohl Herr Kapi – gute Nacht, ihr herrlichen bunten Farben.« (KM 87f.) Der Schlager, der Doris nicht aus dem Kopf geht, illustriert das »Denken« der Protagonistin »in Schlagern«52 und der Roman erscheint damit als literarische Umsetzung von Kracauers kritischen Analysen der modernen Massenkultur in seinem berühmten Buch Die Angestellten aus dem Jahr 1930. Dort heißt es über ein beliebiges kleinbürgerliches Mädchen, es könne »kein Musikstück anhören«, »ohne sofort den ihm zubestimmten Schlager mitzuzirpen. Aber nicht sie ist es, die jeden Schlager kennt, sondern die Schlager kennen sie, holen sie ein und erschlagen sie sanft. In einem Zustand völliger Betäubung bleibt sie zurück.«53 In diesem Zustand befindet sich Doris, den Schlager Das ist die Liebe der Matrosen noch im Kopf, nach ihrem Besuch im ›Resi‹. Und über Vergnügungsstätten wie das ›Resi‹ heißt es bei Kracauer, diese »Lokale«, in denen man »für billiges Geld den Hauch der großen Welt verspüren kann«, seien gewissermaßen »Asyle« für die metaphysisch »Obdachlosen«, für die »Massen«, die »in Berlin zusammenströmen«, »um den Hunger […] nach Glanz und Zerstreuung zu stillen«.54 Doris ist eine solche metaphysisch Obdachlose. Der Roman Das kunstseidene Mädchen zeigt neben der großstädtischen Kultur der glänzenden Oberfläche, der sich Doris mit ihren konsumorientierten Träumen und ihrer illusionären Hoffnung auf dauernden ›Glanz‹ verschreibt, auch die weniger glanzvollen Seiten Berlins in den letzten Jahren der Weimarer Republik: Arbeitslosigkeit, Prostitution, soziale Verelendung. Doris flaniert durch die Straßen Berlins, aber »im Gegensatz zum Phänomen des Flaneurs, in dem sich die männliche Dominanz des öffentlichen Raums manifestierte, war sein weiblicher Gegenpart, der weibliche Flaneur, auf die Rolle der Prostituierten festgelegt«.55 Doris hält sich tatsächlich stets hart an der Grenze zur Prostitution über Wasser und wird im Verlauf des Romans zunehmend von der Angst getrieben, als Prostituierte zu enden. Mit dem Schlager »das ist die Liebe der Matrosen – […] jawohl Herr Kapitän – jawohl Herr Kapi –« (KM 205) bannt sie jedoch noch ganz am Ende diese Angst. _____________ 52 53 54 55
Helduser: Sachlich, seicht, sentimental, S. 19. Kracauer: Die Angestellten, S. 68. Kracauer: Die Angestellten, S. 95. Von Ankum: Weibliche Stadterfahrung, S. 167.
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Der mit Doris’ Aufenthalt im ›Resi‹ in den Roman eingeführte Schlager Das ist die Liebe der Matrosen stammt (dort von den Comedien Harmonists gesungen) aus der Filmkomödie Bomben auf Monte Carlo, die am 31. August 1931 in Berlin im Ufa-Palast am Zoo uraufgeführt wurde. Der leitmotivisch eingesetzte Schlager steht damit im Zusammenhang mit dem Kino, welches mit dem neuen Tonfilm Schlager popularisierte. Darauf ist deutlich angespielt, wenn Doris nicht nur ihre Erfahrung von Liebe mit diesem Schlager in Verbindung bringt, sondern das, was im Kino gezeigt wird, als Leben begreift. »Sing ich – – – das ist die Liebe der Matrosen – wunderbarstes Lied, was man hat. […] Das ist die Lie – aus dem Leben gegriffen ist das – wie meine Mutter bei richtigen Kinostücken sagt.« (KM 161) Als Anspielungshorizont hat das Kino im Roman Das kunstseidene Mädchen generell einen außerordentlich hohen Stellenwert. Film als zentraler Diskurs ist dabei inhaltlich wie auch erzähltechnisch als literarisches Verfahren präsent. Inhaltlich spielt das Kino im Roman in mehrfacher Hinsicht eine Rolle. So sieht sich die Protagonistin mit ihrem Freund beispielsweise den als besten Film des Jahres 1931 gefeierten Film Mädchen in Uniform an. »Wir haben zusammen im Kino gesessen, es war ein Film von Mädchen in Uniform.« (KM 180) Und Doris denkt zwar immer wieder daran, zum Film zu gehen – »vielleicht werde ich eine Kanone beim Film« (KM 118), überlegt sie, oder »ich könnte noch Film versuchen« (KM 126) –, aber das Beispiel ihrer Freundin Tilli zeigt ihr eigentlich, dass dies in ökonomischer Hinsicht wenig aussichtsreich zu sein scheint. Über Tilli heißt es, dass »sie filmt. Aber sie kriegt keine Rollen« (KM 66), weshalb Doris sich diese Sache zunächst pragmatisch ganz aus dem Kopf schlägt, Tilli aber gleichwohl unterstützt. »Aber ein übern andern Tag leihe ich ihr meinen Feh für vormittags zur Filmbörse. […] Ich habe auch schon Film versucht, aber das bietet wenig Aussicht.« (KM 75) Deshalb ist sie auch relativ immun gegen einschlägige Versprechungen seitens ihrer diversen Männerbekanntschaften, wenn ihr der eine oder andere sagt, er wollte mich zum Film bringen – na, ich ging nachsichtig darüber weg. Sie können nun mal nichts dafür, die Männer. Es ist eine Krankheit von jedem, daß sie jedem Mädchen erzählen, sie wären Generaldirektor vom Film oder hätten wenigstens unerhörte Beziehungen. Ich frage mich nur, ob es noch Mädchen gibt, die darauf reinfallen? (KM 18)
Überdies werden im Roman eine ganze Reihe Filmtitel und Filmstars genannt. Da ist etwa das damals in Deutschland besonders durch Filme wie Erfahrene Frau gesucht und Die keusche Sünderin (beide 1929) bekannte amerikanische Filmidol Colleen Moore, mit dem sich Doris vergleicht. »Und ich sehe aus wie Colleen Moore« (KM 11). Oder da ist Marlene Dietrich, seit dem Film Der blaue Engel (1930) weltberühmt, deren »Klappaugen-Marke:
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husch ins Bett« (KM 24) Doris imitiert. Der Ufa-Star Lilian Harvey, die mit Filmen wie Die drei von der Tankstelle (1930) und Der Kongreß tanzt (1931) als neuer Frauentyp der guten Kameradin Erfolge feierte, ist in einem stream of consciousness bei Doris während ihrer Taxifahrt durch Berlin präsent – »und Kinos – der Kongreß tanzt – Lilian Harvey, die ist blond« (KM 121). Auch männliche Schauspieler werden erwähnt, so Conrad Veidt, der Darsteller dämonischer Charaktere in expressionistischen Stummfilmen, der mit der Etablierung des Tonfilms auch in Kostümfilmen wie Der Kongreß tanzt glänzte. Ein Flirt von Doris hat ein »Gesicht wie Conrad Veidt, wie er noch mehr auf der Höhe war« (KM 17). Was die weiblichen Filmstars angeht, so identifiziert sich Doris mit ihnen. Überhaupt denkt sie sich das »Leben in Filmbildern«56 und ist damit ganz »an der Filmwelt orientiert«57 – auch im Schreiben ihres Tagebuchs. Erzähltechnisch als literarisches Verfahren präsent ist Film insofern, als Doris sich ganz zu Anfang des Romans vornimmt, als sie ihr Tagebuch beginnt, »ich will schreiben wie Film« (KM 10), und der Roman sich stilistisch dann tatsächlich durch eine filmische Schreibweise auszeichnet,58 durch Techniken wie Schnitt oder Montage, überhaupt durch »die szenische Schreibweise des Textes«, welcher den »Bezug auf den Film« als »eine der populärsten zeitgenössischen Künste«59 von vornherein explizit macht. Insbesondere in zwei Episoden, in denen es dezidiert um Großstadtwahrnehmung geht, ist dies besonders offensichtlich, denn Stadt und Kino stehen spätestens seit Walter Ruttmanns dokumentarischem Montage-Film Berlin – Die Sinfonie der Großstadt (1927), als dessen literarisches Pendant Keuns Roman streckenweise erscheint, in einem oft vexierbildhaften Bezug zueinander. Signifikant ist die Gleichzeitigkeit von Licht und Bewegung, von Glanz und Geschwindigkeit, welche die Metropolen und das Kino prägte. Das filmische Sehen der Protagonistin, der »Blick meines Auges zum Fenster raus« auf das Leben und insbesondere auf die Lichter der Großstadt, »blaue Lichter, rote Lichter, viele Millionen Lichter«, ist einerseits in der nächtlichen Taxifahrt durch Berlin besonders eindrucksvoll inszeniert: »Ich machte mir einen Traum und fuhr in einem Taxi eine hundertstundenlange Stunde hintereinander immerzu – und allein und durch lange Berliner Straßen. Da war ich ein Film und eine Wochenschau.« (KM 121) _____________ 56 57
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Erhard Schütz: Romane der Weimarer Republik. München 1986, S. 167. Doris Rosenstein: Nebenbei bemerkt. Boheme-Gesten in Romanen Irmgard Keuns, in: Jens Malte Fischer, Karl Prümm, Helmut Scheuer (Hg.): Erkundungen. Beiträge zu einem erweiterten Literaturbegriff. Helmut Kreuzer zum sechzigsten Geburtstag. Göttingen 1987, S. 207-229, hier S. 221. Vgl. Bender: Lebensentwürfe im Romanwerk Irmgard Keuns, S. 53. Barndt: Sentiment und Sachlichkeit, S.168.
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Die zahlreichen optisch wahrnehmbaren Facetten großstädtischer Wirklichkeit werden von der Ich-Erzählerin wie von einer Filmkamera quasi neutral erfasst, das Gesehene wird durch ihren simultan das Disparate in rascher Folge aufzeichnenden Blick ohne jede Wertung registriert. Ihre kinetische Wahrnehmung mit der »photographischen Präzision eines Kameraauges« entfaltet sich andererseits »in den Szenen mit dem Blinden Brenner zu größter Meisterschaft«.60 Sie beschreibt dem Blinden wie ein entfesseltes »camera-eye«61 die Großstadt als optisches Oberflächenphänomen. Sie möchte ihm ihr glänzendes Berlin visualisieren, erzählend vor Augen führen, ihn damit quasi sehend machen. »Ich sammle Sehen für ihn. Ich gucke mir alle Straßen an und Lokale und Leute und Laternen. Und dann merke ich mir mein Sehen und bringe es ihm mit.« (KM 93) Dies gelingt, denn der Blinde kann nicht genug bekommen von den Erzählungen dessen, was Doris in der Stadt und von der Stadt gesehen hat. Ihre plastische Beschreibung Berlins in einem »stream of consciousness« zwischen »free association and filmic montage«, welche die Dynamik »of the metropolitan culture«62 kongenial erfasst und ihr zugleich Ausdruck verleiht, entfaltet ihre suggestive Wirkung auf den Adressaten allerdings nur als Beschreibung, in der Narration. Als Doris nicht mehr erzählt, sondern dem Blinden ihr Berlin vor Ort vorführt, kommt es zur Irritation und schließlich zur Desillusionierung. »Berlin, ich zeige ihm doch Berlin.« (KM 110) Sie kann nicht verstehen, dass ihr blinder Begleiter ihre Begeisterung vor Ort nicht mehr mitempfindet und immer schweigsamer wird. Sie selbst vermisst nun den Glanz, wird quasi blind dafür. »Jetzt wird doch alles dunkel – wo ist denn mein helles Berlin? Wenn er doch nicht immer stummer würde.« (KM 111) Sie möchte am illusionären Glanz aber festhalten, an der schönen Oberfläche, obwohl auch ihre Wahrnehmung sich wandelt und ihr das soziale und emotionale Elend großstädtischer Lebenswelt zumindest ansatzweise bewusst wird. Die Spannung zwischen Glanz und Elend der Metropole wird jedoch nicht erst an dieser Stelle thematisiert, sondern sie zieht sich in unterschiedlicher Ausprägung durch den Text. »Ich liebe Berlin mit einer Angst in den Knien und weiß nicht, was morgen essen, aber es ist mir egal« (KM 91), lässt Keun ihre Figur beispielweise schon bald nach der Ankunft in Berlin diese Spannung empfinden, die der Roman bis zum Schluss aufrechterhält. Der anfängliche Optimismus mit Blick auf eine glänzende Zukunft ist am Ende insofern relativiert, als die persönlichen konsumorientierten Wünsche sich nur bedingt als realisierbar erwiesen haben, und _____________ 60 61 62
Barndt: Sentiment und Sachlichkeit, S. 196. Lensing: Cinema, Society, and Literature, S. 131. McCormick: Gender and Sexuality in Weimar Modernity, S. 130.
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wenn, dann machen sie nicht glücklich, weil die glänzende Oberfläche keine emotionale Wärme verleiht. Der Roman schließt mit der vagen Einsicht der Ich-Erzählerin, dass der äußere Glanz möglicherweise nicht das Glück bringt, das sie sich erträumt hat. Die Situation, in der sich die Protagonistin am Ende des Romans befindet, ist offen. Ihr Bewusstsein, ihre Wahrnehmung und Empfindung einer ungewissen Zukunft entsprechen dabei durchaus dem allgemeinen politischen, sozialen und auch kulturellen Zustand in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Anders als beispielsweise Döblin in Berlin Alexanderplatz, der seinen »Helden letztlich doch mit existentiellem Pathos von Schuld und Erkenntnis« und insgesamt »mit Großstadtmythologie (die Hure Babylon)«63 umgibt, hat Keun in Das kunstseidene Mädchen bei ihrer zwischen ausgeprägter Sachlichkeit und gelegentlicher Sentimentalität schwankenden Heldin darauf verzichtet. Die große Stadt Berlin wird nicht mythologisiert, sondern Glanz und Elend der Metropole werden in einem Zeitroman sichtbar gemacht, der das ganz spezifische urbane Lebensgefühl der späten Weimarer Republik vermittelt, über die Figur jener naiven Ich-Erzählerin Doris exemplarisch transparent macht. Die Moderne ist damit nicht wie üblich ›weiblich‹ konnotiert, sondern in Doris charakteristisch verkörpert, die sich selbst und somit »die Konstruktion von Weiblichkeit und die Performativität von Geschlecht […] auf der Ebene seiner inhaltlichen Bestimmung und […] auf der Ebene der Narration«64 vorführt. Die Protagonistin ist als Personifikation der Weimarer Moderne zu lesen, welche der eigentliche Gegenstand ist, den Irmgard Keun in ihrem Roman Das kunstseidene Mädchen zu beschreiben unternommen hat. In diesem modernen Erzähltechniken verpflichteten Roman erzählt die Moderne sich selbst, in filmischer Technik, durch die poetische Integration von Wirklichkeitsbezügen und nicht zuletzt durch den tragikomischen Stil als adäquatem Umgang mit der Realität der frühen 1930er Jahre. Irmgard Keuns Roman Das kunstseidene Mädchen ist ein Zeitroman, der in zuweilen geradezu burlesk komischer Beschreibung von soziokulturellen Verhältnissen und mentalen Befindlichkeiten jener krisenreichen Jahre die genaue Beobachtungsgabe der Verfasserin offenbart, er ist zugleich ein Text der ›klassischen Moderne‹, der lange in seinen literarischen und zeitdiagnostischen Qualitäten unterschätzt worden ist.
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Scherpe: Doris’ gesammeltes Sehen, S. 312f. Fleig: Das Tagebuch als Glanz, S. 47.
MIRJAM SPRINGER
Wirklichkeit mit goldenem Firnis. Hans Fallada: Kleiner Mann – was nun? (1932) »Was haben sie mit deiner Nase gemacht, du liebe kleine blonde Frau?«1 Käte Asch, begeisterte Leserin des Romanvorabdrucks, ist schockiert, als sie im Buchladen die Umschlagzeichnung der lang ersehnten Erstausgabe sieht. »Zillehaft« sei »das Lämmchen« auf George Grosz’ Zeichnung geraten, »ganz anders« habe man sich die »kleine Frau Pinneberg« doch aber vorgestellt, »schlanker, hübscher, gepflegter«.2 Auch Frau Aschs Brief wird, wie viele andere der zahllosen Zuschriften, von Hans Fallada (1893– 1947) freundlichst beantwortet: »Sehr verehrte Frau Käte Asch«, schreibt er am 29. September 1932, übrigens haben Sie am Ende mit Ihrer Kritik an der Deckelzeichnung von George Grosz recht behalten. Wie Sie vielleicht gesehen haben, sind wir bei der Neuauflage beim gebundenen Buch zum schlichten Leinenband übergegangen – grau mit ein wenig Gold, wie das Leben des Kleinen Mannes. Ich für mein Teil liebe ja die Zeichnung von Grosz, aber ich gebe Ihnen ohne weiteres zu, daß es natürlich ganz unmöglich ist, bei einer Figur wie Lämmchen, von der sich die meisten Leser ein sehr deutliches Bild machen, nicht dieses Bild zu enttäuschen. Aber wichtiger ist, und das ist bei dieser Deckelzeichnung unser wirklicher Fehler gewesen, daß Grosz’ Stift, mag er wollen oder nicht, immer satirisch ist, und gerade das widerspricht dem Gehalt des Buches.3
Dem neusachlichen Fetisch der Oberfläche können sich weder Leserin noch Autor entziehen. In seiner dokumentarischen Studie Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland (1930) berichtet Siegfried Kracauer von einem _____________ 1 2 3
Brief von Käte Asch an Hans Fallada, 6. Juli 1932. Zitiert nach: Michael Grisko: Hans Fallada: Kleiner Mann – was nun? Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 2002, S. 86 (dort abgedruckt mit Genehmigung des Hans-Fallada-Archivs, Feldberg). Zitiert nach: Grisko: Fallada, S. 85. Zitiert nach: Grisko: Fallada, S. 86. Grosz’ satirischen Stil hatte sich Fallada freilich von Peter Suhrkamp erläutern lassen. In einem der Briefe Suhrkamps an den Autor heißt es: »Grosz’ Feder ist unbewußt satirisch und gerade diesem Roman von Ihnen geht Satire absolut wider den Strich…« (Zitiert nach: Bettina Latzkow: »Wir werden doch nicht weinen müssen am Ende« – Leserbriefe zu Kleiner Mann, was nun?, in: Gunnar Müller-Waldeck, Roland Ulrich [Hg.]: Hans Fallada: Beiträge zu Leben und Werk. Materialien der 1. Internationalen Hans-Fallada-Konferenz vom 10. bis 13. Juni 1993. Rostock 1995, S. 273-284, hier S. 279).
Fallada – Kleiner Mann – was nun?
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Gespräch mit einem »maßgebenden Herrn der Personalabteilung« eines Berliner Warenhauses: »Wir achten bei Engagements von Verkaufs- und Büropersonal […] vorwiegend auf ein angenehmes Aussehen.« […] Was er unter angenehm verstehe, frage ich ihn […]. »Nicht gerade hübsch. Entscheidend ist vielmehr die moralisch-rosa Hautfarbe, Sie wissen doch ...«4
Die, »denen die Auslese obliegt«, möchten »das Leben mit einem Firnis überziehen, der seine keineswegs rosige Wirklichkeit verhüllt«,5 konstatiert Kracauer. Längst lassen sich die Träume derjenigen, die mithalten wollen, von dieser Strategie nicht mehr unterscheiden. So reden alle vom Außen: der Herr der Personalabteilung, Frau Asch, der Autor. Das Ich apart gepanzert, die Farben des Firnisses stammen aus dem Märchen: blond, ein wenig Gold, rosa. Kein anderer Roman Falladas, ja überhaupt kein Roman der späten 1920er, frühen 1930er Jahre war auch nur annähernd so erfolgreich wie dieser, dessen Titel geradezu sprichwörtlich wurde: Kleiner Mann – was nun?6 Bereits auf den Vorabdruck, der vom 20. April bis zum 10. Juni 1932 in der Vossischen Zeitung, einem rechtsliberalen Blatt für den Mittelstand, erschien, reagierten die Leserinnen und Leser mit einer Flut von Zuschriften. Im gleichen Jahr brachte der Rowohlt-Verlag die erste Buchausgabe heraus. 4,50 RM kostete die kartonierte, 5,50 RM die leinengebundene Ausgabe – für viele war das Buch damit unbezahlbar, dennoch erschienen 1932 fünf Auflagen, bis Ende 1933 »weitere Auflagen mit insgesamt 80.000 Exemplaren […]. Das Buch wurde in etwa 50 Regionalzeitungen nachgedruckt und in das Programm der Buchklubs aufgenommen. Bis zum Jahresende 1932 erhielten zehn ausländische Verlage die Rechte zur Übersetzung«.7 Auch zwischen 1933 und 1945 hielt das Interesse an. 1934 erschien eine zweite ›Volksausgabe‹, für die Fallada die Darstellung der Nationalsozialisten gänzlich verharmloste. Bis 1938 wurden mehr als 100.000 Exemplare gedruckt. 753 Rezensionen sind im Fallada-Archiv in Feldberg erhalten, die meisten hat Fallada selbst penibel gesammelt. Das »professionelle Marketing seines Verlegers Ernst Rowohlt […] garantierte den Welterfolg«.8 Schnell erkannten auch die neuen Medien das Potential des Pinneberg’schen Schicksals: Am 3. August 1933 fand die Uraufführung der ersten, heute verschollenen deutschen Verfilmung statt (Regie: Fritz _____________ 4 5 6 7 8
Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. Mit einer Rezension von Walter Benjamin. Frankfurt a.M. 1971, S. 24. Kracauer: Die Angestellten, S. 24. Zur Rezeptionsgeschichte des Romans vgl. ausführlich Grisko: Fallada, S. 56-118. Grisko: Fallada, S. 59. Grisko: Fallada, S. 50.
