Im Jahre 2168, dem Zeitalter des Raumflugs zwischen den Sternensystemen, haben sich die kulturell und technologisch hoc...
55 downloads
441 Views
742KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Im Jahre 2168, dem Zeitalter des Raumflugs zwischen den Sternensystemen, haben sich die kulturell und technologisch hochentwickelten Planeten darauf ge einigt, die Entfaltung der Bevölkerung weniger ent wickelter Planeten nicht durch äußere Einwirkung zu beschleunigen oder zu beeinflussen. Ein solcher »Entwicklungsplanet« ist Krishna im Sonnensystem Tau Ceti. Aber es gibt Menschen, die halten sich nicht an diese Bestimmungen, und zu ihnen gehört Anthony Fallon, ein Abenteurer von der Erde, der sich auf Krishna ein Königreich geschaffen und es wieder verloren hatte. Schon bald jedoch sieht sich der Konsul der Erde auf Krishna veranlaßt, Fallon gegen dessen Willen mit dem Archäologen Dr. Julian Fredro in Verbindung zu bringen, der das Geheimnis des Turms von Zanid er gründen möchte. Vor ihm sind bereits drei Wissen schaftler verschwunden, und auch ihre Spur führt zum Turm von Zanid ...
In der Reihe der
Ullstein Bücher:
Jeff Sutton:
Die tausend Augen des Krado 1 (2812)
Sprungbrett ins Weltall (2865)
Samuel R. Delaney:
Sklaven der Flamme (2828)
Cyril Judd:
Die Rebellion des Schützen Cade (2839)
Eric Frank Russell:
Planet der Verbannten (2849)
Gedanken-Vampire (2906)
Larry Maddock:
Gefangener in Raum und Zeit (2857)
Bart Somers:
Zeitbombe Galaxis (2872)
Welten am Abgrund (2893)
Manly W. Wellman:
Insel der Tyrannen (2876)
Invasion von der Eiswelt (2898)
Robert Moore Williams:
Zukunft in falschen Händen (2882)
H. Beam Piper:
NULL-ABC (2888)
Murray Leinster:
Die Irrfahrten der »Spindrift« (2917)
Im Reich der Giganten (2937)
Fredric Brown:
Sternfieber (2925)
L. Sprague de Camp:
Vorgriff auf die Vergangenheit (2931)
Richard S. Shaver:
Zauberbann der Venus (2944)
Ferner: Science-Fiction-Stories Band 1 bis Band 23
Ullstein Buch Nr. 2952 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Tower of Zanid« Übersetzung von Ingrid Rothmann Erstmals in deutscher Sprache Umschlagillustration: Fawcett, Inc. Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1958 by L. Sprague de Camp Übersetzung © 1973 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1973 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3-548-02925-6
L. Sprague de Camp
Der Turm
von Zanid
SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
1
Dr. Julian Fredro erhob sich schwankend vom Bett und mußte sich erst fassen. Die Schwester in der Am bulanz aus Novorecife hatte die Verbände entfernt. Das Blitzen der Lichter hatte aufgehört, und die Din ge hatten aufgehört sich zu drehen. Trotzdem fühlte er noch Benommenheit. Die Tür ging auf, und Hercu leu Castanhoso, der eichhörnchenartige kleine Si cherheitsbeamte des terranischen Raumflughafens kam mit einem Stoß von Papieren herein. »Das wär's, Senhor Julian«, sagte er im Brasilportu giesisch der Raumwelten. »Die Papiere sind in Ord nung, aber Sie vergewissern sich am besten selbst. Sie haben die Erlaubnis bekommen, Gozashtand, Mikar dand, die Freistadt Majbur, Quirib, Balhib, Zamba und sämtliche andere befreundete Länder des Plane ten Krishna zu besuchen, mit denen wir diplomati sche Beziehungen unterhalten.« »Gut«, sagte Fredro. »Ich brauche Sie wohl nicht auf Verordnung 368 aufmerksam zu machen, die es Ihnen untersagt, an die Eingeborenen der H-Typ-Planeten Kenntnisse terrani scher Wissenschaft und Erfindungen weiterzugeben. Die Pseudo-Hypnose, der man Sie eben unterzogen hat, wird Sie ohnehin wirkungsvoll davon abhalten.«
»Verzeihung«, sagte Fredro, der das Portugiesisch mit starkem polnischen Akzent sprach, »aber mir scheint – wie heißt es bloß – das wäre so, als würde man die Stalltür versperren, nachdem die Katze aus dem Sack ist.« Castanhoso zuckte die Achseln. »Was soll ich ma chen? Das Leck ist passiert, bevor wir die künstliche Pseudo-Hypnose hatten, die vor Saint-Remys Beschäf tigung mit den telepathischen Kräften der Osirier vor einigen Jahrzehnten noch unbekannt war. Als mein Vorgänger Abreu noch Sicherheitsbeamter war, bin ich einmal mit ihm losgezogen, um eigenhändig ein Dampfschiff zu zerstören, das ein Erdenmensch für Ferrian, den Pandr von Sotaspe, konstruiert hatte.« »Das muß aber aufregend gewesen sein.« »Aufregend ist nicht das richtige Wort, Senhor Dr. Julian«, meinte Castanhoso mit nachdrücklicher Ge bärde. »Doch das eigentliche Wunder besteht darin, daß die Krishni nicht mehr gelernt haben: etwas über Feuerwaffen zum Beispiel, oder Maschinen. Natürlich behaupten einige, daß es ihnen an angeborener Ori ginalität fehle ... Da wir eben von Fürst Ferrian ge sprochen haben ... werden Sie auch Sotaspe besu chen? Er regiert die Insel noch immer. Eine äußerst lebhafte Persönlichkeit.« »Nein«, sagte Fredro. »Ich fahre in die entgegenge setzte Richtung, nach Balhib.«
»So? Dann wünsche ich Ihnen eine angenehme Rei se. Die Verbindungen sind jetzt viel besser. Man kann die ganze Strecke nach Zanid mit der Bishtar-Bahn zurücklegen. Was erhoffen Sie sich eigentlich von Ih rem Besuch in Balhib, wenn man fragen darf?« Fredros Blick nahm einen entrückten Glanz an, wie bei jemandem, der nach harter Tages Mühe in der Ferne eine Flasche Whisky sieht. »Ich werde das Ge heimnis des Safq lösen.« »Sie meinen dieses kolossale künstliche Schnek kenhaus?« »Gewiß. Die Lösung dieses Rätsels wäre die pas sende Krönung meiner Laufbahn. Nachher werde ich mich zurückziehen – ich werde bald zweihundert – und meinen Lebensabend damit verbringen, mit mei nen Ur-ur-ur-ur-ur-enkeln zu spielen und über die Arbeit meiner jüngeren Kollegen die Nase zu rümp fen. Obrigado für Ihre Liebenswürdigkeit, Senhor Herculeu. Ich trete doch nur eine Besichtigungstour an – und Sie stehen da mit drohendem Zeigefinger.« »Sie meinen wohl mit dem Finger am Leck. Es ist entmutigend«, sagte Castanhoso, »wenn man sieht, daß der Deich an vielen anderen Stellen schon gebor sten ist. Die technische Blockade wäre vielleicht wirk sam durchzuführen gewesen, wenn man sie von An fang an strikt eingehalten und wenn uns damals die Methode Saint-Remys zur Verfügung gestanden hät
te. Doch Sie, Senhor, werden Krishna im Fluß der Veränderungen erleben. Das wird sicher sehr interes sant.« »Deswegen bin ich da. Ate avista, Senhor.« Es war das Fest des Anerik, und das vergnügungs süchtige Volk von Zanid beging den Feiertag auf der staubigen Ebene im Westen der Stadt. Jenseits des seichten schlammigen Eshqa war eine Fläche von mehr als einem Quadrathoda abgesteckt worden. In einem Teil davon veranstalteten kräftige junge Krishni Wettrennen mit Shomals und Ayas – entweder ritten sie die Tiere oder sie hatten sie vor Kampfwagen oder andere Gefährte gespannt. An an derer Stelle paradierten Abteilungen von Hellebar denträgern zu Trompetengeschmetter und Zimbalklängen, während Roqir – der Stern Tau Ceti – auf die glänzenden Helme schien. Daneben stießen gepan zerte Turnierkämpfer einander mit spitzen Lanzen von den Reittieren herunter. Sie polterten zu Boden wie Eisenöfen, die vom Dach fallen. Auf dem Spielfeld jubelte die Menge, als die heimi schen Minasht-Spieler das Besucherteam aus Lussar vernichtend schlugen. Das Privatorchester König Kirs spielte auf einer Tribüne, die sich inmitten eines Mee res von Buden erhob, in denen man sich Schuhe flik ken, Kleider reinigen, Haare schneiden lassen und al
les kaufen konnte – Speisen, Getränke, Tabak, Schmuck, Hüte, Kleider, Spazierstöcke, Schwerter, Werkzeuge, Bogenschützenausrüstungen, Metallsa chen, Töpferwaren, Arzneien (meist wirkungslose), Bücher, Bilder, Götter, Amuletts, Wundertränke, Sa men, Glühbirnen, Laternen, Teppiche, Möbel – und vieles andere. Tänzer hüpften, Schauspieler posierten und Stelzengeher stolzierten. Musikanten näselten und dudelten, Sängerinnen schrillten, Dichter rhapsodierten; Märchenerzähler logen und Fanatiker hielten Reden. Marktschreier priesen ihre Wunder mittel an; Exorzisten trieben mit Feuerwerk böse Gei ster aus, und Mütter liefen kreischend ihren Kindern nach. Die Festgäste waren nicht nur Krishni, sondern es war ein buntes Gemisch von Menschen aus anderen Welten: zwei Osirianer, ähnlich kleinen zweifüßigen Dinosauriern, mit komplizierten Zeichnungen auf den Schuppenleibern, die aufgeregt von einer Se henswürdigkeit zur anderen rasten; ein Trio pelziger knopfäugiger Thotianer, halb so groß wie die Krishni, die die Einheimischen in den Glücksspielen zahlrei cher verschiedener Welten unterwiesen; ein zentau renartiger Vishnuver, der mürrisch Grünzeug aus ei ner großen Ledertasche mampfte. Sodann ein unauf fälliges Paar vom Planeten Ormazd, fast menschlich und von stolzer Haltung, die karminrote Haut nackt
bis auf Sandalen und knappe Mäntelchen, die über den Rücken hingen; und außerdem natürlich eine Gruppe behoster terrestrischer Touristen mit Frauen und in Lederfutteralen steckenden Kameras. Da und dort sah man einen Erdenbewohner, der Krishni geworden war, von der Mitte bis zu den Knien in ein Dhoti, das landesübliche Lendentuch gehüllt, mit einheimischer Kopfbedeckung, die tur banartig um den Kopf geschlungen wurde. Noch ei nige Jahrzehnte vorher hätten sie sich alle verkleidet, das Haar blaugrün gefärbt, große spitze künstliche Ohren getragen und sich an die Stirn ein Paar feder artiger Antennen geklebt, als Imitation der äußeren Riechorgane der Krishni. Diese Organe waren gleich sam zusätzlich Augenbrauen, die zu beiden Seiten der Nasenwurzel aufragten. Irgendein Erdenbewohner schlenderte im Gelände in der Nähe der Musikkapelle umher, als hätte er nichts Besonderes im Sinn. Er trug den üblichen überdimen sionalen Lendenschurz, ein loses gestreiftes Hemd mit sorgfältig geflickten Löchern. Ein einfaches ortsübli ches Rapier baumelte an seiner Hüfte. Er war für einen Erdenmenschen hochgewachsen – ungefähr so groß wie ein Durchschnittskrishni, die mit Erdenaugen ge sehen eine große, schlanke Rasse von Humanoiden mit olivgrünlichem Teint und flachen Zügen waren, ähn lich der irdischen mongoloiden Rasse.
Dieser Mann aber gehörte der weißen Rasse an. Er hatte die helle Tönung des Nordwesteuropäers, ob gleich das unbedeckte Haar nach der Mode in Balhi bo nackenlang getragen, an den Seiten leicht ergraut war. In seiner Jugend mochte er mit seiner aggressiv gebogenen Nase auffallend gut ausgesehen haben. Jetzt aber verdarben Tränensäcke unter blutunterlau fenen Augen und ein Netzwerk feiner roter Äderchen den ersten Eindruck. Hätte er die lebensverlängern den Mittel nicht genommen, mit denen die Erdenbe wohner ihre Lebensspanne verdreifachten, hätte man ihn auf Anfang vierzig schätzen können. Tatsächlich aber war er vierundneunzig Erdenjahre alt. Dieser Mann war Anthony Fallon aus London, Großbritannien, Erde. Eine kurze Zeitspanne lang hatte er als König über die Insel Zamba im Meer von Sadabao des Planeten Krishna geherrscht. Unglückli cherweise hatte er in einem Anfall von Ehrgeiz das mächtige Reich Gozashtand mit einer Wagenladung Getreuer und zwei Dutzend geschmuggelter Maschi nengewehre angegriffen. Damit hatte er den Zorn des Interplanetarischen Rates über sein Haupt beschwo ren. Der I. R. versuchte auf Krishna eine technische Blockade durchzuführen, um die kriegerischen, aber noch vorindustriellen Eingeborenen dieses wunder schönen Planeten davon abzuhalten, sich die verhee rend wirkenden Methoden wissenschaftlicher Kriegs
führung anzueignen, ehe sie in Politik und Kultur so fortgeschritten waren, daß sie eine solche Erfindung verkraften konnten. Unter diesen Umständen war na türlich eine Kiste mit Maschinengewehren streng ta bu. Die Folge davon war, daß man Fallon von seinem Thron herunter verhaftet und in Gozashtand unter kataleptischer Trance ins Gefängnis gesperrt hatte. Es dauerte viele Jahre, bis endlich seine zweite Frau Jul nar, die man gezwungen hatte, zur Erde zurückzu kehren, auf den Planeten Krishna zurückgekehrt war und seine Freilassung erwirkt hatte. Der befreite Fal lon hatte versucht, seinen Thron wieder einzuneh men. Der Versuch war fehlgeschlagen, er hatte auch Julnar verloren und lebte jetzt in Zanid, der Haupt stadt von Balhib. Fallon schlenderte am Präfektenzelt vorbei, an des sen Hauptmast die grün-schwarze Fahne von Klir, dem Dour von Balhib, aufgezogen war, die steif im Steppenwind wehte. Darunter flatterte die Flagge dieses Festtages, die den drachenähnlichen Shan aus den Äquatorwäldern von Mutaabwk im Bilde trug, auf dem angeblich der Halbgott Anerik nach Balhib geritten war, um hier vor Tausenden von Jahren Er leuchtung zu verbreiten. Sodann schlug Fallon zwi schen dem Budengewirr den Weg zur Musikkapelle ein, von der die Melodienfetzen eines Marsches
schwach herübertönten, den ein Erdenmensch na mens Schubert vor mehr als dreihundert Jahren kom poniert hatte. Schubert hatte es schwer, sich gegenüber einer lau ten Stimme mit starkem terranischem Akzent durch zusetzen. Fallon ging in Richtung des Redners und stieß auf einen Erdenmenschen, der in erbärmlichem Balhibou mit leidenschaftlichen Gesten von einer Ki ste herunter eine Rede hielt: »... hütet Euch vor dem Zorn des einen Gottes! Denn dieser Gott haßt das Böse – besonders die Sün den der Abgötterei, Genußsucht und Hoffart, denen Ihr in Balhibou anhängt. Laßt mich Euch vor dem kommenden Zorn retten! Bereut, ehe es zu spät ist! Zerstört die Tempel der falschen Götter! ...« Fallon blieb nur kurz stehen, um zuzuhören. Der Redner war ein kräftiger Kerl in schwarzem Anzug. Das unbestimmbare Gesicht leuchtete vor Fanatis mus, und unter dem Turban quoll langes schwarzes Haar hervor. Besonders aufzubringen schien den Redner die weibliche Nationalgewandung von Bal hib, die aus einem Faltenrock und einem um die Schultern gewundenen Schal bestand. Fallon erkann te die Lehre der Ökumenischen Monotheisten wieder, einer weitverbreiteten synkretistischen Sekte brasilia nischen Ursprungs, die nach dem dritten Weltkrieg auf der Erde gegründet worden war. Die Zuhörer
hier auf Krishna aber schienen eher belustigt als be eindruckt. Als er die dauernden Wiederholungen satt hatte, setzte Fallon zielstrebig seinen Weg fort. Er wurde von einer Triumphprozession aufgehalten, die vom Minasht Platz kam. Die Anhänger von Zanid trugen den Kapitän der heimischen Mannschaft, der seinen gebrochenen Arm in einer Schlinge trug, auf den Schultern. Als die Sportenthusiasten vorüber waren, ging Fallon an einem Schießstand vorbei, an dem mit Pfeil und Bogen geschossen wurde, und blieb dann vor einem Zelt stehen, auf dem in Balhibou-Schrift stand: »TURANJ DER SEHER! Astrologe, Kristallse her, Zauberer, Zahnheiler. Sieht alles, weiß alles, sagt alles. Zukunftsvoraussage; enthüllte Chancen; Ab wendung von Unglück; Verlorenes wird gefunden; Eheanbahnung; Feinde werden aufgedeckt. Vertraut euch mir an!« Fallon steckte den Kopf durch den Zelteingang. Es war ein großes, in mehrere Abteile unterteiltes Zelt. Im Vorraum saß ein runzeliger Krishni zigarrenrau chend auf einem Kissen. In fließendem Balhibou sagte Fallon: »Hallo, Qais, altes Haus. Welche Missetaten hast du neuerdings auf dem Kerbholz?« »In Balhib bin ich Turanj«, erwiderte der Krishni mit Schärfe. »Vergeßt das nicht, Sir!«
»Also dann Turanj! Darf ich eintreten, o Seher?« Der Krishni schnippte Asche weg. »Das dürft Ihr in der Tat, mein Sohn. Von welchem Geheimnis soll ich den Schleier heben?« Fallon ließ die Zeltklappe hinter sich zufallen. »Ihr wißt es, o Weiser, wenn Ihr vorausgehen wollt ...« Turanj erhob sich brummend und führte Fallon in den Hauptraum des Zeltes, in dem zwischen zwei Kissen ein Tisch stand. Die zwei setzten sich auf die Kissen und Turanj (oder Qais von Babaal, wie er im heimischen Qaath genannt wurde) sagte: »Nun, An tane, mein Kücken, was gibt es diesmal Interessan tes?« »Zuerst möchte ich Bargeld sehen.« »Du bist mit deinen Nachrichten ebenso knickerig wie Dakhaq mit seinem Gold.« Qais zog aus dem Nichts einen Beutel mit Münzen und ließ ihn klirrend auf den Tisch fallen. Er löste die Zugbänder und fin gerte ein paar goldene Zehn-Kard-Stücke heraus. »Fahr fort.« Fallon sagte nach kurzer Überlegung: »Um Kir steht es noch schlechter. Er hat am Bart des Gesand ten der Republik Katai-Jhogorai Anstoß genommen. Verglichen mit terranischen Schnurrbärten war dieser Bart allerdings kaum sichtbar – der König aber befahl, den Gesandten um einen Kopf kürzer zu machen. Peinlich, nicht? Besonders für den armen Gesandten.
Chabarian blieb nichts übrig, als den Kerl hinauszu bugsieren und ihn zum Kofferpacken zu schicken, während er selbst inzwischen dem Dour versicherte, man hätte sich des Opfers entledigt. Das stimmte na türlich – doch in einem anderen Sinn.« Qais kicherte. »Bin richtig froh, daß ich nicht Mini ster unter einem König bin, der noch verrückter ist als Gedik, der die Monde mit einem Lasso einfangen wollte. Warum ist Kir so wild auf Schnurrbärte?« »Ach, Ihr kennt die Geschichte nicht? Er hat sich selbst einmal einen wachsen lassen – zwölf oder vier zehn spärliche Haare – doch dann schickte der Großmeister des Ordens von Qarar in Mikardand ei nen seiner Ritter aus, eben diesen Bart zu stehlen. Es scheint, als hätte der Ritter irgendeinen Kerl auf dem Gewissen und Ärger bereitet, deswegen wollte Juvain beiden eine Lehre erteilen. Nun, Sir Shurgez hat den Bart ergattert, und das hat Kir völlig aus der Fassung gebracht. Er hatte sich schon immer exzentrisch benommen – aber jetzt schnappte er völlig über und ist seither in diesem interessanten Zustand verblie ben.« Qais reichte ihm die zwei Goldmünzen. »Eine für die Neuigkeit über Kirs Wahnsinn und die andere für das Märchen, mit dem Ihr sie ausgeschmückt habt. Der Kamuran wird Gefallen daran finden. Doch fah ret fort.«
Fallon überlegte wieder. »Gegen Kir besteht eine Verschwörung.« »Die gibt es doch dauernd.« »Diesmal scheint es wirklich eine zu sein. Es gibt da einen gewissen Chindor, Chindorer-Qinan, den Neffen eines der aufständischen Edlen, die von Kir li quidiert wurden, als er die Feudalherrschaft abschaff te. Er streckt die Hand nach dem Thron Kirs aus. Aus edelsten Motiven, wie er behauptet.« »Immer dasselbe«, murmelte Qais. Fallon zuckte die Achseln. »Wer weiß, vielleicht waren seine Motive wirklich rein. Jedenfalls wird Chindor von einem unserer neuen MittelklasseMagnaten gestützt, von Liyara, dem Messing-Finder. Es heißt, Chindor hätte Liyara einen Schutzzoll gegen Metallimporte aus Madhiq versprochen, als Gegenlei stung für die Unterstützung.« »Wieder eine irdische Errungenschaft«, sagte Qais. »Wenn der Gedanke Verbreitung findet, wird damit der Handel auf diesem Planeten völlig vernichtet. Einzelheiten?« »Nichts, außer was ich schon gesagt habe. Wenn Ihr mir die Zeit bezahlt, werde ich mich vertiefen. Je mehr, desto tiefer.« Qais reichte ihm eine weitere Münze. »Vertieft Euch, und dann werden wir sehen, wieviel es wert ist. Noch etwas?«
»Es gibt einigen Ärger mit irdischen Missionaren, Kosmotheisten und Monotheisten und dergleichen. Die eingeborenen Medizinmänner haben ihre Gläubi gen mobilisiert. Chabarian versucht sie zu schützen, weil er vor Novorecife Angst hat.« Qais grinste. »Je mehr Ärger dieser Art, desto bes ser für uns. Was habt Ihr sonst noch?« Fallon streckte ihm die Handfläche entgegen und ließ die Finger spielen. Qais sagte: »Für kleine Neuig keiten wie diese, die ich schon kenne, geringerer Lohn.« Er ließ ein Fünf-Kard-Stück in Fallons Hand fallen. Fallon runzelte die Stirn. »O Weiser! Eure Verklei dung mag noch so vollendet sein, ich würde Euch doch immer an Eurem Mangel an Großzügigkeit er kennen.« Er nahm die Münze an sich und fuhr fort: »Die Priester des Bakh führen wieder einen Feldzug gegen den Kult des Yesht. Die Bakhtiten beschuldigen die Yeshtiten, Menschen zu opfern und ähnliche Greuel zu verüben und behaupten, es wäre eine gröbliche Beleidigung, daß sie nicht die Verehrung des Gottes der Dunkelheit ausrotten dürften. Sie wiegen sich in der Hoffnung, Kir einmal während seiner verrückte ren Stimmungen zu erwischen und ihn so weit zu bringen, den Vertrag aufzuheben, mit dem sein Onkel Balade den Yeshtiten den Safq zur dauernden Benut zung überlassen hat.«
»Hmmm«, meinte Qais und reichte ihm ein Zehn Kard-Stück. »Noch etwas?« »Diesmal nicht.« »Wer hat diesen Safq gebaut?« Fallon führte das auf Krishna übliche Äquivalent eines Achselzuckens aus. »Das wissen die Götter! Ich denke, in der Bibliothek könnte ich weitere Einzelhei ten ausgraben.« »Wart Ihr schon jemals im Inneren des Baues?« »Für welch großen Dummkopf haltet Ihr mich? Man steckt den Kopf nicht hinein, wenn man kein überzeugter Yeshtite ist – und wenn man seinen Kopf behalten möchte.« »Es sind Gerüchte an unser Ohr gedrungen, von seltsamen Dingen, die im Safq vor sich gehen sollen«, sagte Qais. »Ihr meint also, die Yeshtiten tun das, was die Bakhtiten behaupten.« »Nein, diese Gerüchte beziehen sich nicht auf reli giöse Dinge. Was die Yeshtiter treiben, weiß ich nicht. Doch man sagt, daß im Innern dieses düsteren Bau werks Menschen – wenn es wirklich solche sind – Mittel zur Vernichtung und zum Schaden des Reiches von Qaath ersinnen.« Wieder zuckte Fallon die Achseln. »Wenn Ihr wirklich Euer Glück machen wollt, dann findet es heraus! Ein echter und vollständiger
Bericht über den Safq ist tausend Karda wert. Erzählt mir ja nicht, Ihr würdet nicht im Traum daran den ken. Für genügend Gold würdet Ihr alles tun.« »Nicht für eine Million Karda«, sagte Fallon. »Bei den grünen Augen von Hoi, Ihr werdet es tun! Der Kamuran besteht darauf!« Fallon machte einen fruchtlosen Vorschlag, wie der mächtige Ghuur von Urilq, Kamuran von Qaath, sein Geld verwenden möge. »So hört doch!« beschwatzte Qais ihn. »Tausend Karda verschaffen Euch genügend Klingen, um den Thron von Zamba wieder besteigen zu können. Reizt Euch diese Aussicht nicht?« »Nicht im geringsten. Einen verwesenden Kadaver berührt es nicht mehr, ob er auf einem Thron sitzt oder nicht.« »Ist es nicht das Ziel, nach dem Ihr seit vielen Jah ren strebt, so wie Qarar, der sich mit seinen neun Aufgaben plagt?« »Ja. Doch lange hinausgeschobene Hoffnung macht einen skeptisch. Ein solches Vorhaben würde ich nie in Betracht ziehen, es sei denn, ich wüßte im vorhin ein, worauf ich mich einlasse – sagen wir, wenn ich einen Plan des Baues hätte und eine Zeittafel der ver schiedenen Vorgänge darin.« »Wenn ich das alles hätte, müßte ich nicht ein irdi sches Wesen anheuern, das für mich herumschnüf
felt.« Qais spuckte verärgert auf den Boden. »Ihr habt Euch schon auf gefährlichere Sachen eingelassen. Ihr Erdenmenschen könnt einen manchmal zappeln las sen! Vielleicht könnte ich das Angebot um ein weni ges erhöhen ...« »Zu Hishkak damit«, stieß Fallon hervor und erhob sich. »Wie soll ich nächstes Mal mit Euch Verbindung aufnehmen?« »Ich bleibe ein oder zwei Tage in Zanid. Besucht mich in der Schenke Tashins.« »Wo die Spieler und Marktschreier wohnen?« »Gewiß – habe ich nicht die Rolle einer solchen Person angenommen?« »Ihr wirkt darin so ungemein natürlich, Maestro!« »Hmmm. Niemand weiß, wer ich in Wahrheit bin, also hütet Eure dreiste Zunge. Nun gehabt Euch wohl!« Fallon verabschiedete sich und trat hinaus in den hellen Sonnenschein des Roqir. Im Geiste zählte er seine Einnahmen zusammen: fünfundvierzig Karda – genug, um ihn und Gazi einige Zehn-Nächte lang zu ernähren. Doch es war wohl kaum genug, um ihm den Weg zurück auf seinen Thron zu bahnen. Fallon kannte seine eigenen Schwächen gut genug, um zu wissen, daß er – sollte er je den erhofften fi nanziellen Volltreffer landen – sich sehr rasch daran machen mußte, Söldner anzuwerben und den Thron
zurückzuerobern, denn er gehörte zu den Menschen, denen Geld wie Wasser durch die Finger lief. Die tau send Karda, von denen Qais gesprochen hatte, hätte er liebend gern gehabt, doch das Ansinnen, in den Safq einzudringen, war ungeheuerlich. Andere hatten bereits den Versuch gewagt und hatten unweigerlich ein geheimnisumwittertes Ende gefunden. Er ging in einen Getränkeladen und erstand eine Flasche Kvad, das stärkste alkoholische Getränk auf Krishna, im Geschmack ähnlich verdünntem Wodka. Wie die meisten Terraner auf Krishna zog er das ein fache Zeug den starkgewürzten Getränken vor, die die meisten Krishner mochten. Der Geschmack be deutete ihm wenig. Er trank, um seine Enttäuschun gen zu vergessen. »Ach, Fallon!« sagte eine schneidend scharfe Stim me. Fallon drehte sich um. Seine erste Befürchtung war gerechtfertigt. Hinter ihm stand auch ein Erden mensch: groß, schlank, schwarzhäutig und kraushaa rig. Statt des Lendenschurzes trug er einen frischgebü gelten irdischen Anzug. Mit Ausnahme der Figur stell te er einen scharfen Gegensatz zu Fallon dar: frische Stimme, gezielte Gesten und energisches Gehaben. Er hatte die Art des geborenen Führers und war sich seiner eigenen Überlegenheit voll bewußt. Es war Percy Mji pa, Konsul der Terranischen Weltföderation in Zanid.
Fallon faßte sich und zwang sich zu einer nichtssa genden Miene. Aus verschiedenen Gründen mochte er Percy Mjipa nicht und konnte sich kein heuchleri sches Lächeln abringen. Er sagte also: »Hallo, Mr. Mjipa.« »Was treiben Sie heute?« Mjipa sprach fließend englisch, doch mit dem stakkatoartigen Akzent des gebildeten Bantu. »Ich vergnüge mich, Verehrtester.« »Würden Sie mit mir zum Zelt des Präfekten kommen? Dort ist jemand, mit dem ich Sie bekannt machen möchte.« Verblüfft folgte Fallon Mjipa. Er wußte nur zu gut, daß er nicht zu jener Personengruppe gehörte, die Mjipa voll Stolz einem auf Besuch weilenden Wür denträger als Beispiel eines Erdenmenschen vorfüh ren würde, der es auf Krishna zu etwas gebracht hat te. Sie kamen am Exerzierplatz vorbei, auf dem eine Kompanie der Bürgerwehr von Zanid paradierte: Ab teilungen von Pikenträgern und Armbrustschützen. Beim Marschieren waren sie längst nicht so exakt wie die Berufssoldaten Kirs. Doch sahen sie wacker aus in ihren Scharlachtuniken unter schwarzen Kettenhem den. Mjipa sah Fallon scharf an. »Ich dachte, Sie sind auch bei der Bürgerwehr?«
»Bin ich. Tatsächlich habe ich heute nacht Patrouil lendienst. Leise wie eine Katze ...« »Warum machen Sie dann nicht bei der Parade mit?« Fallon grinste. »Ich diene in der Juru-Kompanie, die zur Hälfte aus Nicht-Krishni besteht. Könnt Ihr Euch Krishni, Terraner, Osirianer, Thothianer und all die anderen zur Parade angetreten vorstellen?« »Die Vorstellung ist ein wenig befremdend – wie aus dem Delirium tremens oder einer Grusel-Show im Fernsehen.« »Und was würdet Ihr mit unserem achtfüßigen Isi dianer machen?« »Der könnte eine Standarte tragen«, sagte Mjipa und ging weiter. Jetzt kamen sie in Hörweite des ter ranischen Missionars, der noch immer daraufloswet terte. »Wer ist das?« fragte Fallon. »Mir scheint, der haßt alle und alles.« »Er heißt Wagner – Welcome Wagner. Amerikaner, glaube ich, Ökumenischer Monotheist.« »Amerikas Beitrag zum interplanetarischen Miß verständnis?« »Man könnte es fast so nennen. Merkwürdig daran ist nur, daß er ein bekehrter Abenteurer ist. In Wirk lichkeit heißt er Daniel Wagner, als Trüber Dan war er auf den Cetischen Planeten berüchtigt, ein ärgerer
Betrüger als Borel und Koshay zusammen. Ein Mensch ohne Kultur.« »Was ist mit ihm passiert? War er längere Zeit im Knast?« »Genau das, und er hat es mit der Religion zu tun bekommen – wie der Amerikaner sagt – während er über seine Sünden im Gefängnis von Novorecife brü tete. Sobald er herauskam, nahmen ihn die Ökumeni schen Monotheisten auf, weil sie im Westen keine Missionare hatten. Und jetzt ist er ein größerer Tu nichtgut als je zuvor.« Ein Schatten der Sorge huschte über das dunkle Gesicht. »Diese Burschen bereiten mir mehr Kopfzerbrechen als einfache kleine Gauner wie Sie.« »Gauner wie ich? Mein lieber Percy. Sie beleidigen mich, und was schlimmer ist, Sie tun mir Unrecht. Niemals im Leben habe ich ...« »Ach, lassen Sie das. Ich weiß alles über Sie. Oder zumindest«, berichtigte sich der penible Mjipa, »mehr als Sie glauben.« Sie kamen zu dem großen flaggenumwehten Zelt. Der Afrikaner nahm die Ehrenbezeugungen der Hel lebardenträger, die den Eingang bewachten, steif ent gegen und trat ein. Fallon folgte ihm durch ein Ge wirr von Gängen in einen Raum, der während der Dauer des Festes zur Verfügung des Konsuls reser viert worden war. Dort saß ein untersetzter, vier
schrötiger, runzeliger Mann mit stacheligem kurzge schnittenem weißen Haar, einer Stumpfnase, breiten Backenknochen, unschuldigen Blauaugen und wei ßem Schnurr- und Spitzbart. Er trug bequeme irdi sche Reisebekleidung. Bei ihrem Eintreten stand die ser Mann auf und nahm die Pfeife aus dem Mund. »Dr. Fredro«, sagte Mjipa, »das ist Ihr Mann. Er heißt Anthony Fallon. Fallon, das ist Dr. Julian Fre dro.« »Danke«, murmelte Fredro und nahm damit die Vorstellung zur Kenntnis. Dabei hielt er den Kopf leicht gebeugt, und die Augen blickten ausweichend, als wäre er verlegen oder eingeschüchtert. Mjipa fuhr fort: »Dr. Fredro ist hergekommen, um archäologische Forschungen anzustellen und möchte sich während seines Aufenthaltes hier alle Sehens würdigkeiten ansehen. Er ist der unermüdlichste Tourist, den ich je kennengelernt habe.« Fredro vollführte eine sich selbst anklagende Geste und sagte in slawisch getöntem Englisch: »Mr. Mjipa übertreibt, Mr. Fallon. Ich finde den Planeten Krishna höchst interessant, das ist alles. Also versuche ich die Zeit zu nutzen.« »Und ich habe mir dabei die Füße wundgelaufen«, seufzte Mjipa. »Ach, das ist Übertreibung«, sagte Fredro. »Ich ler ne gern die Sprachen der Länder, die ich besuche,
und mische mich unter die Leute. Ich befasse mich jetzt augenblicklich mit der Sprache. Und was die Menschen betrifft – Mr. Fallon, kennen Sie in Zanid einen Philosophen? Mr. Mjipa hat mich mit Soldaten bekanntgemacht, mit Adeligen, Kaufleuten und Ar beitern, aber nicht mit Intellektuellen.« »Ich fürchte nein«, sagte Fallon. »Die Menschen auf Krishna geben nichts auf die Erforschung der geisti gen Gebiete, besonders die in Balhibuma, die sich als kriegerisches Volk betrachten. Der einzige Philosoph, den ich je kennengelernt habe, war Sainian badSabzovan, das war vor einigen Jahren am Hofe des Dours von Gozashtand. Und den habe ich nie begrei fen können.« »Wo ist dieser Philosoph jetzt?« Fallon zuckte die Achseln. »Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?« Mjipa sagte: »Na, ich bin jedenfalls sicher, Sie kön nen Dr. Fredro eine Menge interessanter Sachen zei gen. Auf eines ist er besonders erpicht, was gewöhn liche Touristen eigentlich nie sehen wollen.« »Und das wäre?« fragte Fallon. »Meinen Sie etwa das Haus Madame Farudis in der Izandu ...« »Nein, nein, nichts dergleichen. Er möchte nur, daß Sie ihm Zutritt zum Safq verschaffen.«
2
Fallon starrte ihn an und rief dann: »Was?« »Ich habe gesagt«, wiederholte Mjipa, »Dr. Fredro möchte, daß Sie ihn in den Safq führen. Sie wissen doch, was das ist, oder?« »Na sicher doch. Aber was im Namen Bakhs möch te er dort tun?« »Wenn – wenn ich erklären dürfte ...« sagte Fredro. »Ich bin Archäologe.« »Also einer jener Leute, die ein Stück einer zerbro chenen Butterdose finden und daraus die Geschichte des Reiches Kalwm rekonstruieren? Weiter – ich kann Ihnen folgen!« Der Besucher vollführte Handbewegungen, schien aber Schwierigkeiten zu haben, die Worte herauszu bringen. »Sehen Sie, Mr. Fallon, Sie müssen sich das so vorstellen: Krishna ist ein großes Experiment.« »So?« »Der Interplanetarische Rat versucht, die Bewohner dieses Planeten vor zu raschen kulturellen Verände rungen durch die technische Blockade zu schützen. Na türlich hat das überhaupt nicht funktioniert. Einige ir dische Erfindungen und – äh – Gebräuche sind durch gesickert, ehe man die Besucher des Planeten einer pseudohypnotischen Behandlung unterzog. Andere
Errungenschaften, wie zum Beispiel die Druckmaschi ne, hat man gestattet. So sehen wir heute – wie soll ich nur sagen? – sind wir Zeugen, wie eingeborene Kultu ren unter dem Anprall irdischer kultureller Ausstrah lung zu bröckeln beginnen. Es ist aber wichtig, daß alle Informationen über einheimische Kultur und Ge schichte möglichst rasch gesammelt werden, bevor die ser Prozeß seinen Lauf nimmt.« »Warum?« »Weil die erste Wirkung dieser kulturellen Verän derung darin besteht, daß – daß die Achtung der be troffenen Bevölkerung für einheimische Traditionen, Geschichte, Denkmäler, Relikte – und all das – zer stört wird. Doch dauert es viel länger, um – äh – ih nen intellektuelle Hochachtung einzuschärfen für Dinge, die charakteristisch sind für – für eine hoch entwickelte industriell-wissenschaftliche Kultur.« Fallon wurde ungeduldig. Wegen der vielsilbigen Abstraktionen und dem schweren Akzent konnte er kaum die Hälfte dessen verstehen, was Fredro sagte. Fredro fuhr fort: »Im neunzehnten Jahrhundert zum Beispiel wollte ein ägyptischer Pascha die große Pyramide von Khufu zerstören, weil er Baumaterial brauchte, und das, weil er sich für einen modernen aufgeklärten Staatsmann hielt, wie die geschäftstüch tigen Europäer, die er kannte.« »Ja, ja, aber was hat das damit zu tun, daß wir un
sere Köpfe in eine Schlinge stecken, indem wir in den Safq eindringen? Ich weiß, es gibt einen Kult, der auf Dimensionen des Innern basiert ... Wie heißt die Ban de, Percy?« »Die neophilosophische Gesellschaft«, sagte Mjipa, »oder – wie sich der Zweig auf dem Planeten Krishna nennt – der Mejraf Janjira.« »Was ist das?« fragte Fredro. »Ach, die glauben, daß auf jedem Planeten gewisse Monumente existieren – wie die ägyptischen Pyrami den, die Sie erwähnten, oder der Turm der Götter auf Ormazd –, nach deren Abmessungen man die zukünf tige Geschichte des Planeten vorhersagen kann. Sie glauben, daß diese Bauten vor den Anfängen überlie ferter Geschichte von einem Raumfahrervolk errichtet wurden, das die zukünftige Geschichte kannte, weil es sie mittels einer Zeitreise-Einrichtung erleben konnte. Natürlich hat man auf Krishna den Safq für diese Ehre ausersehen. Man läßt diese Leute hier frei herumlaufen und wundert sich dann, warum die Krishni alle Er denmenschen für total verrückt halten.« Fallon sagte: »Nun, ich bin kein Wissenschaftler, Dr. Fredro, doch ich kann kaum annehmen, daß Sie der gleichen ernst nehmen. Ich muß sagen, daß Sie nicht verrückt wirken, zumindest nicht dem Äußeren nach.« »Sicher nicht«, sagte Fredro. »Warum sind Sie dann so scharf darauf, hineinzu
kommen? Sie werden drinnen nichts finden, außer einem Gewirr von Steingängen und Räumen, von de nen einige für die yeshtitischen Kulthandlungen ein gerichtet sind.« »Sehen Sie, Mr. Fallon«, sagte Fredro, »kein ande rer Irdischer ist jemals hineingekommen, und es könnte – hm – Licht auf die Geschichte der KalwmPeriode und der vorhergehenden Periode werfen. Wenn niemand hineingeht, wird der Turm vielleicht zerstört, sobald die hiesige Kultur zusammenbricht.« »Schon gut, alter Knabe. Nicht daß ich etwas gegen Wissenschaft habe, bewahre! Wunderbare Sache und dergleichen.« »Danke«, sagte Fredro. »Aber wenn Sie Ihren Hals aufs Spiel setzen wol len, dann müssen Sie es auf eigene Faust tun.« »Aber, Mr. Fallon ...« »Kein Interesse. Definitiv, absolut, positiv.« »Aber – äh – man erwartet nicht, daß Sie Ihre Dien ste gratis zur Verfügung stellen. Ich habe eine kleine Summe zur Verfügung, die ich nach meinem Belieben zur Beschäftigung einheimischer Hilfskräfte verwen den kann ...« »Sie vergessen«, unterbrach Mjipa scharf, »daß Mr. Fallon trotz seiner Lebensweise kein Krishni ist.« Fredro winkte besänftigend und stammelte: »Ich wollte niemanden kränken, meine Herren ...«
»Sparen Sie sich das«, sagte Fallon. »Ich bin nicht beleidigt. Ich teile Percys Vorurteile gegen die Krishni nicht.« »Ich habe keine Vorurteile«, protestierte Mjipa. »Zu meinen besten Freunden zählen Krishni. Doch eine andere Gattung ist nun einmal eine andere Gattung, und das sollte man sich immer vor Augen halten.« »Das heißt, die anderen sind in Ordnung, solange sie wissen, wohin sie gehören«, sagte Fallon mit bö sem Grinsen. »So hätte ich es zwar nicht gesagt, aber gemeint war es so.« »Wirklich?« »Ja. Verschiedene Rassen einer Gattung mögen im Grunde geistig gleich sein, so wie es auf der Erde ist – aber andere Gattungen sind etwas anderes.« »Aber wir sprechen doch von den Krishni«, sagte Fredro. »Und psychologische Tests haben keine Un terschiede im durchschnittlichen Intelligenzgrad ge zeigt. Oder wenn es Unterschiede der Durchschnitte gibt, so überschneiden sie sich so sehr, daß Durch schnitts-Unterschiede zu vernachlässigen sind.« »Sie mögen Ihren Tests glauben«, sagte Mjipa, »aber ich kenne diese Nichtsnutze seit Jahren, und Sie werden mir nicht einreden, daß sie menschliche Er findungsgabe und Originalität aufweisen.« Fallon sagte lauter: »Aber die Erfindungen, die sie
gemacht haben? Sie haben zum Beispiel eine eigene primitive Kamera entwickelt. Wann haben denn Sie etwas erfunden, Percy?« Mjipa winkte ungeduldig ab. »Alles nach terrani schen Vorbildern kopiert. Lücken in der Blockade.« »Nein«, sagte Fredro. »Das ist es nicht. Die Kamera ist ein Fall von – äh – Reizdiffusion.« »Was?« sagte Mjipa. »Reizdiffusion, ein Begriff des amerikanischen An thropologen Kroeber – vor zweihundert Jahren auf gekommen.« »Was bedeutet das?« fragte Mjipa. »Man hört, daß eine Sache anderswo in Verwen dung ist und entwickelt eine eigene Version, ohne das Ding gesehen zu haben. Auf diese Art haben vor ei nigen Jahrhunderten primitive Terraner die Schrift er funden. Doch verlangt auch das einen gewissen Er findungsgeist.« Mjipa beharrte: »Auch wenn man alles zugibt, was sie behaupten, so unterscheiden sich diese Eingebo renen doch im Temperament von uns. Intelligenz oh ne den Willen, sie auch zu benutzen, tut nichts Gu tes.« »Woher wissen Sie, daß sie anders sind?« fragte Fredro. »Ein Psychologe hat eine große Anzahl Personen getestet und festgestellt, daß ihnen gewisse Formen
irdischen Wahnsinns völlig fehlen, wie zum Beispiel Paranoia ...« Fallon unterbrach ihn: »Hat nicht dieser Trottel Kir Paranoia?« Mjipa zuckte die Achseln. »Nicht mein Gebiet. Doch dieser Kerl hat das behauptet und auch den starken Hang der Krishni zu Hysterie und Sadismus hervorgehoben.« Fredro meinte: »Das hatte ich eigentlich nicht ge meint. Ich habe auf der Erde die Künste und Gewerbe von Krishna studiert, und diese weisen den höchsten Grad an Phantasie und Vielfalt auf – Bildhauerei, Dichtung und solche ...« Fallon, der ein Gähnen unterdrückte, unterbrach ihn: »Würden Sie wohl die Debatte aufschieben, bis ich weg bin? Ich verstehe nicht die Hälfte von dem, was Sie reden ... Na, und wie hoch wäre denn Ihre Entlohnung?« fragte er mehr aus Neugier, als aus der Absicht heraus, das Angebot ernsthaft in Betracht zu ziehen. »Zweieinhalb Karda pro Tag«, entgegnete Fredro. Obwohl das für hiesige Verhältnisse ein hohes An gebot war, so hatte Fallon doch erst vor kurzem die Summe von tausend zurückgewiesen. »Tut mir leid, Dr. Fredro. Kein Geschäft zu machen.« »Möglicherweise könnte ich – könnte ich etwas mehr herausschinden ...«
»Nein, Sir! Nicht einmal für das zehnfache. In den Safq einzudringen haben schon einige versucht und haben immer ein böses Ende gefunden.« »Na«, meinte Mjipa, »Sie sind doch früher oder später ohnehin für ein böses Ende bestimmt.« »Trotzdem ziehe ich es später vor. Wie die Herren wissen, bin ich gern bereit, ein Risiko einzugehen – aber das wäre kein Risiko, sondern tödliche Gewiß heit.« »Hören Sie«, sagte Mjipa, »ich habe Dr. Fredro Hil fe versprochen und Sie sind mir für vergangene Wohltaten einiges schuldig, und ich wünsche in die sem besonderen Fall, daß Sie den Auftrag überneh men.« Fallon warf dem Konsul einen scharfen Blick zu. »Warum besonderen Fall?« Mjipa sagte: »Dr. Fredro, würden Sie uns einige Minuten entschuldigen? Warten Sie hier auf mich. Fallon, kommen Sie.« »Danke«, sagte Fredro. Mit düsterer Miene folgte Fallon Mjipa ins Freie. Als sie ein ungestörtes Plätzchen gefunden hatten, sagte Mjipa leise: »Jetzt kommt die ganze Geschichte. Drei Erdenmenschen sind in den vergangenen drei Jahren aus dem Bereich meiner Jurisdiktion ver schwunden, und ich habe keine Spur von ihnen fin den können. Und dabei handelt es sich nicht um
Männer, die normalerweise in schlechte Gesellschaft geraten und mit durchschnittener Kehle aufgefunden werden.« »Na und?« sagte Fallon. »Falls sie versucht haben, in den Safq zu gelangen, beweist das meinen Stand punkt. Recht geschieht ihnen.« »Ich habe keine Ursache anzunehmen, daß sie ver sucht haben, den Safq zu betreten – aber man hat sie vielleicht hineingeschafft. Jedenfalls würde ich mei ner Pflicht nicht genügen, wenn ich – mit einem sol chen Geheimnis konfrontiert – nicht mit allen Kräften bemüht wäre, hinter das Geheimnis zu kommen.« Fallon schüttelte den Kopf. »Wenn Sie in diese Un geheuerlichkeit eindringen wollen, dann bitte ...« »Wenn nicht meine Hautfarbe wäre, die ich nicht verstecken kann, dann würde ich es tun.« Mjipa faßte nach Fallons Arm. »Deswegen werden Sie, mein lie ber Fallon, hineingehen. Bilden Sie sich das Gegenteil erst gar nicht ein.« »Warum? Damit ich zusammen mit diesen drei verschwundenen Nieten den Vierten zum Bridge ab gebe?« »Um herauszufinden, was passiert ist. Guter Gott, würden Sie denn einen Erdenbruder der Gnade die ser Wilden ausliefern?« »Das hängt davon ab. Einige Terraner sicher.« »Aber einer Ihrer eigenen Art ...«
»Ich«, sagte Fallon, »versuche die Menschen nach ihren individuellen Verdiensten zu beurteilen, ob sie nun Arme oder Stümpfe oder Fühler haben, und das ist meiner Ansicht nach die weitaus zivilisiertere Hal tung als Ihre.« »Nun, dann nehme ich an, daß es keinen Sinn hat, an Ihren Patriotismus zu appellieren. Wenn Sie aber nach der nächsten Zehn-Nacht wegen ihrer Verlängerungs-Dosis kommen, dürfen Sie sich nicht wundern, wenn mir gerade der Vorrat ausgegangen ist.« »Die verschaffe ich mir auf dem Schwarzen Markt, wenn es sein muß.« Mjipa sah Fallon mit tödlichem Ernst an. »Und wie lange würden Sie wohl Ihre Lebensverlängerung ge nießen dürfen, wenn ich Chabarian stecke, daß Sie für den Kamuran von Qaath spionieren?« »Ich – ich weiß nicht, wovon Sie reden«, erwiderte Fallon, während eisige Furcht sein Rückgrat entlang lief. »Oh, doch, Sie wissen es. Und glauben Sie ja nicht, ich würde es ihm nicht erzählen.« »Also ... trotz Ihres edlen Geredes würden Sie einen Erdenbruder an die Krishni verraten?« »Gern tue ich es nicht, aber Sie lassen mir keine ande re Wahl. Sie stellen für die menschliche Rasse, so wie Sie jetzt sind, kein großes Plus dar – sie setzen unser Presti ge in den Augen der Eingeborenen herab.«
»Warum geben Sie sich dann überhaupt mit mir ab?« »Weil Sie, mit all Ihren Fehlern, genau der Mann für eine solche Aufgabe sind. Und ich würde nicht zögern, Sie dazu zu zwingen.« »Wie komme ich ohne Verkleidung da überhaupt hinein?« »Die werde ich besorgen. Also, jetzt gehe ich zu rück ins Zelt, entweder um Fredro zu sagen, daß Sie einverstanden sind, oder um Kirs Minister von Ihren Zusammenkünften mit dieser Schlange, diesem Qais von Babaal, zu berichten. Was also soll ich sagen?« Fallon sah mit seinen blutunterlaufenen Augen den Konsul an. »Könnten Sie mich mit einigen Informatio nen im voraus versorgen? Mit einem Grundriß zum Beispiel, oder dem Textbuch der Riten des Yesht?« »Nein. Ich glaube, die Neophilosophen kennen das Innere des Baues, oder glauben es zu kennen – doch ich kenne keine Anhänger dieses Kultes in Balhib. Sie müssen diese Fakten schon selbst ausgraben. Na?« Fallon wartete einen Augenblick. Als er merkte, daß Mjipa wieder etwas sagen wollte, meinte er: »Ach, zum Teufel. Sie haben gewonnen, verdammt nochmal. Jetzt zu den Fakten. Wer sind diese drei ab gängigen Erdenmenschen?« »Da war Lavrenti Botkin, der bekannte populär wissenschaftliche Autor. Eines Abends wollte er ei
nen Spaziergang auf der Stadtmauer machen und ist nie zurückgekehrt.« »Ich habe damals etwas in der Rashm darüber gele sen. Weiter.« »Weiter Candido Soares, ein Ingenieur aus Brasili en, und Adam Daly, ein amerikanischer Fabriksdirek tor.« Fallon fragte: »Fällt Ihnen etwas an diesen Berufen auf?« »Es handelt sich im gewissen Sinn bei allen um Techniker.« »Wäre es nicht möglich, daß jemand versucht, Wis senschaftler und Techniker zu sammeln, damit sie moderne Waffen konstruieren? Probiert hat man es schon, das wissen Sie.« »Daran habe ich selbst auch gedacht. Wenn ich mich recht erinnere«, sagte Mjipa, »haben Sie selbst etwas Ähnliches versucht.« »Na, na, Percy, lassen Sie Vergangenes ruhen.« Mjipa fuhr fort: »Doch das war damals, bevor uns die pseudohypnotische Behandlung von Saint-Remy zu gänglich war. Wenn man die bloß einige Jahrzehnte früher entwickelt hätte ... Diese drei Menschen könnten ihr Wissen genausowenig weitergeben – sogar unter Folter – wie Sie oder ich. Das wissen die Eingeborenen. Wenn wir die Vermißten finden, werden wir zweifellos auch den Grund für die Entführung erfahren.«
3
Der lange Tag auf Krishna ging zu Ende. Als Antho ny Fallon seine Haustür öffnete, bekam sein Gehabe etwas Verstohlenes. Er schlüpfte heimlich ins Haus, legte leise den Schwertgürtel ab und hängte ihn an die Garderobe. Einen Augenblick lang blieb er stehen und spitzte die Ohren. Dann ging er auf Zehenspitzen in den Hauptraum. Von einem Bord nahm er zwei kleine Gläser aus Naturkristall, Produkt der geschickten Finger der Künstler vom Majbur. Sie waren tatsäch lich die einzigen Gegenstände von einigem Wert in dem kleinen schäbigen Wohn-Eßraum. Fallon hatte sie während einer seiner seltenen Perioden des Über flusses erworben. Fallon entkorkte eine Flasche (den Krishni war die glückliche Errungenschaft des Schraubverschlusses noch nicht bekannt) und schenkte sich reichlich Kvad ein. Beim Glucksen der Flüssigkeit ertönte eine weib liche Krishnistimme aus der Küche: »Antane?« »Ja, ich bin es, meine Liebe«, sagte Fallon auf Bal hibou. »Heimgekehrt ist der Held ...« »Da wärst du also! Hoffentlich hat sich dein nutz loses Ich beim Fest richtig amüsiert. Bei Anerik dem Erleuchter – ich könnte ebensogut eine Sklavin sein,
gemessen an den Vergnügungen, die mir zuteil wer den!« »Also, Gazi, meine Liebe, ich habe dir schon oft ge sagt ...« »Natürlich hast du mir gesagt! Aber muß ich denn solches Geschwätz glauben? Für wie dumm hältst du mich eigentlich? Warum ich dich je als Jagain akzep tiert habe, weiß ich nicht.« Zur Verteidigung angestachelt, fuhr Fallon sie an: »Weil du eine bruderlose Frau ohne eigenes Heim warst. Jetzt hör mit deinem Gejammer auf, komm herein und trink einen mit mir! Ich muß dir etwas zeigen.« »Du Zaft!« begann die Frau wieder und sagte dann, als sie die Bedeutung seiner Worte erfaßt hatte: »Ach, in diesem Fall komme ich sofort.« Der Vorhang zur Küche teilte sich, und Fallons Ja gaini trat ein. Sie war eine große, kräftig gebaute Krishni, nach örtlichen Begriffen hübsch und attrak tiv. Ihre Beziehung zu Fallon war nicht die einer Ge liebten oder einer Ehefrau, sondern eine Mischung aus beidem. Denn in Balhib war die Ehe nicht üblich und wäre von einem Volk von Kriegern – das sie in vergange nen Jahrhunderten gewesen waren – für unpraktisch gehalten worden. Statt dessen lebte jede Frau bei ei nem ihrer Brüder und wurde in Intervallen von ihrem
Jagain besucht – eine freiwillige Verbindung, die nach Belieben lösbar, während ihres Bestehens jedoch aus schließlich war. Inzwischen zog der Bruder die Kin der auf. Daher nannten sich die Menschen in Balhib nicht nach dem Vaternamen wie die anderen Völker Varastos, sondern nach dem Namen des Oheims müt terlicherseits, der sie aufgezogen hatte. Gazis voller Name lautete Gazi er-Doukh, Gazi, die Nichte Doukhs. Eine Frau, die bei ihrem Jagain lebte, wurde als unglücklich angesehen und galt als deklassiert. Als Fallon Gazi ansah, fragte er sich, ob er sehr klug gehandelt hatte, als er Krishna zum Schauplatz seines außerterrestrischen Wirkens gemacht hatte. Warum verließ er sie nicht? Sie konnte ihn nicht hal ten. Doch sie war eine gute Köchin. Und er hatte sie irgendwie gern ... Fallon hob das Glas, das er für sie eingeschenkt hatte. Sie nahm es und sagte: »Es ist mir willkommen, aber ich schätze, du hast den Rest unseres Haushalts geldes dafür ausgegeben.« Fallon zog die Geldtasche hervor, die an seinem Gürtel hing, und zeigte die Goldstücke, die er von Qais bekommen hatte. Gazis Augen wurden groß: Sie wollte hastig danach fassen. Fallon nahm die Hand mit dem Geld zurück und reichte ihr dann lachend zwei Zehn-Kard-Stücke. Den Rest steckte er in die Geldtasche zurück.
»Das wird uns einige Zehn-Nächte ernähren«, sag te er. »Wenn du mehr brauchst, dann komm zu mir!« »Bakhan«, murmelte sie. Sie ließ sich in einen Ses sel sinken und trank. »Wie ich dich kenne, ist es nicht sinnvoll, dich zu fragen, woher du das hast.« »Überhaupt nicht«, erwiderte er fröhlich. »Eines Tages wirst du ja doch merken, daß ich nie übers Ge schäft rede. Das ist einer der Gründe, warum ich noch am Leben bin.« »Ein übles, unwürdiges Geschäft, dessen bin ich si cher.« »Es ernährt uns. Was gibt's zum Essen?« »Unhakoteletts mit Badr, und als Nachtisch Tunest. Ist dein geheimnisvolles Geschäft für heute beendet?« »Ich glaube«, entgegnete er vorsichtig. »Was hindert dich also daran, mich heute abend zum Fest zu führen? Es gibt ein Feuerwerk und Schaukämpfe.« »Tut mir leid, meine Liebe, du vergißt, daß ich heu te nacht Wache schieben muß.« »Immer ist etwas!« Sie starrte düster in ihr Glas. »Was habe ich den Göttern getan, daß sie mich mit solcher Tücke verfolgen?« »Trink noch einen, und du wirst dich gleich besser fühlen. Eines Tages, wenn ich meinen Thron wieder habe ...« »Wie lange höre ich schon diese Leier?«
»... wenn ich meinen Thron wiederhabe, wird es Vergnügen und Spiele genug geben. Inzwischen geht aber das Geschäft dem Vergnügen vor.« Die dritte Abteilung der Juru-Kompanie der Bürger wehr (oder Stadtwache) von Zanid war bereits ange treten, als Fallon im Arsenal eintraf. Er nahm seine Hellebarde vom Ständer und reihte sich ein. Wie Fallon zu Mijapa gesagt hatte, wäre es sinnlos gewesen, die Juru-Kompanie bei einer Parade einzu setzen. Der Juru-Bezirk wurde größtenteils von mit tellosen Nicht-Krishni bewohnt und der Niederschlag dieses Bezirkes in der Wache ergab eine Musterkol lektion von allen Planeten des Erdentyps, welche in telligente Bewohner hatten. Neben den Krishni gab es da verschiedene andere Menschentypen: Weems, Ki sari, Nunez, Ramanandi und so fort. Es gab zwölf Osirianer und dreizehn Thothianer. Auch ein Thoria ner (nicht zu verwechseln mit den Thothianern) war vertreten – er ähnelte einem Vogel Strauß mit Armen statt Flügeln. Dann war da ein Isidier – eine achtfüßi ge alptraumhafte Kreuzung zwischen Elefant und Dachshund. Und viele andere, deren Gestalt und Ur sprung noch seltsamer waren. Vor dem Wach-Zug stand der gutgebaute Oberst Kordaq er-Gilan von der regulären Armee Balhibs und runzelte die Stirn unter seinem Helm. Fallon wußte,
warum Kordaq in düsterer Stimmung war. Der Oberst war ein gewissenhafter, pingeliger Soldat, der am lieb sten eine Bürgerwehr-Kompanie zu maschinenartiger Präzision und Uniformität geprügelt hätte. Doch wel che Art von Uniformität konnte man von einer derart heterogenen Mannschaft erwarten? Sogar der Versuch, sie in Uniformen zu stecken, war sinnlos. Die Thothia ner behaupteten, Kleider über ihrem Fell würden sie er sticken, und kein Schneider in Balhib hätte es unter nommen, für den Isidier einen Anzug zuzuschneiden. »Zuhoi!« rief Oberst Kordaq und die bunte Reihe nahm eine Art Habachtstellung ein. Der Oberst schnarrte: »Am nächsten Fünf-Tag, in der Stunde, wenn die roten Strahlen von Roquir sich auf die westliche Ebene ergießen, findet dort eine Kampfübung statt. Wir bringen ...« Er zeigte bis zu einem übertriebenen Grad die Nei gung der Krishni, seine Rede – auch die einfachsten Äußerungen – in schwülstigen Stil zu kleiden. An dieser Stelle aber wurde er von einem lauten Stöhnen seiner Kompanie unterbrochen. »Weshalb jammert ihr müden Nullen wie ein alter Baum im Sturm?« rief der Oberst. »Nach euren Äuße rungen zu schließen, möchte man meinen, ihr solltet unter Androhung gräßlicher Foltern einen Shan mit einem Staubwedel töten!« »Kampfübung!« stöhnte Savaich, der dicke Knei
penwirt aus der Shimad Straße und ältester Zugfüh rer der Kompanie. »Welchen Sinn soll das haben? Ihr wißt sehr gut, daß sein berittener Junga die ganze Kompanie mit wenigen Bogenschüssen vernichten könnte, so wie Qarar die Feinde Dupulans zerstreut hat. Warum also diese alberne Soldatenspielerei?« Junga war der Name, mit dem die Bahibos die Steppenbewohner des Westens, das wilde Volk von Qaath, Dhaukia oder Yeramis bezeichneten. Kordaq sagte: »Schande, Meister Savaich, daß kei ner unseres kriegerischen Volkes so feig sprechen kann! Es ist der ausdrückliche Befehl des Ministers. Alle Kompanien der Bürgerwehr sollen Waffenübun gen abhalten.« »Ich trete zurück«, murmelte Savaich. »Rücktrittsgesuche werden nicht angenommen. Feigling!« Kordaq senkte vertraulich seine Stimme. »Das muß zwischen uns bleiben. Der Wind hat aus den Steppen ein Gerücht hereingeweht, das besagt: der Staat des Westens ist in der Tat heimtückisch und bedrohlich. Der Kamuran von Qaath – Yesht möge bewirken, daß ihm die Augen ausfallen! – hat seine Stammestruppen mobilisiert und manövriert in sei nem ganzen großen Reich bald da hin, bald dort hin.« Er sprach ›Qaath‹ wie ›Qasf‹ aus, denn die Sprache der Bahibos kennt keine Dentallaute.