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Wendhausen). Fallada hatte sich schon früh zornig aus diesem immer mehr zum Revuefilm mutierenden Projekt verabschiedet. Von »Filmmärchen«9 mit happy end sprach die Kritik. In den USA entstand 1934 eine »noch deutlicher amerikanisierte Adaption«,10 Fallada erhielt 50.000 RM für die Rechte. Das Hörspiel (1932) und die Dramatisierung (1934) sind verschollen. Die Pinnebergs multimedial und omnipräsent – selbst Preisausschreiben wurden veranstaltet, in denen etwa Firmenzeitungen von den Angestellten wissen wollten, was dem »guten Pinneberg aus seiner schwierigen Situation«11 hätte heraushelfen können. Hauptgewinn 20 RM, ausgezahlt an Fräulein Maria Zillmann für ihre Lösung, den Schauspieler12 als Werbeträger für das Warenhaus Mandel zu engagieren und ihm dafür den Anzug unentgeldlich zur Verfügung zu stellen.13 1950 erschien der Kleine Mann als erster Band der Reihe ›Rowohlts Rotations-Romane‹ (rororo), ungebrochen ging damit die Erfolgsgeschichte weiter. Als Teil einer Fallada-Trilogie inszenierte Hans Kasprzik 1967 den Kleinen Mann für das DDR-Fernsehen (Buch: Klaus Jörn). Fünf Jahre später, 1972, machten Tankred Dorst und Peter Zadek in Bochum eine »Revue« aus Pinnebergs Kleinbürgerdasein – eine ironische und zugleich politisierte Version, die dann schließlich 1973 den Weg ins Fernsehen fand. Aus dem Blickfeld der Literaturwissenschaft ist der Roman im Augenblick nahezu verschwunden, dennoch hält er unverrückbar seine Position auf Leselisten und in Kanondebatten. Nicht Gregor Samsa oder Josef K., nicht Aloisia Schmidt oder Doris, das »kunstseidene Mädchen« – Johannes Pinneberg gilt gemeinhin als der Angestellte der deutschen Literatur. Und die Zuneigung der Leser ist ihm und seiner Frau sicher. Ist auch heute die unfreiwillige Komik der Liebeserklärungen an Lämmchen und Pinneberg in den Zuschriften kaum erträglich, das wohlige Gefühl bei der Lektüre des Romans ist geblieben. »Es lag bei Ihnen immer noch ein Schimmer über dem Ganzen –, und die Grenze des Verbitternden, das schließlich den Leser leicht abstößt, weil er sich letzten Endes auch nicht zu helfen weiß, haben Sie hier so gut innegehalten.«14 Auch hier wieder der Firnis, ein schimmernder Schutzanstrich gegen das Außen wie gegen das Innen. So wird man gerührt und bleibt doch auf Distanz. _____________ 9 10 11 12 13 14
So in einer Besprechung des Films im Berliner Börsen-Courier vom 4. August 1933. Zitiert nach: Grisko: Fallada, S. 98. Grisko: Fallada, S. 95. Zitiert nach: Grisko: Fallada, S. 92. Vgl. Hans Fallada: Kleiner Mann – was nun? 5. Aufl. Berlin 2004, S. 347-351. Im Folgenden mit der Sigle KlM belegt. Vgl. Grisko: Fallada, S. 92. Zitiert nach: Latzkow: Leserbriefe, S. 274.
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Ein besonderer ›Realismus‹, eine große Genauigkeit im Detail wird Falladas Roman von jeher attestiert. Wer sich erzählen lassen will, wie es denn zuging am Ende der Weimarer Republik, wer gleichsam hautnah die allmähliche Verelendung der Angestellten verfolgen will, der lese den Kleinen Mann. Und tatsächlich: Gleich das Vorspiel ist angereichert durch zahlreiche Fakten und setzt damit ein ästhetisches Signal. Wie auf wenigen Seiten das Krankenversicherungssystem, die staatlich betriebene Sexualaufklärung anhand ›volkstümlicher Broschüren‹ (vgl. KlM 14), das Pinneberg’sche Angestelltengehalt, die Kosten für eine privatärztliche Schwangerschaftsdiagnose, die Topographie der Kleinstadt und ihre soziale Lesbarkeit skizziert werden, wird neusachlich Stellung bezogen: Dieser Roman bewegt sich »auf dem Boden der Tatsachen«.15 Helmut Lethen hat gezeigt, wie – abgeleitet aus der »Bewußtseinslage des bürgerlichen Materialismus des 19. Jahrhunderts«16 – die »Gewißheit des Faktischen«17 zum Rettungsanker einer ganzen Generation wurde. Der »Kult des nackten Faktums« und sein Instrument, der »kalte Blick«, werden im neusachlichen Genre der Reportage ebenso greifbar wie in der Oberflächenstruktur neusachlicher Malerei, den Glasfassaden der Bauhausarchitektur und der »vereinsmäßig organisierten, blühenden Nacktkultur der Weimarer Republik«.18 Die ›Generation 1899‹, so könnte man sie mit Kästner nennen,19 hatte sich den Habitus der Kälte angeeignet, nicht zuletzt in Abgrenzung zu den Expressionisten, deren pathetische Weltuntergangs- und Auferstehungsvisionen spätestens in den Schützengräben von Verdun ad absurdum geführt worden waren. Sie hatte den eingefrorenen Blick auf den Objektträger als Haltung erwählt: »Du hältst die Welt für eine Schaufensterauslage«,20 erklärt Irene Moll in Kästners Fabian dem Helden in seinem apokalyptischen Traum. Auch in Falladas Roman ist diese Haltung noch präsent. Bereits die ersten beiden Sätze liefern das gesicherte Faktum: »Es ist fünf Minuten nach vier. Pinneberg hat das eben festgestellt.« (KlM 11) Doch die inflationären drei Kapitelüberschriften, gar die erste: Vorspiel, haben da längst die Literarizität ausgestellt. Und so wird das Faktum ›Uhrzeit‹ noch leich_____________ 15 16 17 18 19 20
Vgl. dazu Helmut Lethen: Der Habitus der Sachlichkeit in der Weimarer Republik, in: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 8: Literatur der Weimarer Republik 1918–1933. Hg. v. Bernhard Weyergraf. München 1995, S. 371-445, hier S. 391-399. Lethen: Habitus, S. 392. Lethen: Habitus, S. 394. Lethen: Habitus, S. 396. Vgl. Erich Kästners Gedicht Jahrgang 1899 (1939), in: Erich Kästner: Gesammelte Schriften in sieben Bänden, Bd. I: Gedichte. Zürich 1959, S. 37f. Erich Kästner: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten. 21. Aufl. München 2005, S. 150.
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ter lesbar als Metapher: »Fünf Minuten nach vier« ist es – die Figuren, um die es hier gehen wird, sind von Anfang an Zuspätkommende. Faktizität suggeriert Authentizität. Die neusachliche Präzision in Falladas Roman schafft den Schein des Vertrauten. Weil zudem noch überwiegend gleichzeitig erzählt wird,21 entsteht das, was Roland Barthes 1968 als »Realitätseffekt« (›effet de reél‹) beschrieben hat.22 Der identifikatorische Sog, den das Erzählte auf die Leser ausübt,23 wird also unter anderem genau durch die scheinbar »ideologiefreie Erfassung der Objekte«24 ausgelöst, die nach neusachlicher Vorstellung den Betrachter auf Distanz halten soll. Mit probatem neusachlichem Blick wird im Kleinen Mann der Effekt des Faktischen organisiert, doch zugleich wird die neusachliche Haltung gegen sich selbst gewendet. So bestimmt dann auch erzählstrategisch das Spiel mit der Distanz den Roman. Erzählt wird, über weite Strecken, Pinnebergs Denken und (vor allem) Fühlen. Durch verschiedene Techniken wird im Roman der Eindruck von unmittelbarer Präsenz erzeugt, wie ihn Gérard Genette als kennzeichnend für den ›dramatischen Modus‹ beschrieben hat. Beinahe ganz eingezogen scheint die Distanz zum Figurenbewusstsein in den Dialogen,25 besonders dort, wo in direkter oder auch in autonomer direkter Figurenrede das Mit- und Gegeneinander der Protagonisten geradezu filmreif ausgespielt wird. Scheinbar ungefiltert erleben wir etwa das Verkaufsgespräch als Stellungskrieg mit ungleichen Gegnern: Da kommt ein dicker, großer Mann mit seiner Frau, möchte einen Ulster: »Kostenpunkt höchstens fünfundzwanzig Mark, junger Mann! Verstehen Sie! Einer von meinen Skatbrüdern hat einen für zwanzig, echt englisch, Wolle und angewebtes Futter, verstehen Sie!« Pinneberg lächelt dünn: »Vielleicht hat der Herr seinen billigen Einkauf ein bißchen übertrieben. Für zwanzig Mark einen echt englischen Ulster ...« »Hören Sie mal, junger Mann, das brauchen Sie mir nun nicht zu erzählen, daß mein Skatbruder mich ansohlt. Der ist reell, verstehen Sie.« Und der Dicke regt sich weiter auf: »Das habe ich nicht nötig, verstehen Sie, mir von Ihnen meinen Skatbruder schlecht machen zu lassen.« »Ich bitte um Entschuldigung«, versucht Pinneberg. (KlM 290)
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Vgl. Matias Martinez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 6. Aufl. München 2005, S. 70. Vgl. Roland Barthes: L'Effet de Reél, in: Ders.: Œuvres complètes. Bd. II: 1966–1973. Paris 1994, S. 479-484. Vgl. aber dagegen Marion Heister: »Winzige Katastrophen«. Eine Untersuchung zur Schreibweise von Angestelltenromanen. Frankfurt a.M., Bern, New York u.a. 1989, S. 93. Heister sieht durch die Erzählweise des Romans die »Identifikation mit der Misere der Betroffenen« geradezu »behindert«. Lethen: Habitus, S. 395. Vgl. Martinez, Scheffel: Erzähltheorie, S. 51.
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Auch alle Spielarten der transponierten inneren Figurenrede, Bewusstseinsbericht (psycho-narration), erlebte Rede und zitierter innerer Monolog,26 werden für dieses missglückte Verkaufsgespräch mit anschließender Verwarnung (vgl. KlM 289-293) aufgeboten. Pinneberg wird zum Beobachter in eigener Sache, sieht sich unprofessionell strampeln unter dem Druck des neuen »verruchten Quotensystems«, das »allen Mut« (KlM 291) nimmt. Beschwörungsformeln wie für die Geister der reibungslosen Warenzirkulation formieren sich im Kopf: »Entschließ dich, Kunde! […] (entschließ dich! entschließe dich!)« (KlM 291). In solchen Fetzen eines zitierten inneren Monologs scheint die Distanz zur Figur auf Null reduziert zu sein. Im Moment der größten Ohnmacht fehlt jegliche Mittelbarkeit der Darstellung, Pinneberg wird erkennbar als auf sich geworfene, ausgelieferte, still schreiende Kreatur: »Pinneberg ist nicht hart, Pinneberg ist weich; wenn sie auf ihn drücken, verliert er die Form, er geht auseinander, er ist nichts, Brei.« (KlM 292) Johannes Pinneberg beerbt damit auf seine Art jene »prominenten ›Kreaturen‹ des neusachlichen Jahrzehnts«, die als Antipoden und Entlastungsfiguren dem kalten Helden, dem gepanzerten Ich zur Seite gestellt worden waren: »Brechts Kindesmörderin Marie Farrar […], Döblins Transportarbeiter Franz Biberkopf, Arnold Zweigs Sergeant Grischa, Joseph Roths Hiob«.27 Durch die vorwiegend fixierte interne Fokalisierung mit Pinneberg als Perspektivfigur rückt der Betroffene, der Ausgelieferte ins Blickfeld, und genau für diese Rolle hatte die neusachliche Literatur die Kreatur vorgesehen. Als ein Beispiel für Heteronomie übernimmt die Konstruktion der »Kreatur« in den Diskursen der Selbstbestimmung die Rolle, die Rückansicht der Autonomie bloßzulegen. Dem Anspruch, Täter der Geschichte zu sein, antwortet die Kreatur mit der Ahnung, einem ausweglosen Schicksal zu unterliegen.28
Auch Pinneberg spürt die ›Kreatur‹ in sich, als Angstbild des sozialen Abstiegs, wie es sich in den herumstehenden Arbeitslosen im ›Kleinen Tiergarten‹ materialisiert: Und die, die hier alle stehen im Kleinen Tiergarten, ein richtiger kleiner Tiergarten, die ungefährlichen, ausgehungerten, hoffnungslos gemachten Bestien des Proletariats, denen geht’s wenigstens nicht anders. […] Das sind die einzigen Gefährten, diese hier, sie tun mir zwar auch was, sie nennen mich feiner Pinkel und Stehkragenprolet, aber das ist vorübergehend. Ich weiß am besten, was das wert ist. Heute, nur heute, verdiene ich noch, morgen, ach morgen, stemple ich doch ... (KlM 151)
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Vgl. Martinez, Scheffel: Erzähltheorie, S. 55-60. Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt a.M. 1994, S. 248. Lethen: Verhaltenslehren, S. 248.
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So sehr ›Kreatur‹ sind sie schon, dass man sie erst auf den zweiten Blick ausmachen kann. Wie von der Natur absorbiert erscheinen sie – »organische Substanz« statt »metallische Gestalten«:29 Aber an diesem ersten Oktober, halb naß und halb trocken, halb bewölkt, halb sonnig mit Wind aus allen Ecken und vielen braungelben, häßlichen Blättern, sieht er [der Kleine Tiergarten; M.S.] besonders trostlos aus. Er ist nicht leer, nein, das ist er gar nicht. Massen von Menschen sind da, grau in der Kleidung, fahl in den Gesichtern, Arbeitslose, die warten, sie wissen selbst nicht mehr auf was (KlM 149).
Vorzugsweise am Anfang eines Kapitels und natürlich in den ironischen, oftmals in die Irre führenden Kapitelüberschriften meldet sich aber der Erzähler zu Wort. Der narrative Modus dieser Passagen garantiert die Distanz zum Erzählten; dieser Erzähler hat die ›Übersicht‹ (nach Genette liegt demnach ›Nullfokalisierung‹ vor30), raffend und kommentierend ordnet er Pinnebergs Welt: Es ist April geworden, ein richtiger, wetterwendischer April mit Sonne, Wolken und Hagelschauern, mit grünendem Gras und Gänseblümchen, mit sprossenden Büschen und wachsenden Bäumen. Auch Herr Spannfuß bei Mandel sproßt und wächst, und jeden Tag haben sich die Verkäufer in der Herrenkonfektion etwas davon zu erzählen, wo wieder rationalisiert worden ist. (KlM 289)
Der Erzähler wirbt um Sympathie für die Kreatur. Ein solch selbstbewusster, ironiemächtiger Erzähler, wie er sich hier in Falladas Roman in Szene setzt, ist Teil einer extradiegetischen Sprechsituation, mit der der Roman an Erzählmodelle des 18. Jahrhunderts anknüpft. Wielands Romane, Klopstocks Messias, Goethes Werther hatten das »Modell eines grundsätzlich solidarischen Verhältnisses von Erzähler und Leser sowie einer identifikatorischen Rezeption«31 entworfen. Ihre Erzähler rechneten mit dem sympathetischen Leser, die identifikatorische Rezeption sollte das Mitleiden lehren und damit aufklärerisch wirksam werden. In Falladas Roman ergibt die Kombination einer extradiegetischen Sprechsituation32 mit einer dominant internen Fokalisierung genau jene Erzählstrategie, die den ›geneigten Leser‹ anvisiert. Doch die im Roman von 1932 mit dieser Strategie angestrebte identifikatorische Rezeption (die ja auch in besonderer Weise eintrat, wie die Leserzuschriften eindrucksvoll zeigen) verhindert hier den analytischen Blick. Indem der Roman sich den ›mitleidigen Leser‹ herbeischreibt, verdoppelt er den eingeschränkten Blick Pinnebergs. Und indem der Erzähler, bei weitgehend eingezogener Distanz zur erzähl_____________ 29 30 31 32
Lethen: Verhaltenslehren, S. 256. Vgl. Martinez, Scheffel: Erzähltheorie, S. 63-67. Martinez, Scheffel: Erzähltheorie, S. 86. Vgl. Martinez, Scheffel: Erzähltheorie, S. 84-89.
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ten Figur, dennoch als »Organisationszentrum«,33 als Instanz präsent bleibt, entsteht ein problematisches Verhältnis von Erzähler und Figur – der herablassende, gönnerhaft-wohlwollende Erzählgestus, mit dem der Erzähler demonstriert, dass er »alles besser weiß«,34 entmündigt den Entmündigten ein weiteres Mal. So inszeniert sich der Erzähler als »Familienautorität«,35 die über den Figuren schwebt in Fürsorge und Liebe. Damit freilich füllt der Erzähler genau das Autoritätsvakuum, das sich in Johannes Pinnebergs Leben auftut. Immer wieder wird im Roman die Vaterlosigkeit des kleinen Mannes thematisiert (vgl. etwa KlM 131) – geblieben ist Pinneberg nur eine Mutter, die die kompensatorische Sehnsucht nach Mütterlichkeit unbefriedigt lässt. Der »Fetisch Sachlichkeit«, so hat Ulrike Baureithel gezeigt, ermöglichte den neusachlichen Autoren, sich »von der kompromittierten autoritäts- und personenfixierten ›Männlichkeit‹ der Wilhelminischen Gesellschaft zu distanzieren«.36 Es galt sich abzugrenzen von der Generation der Kriegsverlierer, aber auch von den gescheiterten Revolutionären. So lässt sich in den wenigen Jahren zwischen den Weltkriegen tatsächlich eine »Begrüßung der Vaterlosigkeit« beobachten, wenn auch nur als »seltene Attitüde«.37 In der Welt der Pinnebergs und Lauterbachs war dieses »Autoritätsvakuum schnell durch Freikorpsführer und Figuren wie Ludendorff, Hindenburg oder Ebert, Stresemann, Thälmann und andere Autoritäten der politischen Lager ausgefüllt«38 worden. Und so hat auch der
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Heister: Katastrophen, S. 92. Heister: Katastrophen, S. 93. Dies hat bereits Helmut Lethen so beschrieben, allerdings spricht er (1975) noch vom »Autor«, nicht vom »Erzähler« (Helmut Lethen: Neue Sachlichkeit 1924 – 1932. Studien zur Literatur des »Weißen Sozialismus«. 2., durchgesehene Aufl. Stuttgart 1975, S. 165). Vgl. dagegen Karl Prümm: Exzessive Nähe und Kinoblick. Alltagswahrnehmung in Hans Falladas Roman Kleiner Mann – was nun?, in: Sabina Becker, Christoph Weiß (Hg.): Neue Sachlichkeit im Roman. Neue Interpretationen zum Roman der Weimarer Republik. Stuttgart, Weimar 1995, S. 255-272, hier S. 264: »Fallada läßt den Figuren ihre Lust am Detail, liefert als auktorialer Erzähler keine Wertungen«. Ulrike Baureithel: »... In dieser Welt von Männern erdacht«. Versuch über die Dialektik der »Sachlichkeit« im Weimarer Modernisierungsprozeß und ihre Auswirkung auf die Geschlechter- und Gesellschaftsverfassung. Dargestellt an ausgewählten literarischen Zeugnissen der »Neuen Sachlichkeit«. Karlsruhe 1987, S. 96 [Magisterarbeit, hier zitiert nach: Lethen: Habitus, S. 389]. Lethen: Habitus, S. 390. Lethen: Habitus, S. 390. Damit korrespondiert der Erzählgestus in Falladas Roman in fataler Weise mit der »Politik der autoritären Wende, die der Reichspräsident und die Kanzler Brüning und Papen« zwischen 1930 und 1932 »anstrebten« (Detlev J. K. Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne. Frankfurt a.M. 1987, S. 255).
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Erzähler in Falladas Roman längst Stellvertreter auf Erden: Jachmann und Heilbutt.39 Der Liebhaber der Mutter tritt auf, wie sich der kleine Mann den kalten Helden zurechtdenkt: ›harte Schale – weicher Kern‹, wie man so sagt. Jachmann friert nicht: »Jachmann ist ein Hüne […]. Ein großer, blonder Mensch, blauäugig, mit einem starken, fröhlichen, graden Gesicht, ganz breite Schultern, selbst jetzt, im halben Winter, ohne Jackett und Weste.« (KlM 134f.) Als er Johannes Pinneberg in die Stellung bei Mandel manövriert hat, fühlt sich der vaterlose Sohn wie adoptiert: »Also jetzt hat Pinneberg einen Vater, einen richtigen Vater.« (KlM 148) Der Kleinbürger, der die ›Anständigkeit‹ vor sich her trägt wie eine rostige Alternative zum strahlendmetallischen Panzer der kalten persona,40 bleibt natürlich skeptisch gegenüber der Brutalität des hemdsärmligen Geschäftemachers, doch der gnädige Erzähler rückt die Welt für seine Schützlinge zurecht, wenn selbst Jachmann schließlich auf Hilfe angewiesen ist und im Pinneberg’schen Nest für kurze Zeit Unterschlupf findet. Damit wird der deus ex machina aufs menschliche Maß gebracht. So ›realistisch‹ der Roman auch im Detail anmutet, erzählt wird ein Märchen.41 Da wundert es auch nicht, dass der Erzähler einen weiteren Nothelfer bereithält, um die Pinnebergs nicht verloren gehen zu lassen: Heilbutt, der die Rettung gleich zweifach im Namen trägt. Ruft der arme Fischer im Märchen am Meeresstrand noch den Zauberspruch, »Manntje, Manntje, Timpe Te, / Buttje, Buttje in der See ...«, reicht hier ein »Blick« als »Hilfeschrei« und »Herr Heilbutt steht da, groß, dunkel, bräunlich, elegant« (KlM 160f.). Pinnebergs angewiderte Bewunderung für Jachmann und seine scheue Schwärmerei für Heilbutt bergen die Sehnsucht des kleinen Angestellten danach, endlich die tagtäglich erfahrene »Unerreichbarkeit der höchsten Instanz«42 außer Kraft zu setzen. So sein wie sie hieße einzugehen in die Welt der ›nackten Tatsachen‹, teilzuhaben am Diskurs der Sachlichkeit, hieße Distanz zu gewinnen und damit das Selbstbewusstsein, das aus der Kälte kommt. Doch Jachmanns Prostituierte und Heilbutts FKK-Club, gar sein Geschäft mit Aktfotos sind nichts für Johannes Pinneberg. In Kracauers Angestellten-Studie, die Fallada mit _____________ 39 40 41
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Vgl. in diesem Zusammenhang auch Falladas humorige Anrede an den Verleger: »Lieber Vater Rowohlt« (zitiert nach: Grisko: Fallada, S. 104). Zum Begriff der ›kalten persona‹ vgl. Lethen: Verhaltenslehren, S. 53-70. Vgl. den Brief von Jakob Wassermann an Fallada: »Sonderbar, bei der völlig naturalistischen Methode, die Sie wählen und die Ihnen glückt, wie kaum einem andern, hat man doch am Schluß den Eindruck, ein Volksmärchen gelesen zu haben«. Zitiert nach: Latzkow: Leserbriefe, S. 282. Kracauer: Die Angestellten, S. 36.
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Begeisterung gelesen hat, bevor er den Roman schrieb, steht dieses Phänomen von Anziehung und Abstoßung erklärt: »Ererbte Moralbegriffe, religiöse Vorstellungen, Aberglaube und überlieferte Weisheit aus dürftigen Stuben – das alles treibt mit und wirft sich unzeitgemäß der herrschenden Lebenspraxis entgegen.«43 Wie der Erzähler im Fall Jachmann den deus ex machina ins Menschliche hinein verkleinert, so entrückt er Heilbutt in die Sphäre der Instanz und lässt ihn dabei doch Mensch bleiben. Heilbutt hat es schließlich geschafft, er ist »ins Zentrum der Stadt gedrungen« (KlM 369), füttert den Markt höchst erfolgreich mit ›nackten Tatsachen‹ und sitzt in einem »Herrenzimmer, das Pinneberg sich sein Lebtag gewünscht hat und das er nie kriegen wird«: in einem »Arbeitszimmer […], mit Bücherschränken und Persern und einem riesigen Diplomat« (KlM 377). Doch Heilbutt ist eiskalter Geschäftsmann und Menschenfreund in einer Person. In dieser riesenhaften Größe Heilbutts, die sich aus der Versöhnung der neusachlichen Entmischungsstrategien44 ergibt, liegt die Garantieerklärung des Erzählers für einen glücklichen Ausgang. Heilbutt ist die Lebensversicherung der Familie und öffnet am Ende sogar die Pforten zum Paradies: So war Heilbutt doch, helfen wollte er […]. Und da fiel dem Heilbutt diese Laube ein, im Osten Berlins, etwas weit ab, vierzig Kilometer, gar nicht mehr Berlin, aber mit einer Ecke Land dabei. »Ich habe sie geerbt, Pinneberg, vor drei Jahren, von irgendeiner Tante. Was tu ich mit einer Laube? Wohnen könnt ihr da, und euer Gemüse und eure Kartoffeln werdet ihr euch wohl auch bauen können.« »Es wäre herrlich für den Murkel«, hatte Pinneberg gesagt. »So in der frischen Luft.« »Miete braucht ihr nicht zu zahlen«, hatte Heilbutt gesagt. »Das Ding steht ja doch leer, und ihr bringt mir den Garten in Ordnung.« (KlM 371)
Lässt der Roman seinen kleinen Helden also zu gleich zwei Vätern kommen wie die Jungfrau zum Kinde, bietet er auch den Trost für die Abwesenheit der Mutter. Während etwa in Kästners Fabian die Mutter in ihrem kleinstädtischen Seifengeschäft die Gegenwelt verkörpert zum dreckigen Moloch, in dem der Sohn unterzugehen droht, ist in Falladas Roman die Mutter zur komischen Hure Babylon verkommen. Leicht lässt sie sich verorten auf dem republikanischen Markt der Weiblichkeit. Mia Pinneberg raucht, trinkt, kuppelt, ist modisch auf der Höhe,45 geschäftstüchtig. Damit erfüllt sie den Mythos vom ›Vamp‹,46 den das neusachliche Jahrzehnt _____________ 43 44
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Kracauer: Die Angestellten, S. 69. Vgl. Lethen: Verhaltenslehren, S. 43: »Der Polarisierungsdruck entmischt die Figuren in die mobilen Bewohner der kalten Systemwelt und die Ansässigen der Lebenswelt, in Trennungskünstler und Beharrungswesen, in Zerstreuung suchende ›Gents‹ und klammernde Menschenkinder. Das neusachliche Arsenal von Menschenbildern lebt vom Kontrast«. »Wer braucht denn heute beim Bubenkopf noch eine Frisiertoilette?« (KlM 176) Vgl. Peukert: Weimarer Republik, S. 104.
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hervorgebracht hat. Betrachtet man etwa das flammend rote und zugleich totenblasse Bildnis der Tänzerin Anita Berber von Otto Dix (1925), erkennt man in der hauteng verpackten, verdrehten Gestalt das Lust- und Angstbild einer körperlichen Präsenz des Weiblichen. Pinnebergs Aggression gegenüber seiner Mutter hat hier eine ihrer Quellen. Im Jahrzehnt der Republik war, nicht zuletzt durch die veränderte Arbeitsmarktsituation, die öffentliche Wahrnehmung der Frau zunehmend irritiert worden. Neu war die Konzentration von Frauen in den modernen Sektoren der Industrie, des Handels, des öffentlichen Dienstes und der privaten Dienstleistungen. Das zeigte sich daran, daß sich nun neue »typische« Frauenberufe herausbildeten, die entweder zuvor nicht existiert hatten, oder zunehmend von den Männern geräumt wurden. Dazu zählte die Stenotypistin, die Fließbandarbeiterin, die Verkäuferin, die Volksschullehrerin und die Sozialarbeiterin.47
Zwei Rollenmuster standen sich nun unversöhnlich gegenüber: »das allenthalben propagierte moderne Frauenbild der unpolitischen konsumorientierten, medienbegeisterten jungen Angestellten« und die »nicht nur unter reaktionären Männern, sondern auch unter Frauen« artikulierte »Sehnsucht nach einem gesicherten Statusideal der Mutter und der ›hohen Frau‹ im harmonischen Kreise der Familie«.48 Doch die ›Neue Frau‹ in Falladas Roman ist alt. Der Vamp ist zur Karikatur seiner selbst geworden. Der Roman setzt – mit seinem Protagonisten – auf die ›Alternative‹. Die geballte, rassenideologisch eingefärbte Fruchtbarkeitssemantik wird aufgeboten, um Pinnebergs Glück mit Lämmchen zur Sprache zu verhelfen: Und bezwungen von der seligen Mutter, neigt er […] sich über sie. Sachte legt er seine Wange an ihren vollen, strammen Leib, der doch so weich ist ... Und plötzlich ist er wie das herrlichste Kissen der Welt, nein, Torheit, wie eine Woge ist er, es hebt und senkt sich der Leib, ein unermeßliches Meer von Seligkeit überströmt ihn ... ist es Sommer? Das Korn ist ja reif. Welch ein fröhliches Kind mit dem weißblonden, verstrubbelten Schopf und den blauen Augen der Mutter. Oh, wie gut riecht es hier auf dem Feld, nach Erde und Mutter und nach Liebe. […] Und wie emporgehoben von ihren Armen, ruht er an der mütterlichen Brust, sieht ihren Blick so groß und strahlend ... Oh, ihr alle in den kleinen, engen Stuben, fühlt er, das kann man euch doch nicht nehmen ... »Alles ist gut«, flüstert Lämmchen. »Alles ist gut, du mein Junge.« (KlM 186f.)
Der ›kleine Mann‹ antwortet auf den Druck der Moderne mit Rückzugsphantasien – und der Erzähler bietet seinen Figuren die Idylle als Rückzugsort, ausstaffiert mit den Insignien der Antimoderne. Da ist es nicht mehr weit zur Hohen Nacht der klaren Sterne, Hans Baumanns Weihnachts_____________ 47 48
Peukert: Weimarer Republik, S. 101. Peukert: Weimarer Republik, S. 104.
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hymne für den BDM, deren letzte Strophe lautet: »Mütter, Euch sind alle Feuer, / alle Sterne aufgestellt, / Mütter, tief in euren Herzen / schlägt das Herz der weiten Welt«. In den ›Muttertags-‹ und ›Mutterkreuz‹kampagnen49 verband sich die »Beschwörung retrospektiver Idylle«50 mit modernen Werbestrategien, die auf Pinnebergs und ihresgleichen zielten. Aus dieser brisanten Gemengelage eines Autoritätsvakuums, ›metaphysischer Obdachlosigkeit‹, Modernisierungsangst und ökonomischer Not flüchteten die Pinnebergs der Republik erst an die ›mütterliche Brust‹, dann in die Arme der Organisation.51 Als man von Fallada wissen wollte, wie denn seine Antwort auf die Titelfrage seines Romans lauten würde, sagte er: »Lämmchen ist meine Antwort, ich weiß keine bessere.«52 Emma Mörschel, genannt Lämmchen, ist die Lichtgestalt des Romans. Die klare Parteinahme des Erzählers für den Lämmchen-Typus wird ausgerechnet über den Körperdiskurs ausgetragen: Frau Mia Pinneberg sitzt da [auf Pinnebergs Bettkante; M.S.] und atmet hastig. Trotz ihrer Malerei sieht man, daß sie sehr rot ist. Sicher hat sie ein bißchen scharf getrunken. »Gott«, murmelt Frau Pinneberg – Lämmchens Hemden sind so verflucht offenherzig –, »was die junge Frau für ’ne Brust hat! Das sieht man am Tage gar nicht so. Du erwartest doch nicht?« (KlM 188)
Lämmchens Integrität, ihr Gerechtigkeitssinn, ihr Durchhaltevermögen, ihr Optimismus und das grenzenlose Zugehörigkeitsgefühl zu Pinneberg, dazu der alles überstrahlende Mutterinstinkt machen sie zur Projektionsfläche männlichen wie weiblichen Begehrens. Frau Asch schreibt, auch im Namen ihres Mannes: »Wir haben […] von unserer Liebe zu der kleinen Frau Pinneberg gesprochen, wir haben es kaum erwarten können, sie – für immer – als Gast bei uns zu sehen (will sagen, das Buch, dessen tapfere und energische Heldin sie ist, unserm Bücherschrank einzuverleiben).«53 Lämmchen denkt wenig, sie fühlt. So ist sie von Kopf bis Fuß als Gegenfigur zur kalten persona entworfen und als solche half sie, den Hunger der Leserinnen und Leser zu stillen, den der Kult der ›Sachlichkeit‹ unbe_____________ 49 50 51
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Der ›Muttertag‹ wurde, nach amerikanischem Vorbild, 1922/23 in Deutschland durch den Verband Deutscher Blumengeschäftsinhaber eingeführt, das ›Mutterkreuz‹, die nationalsozialistische Auszeichnung für Vielgebärende, im Jahr 1938. Peukert: Weimarer Republik, S. 110. Zu den ideologischen Einfärbungen des Romans vgl. Claus-Dieter Krohn: Hans Fallada und die Weimarer Republik. Zur Disposition kleinbürgerlicher Mentalitäten vor 1933, in: Helmut Arntzen (Hg.): Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie. Festschrift für Wilhelm Emrich. Berlin, New York 1975, S. 507-522. Zitiert nach: Jürgen Kuczynski: Hans Fallada. Kleiner Mann – was nun? oder: Macht und Idylle, in: Ders.: Gestalten und Werke. Soziologische Studien zur deutschen Literatur. Berlin, Weimar 1974, S. 350-358, hier S. 355. Zitiert nach: Grisko: Fallada, S. 85.
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friedigt ließ. Selbst ihre mangelnden Kochkünste, das schlechte Wirtschaften zu Beginn ihrer Ehe (vgl. KlM 83-93) dienen als Signal – dass eine Arbeitertochter keine Erbsensuppe kochen kann, stört dann auch den Realitätssinn des Erzählers nicht weiter. Sein Ziel ist es, mit Lämmchen das Leitbild der ›Neuen Frau‹ zu konterkarieren, in dem auch das »Konzept der rationellen Hausfrau«54 seinen Platz findet. Lämmchen ist ›das Gewissen‹ des Romans, sie füllt damit jene Leerstelle, die der »Abschied von der ›Gewissenskultur‹«55 nach dem Ersten Weltkrieg erzeugt hatte. Lethen hat gezeigt, wie in der Weimarer Republik die »Schuld-« von der »Schamkultur« abgelöst wurde.56 »Schamkulturen« wurden von der Anthropologie Kulturen genannt, in denen sich die Menschen konform nur verhalten in bezug auf Zwänge, die von der sozialen Umwelt auferlegt werden. […] Fremdbewertung, die sich in sichtbaren Handlungen manifestiert, tritt an die Stelle von Selbsterforschung; subjektive Motive haben für das öffentliche Urteil, das den einzelnen bei Fehltritten in tiefe Scham stürzt, kaum Geltung. […] Die »Schamkultur« scheint es dem Menschen zu erlauben, […] funktionsgerechtes Verhalten in einer »vaterlosen Gesellschaft« zu erlernen.57
Bei Lämmchen aber, darauf insistieren Erzähler wie ›Held‹, ist die ›interne Kontrollinstanz‹ nicht abgeschaltet: Sie hat, ja sie ist ›Gewissen‹; das ›Gefühl‹ für richtig und falsch, so suggeriert ihre Inszenierung als Lichtgestalt, ist ihr nicht abhanden gekommen. »Sie gehört eigentlich in die KPD«, denkt Pinneberg, sie hat so ein paar einfache Begriffe, daß die meisten Menschen nur schlecht sind, weil sie schlecht gemacht werden, daß man niemanden verurteilen soll, weil man nicht weiß, was man selber täte, daß die Großen immer denken, die Kleinen fühlten es nicht so – solche Sachen hat sie in sich, nicht ausgedacht, die sind in ihr. (KlM 152)
So ist auch ihr Antisemitismus – abgesegnet vom Erzähler! – durchs Gefühl legitimiert: »›Ich mag die Juden nicht sehr gerne‹, sagt Lämmchen.« (KlM 64) Mit Lämmchen verheißt der Roman, das Begehren nach dem UnSachlichen zu erfüllen, mit dem ›Einverleiben‹ des Textes in den ›Bücher_____________ 54 55 56
57
Peukert: Weimarer Republik, S. 105. Lethen: Verhaltenslehren, S. 26-35. Dabei ist er sich bewusst, ein vereinfachendes Oppositionsschema zu bemühen: »Obwohl in der Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich geworden ist, daß sich die strikte Polarisierung von ›Schuldkultur‹ und ›Schamkultur‹ empirisch nicht halten läßt, bleibt sie als historisches Erklärungsmuster aufschlußreich. Die Polarisierung selbst ist als ›Mythos‹ interessant, als Realität eines Wunsches, der eine Generation der kritischen Intelligenz in seinem Bann halten konnte. Die Konstruktion des reinen Gegensatzes kann dazu dienen, Aspekte der Kultur nach dem Ersten Weltkrieg neu sehen zu lernen.« (Lethen: Verhaltenslehren, S. 30) Lethen: Verhaltenslehren, S. 32f.
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schrank‹ konnte der Sachlichkeitsdruck, so empfanden es wohl die Leser, ein Ventil finden. Dennoch geht die Rechnung nicht bruchlos auf. Die Verhaltenslehren der Kälte gelten auch für Lämmchen, wenn auch weder Pinneberg noch der Erzähler noch der Autor noch die Leserin dies erkennen wollen. Auch Lämmchen ist die »Gestalt mit der einfachen Kontur«: »unterkomplex«, aber »entscheidungsfähig«.58 Dass sie nicht klagt, sich den Umständen anpasst, als ›moderne Mutter‹ das Krankenhaus verlässt,59 dass sie den Schein wahren hilft – all dies hat sie gemein mit der kalten persona, jenem Faszinosum der 1920er und 1930er Jahre. Doch vor allem das Bild, das sich von Emma Mörschel in den Köpfen festsetzt, verrät die Verwandtschaft zum gepanzerten Helden. Der deutsche Film der 1930er Jahre präsentiert diesen Typus: Die blonden Wasserwellen einer Trude Marlen oder einer Dorit Kreysler scheinen wie zementiert, rahmen das Gesicht mit den harten Augenkonturen und den vollen Lippen wie ein Helm. Wärmeisolierung ist Lämmchens Panzer – Mutterschaft statt Metall-Ich. So wird Lämmchen nicht zum Gegenbild der kalten persona, sondern zu ihrer Komplementärfigur. Spielarten der Einpanzerung, Abgrenzungsrituale gegen die Macht des Faktischen zu visualisieren – hierin hätte das Modernitätspotential des Romans gelegen. Dafür hätte man die Figuren freilich allein lassen müssen. Doch die idyllischen Überblendungen sind zu stark, zu übermächtig ist der Zugriff des Erzählers auf seine Figuren. Er entlässt Emma Mörschel nicht in die Kälte, sondern zwingt sie zurück in die Wärme: Die Kälte ist hochgestiegen an Lämmchen, sie sitzt ganz in der Kälte, es ist nichts mehr. Hinten ist die warme, rötliche Helle des Laubenfensters, da schläft der Murkel. […] Alles ist Alleinsein. Sie geht auf die rötliche Helle zu, sie muß es ja, was gibt es sonst? […] Und plötzlich ist die Kälte weg, eine unendlich sanfte, grüne Woge hebt sie auf und ihn mit ihr. (KlM 395)
Das ist hypnotisches Kino, wie Kracauer es beschrieben hat.60 In dieser Kulisse war für die dritte Mutterfigur von Anfang an kein Platz vorgesehen. Mutter Mörschel ist längst aus dem Roman gefallen, als habe es sie und ihre Arbeiterfamilie nie gegeben. Nicht mehr zu unterscheiden waren bei ihrem ersten und zugleich letzten Auftritt, dem Besuch des zukünftigen Schwiegersohns, Erzähler- und Figurenperspektive. _____________ 58 59
60
Lethen: Verhaltenslehren, S. 53, vgl. auch S. 57. »›Ich will dir was sagen‹, sagt Lämmchen und ist sehr energisch. ›[…] Hör zu, die Schwester hat gesagt, das beste ist, ihn durchbrüllen zu lassen, die ganzen ersten Nächte wird er brüllen. […] Die Schwester hat gesagt, es ist das einzig Richtige. Aber von hundert Eltern bringen es keine drei fertig. Es wäre doch schön, wenn wir es fertigbrächten!‹« (KlM 274f.) Vgl. auch das Kapitel über den Kauf des Kinderwagens, KlM 276-279. Vgl. Kracauer: Die Angestellten, S. 99.
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Die Frau am Herd sah hoch. Es war ein braunes Gesicht mit einem starken Mund, einem scharfen gefährlichen Mund, ein Gesicht mit sehr hellen scharfen Augen und mit zehntausend Falten. Eine alte Arbeiterfrau. […] Er hätte nichts sagen sollen, denn wie ein Geier schoß die Frau auf ihn nieder. In der einen Hand hielt sie den Haken, in der anderen noch die Gabel vom Pufferwenden, aber das war nicht so schlimm, trotzdem sie damit fuchtelte. Schlimm war ihr Gesicht, in dem alle Falten zuckten und sprangen, schlimmer waren ihre grausamen und bösen Augen. (KlM 21f.)
Die Proletarierin als Hexe – da hat der Regisseur selbst für Lauterbach, der doch »zu den Nazis […] nur aus Langeweile gegangen« (KlM 73) war, mehr Sympathie. In Falladas Roman haben 1932 die mittlerweile blutigen Auseinandersetzungen zwischen den politischen Lagern der Weimarer Republik die Dimensionen eines Märchenspiels angenommen.61 Den brutalen Nazischläger inszeniert der Erzähler als groben Hanswurst; Rassismen garantieren den komischen Effekt:62 Acht Uhr zwanzig, Lauterbach tritt ein. O Lauterbach! O Ernst! O du mein Ernst Lauterbach! Ein blaues Auge, eins. Die linke Hand in einem Verband, zwei. Das Gesicht voll Schmarren, drei, vier, fünf. Am Hinterkopf so ein schwarzes Seidenfutteral und über dem Ganzen ein Chloroformgeruch, sechs, sieben. Und diese Nase, diese verschwollene blutrünstige Nase! Acht! Und diese Unterlippe, halb gespalten, dick, negerhaft! Neun! Knockout, Lauterbach! Kurz gesagt, am gestrigen Sonntag hat Ernst Lauterbach unter den Bewohnern des Landes eifrig und mit Hingabe für seine politischen Ideen geworben. (KlM 102)
Wie aus dem Märchen wirken auch die verschiedenen Räume, in denen der Erzähler den Pinnebergs nach und nach Asyl gewährt. Im unfertigen »Spekulationskasten des Maurermeisters Mothes«, weit draußen vor Ducherow, »im Flachen« (KlM 47), erlebt Lämmchen das staubige Gründerzeitzimmer bei der Witwe Scharrenhöfer als eine Kammer des Schreckens. Aus den Möbeln der Väter wird ein bedrückendes, zugleich unantastbares, dunkles Labyrinth: »Also: das Zimmer ist eine Schlucht, gar nicht mal so schmal, aber endlos lang, eine Reitbahn […] vollgestellt […] mit Polstermöbeln, Nußbaumtischen, Vertikos, Spiegelkonsolen, Blumenständern, Etageren, einem großen Papageienkäfig (ohne Papagei)« (KlM 49). In Berlin, bei der Mutter, müssen die Kinder dann ein Prunkgemach beziehen: Frau Pinneberg öffnete die Tür eines Zimmers und sagte triumphierend: »Also, das ist nun euer Zimmer ...«
_____________ 61 62
Vgl. dagegen Lethen: Neue Sachlichkeit, S. 157: Am Roman »interessiert die ›Echtheit‹ und ›Authentizität‹ des Krisenpersonals«. In der für die nationalsozialistische Zensur ›entschärften‹ Fassung ist aus Lauterbach, dem Nazischläger, dann ein Fußballtorwart geworden.
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Sie schaltete das Licht ein, und rötlicher Ampelschimmer mischte sich mit dem Licht des vergehenden Septembertages. Sie hatte von fürstlich gesprochen. Dies war fürwahr fürstlich! Auf einer Stufe stand das Bett, ein breites Bett, vergoldetes Holz mit Putten. Rote seidene Steppdecken, irgendein weißes Fell auf der Stufe. Ein Baldachin darüber. (KlM 133)
Diese Orte: gründerzeitväterliche Rumpelkammer und mütterliches Bordellzimmer, verräumlichen das Grundgefühl geistiger Obdachlosigkeit, das Kracauer für die Angestellten der Weimarer Republik ausgemacht hat.63 Falladas Erfindung des Gegen-Raums ist dann tatsächlich spektakulär. Der einzige Raum, den die Pinnebergs (das heißt: Lämmchen) selbst wählen, ist ein Un-Ort, offiziell nicht vorhanden. Der Raum bietet den Rückzug aus der Welt draußen; will man ihn betreten, ist es wie der Aufstieg auf der Himmelsleiter: »Sie gehen näher, die Taschenlampe beleuchtet eine schmale Holztreppe, steil wie eine Leiter, die auf die Wand hinaufführt. Nein, es ist wirklich wohl eher eine Leiter als eine Treppe.« (KlM 205) Unter der merkwürdigen Bleibe: ein Kino. So erklären sich auch die seltsamen Maße der ›Wohnung‹ – die niedrige Decke, die Größe, die drei kleinen Fenster. Pinnebergs haben ein Obdach gefunden in einem Raum, den das Kino erst möglich machte:64 »Das ist hier mal eine richtige Wohnung gewesen […].« »Und wieso ist das alles weg?« »Weil sie das Kino eingebaut haben. Bis zur Tür von unserem Schlafzimmer geht der Saal vom Kino. Alles andere ist weg für den Kinosaal. Diese zwei Zimmer sind übriggeblieben, und kein Mensch hat gewußt, was damit anfangen. Richtig vergessen sind sie worden, bis sie Puttbreese wieder entdeckt hat. Und er hat die Leiter raufgemacht von seinem Lager her, und weil er Geld braucht, will er nun vermieten.« »Und warum kostet die Wohnung eigentlich gar nichts und dann doch vierzig Mark?« »Weil er natürlich nicht vermieten darf, weil das die Baupolizei gar nicht erlauben würde, wegen Feuersgefahr und Hals- und Beinbruch.« (KlM 206f.)
Nur einmal gehen Johannes und Emma Pinneberg nach nebenan in die Vorstellung; Jachmann, der »alte Kinotiger« (KlM 314), lädt sie ein. In der Geschichte, die sie zu sehen bekommen, können sie bruchstückhaft sich selbst erkennen. Ein kleiner Bankangestellter mit Frau und Kind gerät in finanzielle Nöte. Kurz davor, in die Kasse zu greifen, rettet ihn das großzügige Geldgeschenk des Bankvolontärs, seines Freundes, der zugleich der Sohn des Bankdirektors ist. Die Frau des Kassierers freilich glaubt an Diebstahl und feiert ihren Mann als Helden. Der Kaufrausch der Frau macht weitere Geldgeschenke des Freundes nötig, als Gegenleistung will _____________ 63 64
Vgl. Kracauer: Die Angestellten, S. 91. Vgl. dazu Prümm: Exzessive Nähe, S. 265.