»Er kann uns nicht angreifen!« sagte Savaich. »Wir haben nichts getan, um ihn zu provozieren und au ßerdem hat er es im Vertrag, der nach der Schlacht von Tajrosch geschlossen wurde, gelobt!« Kordaq stieß einen übertriebenen Seufzer aus. »Das – du altes Fettfaß – haben die guten Leute von Jo'ol und Suria und Dhaukia und andere auch geglaubt, und noch viele andere Völker, die ich aufzählen könnte, wenn ich heute abend nichts anderes zu tun hätte, als mich herumzustreiten. Jedenfalls lauten die Befehle nun einmal so. Also – auf! Macht euch auf zu euren Runden und laßt euch nicht durch den Duft des Wein ladens oder die Verlockungen der Mädchen von der ra schen Ausführung der euch übertragenen Aufgaben abbringen. Haltet Ausschau nach Dieben, die sogar die Gongs von den Türen der Bürger stehlen. Diese Dieb stähle sind zu einer Landplage angewachsen, seitdem die Vorbereitungen für den blutigen Streit die Metallpreise in die Höhe getrieben haben! Meister Antane! Ihr führt Eure Leute in den östli chen Teil des Bezirkes, umkreist den Safq und kehrt über die Barfur Straße zurück. Gebt besonders acht in den schmalen Gäßchen beim Brunnen von Qarar. In letzter Zeit hat es dort drei Raubüberfälle und einen gräßlichen Mord gegeben: Schande und Schmach für die tugendhafte Achtsamkeit der Truppe. Meister Mokku, Ihr werdet ...«
Nachdem jede Abteilung ihre Anweisungen erhal ten hatte, löste sich die Truppe auf, und die Wachen verschwanden in der Nacht mit gezückten Hellebar den. Die Männer hatten sich gegen die Kälte in dicke gesteppte Übertuniken gehüllt. Denn während die Jahreszeiten auf Krishna weniger ausgeprägt sind als auf der Erde, sind die täglichen Temperaturunterschiede beträchtlich, besonders in einem Steppenge biet, wie es jenes ist, auf dem sich Zanid erhebt. Fallons Abteilung umfaßte außer ihm drei Perso nen: zwei Krishni und einen Osirianer. Es war unüb lich, daß Nicht-Krishni zu Offizieren aufrückten, doch die poly-ethnische Juru-Kompanie hatte auch hier ihre eigenen Regeln. Daß man ihn in den Bezirk geschickt hatte, in dem der Safq lag, paßte Fallon ausgezeichnet. Die Abtei lung bewegte sich durch eine Gasse auf die Ya'fal Straße und zog auf dieser Hauptverkehrsader weiter – je zwei Mann auf jeder Seite – und spähte in Torein fahrten nach Anzeichen von Einbruch oder anderen Ungesetzlichkeiten. Die zwei größten der drei Monde Krishnas, Karrim und Golnaz, sorgten für eine Be leuchtung, die, obwohl schwach, doch ausreichend war, da sie vom Licht der kleinen Feuer ergänzt wur de, die in Eisenpfannen an den wichtigsten Kreuzun gen brannten. Einmal begegnete die Abteilung dem von einem Shaihan gezogenen Wagen, der jede Nacht
die Runde durch die Stadt machte und Brennstoff in die Behälter nachfüllte. Fallon hatte gerüchtweise gehört, daß der Plan, statt dieser Feuerschalen die viel wirksameren Bitu menlampen einzuführen, von einem Magnaten blok kiert worden war, der Brennholz nach Zanid lieferte. Hin und wieder machten Fallon und seine Männer halt, wenn Geräusche aus dem Innern der Häuser ih re Aufmerksamkeit erregten. Einer dieser Tumulte war eindeutig der Streit einer Frau mit ihrem Jagain. An anderer Stelle sorgte eine Gesellschaft von Trun kenbolden für Lärm. An ihrem östlichen Ende macht die Ya'fal Straße eine scharfe Biegung, ehe sie in den Qarar Platz mün det. Als Fallon sich dieser Biegung näherte, hörte er Lärm vom Platz her. Die Abteilung beschleunigte den Schritt und bog um die Ecke. Sie sahen um den Brun nen eine Schar von Krishni und andere, die davonlie fen. Der Platz des Qarar (oder Garar in der Sprache der Balhibos) war nicht rechteckig, sondern ein längliches unregelmäßiges Vieleck. An einem Ende lag der Brunnen des Qarar, aus dessen Mitte die Statue des herakläischen Helden im Mondschein über den Häuptern der Schar aufragte. Der Bildhauer hatte Qa rar dargestellt, wie er ein Ungeheuer mit Füßen tritt, ein anderes mit einer Hand erdrosselt, während er
mit der anderen eine seiner zahlreichen Geliebten umfängt. Am anderen Ende des Platzes erhob sich die Gruft König Balades, die von einer Statue des Königs überragt wurde, der in nachdenklicher Haltung ver ewigt worden war. Inmitten der Schar ertönte Stahlgeklirr, und im Licht der Monde blitzten Klingen auf, die über den Köpfen der Gruppe geschwungen wurden. Aus der Menge konnte Fallon ab und zu einen Satz auffangen. »Spuck auf den dreckigen Yeshtiten!« »Achtung, der Gegenhieb!« »Sei auf der Hut!« »Kommt«, sagte Fallon, und die vier gingen mit ge senkten Hellebarden vor. »Die Wache!« gellte eine Stimme. Mit erstaunlicher Schnelligkeit löste sich die Schar auf; die Kampfhähne liefen nach allen Richtungen da von und verschwanden in Seitenstraßen und Gassen. »Ergreift ein paar Zeugen!« rief Fallon und lief auf den Brennpunkt nächtlicher Ruhestörung zu. Er hatte nämlich, als die Gruppe auseinandergelau fen war, gesehen, daß zwei Krishni neben dem Brun nen mit Schwertern gegeneinander fochten – es wa ren die schweren, geraden Hieb- und Stichwaffen der Varasto-Völker. Aus dem Augenwinkel sah Fallon noch, daß Quone, einer seiner Krishni, mit dem Haken seiner Helle barde einen der Flüchtenden das Bein wegzog und
sich dann auf sein Opfer stürzte. Fallon selbst wollte die zwei Kämpfer entwaffnen. Bevor er jedoch hinkam, blickte sich einer der bei den, von den Vorgängen abgelenkt, um und ließ da bei seinen Gegner kurz aus den Augen. Letzterer schlug sofort das Schwert seines Gegners mit einem gewaltigen Hieb aus dessen Hand. Dann sprang er vor und schlug mit seiner Klinge auf den Kopf des anderen ein. Ein Kopf geht jetzt in die Binsen, dachte Fallon. Der getroffene Krishni fiel rücklings aufs Pflaster. Sein Angreifer machte einen Schritt vorwärts, um ihm das Schwert in den Leib zu bohren. Der Todesstoß wurde von Fallon abgefangen, der die Klinge nach oben schlug. Mit einem Wutschrei wollte sich der Angreifer auf Fallon stürzen, der von dem mörderischen, rück sichtslosen Angriff zurückgedrängt wurde. Doch Ci sasa, der Osirianer, packte den Kerl mit seinen schuppigen Armen um die Mitte und schleuderte ihn in den Brunnen. Platsch! In diesem Augenblick erschien Qone, einen Betei ligten am Krawall hinter sich herschleppend. Als der untergetauchte Duellant, einem Meeresgott gleich, aus den Wassern des Brunnens auftauchte, packte Ci sasa ihn abermals und schüttelte ihn solange, bis ihm die Kampfeslust vergangen war.
»Der da iss petrunken«, zischte der Osirianer. Jetzt erschien auch der letzte Wächter. Er keuchte und wies auf eine Jacke, die an der Spitze seiner Hel lebarde baumelte. »Der Kerl hat sich meinem Zugriff entzogen, muß ich leider sagen.« Fallon beugte sich über den Schwertkämpfer auf dem Pflaster, der plötzlich aufstöhnte, sich aufsetzte und mit den Händen nach seinem blutigen Kopf griff. Eine Untersuchung erwies, daß die Falten seines Tur bans den Hieb gedämpft und dessen Wirkung gemil dert hatten. Fallon half dem verwundeten Krishni auf die Beine und sagte: »Der da ist auch betrunken. Was sagt der Zeuge?« »Ich habe alles gesehen!« rief der Zeuge. »Warum habt ihr mich gefesselt? Ich wäre freiwillig gekom men. Ich stehe immer auf der Seite des Gesetzes!« »Ich weiß«, sagte Fallon. »Es war bloß eine optische Täuschung, daß du weggelaufen bist. Erzähl uns dei ne Geschichte.« »Also – der mit dem angeschlagenen Schädel ist ein Yeshtiter und der andere ein Anhänger eines neuen Kultes, der sich Technika Krishna nennt. Sie began nen in der Taverne Rajzuns einen Disput. Der Krishni behauptete, daß das Böse nicht existiere und daß da her der Safq und der Tempel des Yesht darin nicht Wirklichkeit wären und auch nicht die Anbeter des
Yesht. Nun, dieser Yeshtiter war offensichtlich eine Ausnahme und griff an ...« »Er lügt!« sagte der Yeshtiter. »Ich habe kein her ausforderndes Wort gesagt und mich nur gegen den schurkischen Angriff dieses erbärmlichen Gauners verteidigt ...« Der ›erbärmliche Gauner‹, unterbrach ihn, nach dem er das Wasser aus seiner Luftröhre gehustet hat te und rief: »Selbst ein Lügner! Er hat mir einen Krug voll Wein ins Gesicht geschleudert. Wenn das keine Herausforderung ist ...« »Das war nur ein sanfter Beweis meiner wirklichen Existenz, du Sohn Myandes, des Abscheulichen!« Der Yeshtiter, über dessen Gesicht dunkel das Blut lief, sah Fallon blinzelnd an und ergoß nun seinen ganzen Zorn über den Erdenmann. »Eine terranische Kreatur, die einen loyalen Balhibu in seiner eigenen Haupt stadt Befehle erteilt! Warum geht ihr nicht auf euren verdammten Planeten zurück, von dem ihr gekom men seid? Warum verderbt ihr unseren Väterglauben mit üblen umstürzlerischen Irrlehren?« »Ihr drei, schafft diesen Theologen und seinen Freund zum Haus des Gerichtes!« befahl Fallon. »Sehr wohl«, antworteten die Wachen. »Also schafft sie hin. Ich werde mich rechtzeitig im Arsenal zur zweiten Runde einfinden.« »Warum nehmt ihr mich mit?« jammerte der Zeu
ge. »Ich bin doch ein anständiger, gesetzestreuer Bür ger. Ich kann jederzeit vorgeladen werden ...« Fallon erwiderte: »Wenn Sie sich vor Gericht aus weisen können, läßt man Sie vielleicht laufen.« Fallon sah der Prozession nach, die dem Qarar Platz den Rücken kehrte. Die Ketten der Gefangenen klirrten. Er war froh, daß er nicht mitgehen mußte. Es war ein Marsch von reichlich zwei Hoda und öffentli che Verkehrsmittel verkehrten um diese Zeit nicht mehr. Überdies war er froh, daß sich ihm die Möglichkeit bot, den Safq selbst zu besuchen. Das konnte er in seiner offiziellen Funktion um so unauffälliger tun. Und das ohne seine Kameraden absolvieren zu kön nen, war noch besser. Bis jetzt war ihm das Glück hold gewesen. Anthony Fallon schulterte seine Pike und wandte sich nach Osten. Ein paar Häuserblocks erschien die Spitze des Safq über den Dächern der dazwischenlie genden Häuser. Das Bauwerk lag knapp jenseits der Grenze, die den Juru-Bezirk vom Bacha-Bezirk trenn te, in welchem fast alle übrigen Tempel von Zanid la gen. Religion war Angelegenheit der Bacha, so wie das Handwerk Sache der Izandu war. Das Balhibo-Wort Safq umfaßt alle Geschöpfe aus der Familie der kleinen wirbellosen Tiere auf Krishna, sowohl Wasser- als auch Landtiere. Ein gewöhnlicher
Land-Safq sieht manchmal wie eine terranische Schnecke aus und hat eine Spiralmuschel – doch an statt auf einem selbsterzeugten Schleimteppich da hinzugleiten, bewegt er sich auf Myriaden kleiner Füße fort. Der Safq selbst war ein mächtiger konischer Stufen turm aus handbehauenen Jadeit-Blöcken, über hun dertfünfzig Meter hoch, mit Spiralkanellierungen, in offensichtlicher Nachbildung des Gehäuses eines le benden Safq. Sein Ursprung verlor sich in den endlo sen Gängen der Geschichte des Planeten Krishna. Während der Zeit der Stadtstaaten, die der Vernich tung des Reiches der Kalwm durch die einst barbari schen Varastuma erfolgte, war die Stadt Zanid um den Safq herum entstanden. Sie hatte sich damals so dicht an ihn geschmiegt, daß man ihn nur aus der Entfernung sehen konnte. König Kirs großer Vorgän ger König Balade hatte die Häuser um den monu mentalen Bau entfernen und an ihrer Stelle einen kleinen Park anlegen lassen. Fallon betrat diesen Park und wanderte langsam um den riesigen Umfang des Safq. Dabei spitzte er die Ohren und versuchte, den Bau mit den Blicken zu durchdringen, als könne er durch reine Willenskraft durch den Stein hindurchsehen. Dazu bedurfte es aber mehr als nur eines Augen paares. Während der letzten Jahrtausende hatten vie
le Plünderer versucht, in das Bauwerk einzudringen, doch waren sie an der Härte des Jadeits gescheitert. Soweit die historischen Berichte zurückreichten, hat ten die Priester des Yesht den Safq in Besitz gehabt. Doch war der Safq nicht der einzige Bau, der dem Yesht-Kult diente. Es gab noch kleinere Tempel in Lussar, Malmaj und anderen kleinen Städten Balhi bos. Und hinter dem Park, gegen Osten hin, konnte Fallon den Zwiebelturm der Kapelle des Yesht erken nen. Diese wurde für Gottesdienste verwendet, zu denen die breite Öffentlichkeit zugelassen war. Dort wurden Kurse für den Unterricht angehender Kon vertiten und ähnliche Veranstaltungen abgehalten. In ihre Hauptfestung jedoch ließen die Priester des Yesht die Laien nur zu besonderen Anlässen ein – und auch dann nur bewährte und angesehene Mit glieder der Sekte. Fallon erreichte den Eingang. Er glich der Öffnung eines lebenden Safq. Im Lichte Karrims sah Fallon die gewaltigen Bronzetüren, die sich, wenn man den Ge rüchten Glauben schenken durfte, auf Kugellagern aus Juwelen bewegten. Noch immer konnte man auf den Toren die Spuren des vergeblichen Angriffs der Krieger von Ruz sehen, der vor Hunderten von Krishna-Jahren stattgefunden hatte. Neben diesen Türen fesselte etwas Weißes Fallons Blick. Er ging näher heran. Aus dem Inneren war kein
Geräusch zu vernehmen, bis Fallon das Ohr an die kühle Bronze des Portals drückte. Jetzt hörte er etwas: ein schwaches Klopfen oder Schlagen in rhythmi schen Wiederholungen. Es war durch die Entfernung und die Stärke des Mauerwerks zu gedämpft, als daß Fallon hätte unterscheiden können, ob es das Ge räusch einer Trommel, eines Gongs oder der Schlag auf einen Amboß war. Nach einer Weile verstummte es und setzte dann wieder ein. Fallon riß sich von diesem Rätsel los, dessen Lö sung sich zweifellos ergeben würde, wenn er erst im Innern des Safq war. Statt dessen widmete er sich dem weißen Ding: einer Anzahl weißer Bögen aus einheimischem Papier, die mit Dornen des OulafBusches am Anschlagbrett des Tempels befestigt wa ren. Ganz oben auf der Tafel erschienen die Worte DAKHT VA'YESHT ZANIDO! (Kathedrale Yeshts in Zanid). Obwohl Fallon im Lesen des Balhibu nicht sehr geübt war, konnte er die Inschrift entziffern. Das Wort Yesht war leicht zu erkennen, denn im BalhiboDruck sah es aus wie OU62, von rechts nach links ge lesen. Er strengte seine Augen an, um die Schrift auf den Papierbögen entziffern zu können. Der größte von ihnen verkündete den Ablauf des Gottesdienstpro gramms. Das darunter Gedruckte konnte Fallon trotz der Helligkeit des doppelten Mondlichtes nicht lesen.
Wäre er jünger gewesen, dachte er insgeheim, hätte er es erkennen können. Schließlich zog er seinen Zigar renanzünder heraus und ließ die Flamme aufschnap pen. Er neigte sich vor, zog Papier und Bleistift heraus und schrieb die Worte ab.
4
Als Anthony Fallon das Hauptquartier betrat, saß Oberst Kordaq an seinem Schreibtisch. Sein Helm stand auf dem Boden neben ihm. Auf der Nase saß eine schwarzgefaßte Brille. Der Oberst schrieb im Licht seiner Lampe. Er brachte eben die Kompaniebe richte auf letzten Stand und sah über den Brillenrand hinweg Fallon an. »Heil, Meister Antane! Wo ist Eure Abteilung?« Fallon erstattete Bericht. »Gut, ausgezeichnet, Sir. Sie haben überragendes Können bewiesen, würdig gar eines Qarar. Steht be quem.« Der Oberst nahm einen Krug und goß sich eine zweite Tasse Shurab ein. »Meister Antane, seid Ihr nicht Jagain der Gazi er-Doukh?« »Ja. Woher wißt Ihr das?« »Ihr habt einmal eine Bemerkung gemacht.« »Kennt Ihr sie etwa auch?« Kordaq seufzte. »Ja. Früher einmal habe ich Eure jetzige Position bei ihr ersehnt. Ich brannte vor Lei denschaft wie ein Lavasee, doch ehe ich etwas er reichte, wurde ihr einziger Bruder getötet, und ich verlor den Kontakt mit ihr. Darf ich eines Tages Eure Gastfreundschaft in Anspruch nehmen, um eine alte Bekanntschaft zu erneuern?«
»Natürlich, jederzeit. Es wird mich freuen, wenn Ihr uns besucht.« Fallon sah zur Tür, als seine Abteilung hereinkam, um zu berichten, daß sie die Gefangenen und den Zeugen im Gerichtsgebäude abgeliefert hätten. Er sagte: »Jungs, laßt einen Moment eure müden Kno chen ausruhen, bevor wir wieder hinausgehen!« Die Abteilung setzte sich und trank Shurab. Dann kam eine zweite Abteilung von ihrer Runde zurück, und Kordaq gab den Leuten Fallons die Instruktionen für die nächste Runde: »Geht zuerst durch die Barfur Straße, dann nach Süden entlang der Grenze von Dumu. Chillans Gaunerbande macht den Ostteil des Dumu unsicher ...« Der Dumu, südlichster Bezirk von Zanid, war als der Diebesschlupfwinkel der Stadt berüchtigt. Die Bewohner anderer Bezirke hatten den Vorwurf geäu ßert, daß die Verbrecher die Wache dieses Bezirkes bestochen hätten, um in aller Ruhe arbeiten zu kön nen. Die Bürgerwehr hatte diese Anklage natürlich zurückgewiesen und dem entgegengehalten, daß sie nicht genügend Leute hätte. Fallons Abteilung war von der Barfur Straße abgebo gen und ging jetzt eine stinkende Gasse entlang, die sich im Zick-Zack-Kurs zur Bezirksgrenze hin zog, als ein Geräusch von vorn Fallon innehalten ließ. Dann
wies er seine Leute an, mit äußerster Vorsicht weiter zugehen. Als er um eine Ecke lugte, sah er, daß ein Bürger von drei verdächtigen Typen mit dem Rücken gegen eine Mauer gedrängt wurde. Einer hielt das Opfer mit einer Armbrustpistole in Schach, der zwei te bedrohte ihn mit einem Schwert, und der dritte er leichterte ihn um Börse und Ringe. Hier bot sich eine seltene Gelegenheit. Meist hatte eine Abteilung der Wache am Tatort nur das Opfer vorgefunden – entweder tot auf dem Pflaster oder le bendig, dabei die Rechtsunsicherheit in der Stadt be jammernd. Da Fallon wußte, die Verbrecher würden, wenn er sie jetzt angriff, sofort in Häusern und Gassen verschwin den, ehe er ihrer habhaft werden konnte, flüsterte er Ci sasa zu: »Lauf rechts um diesen kleinen Häuserblock und faß sie von der anderen Seite. Aber beeil dich. So bald wir dich kommen sehen, rücken wir vor.« Cisasa verschwand wie ein Schatten. Fallon hörte das leise Klappern der Klauen des Osirianers auf dem Pflaster, als der Dinosaurier sich schnell wie der Wind auf den Weg machte. Fallon wußte, daß Cisasa zwei normale Erdenmenschen oder Krishni überho len konnte, sonst hätte er ihn gar nicht erst losge schickt. Denn der Überfall würde vorüber sein, bis ein Mensch den Block umrundet hatte. Das Klick-Klick der Krallen war jetzt wieder zu hö
ren, diesmal von vorn. Cisasa bog um eine Ecke und lief mit Riesenschritten auf die Räuber zu. »Los!« sag te Fallon. Beim Geräusch der Schritte drehten sich die Wege lagerer hastig herum. Fallon hörte, wie die Armbrust »Schnipp« machte, doch in der Dunkelheit konnte er nicht unterscheiden, auf wen man geschossen hatte. Es gab auch kein Anzeichen dafür, daß der Bolzen jemanden getroffen hatte. Die Räuber suchten Deckung. Cisasa setzte zu ei nem Riesensprung an, landete mit seinen Vogelbei nen auf dem Rücken des Armbrustschützen und warf ihn um, so daß er ausgestreckt mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden zu liegen kam. Der große dünne Räuber mit dem Schwert kam in einem Augenblick erster Verwirrung auf Fallon zuge laufen und blieb sodann schlitternd stehen. Fallon stieß mit seiner Hellebarde nach dem Kerl, hörte das Klirren von Stahl und spürte einen Schlag auf dem Schaft, als der Räuber parierte. Fallons zwei Krishni liefen dem Burschen nach, der das Opfer bestohlen hatte und der an Cisasa vorbei in einer Gasse ver schwinden wollte. Fallon hieb und parierte mit seiner Hellebarde und gewann an Boden. Dabei gab er acht, daß sein Gegner nicht mit der freien Hand nach dem Schaft griff und ihm auf diese Art ganz dicht auf den Pelz rücken
konnte. Er hatte Glück und konnte auf dem Schwertarm des anderen einen saftigen Hieb landen. Das Schwert klirrte aufs Pflaster, und der Mann drehte sich um und fing zu laufen an. Fallon sah, daß er nur geringe Chancen hatte, den langbeinigen Schurken bei einer Verfolgungsjagd einzuholen, und schleuder te seine Pike wie einen Speer. Die Spitze traf den Kerl zwischen den Schulterblättern. Der Räuber lief ein paar Schritte mit der im Rücken steckenden Waffe weiter. Er taumelte und fiel hin. Fallon lief ihm nach und zog sein Schwert. Doch als er den Räuber eingeholt hatte, lag dieser mit dem Ge sicht nach unten da und hustete Blut. Die zwei Krish ni der Wachabteilung tauchten wieder aus der Gasse auf, in der sie den dritten Dieb verfolgt hatten, und verwünschten den Kerl, weil er ihnen entwischt war. Sie hatten die Börse des Überfallenen sichergestellt, die der Wegelagerer hatte fallen lassen, jedoch nicht die geraubten Ringe. Der Roqir ging rot über den Dachgiebeln von Za nid auf, als Anthony Fallon und seine Abteilung von ihrer letzten Runde ins Arsenal zurückkehrten. Sie stellten ihre Piken in den Ständer und nahmen in Reih und Glied Aufstellung, um ihren Pro-FormaSold in Empfang zu nehmen, den ihnen der Stadtprä fekt für ihre Dienste auszahlen ließ. »Für heute Schluß. Vergeßt nicht die Übung am
Fünf-Tag«, sagte Kordaq und teilte Viertel-KardSilberstücke aus. »Eine innere Stimme sagt mir«, murmelte Fallon, »daß am Tag vor der Waffenübung eine geheimnis volle Krankheit unsere tapfere Kompanie aufs Lager werfen wird.« »Bei Qarars Blut! Das möchte ich Euch nicht raten! Ich werde die Kompanieführer für die Anwesenheit eurer Leute verantwortlich machen.« »Ich fühle mich selbst nicht allzu wohl, Sir«, sagte Fallon grinsend, als er den seinem Rang entsprechen den halben Kard einsteckte. »Frecher Witzbold!« schnaubte Kordaq. »Weshalb wir uns Eure Dreistheit gefallen lassen, weiß ich nicht ... Aber Ihr werdet doch nicht vergessen, was ich vor hin erwähnt habe, Freund Antane?« »Nein, nein. Ich werde alles veranlassen.« Fallon winkte beim Weggehen seinen Kameraden lässig zu. Fallon hielt es für verrückt, jede zehnte Nacht da mit zuzubringen, für einen halben Kard – einen Handlangerlohn – in den Straßen herumzulaufen. Er war zu eigenwillig, zu unberechenbar, um sich in die Militärmaschinerie einzufügen, obwohl er als Vorge setzter über Führungstalente verfügte. Zum Gehor sam hatte er nicht die leiseste Neigung. Und als Aus länder konnte er kaum hoffen, an die Spitze der Äm terpyramide von Balhibo aufzurücken.
Trotzdem war er hier und trug das Abzeichen der Bürgerwehr. Der Grund? Weil eine Uniform auf ihn eine unbezwingbare, wenn nicht gar kindliche Faszi nation ausübte. Wenn er einen Spieß durch die stau bigen Straßen von Zanid trug, hatte er, wenn auch nur flüchtig, das Gefühl, ein künftiger Alexander oder Napoleon zu sein. Und in seinem jetzigen Zu stand konnte sein Ego jede Aufmunterung in dieser Richtung gebrauchen. Gazi schlief, als er heimkam und im müden Kopf die Knoten des Safq-Problemes zu lösen versuchte. Sie erwachte, als er ins Bett kroch. »Weck mich, wenn die zweite Stunde um ist«, murmelte er und schlief sofort ein. Fast gleich darauf, so schien es ihm, schüttelte Gazi ihn an der Schulter und mahnte ihn aufzustehen. Er hatte nur drei Erdenstunden geschlafen. Doch er mußte jetzt aufstehen, wenn er alles erledigen wollte, was er sich für den heutigen Tag vorgenommen hatte. Fallon wußte, daß er heute vor Gericht erscheinen mußte. Also rasierte er sich und zog seinen zweitbe sten Anzug an. Dann verschlang er eilig das Früh stück und trat in die helle Vormittagssonne hinaus. Er machte sich auf den Weg zu Tashins Kneipe. Der A'vaz-Bezirk reichte von elenden Slums, wo er nahe dem Balade-Tor an den Juru grenzte, zu mit
Künstlerquartieren durchsetzten Slums, wo das Ge biet im Norden an den Künstler- und Theaterbezirk Sahi grenzte. Tashins Kneipe im Westen von A'vaz, nahe der Stadtmauer, war ein verfallenes Haus, das wie die meisten Häuser in Balhibo um einen Innenhof erbaut war. Der Hof war an diesem Morgen mit jenen Schau spielertypen bevölkert, die die Stammgäste der Knei pe ausmachten. Ein Seiltänzer hatte ein Seil quer über den Hof gespannt und balancierte darauf mit einem Regenschirm. Ein Akrobatentrio wirbelte sich gegen seitig durch die Luft. Auf der anderen Seite der Um friedung führte ein Mann einen gezähmten Gerka vor und ließ ihn Kunststücke machen. Ein Sänger übte Tonleitern, ein Schauspieler rezitierte gebärdenreich. Fallon fragte den Türsteher: »Wo ist Turanj der Se her?« »Erste Etage, Zimmer dreizehn. Geht einfach hin auf.« Als er den Hof überqueren wollte, wurde Fallon von einem zu einer Gruppe von drei Krishni gehö renden Mann unsanft angerempelt. Als er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte und sich umsah, verbeugte sich der stämmige Kerl und sagte: »Ent schuldigt tausendmal, edler Herr! Tashins Wein hat meine Beine verunsichert! Halt, seid Ihr nicht der, mit dem ich mich gestern beim Fest betrunken habe?«
Die zwei anderen rückten ihm gleichzeitig seitlich zu Leibe. Der Mann, der ihn angerempelt hatte, machte eine witzige Bemerkung, einer der zwei ande ren legte freundschaftlich eine Hand auf Fallons linke Schulter. Dieser spürte, mehr als daß er es sah, das rasiermesserscharfe Messerchen, mit dem das dritte Mitglied des Trios seine Börse aufschlitzen wollte. Ohne sein eigenes gezwungenes Lächeln zu än dern, drängte Fallon die Krishni weg, machte einen Schritt und einen Sprung, vollführte dabei eine Dre hung und ließ sein Rapier hervorschnellen, so daß er allen dreien in Verteidigungsstellung gegenüber stand. Seine Agilität freute ihn nicht wenig. »Tut mir leid, meine Herren«, sagte er. »Aber ich habe bereits eine Verabredung. Und ich brauche mein Geld selbst, glaubt mir.« Er sah sich hastig im Hof um. Fallons Worte riefen ein Gekräusel spöttischen Lachens hervor. Die drei Diebe wechselten finstere Blicke und trollten sich zum Tor hinaus. Fallon steckte seine Waffe ein und ging weiter. Im Moment hatte er den Mob auf seiner Seite – doch wehe, wenn er versucht hätte, die Diebe zu töten oder festzunehmen, oder wenn er nach dem Arm des Geset zes gerufen hätte, da wäre sein Leben keinen einzigen schäbigen Blech-Arzu mehr wert gewesen. Fallon erreichte Zimmer dreizehn in der ersten Etage. Darinnen fand er sich Qais von Babaal gegen
über, der den Rauch des schwelenden Ramandu aus einer kleinen Pfanne inhalierte. »Na?« fragte Qais schläfrig. »Ich habe mir Euer gestriges Angebot durch den Kopf gehen lassen.« »Welches Angebot?« »Den Safq betreffend.« »Ach. Ihr werdet mir doch nicht einreden wollen, daß eingehende Überlegungen Euren schwankenden Mut gefestigt haben!« »Möglich. Ihr wißt, daß ich die feste Absicht habe, eines Tages nach Zamba zurückzukehren. Doch für schäbige tausend Karda ...« »Welchen Preis habt Ihr Euch vorgestellt?« »Fünftausend würden für mich eine starke Versu chung darstellen.« »Au! Genauso gut könntet Ihr den ganzen Staats schatz des Kamuran verlangen. Ich könnte das Ange bot höchstens um hundert Karda erhöhen ...« Sie feilschten und feilschten. Schließlich bekam Fal lon die Hälfte von dem, was er zuerst verlangt hatte. Dazu eine Vorauszahlung von hundert Karda, die er sofort erhalten sollte. Die zweitausendfünfhundert Karda würden natürlich nicht genügen, ihn auf sei nen Thron zurückzuführen, das wußte er. Doch es war immerhin ein Anfang. Daraufhin sagte er: »Sehr gut, Meister Qa – äh – Turanj, bis auf eines.«
»Und das wäre?« »Bei einem Angebot dieser Größenordnung wäre es für niemanden der Beteiligten klug, jemandem aufs bloße Wort hin zu trauen – wenn Ihr mir folgen könnt.« Qais zog Augenbrauen samt Antennen hoch. »Hört, hört! Wollt Ihr mir unterstellen, daß ich, der treue Diener des großen Ghuur von Qaath, Euch um Euren Lohn prellen würde? Bei der Nase Tyazans, diese Unverschämtheit werde ich nicht auf mir sitzen lassen! Ich bin, der ich bin ...« »Na, na, beruhigt Euch. Schließlich könnte ich ja auch einen kleinen Schwindel versuchen.« »Irdische Kreatur! Das glaube ich viel eher, wäre ich so unbesonnen, Euch im voraus zu bezahlen.« »Ich hatte eigentlich im Sinn, das Geld bei einem vertrauenswürdigen Dritten zu hinterlegen.« »Einem Bankhalter? – Das wäre eine Idee, aber eine mit zwei offenkundigen Fehlern: Was läßt Euch glau ben, daß ich verlockend hohe Summen immer bei mir trage? Und wem in diesem elenden Kaff könnten wir in einer geschäftlichen Angelegenheit trauen, die Qaath betrifft, für das die Liebe Balhibumas nicht eben lodernd entflammt ist?« Fallon grinste. »Das ist etwas, das ich mir erst vor kurzem überlegt habe. Ihr habt sicher einen Bankier in Zanid.«
»Absurd!« »Überhaupt nicht, es sei denn, Ihr habt einen Schatz in der Erde vergraben. Zweimal habt Ihr bei einem Handel mit mir zuwenig Geld gehabt. Jedesmal habt Ihr eine große Summe in ein oder zwei Stunden aufgetrieben. In dieser Zeit habt Ihr nicht nach Qaath reiten, aber Ihr habt Euch in Zanid an je manden wenden können. Und ich weiß, wer dieser Jemand ist.« »Tatsächlich, Meister Antane?« »Tatsächlich. Wer in Zanid wird wohl am ehesten Euer Bankier sein? Ein Finanzmann, der Grund hat, König Kir zu hassen. Also ließ ich mir durch den Kopf gehen, was ich über die Bankhäuser dieser Stadt wußte. Dabei fiel mir ein, daß vor einigen Jahren Ka stambang er-Amirut Ärger mit dem Dour bekam. Kir hatte damals das Verlangen gespürt, daß alle Besu cher sich ihm barfuß nähern müßten. Kastambang wollte nicht, weil er Senkfüße hat und er Schmerzen bekommt, wenn er seine orthopädischen Schuhe nicht anhat. Er hatte Kir einige Jahre vorher zwei hunderttausend Karda Kredit gegeben, und Kir nahm dies als Vorwand, ihm die gesamte Summe als Buße aufzuerlegen – und die Zinsen dazu. Seit damals hat Kastambang mit dem Dour keine Geschäfte mehr ge tätigt und ist auch nicht mehr bei Hof erschienen. Lo gischerweise muß er Euer Mann sein. Und wenn er
noch nicht Euer Bankier ist, so könnte er es doch sein. So oder so, ihn könnten wir jedenfalls als Bankhalter nehmen.« Fallon lehnte sich mit hinter dem Kopf verschränk ten Händen zurück und grinste triumphierend. Qais dachte nach, das Kinn in die Hand gestützt, und sagte schließlich: »Ich gebe nichts zu, bis auf das, daß Ihr ein gerissener Spürhund seid. Ihr würdet den Schatz des Dakhq unter dessen Nase klauen. Bevor wir nun die gefährliche Brücke von Zung, die Himmel und Erde verbindet, weiter beschreiten, sagt mir, wie Ihr in den Safq eindringen wollt.« »Ich dachte, wenn wir uns schon mit Kastambang einließen, daß er vielleicht jemanden wüßte, der sei nerseits das Innere des Baues kennt. Wenn er zum Beispiel einen abtrünnigen Priester der Yesht-Sekte kennt – es gibt sie, obwohl sie es bekömmlicher fin den, diese Tatsache geheimzuhalten –, könnten er oder ich den Mann überreden, uns zu verraten ...« Qais unterbrach ihn: »Und zu sagen, was in dem Monument ist? Pa! Wahrhaftig, warum sollte ich Euch in diesem Fall bezahlen? Ihr ginget ja kein Risi ko ein. Warum sollte ich nicht selbst den Abtrünnigen bezahlen?« »Wenn Ihr mich doch zu Ende anhören wolltet«, sagte Fallon kalt. »Ich habe die ernste Absicht, das Ding selbst von innen zu inspizieren – und keinen
Bericht vom Hörensagen aus zweiter Hand zu liefern. Aber wie Sie zugeben müssen, habe ich die größere Chance, lebend herauszukommen, wenn ich im vor hinein eine Ahnung von der Anlage habe. Außerdem dachte ich mir, der Kerl könnte uns et was über das Ritual erzählen, so daß ich verkleidet in den Tempel schlüpfen und an einem Gottesdienst teilnehmen könnte ... Na ja, weitere Einzelheiten werden sich von selbst ergeben, aber Ihr seht jetzt wenigstens, wie ich die Sache angehen möchte.« »Ja.« Qais gähnte ausgiebig und steckte damit den schläfrigen Fallon an. Dann stieß er die RamanduKohlenpfanne beiseite. »Ach! Ich hatte eben eine wunderschöne Vision, als Eure lästige Ankunft sie zerstörte. Aber erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Also los.« »Zu Kastambang?« »Wohin sonst?«
5
Auf der Straße rief Qais ein Khizun – eine von einem Aya gezogenen Mietdroschke – und stieg ein. Fallons Lebensgeister hoben sich. Es war schon lange her, daß er sich eine solche Fahrt hatte leisten können, und das Büro Kastambangs lag im Geschäftsviertel des Stadttei les Kharju, am entgegengesetzten Ende der Stadt. Zunächst fuhren sie durch die duftenden Gassen im A'vaz, dann durch den Nordteil von Izandu. Als sie dieses Gebiet hinter sich hatten, fuhren sie zwi schen den prächtigen Theatern des Sahi zur Linken und der geschäftigen Hast des industriellen Izandu zur Rechten dahin. Rauch stieg aus Schmieden, der Lärm von Hämmern, Bohrern, Feilen, Sägen und an deren Werkzeugen ergab ein durchdringendes Krei schen. Dann fuhren sie klappernd über breite Avenu en und durch einen kleinen Park, wo der Wind aus den Steppen kleine Staubwirbel tanzen ließ. Schließlich tauchten sie in die wimmelnde Pracht des Kharju mit seinen Läden und Handelshäusern ein. Als sie nach Südosten abbogen, erhob sich vor ihnen, gekrönt vom uralten Schloß der Könige von Balhib, der einzige Hügel der Stadt. »Hier wohnt Kastambang«, sagte Qais und deutete mit seinem Stock auf ein Haus.