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er die Frau kennen lernen. Beim Kabarettbesuch zu dritt rückt der Volontär die Verhältnisse zurecht; aus der Bewunderung der Frau für ihren Mann wird Verachtung. Am Ende dreht der kleine Mann »sich um, auf dünnen Beinchen mit krummem Rücken stelzt er zur Tür« (KlM, S. 318). Wie der Film erzählt wird, aus Pinnebergs Zuschauerperspektive, nur unterbrochen durch Jachmanns illusionsstörende Kommentare, bekommt er etwas Fragmentarisches. Natürlich, es ist ›Kino für Ladenmädchen‹,65 »Kitsch« (KlM 319), wie Jachmann nüchtern feststellt. Doch die erzählerische Zerlegung der Handlung in Momentaufnahmen, die Fokussierung der Dinge, die beschriebenen »Überschneidungen« (KlM, S. 313), mit denen Simultaneität erzeugt wird, der fotografische Blick verweisen auf Wahrnehmungsverschiebungen, wie sie im ›anderen‹, im modernen Film eingefordert und ausprobiert wurden. Karl Prümm hat in seinem Beitrag Die Oberfläche der Dinge gezeigt, wie im neuen Kino der späten 1920er, frühen 1930er Jahre sich die »Bedeutungsproduktion in das einzelne Bild« verlagert, wie die Kamera bloß beobachtet, konstatiert, die »Sprache der Dinge«66 aufzeichnet. Erst indem der schlechte Film im Roman in Sprache transponiert wird, tritt die triviale Handlung in den Hintergrund, rücken die Möglichkeiten des modernen Mediums in den Blick und können auf den Text zurückwirken.67 Die Großaufnahme des klingelnden Weckers, dessen Klöppel »wie ein Teufel […] gegen die Glocke« hämmert, »wild, rücksichtslos« (KlM 313), erinnert an Pinnebergs Blick auf die Uhr zu Beginn des Romans. Doch hier erst, als Zuschauer, vermag Pinneberg zu ahnen, wie die Wucht des Faktums auf den Einzelnen zurückschlagen kann. »Vor ihm, unentrinnbar, steht der Tisch mit den vier lächerlich hohen Beinen, zu dem muß er, so ist es ihm verordnet in diesem rätselhaften Dasein. Ihm kann er nicht entgehen« (KlM 315), heißt es über den kleinen Mann im Film auf dem Weg zum Kassiertisch. Der Fetisch Faktum hat die Herrschaft übernommen, die Dinge sind endgültig größer als der Mensch. Erst in der Dunkelheit des Kinosaals, mit Abstand zur Leinwand entsteht die Distanz, die Reflexion ermöglicht. Im Film erst wird Pinnebergs Angst vor der »Verlorenheit im Raum der großen Stadt«68 für ihn erkennbar: _____________ 65 66 67 68
Vgl. Siegfried Kracauer: Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino [ED 1927 unter dem Titel Film und Gesellschaft], in: Ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Mit einem Nachwort von Karsten Witte. Frankfurt a.M. 1977, S. 279-294. Karl Prümm: Die Oberfläche der Dinge. Repräsentation des Alltäglichen im Film, im Theater und im Roman um 1930 am Beispiel von Robert Siodmak, Ödön von Horváth und Hans Fallada, in: Germanica 14 (1994), S. 31-59, hier S. 47, 50. Eine »indirekte Kinotheorie« Falladas erkennt Prümm an dieser Stelle sogar (Prümm: Oberfläche, S. 56f.). Prümm: Oberfläche, S. 57.
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Da geht der Kleine Mann durch die große Stadt, nun springt er auf einen Autobus, wie die Menschen laufen, wie die Fuhrwerke sich stauen und jagen und wieder weiterfluten. Und die Verkehrsampeln sind rot und grün und gelb, und zehntausend Häuser mit einer Million Fenster, und Menschen und Menschen – und er, der Kleine Mann, hat nichts wie hinten die Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung mit einer Frau und einem Kind. Nichts sonst. (KlM 315)
Pinnebergs Wohnung, dieser Schutzraum der Familie, »gemütlich« möbliert mit »alten Mahagonimöbeln« (KlM 206), wird inszeniert als Gegenraum zum Lichtspielhaus, dem Ort der Massenzerstreuung.69 Die Handlung des erzählten Films samt Jachmanns Invektiven zeugen vom »Oberflächenglanz« der Produkte der Filmindustrie fürs »MassenTheater«.70 Doch zugleich macht die intern fokalisierte Verbalisierung filmischer Erzählstrategien die Möglichkeiten des Mediums sichtbar. Erst die »Kinobilder [decken] bei dem glücklichen Paar eine elementare Angst und Bedrohung auf«.71 Den Zerfall entblößen, nicht ihn verhüllen – so sah Kracauer die Aufgabe des modernen Films.72 In den UFA-Filmstudios in Neubabelsberg konnte er das Gegenteil erleben: Obmann ist der Regisseur. Er hat auch die schwierige Aufgabe, das Bildmaterial, das so schön ungeordnet wie das Leben selber ist, zu jener Einheit zu gestalten, die das Leben der Kunst verdankt. In seinem Privat-Vorführungsraum schließt er mit den Streifen sich ein und läßt sie wieder und wieder entrollen. Sie werden ausgesiebt, ineinander geschoben, abgeteilt und beschriftet. Bis zuletzt dem großen Chaos ein kleines Ganzes entspringt. Ein Gesellschaftsdrama, eine historische Begebenheit, ein Frauenlos. Meist ist der Ausgang gut […].73
Was hier über den Regisseur im Schneideraum berichtet wird, passt auch auf den Erzähler in Falladas Roman. Er lässt die Fragmentierung nicht zu, hält das Chaos zusammen; »ein tröstendes Kontinuum stellt er der in Oberflächenphänomene zerfallenden Wirklichkeit entgegen«.74 Die Laube ist der letzte Ort im Roman. Hatte der Erzähler die Pinnebergs ständig als Heilige Familie inszeniert, Lämmchen in Madonnenpose gezeichnet,75 so wird am Ende Heilbutts Laube zu einer Mischung aus _____________ 69 70 71 72 73 74 75
Vgl. Siegfried Kracauer: Kult der Zerstreuung. Über die Berliner Lichtspielhäuser [ED 1926], in: Ders.: Ornament, S. 311-317. Kracauer: Kult, S. 315, 311. Prümm: Oberfläche, S. 58. Vgl. Kracauer: Kult, S. 317. Siegfried Kracauer: Kaliko-Welt. Die Ufa-Stadt zu Neubabelsberg [ED 1926], in: Ders.: Ornament, S. 271-278, hier S. 278. Auf diesen Abschnitt aus Kracauers Essay verweist, in anderem Zusammenhang, auch schon Prümm: Oberfläche, S. 45. Prümm: Oberfläche, S. 56. Vgl. etwa KlM 211: »Lämmchen […] im weiten, blauen Kleid […], mit dem sanften Gesicht und der graden Nase.« Auch KlM 272: »Sie stehen ein Weilchen so, ganz still, sie hat den Arm um seinen Nacken, er hält das Kind. […] ›Gut ist das‹, sagt Lämmchen. Und:
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Paradiesgärtlein und Stall von Bethlehem – ein »Naturschutzpark für das Gemüt«,76 wie Kracauer ausgerechnet im Zusammenhang mit Filmkolportagen formulierte. Bereits die Erzählung der ersten Begegnung von Johannes und Emma beschwört ein topographisches Phantasma: »Sie saßen in einer Mulde wie in einer großen freundlichen Hand […]. Sie wußten nicht einmal, wie sie hießen. Sie hatten sich nie vorher gesehen. Das Meer war da, und über ihnen der Himmel« (KlM 240f.). War im 18. Jahrhundert die ›Natur‹ der bürgerliche Gegenraum gewesen, aus dem heraus Freiheit gedacht werden konnte, so malt hier der Erzähler – ohne jede Ironie – aus romantischen Versatzstücken ein Schlafzimmerbild für Angestellte. In einem Gedankenbild kehren am Ende der Erzähler, Emma und Johannes Pinneberg gemeinsam an den »Strand zwischen Lensahn und Wiek« (KlM 395f.) zurück. Er wird zum Fluchtpunkt, von wo aus sich alles fügt. »Die Woge steigt und steigt. Es ist der nächtliche Strand zwischen Lensahn und Wiek, schon einmal waren die Sterne so nah. Es ist das alte Glück, es ist die alte Liebe. Höher und höher, von der befleckten Erde zu den Sternen.« (KlM 395f.) Pinneberg war an diesem Abend nicht nach Hause gekommen. Ein Schupo hatte ihn vor einer großen Delikatessenhandlung, in der er für ›den Murkel‹ hatte Bananen kaufen wollen, vom Bürgersteig auf die Fahrbahn gejagt. Bemüht wird hier noch einmal der ›Verkehr‹ als der zentrale Topos der neusachlichen Literatur Mitte der 1920er Jahre.77 In den scheinbar so »egalitären Freuden der Zirkulation« hatte, so lange war es noch gar nicht her, »die Erleichterung [geklungen], vom Schrecken der erstarrten Verhältnisse der wilhelminischen Gesellschaft befreit zu sein. […] Am Modell des Verkehrs« hatte man sich »die Überlegenheit des überindividuellen Systems, das die Verhaltensformen dirigiert«,78 vergegenwärtigt. Der nunmehr seiner Klasseninsignien entledigte Pinneberg (vgl. KlM 375) »begreift« plötzlich, »daß er draußen ist« (KlM 384), ein Störfaktor im reibungslosen Verkehr. »Armut ist nicht nur Elend, Armut ist auch strafwürdig, Armut ist Makel, Armut heißt Verdacht« (KlM 384) – wie in der Kinoszene reicht Pinneberg hier beinahe ans Verstehen heran, aber eben nur fast, lässt sich diese Bilanz doch ebenso gut als Bewusstseinsbericht wie als Erzählerkommentar lesen. Haarscharf nebeneinander liegen hier _____________ 76 77 78
›Gut ist das‹, sagt er. ›Hältst du den Jungen noch?‹ fragt sie. ›Leg ihn auf mein Bett. Ich mache gleich seine Krippe fertig.‹« Kracauer: Ladenmädchen, S. 289. Zum ›Lauben‹-Motiv vgl. etwa auch den Film Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt? von 1932 (Regie: Slatan Dudow, Buch: Bertolt Brecht und Ernst Ottwald, Kamera: Günther Krampf, Musik: Hanns Eisler). Vgl. Lethen: Verhaltenslehren, S. 44-50. Lethen: Verhaltenslehren, S. 46f.
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Erkenntnis und Affirmation, Opfer- und Versagerrolle: Pinneberg »begreift […], daß er hier nicht mehr hergehört, daß man ihn zu Recht wegjagt« (KlM 384). Pinneberg rennend »auf seinem Fahrdamm […], immer geradeaus, in das Dunkel« (KlM 385) – das immerhin wäre ein Schluss gewesen für diesen Roman vom Kleinen Mann. Doch »Pinneberg verschwindet nicht in der Masse der Proletarisierten. Er verschwindet in der Natur«.79 Lämmchen weiß, sie ist nicht allein. Irgend jemand ist hier draußen im Dunkeln wie sie, reglos. Atmet der? Nein, nicht. Und doch ist jemand hier. Das ist ein Fliederbusch und das ist noch ein Fliederbusch. Seit wann steht zwischen den beiden Fliederbüschen etwas? […] Der Busch, der überzählige Busch, ist still. Dann bewegt er sich zögernd […]. Da steht ihr Mann, ihr lieber junger Mann, im Dunkeln, wie ein verwundetes Tier, und traut sich nicht ans Licht. (KlM 393f.)
Pinneberg ist zur Kreatur geworden, angekommen am erbarmungswürdigen Ende der neusachlichen Typologie. Die Scham macht ihn fertig. In solchen Erzählungen von der »gnadenbedürftigen Kreatur« konnte, so Helmut Lethen, das »›Weltstadtpublikum‹ […] seinen ständigen Alarmzustand, in den es die Gefahr, ins ›Nichts‹ der sozialen Degradierung zu fallen, versetzte, […] bestätigt finden. Seine diffuse Angst erschien in fremden Schicksalen objektiviert«.80 Gnädig ist der Erzähler – bis zum Schluss. Im letzten Satz erklärt er kurzerhand die marode Laube zum »Haus« und das Kind erhält die Bürde der gelingenden Zukunft: »Und dann gehen sie beide ins Haus, in dem der Murkel schläft.« (KlM 396) Es wird weitergehen, auch Jachmann ist ja wieder da und Heilbutt wacht über allem. 1931 hatte der Wiener Zsolnay-Verlag die Publikation von Mela Hartwigs Roman Bin ich ein überflüssiger Mensch? abgelehnt. Erst 2001 übernahm der Grazer Droschl-Verlag die Erstveröffentlichung des Manuskripts der 1967 verstorbenen Autorin. Ein Angestelltenroman, der weder durch die Wirkungsgeschichte noch durch die zeitgenössische Rezeption geadelt wurde und deshalb auch in diesem Handbuch keinen Platz gefunden hat. In einem durchgehend inneren Monolog erzählt die Stenotypistin Aloisia Schmidt von ihrem Leben in der Sachlichkeit. Der Text changiert zwischen gleichzeitigem und späterem Erzählen und erzeugt damit eine reflexive Distanz zwischen der Figur der Erzählerin und dem erzählten eigenen Erleben. So entsteht der »auffallende Geständnisgestus«,81 der mit _____________ 79 80 81
Lethen: Neue Sachlichkeit, S. 162. Lethen: Verhaltenslehren, S. 256. Bettina Fraisl: Körper und Text. (De-)Konstruktionen von Weiblichkeit und Leiblichkeit bei Mela Hartwig. Wien 2002, S. 275.
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der Zeit schier unerträglich wird. Auf 154 Seiten kreist, so kann man es in der spärlichen Forschungsliteratur und in den Rezensionen von 2001 immer wieder lesen, der kontrollierte Wortschwall um die eigene körperliche wie intellektuelle ›Durchschnittlichkeit‹ – sie ist Thema und Inhalt des Geständnisses, das Aloisia vor sich selbst ablegt.82 Wo sie hinschaut, überall herrscht das Primat der Oberfläche und es gelingt ihr nur mühsam, den eigenen Körper zuzurichten. Doch es ist noch etwas Anderes, was ihr zu schaffen macht: »Ich träume, könnte man sagen, mit meinem Gehirn und nicht mit meinem Herzen«,83 muss sie zugeben und weiß, dass sie damit herausfällt aus der Ordnung des Weiblichkeitsdiskurses. Aloisia Schmidt begegnet den Figuren der Neuen Sachlichkeit: der kalten persona im bis zur Selbstaufgabe angehimmelten Bauingenieur Egon Z., der Neuen Frau im omnipräsenten Schönheitsideal, dem androgynen Vamp in der Schauspielerin Elisabeth, ihrem alter ego. Das distanzierte, genaue Beobachten scheint sie in die Nähe der kalten persona zu rücken, doch die »unausgesetzte Ich-Bespiegelung«84 ist deren Sache ganz und gar nicht. Aloisia ist von den Diskursen der Neuen Sachlichkeit bestimmt und versucht sie dennoch abzuwehren. Das ›Träumen mit dem Gehirn‹ enthält noch das Potential eines Habitus der Kälte vor dessen Indienstnahme für die heroisch-zynische »Attitüde des ›kalten Blicks‹ und der ›gnadenlosen Sachlichkeit‹«.85 So trägt diese kleine Angestellte etwas Widerständiges in sich. Gleichsam unter der Hand wird ihr Geständnis zum Akt der Selbstvergewisserung; die Suche nach der genauen Sprache86 und der inflationäre Gebrauch des Pronomens ›Ich‹ prägen den Versuch der Selbstbehauptung:87 »Auf das bißchen Ich, das ich überhaupt besaß, konnte ich einfach nicht verzichten.«88 »Ich hatte daher seit einiger Zeit die Gewohnheit angenommen, so etwas wie einen eigenen Willen zu haben«,89 resümiert Aloisia ihre verborgenen Abgrenzungsstrategien gegenüber dem Vater, der als Kriegsheimkehrer sich »sein Recht«, für Ehefrau und Tochter »zu denken, nicht entwinden« ließ, der es sich zur »Pflicht« gemacht hatte, »jede Ansicht, jede _____________ 82 83 84 85 86 87 88 89
Vgl. Fraisl: Körper, S. 273. Mela Hartwig: Bin ich ein überflüssiger Mensch? Mit einem Nachwort von Bettina Fraisl. Graz, Wien 2001, S. 31. Fraisl: Körper, S. 275. Lethen: Habitus, S. 408. »Ich versuche wirklich nur, das, was damals in mir vorging, so richtig wie möglich zu beschreiben.« (Hartwig: Bin ich ein überflüssiger Mensch?, S. 114) Vgl. dazu Julia Gruß: Mela Hartwigs Bin ich ein überflüssiger Mensch? und Hans Falladas Kleiner Mann – was nun? Wirkungsmechanismen von Gender auf Werk und Kanonisierung [Manuskript], S. 13. Hartwig: Bin ich ein überflüssiger Mensch?, S. 143. Hartwig: Bin ich ein überflüssiger Mensch?, S. 42.
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Meinung«, die die beiden Frauen sich »ohne sein Zutun gebildet hatten, für null und nichtig zu erklären«.90 Sie zieht sich zurück auf den Beobachtungsposten, von dort aus nimmt sie auch die »Spuren des Krieges« am »Körper der Mutter«91 deutlich wahr. Aus der Entdeckung des eigenen Willens entsteht das Unbehagen an der Masse: »Ehe ich mich dessen versah, wurde der winzige Wille, der ich war, von dem kompakten Willen, der mich umgab, einfach verschluckt«, berichtet sie von ihrer Empfindung auf einer Versammlung der »sozialistischen Bewegung«.92 So kommt ihr immer wieder, auch in Phasen obsessiver Selbstverleugnung, ihr Ich in die Quere: »Aber eben davor hatte ich noch mehr Angst als vor dem Leben selbst, vor diesem Erlöschen in einem Willen, der stärker war als ich und mich aufsaugte und spurlos verschluckte, eine rasende Angst.«93 Immer wieder beginnen in Aloisias Geständnis Sätze mit »aber vielleicht«.94 Diese Verbindung einer restriktiv-adversativen Konjunktion mit einem Modaladverb der Einschränkung wird zur dominanten rhetorischen Fügung des Textes. Sie markiert den Wechsel der Perspektive, Momente der Selbstdistanzierung der Figur, in denen Aloisia sich der Ordnung des Diskurses zu entziehen versucht.95 In diesem Roman gibt es keinen gnädigen Erzähler, der ein Märchen bereithielte für die ›Überflüssigen‹, auch ein männliches Lämmchen ist für Aloisia nicht in Sicht. Stattdessen hört bis zum Schluss das Aufbegehren nicht auf: »Ich kann es mir offenbar immer noch nicht abgewöhnen, mehr vom Leben zu verlangen als mir zukommt.«96 Es handle sich um ein »absolut publikumsunwirksames und abseitiges Werk, das in der heutigen Zeit einem heutigen Publikum vorzulegen einen sicheren Misserfolg bedeuten würde«,97 heißt es am 24. April 1931 im vorläufigen Ablehnungsschreiben des Verlags. 1933 ist die Absage dann endgültig: _____________ 90 91 92 93 94 95
96 97
Hartwig: Bin ich ein überflüssiger Mensch?, S. 41. Fraisl: Körper, S. 286. Hartwig: Bin ich ein überflüssiger Mensch?, S. 79. Hartwig: Bin ich ein überflüssiger Mensch?, S. 143. Vgl. etwa Hartwig: Bin ich ein überflüssiger Mensch?, S. 48, 58-60. »Dieser Mangel an Fleiß, den ich mir damals vorzuwerfen hatte, ist mir nur deshalb so unerklärlich, weil ich doch in meiner Bürokollegin ein Vorbild vor mir hatte, dem nachzueifern es sich gelohnt hätte […]. Aber vielleicht sind das Spitzfindigkeiten, vielleicht war ich damals gar nicht fähig, fleißig zu sein. Ich befand mich in einer elenden körperlichen Verfassung, ich hatte längst nicht mehr satt zu essen, und meinem Körper, dem es am Notwendigsten fehlte, fehlte es eben auch an Energie.« (Hartwig: Bin ich ein überflüssiger Mensch?, S. 48; Hervorhebung M.S.) Hartwig: Bin ich ein überflüssiger Mensch?, S. 154. Zitiert nach: Bettina Fraisl: Nachwort, in: Hartwig: Bin ich ein überflüssiger Mensch?, S. 160.
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Sie wissen, sehr verehrte gnädige Frau, dass das Weltbild des deutschen Lesepublikums und besonders der deutschen Frau heute ein anderes ist als die Lebensanschauung, die aus Ihrem Werke spricht. Wir bitten Sie, über diesen Gegenstand jetzt nicht mehr sagen zu müssen – dies ist brieflich auch gar nicht möglich –, wir können nur soviel andeuten, dass wir für einige Zeit mit unserer Produktion äusserst vorsichtig sein müssen.98
1950, als Mela Hartwig in England beginnt, mit dem Schreiben aufzuhören, weil niemand sie publizieren will,99 erscheint als erstes rororoTaschenbuch Falladas Kleiner Mann. Auf dem Umschlag (gestaltet von Karl Gröning jun. und Gisela Pferdmenges100) sieht man Johannes und Emma Pinneberg auf einer filigranen Parkbank sitzen. Auf der Lehne pfeift ein Vögelchen »rororo«, Emma sieht gut aus: lange, gelockte blonde Haare, schlanke Beine, grazil lehnt sie sich an ihren Jungen im schwarzen Anzug mit Hut. Um sie herum: blühende Bäume, im Hintergrund: schmucke Reihenhäuser, bezugsfertig. Da sind sie also angekommen, die Pinnebergs – im Wirtschaftswunderland. »Kommunisten oder Nazis […]. Pinneberg hatte sich noch immer weder für das eine noch für das andere entscheiden können, er hatte gemeint, am leichtesten würde es sein, so durchzuschlüpfen, aber manchmal schien gerade das am schwersten.« (KlM 362f.) Das Umschlagbild versichert: Sie haben es geschafft.
_____________ 98 Zitiert nach: Fraisl: Nachwort, S. 157. 99 Vgl. Fraisl: Nachwort, S. 166. 100 Vgl. Grisko: Fallada, S. 60.