Fallon ließ Qais den Fahrer entlohnen – schließlich langte der Meisterspion bloß in die bodenlose Börse des Ghuur von Uriiq – und folgte Qais ins Hausinne re. Es gab hier den üblichen Türsteher und den übli chen Innenhof. Ein murmelnder Springbrunnen und Statuen aus dem fernen Katai-Jhogorai dienten als heiterer Blickfang. Kastambang, dem Fallon noch nie begegnet war, erwies sich als riesiger Krishni mit grünem Haar. Das große feiste Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen. Der tonnenförmige Leib war in eine tiefrote Toga im Stil von Sruskand gehüllt. Nach einer formellen Vorstellung sagte Qais: »Herr, wir möchten Euch unter vier Augen sprechen.« »Ach, das läßt sich machen, läßt sich machen«, sag te Kastambang. Ohne seine Miene zu verziehen, schlug er gegen einen kleinen Tischgong. Ein geschwänzter Mensch aus den Koloft-Sümpfen von Mikardand steckte den haarigen Kopf ins Besprechungszimmer. »Bereitet das Gewölbe vor«, sagte der Bankier und dann zu Fallon gewandt: »Möchtet Ihr eine Zigarre, Erdenmensch? Der Raum wird vorbereitet.« Die Zigarre war ausgezeichnet. Der Bankier sagte: »Habt Ihr an unserem Fest teilgenommen, Meister Turanj?« »Ja, Herr. Gestern habe ich mir ein Theaterstück angesehen: das dritte in meinem Leben.«
»Was denn?« »Die ›Tragödie von der Königin Dejanai von Qirib‹ von Saqqiz. Vierzehn Akte!« »Habt Ihr es wirkungsvoll gefunden?« »Bis zum zehnten Akt. Nachher schien der Autor sich nur mehr zu wiederholen. Überdies war die Bühne so mit Leichen übersät, daß die Schauspieler, die flinke Rollen zu spielen hatten, alle Mühe hatten, nicht drüber zu stolpern.« Qais gähnte. Kastambang vollführte eine verächtliche Geste. »Dieser Saqqiz von Ruz gehört zu den übergescheiten Modernen, die nichts zu sagen haben und diese Tat sache verbergen, indem sie es in einer möglichst ex zentrischen Form sagen. Ihr solltet Euch an die Auf führungen der Klassiker halten.« In diesem Moment tauchte wieder der Koloftu auf und sagte: »Es ist alles bereit, Herr.« »Kommt, meine Herren«, sagte Kastambang und stemmte sich hoch. Im Stehen war er weniger eindrucksvoll als im Sit zen, da er kurzbeinig war und sich nur mühsam un ter Keuchen und Hinken vorwärtsbewegen konnte. Er führte sie den Gang entlang, zu einem mit Vor hängen verhängten Durchgang. Der Koloftu blieb ih nen auf den Fersen. Ein Diener öffnete die Tür, und Kastambang trat beiseite und ließ sie mit erwar tungsvollem Gehaben an sich vorbei eintreten. Sie
betraten einen Käfig, der in einem Schacht hing. Der Käfig begann sich sofort ruckartig zu senken, wäh rend von oben das Geratter von Zahnrädern herun terdrang. Kastambang sah seine Gäste erwartungs voll an und meinte dann mit einer Spur der Enttäu schung: »Ich habe ganz vergessen, Meister Antane, Ihr kommt von der Erde. Fahrstühle sind für Euch al so nichts Neues.« »Ja«, sagte Fallon. »Doch das hier ist eine hervorra gende Neuerung. Sie erinnert mich an die Lifts in kleinen französischen Hotels auf der Erde, mit der Aufschrift ›Nur aufwärts!‹« Der Fahrstuhl stieß gegen ein großes Lederkissen am Boden des Schachts. Kastambangs Fahrstuhl war neben dem Safq das anerkannte Wunder von Zanid, doch Qais hatte ihn schon früher benutzt und Fallon war kaum beeindruckt. Der Lift wurde von einigen kräftigen Koloftern hochgekurbelt, während das Sen ken mit einer primitiven Bremse bewerkstelligt wur de. Insgeheim dachte sich Fallon, es wäre nur eine Frage der Zeit, bis die Lift-Mannschaft nachlässig werde und ihren Herrn mit lautem Bumms auf den Grund seines Geheimversteckes fallen lassen würde. In der Zwischenzeit aber diente die seltsame Kon struktion der Schonung von Kastambangs Senkfüßen. Kastambang führte seine Gäste eine schwach be leuchtete Halle entlang und um mehrere Ecken zu ei
ner hohen Tür aus festem Qong-Holz, vor der ein Bo genschütze mit gezückter Armbrust stand. Fallon bemerkte einen waagrechten Schlitz im Boden, ein paar Meter vor der Tür. Als er nach oben blickte, sah er einen entsprechenden Schlitz in der Decke. Ein Fallgatter offenbar. Der Bogenschütze öffnete die Tür, die mit vermittels Metallplatten verschließbaren Gucklöchern ausgestattet war, und führte die Gesell schaft in einen kleinen Raum mit weiteren Türen. Vor einer Tür stand ein behaarter Koloftu mit stachelbe wehrter Keule. Diese Tür führte abermals in einen kleinen Raum. Darin stand ein Mann mit gezücktem Schwert in der maurisch aussehenden Rüstung eines Ritters aus Mi kardando. Und erst von hier aus gelangte man in das Gewölbe selbst: ein unterirdisches Verlies aus riesi gen zyklopischen Blöcken. Die einzigen Öffnungen waren die Tür und einige kleine Luftlöcher in der Decke. Auf dem Steinboden stand ein großer Tisch aus Qong-Holz mit Einlegearbeiten aus anderen Hölzern und polierten Safq-Muscheln in den verschlungen arabesken Mustern von Suria. Um den Tisch stand ein Dutzend Stühle aus demselben Material. Fallon war froh, daß er sich unter den Balhibumern nieder gelassen hatte, die auf Stühlen saßen, und nicht bei einem jener Völker auf Krishna, die knieten oder kau
erten oder wie Yogis mit gekreuzten Beinen dahock ten. Für derartige gymnastische Übungen waren sei ne Gelenke schon zu steif. Sie setzten sich. Der Koloftu war in der Tür stehen geblieben. »Als erstes«, sagte Qais, »möchte ich zweitausend fünfhundert Karda in Gold von meinem Konto abhe ben.« Kastambang hob seine Antennen. »Habt Ihr denn Gerüchte gehört, das Haus Kastambang wäre in fi nanziellen Schwierigkeiten? Wenn ja, dann kann ich Euch versichern, daß sie falsch sind.« »Gar nicht. Ich plane ein besonderes Unternehmen.« »Sehr gut«, sagte Kastambang und kritzelte etwas auf einen Zettel. »Sehr gut.« Kastambang gab dem Koloftu Anweisungen, der sich verbeugte und verschwand. Qais sagte: »Meister Antane wird für mich einen – sagen wir – journalisti schen Auftrag übernehmen. Er soll mir über das In nere des Safq Bericht erstatten ...« Qais gab noch weitere Einzelheiten preis und er klärte, daß das Geld Fallon ausbezahlt werden sollte, sobald dieser seine Aufgabe gelöst hätte. Der Koloftu kam mit einem Sack wieder, den er mit gewichtigem Klirren – das Ding wog über sieben Kilo – absetzte. Kastambang löste die Zugbänder und ließ die Goldstücke auf den Tisch rinnen.
Bewußt achtete Fallon darauf, daß sein Atem nicht schneller ging. Er hielt sich zurück und beugte sich nicht vor, um gierig den Geldhaufen zu beäugen. Auf der Erde konnte ein Mensch sein ganzes Leben verbringen, ohne eine Goldmünze zu Gesicht zu be kommen. Doch hier auf Krishna war Geld noch immer hartes, helles, klirrendes Metall, dessen Gewicht einem die Hosen herunterzog – echtes Geld im ursprüngli chen Sinn, und nicht bloß bemalte Papierfetzen, hinter denen nichts Besonderes stand. Die Republik von Mi kardand hatte einmal, als sie von terranischen Sitten hörte, mit Papiergeld einen Versuch gewagt. Die Bank notenausgabe war jedoch den Behörden entglitten und die sich daraus ergebende galoppierende Inflation hat te die anderen Nationen der Drei Meere in ihrem Vor urteil gegen Papiergeld bestärkt. Gelassen nahm Fallon eins der Zehn-Kard-Stücke zur Hand und prüfte es im gelben Lampenlicht. Er drehte und wendete es, als wäre es ein exotisches Ku riosum und deswegen von leisem Interesse für ihn und beileibe nicht etwas, für das er lügen, stehlen und morden würde – nämlich für den Thron, den er damit wiederzugewinnen hoffte. »Ist Euch diese Vereinbarung genehm, Meister An tane?« fragte Kastambang. »Paßt es so?« Fallon war in eine Art Trancezustand verfallen, wäh rend er die Goldstücke anstarrte. Er riß sich zusammen
und sagte: »Gewiß. Zunächst zahlt mir hundert aus ... Danke. Und jetzt setzen wir ein geschriebenes Memo randum der ganzen Transaktion auf. Nichts Kompro mittierendes, nur einen Vertrag von Meister Turanj.« »Aha!« sagte Qais. »Und wie wird mein Freund hier abgehalten, diese Abhebung zu kassieren, ehe er seine Verpflichtung erfüllt hat?« Kastambang sagte: »In Balhib ist es Sitte, ein sol ches Papier in die Hälfte zu reißen und jede Hälfte ei ner der Parteien zu geben. So kann keiner seine mo netäre Macht ohne den anderen ausüben. In diesem Fall, glaube ich, reißen wir das Stück in drei Teile.« Kastambang öffnete eine Tischlade, zog einen Stoß Formulare heraus und füllte eines aus. Fallon schlug vor: »Laßt den Namen des Empfängers offen, ja? Ich werde ihn später einsetzen.« »Warum?« fragte der Bankier. »Das ist nicht genü gend sicher, denn dann könnte ja jeder Spitzbube ab kassieren.« »Vielleicht möchte ich einen anderen Namen ver wenden – und wenn es in drei Teile zerrissen wird, dann besteht ohnehin keine Gefahr mißbräuchlicher Verwendung. Sie haben doch ein Konto bei Talun und Fosq in Majbur, nicht?« »Ja, das haben wir.« »Dann richtet es so ein, daß ich die Summe sowohl hier als auch dort abheben kann.«
»Warum denn?« »Vielleicht unternehme ich nach diesem Auftrag eine Reise«, sagte Fallon. »Und ich möchte das viele Gold nicht mit mir herumschleppen.« »Aha. Leute, die mit Meister Turanj zu tun haben, lernen oft die Segnungen des Reisens zu schätzen.« Kastambang schrieb etwas auf die Vorderseite. Als Qais unterschrieben hatte, faltete Kastambang das Papier und zerriß es sorgfältig in drei Teile. Jedem seiner Besucher gab er einen Teil und den dritten leg te er in die Lade, die er wieder versperrte. Fallon fragte: »Ihr werdet im Falle eines Streites diesen schlichten, Kastambang?« »Wenn Meister Turanj einverstanden ist?« sagte der Bankier. Qais machte eine zustimmende Geste. »Dann«, sagte Kastambang, »ist es am besten, wir treffen uns wieder hier in meiner Kammer, um die Transaktion zu Ende zu führen, so daß ich beurteilen kann, wie gut Meister Antane seinen Auftrag ausge führt hat. Wenn ich ihm das Papier gebe, kann er nach Belieben das Gold nehmen, oder alle drei Strei fen der Tratte, und sein Geld im geschäftigen Majbur kassieren.« »Sehr gut«, sagte Fallon. »Und jetzt könnt Ihr mir vielleicht ein wenig bei meinem Projekt an die Hand gehen.« »Eh? Wie?« fragte Kastambang mißtrauisch. »Ich
bin der, der ich bin. Ein Bankier, nur ein Bankier – kein Intrigant.« Fallon hob die Hand. »Nein, nein. Ich habe mich nur gefragt, ob Ihr mit Euren weitreichenden Verbin dungen vielleicht jemanden kennt, der mit den Ritua len des Yesht-Kultes vertraut ist.« »Oho! Also daher weht der Wind. Ja, meine Verbin dungen sind in der Tat sehr weitreichend. Ja, Herr, sehr weitreichend. Laß mich überlegen ...« Kastambang leg te die Fingerspitzen aneinander, genauso wie ein terra nischer Branchenkollege es getan haben könnte. »Ja, ich kenne jemanden. Nur einen. Aber er kann Euch nicht die Geheimnisse des eigentlichen Safq verraten, weil er nie im Innern des verwunschenen Baues war.« »Woher kennt er dann das Ritual?« Kastambang kicherte. »Ganz einfach. Er war in Lussar Priester des Yesht, ist dann aber unter dem Einfluß des irdischen Materialismus ausgebrochen, hat seine Identität geändert, um einem Vergeltungs mord zu entgehen, und ist nach Zanid gekommen, wo er es als Gewerbetreibender zu etwas gebracht hat. Da außer mir niemand seine Vergangenheit kennt, kann ich ihn gegen Entschädigung überreden, die gewünschten Tatsachen zu enthüllen ...« Fallon sagte: »Die Entschädigung wird aus dem Fonds des Meister Turanj kommen und nicht aus meinem.«
Qais äußerte einen Protest, doch Fallon blieb fest. Er rechnete mit der Neugierde des Qaathianers und damit, daß die Gier nach Information seinen Geiz überwinden würde. Diese Annahme erwies sich als richtig, denn Meisterspion und Bankier wurden sich über den Preis dieser Transaktion bald einig. Fallon fragte: »Nun, wo ist dieser abtrünnige Priester?« »Bei Bakin, haltet Ihr mich für so einfältig, daß ich Euch das verraten und ihn damit in Eure Hand geben würde? Nein, Meister Antane, nein.« »Was dann?« »Ich werde folgendes veranlassen: Morgen abend gebe ich in meinem Stadthaus eine Gesellschaft. Ich werde diesen anonymen Abtrünnling einladen, zu sammen mit vielen aus den führenden Kreisen von Zanid.« Kastambang warf eine Einladungskarte über den Tisch. »Vielen Dank«, sagte Fallon, als er die Karte betont lässig einsteckte und sie kaum ansah. Kastambang erklärte: »Kommt hin, und ich werde Euch und ihn maskiert in einem Raum zusammenbringen, so daß keiner das Gesicht des anderen erkennt oder Zeugen für des anderen Treulosigkeit hat. Habt Ihr einen an ständigen Festanzug?« »Ich denke schon«, sagte Fallon und ging im Geiste seine Garderobe durch. Das wäre eine Gelegenheit, Gazi stilvoll auszuführen, damit endlich das Gejam
mer aufhörte, von wegen nie stattfindender Ausgän ge! »Gut!« sagte der Bankier. »Dann also morgen zu Beginn der zwölften Stunde. Vergeßt nicht, die zwölf te Stunde!« Der Gesetzgebung auf Krishna mangelte es vielleicht an den fürsorglichen Feinheiten, die man auf der Er de entwickelt hat, um die Angeklagten zu schützen, doch konnte niemand die Schnelligkeit des Verfah rens leugnen. Die Duellanten bekannten sich des an stößigen Benehmens für schuldig und bezahlten ihre Buße, um einer schwerwiegenderen Anklage zu ent gehen. Beim Hinausgehen blieb der Yeshtite, ein Kerl mit Namen Girej, vor der Zeugenbank stehen und sagte zu Fallon: »Meister Antane, ich bitte zutiefst um Ent schuldigung für meine unziemlichen Worte von ge stern nacht. Als ich wieder zur Besinnung kam, fiel mir ein, daß Ihr es wart, der das Schwert des ver fluchten Kerls abgewendet hat, als er mich durchboh ren wollte. Ich danke Euch für mein armseliges Le ben.« Fallon machte eine wegwerfende Geste. »Schon gut, Alter. Ich habe nur meine Pflicht getan.« Girej hüstelte. »Um meine Unhöflichkeit wieder gutzumachen, erlaubt mir vielleicht, Euch zu einem
Becher Kvad als Zeichen meiner Dankbarkeit einzu laden?« »Diese Einladung braucht Ihr nicht aus Dankbar keit zu äußern. Wartet, bis der nächste Fall abge schlossen ist.« Der Yeshtite war einverstanden, und Fallon wurde aufgerufen, um gegen den Räuber auszusagen. (Der Mann, den der Räuber durchbohrt hatte, war noch zu schwer verletzt, und der dritte Missetäter war noch immer flüchtig.) Der Gefangene, ein Shave, wurde, da er in flagranti ertappt worden war, sofort vor Gericht gebracht und verurteilt. Der Polizeirichter sagte: »Führt ihn ab, foltert ihn, bis er den Namen seines Komplizen verrät, und schlagt ihm dann den Kopf ab. Der nächste Fall.« Arm in Arm mit Girej, dem Yeshtiten, ging Fallon langsam hinaus. Solchen Kontakten war er immer sehr zugänglich, da er erhoffte, nützliche Informatio nen zu bekommen. Sie gingen zu einer Kneipe, wo sie sich labten, während Girej wortreich seiner Dankbar keit Ausdruck verlieh. Er sagte: »Meister Antane, Ihr habt nicht nur einen Bürger unserer schönen, aber windigen Stadt vor einem vorzeitlichen und unrühm lichen Ende gerettet – Ihr habt auch einen Kameraden gerettet.« »Wie, Ihr dient auch in der Bürgerwache?« »Ja, Sir, so wie Ihr in der Juru-Kompanie.«
Fallon sah den Mann scharf an. »Merkwürdig. Ich kann mich nicht erinnern, Euch je bei den Übungen oder Zusammenkünften gesehen zu haben, und ich vergesse sehr selten jemanden.« Diese Bemerkung war keine Prahlerei. Fallon hatte ein phänomenales Gedächtnis für Namen und Gesichter und kannte mehr Krishni in Zanid als die meisten gebürtigen Za nidumer. »Ich war eine Zeitlang mit einem Sonderauftrag be faßt.« »Was habt Ihr gemacht?« Der Yeshtiter sah listig drein. »O ich habe Schwei gen gelobt und werde es Euch daher nicht erzählen, wenn Ihr entschuldigen wollt. Soviel will ich zugeben: Ich bewache eine Tür.« »Eine Tür?« fragte Fallon. »Wirt, noch eine Runde!« »Ja, eine Tür. Aber nie sollt Ihr erfahren, wo diese Tür ist und wohin sie führt.« »Interessant. Aber seht her: Wenn diese Tür wirk lich so wichtig ist, warum nimmt die Regierung einen von uns als Bewacher? Ich muß mich jetzt entschul digen, aber ich glaube, man würde viel eher einen von der Leibgarde Kirs hinstellen.« »Das hat man auch«, sagte Girej mit selbstzufrie denem Lachen, »doch dann kamen zu Jahresbeginn die alarmierenden Nachrichten bezüglich des barba rischen Ghhurs von Qaath, und alle Truppenangehö
rigen mußten sich für den Kriegsfall bereithalten. Kirs' Wache wurde auf die Hälfte reduziert, seine zu sätzlichen entbehrlichen Getreuen wurden versetzt, einige ins Grenzgebiet, andere, um neue Truppen auszubilden. Daher hat Minister Chabarian verläßli che Mitglieder der Wache ausgewählt – alle mit mei ner religiösen Überzeugung – die dann die Plätze der Soldaten einnahmen.« »Was hat denn Eure religiöse Überzeugung damit zu tun?« »Na, weil nur ein Yeshtite – aber halt, ich habe schon zuviel gesagt. Trinkt, mein irdischer Freund, und steckt Eure lange Nase nicht in Dinge, die Euch nichts angehen.« Und das war alles, was Fallon aus Girej herausbe kommen konnte, obwohl der Kerl ihn beim Abschied umarmte und versicherte, er wolle ihm zu Diensten sein, wann immer sich eine Notwendigkeit ergäbe.
6
»Gazi!« rief Anthony Fallon beim Betreten des Hau ses. »Was gibt's?« kam ihre gereizte Stimme aus dem Hintergrund. »Hol deinen Schal, meine Liebe, heute gehen wir einkaufen.« »Ich war schon auf dem Markt ...« »Nein, nein, kein Gemüse. Ich möchte dir hübsche Kleider kaufen.« »Wieder mal betrunken?« fragte Gazi. »Ist das eine anmutige Antwort auf ein großzügi ges Angebot? Nein, meine Liebe. Ob du es glaubst oder nicht, wir sind zu einem Ball geladen.« »Was?« Jetzt erschien Gazi, die Hände in die Hüf ten gestützt. »Antane, wenn das wieder einer deiner Späße sein sollte ...« »Ich? Späße? Hier, sieh mal!« Er zeigte ihr die Einladung. Gazi warf die Arme um seinen Nacken und drückte ihm beinahe die Luft ab. »Mein Held. Wie bist du dazu gekommen? Sicher hast du sie gestohlen!« »Warum sind mir gegenüber alle so mißtrauisch? Kastambang hat sie mir eigenhändig mit weichen Pfötchen überreicht.« Fallon streckte sein steifes
Rückgrat. »Der Ball ist morgen abend, also komm jetzt.« »Warum so eilig?« »Ja, hast du denn vergessen? Heute haben wir Ba detag. Wir müssen doch sauber zum Fest gehen. Du willst sicher nicht, daß die Jagaini des Bankiers dich durch ihr Lorgnette von oben herab ansieht – also vergiß die Seife nicht.« »Das einzig Gute, das ihr Erdenmenschen hierher gebracht habt«, sagte sie. »Ach, ich schäme mich ja, in diesen Lumpen einen guten Laden zu betreten.« »Na, eine Zwischenlösung werde ich dir nicht kau fen, so daß du dich Schritt für Schritt durch die Läden hocharbeiten kannst.« »Hast du wirklich genügend Mittel, um diese küh ne Ausgabe bestreiten zu können?« »Ach, keine Bange. Ich kann das Zeug zum Selbst kostenpreis bekommen.« Sie ratterten durch die Stadt zurück, am Safq vor über. Fallon widmete dem gewaltigen Bau nur einen flüchtigen Blick. Er wollte vor Gazi kein übermäßiges Interesse dafür bekunden. Als nächstes holperten sie am Haus der Gerechtigkeit vorbei, wo die Häupter der heute hingerichteten Kapitalverbrecher eben auf Piken über einer Anschlagtafel aufgespießt wurden. Unter jeden Kopf schrieb ein Krishni mit Kreide die Daten und Untaten des früheren Eigentümers.
Und dann weiter in den Kharju-Bezirk, wo das sechsfache Geklapper der Aya-Hufe, die die Wagen der Reichen zogen, sich mit den Rufen der Zeitungs jungen mischte, die den Rashm verkauften, und Händler mit Karren ihre Waren verhökerten. Gera schel von Mänteln und Röcken, Klirren von Dolchen, leises Klimpern von Armreifen und anderen schwe ren Schmuckstücken. Und über all dem das mur melnde Rollen der rhythmischen Sätze in der guttural klingenden Balhibo-Sprache. Im Kharju suchte Fallon das Etablissement von Ve'qir, dem Exklusiven, und betrat unverfroren das gedämpfte Innere. In diesem Augenblick war Ve'qir höchstpersönlich damit beschäftigt, der Jagaini des künftigen Dasht von Qe'ba etwas Rüschenbesetztes zu verkaufen, während der Dasht auf einem Stuhl saß und über die Kosten murrte. Ve'qir sah Fallon an, zuckte als Zeichen des Erkennens mit seiner Antenne und widmete sich dann wieder seiner Kundin. Ve' qirs Hilfskraft, ein junges weibliches Wesen, näherte sich erwartungsvoll, doch Fallon winkte ab. »Ich möchte den Chef selbst sprechen, wenn er fer tig ist.« Als sich die Verkäuferin wohlerzogen und devot zurückgezogen hatte, flüsterte Fallon in Gazis großes spitzes Ohr: »Hör endlich auf, diese Stoffe zu begaf fen. Der alte Fastuk geht sonst mit den Preisen rauf.«
Eine Stimme sagte: »Hallo, Mr. Fallon. Sie sind doch Mr. Fallon?« Fallon machte eine rasche Drehung. Der weißhaa rige Archäologe Julian Fredro stand vor ihm. Fallon nahm den Gruß zur Kenntnis und fügte hinzu: »Sie sehen sich hier ein bißchen um, Fredro?« »Ja, danke. Was macht unser Projekt?« Fallon lächelte und wies auf Gazi. »Wir arbeiten eben daran. Das ist meine Jagaini, Gazi er-Doukh.« Die zweite Hälfte der Vorstellungszeremonie brachte er in Balhibou vor. »Wir kleiden sie für morgen ein. Da gibt es ein großes Fest. Der irre gesellschaftliche Wirbel in Zanid.« »Ach, Sie verbinden Geschäft und Vergnügen? Ge hört das zum Projekt?« »Ja. Kastambang gibt eine Party. Er hat mir Infor mationen versprochen.« »Ach? Sehr gut. Ich habe auch eine Einladung be kommen. Wir werden uns dort also sehen. Mr. Fallon – hm – wo ist dieses öffentliche Bad, von dem ich all gemein höre. Wo findet es statt?« »Sie möchten wohl die wunderlichen Sitten der Eingeborenen sehen, hm? Halten Sie sich an uns. So bald wir hier fertig sind, machen wir uns auf den Weg.« Der zukünftige Feudalherr hatte seinen Kauf been det, und Ve'qir kam händereibend auf Fallon zu. Fal
lon verlangt das Beste an Abendkleidung, und kurz darauf drehte Gazi Pirouetten, und Ve'qir warf ein Kleid nach dem anderen über ihren bloßen Körper. Fallon wählte schließlich einen flitterbesetzten Rock aus durchsichtigem Material. Er war so teuer, daß so gar Gazi zum Protest bewegt wurde. »Ach, laß doch!« sagte er. »Wir sind schließlich nur einmal in mittleren Jahren.« Sie warf ihm einen giftigen Blick zu, nahm den Rock aber an. Sodann stattete sie der Couturier mit einer mit Halbedelsteinen besetzten Ulemda aus Goldspitze aus – es war eine Art Geschirr oder Bü stenhalter, wie er von den Damen der Oberschicht in Balhibo bei festlichen Gelegenheiten am Oberkörper getragen wurde. Ein Kleidungsstück, das als Schmuck, aber nicht zur Verhüllung diente. Schließlich stand Gazi vor dem Spiegel und drehte sich nach allen Richtungen. »Dafür«, sagte sie zu Fal lon, »verzeihe ich dir sehr viel. Aber wenn du so reich bist – warum kaufst du nicht etwas für dich? Ich würde dir gern etwas aussuchen.« »Ach, ich brauche nichts Neues. Außerdem wird es schon spät ...« »Doch, du brauchst etwas. Dein alter Regenmantel ist selbst für den abgerissensten Bettler zu schäbig, so geflickt ist er ...« »Ach, schon gut.« Mit etwas Geld in der Tasche
konnte Fallon dem Kaufdrang nicht lange widerste hen. »Ve'qir, habt Ihr Herrenregenmäntel auf Lager? Nichts Besonderes – bloß gute Mittelqualität.« Zufällig hatte Ve'qir. »Sehr gut«, sagte Fallon, als er das Kleidungsstück anprobiert hatte. »Rechnet die Sachen zusammen und vergeßt meinen Rabatt nicht.« Fallon erledigte das Finanzielle, rief ein Khizun und fuhr mit Gazi und Fredro in den Juru zurück. Gazi sagte: »Du hast eine ungewöhnlich offene Hand. Aber sag mir eines: wie kommt es, daß du bei Ve'qir so großen Preisnachlaß bekommst? Der ist doch dafür bekannt, daß er den letzten Arzu von denjenigen her auspreßt, die sich, geblendet von seinem Ruf, in seine Höhle wagen?« Fallon lächelte. »Ganz einfach«, sagte er, wobei er den Satz in zwei Sprachen wiederholte, »Ve'qir, der Exklusive, hatte einen Feind – einen gewissen Hulil. Dieser Hulil hat Ve'qir erpreßt. Doch dann hat dieser alberne Esel sich zu weit aus einem Fenster gebeugt und sich den Schädel auf dem Pflaster eingeschlagen. Na ja, und Ve'qir beharrt darauf, daß ich da meine Hand mit im Spiele hatte, obwohl ich den Befragern des Präfekten beweisen konnte, daß ich zu dieser Zeit mit Percy Mjipa eine Zusammenkunft hatte, und Hu lil, diese Niete, gar nicht hinuntergestoßen haben konnte.«
Als sie am Safq vorbeifuhren, renkte sich Fredro fast den Hals aus und begann in seiner Naivität da von zu faseln, daß sie hineinwollten, bis Fallon ihn gegen das Schienbein trat. Glücklicherweise kannte Gazi nur ein halbes Dutzend englischer Wörter, und das waren nicht ganz feine. »Wohin fahren wir?« fragte Fredro. »Zu meinem Haus. Wir wollen unsere Pakete los werden und unsere Sufkira anziehen.« »Bitte, können wir nicht stehenbleiben und den Safq ansehen?« »Nein, sonst versäumen wir unser Bad.« Fallon sah besorgt zur Sonne hinauf und fragte sich, ob er sich nicht bereits verspätet hatte. Er hatte sich nie ganz daran gewöhnen können, ohne Uhr auszukommen. Und die Krishni hatten es noch nicht zur Uhrenkultur gebracht, obwohl sie jetzt bereits einfache Raduhren herstellen konnten. Fallon mußte für Gazi und Fredro eifrig den Überset zer spielen, denn Gazi kannte praktisch keine irdische Sprache und Fredros Balhibou war noch immer lük kenhaft. Doch Fredro stellte überaus neugierig Fragen über die Hauswirtschaft auf Krishna, und Gazi war darauf bedacht, dem Besucher zu imponieren. Sie versuchte ihre Verlegenheit zu verbergen, als sie vor dem triste wirkenden Backsteinhäuschen hielten, das
Fallon sein Heim nannte. Es war zwischen zwei gro ßen Häusern eingepfercht. Große Risse liefen über die Wände, wo der Bau abgesunken war. Das Haus hatte nicht einmal einen Innenhof aufzuweisen und zählte daher in Balhib praktisch zu den Hütten. »Sag ihm«, drängte Gazi, »daß wir hier nur so lan ge wohnen, bis du etwas Ordentliches gefunden hast.« Fallon, der diese Bitte ignorierte, führte Fredro hin ein. Nach einigen Minuten hatten er und Gazi ihre Sufkiras angelegt – riesige togaähnliche Handtücher, die sie um ihre Körper gewickelt trugen. »Der Weg ist kurz«, sagte Fallon. »Er wird Ihnen gut tun.« Sie gingen die Asada Straße nach Osten, bis diese Hauptstraße die Ya'fal Straße kreuzte, die von Süd westen kam und auf den Platz des Qarar mündete. Auf dem Weg begegneten ihnen immer mehr Men schen, bis sie schließlich inmitten einer in Sufkiras gehüllten Menge dahingingen. Große Scharen von Zanidumern waren bereits auf dem Platz des Qarar versammelt, wo in der vorher gegangenen Nacht Fallon und seine Abteilung dem Zweikampf ein Ende bereitet hatten. Man sah jetzt nur wenige Nicht-Krishni. Viele Rassen, die nicht vom Planeten Krishna stammten, hatten für die Bade sitten in Balhib nichts übrig.
Osirianer zum Beispiel hatten für Wasser über haupt keine Verwendung, sondern kratzten in gewis sen Abständen ihre Körperbemalung herunter und erneuerten sie. Die Thothianer, hervorragende Schwimmer, bestanden auf totalem Eintauchen. Und die meisten menschlichen Wesen hielten das Tabu ih res Planeten bezüglich öffentlicher Entblößung ein, es sei denn, sie hatten die Lebensweise der Krishni an genommen oder stammten aus einem Land wie Ja pan. Der von zwei zottigen sechsfüßigen Shaihans ge zogene Wasserwagen stand nahe der Statue des Qa rar. Die Pflastersteine glänzten, wo der Gehilfe des Kutschers sie besprengt und geschrubbt hatte. Es war ein geschwänzter Koloftu von ungewöhnlicher Mus kelkraft. Er befestigte nun seine langstielige Bürste am Fahrzeug. Der Fahrer selbst war auf den Tank geklettert und hob nun den Arm mit den Brausen über die Menge. Plötzlich rief er: »Fertigmachen!« Allgemeine Bewegung. Die Hälfte der Krishni nahm ihre Sufkiras ab und reichte sie der anderen Hälfte. Die Nackten drängten sich nun in die Nähe der Brausen, während die übrigen an den Rändern des Platzes warteten. Fallon reichte Fredro seinen Sufkir und sagte: »Da, halten Sie das für uns, alter Mann!«
Gazi tat es ihm gleich. Der ziemlich verblüffte Fre dro nahm die Dinger und sagte: »So was ähnliches hatte man in Polen vor der Periode russischer Herr schaft vor zweihundert Jahren betrieben. Die Russen haben behauptet, es wäre nye kulturno! Ich nehme an, man kann nicht baden, wenn man nicht jemanden hat, der diese Sachen hält?« »Das ist richtig. Die Zanidumer haben lange Finger. Heute können Gazi und ich zum erstenmal das Bad gemeinsam nehmen. Wenn Sie nachher baden wollen ...« »Nein, danke! Im Hotel habe ich Fließwasser.« Fallon, die Familienseife in der einen und Gazi an der anderen Hand, drängte sich zur nächstgelegenen Brause. Der Fahrer und sein Gehilfe hatten ihr um fangreiches Röhrensystem nun ausreichend befestigt und faßten nach dem Pumpenschwengel. Ächzend zogen sie die Griffe auf und nieder, und unverzüglich begannen die Brausen zu brausen. Die Zanidumer kreischten im Chor, als das kalte Wasser auf ihre grüne Haut sprühte. Sie lachten und bespritzten einander. Es war ein festlicher Anlaß. Das Land um Zanid erhob sich über der baumlosen Prärie des westlichen Zentralbalhib, wenige hundert Hoda von jener Stelle entfernt, wo diese den riesigen Trok kensteppen von Jo'ol und Qaath weichen mußte. Das Wasser für die Stadt mußte aus tiefen Quellen oder
aus dem schlammigen Rinnsal des seichten Eshqa gepumpt werden. Über der Stadt verlief eine Haupt leitung vom Eshqa her und dazu ein System von shaihan-getriebenen Pumpen, die das Wasser anho ben, doch dieses System war nur für den königlichen Palast, das Terraner-Hotel und einige Herrschaftsvil len in der Gabanj bestimmt. Fallon und Gazi hatten sich einigermaßen gesäu bert und drängten sich durch die Menge hinaus, als Fallon beim Anblick Fredros erstarrte. Dieser stand am Rande des Platzes, die zwei Sufkiras über eine Schulter drapiert, und richtete seine Kamera auf die Menge. »Oh!« sagte Fallon. »Der verdammte Narr weiß nichts von dem Seelen-Bruch-Glauben.« Er starrte zu dem Archäologen hinüber und zerrte Gazi hinter sich her. Sie leistete Widerstand und sag te: »Sieh! Wer ist das, Antane?« Eine Stimme ertönte über dem Platz. Als er sich umdrehte, sah Fallon über den Häuptern der Krishni hinweg, daß ein Erdenmensch in schwarzem Anzug und weißem Turban die Mauer um die Basis der Gruft von König Balade erklommen hatte und vor den Badenden eine Ansprache hielt: »... denn dieser eine Gott haßt alle Formen der Hof fart. Hütet Euch, sündige Einwohner Balhibs! Wenn Ihr nicht Euer frevelhaftes Wandeln aufgebt, läßt er
euch in die Hände der Qaather und Gozashtumer fal len. Schmutz ist tausendmal besser als Entblößung vor ...« Welcome Wagner war es, der amerikanische Öku menische Monotheist. Fallon bemerkte, daß die Köpfe der Krishni sich einer nach dem anderen zu der Quel le dieses stentorialen Aufschreis zuwandten. »... denn es steht geschrieben, daß kein Mensch sei ne oder ihre Blöße vor einem anderen enthüllen darf. Und weiter ...« »Will denn hier jeder Unruhe stiften?« seufzte Fallon. Er wandte sich wieder Fredro zu, der mit seiner Linse auf die Rücken der Menge zielte. Er lief auf den Archäo logen zu und bellte: »Weg mit dem Ding, Sie Idiot!« »Was?« fragte Fredro. »Weg mit Kamera? War um?« Die Menge, die noch immer zu Wagner hinsah, be gann zu murren. Wagner fuhr in seiner bissigen An klage fort: »Noch sollt Ihr das Fleisch jener Wesen verzehren, die ihr Safqa nennt, denn es wurde geoffenbart, daß der eine Gott den Verzehr dieser Schnecken genann ten Kreaturen für Sünde hält, außerdem Muscheln, Austern und anderer Schalentiere ...« Fallon sagte zu Fredro: »Die Balhibumer glauben, daß man ihnen ein Stück Seele nimmt, wenn man sie abbildet.«
»Aber das kann nicht wahr sein. Ich habe – habe beim Fest fotografiert, und niemanden hat es ge kümmert.« Aus der Menge ertönten Antworten: »Wir essen, was uns schmeckt! Geh zurück auf deinen Planeten, von dem du gekommen bist!« Erregt sagte Fallon: »Da hatten sie Kleider an! Das Tabu gilt nur, wenn sie nackt sind!« Die Menge war nun lauter geworden, doch Wel come Wagner schrie daraufhin ebenfalls lauter. Der Fahrer des Wasserwagens und sein Gehilfe hörten zu pumpen auf. Als das Wasser nicht mehr floß, kämpf ten sich diejenigen, die den Wagen umstanden hatten, über den Platz zu der dichten Menge durch, die sich um die Gruft gebildet hatte. Fredro bat: »Nur ein einziges Bild noch!« Ungeduldig faßte Fallon nach der Kamera. Statt sie loszulassen, wurde Fredros Griff fester. Er rief: »Psia krew! Was machen Sie da, Sie Narr!« Während sie sich um die Kamera rauften, glitten die Sufkiras von Fredros Schulter auf den Boden. Ga zi hob sie mit einem verdrossenen Ausruf auf, denn ihr oblag das Waschen. Mittlerweile hatte der Ausruf Fredros und das Handgemenge zwischen dem Ar chäologen und Fallon die Aufmerksamkeit der in der Nähe stehenden Zanidumer erweckt. Einer der letzte ren rief mit ausgestrecktem Zeigefinger: »Seht diese
anderen Erdenmenschen! Einer versucht unsere See len zu stehlen!« »Was, was?« sagte ein anderer. Als er sich umsah, mußte Fallon zur Kenntnis nehmen, daß er und seine Begleitung jetzt im Brenn punkt feindseliger Blicke standen. Um die Gruft von Balade hatten die lauten Zwischenrufer die mächtige Stimme Welcome Wagners fast erstickt. Die Menge steigerte sich in ein Stadium hinein, in dem sie sehr bald den Erdenmann von der Mauer zerren und ihn zu Tode prügeln würde, falls sie ihm keine langsame re und kurzweiligere Todesart zudachte. Sogar der Wasserfahrer und sein Gehilfe waren vom Gefährt geklettert und hinübergeschlendert, um zu sehen, was los war. Fallon zupfte an Fredros Ärmel. »Kommen Sie, Sie Narr! Los jetzt!« »Wohin?« fragte Fredro. »Ach, zum Henker mit Ihnen!« rief Fallon, der vor Ärger fast zersprungen wäre. Er packte Gazis Handgelenk und wollte sie zum Wasserwagen zerren. Ein Zanidu trat nahe vor Fredro hin, streckte seine Zunge heraus und rief: »Bakhan Terrao!« Der Krishni holte zu einem Schlag ins Gesicht des Archäologen aus. Fallon hörte das Geräusch des Auf schlags und dann das etwas massivere Geräusch von
Fredros Faust. Er sah sich um – der Zanidu war nach hinten gefallen und saß jetzt auf dem Boden. Die anderen Zanidumer rückten rufend und mit geballten Fäusten näher. Als käme ihm jetzt zum er stenmal zu Bewußtsein, welches Ärgernis er verur sacht hatte, lief Fredro hinter Fallon und Gazi her. Die kleine Kamera schwang am Lederriemen, wenn Fre dro sich im Laufen umdrehte und vielsilbige polni sche Schimpfworte hervorstieß. »Der Wagen!« sagte Fallon zu seiner Jagaini. Am Wasserwagen angekommen, wandte Gazi sich schnell um und warf das Handtuchbündel Fallon zu. Sie selbst schwang sich auf den Kutschbock. Dann streckte sie die Hände nach den Sufkiras aus, die Fal lon ihr zuwarf, ehe er selbst hinaufkletterte. Knapp hinter ihnen kam der gewichtige Leib Julian Fredros. Fallon zog die Peitsche aus der Halterung, ließ sie über den Köpfen der Shaihans schnalzen und rief: »Hao! Haoga-i!« Die großen Biester setzten ihre zwölf Beine in Be wegung und legten sich mächtig ins Zeug. Mit einem Ruck geriet der Wagen ins Rollen. In diesem Augen blick verschwendete Fallon keinen Gedanken mehr daran, sich in den Zwist zwischen den Bürgern von Zanid und Welcome Wagner einzumischen. Der Wa gen jedoch war zufällig direkt auf die Streitszene ausgerichtet, und so kam es, daß Fallon sah, wie blo
ße Arme sich aus der Menge emporreckten und den Prediger herunterzuzerren versuchten, der noch im mer laut schreiend oben auf der Mauer hing. Obwohl ihn Wagners Schicksal nur wenig küm merte, konnte Fallon nicht der Versuchung widerste hen, vor Gazi und Fredro eine gute Figur zu machen. Er ließ die Peitsche schnalzen und rief »Vyant-hao!« Bei diesem Ausruf drehte sich auch der hinterste Zanidumer um und sprang beiseite, als der Wagen sich seinen Weg bahnte. »Vyant-hao!« rief Fallon und ließ die Peitsche über den Häuptern der Menge schnalzen.
7
Der Wagen bahnte sich den Weg durch die Menge wie ein Schiff, das Treibgut im Kielwasser hinterläßt. Die Balhibos, die Fredro gestellt hatten, liefen ihm, Drohungen und Schmähungen ausstoßend, nach. Un ter Fallons Leitung umkreiste der Wagen die Gruft wie ein Motorboot, das sich dem Dock nähert – zu je ner Stelle auf der Mauer, wo Welcome Wagner sich unsicher auf die Beine hochrappelte. »Spring 'rüber!« rief Fallon. Wagner sprang und wäre fast über den Wassertank hinweg auf der entgegengesetzten Seite wieder her untergepurzelt. Wieder Peitschenknall, und die Partie verfiel in einen Zuckeltrab zur nächsten Straßenein mündung, die vom Platz des Qarar wegführte. »Au!« kreischte der enteignete Fahrer. »Bringt mir meinen Wagen wieder!« Der Fahrer lief neben dem Wagen her und wollte sich an Bord schwingen. Fallon versetzte ihm mit dem Peit schengriff einen festen Hieb auf den Kopf, worauf der Mann rücklings aufs Pflaster fiel. Ein Blick nach hinten zeigte Fallon, daß mehrere andere ebenfalls versuch ten, hinaufzuklettern, doch Fredro entledigte sich des einen, indem er ihm ins Gesicht trat, während Wagner auf den Fingern des anderen herumtrampelte, der nach
den Handgriffen fassen wollte. Fallon beugte sich vor und ließ die Peitsche auf die nackte Haut eines dritten schnalzen, der versucht hatte, einem der Zugtiere in die Zügel zu fallen. Aufheulend sprang der Krishni beisei te und betastete die Striemen. Fallon trieb die Shaihans zu größerer Geschwin digkeit an, als der Wagen in die nächstgelegene Stra ße rumpelte. Fallon schien es, als machte die Hälfte der Bevölkerung von Zanid Jagd auf sein Gefährt. Da aber der Wassertank zu zwei Dritteln leer war, hatten sie ein ganz schönes Tempo erreicht, so daß zufällig im Weg stehende Passanten sich nur durch hastige Seitwärtssprünge retten konnten. »Wo – wohin fahren wir?« fragte Gazi. »Weg von der Meute«, brummte Fallon und wies mit dem Daumen hinter sich. »Festhalten!« Er bog scharf um eine Ecke, so daß der Wagen schwankte und gefährlich ins Schleudern geriet. Dann kam wieder eine und noch eine und so fuhr er im Zickzack weiter, bis er, trotz seiner Vertrautheit mit der Stadt, selbst im Zweifel war, wo sie sich zur Zeit befanden. Noch ein paar Wendungen, und die Meute schien so weit zurückgefallen, daß er das Ge spann in einen sechsfüßigen Trab fallen ließ. Die Menschen entlang der Straße starrten interes siert herüber, wenn der Wasserwagen mit drei Er denmenschen als Besatzung an ihnen vorbeifuhr –
zwei in ihren angestammten Kostümen und einer nackt und dazu eine ebenfalls nackte Krishni. Wagner meldete sich zu Wort: »Hören Sie, ich weiß nicht, wer Sie sind, aber ich bin heilfroh, daß Sie mich da 'rausgeschafft haben. Ich glaube, ich hätte diese Heiden nicht so aufbringen sollen. Die sind ziemlich leicht erregbar.« Fallon sagte: »Mein Name ist Fallon, und das da sind Gazi er-Doukh und Dr. Fredro.« »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Wagner. »Sagen Sie, wollt Ihr beide nicht wieder Eure Sachen anziehen?« »Wenn wir Zeit haben«, sagte Fallon. »Es macht uns verdächtig«, sagte Wagner. Fallon wollte eben sagen, daß Wagner ruhig aus steigen könnte, wenn er wollte, als der Wagen in den Park rumpelte, der um den Safq angelegt war. Fredro stieß einen erregten Ausruf aus. Wagner sah das Bauwerk und rief faustschüttelnd: »Wenn ich diese Bastion heidnischer Götzenanbetung in die Luft sprengen könnte, wäre es mir egal, wenn ich selbst damit draufginge!« »Was?« rief Fredro. »Sind Sie wahnsinnig? Eine un schätzbare archäologische Kostbarkeit in die Luft ja gen?« »Ihre atheistische Wissenschaft kümmert mich nicht.«
»Unwissender Wilder«, sagte Fredro darauf. »Unwissend?« konterte Wagner hitzig. »Ihre soge nannte Wissenschaft bedeutet eigentlich gar nichts. Sehen Sie, ich kenne die Wahrheit. Deswegen bin ich Ihnen überlegen, egal, wieviel akademische Titel Sie auch haben mögen.« »Ruhig jetzt!« sagte Fallon. »Ihr macht uns nur verdächtig!« »Ich werde nicht ruhig sein«, sagte Wagner. »Ich lege Zeugenschaft für die Wahrheit ab und lasse mich von unwissenden Zungen von ...« »Dann runter vom Wagen«, unterbrach ihn Fredro. »Das werde ich nicht! Es ist genauso wenig Ihr Wagen, Mister, und ich habe hier dasselbe Recht wie Sie.« Fallon suchte Fredros Blick. »Abwerfen?« fragte er auf Deutsch. »Jawohl!« sagte der Pole ebenfalls auf Deutsch. »Fang!« sagte Fallon zu Gazi und warf ihr die Zü gel zu. Dann packten er und Fredro je einen Arm Welcome Wagners. Der muskulöse Evangelist rüstete sich zwar zum Widerstand, doch die Doppelattacke war zuviel. Ein Ächzen und ein Heben, und Wagner fiel vom Wassertank und landete mit seinem weißen Turban mitten in einer großen schmutzigen Pfütze. Fallon übernahm wieder die Zügel und trieb die
Shaihans zur Eile an, damit Wagner dem Wagen nicht nachlaufen und wieder an Bord klettern konnte. Wagner saß mit gesenktem Kopf in der Pfütze und schlug mit den Fäusten ins schmutzige Wasser. Es sah tatsächlich so aus, als ob er weinte. Fredro lächelte. »Das tut ihm gut! Solche Tollhäus ler, die ein Denkmal sprengen wollen, sollte man in Öl sieden.« Er ballte die Fäuste. »Wenn ich an solche Narren denke, könnte ich – ich ...« Er knirschte hörbar mit den Zähnen, als ihn sein lückenhaftes Englisch im Stich ließ. Fallon fuhr an den Straßenrand heran, zügelte die Shaihans und zog die Bremse an. »Am besten, wir steigen hier aus.« »Warum fahren wir nicht bis zu Ihrem Haus?« fragte Fredro. Fallon staunte, wie ein so gebildeter Mann so dumm sein konnte, und erklärte ihm, warum er den Wagen nicht vor seinem Domizil parken wollte. Die Späher des Präfekten sollten ihn nicht sofort entdek ken, wenn sie den Juru danach durchkämmten. Wäh rend er diese Erklärung abgab, kletterte er vom Was serwagen und legte seinen Sufkir an. »Möchten Sie auf einen Kvad bei uns einkehren, Fredro? Ich könnte einen brauchen, nach all dem, was sich heute nachmittag zugetragen hat.« »Danke, nein! Ich muß ins Hotel zurück und meine
Fotos entwickeln. Und ich – hm – esse heute abend mit Herrn Konsul Mjipa.« »Na, dann richten Sie Percy Pickelgesicht alles Liebe von mir aus! Sie könnten ihm den Vorschlag unterbrei ten, er solle unter einem Vorwand Reverend Wagner den Paß entziehen. Dieser Schwachkopf ruiniert mit ei ner einzigen Predigt die irdisch-balhibischen Bezie hungen mehr, als Percy mit all seinen Good-WillBeziehungen wiedergutmachen kann.« »Dieser elende Finsterling! Ja, das werde ich tun! Lustig. Ich kenne einige Ökumenische Monotheisten auf der Erde. Obwohl ich ihre Lehre nicht glaube oder ihre Bewegung billige, so muß ich sagen, keiner ist wie Wagner. Er ist eine Klasse für sich!« »Na ja«, sagte Fallon, »ich nehme an, die können auf diese Entfernung keine guten Missionare impor tieren, also nehmen sie hier jeden, der willig ist, und schicken ihn auf Seelenfang aus. Und da wir schon von Seelen reden: versuchen Sie ja nicht, einen nack ten Balhibu zu fotografieren! Wenigstens nicht ohne seine – oder ihre – Erlaubnis! Das wäre genauso schlecht wie das, was Wagner tut.« Fredros Gesicht nahm jetzt die Miene eines bei ei ner Missetat ertappten Hundes an. »Das wäre sehr dumm, wie? Können Sie mir verzeihen? Ich werde es nicht wieder tun. Ein gebranntes Kind scheut das Feuer.«
»Nun schön. Und wenn Sie schon fotografieren müssen, dann benutzen Sie wenigstens diese kleinen Hayachi-Ringkameras.« »Die geben keine sehr klaren Aufnahmen, aber ... Und nochmals, vielen Dank! Ich – es tut mir leid, daß ich soviel Ärger mache.« Fredro sah in die Straße zu rück, durch die sie eben gekommen waren, und ein entsetzter Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Oh, sehen Sie, wer da kommt! Dubranec!« Er wandte sich um und lief eilig davon. Fallon sag te: »Nasuk genda!« in Balhibu und sah dann in die angegebene Richtung. Zu seinem Erstaunen sah er Welcome Wagner, der auf ihn zugelaufen kam, den schmutzigen Turban noch immer auf dem Kopf. »He, Mr. Fallon!« rief Wagner. »Sehen Sie, es tut mir leid, daß wir Streit hatten. Wenn etwas gegen meine Prinzipien verstößt, werde ich fuchsteufels wild, so daß ich kaum weiß, was ich tue.« »Na?« sagte Fallon, der Wagner ansah, als wäre dieser unter einem Müllhaufen hervorgekrochen. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mit Ihnen gemeinsam nach Hause gehe? Und Ihnen einen kur zen Besuch abstatte? Bitte?« »Heute entschuldigt sich aber auch alles bei mir«, sagte Fallon. »Warum wollen ausgerechnet Sie mich besuchen?« »Na ja ... sehen Sie ... als ich auf der Straße saß,
nachdem Sie mich abgeworfen hatten, hörte ich eine Menschenmenge – und da kam auch die ganze Meute nackter Krishni, einige mit Keulen bewaffnet. Sie müssen uns auf die Spur gekommen sein, indem sie sich nach dem Wagen durchfragten. Deswegen dach te ich ... es wäre vielleicht sicherer, wenn ich ein Weil chen in einem Haus Unterschlupf fände, bis sie die Suche aufgeben. Diese Heiden sahen wirklich zu wild aus!« »Dann gehen wir endlich«, sagte Fallon und be schleunigte das Tempo. »Kommen Sie, Wagner! Sie sind zwar die Ursache des ganzen Rummels, aber ich werde Sie nicht dem Pöbel überlassen. Der Pöbel auf Krishna ist zu Ärgerem fähig als der auf der Erde.« Sie gingen so rasch sie konnten, ohne in Laufschritt zu verfallen, bis sie vor Fallons Haus angekommen waren. Hier trieb Fallon Gazi und Wagner hinein und verschloß die Tür hinter ihnen. »Wagner, legen Sie Hand an. Ich möchte die Couch vor die Tür schieben, für den Fall des Falles.« Die Sitzbank wurde vor die Tür geschoben. »So – und jetzt bleiben Sie hier und halten Aus schau, während wir uns anziehen«, sagte Fallon. Gleich darauf hatten Fallon seinen Schurz und Gazi einen Rock angelegt. »Schon Anzeichen von unseren Freunden?« fragte Fallon, als er ins Wohnzimmer kam.
»Nein. Keine Spur«, sagte Wagner. Fallon hielt ihm eine Zigarre unter die Nase. »Rauchen Sie? Nein? Dachte ich mir's doch.« Er gab sich selbst Feuer und schenkte einen Kvad ein. »Auch keinen Alkohol?« »Nein. Aber trinken Sie ruhig! Ich werde Ihnen in Ihrem eigenen Heim keine Vorschriften machen, auch wenn Sie eine Sünde begehen.« »Na, das ist wenigstens etwas, Trüber Dan.« »Ach, Sie haben davon gehört? Sicher, ich war einmal der größte Sünder auf den Cetischen Planeten – vielleicht in der ganzen Galaxis. Sie haben ja keine Ahnung von den Sünden, die ich begangen habe.« Wagner seufzte voll Reue, als würde er gern einige dieser Sünden um der alten Zeiten willen wieder be gehen. »Doch dann habe ich das Licht gesehen, Miss Gazi ...« »Gazi kann Sie nicht verstehen«, sagte Fallon. Wagner verfiel in sein sehr unvollkommenes Bal hibou. »Mistress Gazi – ich wollte sagen, Sie wissen nicht, was echtes Glück ist, ehe Sie nicht das Licht se hen. All die materialistischen eitlen Vergnügungen schwinden wie eine Rauchwolke vor dem Ruhm des Einen, der das Universum regiert. Wer kennt all die Götter, die Ihr hier auf Krishna habt? Es gibt sie nicht, wirklich nicht, es sei denn, man möchte damit sagen, wenn man den Gott der Liebe verehrt, betet man ei
nen Teil des wahren Gottes an, der auch ein Gott der Liebe ist. Doch wenn man eine Seite des wahren Got tes anbetet, warum nicht den ganzen Gott anbeten ...?« Fallon, der sich in seinen Drink vertiefte, hatte die se Predigt bald satt. Gazi aber schien sie zu gefallen. Also fand sich Fallon ihr zuliebe mit dem Sermon ab. Er mußte zugeben, daß Wagner, wenn er wollte, über sehr viel Anziehungskraft verfügte. Seine lange Nase bebte und die braunen Augen glänzten vor Bekeh rungseifer. Wenn Fallon gelegentlich eine Frage oder Entgegnung einwarf, begrub Wagner ihn unter einer Lawine von Dialektik. Zitaten und Mahnungen, die er, auch wenn er wollte, nicht hätte beantworten können. Als es eine Stunde lang so weiterging, war inzwi schen Roqir untergegangen und der Pöbel der Zani der war noch immer nicht aufgetaucht. Fallon, der langsam hungrig wurde, unterbrach die Unterhal tung: »Hoffentlich haben Sie nichts dagegen, wenn ich Sie jetzt rauswerfe, Kamerad, aber ...« »Ach sicher, Sie wollen essen. Ich vergesse mich wie immer, wenn ich für die Wahrheit Zeugnis able ge. Natürlich würde ich gern hier essen, wenn es nicht gerade Safqa oder Ambara gibt ...« »Nett, daß Sie uns besucht haben«, sagte Fallon entschlossen und rückte das Sofa von der Tür weg.