JAN ANDRES
Späte Moderne. Joseph Roths Radetzkymarsch (1932) 1. Einleitung Der Radetzkymarsch ist Joseph Roths (1894–1939) berühmter Roman, der von der Familie der Trottas und den letzten Jahren der Donaumonarchie erzählt. Häufig ist sehr schnell geschlossen worden, die Generationengeschichte der Trottas sei für Roth nur das Mittel zum Zweck gewesen, das Scheitern Habsburgs zu seinem eigentlichen, sentimentalischen Thema zu machen. Diese These von der scheiternden Familie, die als pars pro toto für die Monarchie stehe, hat ihre Berechtigung. Sie soll aber im Folgenden erweitert werden, indem von zwei parallelen Erzählsträngen im Radetzkymarsch ausgegangen wird, die sich zwar eng berühren, aber letztlich ihr eigenes Recht bewahren. Die Geschichte der Trottas und das Ende der Monarchie lassen sich nicht eins zu eins ineinander übersetzen, schon gar nicht bedingen sie einander. Die Monarchie geht nicht unter, weil die Trottas aussterben; und auch die Trottas sterben nicht nur, weil die Monarchie endet. Roth gestaltet sowohl die Familiengeschichte der Trottas als auch den Untergang Altösterreichs. Er bedient sich dafür der erzählerischen Mittel seiner ganz eigenen Mythologie. Roth führt das Ende der großen Erzählung, des Mythos, vor, indem er vom Ende des ›Mythos Habsburg‹1 erzählt. Er erzählt diese Mythologie zu Ende. Die Geschichte der Trottas lässt sich doppelt lesen: Es ist die Geschichte einer österreichischen Familie, deren sozialer Aufstieg zugleich ihr Untergang ist. Darin liegen auch Ähnlichkeiten mit anderen berühmten Familienromanen wie den Buddenbrooks. Diese Familiengeschichte lässt sich zugleich im Zusammenhang mit dem Ende der k.u.k. Monarchie im beginnenden 20. Jahrhundert lesen. Dass eine solche Parallellektüre möglich ist, in der zudem die spezifische Modernität des Romans begründet ist, liegt wesentlich an der Rolle des Erzählers und seiner Art zu erzählen. In der Analyse der _____________ 1
Vgl. Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur. Neuausgabe. Wien 2000 (zuerst ital. Turin 1963).
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Handlung, der Figuren und der Motive des Romans wird deutlich werden, dass es sich beim Radetzkymarsch nicht um einen historischen Roman im engeren Sinn handelt. Vielmehr ist es Roths ganz eigener Beitrag zur modernen Romanliteratur im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Die folgende Deutung des Radetzkymarsches gliedert sich in sechs Teile. Nach dieser Einleitung folgt im zweiten Teil die eigentliche Interpretation der Figuren und Motive, die den Gang durch die Handlung strukturieren. Der dritte Teil nimmt die Frage danach auf, ob Roth mit dem Radetzkymarsch einen historischen Roman geschrieben hat. Zur Antwort trägt Teil 4 bei, in dem durch eine Forschungsdiskussion nach der Funktion und Art des Erzählers gefragt wird – ein Thema, das zunächst unauffällig, aber dennoch wichtig ist. Die Teile 3 und 4 münden in die Leitfrage von Abschnitt 5, in dem es um die Modernität oder Nicht-Modernität der Prosa Roths gehen wird. Der Schlussabschnitt 6 zieht die gewonnenen Ergebnisse zu einer abschließenden These von der zu Ende erzählten Mythologie des Radetzkymarsches zusammen.
2. Joseph Roths Radetzkymarsch Die Trottas waren ein junges Geschlecht. Ihr Ahnherr hatte nach der Schlacht bei Solferino den Adel bekommen. Er war Slowene. Sipolje – der Name des Dorfes, aus dem er stammte – wurde sein Adelsprädikat. Zu einer besonderen Tat hatte ihn das Schicksal ausersehn. Er aber sorgte dafür, daß ihn die späteren Zeiten aus dem Gedächtnis verloren.2
Mit diesem ersten Absatz beginnt Roths Roman. Das so genannte Solferino-Kapitel bildet für den gesamten Text eine Art Präambel: Roth strukturiert hier das weitere Geschehen vor, er legt die doppelte Erzählung an, in der immer mit dem Schicksal der Familie von Trotta auch von der Geschichte der Monarchie die Rede sein wird, ohne dass die Familie lediglich die Allegorie der Monarchie wäre. Die Trottas sind ›ein junges Geschlecht‹, wobei zunächst von deren Aufstieg erzählt wird. Wenn hingegen Bilder der Monarchie auftauchen, so sind es von Anfang an melancholische, manchmal auch ironische Beschreibungen Österreichs, das aus der Stagnation in den Zerfall gerät. Das Anfangszitat weist auf das zentrale Ereignis im Leben der Trottas hin, das im ersten Kapitel geschildert wird. Ein junger und völlig unbedeutender Leutnant Trotta aus Slowenien – eine erfundene Figur – rettet in der historisch realen Schlacht von Solferino im Jahr 1859 seinem Kaiser das Leben, während der die Front besucht und sich als soldatischer Laie in _____________ 2
Joseph Roth: Radetzkymarsch. 12. Aufl. München 1998 (dtv-Taschenbuch), S. 5. Im Folgenden mit der Sigle R belegt.
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Lebensgefahr bringt. Als der Kaiser sich allzu sehr exponiert, reißt der Leutnant Trotta den Kaiser zu Boden, während der Feind ihn beschießt. Der Kaiser bleibt unverletzt, der Leutnant wird bei seiner reflexhaften Handlung am Schlüsselbein verwundet. Diese ›besondere Tat‹, die alles andere als geplant war, wird zukünftig das Schicksal der Familie bestimmen. Denn der Kaiser zeigt sich dankbar, befördert den Leutnant zum Hauptmann, verleiht ihm den Maria-Theresia-Orden. Und er adelt den jetzigen Hauptmann: »Er hieß von nun ab: Hauptmann Joseph Trotta von Sipolje.« (R 7) Die österreichische Armee hat die historische Schlacht von Solferino verloren. Das ist bezeichnend, denn der Beginn des Aufstiegs der Trottas, ihre Adelsgeschichte, wird sich im Verlauf des Romans als der Beginn eines fremden Lebens für eine Familie erweisen, die seit Beginn ihrer Geschichte ein Bauerngeschlecht gewesen war. Die militärische Niederlage Österreichs scheint nur der Beginn des sozialen Aufstiegs der Trottas zu sein, der sich aber schließlich als der Anfang vom Ende der Familie erweisen wird. Roths Roman beginnt auf dem Schlachtfeld mit einer Niederlage. Die Geschichte der Trottas wird mit dem Tod des Enkels auch dort enden. Schon für den Helden von Solferino, den vormaligen Leutnant, wird seine Heldentat, die doch nur Reflex war, zu einem Schicksal, dem er sich zu beugen hat. Er fühlt sich zu einem Leben »in fremden Stiefeln« (R 8) verurteilt und als Adeliger dem eigenen bäuerlichen Vater, der es in der Monarchie nur zum Wachtmeister brachte, entrückt. »Es ist tatsächlich aus! dachte der Hauptmann Trotta. Getrennt von ihm war der Vater durch einen schweren Berg militärischer Grade.« (R 11) Der vermeintliche Aufstieg ist von Anbeginn her eine Entfremdung von den Ursprüngen der Familie. Der Hauptmann versucht sich in seinem Schicksal einzurichten, heiratet und bekommt einen Sohn. Dieses Leben ist schon ein bloßes Sich-Fügen in die Umstände. Der Hauptmann muss außerdem noch in einem Schulbuch des Sohnes lesen, wie seine Rettungstat zum großen Heldentum stilisiert wird, wobei das wahre Geschehen nicht mehr zu erkennen ist. Der Hauptmann ist empört, er sieht »Lüge« und »Mißbrauch« (R 13f.) der Geschichte von Solferino. Er beschwert sich. Die Beschwerde »wurde weitergeleitet. Und nun begann das Martyrium des Hauptmanns Joseph Trotta, Ritter von Sipolje, des Ritters der Wahrheit« (R 15). Der erboste Hauptmann erreicht schließlich eine Audienz beim Kaiser. Der aber will ebenfalls nicht gegen die SchulbuchGeschichte vorgehen. Es werde ohnehin viel gelogen und beide kämen schließlich nicht schlecht bei der Geschichte weg. Für den Hauptmann ist das zuviel. Er reicht seinen Abschied ein, wird als Major entlassen und in den Freiherren-Stand erhoben. Er wird wieder »ein kleiner slowenischer
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Bauer«, der »als der unbekannte Träger früh verschollenen Ruhms« (R 18) lebt. Der Sohn wird in Wien erzogen, ist fleißig, mittelmäßig, ein künftiger Jurist. Vater und Sohn sehen sich nur in den Sommerferien, wobei der Sohn Franz einmal einen Freund mitbringt, der ein Porträt des Barons und Helden, des Ritters der Wahrheit, malt. »Das Porträt war und blieb das einzige, was man jemals vom alten Trotta angefertigt hatte. Es hing später im Wohnzimmer seines Sohnes und beschäftigte noch die Phantasie des Enkels...« (R 23) Als der Held von Solferino stirbt, bleibt nur die verzerrte Legende der Heldentat. »Wenig mehr blieb also von dem Toten zurück als dieser Stein [sein Grabstein, der ihn als Helden von Solferino ausweist; J.A.], ein verschollener Ruhm und das Porträt.« (R 26) Dieses Porträt, das am Ende des Einleitungskapitels eingeführt wird, wird im Roman noch mehrfach eine Rolle spielen. Es erweist sich weniger als Bild des Vorfahren denn als legendenhafte Imago, mit dem sich Sohn und vor allem Enkel zu arrangieren haben werden. Es beschäftigt nicht nur die Phantasie des Enkels: Als Imago des Helden bestimmt der Großvater letztlich sein gesamtes Leben. Das erste Kapitel, das von Roth erst nachträglich konzipiert wurde,3 wird hier so ausführlich dargestellt, weil es für die Fabel des Romans wichtig ist. Denn schon der sagenhafte Held von Solferino rüttelt an der eigenen Legende, weil sie nur noch Legende ist, weil sie die historische Wahrheit entstellt.4 Zu einem solchen Leben ist der ehemalige Leutnant nicht bereit. Er verweigert seine Rolle als Held für Kaiser und Monarchie, indem er, der geadelte Freiherr, sich wieder in sein bäuerliches Dasein zurückzieht – ein Ausweg, der den kommenden zwei Generationen kaum mehr möglich ist. Indem der familiäre Aufstieg mit einer Niederlage Österreichs beginnt, schwebt von Anfang an ein Schatten über der Familie, der sich als symptomatisch für den Gang der Erzählung und das Schicksal der Hauptfigur erweisen wird.5 Das Solferino-Kapitel ist Anfang und implizites Ende des Romans, dessen weiterer Verlauf die Geschichte der Trottas im Zeichen des toten Vaters und Großvaters erzählen wird. Das zweite Kapitel beginnt nach einem Zeitsprung im Hause des Sohnes des Helden, der Bezirkshauptmann in Mähren ist. In der kleinen Bezirkshauptstadt W. scheint das Leben der Monarchie noch in Ordnung zu sein. Die Woche endet im Haus der Trottas jeden Sonntag mit einem Tafelspitz und einem Konzert unter der Leitung des Kapellmeisters Nechwal: _____________ 3 4 5
Vgl. Jan T. Schlosser: Identitätsproblematik und Gesellschaftskritik. Zum Solferino-Kapitel in Joseph Roths Radetzkymarsch, in: Orbis Litterarum 60/3 (2005), S. 183-201, hier S. 184. Vgl. Schlosser: Identitätsproblematik, S. 184. Vgl. Hansjürgen Böning: Joseph Roths Radetzkymarsch. Thematik, Struktur, Sprache. München 1968, S. 20.
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Alle Platzkonzerte – sie fanden unter dem Balkon des Herrn Bezirkshauptmanns statt – begannen mit dem Radetzkymarsch. […] Und als probte er [Nechwal] den Radetzkymarsch zum ersten Mal mit seinen Musikanten, hob er jeden Sonntag in militärischer und musikalischer Gewissenhaftigkeit den Kopf, den Stab und den Blick und richtete alle drei gleichzeitig gegen die seiner Befehle jeweils bedürftig scheinenden Segmente des Kreises, in dessen Mitte er stand. (R 27)
Hier taucht erstmals im Roman das Titelmotiv auf. Der Marsch Johann Strauß’ des Älteren erinnert an den Grafen Josef Wenzel von Radetz, jenen Feldmarschall, der der Planer der Völkerschlacht war und Generalkommandant der kaiserlichen Armee wurde. In einem Gedicht mit dem Titel Feldmarschall Radetzky aus dem Revolutionsjahr 1848 schreibt Grillparzer in der ersten Strophe: »Glück auf, mein Feldherr, führe den Streich! / Nicht bloß um des Ruhmes Schimmer, / In Deinem Lager ist Österreich, / Wir andern sind einzelne Trümmer.«6 ›In Deinem Lager ist Österreich‹: der hagiographische Marsch ist das Symbol der Monarchie. Immer wieder sonntags erinnert sich die Monarchie eines ihrer größten Soldaten. Deswegen wird der Marsch vom Kapellmeister auch wie ein Manöver vorexerziert, dessen Befehlshaber er ist. Neben diesem Verweis auf die dominante Rolle der Armee in Österreich nimmt der Marsch aber im Roman eine weitere zentrale Funktion ein. Der Titel, der eigentlich nicht auf Roth, sondern auf eine Idee Gustav Kiepenheuers, seines Verlegers, zurückgehen soll,7 taucht als Musikstück leitmotivisch immer wieder dann im Text auf, wenn zwischen der Generationenhandlung, den Trottas, und der Geschichte Österreichs Verbindungen angedeutet werden. Als Symbol für die Tradition und gesuchte Identität Österreichs kann man den Radetzkymarsch als Gegenmotiv zur eingangs geschilderten Niederlage von Solferino lesen.8 Gegen die Bürde der Niederlage wird der Marsch gesetzt, der »sinnlicher Träger der Idee Österreich«9 sein soll. Für die beiden Hauptfiguren der Handlung, den Bezirkshauptmann und seinen Sohn Carl Joseph, ist der Marsch bis zum Schluss Teil der Repräsentation der Monarchie. Carl Joseph kommt immer in den Ferien ins väterliche Haus, wird immer anfangs geprüft, wird dann immer in die kleinen Freiheiten der Ferien entlassen: Der gedeckte Tisch, das Bild der Mutter, der Radetzkymarsch, »all das zusammen bedeutete Sommer, Freiheit, Heimat« (R 32). In diesen Ferientagen macht Carl Joseph zwei Erfahrungen, die ihm im _____________ 6 7 8 9
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Hg. v. Peter Frank u. Karl Pörnbacher. Bd. I: Gedichte – Epigramme – Dramen I, München 1963, S. 318f. Vgl. David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie. Gekürzte Fassung. Köln 1993, S. 220. So der Vorschlag bei Klaus-Detlef Müller: Joseph Roth: Radetzkymarsch, in: Interpretationen. Romane des 20. Jahrhunderts. Bd. I. Stuttgart 1993, S. 298-321, hier S. 302. Hartmut Scheible: Joseph Roth. Mit einem Essay über Gustave Flaubert. Stuttgart, Berlin, Köln u.a. 1971, S. 81.
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Roman immer wieder in unterschiedlichen Zusammenhängen zustoßen werden: Er erfährt, wie nah für ihn Freundschaft, Liebe und Tod zusammenhängen. Und er wird mit dem Bild und der Rolle des Großvaters konfrontiert, dessen Heldentum für ihn zu lebenslanger Bürde wird. Der fünfzehnjährige Carl Joseph beginnt in den Ferien ein Verhältnis mit der älteren Frau Slama, der Frau eines Wachtmeisters. Die besucht er nachmittags, um pünktlich um sieben zu gehen. Der Vater deutet in diesem Zusammenhang die verhängnisvolle Verbindung von Freundschaft und Tod im Leben Carl Josephs, die ihn von nun an im Roman begleiten wird: »›Es riecht hier nach Herbst‹, sagte eines Abends der Alte. Er verallgemeinerte. Frau Slama gebrauchte grundsätzlich Reseda.« (R 42) Der jugendliche Liebhaber trägt den Geruch der Geliebten, der zugleich der Geruch des Herbstes, des Verfalls und Todes ist. Und so stirbt denn auch die Geliebte Slama an der Geburt eines Kindes. Der Erzähler lässt offen, wer der Vater ist. Für Carl Joseph aber ist die Situation überdeutlich: »Es war klar, daß er Schuld an ihrem Tode trug. An der Schwelle des Lebens lag sie, eine geliebte Leiche.« (R 48) Mit dieser Szene führt Roth ein wichtiges Motiv ein: die wenigen, stets scheiternden sozialen Bindungen Carl Josephs, bei denen offen bleibt, wer die Schuld an ihrem Ende trägt. Carl Joseph aber sieht sich hier wie später immer als Schuldigen. Frau Slama ist nur seine erste geliebte Leiche.10 Im so heil scheinenden, durch den Vater geordneten Heimatstädtchen, ein pars pro toto der Monarchie, bricht unerwartet der Tod ein. Roth verbindet die Erzählung des Familienschicksals mit einer Erzählung von der verfallenden Monarchie, ohne offensichtliche Identitäten der Erzählstränge zu forcieren. Die zweite zentrale Lebenserfahrung macht Carl Joseph ebenfalls im Haus des Bezirkshauptmannes vor dem Bild des Großvaters, das einst der Freund des Vaters malte. »Die Neugier des Enkels kreiste beständig um die erloschene Gestalt und den verschollenen Ruhm des Großvaters.« (R 42) Immer wieder betrachtet der Enkel das Bild des Ahnen: Jedes Jahr in den Sommerferien fanden die stummen Unterhaltungen des Enkels mit dem Großvater statt. […] Von Jahr zu Jahr schien das Bildnis blasser und jenseitiger zu werden, als stürbe der Held von Solferino noch einmal dahin, als zöge er sein Andenken langsam zu sich hinüber und als müßte eine Zeit kommen, in der eine leere Leinwand aus dem schwarzen Rahmen noch stummer als das Porträt auf den Nachkommen niederstarren würde. (R 43)
An dieser Stelle ist nicht ganz eindeutig, ob der Erzähler selbst spricht oder ob er die Gedanken Carl Josephs, einen inneren Monolog, berichtet. Aber es zeigt sich wieder die doppelte Erzählung von Familien- und Österreich-Roman. Für den Jungen ist es der in historische Ferne entrückte _____________ 10
Zum Motiv vgl. Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. Würzburg 2004.
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Großvater, der ihm nichts sagt und trotzdem sein Leben prägen soll – der Großvater als Imago. Aber das Verblassen des Helden deutet auch auf ein Verblassen der Monarchie. Indem der Retter des Kaisers entschwindet, gerät auch der Kaiser als die Verkörperung der Monarchie ins Dunkel. Der Bezirkshauptmann sieht die Familie ungebrochen in der Tradition von Solferino, wenn er dem Sohn auf dem Weg zum bevorstehenden Militärdienst mit auf den Weg gibt: »Du bist der Enkel des Helden von Solferino. Denk daran, dann kann Dir nichts passieren!« (R 44) Wie gebrochen diese Tradition schon jetzt ist, sieht der Bezirkshauptmann nicht. Der Großvater hatte sich bereits auf seine bäuerlichen Ursprünge besonnen – wenn auch nur aus Trotz. Der Bezirkshauptmann selbst ist kein Soldat, sein Dienst am Vaterland ist der eines Beamten – der zweite wichtige Typus in der k.u.k. Zeit. Und der Sohn schließlich verfehlt alle wesentlichen Eigenschaften des großen Ahnen. Es ist der Maler des einzigen Porträts, der Freund des Bezirkshauptmannes, der diesen Umstand mit dem Blick des Physiognomikers und Künstlers enthüllt. Er beschreibt Carl Joseph, mittlerweile Leutnant: »Außerordentlich, die Ähnlichkeit mit dem Helden von Solferino! Nur etwas weicher! Schwächliche Nase! Weicher Mund! Kann sich aber mit der Zeit ändern…!« (R 52) Es wird sich nicht ändern und es ist eben nur eine Ähnlichkeit, die Carl Joseph mit dem Helden von Solferino hat. Er ist kein Soldat, schon gar kein Held und Ritter der Wahrheit, eher Melancholiker, ein Leidender. Das fünfte Kapitel von Roths Roman führt diese Spannung von Einzel- und Familienschicksal, von Soldaten- und Bauernexistenz eindrücklich vor. Carl Joseph geht den Weg des Soldaten bei der Kavallerie in Mähren, wie es der Großvater vorgegeben und der Vater für geradezu notwendig gehalten hat. Aber Carl Joseph ist kein guter Soldat. »Carl Joseph, Freiherrn von Trotta, blieben die Tiere gleichgültig. Manchmal glaubte er, in sich das Blut seiner Ahnen zu fühlen: sie waren keine Reiter gewesen.« (R 73) Ein Kavallerist, dem die Pferde, ein altes Symbol von Männlichkeit und Soldatentum, fremd bleiben, kann kein guter Soldat sein. Schon zu Beginn seiner Karriere als Leutnant sehnt sich der Enkel nach dem bäuerlichen Leben der Ahnen vor der Zeit des Großvaters. »Der Vater des Großvaters noch war ein Bauer gewesen. Sipolje war der Name des Dorfes, aus dem sie stammten. Sipolje: das Wort hatte eine alte Bedeutung.« (R 74) Carl Joseph beginnt von Anfang an eine Karriere, von der er insgeheim weiß, dass sie ihm nicht gemäß ist, dass er sie nicht will. Für ihn ist die ›alte Bedeutung‹ die bäuerliche Tradition der vorgroßväterlichen Zeit: »Man hätte seine Offizierskarriere darum gegeben! […] Bauern waren sie, Bauern! Nicht anders hatte das Geschlecht der Trottas gelebt! Nicht anders!« (R 76) Hier zeigt sich deutlich, dass der soziale Aufstieg der Trottas für Carl Joseph nur eine Entfremdung ist, der
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er in ihren Ansprüchen kaum gewachsen scheint. Sein Ansehen bei den Kameraden hat den gleichen Grund wie die Karriere überhaupt. Allenthalben ist bekannt, dass er der Enkel des Helden von Solferino ist. Die Akzeptanz, die Carl Joseph findet, stammt aus ererbtem Ruhm. Trotta kann das Enkeldasein nicht ablegen. »Man lebte im Schatten des Großvaters! Das war es! Man war der Enkel des Helden von Solferino, der einzige Enkel. Man fühlte den dunklen, rätselhaften Blick des Großvaters ständig im Nacken! Man war der Enkel des Helden von Solferino!« (R 79) Die Familiengeschichte wird zur Last. Darauf deutet in den gerade zitierten Passagen auch Roths häufige Verwendung des Begriffs ›man‹ hin. Diese Stelle ist in erlebter Rede geschildert, in der Carl Joseph für sich selbst und die Analyse der Situation nicht das Personalpronomen ›ich‹, sondern eben das anonymisierende ›man‹ verwendet. Er kann sich mit seiner eigenen Biographie auch sprachlich nicht identifizieren, weil es eben nicht seine Biographie ist. Er führt das Leben eines ›man‹. Trotz der Neigung zum Bauern ist Carl Joseph doch Soldat und leistet so dem Kaiser und dem Vaterland den schuldigen Dienst. Carl Josephs Leben ist ihm selbst eine einzige Bringschuld: »Und ohne Unterbrechung rettete man, wenn man ein Trotta war, dem Kaiser das Leben.« (R 86) Für Carl Joseph führt diese Bürde zu einem Gefühl der permanenten Schuld, seinen wenigen Freunden, Mitmenschen und sich selbst gegenüber. Die unselige Abhängigkeit vom Ahnen und das Verhalten des Enkels schildert Roth in einer eindrucksvollen Szene. Als eines Abends das Offizierskorps wie üblich ins Bordell der Garnison zieht, schließt Carl Joseph sich angeekelt und unter dem Gruppendruck an. Nur zwei Außenseiter, ein unberufener Soldat und ein jüdischer Akademiker, sehen die Absurdität der Situation. Nur der jüdische Arzt Max Demant, der Carl Josephs Freund werden wird, ist ähnlich abgestoßen. Die Armee zieht nicht ins Gefecht, sondern ins Bordell und wird natürlich von den Klängen des Radetzkymarsches begrüßt. Auch in dieser kleinen Szene taucht das Leitmotiv des Marsches wieder an einer Stelle auf, an der sich Carl Josephs Auseinandersetzung mit seiner Biographie überschneidet mit einer impliziten Beschreibung des untergehenden Österreichs, dessen Armee nicht mehr Garant der Macht ist, sondern nur noch Zerfallserscheinungen zeigt. Der Enkel und der Arzt sind als einzige noch nicht mit den Prostituierten auf den Zimmern, als Carl Joseph eine Entdeckung macht: In einem bronzenen, von Fliegen betupften Rahmen stand der Allerhöchste Kriegsherr, in Verkleinerung, das bekannte, allgegenwärtige Porträt Seiner Majestät, im blütenweißen Gewande, mit blutroter Schärpe und goldenem Vlies. Es muß etwas geschehen, dachte der Leutnant schnell und kindisch. […] Er griff nach dem Rahmen, öffnete die papierene, schwarze Rückwand und nahm das Bild heraus. Er faltete es zusammen, zweimal, noch einmal und steckte es in die Tasche. (R 93f.)