»Da ist Ihr Turban! Hüten Sie sich vor Versuchun gen!« Mit einem Aufseufzen wickelte Wagner den langen schmutzigen Streifen weißen Stoffes um sein schütte res schwarzes Haar. »Na dann gehe ich eben. Hier ist meine Karte.« Er überreichte ihm eine Karte, in Eng lisch, Portugiesisch und Balhibou bedruckt. »Die Adresse ist eine Pension in der Dumu. Sollten Ihre Lebensgeister einmal sinken, kommen Sie zu mir! Ich werde Sie mit göttlichem Licht beleben!« »Ich schlage vor, Sie machen bei den Krishni wei ter. Sie werden dabei viel mehr erreichen, wenn Sie deren alte Sitten nicht beleidigen, die ihrer Lebensart sehr gut angepaßt sind«, meinte Fallon. Wagner beugte den Kopf. »Ich werde es mit mehr Takt versuchen. Schließlich bin ich auch nur ein ar mer fehlbarer Sünder wie alle anderen. Nochmals – danke! Leben Sie wohl, der wahre Gott schütze Sie!« »Dank Bakh, daß er weg ist!« sagte Fallon. »Wie steht's mit dem Essen?« »Bin eben dabei«, sagte Gazi. »Aber ich glaube, du tust Meister Wagner unrecht. Wenigstens mir scheint er eine Rarität zu sein: ein Mensch, der nicht von selbstsüchtigen Gedanken bewegt wird.« Obwohl Fallon von dem Kvad, den er während Wagners Besuch getrunken hatte, schon ein wenig unsicher war, goß er sich noch einen ein. »Hast du
nicht bemerkt, wie dieser Zaft sich zum Abendessen eingeladen hat? Ich traue diesen Menschen nicht, die vorgeben, selbstlos zu sein. Wagner war früher ein Abenteurer, mußt du wissen. Er hat von seinem Ein fallsreichtum gelebt, und ich würde sagen, er tut es auch jetzt noch.« »Antane, du beurteilst alle Menschen nach dir selbst – ob es nun Terraner oder Krishni sind. Ich hal te Meister Wagner für einen im Grund genommen guten Menschen, mögen auch seine Methoden grob und ungerecht sein. Was seine Theologie betrifft, kann ich nichts dazu sagen, aber vielleicht hat er recht damit. Wenigstens haben seine Argumente um keine Spur trügerischer geklungen, als die der Gefolgsleute eines Bakh, Yesht, Vondyor und aller übrigen.« Fallon runzelte die Stirn über seinem Drink. Die Bewunderung seiner Jagaini für den verachteten Wagner wurmte ihn, und der Alkohol hatte ihn hitzig gemacht. Um Gazi zu beeindrucken und um auf ein Thema zu kommen, bei dem er im Vorteil war, brach er seine Regel, nie übers Geschäft mit ihr zu reden, und sagte: »Übrigens – wenn meine gegenwärtig lau fende Sache geschafft ist, dann haben wir unser Zam ba so gut wie zurückerobert.« »Wieso das?« »Ach – ich habe ein Geschäft gemacht. Wenn ich einer bestimmten Partei eine Information verschaffe,
bekomme ich genügend bezahlt, um von neuem an fangen zu können.« »Welcher Partei?« »Darauf würdest du nie kommen. Allem Anschein nach ein schlichter Marktschreier und Scharlatan – doch er hat Macht über alles Gold des Dakhaq. Ich habe ihn heute morgen bei Kastambang getroffen. Kastambang hat einen Vertrag ausgeschrieben, und er hat ihn unterzeichnet. Der Bankier hat ihn in drei Teile zerrissen und jedem von uns ein Stück gegeben. Wenn jemand alle drei Teile hat, kann er hier oder in Majbur kassieren.« »Wie aufregend!« Gazi tauchte aus der Küche auf. »Darf ich sehen?« Fallon zeigte ihr sein Drittel des Vertrages und steckte das Papier dann wieder weg. »Sag nieman dem etwas davon!« »Bestimmt nicht!« »Und sag ja nicht wieder, ich vertraue dir nicht. Al so – wie lange dauert's noch bis zum Essen?«
8
Fallon hatte am nächsten Tag seine zweite Tasse Shu rab zur Hälfte geleert, als der kleine Türgong ertönte. Der Besucher war ein Junge mit einer Nachricht. Nachdem er den Burschen mit einem Trinkgeld von fünf Arzu weggeschickt hatte, las Fallon: Lieber Fallon! Fredro hat mir gestern von Ihrer Ab sicht erzählt, heute abend zu Kastambangs Party zu gehen. Könnten Sie es einrichten, heute bei mir vorbeizukommen und Ihre Einladung mitzubrin gen? Es eilt. P. Mjipa, Konsul Fallons Miene verfinsterte sich. Wollte sich Mjipa in seine Pläne einmischen – womöglich mit der ge schwollenen Ausrede, Fallon würde das Ansehen der menschlichen Rasse vor den »Eingeborenen« herab setzen? Nein, das konnte er kaum tun und Fallon gleichzeitig drängen, mit dem Safq-Projekt weiter zumachen. Und Fallon mußte zugeben, daß Mjipa ein aufrechter und ehrlicher Vertreter der menschlichen Gattung war. Also war es besser, er hörte sich an, was Percy Mji pa im Sinn hatte, zumal er an diesem Vormittag
nichts Besseres zu tun hatte. Er machte sich also dar an, im Haus seine Sachen zusammenzusuchen. »Was ist?« fragte Gazi, die den Tisch abräumte. »Percy möchte mich sehen.« »Worum handelt es sich?« »Das sagt er nicht.« Ohne weitere Erklärung machte sich Fallon auf den Weg. Die Einladung steckte in der Brieftasche, die an seinem Gürtel baumelte. Da er heute sorgloser mit seinem Geld umgehen wollte als am vorhergehenden Tag, bestieg er einen von schweren Last-Ayas gezo genen Omnibus in der Asada Straße, der ins Kharju fuhr, wo gegenüber dem Regierungsgebäude das Terranische Konsulat stand. Dort mußte Fallon war ten, weil Mjipa eine lange Konsultation mit einem Krishni aus dem Amte des Präfekten hatte. Als der Beamte des Präfekten weg war, ließ Mjipa Fallon in sein Privatbüro bitten und sagte in seinem scharfen, rhythmischen Tonfall: »Fredro hat mir be richtet, daß Sie Gazi zu diesem Fest bei Kastambang mitnehmen wollen. Ist das richtig?« »Goldrichtig! Was kümmert es das Konsulat?« »Haben Sie Ihre Einladung mitgebracht, wie ich Sie gebeten habe?« »Ja.« »Darf ich sie sehen?« »Hören Sie, Percy, Sie werden doch keine Ver
rücktheit begehen und sie etwa zerreißen – oder? Weil ich nämlich an Ihrem verdammten Projekt arbei te. Keine Party – kein Safq. Das steht fest!« Mjipa schüttelte den Kopf. »Machen Sie sich nicht lächerlich.« Er studierte eingehend die Einladung. »Ich habe es mir gedacht.« »Was gedacht?« »Haben Sie das wohl sorgfältig durchgelesen?« »Nein. Ich spreche Balhibou zwar fließend, kann es aber nicht gut lesen.« »Dann haben Sie folgende Zeile sicher nicht gele sen: ›Gilt nur für eine Person‹?« »Was???« Mjipa deutete auf die fragliche Zeile. Fallon las sie mit sinkenden Lebensgeistern. »Fointsaq!« rief er wü tend aus. Mjipa erklärte: »Sie sehen, ich kenne Kastambang sehr gut. Er stammt aus einer dieser entmachteten ade ligen Familien. Ein schrecklicher Snob – sieht sogar auf uns Terraner herab, stellen Sie sich diese Frechheit vor! Ich kenne seine ›Gilt-nur-für-eine-Person-Karten‹ und hatte nicht das Gefühl, er wolle Gazi – eine bruderlose Frau aus den unteren Schichten – bei sich sehen. Also wollte ich Sie nur darauf aufmerksam machen und Ih nen Peinlichkeiten ersparen, falls Sie zu zweit in seinem Stadthaus aufzukreuzen gedächten, wo der Türsteher Gazi nicht einlassen würde.«
Fallon starrte Mjipa verständnislos ins Gesicht. Er konnte darin keinerlei Anzeichen von Schadenfreude entdecken. Vielmehr sah es ganz so aus, als hätte ihm der Konsul tatsächlich einen Freundschaftsdienst er wiesen, auch wenn Fallon dies nur ungern zugeben wollte. »Danke«, sagte Fallon schließlich. »Jetzt brauche ich nur noch Gazi die Neuigkeit zu überbringen, ohne daß es mir im weiteren Verlauf an den Kragen geht. Um mich da herauszuwinden, würde es der Weisheit eines Anerik bedürfen.« »Da kann ich Ihnen nicht helfen. Wenn Sie schon mit diesem muskulösen Krishni-Weib zusammenle ben müssen ...« Fallon enthielt sich der Bemerkung, daß Mjipas Frau den Ausmaßen der Elefanten ihres Heimatkon tinents entsprach. Er fragte vielmehr: »Werden Sie auch da sein?« »Nein. Ich habe für mich und Fredro Einladungen organisiert, aber er wollte nicht hingehen.« »Warum nicht? Ich hätte gedacht, er würde über die Aussicht außer sich geraten!« »Er hat von den Raubtierkämpfen gehört, die bei dieser Gelegenheit veranstaltet werden, und er haßt Grausamkeiten. Was mich betrifft, so bekomme ich Kopfschmerzen davon. Ich bleibe lieber zu Hause.« »Übrigens – gestern haben Sie etwas von falschen
Fühlern und Mitteln zur Verkleidung verlauten las sen, die Sie mir verschaffen wollten.« »Gut, daß Sie mich daran erinnern!« Mjipa kramte in einer Lade und zog ein Päckchen hervor. »Da drin finden Sie genug Kosmetika für beides: Haarfarbe, Ohren, Antennen und dergleichen. Da die Erdenmen schen in Balhib jetzt das Zeug praktisch nicht mehr verwenden, dürften Sie damit gut durchkommen.« »Danke. Leben Sie wohl, Percy!« Fallon ging hinaus, während seine Gedanken durcheinanderwirbelten. Als erstes unterdrückte er nicht ohne inneren Kampf das Verlangen, sich vollau fen zu lassen, so daß die verdammte Party vorüber sein würde, bis er wieder ausgenüchtert war. Doch da es ein schöner Tag war, entschloß er sich zu einem Spaziergang entlang der Stadtmauern, statt auf direk tem Wege nach Hause zu gehen. Er wollte mit Gazi weder Streit bekommen, noch mit ihr brechen. Andererseits würden sicher Funken sprühen, wenn er mit der Wahrheit herausrückte. Es war ganz eindeutig seine Schuld, weil er sich nicht den Kopf über das Gekritzel auf der Einladung zer brochen hatte. Natürlich hatte er ihr die Karte gezeigt – also hätte sie den fatalen Satz ebenso sehen müssen. Doch es würde nichts nützen, ihr das zu sagen. Der ihm nächstgelegene Teil der Mauer lag im Osten, direkt entgegengesetzt seinem Haus, dort, wo
sich die Mauern vom Palast auf dem Hügel zum Lummish-Tor erstreckten. Die das Palastgelände um gebenden Befestigungsanlagen wurden zum Großteil von den Quartieren der regulären Armee Balhibs ein genommen. Diese Unterkünfte wurden jeweils von den für den Dienst in der Residenz abkommandierten Regiment – Offizieren und Mannschaften – bewohnt. Dazu gehörte auch Oberst Kordaq, dem das Kom mando der Juru-Kompanie der Bürgerwehr übertra gen worden war. Beim Gedanken an Kordaq wurde bei Fallon eine neue Kette von Spekulationen ausgelöst. Vielleicht, wenn er die Sache richtig anfaßte ... Er fragte in der Kaserne nach – und plötzlich er schien der Oberst, brilleputzend. »Hallo, Kordaq!« rief Fallon. »Wie lebt es sich so in der regulären Armee?« »Gruß, Meister Antane! Um Eure Frage zu beantwor ten, auch wenn sie nur als höfliche Redensart gemeint war: es ist schwer, aber nicht ohne Kompensation.« »Hört man Kriegsgerüchte?« »In Wahrheit schwirren die Gerüchte weiterhin wie irre Aqebats – aber nicht dichter als früher. Man wird immun dagegen, so wie jemand, der die BambirSeuche überlebt hat, sie nie wieder zu fürchten braucht. Was führt Sie hierher, in dieses grimmige Gebäude?«
Fallon erwiderte: »Ich stecke in Schwierigkeiten, mein Freund, und Ihr seid der einzige, der mir he raushelfen kann.« »Wahrhaftig? Obwohl ich für das durch Euer Ver trauen ausgedrückte Lob Dank empfinde, so hoffe ich doch, Ihr stützt Euch nicht zu stark auf dieses schwankende Schilfrohr ...« Fallon berichtete ganz offen von seinem Versehen und fügte hinzu: »Ihr wolltet doch Eure Bekannt schaft mit Gazi erneuern, nicht wahr?« »Ja – um der alten Zeiten willen.« »Wenn ich jetzt krank heimkäme und mich ins Bett legte, wäre Gazi sehr enttäuscht.« »Das dünkt mir auch«, sagte Kordaq. »Aber warum all die Aufregung wegen einer bloßen Belustigung? Warum sagt Ihr nicht offen, daß Ihr nicht gehen könnt, und führt sie woanders hin aus?« »Ich muß einfach zu diesem Fest gehen, ob Gazi mitgeht oder nicht. Geschäfte ...« »Ach. Was dann?« »Wenn Ihr uns zufällig während der elften Stunde einen Besuch abstattet, könntet Ihr den Kranken trö sten und Gazi Trost anbieten, indem Ihr selbst sie ausführt.« »Ach? Und wohin sollte ich diese reizende kleine Ramandupflanze ausführen?« Fallon unterdrückte ein Lächeln bei dem Gedanken
an Gazis Umfang. »Heute abend ist die Premiere ei ner Neuinszenierung von Haruians ›Verschwörern‹. Ich komme für die Karten auf.« Kordaq strich sich übers Kinn. »Ein ungewöhnli ches Angebot, aber – bei Bakh, ich nehme es an, Mei ster Antane! Oberst Kyum schuldet mir ohnehin eine Nachtschicht bei der Wache. Ich schicke ihn an mei ner Stelle ins Arsenal. Während der elften Stunde al so?« »Ganz richtig. Außerdem ist keine Eile geboten, Gazi sehr früh nach Hause zu bringen.« Beim Schimmern in Kordaqs Augen setzte Fallon hinzu: »Sie verstehen hoffentlich, daß ich sie Ihnen nicht als Geschenk präsentiere!« Als Fallon zu Mittag heimkam, traf er Gazi noch im mer in sonniger Stimmung an. Nach dem Essen setzte er sich mit einer Nummer von Zanids alle fünf Tage erscheinenden Zeitung Rashm hin. Der Name der Zei tung entstammte der Mythologie und könnte grob mit ›Stentor‹ übersetzt werden. Bald aber begann er über Übelkeit zu klagen. »Gazi, was hast du da ins Essen getan?« »Nichts Billiges, mein Teurer. Das beste Badr und einen frischgeschlachteten Ambar.« »Hmm.« Fallon hatte den Ekel der Erdenmenschen gegenüber dem Ambar überwunden. Es war ein wir
belloses Tier von Hummergröße. Da dieses Tier je doch sehr rasch verweste, würde es jetzt eine gute Ausrede abgeben. Wenig später begann er sich zu winden und zu stöhnen und versetzte Gazi damit in offenkundige Alarmstufe. Nach einer weiteren Stun de lag er im Bett und sah recht mitgenommen aus, während Gazi in ihrer Enttäuschung in einen hysteri schen Weinkrampf ausbrach und die Wand mit den Fäusten bearbeitete. Als ihr Gequietsche und Schluchzen so weit ver ebbt war, daß sie wieder artikuliert sprechen konnte, jammerte sie: »Gewiß ist der Gott der Erdenmenschen dagegen, daß wir unseren Anteil an harmlosem Ver gnügen haben! Und das viele Gold für mein neues Kleid, das ich nun nie tragen werde! Mir wäre lieber, wir hätten es auf Zinsen bei einer guten Bank ange legt!« »Ach, es wird sich sicher noch eine Gelegenheit für das Kleid ergeben«, sagte Fallon und stöhnte vor ge spieltem Schmerz. Sein schwaches Gewissen regte sich an diesem Punkt. Er spürte, daß er Gazi ihre Sparsamkeit nie als Verdienst angerechnet hatte. Ihr Sinn für den Wert eines Kard war bei ihr mehr ent wickelt als bei ihm. »Keine Angst«, sagte er. »Bis zur zehnten Stunde bin ich wieder auf dem Damm.« »Soll ich Qouran, den Arzt, holen?«
»Ich lasse keinen eurer Ärzte Hand an mich legen. Die sind doch imstande und nehmen einem Erden menschen die Leber heraus, weil sie sie für den Blinddarm halten.« »Es gibt auch einen Arzt deiner Gattung, einen Dr. Nung in der Gabanj. Den könnte ich holen ...« »Nein, so schlecht geht es mir nicht. Außerdem ist er Chinese und würde mir wahrscheinlich gemahlene Yeki-Knochen verabreichen.« Das war Dr. Nung ge genüber zwar ungerecht, mochte aber als Ausrede hingehen. Fallon empfand den Rest des Nachmittags als über aus langweilig, weil er nicht zu lesen wagte, aus Angst, er könnte den Eindruck erwecken, daß er sich schon zu wohl fühle. Als die Zeit der dritten Mahlzeit nahte, sag te er, er wolle nichts essen. Das alarmierte Gazi, die an seinen regelmäßigen und herzhaften Appetit gewöhnt war – mehr als an Ächzen und Grimassen. Nach unendlicher Wartezeit wurde das Licht Ro qirs schwächer und der Türgong ertönte. Gazi wisch te sich hastig die noch vorhandenen Tränen ab und ging an die Tür. Fallon hörte Stimmen aus der Diele. Oberst Kordaq trat ein. »Heil, Meister Antane!« sagte er. »Ich höre, Ihr seid indisponiert. Ich möchte Euch den Trost spenden, dessen meine rauhe Soldatenzunge fähig ist. Was fehlt meinem Waffenbruder?«
»Ach, irgend was hat mir den Magen verdorben. Nichts Ernstes – morgen bin ich wieder fit. Kennt Ihr meine Jagaini, Gazi er-Doukh?« »Gewiß. Früher waren wir eng befreundet. Wir ha ben einander sofort an der Tür erkannt, nicht ohne melancholischen Schmerz um all die Jahre, die seit unserer letzten Begegnung verstrichen sind. Es ist ein Vergnügen, einander nach so langer Zeit wieder zu begegnen.« Der Oberst machte eine Pause, als wäre es ihm peinlich. »Ich hatte ein kleines Angebot zu ma chen – nicht der Rede wert. Ein Vergnügen – Karten für die Premiere von den ›Verschwörern‹, aber wenn Ihr Euch nicht wohl fühlt ...« »Führt Gazi aus«, sagte Fallon. »Wir wollten zur Party bei Kastambang –, aber ich schaffe es nicht.« Jetzt folgte viel höfliches Hin- und Hergerede. Gazi meinte, sie wolle Fallon nicht krank zu Hause liegen lassen, und Fallon – unterstützt von Kordaq – bestand darauf, daß sie mitging. Sie gab bald nach und mach te sich mit ihrem flitterbesetzten Rock und der schimmernden Ulemda zurecht. Fallon rief: »Vergiß deinen Regenmantel nicht. Egal, ob eine Wolke am Himmel steht oder nicht. Ich möchte nicht das Risiko eingehen, daß die neuen Sa chen naß werden!« Kaum waren die zwei aus dem Haus, sprang Fal lon aus dem Bett und hüllte sich in seine beste Tuni
ka. Alles hatte sich besser angelassen als er gedacht hatte. Denn eines stand fest: Auch wenn er es ge schafft hätte, Gazi zu Kastambang mitzunehmen, so hätte ihre Anwesenheit ihn bei seinem Vorhaben sehr gehindert. Zweitens hatte sie angedeutet, daß sie sich liebend gern die »Verschwörer« angesehen hätte. Und Fallon, der dieses Stück einmal in Majbur gesehen hatte, ver spürte nicht den geringsten Wunsch, dieses Drama noch einmal über sich ergehen zu lassen. Fallon verschlang etwas Eßbares, schnallte sein Schwert um, nahm einen hastigen Schluck Kvad, be sah sich kurz im Spiegel und machte sich auf den Weg zum Herrschaftshaus des Bankiers Kastambang.
9
Hunderte von Kerzen warfen ihren sanften Schimmer auf die seidene Abend-Tuniken der männlichen Krishni und auf bloße Schultern und Brüste der Da men. Juwelen glitzerten, edle Metalle schimmerten. Während er diesen Glanz bewunderte, fragte sich Fallon, der für gewöhnlich kein sehr nachdenklicher Mensch war, ob diese Menschen nicht in wenigen Jahren vom Feudalismus in den Kapitalismus kata pultiert werden würden. Werden sie zu einem sozia listischen oder kommunistischen Stadium fortschrei ten, wie es einige terranische Nationen getan haben, ehe sie sich zu einer Art vermischter Wirtschaftsform durchgerungen hatten? Die ungerechte Verteilung des Reichtums konnte als Anstoß einer derartigen re volutionären Entwicklung angesehen werden. Doch andererseits, überlegte Fallon, hatten sich die Krishni bis jetzt als zu grausam, romantisch und individuali stisch erwiesen, um ein kollektivistisches Regime an zunehmen. Er saß allein da, schlürfte Kvad, den er sich an der Bar geholt hatte, und sah der Darbietung auf der kleinen Bühne zu. Wäre Gazi bei ihm gewesen, hätte er mit ihr im Ballsaal tanzen müssen, wo eine Gruppe einheimischer Musiker eine temperamentvoll
unzulängliche Imitation einer terranischen Tanzka pelle lieferte. Da Anthony Fallon kein guter Tänzer war und diese Betätigung langweilig fand, war ihm sein gegenwärtiges Alleinsein nicht unangenehm. Auf der Bühne tummelte sich ein als Iwan und Ol ga angekündigtes Paar. Es hüpfte, sprang und warf die gestiefelten Beine. Trotz des rosa Make-up auf der grünlichen Haut, den auf der Stirn überklebten An tennen und den neckisch versteckten Ohren – der Mann hatte eine Kosakenmütze aus Schaffell und die Frau ihre Frisur darüber drapiert – konnte Fallon an kleinen anatomischen Details deutlich erkennen, daß es Krishni waren. Warum aber gaben sie vor, von der Erde zu stammen? Weil sie zweifellos auf diese Art mehr Erfolg hatten. Für die Krishni war die Erde der Ort des Glanzes und der Romantik. Eine Hand berührte Fallons Schulter. Kastambang sagte: »Meister Antane, es ist alles vorbereitet. Wollt Ihr gnädigst kommen?« Fallon folgte seinem Gastgeber in einen kleinen Raum, wo zwei Diener vortraten, einer eine Maske, der andere einen weiten schwarzen Umhang in den Händen tragend. »Legt dies an«, sagte Kastambang. »Euer Ge sprächspartner wird ebenso gekleidet sein.« Fallon, der sich auf diese alberne Weise wie ein Schauspieler vorkam, ließ sich von den Dienern Mas
ke und Umhang anlegen. Dann führte ihn der schnaufende und humpelnde Kastambang durch Gänge, die mit schwarzem Samt ausgeschlagen wa ren, was in Fallon das unbehagliche Gefühl hervor rief, er würde sich im Schlund eines großen Tieres fortbewegen. Sie kamen an eine Tür, und der Bankier öffnete. Als er Fallon hineinbat, sagte er: »Keine Tricks und keine Gewalt. Meine Leute bewachen sämtliche Aus gänge.« Dann ging er hinaus und schloß die Tür. Als Fallons Blicke die schwach erhellte Kammer ab tasteten, war das erste, das ihm auffiel, eine kleine Öl lampe in einer Nische vor einem verzerrten, böse dreinsehenden kleinen Kupfergott aus dem fernen Ziada, jenseits der Drei Meere. Und an der gegenü berliegenden Wand sah er einen geduckten schwar zen Schatten, der plötzlich zu einer Größe empor wuchs, die Fallons gleichkam. Fallon fuhr auf und wollte mit der Hand an den Schwertgriff – da fiel ihm ein, daß man ihn beim Be treten des Hauses um sein Schwert erleichtert hatte. Und dann sah er, daß der Schatten ein Mensch war – oder ein Krishni – der verhüllt und maskiert war wie er selbst. »Was wollt Ihr wissen?« fragte die schwarze Ge stalt.
Die Stimme klang schrill vor Spannung. Die Spra che war Balhibou. Der Akzent klang ganz nach OstBalhibou, wo die Sprache in die westlichen Dialekte von Gozashtand überging. »Das gesamte Ritual des Yesht«, sagte Fallon. Er suchte nach Papier und Bleistift und ging näher ans Licht. »Beim Gott der Erdenmenschen, das ist kein gerin ges Anliegen«, sagte der andere. »Das Enchiridion der Gebete und Hymnen allein bildet einen gewichti gen Band – und daran kann ich mich nur schwach er innern.« »Ist dieses Enchiridion geheim?« »Nein. Das bekommt man in jeder guten Buch handlung.« »Na, dann sagt mir alles, was nicht im Enchiridion steht. Kostüme, Bewegungen und so weiter.« Eine Stunde später hatte Fallon alles in Kurzschrift niedergelegt und sein Blatt fast vollgeschrieben. »Ist das alles?« »Mehr weiß ich nicht.« »Dann danke ich vielmals. Wenn ich wüßte, wer Ihr seid, könnten wir einander ab und zu etwas Gutes tun. Manchmal brauche ich Informationen ...« »Zu welchem Zweck, mein Herr?« »Na – sagen wir für Reportagen in Rashm.« Tat sächlich hatte Fallon der Zeitung ein paar Beiträge ge
liefert, was als Deckmantel für das ansonsten ver dächtige Fehlen einer regelmäßigen Beschäftigung gedient hatte. Der andere sagte: »Ohne Euren guten Willen in Frage stellen zu wollen, bin ich mir doch bewußt, daß jemand, der mich und meine Geschichte kennt, mir sehr viel bitteres Leid zufügen könnte, wenn ihm der Sinn danach stünde.« »Ich habe nicht die Absicht. Schließlich würde ich Euch dadurch ja wissen lassen, wer ich bin.« »Ich habe diesbezüglich schon mehr als nur eine Ahnung«, sagte der andere. »Ein Terraner, nach Eu rem Akzent – und ich weiß, daß unser Gastgeber heu te abend nur wenige von dieser Sorte eingeladen hat. Ein wählerischer Mensch.« Fallon dachte kurz daran, dem anderen mit einem Sprung die Maske vom Gesicht zu reißen. Doch dann würde er selbst vielleicht ein Messer zwischen die Rip pen bekommen. Und auch unbewaffnet war der Kerl vielleicht stärker als er. Obwohl der Erdenmensch im Durchschnitt, an eine etwas größere Schwerkraft ge wöhnt, den Durchschnittskrishni im Handgemenge überwinden konnte, so traf das jedoch nicht immer zu. Außerdem war Fallon nicht mehr der Jüngste. »Sehr schön«, sagte er, »leben Sie wohl.« Und er klopfte an die Tür, durch die er eingetreten war. Als diese Tür geöffnet wurde, hörte er, wie sein Ge
sprächspartner in gleicher Weise an die andere Tür klopfte. Fallon ging hinaus und folgte dem Diener durch den mit Samt ausgeschlagenen Gang in den Raum zurück, wo er seine Verkleidung in Empfang ge nommen hatte. Diese wurde ihm wieder abgenommen. »Seid ihr befriedigt?« fragte der hereinhinkende Kastambang. »Habt Ihr erhalten, was Ihr gesucht habt?« »Ja, danke. Darf ich fragen, welches Programm für den Rest des Abends vorgesehen ist?« »Ihr seid eben rechtzeitig zum Tierkampf gekom men.« »Ach?« »Ja. Wenn Ihr zusehen wollt, lasse ich Euch von ei nem Diener ins Kellergewölbe führen. Die Anwesen heit beschränkt sich auf unsere männlichen Gäste; er stens, weil wir ein so blutiges Schauspiel als für das schwache Geschlecht unpassend ansehen, und zwei tens, weil so viele Krishni von terranischen Missiona ren zu der Ansicht bekehrt worden sind, daß ein sol ches Schauspiel moralisch schlecht wäre. Wenn unsere Krieger schon so verweichlicht sind, daß der Anblick von ein wenig Blut bei ihnen Übelkeit hervorruft, dann verdienen wir nichts anderes, als daß wir unter die Spieße und Krummschwerter der Jungava fallen.« »Sicher. Ich sehe es mir an«, sagte Fallon.
Kastambangs Keller war ein unterirdischer Raum von der Größe eines kleinen Theaters. Er wurde teilweise von einer Bar, Spieltischen und anderen Annehm lichkeiten ausgefüllt. Jener Teil, in dem der Tierkampf stattfinden sollte, senkte sich zu einer trichterförmi gen Vertiefung, die von einigen Sitzreihen umgeben war. Diese steilwandige Grube maß fünfzehn Meter im Durchmesser und war etwa halb so tief. Der Raum war von etwa fünfzig oder sechzig männlichen Krishni bevölkert. Die Luft war dick von Ausdün stungen und Rauch. Jeder Sprecher versuchte alle an deren zu überschreien. Es ging also ziemlich laut her. Als Fallon eintrat, beendeten zwei Gäste, die mit einander stritten, ihre Debatte und gingen zu Tätlich keiten über. Der eine faßte nach der Nase des ande ren, während der zweite den Inhalt seines Maßkruges dem Gegner ins Gesicht schüttete. Ersterer spuckte, schrie vor Zorn, tastete nach seinem nicht mehr vor handenen Schwert und warf sich dann auf seinen Gegner. Die zwei kugelten über den Boden, stießen, krallten und zogen einander an den grünen Haaren. Sie wurden von einer Bedientenschar getrennt. Ein Biß in den Daumen und ein paar Kratzer im Gesicht mußten behandelt werden, und die zwei Kampfhäh ne wurden durch verschiedene Ausgänge hinausge schafft. Fallon verschaffte sich einen Becher Kvad an der
Bar, begrüßte ein paar Bekannte und ging hinüber zu der Grube, wo sich auch die übrige Gesellschaft traf. Er dachte sich: Ich bleibe nur so lange, bis ich ein we nig vom Kampf gesehen habe, und mache mich dann auf den Heimweg. Ich darf nicht zulassen, daß Kor daq und Gazi vor mir zu Hause sind. Er ergatterte einen der letzten Sitze in der ersten Reihe. Als er sich übers Geländer beugte, sah er sich nach beiden Seiten um und erkannte seinen Nach barn zur Rechten – einen großen, mageren, jung aus sehenden und prächtig gekleideten Krishni – als Chindor er-Qinan, den Führer der geheimen Opposi tion gegen den irren König Kir. Fallon fing Chindors Blick auf und sagte: »Auch da. Euer Hoheit?« »Heil, Meister Antane. Wie bewegt sich Eure Welt?« »Gut, nehme ich an, obwohl ich schon lange nicht mehr dort gewesen bin. Was steht heute auf dem Programm?« »Ein im Wald von Jerab gefangener Yeki gegen ei nen Shan aus den dampfenden Dschungeln von Mu taabwk. Ach, kennt Ihr meinen Freund, Meister Liya ra, den Hartlöter?« »Erfreut, Euch kennenzulernen«, sagte Fallon, faßte nach dem dargebotenen Daumen und streckte seinen Daumen hin.
»Ganz meinerseits«, sagte Liyara. »Das gibt heute ein seltenes Schauspiel. Möchtet Ihr eine kleine Wette abschließen? Ich entscheide mich für den Shan, wenn Ihr dagegen haltet.« »Dieselbe Summe auf den Yeki«, sagte Fallon und starrte den anderen an. Der östliche Akzent war genau jener, den er erst vorhin von seinem maskierten Gegenüber gehört hat te. Irrte er sich, oder hatte auch Liyara ihn mit schar fem Blick angesehen? »Dupulan hole Euch!« sagte Liyara. »Drei zu zwei ...« Ihre Debatte wurde durch Bewegung und Gemur mel im Publikum unterbrochen, das nun fast zur Gänze seine Plätze eingenommen hatte. Ein ge schwänzter Koloftu tauchte aus einer kleinen Tür seitlich in der Grube auf, trat in die Mitte der Arena, schlug einen kleinen Gong an, um sich Gehör zu ver schaffen, und verkündete: »Werte Herren, mein Herr Kastambang läßt zu Eu rem Vergnügen einen Tierkampf stattfinden. Aus die ser Tür –« eine Geste der behaarten Hand – »wird ein ausgewachsener männlicher Yeki aus dem Wald von Jerab treten, während aus der anderen Tür ein Rie sen-Shan kommen wird, der unter großen Gefahren in den Äquatordschungeln von Mutaabwk gefangen wurde. Schließt Eure Wetten ab, da der Kampf be
ginnt, sobald wir diese Bestien hereintreiben. Ich danke Euer Hochwohlgeboren.« Der Koloftu verschwand, wie er gekommen war. Liyara fing wieder an: »Drei zu zwei, habe ich gesagt ...« Doch abermals wurde er unterbrochen. Diesmal vom Knirschen von Scharnieren und Kettengeklirr, die ankündigten, daß die Gatter der zwei größeren Einlässe hochgezogen wurden. Ein tiefes Brüllen hall te aus der Arena. Es wurde von einem fürchterlichen Knurren beantwortet, das klang, als würde ein Riese Eisenblech zerreißen. Das Brüllen ertönte noch einmal, jetzt fast ohrenbe täubend, und heraus sprang ein großer brauner be haarter Fleischfresser: der Yeki, der etwa aussah wie ein sechsfüßiger Nerz von der Größe eines Tigers. Aus dem anderen Einlaß stürmte ein noch schreckli cheres Untier, auch sechsbeinig, jedoch haarlos und entfernt reptilienhaft, mit länglichem Hals und einem Leib, der sich allmählich zu einem Schweif verjüngte. Die lederne Haut war hellgefärbt in einem seltsamen Muster von Streifen und Flecken von tiefem Grün und Rötlichgelb. Eine gute Tarnung im dichten tropi schen Dschungel, dachte Fallon. Die Fandtiere auf Krishna hatten sich aus zwei ver schiedenen Wasserstämmen entwickelt: der eine, eier legend und vierfüßig, der andere lebendgebärend
und sechsbeinig. Das viergliedrige Unterreich umfaß te die verschiedenen humanoiden Gattungen und ei ne Anzahl anderer Formen, darunter das große ka melartige Shomal. Das sechsbeinige Unterreich war in vielen Landformen wie zum Beispiel dem zähmbaren Aya, Shaihan. Eshun und Bishtar vertreten. Die mei sten davon waren Fleischfresser. Dazu die fliegenden Abarten, wie zum Beispiel der Aqebat, dessen mittle res Gliederpaar sich zu fledermausartigen Schwingen weiterentwickelt hatte. Eine konvergente Evolution hatte zwischen den vier- und den sechsbeinigen Stämmen auffallende Parallelen geschaffen, wie zwi schen den humanoiden Krishni und den überhaupt nicht verwandten Erdenmenschen. Fallon vermutete, daß man beide Bestien absicht lich gereizt hatte, um sie zu höchster Wut anzusta cheln. Ihr normaler Instinkt hätte eher bewirkt, daß sie sich gegenseitig aus dem Weg gingen. Der Yeki duckte sich und glitt auf seinem Bauch dahin wie eine Katze auf Vogeljagd. Die Fänge waren wegen seines dauernden Knurrens entblößt. Der Shan wich zurück und krümmte den Nacken wie ein Schwanenhals, als er sich auf seinen sechs krallenbe wehrten Beinen seitwärts bewegte. Als der Yeki ein wenig näher gekommen war, schoß der Kopf des Shan vor, und die Kiefern schlossen sich mit klirren dem Schnappen; doch der Yeki hatte sich blitzschnell
außer Reichweite in Sicherheit gebracht. Sodann be gann er wieder seine kriechende Annäherung. Die Krishni ließen sich in einen Zustand wildester Erregung versetzen. Sie riefen einander über die Are na hinweg Wetten zu. Wie Affen sprangen sie von den Sitzen und riefen den vor ihnen Sitzenden zu, sie sollen sich setzen. Neben Fallon riß Chindor er-Qinan seine elegante Kopfbedeckung in Stücke. Schnapp-schnapp machten die großen Beißwerk zeuge. Das Publikum stieß beim ersten Anblick von Blut einen ohrenbetäubenden Schrei aus. Der Yeki war dem Angriffssprung des Shan nicht rasch genug ausgewichen, und die Fänge des tropischen Fleisch fressers hatten sich in die Schulter des Gegners ge bohrt. Kakaobraunes Blut lief über das schimmernde Fell des Yeki. Ein paar Sitze weiter versuchte ein Krishni mit Chindor eine Wette abzuschließen, doch sie konnten sich wegen des Lärms nicht verständlich machen. Schließlich stolperte der adelige Krishni über Fallons Knie in den Mittelgang. Sodann kletterte er dorthin, wo sein Partner – die Hände als Schalltrichter vor dem Mund – seine Wetten rief. Andere waren von hinten nach vorn geklettert und standen jetzt hinter den Zuschauern der ersten Reihe und sahen ihnen über die Schulter. Schnapp-schnapp! Und wieder Blut. Sowohl Yeki
als auch Shan waren verwundet. Die Luft roch nach Zigarrenrauch, starkem Parfüm, Alkohol und den Ausdünstungen der Krishni und wilden Tiere. Fallon hustete. Liyara der Hartlöter stieß quietschend etwas hervor. Die geifernden Kiefer näherten sich einander. Jedes der Tiere beobachtete die kleinste Bewegung des an deren. Fallon umklammerte das Geländer so krampf haft, daß seine Knöchel weiß hervortraten. Krrrr! Shan und Yeki prallten zusammen. Der Shan packte das Vorderbein des Yeki, doch im gleichen Augenblick ließ der Yeki seine Kiefer hinter dem Nacken des Feindes zusammenklappen. Der Sand in der Grube stäubte, als die zwei auf dem Boden koller ten. Das Haus als Ganzes wurde erschüttert, als die gewichtigen Glieder und Leiber mit dröhnendem Aufprall gegen die Holzwände der Grube stießen. Wie die aller Zuschauer klebten auch Fallons Blicke an den Untieren, so daß er seine Umgebung nicht mehr wahrnahm – bis er sich von zwei kräftigen Händen an den Knöcheln erfaßt und emporgehoben fühlte. Ein Stoß – und er fiel über das Geländer in den Sand. Er hatte dabei den flüchtigen Eindruck, daß Liyara ihn gestoßen hatte. Doch dann landete er mit betäu bender Wucht mit dem Gesicht im Sand. Fallon rollte sich weiter. Er hatte das Gefühl, als
wäre sein Genick gebrochen. Während dieser Bewe gung fand er heraus, daß der Hals nur verrenkt war. Er rappelte sich auf, und sah dem Yeki ins Auge, der über dem Shan stand. Letzterer war schlicht und ein fach tot. Er sah weiter hinauf. Ein Kreis hellgrüner Gesichter starrte zu ihm herunter. Die meisten hatten die Mün der offen, doch konnte er nichts verstehen, weil alle durcheinander schrien. »Ein Schwert!« schrie er. »Jemand soll mir ein Schwert zuwerfen!« Bewegung im Publikum. Niemand hatte Waffen bei sich, da sämtliche Waffen in der Garderobe abge geben worden waren. Jemand rief nach einem Seil, ein zweiter nach einer Leiter, und ein dritter rief et was von Mäntelzusammenknüpfen. Sie liefen durch einander, riefen ihm gute Ratschläge zu, taten aber nichts. Der Yeki glitt auf seinem Bauch vorwärts. Und dann beugte sich der Herr des Hauses persön lich übers Geländer und rief: »Ohe. Meister Antane! Fangt!« Und herunter fiel mit dem Griff voran ein Schwert. Fallon machte einen Satz, packte den Griff, drehte sich blitzschnell um und stand dem Yeki gegenüber. Das Tier kam immer näher. In einem weiteren Au genblick, so schätzte Fallon, würde es springen oder
ihn anfallen, und dann würde ihm sein Schwert nichts mehr nützen. Mit etwas Glück konnte er ihm vielleicht einen Todesstoß versetzen, aber ob sich das als Vorteil für ihn erweisen würde? – Das Ungeheuer konnte ihm im Todeskampf immer noch in Stücke reißen. Als einzige Verteidigung blieb ihm der Angriff. Mit gezücktem Schwert näherte sich Fallon dem Yeki. Das Tier brüllte auf und hieb mit seinem gesunden Vorderbein zu. Fallon holte mit der Klinge aus und traf die klauenbewehrte Pranke. Der Yeki brüllte lauter. Klopfenden Herzens zielte Fallon auf die Nase des wilden Tieres. Beim ersten Stich wich der Yeki knurrend und geifernd zurück. »Meister Antane!« rief da eine Stimme. »Treibt ihn auf das geöffnete Tor zu.« Stechen, einen Schritt gewinnen, wieder zustechen, das Schwert rasch zurückziehen, als die große Pranke ausholte. Wieder ein Schritt. Allmählich drängte Fal lon den Yeki zum Tor, wobei er jede Minute erwarte te, das Tier würde sich in seiner Wut auf ihn stürzen und ihn erledigen. Doch als der Yeki das rettende Tor bemerkte, dreh te sich das Tier unvermittelt um und glitt katzen gleich in die höhlenartige Maueröffnung. Mit einem letzten Schimmern seines Fells war er verschwunden. Das Gatter rasselte herunter.
Fallon drehte sich um. Endlich ließ jemand eine Leiter in die Arena. Er stieg langsam hinauf und übergab Kastambang das Schwert. Hände klopften Fallon auf den Rücken. Hände drängten ihm Zigarren und Getränke auf. Hände ho ben ihn auf Krishni-Schultern. Die Krishni kannten keinerlei Zurückhaltung. Der Höhepunkt kam, als ei ner von ihnen Fallon einen Hut voll Gold- und Sil berstücke überreichte, die der Mann in der Gesell schaft als Tribut für die Tapferkeit des Erdenmannes gesammelt hatte. Von Liyara keine Spur. Aus den Bemerkungen ent nahm Fallon, daß niemand gesehen hatte, wie der Kerl ihn übers Geländer gestoßen hatte. »Bei der Nase Tyazans, warum seid Ihr nur hinein gefallen?« »Hattet Ihr einen über den Durst getrunken?« »Nein, er tötet wilde Tiere zum Vergnügen!« Einige Stunden und viele Drinks später lehnte Fal lon mit zwei Miteingeladenen in einer Khizun. Sie grölten zum Geklapper der Aya-Füße ein unfeines Lied. Die anderen stiegen vor ihm aus, da keiner in den ärmeren Bezirken im Westen wohnte. Das bedeu tete, daß er für die anderen mitbezahlen mußte. Doch mit all dem Geld, das sie für ihn gesammelt hatten ... Wo zum Hishkak war das Geld übrigens? Dann fiel ihm eine Serie wilder Würfelspiele ein, die ihn sogar
in den Besitz von dreißigtausend Karda hatten gelan gen lassen. Doch dann hatte die treulose Da'vi, die Glücksgöttin der Varasto, ihn im Stich gelassen, und bald war er wieder bei der Summe angelangt, mit der er in Kastambangs Haus eingetroffen war. Er stöhnte auf. Würde er es denn je lernen? Mit dem kleinen Vermögen, das er besessen hatte, hätte er den Staub des staubigen Balhib abschütteln und es Mjipa und Qais und Fredro überlassen können, das Rätsel des Safq nach besten Kräften zu lösen. Er hätte in Majbur Söldner angeworben, um Zamba zurück zuerobern. Und jetzt kam ihm ein weiterer gräßlicher Gedan ke. Bei dem Abenteuer mit dem Yeki und der darauf folgenden Orgie der Zerstreuungen hatte er jeden Zeitbegriff verloren und Gazi und ihre Verabredung mit Kordaq völlig vergessen. Sicher würden die zwei jetzt schon längst zurück sein – und welche Ausrede sollte er anbieten? Er faßte nach seinem brummenden Kopf. Zweifelsohne stank er wie eine Branntwein brennerei. Als letzte Hilfe konnte er natürlich auf die Wahrheit verfallen. Sein Gehirn, das ansonsten ungemein erfinderisch war, was Entschuldigungen und Ausflüchte betraf, schien wie gelähmt. Na, versuchen wir's mal: Meine Freunde Gargan und Weems haben hereingeschaut und wollten sehen,
wie es mir geht, und ich hatte mich schon viel besser gefühlt, daß ich mich überreden ließ, mit ihnen aus zugehen, und dann hat mein Magen wieder rebelliert ... Glauben würde sie es zwar nicht, doch war es das Beste, was er sich in seinem gegenwärtigen Zustand ausdenken konnte. Die Khizun fuhr vor seiner Tür vor. Während er bezahlte, schweifte sein Blick über die hinfällige Fassade, die bei Mondschein weniger heruntergekommen aussah als bei Tag. Keine Spur von Licht. Entweder war Gazi schon im Bett, oder ... Als Fallon aufsperrte, sagte ihm ein Gefühl, daß das Haus leer wäre. Und das war es auch. Nirgends eine Nachricht von Gazi. Er taumelte die Treppe hinauf, riß Schwert und Stiefel herunter, warf sich übers Bett und fiel in einen unruhigen Schlummer.
10
Anthony Fallon erwachte steif und in unbequemer Lage, mit einem abgestandenen Geschmack im Mund. Sein Nacken fühlte sich an, als hätte er vom gestrigen Fall in die Grube eine dauernde Zerrung mitbekommen. Allmählich wurde ihm klar, als er sich zusammenriß, daß Gazi noch immer nicht zu Hause war. Wo steckte sie nur? Er setzte sich auf und rief nach ihr. Keine Antwort. Fallon blieb einige Sekunden auf der Bettkante sit zen, rieb sich den Schlaf aus den Augen und drehte den Kopf mal in die und dann in die andere Rich tung. Dann stand er auf und durchsuchte das Haus. Keine Gazi. Sie war nicht nur verschwunden, sie hat te ihre Kleider und Habseligkeiten mitgenommen. Als er sich mit zitternden Händen das Frühstück machte, ging er im Geist die verschiedenen Möglich keiten durch. Fallon hätte sich vielleicht sagen müs sen, daß es schließlich in Balhib den Frauen freistand, ihren Jagain zu wechseln, wann es ihnen beliebte. Doch eben jetzt erweckte allein der Gedanke, daß Ga zi ihn wegen Kordaq verlassen haben könnte, eine solche Wut in ihm, daß alle Vernunft vergessen war. Er würgte sein kaltes Frühstück hinunter, zog die
Stiefel an, nahm sein Schwert und machte sich unra siert auf den Weg zu den Militärquartieren im Osten der Stadt. Die Sonne stand noch keine KrishnaStunde am Himmel, und eine leichte Brise brachte die Staubwirbel zum Tanzen. Nach einer halbstündigen Fahrt in dem von einem Aya gezogenen Omnibus erreichte er das Hauptquar tier, wo ihm in der Schreibstube ein stämmiger Soldat die Adresse von Kordaqs Wohnung gab. Eine weitere halbe Stunde, und seine Suche war beendet. Das Haus, in dem Kordaq wohnte, stand am Nord rand des Khasrju, wo die Läden und Banken dieses Bezirks den Mittelstands-Wohnvierteln des Zardu wichen. Fallon las auf einem an der Wand neben der Tür angebrachten Schild die Namen der Mieter und stiefelte dann die Treppe in den zweiten Stock hinauf. Er vergewisserte sich, daß er vor der richtigen Tür stand, ehe er den Gong erklingen ließ. Als keine Reaktion erfolgte, gongte er nachhaltiger und klopfte schließlich an, was die Menschen in Bal hib sehr selten tun. Nach langem Warten hörte er drinnen Bewegung. Die Tür ging auf und gab den Blick frei auf einen verschlafen und sehr verwirrt dreinschauenden Kordaq. Das grüne Haar war wirr, ein Laken schützte die knochigen Schultern gegen die Morgenkühle. In der Hand trug er ein blankes Schwert. Es war völlig normal, daß ein Krishni so auf
ein Pochen reagierte, denn zu so zeitiger Stunde hätte statt Fallon ebensogut ein Räuber kommen können. Kordaq fragte: »Was im Namen von Hois grünen Augen –? Ach, Meister Antane! Was führt Euch hier her, meinen Schlaf zu stören? Etwas sehr Dringendes, nehme ich an?« »Wo ist Gazi?« fragte Fallon, während seine Hand sich zum Schwertgriff stahl. Kordaq versuchte augenblinzelnd den letzten Rest Schlaf zu vertreiben. »Ach«, sagte er harmlos, »da sie mir die Ehre erwiesen hat, mich als ihren neuen Ja gain anzunehmen – als Folge Eurer Narrheit von ge stern, wobei ich trotz all meiner Bemühungen nicht verhindern konnte, daß Euer Betrug sich von selbst offenbarte –, ist das Mädchen bei mir. Wo sonst?« »Ihr ... Ihr gebt es also zu?« »Was gebe ich zu? Ich sage Euch offen die Wahr heit. Jetzt zieht von hinnen, mein Herr, und laßt mich meinen gestörten Schlummer wieder fortsetzen. Ich bitte Euch, stattet nächstes Mal einem Mann, der in der Nacht unterwegs war, zu geziemenderer Stunde Euren Besuch ab!« Fallon wäre an seiner Wut fast erstickt. »Ihr glaubt, Ihr könnt einfach mit meiner Frau auf und davon ge hen und mich dann wegschicken, damit Ihr schlafen könnt?« »Was wollt Ihr, Erdenmensch? Hier ist nicht das
barbarische Qaath, wo Frauen als Eigentum gelten. Jetzt aber hinaus, ehe ich Euch eine Lektion in gutem Benehmen erteile ...« »Ach?« knurrte Fallon. »Ich werde Euch Manieren beibringen!« Er trat zurück, ließ sein Schwert mit einem ge schickten Griff herausfahren und stieß zu. Vom Schlaf noch ein wenig benommen, zögerte Kordaq den Bruchteil einer Sekunde, ehe er sich ent schied, ob er dem Angriff begegnen oder die Tür zu schlagen sollte. Daher stieß Fallons Schwertspitze auf seine Brust, ehe er sich rührte. Mit einer hastigen Pa rade, verbunden mit einem Rückwärtssprung, rettete er sich knapp vor dem Aufgespießtwerden. Aber er hatte die Tür fahren lassen müssen. Fallon drang ein und stieß die Tür hinter sich zu. »Irrer!« sagte Kordaq. Er streifte das Laken ab und wickelte es um den rechten Arm. »Euer Schicksal ist besiegelt.« Und jetzt ging er zum Angriff über. Tick-zing-klang klirrten die schweren Klingen. Fal lon wehrte die Attacke ab, doch seinen Gegenstößen und Abwehrhieben begegnete Kordaq mit Gelassen heit, entweder mit der Klinge oder dem lakenumhüll ten Arm. Fallon war viel zu sehr von Tötungslust be fallen, als daß er bemerkt hätte, welchen merkwürdi gen Anblick sein Gegner bot – nackt bis auf Schwert und lakenumwickelten Arm.
»Antane!« rief Gazis Stimme. Fallon und Kordaq ließen einen flüchtigen Augenblick lang den Blick zu jener Tür schweifen, in der Gazi mit an die Wangen gepreßten Händen stand. Doch sofort wandten sie ih re Aufmerksamkeit wieder dem Gegner zu, bevor der andere aus der Ablenkung Vorteil ziehen konnte. Tsing-klick-wisch! Die Streitenden umkreisten einander jetzt viel wachsamer. Fallon hatte nach den ersten Gängen ge wußt, daß sie einander ebenbürtig waren. Während er schwerer und als Erdenmensch von der Konstituti on her kräftiger war, war Kordaq jünger und hatte die größere Reichweite. Tick-tick-klang! Fallon stieß ein Tischchen um und beförderte es mit einem Fußtritt aus dem Weg. Wisch-tschunk! Kordaq focht und führte einen schrecklichen Hieb gegen Fallons Kopf. Fallon duckte sich. Der Hieb traf den Bronzefuß der Bodenlampe und ließ den Schirm über den Boden hüpfen, während der Ständer kra chend umfiel. Kling-zisch. Immer rundherum. Als sich Fallon einmal der im Eingang stehenden Gazi gegenüber sah, nahm er die Gelegenheit wahr und rief aus: »Gazi, geh weg! Du lenkst uns ab!«
Sie beachtete ihn nicht, und der Zweikampf ging weiter. Durch einen plötzlichen Wirbel von Stößen und Ausfällen drängte Kordaq Fallon gegen eine Wand. Ein weiterer Stoß hätte ihn an die Wand gena gelt. Doch Fallon sprang beiseite, und Kordaqs Schwertspitze durchstieß das einzige Bild des Rau mes, eine billige Kopie von Ma'shirs berühmtem Ge mälde ›Dämmerung über Majbur‹. Während Kordaqs Klinge im Putz steckte, führte Fallon einen raschen Vorderhandhieb gegen seinen Feind, der diesen mit dem Laken auffangen, sein Schwert herausreißen und sich seinem Gegner wieder stellen konnte. Tink-wisch! Fallon ging zum Angriff über. Kordaq parierte, so daß Fallons Klinge auf das umgestürzte Tischchen traf. Fallon spürte das Blut in den Ohren sausen. Er be wegte sich langsam, mit dem Gefühl, durch Teer zu waten. Doch er konnte sehen, daß auch Kordaq müde wurde. Tick-klang! Der Kampf zog sich hin, bis beide Kontrahenten so erschöpft waren, daß sie nicht mehr tun konnten, als lauernd dazustehen und einander anzustarren. Nach zehn Sekunden hatten sie genügend Energie gesam melt, um wieder Hieb und Stich landen zu können, was jedoch von der undurchdringlichen Verteidigung des anderen unweigerlich blockiert wurde.
Ding-zang! Fallon krächzte: »Wir sind zu – verdammt noch mal!« Gazi erklärte: »Beide habt ihr eine feige Leber und traut euch nicht näher 'ran.« Kordaq rief mit erstickter Stimme: »Gnädigste, würdet Ihr wohl mit mir Platz tauschen, damit Ihr seht, wie schwierig das ist?« »Mach dich nicht lächerlich«, sagte Gazi. »Ich dach te, einer von euch würde fallen, so daß sich mein Problem von selbst löst und ich den Überlebenden wählen kann. Aber wenn ihr den ganzen Tag bloß Luftsprünge macht und mit dem Schwert Heu mäht ...« Fallon keuchte: »Kordaq, ich glaube, sie will uns anfeuern, damit sie in den Genuß kommt, Blut zu se hen – auf unsere Kosten.« »Ich glaube, Ihr habt recht, Meister Antane.« Wie zwei Lokomotiven ließen sie Dampf ab. Dann sagte Fallon: »Na, wie wär's, wenn wir die Sache ab blasen? Es sieht nicht so aus, als ob einer von uns den anderen in einem fairen Kampf besiegen könnte.« »Ihr habt angefangen, aber wenn Ihr Schluß ma chen wollt, werde ich als vernünftiger Mensch das Angebot annehmen.« »Also abgemacht.« Fallon trat zurück und steckte sein Schwert zur
Hälfte ein, wobei er Kordaq wegen einer allfälligen heimtückischen Attacke im Auge behielt. Kordaq trat in die Eingangsnische und steckte sein Schwert in die leere Scheide, die an einem der Huthaken hing. Er sah zu Fallon hin und vergewisserte sich, daß dessen Klinge weggesteckt war und die Hand den Schwertgriff losgelassen hatte, ehe er seinen eigenen Schwertgriff losließ. Dann trug er das in der Scheide steckende Schwert ins Schlafzimmer. Ehe er die Schwelle erreicht hatte, wandte Gazi ihm den Rücken zu und ging ihm voraus. Fallon ließ sich in einen Sessel fallen. Aus dem Schlafzimmer dran gen anklagende Geräusche. Dann erschien Gazi in Schal, Rock und Sandalen. Sie schleppte einen Klei dersack mit sich, der ihre Habe enthielt. Dahinter Kordaq, ebenfalls angezogen, der sich mit dem Dolch gürtete. »Männer«, sagte Gazi, »ob Krishni oder Terraner, sind die bedauernswertesten, ekelhaftesten, jämmer lichsten, nichtsnutzigsten Geschöpfe im Reich der Le bewesen. Sucht mich nicht, ihr beiden, denn ich bin mit euch fertig. Gehabt euch wohl. Gut, daß ich euch los bin.« Damit warf sie die Tür hinter sich zu. Kordaq muß te lachen. Er ließ sich in einen Sessel fallen und streckte ermattet die Beine von sich. »Das war mein härtester Kampf, seitdem ich gegen
die Jungava in Tajrosh gekämpft habe«, sagte er. »Ich frage mich, was denn Euer Mädchen so in Rage ge bracht hat. Ihr Zorn hat sich wie ein sommerlicher Gewitterregen über den Felsen des Qeba zusammen gebraut.« Fallon zuckte die Achseln. »Manchmal zweifle ich daran, ob ich die Frauen überhaupt verstehe.« »Habt Ihr schon gefrühstückt?« »Ja.« »Ha, das erklärt Euren Erfolg. Hätte ich mit vollem Magen gekämpft, wäre die Sache anders verlaufen. Kommt mit in die Küche, während ich mir ein DeyeEi in die Pfanne schlage.« Fallon stand brummend auf. Indessen holte Kordaq Lebensmittel von den Küchenborden, darunter auch einen großen Krug Falat-Wein. »Bißchen früh am Tag, um mit Kvad anzufangen«, sagte der Oberst, »aber Fechten macht durstig, und ein Tropfen von diesem Wein wird uns nicht scha den. Er wird uns den Verlust jener vergessen lassen, deretwillen wir Schweiß vergossen haben.« Ein paar Becher Wein später sagte Fallon, der sich mürbe fühlte: »Kordaq, alter Knabe, ich kann Euch gar nicht sagen, wie froh ich bin, daß Ihr nichts abge kriegt habt. Ihr entsprecht genau meinem Idealbild eines Mannes.« »Wahrhaftig, Freund Antane, das sind genau mei
ne Gefühle Euch gegenüber. Ich stelle Euch mit mei nen besten Freunden meiner eigenen Gattung auf ei ne Stufe, und das ist ein Kompliment, das aus vollster Leber kommt.« »Trinken wir auf die Freundschaft!« »Heil Freundschaft!« rief Antane und hob den Be cher. »Wir stehen oder fallen zusammen!« sagte Fallon. Nachdem er einen Schluck getrunken hatte, setzte Kordaq seinen Becher ab und sah Fallon scharf an. »Da wir davon sprechen, du Pfundskerl, da du – wenn nicht von barbarischer Eifersucht entflammt – sehr vernünftig und verschwiegen zu sein scheinst und unter mir in der Wache dienst, will ich dir eine Warnung zukommen lassen, die du nach Belieben verwenden kannst.« »Und das wäre?« »Es heißt, daß der barbarische Eroberer Ghuur von Qaath schließlich doch losmarschiert. Gestern ist die Nachricht per Bijar-Post gekommen, kurz bevor ich zu Euch kam. Er hat die Grenze noch nicht über schritten, doch die Kunde von diesem gottlosen Über fall kann inzwischen schon eingetroffen sein.« »Ich nehme an, das heißt, die Wache ...« »Ihr erratet meine geheimsten Gedanken. Bringt Eure Angelegenheiten in Ordnung, da Ihr jeden Tag die Einberufung bekommen könnt. Und jetzt muß ich
mich im Hauptquartier melden, um den Tag mit der Ausgabe von Befehlen und mit Schreibkram zu verbringen. Eine schreckliche Einrichtung. Wäre ich doch einige Jahrhunderte früher zur Welt gekommen, als die Kunst des Schreibens so selten war, daß Solda ten alles Nötige im Kopf trugen.« »Wer wird die Stadt schützen, wenn die Wache draußen im Feld steht?« »Alle werden nicht einberufen. Reservisten, Rekru ten, Untaugliche und Pensionierte werden bleiben und die Pflichten jener übernehmen, die ins Feld ge hen. Wir Offiziere der Wachkompanien haben mit dem Minister zu kämpfen, der kerngesunde Milizsol daten hier behalten möchte ... für Sonderaufträge im – « »Im Safq?« fragte Fallon, als Kordaq zögerte. Der Oberst hüstelte. »Ich würde das nie behaupten, außer Ihr seid von diesem Umstand bereits in Kennt nis gesetzt. Wo habt Ihr es gehört?« »Ach, Ihr wißt ja. Gerüchte. Aber was ist denn Wahres dran?« »Das darf ich wirklich nicht enthüllen. Ich sage nur dieses: dieser alte Steinhaufen birgt etwas so Neuarti ges und Todbringendes, daß die Pfeile der Bogen schützen dagegen harmlos erscheinen wie ein linder Frühlingsschauer.« Fallon meinte: »Die Yeshtiten haben eine erstaunli
che Leistung vollbracht, indem sie das Innere des Safq so geheim hielten. Ich kenne keinen einzigen Grundriß des Baues.« Kordaq lächelte und ließ eine Antenne spielen, was ein Zwinkern andeuten sollte. »Nicht so geheim, wie sie gern glauben. Dieses Geheimnis hat ein kleines Leck, wie es bei solcher Geheimnistuerei meist der Fall ist.« »Ihr wollt damit sagen, daß ein Außenstehender etwas weiß?« »Jawohl. Wir haben zumindest einen Verdacht.« Kordaq leerte noch einen Becher Falat-Wein. »Wer ist ›wir‹?« »Eine gelehrte Bruderschaft, zu der ich gehöre. Mejraf Jdnjira genannt. Habt Ihr von uns gehört?« »Die Neophilosophische Gesellschaft«, murmelte Fallon. »Ich weiß einiges von ihren Lehrsätzen. Ihr al so –« Fallon hatte sich noch rechtzeitig in der Gewalt, um nicht zu verraten, daß er diese Lehrsätze als her vorragendes Beispiel interstellaren Unsinns ansah. Kordaq jedoch erfaßte den Spott der letzten Worte und sah Fallon streng an. »Das sind jene, die unsere Prinzipien verdammen, ohne sie gehört zu haben. Sie beweisen ihre Unwissenheit, indem sie Weisheit zu rückweisen, ohne sie einer gerechten Untersuchung unterzogen zu haben. Nun, ich will Euch unsere Leh re in drei Worten erklären, so gut ich es mit meiner
ungeübten Zunge fertig bringe – und wenn Ihr Inter esse habt, kann ich Euch an andere verweisen, die besser erklären als ich. Habt Ihr von Pyatsmif ge hört?« »Wovon?« »Pyatsmif ... Das beweist die Unwissenheit der Er denmenschen, die von einem der Größten ihres Pla neten nichts gehört haben.« »Das soll ein Erdenmensch sein?« Fallon hatte nie von Charles Piazzi Smith gehört, dem exzentrischen schottischen Astronom aus dem neunzehnten Jahr hundert, der den pseudowissenschaftlichen Kult der Pyramidologie begründet hatte. Auch wenn er von ihm gehört hätte, ist es zweifelhaft, ob er den Namen, so wie Kordaq ihn aussprach, behalten hätte. »Nun«, sagte der Oberst, »dieser Pyatsmif war der erste, der entdeckte, daß ein großes und uraltes Denkmal auf dem Antlitz Eures Planeten mehr war, als es den Anschein hatte. In Wahrheit enthielt es in seinen verfallenden Mauern Hinweise auf das Wissen von ganzen Zeitaltern und die Geheimnisse des Uni versums ...« In der nächsten halben Stunde wand sich Fallon wie ein Wurm, während Kordaq einen Vortrag hielt. Er wagte es nicht, ihn zu unterbrechen, da er glaubte, es könnte eine nützliche Information für ihn abfallen. Am Ende der halben Stunde aber übte der Falat
Wein eine definitive Wirkung auf den Vortrag des Obristen aus und war Ursache dafür, daß er ab schweifte und den roten Faden seiner Argumente verlor. Schließlich wurde sein Vortrag so wirr, daß er ihn abbrach. »Nein, guter Antane, ich bin ein einfacher Krieger und kein Philosoph. Wenn ich so reden könn te wie – wie ...« Er brach ab und starrte ins Leere. Fallon sagte: »Und Ihr habt einen Plan des Safq?« Kordaq machte ein durchtriebenes Gesicht. »Ha – habe ich das gesagt? Ich glaube nicht. Aber daß ein solcher Plan existiert, will ich nicht leugnen.« »Interessant, wenn es stimmt.« »Wollt Ihr mein Wort bezweifeln? Ich bin, der ich bin ...« »Aber, aber. Ich werde an den Plan erst glauben, wenn ich ihn gesehen habe. Das ist doch nicht etwa gesetzlich verboten?« »Gesetzlich ...« Kordaq rätselte eine Weile an die sem Problem herum und schüttelte dann den Kopf, als wolle er ihn wieder klar bekommen. »Eigensinnig wie ein Bishtar und schlüpfrig wie ein Fondaq, das ist mein Gefährte Antane. Sehr gut, ich will Euch diesen Plan zeigen, oder eine genaue Kopie davon. Werdet Ihr mir dann glauben?« »Doch, ja, ich denke schon ...«
Schwankend ging Kordaq ins Wohnzimmer. Fallon hörte, wie Laden geöffnet und geschlossen wurden. Der Oberst kam mit einem Stück des auf Krishna üb lichen Papiers zurück. »Das ist er!« sagte er und brei tete das Papier auf dem Tisch aus. Fallon sah, daß es sich um eine grobe Skizze vom Erdgeschoß des Safq handelte. Das erkannte er an der merkwürdig gebogenen Form. Die Zeichnung war nicht sehr genau, weil sie mit einem der auf Krishna verwendeten ganz weichen Bleistift gemacht worden war. Das hieß, daß die Mine aus echtem metallischem Blei und nicht aus Graphit war, ein auf diesem Plane ten vergleichsweise seltenes Mineral. Fallon wies auf den größten Raum gleich hinter dem einzigen Eingang. »Ich nehme an, das ist der Haupttempel oder die Hauptkapelle?« »Sicher weiß ich es nicht, denn ich war nie drin. Aber Eure Annahme scheint plausibel.« Ansonsten zeigte der Plan eine Unmenge Räume und Korridore, die wenig Bedeutung hatten, es sei denn, man kannte die Bestimmung eines jeden Teiles oder hatte die Anlage gar besichtigt. Fallon starrte den Plan so intensiv wie möglich an und versuchte ihn in seinem Hirn abzulichten. »Woher stammt der Plan?« »Ach, das ist eine lustige Geschichte. Ein Mitglied unserer gelehrten Bruderschaft ist versehentlich in
den geheimen Teil der königlichen Bibliothek gera ten, zu dem die Öffentlichkeit keinen Zutritt hat. Da bei ist er auf eine ganze Reihe solcher Pläne gestoßen, die sämtliche Bauwerke von Bedeutung in Balhib zeigten. Sobald er draußen war, hat er aus dem Ge dächtnis eine Kopie angefertigt, von der dieser Plan wieder eine Kopie ist.« Der Oberst nahm das Papier an sich und sagte: »Und jetzt wollt Ihr mich entschuldigen, teurer Ka merad. Ich muß an die Arbeit! Bei Qarars Blut! Ich habe zuviel von diesem Bauchspülmittel getrunken und muß zu Fuß gehen, damit ich wieder nüchtern werde, Lord Chindor würde es mir sehr verübeln, wenn ich die Kaserne schwankend wie ein betrunke ner Osirianer betrete und über die Möbel stolpere. Wollt Ihr mit mir kommen?« »Nur zu gern«, sagte Fallon und folgte Kordaq hin aus.