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Der Enkel rettet wie der Ahne den Kaiser: der eine den Kaiser in Person aus Lebensgefahr, der andere sein bloßes Bild aus dem Bordell, indem er es in die Tasche steckt! Auch der Erzähler wertet die Handlung seiner Figur als »kindisch« (R 93). Der Doktor bestätigt Carl Joseph, auch er habe an den Großvater gedacht. »›Ich bin sein Enkel!‹ sagte Carl Joseph. ›Ich habe keine Gelegenheit, ihm das Leben zu retten, leider!‹« (R 94) Der Enkel weiß durchaus um die Absurdität der Szene. Er deutet sie symbolisch. Es ist sein Versuch, sich von der Last des Erbes zu befreien. Eine solche Ersatzhandlung muss scheitern, weil Carl Joseph sich nicht von dem Grunddilemma seines Lebens befreien kann: »Ich lebe vom Großvater« (R 108). Der Regimentsarzt Max Demant wird der einzige wirkliche Freund unter den Kameraden, den Carl Joseph haben wird.11 Demant aber wird auch zur zweiten geliebten Leiche werden, an deren Tod sich der Enkel die Schuld gibt. Denn Demant hat eine schöne Frau, die ihn nicht liebt. Carl Joseph sucht ihre Nähe, sie spielt mit ihm und seiner Neigung zu ihr. In einer Mischung aus Eifersucht, Verzweiflung und Wut stellt Demant Carl Joseph zur Rede, will dessen Verhältnis zu seiner Frau geklärt wissen. Carl Joseph bestreitet unredliche Absichten und gibt Demant schließlich sein Ehrenwort. Für die beiden Männer ist die Angelegenheit damit nur scheinbar erledigt. Carl Joseph ist erst in dieser Ausnahmesituation etwas klar geworden: »Es ist zerbrochen! Es ist etwas zerbrochen. Es ist, als hätte er ein dürres, splitterndes Zerbrechen vernommen. Gebrochene Treue! fällt ihm ein, er hat die Wendung einmal gelesen. Zerbrochene Freundschaft. Ja, es ist eine zerbrochene Freundschaft.« (R 108) Erst in der Krise, im Bruch und selbst dann nur zitathaft wird Carl Joseph klar, dass er – der eine Außenseiter – in Demant – dem anderen – seinen einzigen Freund in der Armee gefunden hatte. Nur im Nachhinein wird ihm klar, was er mit seinem Verhalten riskiert und verloren hat. Die nur angedeutete Affäre hat weitere Konsequenzen. Als Trotta nach einem Theaterabend Demants Frau Eva – sie ist schon durch den Namen als Verführerin charakterisiert – nach Hause begleitet, wird er von den Offizierskameraden beobachtet. Wieder entsteht das Gerücht einer Affäre, das einer der betrunkenen Offiziere dem Arzt so provozierend erzählt, dass es schließlich zur Duellforderung kommt. Eigentlich ist die Geschichte sehr harmlos, aber sie endet im Zweikampf.12 In der Nacht vor dem Duell treffen sich schließlich Carl Joseph und der Arzt ein letztes _____________ 11 12
Der Name des Arztes, Demant, kann nicht nur als Ausdruck eines antisemitischen Stereotyps begriffen werden, sondern auch symbolisch: In seiner Freundschaft hätte der Arzt für Carl Joseph zum Diamanten werden können, wenn der ihn denn früh genug erkannt hätte. Zur Geschichte des Duells vgl. Ute Frevert: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft. München 1991.
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Mal in einer Kneipe. Im Hintergrund spielt der Radetzkymarsch. Demant ist schicksalsergeben, Carl Joseph schwankt zwischen Melancholie und Verzweiflung. »Dieser Tod ist unsinnig!« sagte der Doktor weiter. »So unsinnig, wie mein Leben gewesen ist!« »Ich will nicht, daß du stirbst!« schrie der Leutnant und stampfte auf die Fliesen des Küchenbodens. »Und ich will auch nicht sterben. Und mein Leben ist auch unsinnig!« »Sei still!« erwiderte Doktor Demant. »Du bist der Enkel des Helden von Solferino. Der wäre fast ebenso unsinnig gestorben. Obwohl es ein Unterschied ist, ob man so gläubig wie er in den Tod geht oder so schwachmütig wie wir beide.« (R 124)
Das Leben des Arztes ist im Privaten verfehlt, Carl Joseph ist in der Familiengeschichte gefangen. Demant erkennt hellsichtig beider Problem: Sie waren zu schwach, sich aus ihren Zwängen zu befreien und fügen sich in ihr Schicksal. Trotta sieht sich wieder im Rechtfertigungszwang: »Ich hab’ keine Schuld an der ganzen Sache!« sagte Trotta. »Nein, du hast keine Schuld!« bestätigte der Regimentsarzt. »Aber immer ist es so, als hätt’ ich Schuld!« sagte Carl Joseph. »Du weißt, ich hab’ dir erzählt, wie das mit der Frau Slama gewesen ist!« Er blieb still. Dann flüsterte er: »Ich hab’ Angst, ich hab’ Angst, überall!« Der Regimentsarzt breitete die Arme aus, hob die Schultern und sagte: »Du bist auch ein Enkel!« (R 129)
Wieder empfindet Trotta Schuld für ein verhängnisvolles Ereignis. Seine Angst ist eine regelrechte Angst vor dem Dasein. Demant sieht genau, wie stark Trottas Schuldgefühle für die einzelne Situation mit seinem ganzen Leben verwoben sind. Obgleich er objektiv schuldlos ist, bleibt doch das Problem, nicht den Erwartungen gemäß gehandelt zu haben. Carl Joseph wird zu einer tragischen Figur und verfehlt ständig das Maß, das seine Lebensgeschichte an ihn zu stellen scheint. Das unsinnige Duell endet tödlich für beide Duellanten. Trotta sieht hierin einen Verdacht bestätigt, den er schon lange gehegt hatte: »Er hätte es niemals ausdrücken können, aber wir können es ja von ihm sagen: es bedrängte ihn unsäglich, daß er ein Werkzeug in der Hand des Unglücks war.« (R 138) Trotta versucht, sein Schicksal metaphysisch zu legitimieren, versucht sich freizusprechen, weil man dem Unglück einfach nicht entkommen könne. Er fühlt sich schuldig, ist aber nicht in der Lage, sein Leben gestaltend in die Hand zu nehmen. Wie immer flieht Trotta vor der eigenen Geschichte. Zwar darf er nicht in die slowenische Heimat der Vorfahren – der Bezirkshauptmann gestattet es nicht. Er schreibt: »Das Schicksal hat aus unserm Geschlecht von Grenzbauern Österreicher gemacht. Wir wollen es bleiben.« (R 152; Hervorhebung J.A.) Der Bezirkshauptmann hat die Familiengeschichte angenommen und fügt sich, so dient er Österreich. Dass der Sohn so nicht kann, weiß er nicht oder will es nicht sehen. Sein ›Wollen‹ ist für den Sohn ein ›Müssen‹. Der lässt sich zur Infanterie versetzen und wird an der
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russischen Grenze bei einem Jägerbataillon stationiert. Der fortschreitende Abstieg realisiert sich symbolisch: Trotta ist beim Fußvolk angekommen. Das Pferd, Offiziers- und Männlichkeitssymbol, will er nicht mehr. Diese Versetzung ist eine Flucht vor der Verantwortung für das eigene Leben und vor den Toten der Vergangenheit. Das Bild des Großvaters, das konkrete und die Imago, verfolgt ihn. Die erste Geliebte zählt zu Trottas Toten, schließlich der Freund Demant. Allen gegenüber fühlt Trotta Schuld, alles bleibt unbewältigt. Die Toten und Carl Joseph bilden eine offene Geschichte. Die Flucht an die Grenze ist auch eine Flucht an den Rand der Monarchie, die Grenze des kaiserlichen Einflusses. Trotta entfernt sich unbewusst von dem Mann, den der Held gerettet hatte. Er dient nun in dem Grenzland, dessen Zugehörigkeit zur Monarchie kaum noch zu spüren ist. Trotta zeigt sich den Sümpfen des Grenzlands nicht gewachsen: Wer immer von Fremden in diese Gegend geriet, mußte allmählich verlorengehen. Keiner war so kräftig wie der Sumpf. Niemand konnte der Grenze standhalten. Um jene Zeit begannen die hohen Herren in Wien und Petersburg bereits, den großen Krieg vorzubereiten. (R 155f.)
Wiederum wird die Generationengeschichte der Trottas mit dem Schicksal der Monarchie verknüpft. So wie Carl Joseph unbewusst seinem Ende entgegen lebt, so bereitet die Monarchie den Krieg vor, den sie nicht überstehen soll. Die Gründe sind unterschiedlich, die Konsequenzen gleichermaßen verhängnisvoll. Denn Trotta geht es wie so vielen anderen: »Und in der weltfernen, sumpfigen Erde der Garnison verfiel der und jener Offizier der Verzweiflung, dem Hasardspiel, den Schulden und den finsteren Menschen. Die Friedhöfe der Grenzgarnisonen bargen viele junge Leiber schwacher Männer.« (R 156) Trotta ist einer dieser schwachen Männer, nur ist er schon verzweifelt, als er ankommt. Das Militär war vor allem im Preußen des 18. und 19. Jahrhunderts, aber auch in Österreich die Schule der Nation gewesen.13 Roth führt hier das Versagen dieser Sozialisationsinstanz vor, auch weil es die eine Nation im Vielvölkerstaat Österreich nie gegeben hat. Carl Joseph beginnt zu trinken, macht hohe Schulden beim Glücksspiel. Er versucht eine Beziehung aufzubauen, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist, weil die deutlich ältere Geliebte verheiratet ist und ihren kranken Mann aus finanziellen Gründen nie verlassen wird. Er begegnet zwielichtigen und undurchsichtigen Menschen. Da ist Kapturak, der einen Spielsaal aufbaut und bei dem Trotta wegen Glücksspiels Schulden macht. Da ist aber auch der Graf Wojciech Chojnicki, ein Lebemann, _____________ 13
Vgl. dazu Ute Frevert: Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland. München 2001.
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Glücksspieler und Alchemist, dessen sympathische Missmutigkeit sich in einem grundlegenden Zukunftspessimismus äußert. Er ist diejenige Figur, die am klarsten sieht, welches Schicksal der Monarchie bevorsteht. Der Graf spielt im Leben Trottas eine Rolle als Freund, aber er erweist sich auch als Prophet des Untergangs. Chojnicki ist ein spöttischer Reichsratsabgeordneter, der immer nach seinen Wienreisen sagt, »der Kaiser sei ein gedankenloser Greis, die Regierung eine Bande von Trotteln« (R 164). Er pflegt Vorträge dieser Art zu halten: »›Dieses Reich muß untergehen. Sobald unser Kaiser die Augen schließt, zerfallen wir in hundert Stücke. […] Ich sag’ euch, meine Herren, wenn jetzt nicht geschossen wird, ist’s aus. Wir werden’s noch erleben!‹« (R 164f.) Die Menschen nehmen Chojnicki jedoch kaum ernst, sie besuchen nur seine Feste und nutzen seine Gastfreundschaft. Der Leutnant Trotta aber, empfindlicher als seine Kameraden, trauriger als sie und in der Seele das ständige Echo der rauschenden, dunklen Fittiche des Todes, dem er schon zweimal begegnet war: der Leutnant spürte zuweilen das finstere Gewicht der Prophezeiungen. (R 165)
Zwei Szenen aus dem Grenzland zeigen diese Verbindung des Leutnants mit dem Grafen, der implizit mit seinem Reden vom sterbenden Vaterland auch immer über die sterbenden Trottas redet. Trotta weiß, dass die ›Fittiche des Todes‹ auch seinen eigenen Tod und den Tod der Familie meinen könnten. Er fühlt sich auch aus diesem Grund dem Grafen verbunden. Roth setzt einer großen Rede Chojnickis vom Untergang der Monarchie einen letzten Glanzpunkt, eine Wiener FronleichnamsProzession, entgegen, die zwar nochmals das große Zeremoniell, aber eben auch schon die Todessymbolik zeigt, die das Leben Trottas mit dem europäischen Geschehen in der Politik verbindet. Anlässlich eines Besuches des Bezirkshauptmannes an der Grenze stellt Carl Joseph dem Grafen seinen Vater vor und im Verlauf der Nacht ergibt sich ein Gespräch, in dem der Graf die Unzeitgemäßheit der Monarchie offen ausspricht. Der Bezirkshauptmann fragt: »Und warum – Pardon! – wäre es genauso überflüssig, dem Vaterland zu dienen wie Gold zu machen?« »Weil das Vaterland nicht mehr da ist.« »Ich versteh’ nicht!« sagte Herr von Trotta. »Ich hab’ mir’s gedacht, daß Sie mich nicht verstehen!« sagte Chojnicki. »Wir alle leben nicht mehr!« […] Mit großer Anstrengung brachte Herr von Trotta noch die Frage zustande: »Ich verstehe nicht! Wie sollte die Monarchie nicht mehr dasein?« »Natürlich!« erwiderte Chojnicki, »wörtlich genommen, besteht sie noch. Wir haben noch eine Armee« – der Graf wies auf den Leutnant – »und Beamte« – der Graf zeigte auf den Bezirkshauptmann. »Aber sie zerfällt schon bei lebendigem Leibe. Sie zerfällt, sie ist schon verfallen! Ein Greis, dem Tode geweiht, von jedem Schnupfen gefährdet, hält den alten Thron, einfach ein Wunder, daß er auf ihm noch sitzen kann. Wie lange noch, wie lange noch? Die Zeit will uns nicht mehr! Die Zeit will sich erst selbständige
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Nationalstaaten schaffen! Man glaubt nicht mehr an Gott. Die neue Religion ist der Nationalismus. Die Völker gehen nicht mehr in die Kirchen. Sie gehen in nationale Vereine. […] Der Kaiser von Österreich-Ungarn darf nicht von Gott verlassen werden. Nun aber hat Gott ihn verlassen!« (R 195f.)
Chojnickis Analyse ist scharf und vernichtend. Für ihn besteht das Vaterland nur noch auf der Landkarte, aber er kann keine innere Nationenbildung erkennen. Nationenbildung aber war das politische Programm Europas im 19. Jahrhundert, dem sich Österreich nicht erfolgreich gestellt hatte, da es immer Vielvölkerstaat geblieben ist. Dieses Reich wurde von der Person des Kaisers von Gottes Gnaden in der Tradition des Absolutismus zusammengehalten. Der Leib des Kaisers war der Leib des Staates,14 stirbt der Kaiser, stirbt auch der Staat. Chojnicki hat erkannt, dass im 19. Jahrhundert vielfach das Sinnstiftungssystem Nation und der Nationalismus an die Stelle des Sinnstiftungssystems Religion getreten sind.15 Österreich hat sich dem Phänomen der politischen Religion16 nicht gestellt, die Monarchie ruht immer noch auf Gottes Gnade. Dieser Gott aber hat in den Säkularisierungsprozessen in und nach der Aufklärung seine Gültigkeit eingebüßt. Verloren sind wir, Sie und Ihr Sohn und ich. Wir sind, sage ich, die Letzten einer Welt, in der Gott noch die Majestäten begnadet und Verrückte wie ich Gold machen. […] Durch Nitroglyzerin und Elektrizität werden wir zugrunde gehen! Es dauert gar nicht mehr lang, gar nicht mehr lang! (R 197)
Die Trottas sind die Letzten ihrer Familie und zugleich die letzten der Welt, der Monarchie, die an der Moderne, an Nitroglyzerin und Elektrizität scheitern wird, wie Carl Joseph an der Emanzipation von der Familientradition scheitert. Carl Joseph scheitert an zuviel Tradition, die Monarchie daran, dass sie ihre Traditionen nicht mehr fortsetzen kann. Ein letztes Mal Glanz im Untergang erlebt Trotta bei einem WienAufenthalt mit seiner neuen Geliebten, Frau von Taußig. Das Paar trifft zu Fronleichnam in der Hauptstadt ein und erlebt eines der großen Zeremonielle der Monarchie, die Macht und Stärke des Kaisertums repräsentieren sollen. Ein »bunte[r] Zug«, »fröhliche[r] und feierliche[r] Pomp der Parade«: (R 233) Trotta sieht eine Feier der Monarchie in der Tradition der großen Feste des Barock, als er mit der Geliebten auf der Tribüne sitzt. Für einen kurzen Moment scheint seine sonst so belastende Welt wieder in Ordnung zu sein. _____________ 14 15 16
Vgl. dazu Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München 1990. Zu Nation und Nationalismus vgl. Hans-Ulrich Wehler: Nationalismus. Geschichte – Formen – Folgen. München 2001 – Rolf-Ulrich Kunze: Nation und Nationalismus. Darmstadt 2005. Vgl. zentral dazu Eric Voegelin: Die politischen Religionen. München 1993.
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In Carl Joseph standen die alten kindischen und heldischen Träume auf, die ihn zu Hause, in den Ferien auf dem väterlichen Balkon, bei den Klängen des Radetzkymarsches erfüllt und beglückt hatten. Die ganze majestätische Macht des alten Reiches zog vor seinen Augen dahin. Der Leutnant dachte an seinen Großvater, den Helden von Solferino […]. (R 233f.)
Trotta erinnert die heilen Tage der Kindheit. Aber wie die Kindheit vergangen ist, so gehört auch der zeremonielle Glanz des alten Reiches der Vergangenheit an. Das Zeremoniell läuft leer, es erzeugt nur noch momenthafte, sentimentalische Gefühle von Größe und Einheit. Die alte Welt der Kindheit, die Tage des Radetzkymarsches, das Bild des Großvaters: Das alles steht für lediglich vergangenen Ruhm und eben kindische Träume. Das können auch die nur scheinbar erhabenen Momente nicht mehr überdecken, als nach den Klängen der Hymne der Kaiser erscheint: »Vom Stephansdom dröhnten die Glocken, die Grüße der römischen Kirche, entboten dem Römischen Kaiser Deutscher Nation.« (R 235) Auch hier zeigt sich das Scheinhafte der ganzen Szenerie. Es ist bezeichnend, dass die Glocken dröhnen – sie klingen nicht melodisch. Und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation existiert seit 1806 gar nicht mehr, weil Napoleon die europäischen Mächteverhältnisse neu geordnet und sich Franz II. zum österreichischen Kaiser gemacht hatte. Hier klingen keine erfundenen, sondern lediglich fiktive, imaginierte Traditionen an.17 Carl Joseph allerdings durchschaut die Scheinhaftigkeit der Szene nicht: Kein Leutnant der kaiser- und königlichen Armee hätte dieser Zeremonie gleichgültig zusehen können. Und Carl Joseph war einer der Empfindlichsten. Er sah den goldenen Glanz, den die Prozession verströmte, und er hörte nicht den düsteren Flügelschlag der Geier. Denn über dem Doppeladler der Habsburger kreisten sie schon, die Geier, seine brüderlichen Feinde. Nein, die Welt ging nicht unter, wie Chojnicki gesagt hatte, man sah mit eigenen Augen, wie sie lebte! (R 236)
Es ist der Erzählerkommentar, der die Verbindung zu den Prophezeiungen des Grafen explizit herstellt und die Szenen so aufeinander verweist, wie es Trotta eben nicht sieht oder sehen will. Der Erzähler verweist den Leser mit dem Bild von Doppeladler und Geier als brüderlichen Feinden sehr deutlich auf die Untergangs- und Todesmotivik, die die Reden des Grafen bestimmt haben. Das Herrschafts- und das Todessymbol schweben bildlich über dem Geschehen. Die Fronleichnamsprozession ist nur vordergründig ein Gegenstück zum fortschreitenden Verfall der Monarchie, den sie letztlich dann doch bestätigt, indem sie sich als kunstvolle Selbsttäuschung, als Sedativ erweist. Trotta interpretiert den Tag der Prozession mit der Geliebten euphorisch: »Und es war auch in der Tat, als _____________ 17
In Anlehnung und Abgrenzung zu der berühmten Formel Eric Hobsbawms von den erfundenen Traditionen.
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begänne sein Leben. […] Ja, so begann das, was er ›das Leben‹ nannte und was zu jener Zeit vielleicht auch das Leben war […]«. (R 237f.) Aber wie die Prozession einen falschen Schein inszeniert und eine Nation repräsentiert, die es so nie gegeben hat, beginnt auch Trottas vermeintlich neues Leben als nochmals gesteigerte Täuschung zu seinem Tode hin. Von nun an verstrickt er sich in immer höherem Tempo in Glücksspiel und Schulden und verfällt zunehmend dem Alkohol. Der Leser bekommt den Eindruck, Trotta bemühe sich von nun an, das Tempo der untergehenden Monarchie einzuholen. Die Untergangsprophezeiungen erfüllen sich auf einem Fest. Während die europäische Politik vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges steht, feiert Trottas Regiment im Grenzland. Vor dem Fest aber hat Trotta noch zwei Tiefpunkte auf seiner Lebensgeschichte zu durchleiden. Er ist der militärische Befehlshaber bei einem Arbeiteraufstand, der blutig niedergeschlagen wird. Und seine enormen Spielschulden müssen letztlich durch die Hilfe des Vaters und des Kaisers beglichen werden. Der Arbeiteraufstand zeigt Carl Joseph ein letztes Mal als unschuldig Schuldigen am Tod von Menschen. In der Grenzprovinz hat die Armee die Situation nicht unter Kontrolle, als Arbeiter gegen die Schließung einer Fabrik demonstrieren. Trottas Zug, der die öffentliche Ordnung aufrechterhalten soll, wird von den Streikenden beworfen. Auf Einrede eines Bezirkskomissärs lässt Trotta zur Warnung in die Luft schießen, schließlich lässt der ratlose und unentschlossene Trotta, wieder auf Zureden des Kommissärs, das Feuer gezielt eröffnen: »Jemand hob seine Hand, wie er glaubte, eine fremde Stimme kommandierte aus ihm noch einmal: ›Feuer!‹« (R 256) Direkt nach diesem Befehl, den Trotta kaum als eigene Handlung wahrnimmt, wird der Leutnant von einem Wurfgeschoss getroffen ohnmächtig. Nach einem kurzen und planlosen Gefecht »lagen im Staub der Landstraße verwundete Soldaten und Arbeiter« (R 256). Trotta ist selbst verwundet: »Ein offensichtlich sinnloser Zufall hatte dem Enkel des Helden von Solferino eine Verletzung am Schlüsselbein beschert.« (R 256) Carl Joseph ist wie der Großvater im Gefecht verletzt worden, aber darin erschöpft sich die Parallele auch schon. Trotta hat nur auf Zureden und unselbstständig gehandelt, für die Situation kann er als Ohnmächtiger nur in einem weiten Sinn als Befehlshaber verantwortlich sein. In Trotta aber ist eine Erkenntnis gereift: »Die Armee war nicht mehr sein Beruf.« (R 257) Im Wundfieber stellt Trotta die Verbindung zu den Toten seiner Vergangenheit her: »Zwischen ihm und den Toten stand ein leerer Roulettetisch, auf dem die Kugel, von keiner Hand bewegt, dennoch ohne Ende rotierte.« (R 259) Das Motiv des Traums stellt die Verbindung der Toten mit dem Leben als Spiel, aber auch mit Trottas konkreten Schulden her. Denn der hat
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sich an der Grenze dem Glücksspiel verschrieben, um jenes Glück zu erzwingen, das ihm sein Leben zu verweigern scheint. Allein auch hier sammelt er lediglich Schulden an, die er eines Tages nicht mehr begleichen kann. Unter Schmerzen offenbart er sich dem Bezirkshauptmann, der sich aufmacht, das fehlende Geld aufzutreiben. Der Bezirkshauptmann »hatte die Ehre des Helden von Solferino zu retten, wie es die Aufgabe des Helden von Solferino gewesen war, das Leben des Kaisers zu retten« (R 331). Als alle Bittgänge umsonst bleiben, wendet sich der so verzweifelte wie entschlossene Bezirkshauptmann an den Kaiser persönlich. Die beiden alten Männer sind »wie zwei Brüder« (R 342). Beide haben ihr Leben für Österreich geführt, beide ahnen, dass ihr Leben sich dem Ende entgegen neigt. Der Kaiser, dem die Zusammenhänge mit Solferino nur allmählich dämmern, zeigt sich immer noch dankbar: »›Es ist gut! Es wird alles erledigt! Was hat er [Carl Joseph] denn angestellt? Schulden? Es wird erledigt! Grüßen Sie Ihren Papa!‹ ›Mein Vater ist tot, Majestät!‹ sagte der Bezirkshauptmann.« (R 343) Der Kaiser begleicht hier real und symbolisch die Schulden, die er bei den Trottas noch hatte, obwohl sein eigentlicher Retter längst tot ist. Er wird seinerseits zum Retter des Enkels. Die Verhältnisse haben sich umgekehrt, Trotta wird nun von seinem alten Kaiser gerettet. Damit hat Carl Joseph endgültig das großväterliche Erbe verfehlt. Der längst drohende Erste Weltkrieg schließlich bricht während eines großen Garnisonsfestes aus: »›Thronfolger gerüchtweise in Sarajevo ermordet‹, sagten die Buchstaben.« (R 356) Ein Bote bringt sie den versammelten feiernden Offizieren. Trotta trifft ausgerechnet jetzt erstmals eine eigenständige Entscheidung: Er verlässt die Armee. Chojnicki, wieder als Prophet, kommentiert die Entscheidung mit den Worten: »›Die Karriere ist zu Ende!‹ […] ›Die Karriere selbst ist am Ende angelangt!‹« (R 374) Ganz am Ende angelangt ist Trotta aber noch nicht, auch wenn er endlich und für kurze Zeit Bauer wird. Sein Abschied ist nur einer auf Zeit. Doch »er war endlich zufrieden, einsam und still. Es war, als hätte er niemals ein anderes Leben geführt« (R 377). Lange währt Trottas Glück nicht. Er hat sich zu spät zu diesem Leben durchgerungen. »›Es ist endlich soweit!‹ sagte Chojnicki. ›Der Krieg ist da. Wir haben ihn lang erwartet. Dennoch wird er uns überraschen. Es ist, scheint es, einem Trotta nicht beschieden, lange in Freiheit zu leben […]‹« (R 379). Der »Krieg des Enkels« (R 382), den die Monarchie als Staat nicht überleben wird, findet mit Carl Joseph als reaktiviertem Offizier statt. Während seine Einheit in den Gefechten Durst leidet, versucht Trotta, für die Soldaten Wasser aus einem Brunnen zu holen. Es ist ein nur schwach als Heldentum kaschierter Freitod. Trotta riskiert bewusst sein Leben. Ein letztes Mal hört er innerlich den Radetzkymarsch, erinnert seine Kindheit. »Jetzt schlug eine Kugel an seinen Schädel. […] Das war das Ende des
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Leutnants Carl Joseph, Freiherrn von Trotta. […] Der Leutnant starb nicht mit der Waffe, sondern mit zwei Wassereimern in der Hand.« (R 390f.) Das Ende Trottas ist symptomatisch. Er hat sich den ganzen Roman hindurch als trauriger, melancholischer, leidender Held erwiesen, der nie zum Heldentum des Großvaters getaugt hat. So ist es nur konsequent, dass er nicht wie der Soldat mit der Waffe, sondern wie der Landmann mit Wassereimern in der Hand stirbt. Der Epilog schließlich erzählt von den verbleibenden Jahren des Bezirkshauptmannes, der als letzter Trotta, aber aus der mittleren Generation, stirbt. Dass er nach dem Tode Carl Josephs und mit der Monarchie im Krieg nicht mehr lang zu leben haben wird, ahnt der Bezirkshauptmann: »Sein Sohn war tot. Sein Amt war beendet. Seine Welt war untergegangen.« (R 394) Vor seinem Tod allerdings wird er noch einmal der prophetischen Figur des Romans, dem Grafen Chojnicki, begegnen. Der ist wahnsinnig geworden und lebt in einer Wiener Anstalt. Allerdings bleibt er seiner Neigung zu Weissagungen treu, wenn er dem Besucher sagt: »Ich habe Sie kommen lassen, um Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen. Verraten Sie es niemandem! Außer Ihnen und mir weiß es heute kein Mensch: Der Alte stirbt!« (R 398) Als der Bezirkshauptmann wenig später das Gerücht vom Tod des Kaisers hört, ist er nicht überrascht: »Er wußte ja, daß der Alte starb. Chojnicki hatte es gesagt, und Chojnicki hatte immer schon alles gewußt.« (R 399) Der Bezirkshauptmann fährt nurmehr zum Sterben nach Hause. Im Bett und mit dem Bild des Helden von Solferino, das der Sterbende nicht mehr erkennen kann, stirbt er friedlich. »Es war der Tag, an dem man den Kaiser in die Kapuzinergruft versenkte.« (R 403) Das Schlusswort zu diesem Leben und zugleich zum Roman spricht ein Freund des Bezirkshauptmannes. Er ahnt die Bedeutung zweier zeitgleicher Tode, deren einen Chojnicki ein letztes Mal vorhergesehen hatte, weil er immer Recht hatte, und deren zweiter in der Logik des Romans folgen musste: »Ich glaube, sie konnten beide Österreich nicht überleben.« (R 404)
3. Radetzkymarsch als historischer Roman? Auch wenn der Roman mit der historischen Schlacht von Solferino beginnt und mit dem Tod von Kaiser und Bezirkshauptmann 1916 endet, handelt es sich nicht um einen historischen Roman im engeren Sinn. Der nämlich ist ein »Romantypus, in dem geschichtliche Personen, Ereignisse, Lebensverhältnisse narrativ in fiktionalen Konstruktionen dargestellt wer-
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den«.18 Roth aber geht es weniger um Formen der Geschichtsdarstellung und -überlieferung. Er legt eher eine spezifische, melancholische Geschichtsinterpretation am Beispiel der Trottas und der Monarchie, also der zwei Erzählstränge des Romans, vor, aus der eine eigene Erzählweise resultiert. Der Radetzkymarsch ist ein eher untypischer historischer Roman, der mehr den besonderen Interessen seines Autors am Mythos Habsburg als einer Gattungsvorlage folgt. Die ersten Pläne für diesen Roman gehen auf das späte Jahr 1930 zurück, hier noch als Der Radetzkymarsch, charakterisiert als Roman über »Altösterreich«.19 Über den zähen Fortgang der Arbeit berichtet Roth immer wieder vor allem Zweig, bis der Text ab dem 17. April 1932 endlich in der Frankfurter Zeitung erscheint.20 Einmalig in seiner Schriftstellerkarriere machte Roth für diesen Text Vorbereitungsstudien, die vor allem Militärfragen betrafen – nicht zuletzt ein Beleg für die Bedeutung, die die Armee in seinem Roman beansprucht.21 Radetzkymarsch ist der am langsamsten vollendete Text des ausgesprochenen Viel- und Schnellschreibers Roth, der bis zuletzt Skrupel und Zweifel an der Qualität hatte. An Félix Bertaux schreibt er, der Stoff sei zu groß, er könne ihn nicht bändigen und sei verzweifelt.22 Roth selber hat mit seinem Vorwort der späteren Forschung den Anstoß zur Diskussion um den historischen Roman gegeben: Ich habe die merkwürdige Familie der Trottas, von denen ich in meinem Buch »Radetzkymarsch« berichten will, gekannt und geliebt, die Spartaner unter den Österreichern. An ihrem Aufstieg, an ihrem Untergang glaube ich den Willen jener unheimlichen Macht erkennen zu dürfen, die am Schicksal eines Geschlechts das einer historischen Gewalt deutet.23
An anderer Stelle hat er aber genau an dieser Interpretation seines Textes große Zweifel gehabt. Er sei mit dem Text unzufrieden, er habe gefehlt, weil er die Geschichte selbst zu »schändlicher Hilfe«24 gerufen habe, was verlogen gewesen sei. Man darf aber fragen, ob denn Roths Selbstinterpre_____________ 18 19 20 21 22 23 24
Hartmut Eggert: [Art.] Historischer Roman, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Harald Fricke. Bd. II. Berlin, New York 2000, S. 53-55, hier S. 53. Vgl. Joseph Roth: Briefe 1911–1939. Hg. u. eingeleitet v. Hermann Kesten. Köln, Berlin 1970, S. 188. Vgl. Bronsen: Joseph Roth, S. 221. Vgl. dazu Bronsen: Joseph Roth, S. 220, dort findet sich auch der Hinweis, dass das Manuskript auf Wunsch Kiepenheuers von Alexander Lernet-Holenia, Offizier und Schriftsteller, auf Korrektheit durchgesehen worden ist. Vgl. Roth: Briefe 1911–1939, S. 215 (Brief vom 20. März 1932) – Bronsen: Joseph Roth, S. 222. Joseph Roth: Vorwort zu meinem Roman: Radetzkymarsch, in: Ders: Werke. Hg. v. Fritz Hackert. Bd. V: Romane und Erzählungen 1930–1936. Köln 1990, S. 874f., hier S. 875. Roth: Briefe, S. 228 (Brief vom 18. September 1932).
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tation und Selbstanklage dem Roman gerecht werden. Denn selbst wenn er die Geschichte zu Hilfe gerufen, also den Familienroman an den Habsburg-Roman gebunden hat, wenn also neben dem Familienschicksal der Trottas immer wieder auch die Entwicklung Österreichs erzählt wird, so kann man doch nicht sagen, der Roman enthalte Geschichte als realistischen Vorgang. So wie die eigentliche Handlung von erfundenen Figuren durchlaufen wird, erhält der Leser ein stark topisch gefärbtes Bild der Habsburger Monarchie.25 Die Forschung hat die Frage nach dem historischen Roman, an der viele Interpretationen hängen und die nicht zuletzt auch mit der Diskussion um die Modernität des Textes verbunden ist, immer wieder gestellt und kontrovers diskutiert.26 Georg Lukács, der schon in den 1930er Jahren berühmte marxistische Literaturkritiker und Romantheoretiker, hatte von einer Darstellung des Zusammenbruchs der Monarchie durch die Schilderung von Einzelschicksalen gesprochen.27 Damit hatte er Familienund Monarchiegeschichte in eins gesetzt und von einer sentimentalen Trauer Roths angesichts der Katastrophe gesprochen.28 Allerdings sind dabei mindestens zwei Einschränkungen zu beachten: Erstens geht Lukács von einer marxistischen Weltanschauung aus, die immer auch eine Geschichts- und Gesellschaftsphilosophie impliziert; zweitens spricht er in seinem Artikel stets vom Autor Roth, nicht aber vom Erzähler! Spätere Interpreten haben sich der These vom historischen Roman angeschlossen, der sich zudem als vergleichsweise konventioneller Epochenroman erweise.29 Reidel-Schrewe fasst zusammen, es herrsche in der Forschung die Tendenz, den Radetzkymarsch als historischen Roman in der Nähe des poetischen Realismus zu betrachten. Dagegen sprechen nach ihrer Ansicht vor allem jene Momente im Text, in denen die Beziehungslosigkeit und Resignation der Figuren geschildert werden sowie die Motive der Dekadenz.30 Auffallend ist zudem, dass der Erzähler nur sehr wenige _____________ 25 26 27 28 29 30
Vgl. dazu Fritz Hackert: Joseph Roth: Radetzkymarsch, in: Deutsche Romane des 20. Jahrhunderts. Neue Interpretationen. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Königstein i.Ts. 1983, S. 183-199, hier S. 191. So auch der Befund bei Schlosser: Identitätsproblematik, S. 184, mit Bezug auf die Diskussion in der älteren Sekundärliteratur. Vgl. Georg Lukács: Radetzkymarsch, in: Fritz Hackert: Kulturpessimismus und Erzählform. Studien zu Joseph Roths Leben und Werk. Bern 1967, S. 147-151, hier S. 147. Vgl. Lukács: Radetzkymarsch, S. 149. Vgl. Müller: Joseph Roth, S. 298. Vgl. Ursula Reidel-Schrewe: Im Niemandsland zwischen Indikativ und Konjunktiv. Joseph Roths Radetzkymarsch, in: Modern Austrian Literature 24/1 (1991), S. 59. Zu den konkreten historischen Bezügen vgl. Helmut Kuzmics: Von der Habsburgermonarchie zu ›Österreich‹. Reichspatriotismus, ›habsburgischer Mythos‹ und Nationalismus in den Romanen von Joseph Roth, in: Archiv für Kulturgeschichte 79/1 (1997), S. 105-122.
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historische Daten gibt, die dem Leser eine zeitliche Orientierung ermöglichen würden. Im Schluss des Romans fallen die erzählte Zeit und die Jetzt-Zeit zusammen. Kessler schließt daraus, dass eine historische Chronologie unwichtig und dem Erzählen Roths zuwider sei.31 Müllers Argument, allein die Allgegenwärtigkeit des Kaisers spreche für einen historischen Roman,32 überzeugt schon deshalb weniger, weil es Roth an keiner Stelle um ein möglichst präzises oder historisch wertendes Porträt des Kaisers geht. Der taucht stets als Verkörperung der Monarchie im Text auf. Hartmut Scheible, dessen Monographie zu Roth eine nach wie vor wichtige und intensive Auseinandersetzung mit dem Text enthält, urteilt daher auch, der Radetzkymarsch sei kein historischer Roman im Sinne der Gattungskonventionen. Romanwirklichkeit und soziale Wirklichkeit können und sollen nicht synchron gelesen werden.33 Zwar korrespondiert dem Alterungsprozess der Protagonisten auch der zunehmende Zerfall der Monarchie.34 Trotzdem bleibt der Roman allenfalls am Rande der Gattung des historischen Romans.35 Vor allem die wichtige Solferino-Rettung, die dominierende Heldentat, ist eben Fiktion. Und auch die Neigung des Erzählers zu Ironie, Melancholie und Kommentaren spricht gegen die traditionelle Gattung.36 Viel eher nutzt Roth die ihm bekannten Erzählweisen und Konventionen des Realismus, um sie subtil zu unterlaufen.37 Roth berichtet die zwei parallelen Erzählstränge von Familie und Monarchie, die sich aber nicht identisch entwickeln und sich auch nicht bedingen. Der Verfall der Donaumonarchie ist unaufhaltsam. Sie hat sich schlicht überlebt, ist den Anforderungen der historischen Moderne – Elektrizität und Nitroglyzerin – nicht gewachsen. Chojnickis Monologe belegen diese These. Der Verfall der Familie hingegen folgt nicht einer solchen Zwangsläufigkeit. Erstens ist er auf die Generation des scheiternden Carl Joseph beschränkt – es ist bezeichnend, dass sein Vater ihn überlebt. Vor allem aber hätte der jüngste Trotta mehrfach die Wahl _____________ 31 32 33 34 35
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Vgl. Dieter Kessler: Überdauern im ewigen Untergang. Die gottgegebene, in Gott aufgehobene Auflösung der Habsburgermonarchie in Joseph Roths Utopie Radetzkymarsch, in: Zeitschrift für Germanistik N.F. 5/3 (1995), S. 636-646, hier S. 638. Vgl. Müller: Joseph Roth, S. 300. Vgl. Scheible: Joseph Roth, S. 146f., 149. Vgl. Müller: Joseph Roth, S. 314f. So auch Ian Foster: Joseph Roth’s Radetzkymarsch as a Historical Novel, in: Travellers in time and space. The German historical novel. Hg. v. Osman Durrani u. Julian Preece. Amsterdam 2001, S. 357-370, hier S. 369 (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 51). Vgl. Margarete Johanna Landwehr: Modernist Aesthetics in Joseph Roth’s Radetzkymarsch: The Crisis of Meaning and the Role of the Reader, in: The German Quarterly 76/4 (2003), S. 398-410, hier S. 399. Vgl. Landwehr: Modernist Aesthetics, S. 398.
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für ein anderes Leben gehabt. Er hätte nicht in der Armee bleiben müssen, er hätte eher gehen können, er hätte keine Schulden machen müssen. Der Untergang Österreichs ist viel zwingender als der der Familie. Auch darin zeigt sich, dass im Roman nicht von einer zerfallenden Familie erzählt wird, die lediglich als pars pro toto der Monarchie dient. Die These vom historischen Roman im engeren Sinn wird der komplexen Textstruktur nur teilweise gerecht. Roth erzählt weitgehend das, was in der Donaumonarchie möglich gewesen wäre, was hätte geschehen können.
4. Zu Art und Funktion des Erzählers Die Anlage des Erzählers ist wichtig für das Verständnis des Romans. Schon in den weiter oben zitierten Stellen ist angeklungen, dass Roths Erzähler unterschiedliche Rollen einnehmen kann, die auch ein historisches Erzählen, wie es eben schon als zu einfach abgelehnt wurde, unterlaufen. Der Beginn des Epilogs zeigt den Erzähler als Chronisten: »Es bleibt uns nur noch übrig, von den letzten Tagen des Bezirkshauptmanns Trotta zu berichten.« (R 395) Das passt zu den Momenten, in denen er wichtiges Geschehen nicht auf den Begriff bringt, sondern die Szene lediglich möglichst genau beschreibt und die Deutung dem Leser überlässt.38 Die chronistische Haltung fügt sich ebenfalls gut zu den erzählerischen Strukturelementen von Prophezeiung und Rückschau. Weniger gut hingegen gelingt die Vermittlung dieser Position mit dem häufigen Stilmittel der erlebten Rede. Erzähltheoretisch banal, hier aber doch so wichtig, dass sie wenigstens nochmals genannt sei, ist die analytische Trennung der Textinstanzen Autor, Erzähler und Figuren.39 Roth arbeitet im Radetzkymarsch mit einem Erzählen, dem die Direktheit und Eindeutigkeit fehlt.40 Der Erzähler bleibt als Textinstanz den ganzen Roman über anonym. Er schwankt zwischen einem Chronistenduktus von Nüchternheit und klarer Analyse bis hin zum offensichtlich vom Geschehen berührten Kommentator. So suggeriert der Erzähler sowohl seine große Nähe zum Geschehen wie auch die Personalität des Erzählens.41 Trotzdem ist der Erzähler nicht allwissend. Es bleibt nur seine »Gebärde der Allwissenheit«,42 die ihn von den Figuren trennt. Die sind ihm manchmal sogar fremd. So wundert er sich, _____________ 38 39 40 41 42
Vgl. Scheible: Joseph Roth, S. 123. Vgl. Scheible: Joseph Roth, S. 67. Vgl. Scheible: Joseph Roth, S. 92. Vgl. Bronsen: Joseph Roth, S. 231. Scheible: Joseph Roth, S. 68.
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er staunt, er ist ratlos. All dies passt nicht zu einem allwissenden Erzähler. Roths Erzähler deutet und kommentiert – und das gelegentlich genauso überrascht wie die Figuren – die Welt des Romans, der das Personal dort nur ausgesetzt ist, die es aber nicht zu gestalten weiß.43 Er tritt nicht als handelnde Figur auf,44 sondern er lässt die Figuren durch seine Erzählung erst gegenwärtig werden. Der Erzähler leistet ihnen einen mäeutischen Dienst.45 Seine Sonderposition den Figuren gegenüber zeigen seine gelegentlichen Kommentare, wobei sie nicht vereindeutigen, von welcher Warte aus er spricht. Klar ist lediglich, dass es nicht aus der Position des Autors und nicht aus der Lage der Figuren geschieht.46 Böning konstatiert, die Erzählperspektiven wechselten zwischen personal, auktorial, omnipotent und eingeschränkt.47 Damit hat er fast alle möglichen Kategorien der älteren Erzähltheorie benannt. Letztlich muss man mit Scheible festhalten, dass sich der Erzähler des Radetzkymarsches nicht mit knappen Formeln beschreiben lässt.48 Die offene Anlage des Erzählers soll hier nur an drei Beispielen aus dem Roman verdeutlicht werden. Erstens wechselt der Erzähler gelegentlich das Tempus. Zweitens kommt er zu ironischen Einschätzungen. Drittens schließlich charakterisieren ihn seine Kommentare. Im vierten und sechsten Kapitel des Romans kommt es an zwei wichtigen Stellen zu Tempuswechseln aus dem Präteritum ins Präsens. Als sich Carl Joseph zu einem Kondolenzbesuch beim Wachtmeister Slama, dem ehemaligen Mann von seiner ersten Geliebten, genötigt sieht, schildert der Erzähler dies so: »Der Wachtmeister machte die Küchentür auf, die Spur ertrank im einströmenden Licht. ›Bitte abzulegen!‹ sagte Slama. Er steht selbst noch im Mantel und gegürtet. Herzliches Beileid! denkt der Leutnant.« (R 62) So geht es die ganze Szene über weiter, bis Carl Joseph den Bann brechen kann, kondoliert und der Witwer mit dem ehemaligen Geliebten seiner Frau einen Schnaps trinkt, »als könnte das Himbeerwasser eine ganz veränderte Lage schaffen« (R 65). Eine weitere, für Carl Joseph ebenso unangenehme Situation, die wiederum mit den von ihm geliebten Menschen zusammenhängt, zeigt ein _____________ 43 44 45
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Vgl. Böning: Radetzkymarsch, S. 24. Vgl. Böning: Radetzkymarsch, S. 23. Vgl. Scheible: Joseph Roth, S. 70. Zu diesem Prinzip des Erzählens als Welterschließung vgl. Susanne Kaul: Narratio. Hermeneutik nach Heidegger und Ricœur. München 2003 – Susanne Kaul: Literarische Maieutik, in: Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie. Hg. v. Wolfgang Braungart, Klaus Ridder, Friedmar Apel. Bielefeld 2004, S. 267-277. Vgl. Scheible: Joseph Roth, S. 78. Vgl. Böning: Radetzkymarsch, S. 15. Vgl. Scheible: Joseph Roth, S. 111.
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ähnliches Erzählverfahren. Als Trotta mit Dr. Demant über dessen Frau Eva und deren Verhältnis zum Leutnant spricht, heißt es: Aus einer vereisten, glasigen Ferne erklangen die Worte Doktor Demants, tote Worte, Leichen von Worten: »Antworten Sie, Herr Leutnant!« Nichts. Stille. Die Sterne funkeln, und der Mond schimmert. »Antworten Sie, Herr Leutnant!« Damit ist Carl Joseph gemeint, er muß antworten. Er nimmt die kümmerlichen Reste seiner Kräfte zusammen. (R 107)
Der Rest der Szene, die schon zitiert wurde, steht bis zu Trottas Ehrenwort im Präsens. Gemeinsam haben beide Ereignisse im Leben Trottas, dass der Erzähler durch den Tempuswechsel den zentralen Komplex von Tod und gefühlter Schuld um Carl Joseph an markanten Punkten noch eindringlicher zu gestalten vermag.49 Das Präsens erhöht die Gegenwärtigkeit des Geschehens, die Aufmerksamkeit des Lesers wird so gesteuert. Weil diese Momente deutlich aus dem sonstigen Erzählen hervorstechen, sind sie markiert. Foster nennt diese Tempuswechsel mit einem prägnanten Ausdruck »moments of truth«.50 Noch mindestens zweimal kommen solche Wechsel vor (vgl. R 209, 384), ein letztes Mal, als Trotta sich für seinen Wiedereintritt in die Armee die Uniform anlegt und das so hart erkämpfte Zivil wieder ausziehen muss. An entscheidenden Momenten der Romanhandlung erfolgt der Wechsel ins Präsens. Ironisch seinen Figuren, aber auch der eigenen erzählten Handlung gegenüber, zeigt sich der Erzähler, als der hochverschuldete Trotta von seinem Offiziersburschen Geld angeboten bekommt. Er war nicht erfahren genug, der Leutnant Trotta, um zu wissen, daß es auch in der Wirklichkeit ungeschlachte Bauernburschen mit edlen Herzen gab und daß viel Wahres aus der lebendigen Welt in schlechten Büchern abgeschrieben wurde; nur eben schlecht abgeschrieben. (R 323)
Hier erreicht der Kommentar am ehesten Kongruenz mit der Sicht des Autors Roth. Es werden nicht nur die Naivität Trottas und seine Menschenunkenntnis ironisiert. Hier wird auch das Romangeschehen ironischselbstreflexiv in den Blick genommen. Und auch die Gattung des Militäroder Offiziersromans wird auf den eigenen Text gewendet, indem der Roman von diesen Texten abgegrenzt wird. Drittens schließlich zeigen Kommentare wie der folgende den Erzähler in einer anderen Rolle: Damals, vor dem großen Kriege, da sich diese Begebenheiten zutrugen, von denen auf diesen Blättern berichtet wird, war es noch nicht gleichgültig, ob ein Mensch lebte oder starb. […] und man lebte dazumal von den Erinnerungen, wie man heutzutage lebt von der Fähigkeit, schnell und nachdrücklich zu vergessen. (R 136)
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Vgl. Reidel-Schrewe: Im Niemandsland, S. 71f. Foster: Radetzkymarsch, S. 365.
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Die Szene ist stark gekürzt, sie schließt an den Duelltod Demants und seines Gegners an. Der Erzähler setzt explizit und wertend sein erzähltes Damals gegen ein dem Leser nicht näher vermitteltes Heute. Er reflektiert seine eigene Rolle, vor allem aber trifft er verbindliche Aussagen, die mit dem eigentlichen Geschehen, aus dem er anlässlich des Duells herausspringt, nichts zu tun haben. Roths Erzähler erweitert seine Funktion zum Kommentator, der nicht zuletzt moralisch argumentiert. Bei aller Offenheit und Uneindeutigkeit des Erzählers bleibt er seinem eigenen Gestus nach den Figuren überlegen, von denen er sich dadurch auch abgrenzt.51 Trotzdem ist er nicht allwissend. Gerade das aber macht den Reiz dieses Romans und seines spezifischen Erzählens aus, bei dem Leser- und Sympathielenkung durch einen ebenso diskreten wie facettenreichen Erzähler erzielt werden. Mit der neueren Erzähltheorie52 kann man den Erzähler des Romans zusammenfassend so bestimmen: Sowohl der Erzähler wie das Erzählte sind fiktiv. Beides sind Erfindungen des Autors Roth. Angesichts der wechselnden Textbefunde erscheint es schwierig, für die sprechende Textinstanz den Begriff des Erzählers zu verwenden, der eine personale Vorstellung impliziert. Eher ist es eine narrative Instanz, die sich als Stimme und weniger als Person gibt.53 Mit dem Erzähler als Textinstanz der Stimme lassen sich genauere Beschreibungen treffen, die sich von der Vorstellung einer erzählenden Person lösen. Die erzählende Instanz gehört nicht zu den Figuren. Die Erzähltheorie nennt eine solche Position heterodiegetisches Erzählen.54 Diese Erzählinstanz ermöglicht jenen Wechsel von Redehaltungen und die unterschiedlich starke Beteiligung an den Erzählsituationen, die oben beschrieben wurden. Die Stimme wird durch solche Wechsel nicht unglaubwürdig. Der herkömmliche Erzählerbegriff ist für den Radetzkymarsch nur bedingt als analytischer Begriff geeignet.
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53 54
Vgl. Scheible: Joseph Roth, S. 69. Vgl. vor allem Matias Martinez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 6. Aufl. München 2005 [1999] – Michael Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. Tübingen 1997 – Matias Martinez: Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens. Göttingen 1996 – Rosmarie Zeller: [Art.] Erzähler, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Harald Fricke. Bd. I. Berlin, New York 2000, S. 502-505. Vgl. Martinez, Scheffel: Einführung, S. 68ff. Vgl. Martinez, Scheffel: Einführung, S. 81.
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5. Ein moderner Roman Wäre Roths Radetzkymarsch nur ein historischer Roman, der mit fünfzigjähriger Verspätung die Tradition des erzählerischen Realismus von Wilhelm Raabe und Theodor Fontane fortsetzen wollte, könnte man ihn schwerlich als modernen Roman in einem emphatischen Sinn bezeichnen. Wenn in den Protagonisten lediglich das Epochenproblem personalisiert und allegorisiert würde,55 dann wäre der Text mit anderen Romanen der Moderne kaum oder gar nicht verbunden. Roths Erzählen ist aber differenzierter als es zunächst erscheint. Die Interpretation hat gezeigt, wie dicht der Text ist, wie die zwei Erzählstränge sich ergänzen und kommentieren, sich aber nicht decken. Vor allem aber die eben beschriebene, durchaus wandlungsfähige und kritische Erzählinstanz rechtfertigt es, Radetzkymarsch als modernen Roman zu bezeichnen. Der Text gehört in die Reihe jener großen Romane, die sich der vielkonstatierten, manchmal aber auch nur postulierten Krise des Bewusstseins gewidmet haben. Gemeint ist ein sozialer Auflösungsprozess, der aus den historischen Modernisierungs- und Beschleunigungsprozessen seit ca. 1850 resultiert, dem das moderne Subjekt ausgesetzt ist und den es nicht oder nur schwer bewältigen kann. Wenn ein Roman damit Modernität erweist, dass er historische Befunde ästhetisch adäquat zu gestalten sucht, so ist der Radetzkymarsch ebenfalls modern. Roth stellt sich den Herausforderungen seiner Zeit mit einer eigenen Erzähltechnik. Darin liegt seine ganz besondere Modernität jenseits von Themen und Motiven. Er erzählt vom Ende des Mythos Habsburg im Vorfeld der UrKatastrophe des ›langen 19. Jahrhunderts‹,56 dem Ersten Weltkrieg. Roth wählt keines der klassischen Themen der modernen Romanliteratur: Rationalisierung, Großstadt als Lebensraum, Beschleunigung und Verlust der Erfahrung bzw. Schock durch die Erfahrung – die Liste der Schlagworte ließe sich fortsetzen.57 Roth beschreibt seine historische Moderne als Verlust des Mythos Habsburg. Auch daher erklärt sich die Eigenart des Erzählens im Radetzkymarsch, das zumindest streckenweise als rhapsodisches zu beschreiben ist. Der Rhapsode ist der Träger der Überlieferung. Roth zeigt auch, wie die Überlieferung, die ungebrochene Tradition in der Moderne an ein Ende kommt. _____________ 55 56 57
Vgl. Müller: Joseph Roth, S. 305. Vgl. dazu einführend Fritz J. Bauer: Das ›lange‹ 19. Jahrhundert. Profil einer Epoche. Stuttgart 2004. Vgl. als kultur- und literaturwissenschaftliche Einführung in die Moderne jetzt Dorothee Kimmich, Tobias Wilke: Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende. Darmstadt 2006; stärker literaturgeschichtlich orientiert ist Helmut Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München 2004.
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Roths Figuren erleben einen fortschreitenden Prozess der Entfremdung einer sozialen Lebenswelt gegenüber, die sich schneller verändert, als die Figuren ihr folgen können oder wollen.58 Darin liegt ein Unterschied zu Texten wie Rilkes Malte oder Brochs Schlafwandler-Trilogie. Zeigen diese das Individuum in einer von Anfang an fremden oder feindlichen Umwelt, die als Moderne bezeichnet wird, so wird die Welt bei Roth erst zu einer solchen, indem die alte Monarchie untergeht. Roth schreibt von einer zunehmend heterogenen Lebenswelt, Texte wie Döblins Alexanderplatz setzen sie bereits voraus. Bei Roth kann man noch die vergebliche Suche nach den Traditionen erkennen oder wie bei Carl Joseph: den Kampf mit ihnen.59 Am Ende des Romans und am Ende von Tradition und Mythos steht Roth an jenem Punkt, den andere Romane als Ausgangspunkt ihrer Darstellung der Moderne wählen. Trotzdem handelt es sich nicht um bloß sentimentalisches Erzählen vom Verlust. Vielmehr ist es ein Zuendeerzählen des Mythos aus dem Blick zurück. Roths scheinbar unmoderne Moderne ist insofern eine späte, ungleichzeitige Moderne, nimmt man die Literaturgeschichte seit ca. 1900 in den Blick. In der Darstellung zunehmend isolierter Individuen in einer Nahwelt, die sie als immer partikularisierter erleben, hat der Radetzkymarsch seine Beziehung zu anderen Romanen der literarischen Moderne. Bei Roth allerdings wird dieser Zustand erst erreicht, er stellt einen Prozess und keinen Zustand dar. Indem der Erzähler post festum berichtet, begründet er den Sonderstatus des Romans in der modernen Prosaliteratur bis 1933.
6. Schlussthesen: Roths Mythologie des Endes Roth ist ein Mythomane.60 So urteilt, vielleicht etwas sehr pointiert, sein Biograph David Bronsen über den Autor, wohl mit Blick vor allem auf das Werk nach 1925. Begreift man den Mythos als große Erzählung vom Ursprung und Gang des Kosmos und der Welt, des Menschen und der Götter, dann ist der Mythos in diesem antiken Sinn ein Erklärungs- und Deutungsmodell. Er realisiert sich im Erzählen, im Epos, das der Rhapsode vorträgt. Der Dichter erhält die Funktion des Weisen, Kundigen, des Sehers – des poeta vates. Roth knüpft an diese antike Tradition der Deutung der Welt durch das Epische des Mythos an. Allerdings ist seine mythologische Erzählung von Habsburg eine vom Untergang. Deshalb ist die _____________ 58 59 60
Vgl. Foster: Radetzkymarsch, S. 363. Vgl. Scheible: Joseph Roth, S. 96. Vgl. Bronsen: Joseph Roth, S. 14.
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Mythologie im Radetzkymarsch eine, die zu Ende erzählt wird. Der Roman zeigt, so Scheible, die Vergeblichkeit des Greifens nach lebendiger Tradition.61 Gilt die Tradition nicht mehr, verliert sie ihre stabilisierende Kraft, geht auch die Funktion des Mythos, der auf der Tradition aufbaut, verloren. Der Radetzkymarsch ist der letzte, abschließende Teil des Mythos Habsburg, der nichts mehr erklären kann.62 Claudio Magris hatte Roth schon 1963 als einen Autor beschrieben, der an diesem Mythos teilhat und an ihm geschrieben hat.63 Er hatte erkannt, dass Roths ›Arbeit am Mythos‹ (Hans Blumenberg) im Radetzkymarsch keine leere Verherrlichung Habsburgs ist, sondern der Text vielmehr »ein Roman [ist], der jene Welt begriffen hat«.64 Gemeint ist die Welt der späten Monarchie im 20. Jahrhundert. Begriffen hat er sie nach Magris, weil er sie als untergehende erkennt. Und trotzdem wählt Roth als Gattung nicht die Elegie, sondern den Roman.65 Weil er »der epische Erzähler einer Welt [ist], deren Saga er schrieb«,66 ist Roth für Magris ein habsburgischer Austroslawe. Sein Mythos ist nicht nur jüdisch-slawisch, er ist vor allem einer, der an seinem Ende angekommen ist. Roth schreibt mit dem Radetzkymarsch eine moderne, sich selbst schließlich zu Ende bringende Mythologie. In der finalen Mythologie des Radetzkymarsches gelingt die Identitätsstiftung in der Moderne nicht mehr, weder bei den Trottas noch in der Monarchie. Der Mythos Habsburg endet im Krieg, der Kaiser stirbt. Die Trottas wollten, mit den Worten des Bezirkshauptmannes, Österreicher bleiben. Als es das alte Österreich nicht mehr gab, konnte es auch die Trottas nicht mehr geben.
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Vgl. Scheible: Joseph Roth, S. 94. Vgl. Kessler: Überdauern im ewigen Untergang, S. 636. Vgl. Magris: Der habsburgische Mythos. Magris: Der habsburgische Mythos, S. 307. Vgl. Magris: Der habsburgische Mythos, S. 307. Magris: Der habsburgische Mythos, S. 308f.
Beiträgerinnen und Beiträger JAN ANDRES Geb. 1975. Studium der Germanistik, Geschichtswissenschaft und Philosophie an der Universität Bielefeld. 2004 Promotion im Fach Germanistik. Seit 2004 Habilitationsprojekt zur Ästhetik und Rhetorik der Kulturkritik. Forschungsschwerpunkte: Literatur um 1900, Literatur und Geschichte, Stefan George und George-Kreis. MORITZ BAßLER Professor für Neuere deutsche Literatur an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster. Promotion in Tübingen zu expressionistischer Kurzprosa. Habilitation in Rostock mit einer Arbeit über Text-KontextTheorie. Forschungsschwerpunkte: Texttheorie, Klassische Moderne, Popkultur, Gegenwartsliteratur und das wundersame Fortleben des Realismus. SABINA BECKER Professorin für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der AlbertLudwig-Universität Freiburg. Herausgeberin des Jahrbuchs zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik (1995ff.). Forschungsschwerpunkte: Literatur des 19. Jahrhunderts mit Schwerpunkt Realismus, Literatur der Moderne im 20. Jahrhundert, Exilliteratur 19331950, Literatur- und Kulturtheorie. HEINZ DRÜGH Promotion über literarische Allegorie. Habilitation an der Universität Tübingen über ästhetische und kulturelle Aspekte der literarischen Beschreibung. Professor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. Forschungsschwerpunkte: Literaturgeschichte und Ästhetik vom 17. bis 20. Jahrhundert, Literatur und Bildmedien, Literaturtheorie, Aspekte der Ästhetisierung des ökonomischen Diskurses, Popliteratur. MANFRED ENGEL Gegenwärtig Taylor Chair of the German Language and Literature an der University of Oxford. Studium an den Universitäten Erlangen und Can-
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terbury, Professuren an den Universitäten Hagen und Saarbrücken. Geschäftsführender Herausgeber von KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft. Forschungsschwerpunkte: u.a. Roman der Goethezeit, Rilke, Kafka, Anthropologie der Literatur, Kultur- und Literaturgeschichte des Traumes. OLIVER JAHRAUS Geb. 1964. Studium der Germanistik und Philosophie in München. 1992 Dissertation zu Thomas Bernhard. 1994-1996 Mitarbeit im DFG-Projekt »Radikale Avantgarden«. Ab 1996 Assistent, ab 2004 Oberassistent an der Universität Bamberg. 2001 Habilitation mit einer Arbeit zu Literatur als Medium. Seit 2005 Inhaber des Lehrstuhls für NDL/Literatur und Medien an der LMU München. Forschungsschwerpunkte: Literaturtheorie, Medien- und Kulturtheorie, Film und Literatur, Semiotik, Systemtheorie, Avantgarde, Kafka. FOTIS JANNIDIS Promotion über Goethes Bildungsbegriff in Dichtung und Wahrheit. Habilitation an der Universität München über eine historisch angelegte Erzähltheorie der Figur. Professor an der Technischen Universität Darmstadt. Forschungsschwerpunkte: Literatur- und Erzähltheorie, Geschichte des Erzählens, Computerphilologie. MATTHIAS LUSERKE-JAQUI Geb. 1959. Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der TU Darmstadt. 1987 Promotion über Robert Musil, 1993 Habilitation über die Kulturgeschichte des Katharsisdiskurses (Literatur und Leidenschaft). Mitherausgeber der Periodika Musil-Forum. Studien zur Literatur der klassischen Moderne, KULI. Studien und Texte zur Kulturgeschichte der deutschsprachigen Literatur, Lenz-Jahrbuch. Sturm-und-Drang-Studien. Forschungsschwerpunkte: Kulturgeschichte der Literatur, Literatur- und Kulturtheorie, 18. Jahrhundert, Moderne. ARIANE MARTIN Geb. 1960. 1992 Promotion mit einer Arbeit zum Frühwerk Heinrich Manns an der Universität Marburg. 2002 Habilitation mit einer rezeptionsgeschichtlichen Studie über J. M. R. Lenz und Goethes Werther an der Universität Kassel. Seit 2002 Professorin für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Literatur vom Sturm und Drang bis zur frühen und klassischen Moderne (J.M.R. Lenz, Georg Büchner, Heinrich Mann, Frank Wedekind, Irmgard Keun), Editionsphilologie, Literaturwissen-
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schaft als Kulturwissenschaft (Rezeptionsgeschichte, Genderforschung), Intermedialität. PHILIP PAYNE Geb. 1942 in Nottingham, England. Studium in Cambridge. 1967-1969: Assistant Lecturer in German an der Reading University, England. 19691973: Assistant Professor an der University of Toronto, Kanada. 19731989: Lecturer in German Studies an der Lancaster University, England. 1989-1993 Senior Lecturer, seit 1993 Professor in Lancaster. Forschungsschwerpunkte: Robert Musil, Deutsche Literatur und Geistesgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, Sprachunterricht und Übersetzung, Presse der Bundesrepublik. NIKOLA ROßBACH Studium der Germanistik und Romanistik in Aachen und München. 1997 Promotion mit einer Arbeit über Marie Luise Kaschnitz. 1998-2001 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Kassel, seit 2002 an der TU Darmstadt. Seit 2001 Mitherausgeberin von metaphorik.de. 2005 Habilitation zum Thema Theater über Theater. Parodie und Moderne 1870-1914. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Wissen in der Frühen Neuzeit, Literatur und Kultur vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, Parodie und Metatheatralität. HELMUT SCHEUER Geb. 1942. Studium der Germanistik und Geschichte. 1967 Staatsexamen. 1970 Promotion in Saarbrücken. 1978 Habilitation in Siegen. Professor em. für Neuere deutsche Literatur an der Universität Kassel. Mitherausgeber von Der Deutschunterricht. Forschungsschwerpunkte: Naturalismus, Biographik, Fontane, Heinrich Mann, Dieter Kühn, Darstellung der Gefühle und der Familie in der Literatur. DIANA SCHILLING Geb. 1964, Studium der Deutschen Philologie, Neueren Geschichte und Politikwissenschaft in Münster. 1992 Magistra Artium, 1996 Promotion. Von 1996 bis 2003 Wissenschaftliche Assistentin im Institut für Deutsche Philologie II an der Universität Münster. Dort anschließend Lehrbeauftragte und freie Autorin; zur Zeit Studienreferendarin in Münster. Forschungsschwerpunkte: Realismus, Schiller, Robert Walser.
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Beiträgerinnen und Beiträger
JUTTA SCHLICH Geb. 1967. Studium der Germanistik, Romanistik und Pädagogik in Trier, Manitoba (Canada) und Heidelberg. 1992 Promotion. 2000 Habilitation. 1993-2000 Wissenschaftliche Assistentin, 2001-2007 Hochschuldozentin, 2007 bis weiterhin Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Universiät Heidelberg. Gastdozentin in Nottingham, Galway und Bangkok. Forschungsschwerpunkte: Rezeptionsästhetik, Begriffsgeschichte, Epochengeschichte, Romantik, Gegenwart. SIKANDER SINGH Geb. 1971. Studium der Deutschen Philologie, Anglistik, Amerikanistik und Kanadistik in Düsseldorf. Promotion mit einer Arbeit zu Heinrich Heine. 1999 bis 2005 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten Düsseldorf und Darmstadt. Seit 2000 Lehraufträge in den Fachbereichen Germanistik und Anglistik. Seit 2006 von der Stiftung Weimarer Klassik als Herausgeber mit dem Abschluß der historisch-kritischen Säkularausgabe der Werke Heinrich Heines betraut. Forschungsschwerpunkte: Heinrich Heine, Christian Fürchtegott Gellert, Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts, Wirkungsästhetik und Rezeptionsgeschichte. MIRJAM SPRINGER Geb. 1966. Studium der Germanistik, Slavistik und Musikwissenschaft in Münster, Tübingen und Volgograd. Promotion 1998 mit einer Arbeit zu Schillers dramatischen Fragmenten. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Münster. Forschungsschwerpunkte: Weimarer Klassik (Schiller), Lyrik/Lyriktheorie nach 1945, Intermedialität (Literatur – Musik). ROSMARIE ZELLER Dozentin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Basel. Forschungsschwerpunkte: Poetik des Barockromans, Formen und Funktionen von nicht orthodoxem Wissen (Magia naturalis, Kabbala) im 17. Jahrhundert, Poetik des modernen Romans und des Dramas, Kafka, Musil, Schweizer Literatur nach 1945.