11
»Was ist?« fragte Dr. Julian Fredro. Fallon erklärte: »Alles ist für unsere Invasion des Safq bereit. Ich habe sogar einen Plan des Erdge schosses beschaffen können. Hier!« Er zeigte Fredro seinen aus dem Gedächtnis ge zeichneten Plan, den er sogleich angefertigt hatte, nachdem er sich von Kordaq verabschiedet und in ei nem Laden in der Kharju Papier und Schreibzeug be sorgt hatte. »Gut, gut«, sagte Fredro. »Wann soll es losgehen?« »Morgen. Jetzt müssen Sie mit mir kommen und Ihr Kostüm besorgen.« Fredro machte ein skeptisches Gesicht. »Ich schrei be eben einen wichtigen Bericht über die Przeglad Archeologiczny ...« Fallon hob die Hand. »Das kann warten – unser Plan nicht. Mein Schneider wird den ganzen Tag brauchen, um die Gewänder zu fertigen. Außerdem ist morgen das einzige Große Ritual des Yesht für drei ZehnNächte. Das hängt mit den astrologischen Konjunktio nen zusammen. Und das Große Ritual ist das einzige, bei dem so viele Priester anwesend sind, daß wir uns unter sie mischen und unbemerkt hineinschlüpfen können. Also muß es morgen nacht sein.«
»Ja, sehr gut. Warten Sie, bis ich meinen Mantel ho le.« Sie verließen das Avrud Terrao oder TerranerHotel und gingen zum Laden Ve'qirs des Exklusiven. Fallon nahm Ve'qir beiseite und fragte: »Ihr seid Bak hite, nicht?« »Jawohl, Meister Antane. Warum fragt Ihr?« »Ich wollte sichergehen, ob Ihr nicht religiöse Gründe habt, meinen Auftrag abzulehnen.« »Bei Qarars Keule, das klingt aber geheimnisvoll! Was für ein Auftrag ist das?« »Zwei Priesterornate des Yesht-Kultes, dritter Or den ...« »Was! Seid Ihr, edle Herren, zur Priesterschaft zu gelassen worden?« »Nein, aber die Gewänder möchten wir trotzdem haben.« »Oh, mein Herr! Sollte das bekannt werden – ich habe viele Kunden unter den Yeshtiten ...« »Es wird sich nicht herumsprechen. Aber Ihr müßt sie eigenhändig anfertigen, und wir brauchen sie sehr rasch.« Der Couturier brummte, er drehte und wand sich, doch schließlich ließ er sich von Fallon mürbe ma chen. Den Großteil des Vormittags verbrachten sie im Hinterzimmer des Ladens mit Maßnehmen und Pro
bieren. Das alles erwies sich nicht als sehr schwierig, da die losen, zeltähnlichen Gewänder, die der YeshtKult seiner Priesterschaft vorschrieb, nur annähernd passen mußten. Ve'qir versprach die Gewänder für Mittag des nächsten Tages. Fallon und Fredro trenn ten sich also, letzterer kehrte ins Avrud Terrao zu rück, um die Arbeit an seinem Artikel fortzusetzen. Ehe sie sich trennten, sagte Fallon: »Sie müssen auch Ihren Schnurrbart opfern, alter Freund!« »Meinen kleinen Bart abrasieren? Niemals! Habe ihn auf fünf verschiedenen Planeten getragen! Ich ha be das Recht ...« Fallon zuckte die Achseln. »Wie Sie wollen, aber dann können Sie sich nicht als Krishni ausgeben. Die haben nämlich kein Härchen im Gesicht.« Widerwillig gab Fredro nach, und sie verabredeten sich für den kommenden Vormittag. Sie wollten die Gewänder abholen und dann bei Fallon daheim das Ritual proben. In Gedanken versunken ging Fallon in den Juru zu rück. Er aß zu Mittag und ging nach Hause. Als er sich dem Haus näherte, bemerkte er einen kleinen Holzpfeil, der am Türknauf hing. Mit verärgertem Brummen nahm Fallon das Ding zur Hand. Das Zeichen bedeutete, daß an diesem Abend ein Treffen aller Angehörigen der JuruKompanie im Arsenal stattfand. Zweifellos hing die
ses Treffen mit der Bedrohung durch Qaath zusam men. Oberst Kordaq musterte die versammelte JuruKompanie. Mehr als die Hälfte waren Krishni, der Rest Erdenmenschen, Thotianer, Osirianer und so weiter. Er räusperte sich und sagt: »Zweifellos habt ihr die Gerüchte gehört, die um die Qaath-Frage wie Chi debs um einen faulen Kadaver schwirren, und habt vermutet, daß ihr aus diesem Grund herbeordert wurdet. Ich will euch nichts vormachen – das ist der Grund. Obwohl ich nur ein einfacher und wortkarger Soldat bin, will ich versuchen, die Gründe dafür in wenigen Worten dazulegen. Wie ihr alle wißt – und wie sich einige aus persönlicher und schmerzlicher Erfahrung erinnern werden – ist es erst sieben Jahre her, daß der Kamuran von Qaath – Dupulan möge ihn unter einem Haufen Dreck begraben – uns bei Tajrosh geschlagen und unsere Krieger in alle Winde verstreut hat. Diese Schlacht hat uns der Herrschaft über das Pandrat von Jo'ol beraubt, das bis dahin als Puffer zwischen uns und den Wilden der Steppe ge legen hatte. Ghuurs berittene Bogenschützen schwärmten über das Land aus wie eine Zi'damsPlage, und Ghuur selbst nahm die Huldigung des Pandr von Jo'ol entgegen, dem sonst wenig zu tun
übrig blieb. Seit damals ist Jo'ol zwar dem Namen nach unabhängig geblieben, doch sein Pandr sucht jetzt bei Ghuur von Uriiq Schutz, anstatt bei unserer Regierung.« »Hätten wir einen König, der bei klarem Verstand ist ...« sagte eine Stimme aus dem Hintergrund, doch der Zwischenrufer wurde rasch zum Schweigen ge bracht. »Keine Respektlosigkeit dem Königshaus gegen über!« mahnte Kordaq streng. »Auch ich bin mir der tragischen Indisposition seiner Hoheit bewußt, doch ist es die Monarchie – und nicht der Mann – der wir Treue geschworen haben. Laßt mich fortsetzen: Seit damals hat der mächtige Ghuur seine Macht wie eine Seuche verbreitet. Er hat Dhaukia und Suria erobert und sie seinem wachsenden Reich einverleibt. Seine Reiter haben ihre siegreichen Waffen zu den steinigen Madhiq-Bergen getragen, in die Sümpfe des KhaastSees und sogar in die unbekannten Länder Ghobbejd und Yeramins – bis dahin wenig mehr für uns als Namen am Rande der Landkarte, bewohnt von Men schen ohne Kopf und von polymorphen Ungeheuern. Jetzt hättet ihr fragen können: ›Warum hat er nicht Balhib besiegt, ehe er sein Banner in solch entfernte Gebiete schickte?‹ Weil wir, mögen wir auch seit un seren größten Tagen degeneriert sein, noch immer ein Volk der Krieger sind, wie Stahl geschmiedet zwi
schen dem Hammer der Jungava und dem Amboß der anderen Varasto-Völker, denen wir Jahrhunderte lang als Schild gegen die Einfälle der Steppenvölker dienten. Obwohl Ghuur uns bei Tajrosh geschlagen hat, hat der Sieg ihn so große Anstrengung gekostet, daß es ihm an Kraft mangelte, über die Grenze in das eigentliche Balhib einzudringen. Jetzt aber, da er viele Nationen an seinen Kampf wagen gebunden hat, hat der Barbar genügend Kräfte gesammelt, um wieder Handstreiche gegen uns zu versuchen. Seine Armeen haben das keinen Wider stand leistende Jo'ol überflutet. Stündlich kann uns die Nachricht erreichen, daß sie die Grenze über schritten haben. Späher berichten, daß sie an Vielzahl den Sandkörnern gleichkommen, daß ihre Speere die Sonne verdunkeln und ihre Krieger die Flüsse leertrinken. Neben den gefürchteten berittenen Bogen schützen gibt es die Fußsoldaten aus Suria, Dragoner aus Dhaukia, Langbogenschützen aus Madiq und Angehörige fantastischer Stämme aus den Ländern des Sonnenuntergangs, von denen man unter den Va rastuma nie etwas gehört hat. Und Gerüchte wollen von neuartigen Kriegsinstrumenten wissen, die man auf diesem Planeten nie zuvor gesehen hat. Sage ich euch das alles, um euch in Angst und Schrecken zu versetzen? Mitnichten. Denn auch wir verfügen über Macht. Ich brauche euch die einstigen
Ruhmestaten der Waffen Balhibs nicht aufzuzählen.« (Kordaq leierte trotzdem eine lange Liste von Ereig nissen herunter, die zu erwähnen nicht nötig ist.) »Doch neben unseren eigenen starken überlieferten Waffen haben wir etwas Neues. Eine Waffe von solch grausamer Gewalt, daß eine Herde wilder Bishtars ihr nicht standhalten könnte! Wenn alles gut geht, wird sie am Fünf-Tag zu unserer Übung fertig sein. Bereitet euch auf bewegte Ereignisse vor! Jetzt aber etwas anderes, meine Helden. Die JuruKompanie ist in Balhib für ihre mangelnde Uniformi tät bekannt – wofür man euch nicht die Schuld zu schieben kann. Durch eure Verschiedenheit der For men stellt ihr euch dem eigentlichen Zweck einer Uniform entgegen. Jedoch muß man Maßnahmen er greifen, damit ihr euch nicht auf dem Feld der toben den Schlacht wiederfindet, ohne ein Mittel, Freund von Feind zu unterscheiden und somit von der Ver wirrung verschluckt und von Waffen der eigenen Sei te in unverdiente Vergessenheit gefegt werdet, wie es der Legende nach Zidzuresh zugestoßen ist. Ich habe das Arsenal durchsucht und diesen Hau fen alter Helme entdeckt. Es stimmt, daß sie vom heimtückischen Dämon des Rostes böse zerfressen sind, obwohl die Waffenschmiede sich bemüht ha ben, die ärgsten Abnützungsspuren zu tilgen. Doch sie sind wenigstens alle gleichartig, und da wir keine
anderen Unterscheidungsmittel haben, werden sie die Helden des Juru-Bezirkes kennzeichnen und eure Schädel schützen. Dazu kommt, daß die eigentliche Uniform der Juru-Kompanie – wie ihr wohl wißt – aus einer roten Jacke mit weißem Band am rechten Ärmel besteht und nicht aus jenen untauglichen Ab zeichen, die ihr bei euren Patrouillen tragt. Wenn da her jemand noch etwas in seinem Schrank hat, das diesem lebenswichtigen Zweck dienen könnte, soll er es hervorholen. Der Schnitt spielt keine Rolle, nur rot soll das Stück sein. Und dann bringt eure Schwestern und Jagaini dazu, weiße Bänder auf den Ärmel zu nähen. Das alles ist keine kleinliche Schikane – euer Leben kann von der peinlichen Befolgung dieses Be fehls abhängen! Noch etwas – eine Sache von Gewicht und Bedeu tung. Die scharfen und zahlreichen Ohren unserer Regierung haben vernommen, daß Agenten des ver fluchten Ghuur, einem bösen Spuk gleich, durch un sere geheiligte Stadt schleichen. Also hütet eure Zun gen und gebt acht, falls ein Mitbürger ungewohnte Neugier für Angelegenheiten zeigt, die ihn nichts an gehen! Sollten wir einen dieser Schurken bei seiner schleimigen Schändlichkeit ertappen, so wird sein weiteres Schicksal noch Generationen lang die Feder des Historikers zum Erzittern bringen und den Leser erschaudern lassen!
Jetzt stellt euch in Reih und Glied auf. Ich will euch diese alten Helme geben. Mögt ihr sie tragen wie die Helden stark, die sie in den großen Tagen von einst getragen haben!« Als er sich anstellte, um seinen Helm in Empfang zu nehmen, dachte Fallon daran, daß Kordaq selbst heute morgen nicht sehr verschwiegen gewesen war. Es kam ihm auch in den Sinn, welch ironischen Witz es abgeben würde, wenn er, Anthony Fallon, auf Grund einer Information, die er der Gegenseite ver kauft hatte, auf dem Schlachtfeld fallen würde. Auf dem Heimweg wurde Fallon in die Kneipe des Savaich verschleppt und verbrachte dort Stunden im Gespräch und Suff mit seinen Kumpanen. Daher ver schlief er den nächsten Morgen und mußte sich beei len, um am anderen Ende der Stadt Fredro in dessen Hotel abzuholen. Ihm dünkte, als wäre die Stadt von unmerklicher Erregung erfaßt. Im Omnibus erhaschte er Gesprächsfetzen, die jüngsten Ereignisse betreffend: »... ja, es heißt, die Jungava haben eine Abteilung von Bishtars, doppelt so groß wie unsere, die man in wilder Jagd durch die feindlichen Linien treiben kann ...« »Mir scheint, unsere Generale sind Dummköpfe, weil sie unsere Jungen in die fernen Prärien zum Kampf schicken, statt den Feind hier zu erwarten und
ihn auf unserem eigenen Boden zu schlagen ...« »All der Aufruhr und die Bewaffnung ist nur eine Provo kation für den Ghuur von Uriiq. Verhielten wir uns ruhig, würde er nicht im Traum an uns denken ...« »... mitnichten, es ist ein verweichlichtes und degenerier tes Zeitalter. Zur Zeit unserer Vorväter hätten wir den Barbaren ins Gesicht gespuckt!« Fallon traf den Archäologen vor der Schreibmaschine an. Er war eben dabei, einen Artikel in seiner Mutter sprache zu schreiben, die – Fallon schaute ihm über die Schulter – hauptsächlich aus Z, J und W zu beste hen schien. Fredros Kinn und Oberlippe waren noch immer von einem Bärtchen geziert, das abzurasieren er vergessen hatte. Fallon schimpfte so lange mit ihm, bis Fredro end lich aus seinem geistigen Nebel herausgetreten war. Dann gingen sie zum Laden Ve'qirs des Exklusiven. Nach einstündiger Wartezeit machten sie sich, die Gewänder als Bündel unter dem Arm tragend, zu Fallons Haus auf den Weg. Ihr Omnibus fuhr am größten Park Zanids vorbei, als Fredro nach Fallons Arm faßte und mit dem Finger zeigte. »Sehen Sie!« rief er. »Zoologischer Garten!« »Na und?« sagte Fallon. »Ich kenne ihn schon.« »Aber ich nicht! Steigen wir aus, ja? Wir können Tiere ansehen und dort das Mittagessen einnehmen.«
Ohne Fallons Einwände abzuwarten, war der Pole von seinem Sitz aufgesprungen und die Stufen hinun tergelaufen. Fallon folgte ihm voller Skepsis. Und dann wanderten sie zwischen Käfigen dahin, die Yekis, Shaihans, Karouns, Bishtars und andere Exemplare der Wildnis enthielten. Fredro fragte: »Was soll diese Menschenansammlung? Muß etwas Ungewöhnliches sein.« Vor einem Käfig hatte sich eine große Schar Krishni versammelt. In der Mittagshitze hatten sich die mei sten ihrer Schals und Tuniken entledigt und waren bis auf Lendenschurz oder Röcke und Schuhwerk unbekleidet. Die Erdenmenschen hielten auf sie zu. Wegen der Ansammlung konnten sie nicht sehen, was sich im Käfig befand, doch über den Köpfen der Menge war an den Stäben eine übergroße Tafel ange bracht. Mit Mühe konnte Fallon übersetzen: Blak Ber; Urso Negro Habitat: Yunaisteits, Nordamerika, Terra »Ach«, sagte Fallon, »ich erinnere mich. Ich habe ei nen Artikel für die Rashm verfaßt, als er als Junges hier ankam. Er ist König Kirs ganzer Stolz und Freu de. Kir wollte von der Erde eigentlich einen Elefanten mitbringen, doch die Frachtgebühren waren selbst für ein Elefantenbaby zu hoch für die Schatzkammer.«
»Aber was ist es?« »Ein schwarzer Bär aus Amerika. Wenn Sie sich mit Ellbogen einen Weg durch die Menge bahnen wollen, um einen fetten, schläfrigen und ganz ordinären Bä ren zu sehen ...« »Verstehe, verstehe. Sehen wir uns anderes an.« Sie beugten sich eben über den Rand des AvvalBeckens und beobachteten die zehn Meter langen Krokodil-Schlangen, die sich darin tummelten, als schrille Töne hörbar wurden. Fallon sah sich um und sagte: »Oh! Achtung – der König kommt! Verdammt, ich hätte eigentlich daran denken sollen, daß er fast täglich herkommt, um die Tiere zu füttern!« Fredro beachtete ihn nicht, weil er damit beschäf tigt war, ein vom Wind hineingewehtes Staubkorn aus dem Auge zu entfernen.
12
Das Geräusch der königlichen Pfeifer und Trommler wurde immer lauter, und plötzlich kam um eine Wegbiegung die ganze Prozession. Als erstes die drei Pfeifer und der Trommler. Die Pfeifer spielten auf In strumenten, die den schottischen Dudelsackpfeifen ähnelten, aber viel komplizierter waren. Der Tromm ler schlug zwei Kupfertrommeln. Hinter ihnen kamen sechs große Gardisten in vergoldeten Kürassen, zwei mit elfenbeinverzierten Armbrüsten über der Schul ter, zwei mit Hellebarden und zwei mit großen Schwertern. Inmitten dieser Schar schritt ein hochgewachsener Krishni in vorgerückten Jahren, der sich beim Gehen auf einen juwelenbesetzten Spazierstock stützte. Er war in überaus prächtige Gewänder gehüllt, die je doch schlampig an ihm herabhingen. Sein StrumpfTurban war zu locker gebunden. Die Spitzenbesätze des goldgestickten Jacketts waren zerrissen, und die Stiefel paßten nicht. Hinter den Gardisten ging ein halbes Dutzend buntgemischter Zivilisten, deren Gewänder im Wind wehten. Beim ersten Pfeifenton hatten sich die Krishni vor dem Bärenkäfig zerstreut. Jetzt waren nur noch we nige Krishni in Sicht, und diese sanken in die Knie.
Fallon zerrte an Fredros Arm: »Niederknien, ver dammter Narr!« »Was?« Fredro sah ihn aus einem geröteten, wäßri gen Auge an, aus dem er schließlich den Fremdkör per entfernt hatte. »Ich niederknien? Ich bin Bürger der Polnischen Republik, und so viel wert wie jeder andere ...« Fallon zog halb sein Rapier. »Sie werden knien, al ter Freund, oder ich bringe Sie mit meinem Rapier dazu!« Murrend gab Fredro nach. Doch als die Musik an den zweien vorüber war, ließ der große, exzentrisch gekleidete Krishni etwas in scharfem Ton verlauten. Die Prozession hielt an. König Kir starrte wie gebannt ins Gesicht Dr. Julian Fredros, der unbeirrt das Star ren erwiderte. »Was!« rief schließlich der König. »Es ist der ver dammte Shurgez. Er ist zurückgekehrt, um mich zu verhöhnen! Und er trägt den Bart, den er mir gestoh len hat! Ich werde den Frevler gebührend bestrafen!« Sofort war der König vom Geschnatter der ihn be gleitenden Zivilisten umgeben, die ihm auf den Leib rückten und beruhigend auf ihn einredeten. Kir schenkte ihnen keinerlei Beachtung und faßte statt dessen seinen Stock mit beiden Händen und zog dar an. Jetzt stellte es sich heraus, daß es ein Schwertstock war. Heraus fuhr das Schwert, und der Dour von
Balhib stürzte sich, die Schwertspitze voran, auf Fre dro. »Laufen!« rief Fallon und befolgte seinen eigenen Rat, ohne abzuwarten, ob Fredro soviel Verstand be saß, ihm zu folgen. Bei der ersten Wegbiegung riskierte Fallon einen Blick zurück. Fredro war einige Schritte hinter ihm. Und hinter ihm kam Kir, und hinter dem König Pfei fer, Trommler, Gardesoldaten und Begleiter. Alle rie fen den zwei Flüchtenden gute Ratschläge zu, wie der irre Monarch zu besänftigen wäre, ohne daß sie dabei Majestätsbeleidigung begingen. Fallon lief weiter. Während seines Aufenthaltes in Zanid war er nur zweimal im Zoo gewesen und kannte daher die Anlage nicht sehr gut. Als er zu ei ner Wegkreuzung kam und der geradeaus vor ihm verlaufende Weg auf zwei Käfige zuzuführen schien, lief er in diese Richtung weiter. Zu spät merkte er, daß es ein Weg für das Wärterpersonal war, der zu versperrten Türen führte, von denen je eine zu einem der den Weg flankierenden zwei Käfige gehörte. Dort war der Weg zu Ende. Eine Felsklippe bildete die Rückwand beider Umfriedun gen. Man konnte diesen Hang nur einige Meter weit erklimmen, ehe er für einen weiteren Anstieg zu steil wurde. Auf dem obersten erreichbaren Punkt ragten Stäbe aus Qong-Holz, aus denen auch der Käfig be
stand, nur an die zwei Meter hoch in die Höhe, da der im Inneren des Käfigs gelegene Teil des Felshanges an dieser Stelle so steil war, daß die Insassen ihn nicht erklettern konnten. Fallon sah sich um. Trotz seines Alters hielt sich Fredro noch immer dicht hinter ihm. König Kir trabte mit blitzender Klinge auf den Weg. Es bot sich als Ausweg also nur der Hang. Fallon rannte bergauf, bis er seine Hände zu Hilfe nehmen mußte. Als er mit dem Fuß auf einem schma len Sims Halt gefunden hatte, sah er hinunter. Fredro war genau unter ihm, und der König wollte eben zu klettern anfangen, während das königliche Gefolge hinterher rannte und eine Schar schreiender Zu schauer aus allen Richtungen zusammenlief. Fallon hätte natürlich sein Schwert ziehen und die Attacke des Königs abwehren können. In diesem Fall aber hätte sich ihm die Garde aus Prinzip in den Weg ge stellt, um ihren wahnsinnigen Herrn zu schützen. Der einzige Ausweg an dieser Stelle bot sich über die Umzäunung in einen der Käfige an. Fallon hatte keine Zeit gehabt, die Aufschriften vorn an den Käfi gen zu lesen, und von seinem jetzigen Standpunkt aus konnte er nur die Rückseite dieser Tafeln sehen. Der Käfig zur Rechten beherbergte ein Paar Gerkas, mittelgroße Fleischfresser aus der Familie der größe ren Yeki. Diese konnten sich sehr wohl als gefährlich
erweisen, wenn ihr Käfig von Fremden betreten wur de. Und was sich in dem Käfig zur Linken befand, hatte sich gerade in die Höhle an der Rückseite zu rückgezogen. Fallon faßte nach den Stabspitzen zur Linken und zog sich daran hoch. Obwohl er in vorgerückten Jah ren stand, ermöglichten es ihm die hier weniger als ein Drittel der Erdnorm betragende Schwerkraft, im Verein mit Todesangst, sich auf die Umzäunung hin aufzustemmen, wo er rittlings sitzen blieb. Er streckte dem schweratmenden Fredro eine Hand entgegen. Dieser drückte noch immer das Bündel Priesterge wänder an sich. Fredro reichte Fallon das Bündel, der es auf der anderen Seite des Zauns fallen ließ. Das Bündel glitt über den leicht abschüssigen Fels, rollte und rutschte den sanften Hang hinunter, bis es von einem Sims aufgehalten wurde. Mit Fallons Hilfe hievte sich auch Fredro hinauf und ließ sich in den Käfig fallen, als im gleichen Augenblick König Kir vor den Stäben auftauchte. Nach einer Stange fassend, um nicht auszurutschen, stieß der Dour sein Schwert zwischen den Stäben hindurch. Als die Klinge herausfuhr, glitten die zwei Erden menschen den Hang hinunter und wurden von dem selben Sims aufgehalten, wo schon das Bündel lag. Hier brach Fredro vor Erschöpfung zusammen. Hinter ihnen erhob sich der Schrei des irren Herr
schers: »Kommt zurück, Halunken und Diebe, und empfangt Euren gerechten Lohn!« Das Gefolge, das sich jetzt von den Neugierigen abgesondert hatte, kletterte hinter dem König empor. Während Fallon zusah, umringten sie Kir, beruhigten ihn mit Schmeicheleien, bis auf einmal die ganze Ge sellschaft wieder den Hang hinunterkletterte und auf dem Weg zwischen den zwei Käfigen den Rückzug antrat. Die Garde stieß die Zaungäste aus dem Weg, und die königliche Gesellschaft zog weiter; die Pfeifer dudelten wieder und der König war dicht von Auf passern umringt. »Wenn wir jetzt nur rauskommen ...« sagte Fallon und sah sich nach einem Weg um. Der Fels war hier zu steil und glitschig. Hinauf ging es also nicht. Doch an einem Ende lief der Sims in einer Anhäufung von Felsblöcken verschiedener Größe aus, die eine Abstiegshilfe bis zu einem Punkt darstellten, von wo aus man mit Leichtigkeit auf den Boden des Freigeheges springen konnte. Eine kleine Schar Wärter hatte sich vor dem Käfig zusammengefunden und schien sich über die geeig nete Methode, die zufällig hereingeratenen Gefange nen loszuwerden, nicht einig zu sein. Sie gestikulier ten mit romanischer Verve. Um sie herum und hinter ihnen hatte sich die Schar der Neugierigen wieder auf die Fährte des Königs geheftet.
Fredro, der seinen Atem wiedergefunden und sich von der ungewöhnlichen Anstrengung erholt hatte, stand auf, nahm das Bündel und ging den Sims ent lang. Er sagte: »Nicht gut, nicht gut – wenn man das findet, ja?« Er keuchte immer noch. Und dann: »Was – was hat ›Shurgez‹ bedeutet, Mr. Fallon? Der König hat es mir immer wieder zugerufen.« »Shurgez war ein Ritter aus Mikardand, der den Bart des Königs abgeschnitten hat. Deswegen ist un ser verrückter König in diesem Punkt überempfind lich. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, daß Ihr kleiner Spitzbart ihn so aufregen könnte – ja, was ist denn das!« Ein donnerähnliches Grollen ließ die Männer gegen den Felsen zurückweichen. Aus der Höhle im Hin tergrund des Geheges kroch mit uhrwerkartig präzi ser Bewegung seiner sechs Eidechsenbeine der größte Shan, den Fallon je gesehen hatte. Die Telleraugen er spähten Fallon und Fredro auf dem Felsband. Fredro schrie: »Warum haben Sie keinen anderen Käfig ausgesucht?« »Woher hätte ich das wissen sollen? Hätten Sie Ih ren Bart abrasiert, wie ich es verlangt habe ...« »Was jetzt?« »Sich vorbereiten, wie ein Mann zu sterben, nehme ich an«, sagte Fallon und zog sein Schwert. »Aber ich habe keine Waffe.«
»Pech, was?« Die Krishni vor dem Käfig zeterten und schrien. Fallon konnte nicht unterscheiden, ob sie versuchten, den Shan abzulenken oder ihn zum Angriff aufhetz ten. Was den Shan betraf, so schlenderte er gemäch lich in jenen Teil des Geheges, wo die Erdenmen schen gefangen waren, und stellte sich am Felsen auf, so daß sein Kopf auf eine Ebene mit den Menschen kam. Fallon stand mit Schwert abwehrbereit da, soweit es seine geringe Standfläche erlaubte. Die Wärter rie fen ihm etwas zu, doch er wagte nicht, den Blick von dem Fleischfresser zu wenden. Die Kiefer klappten auf und schnappten. Fallon stieß zu. Der Shan ließ die Kiefer über der Klinge zu klappen und riß mit einer raschen Seitwärtsbewe gung des Kopfes die Klinge Fallon aus der Hand, so daß sie durch den Käfig wirbelte. Das Tier stieß ein schreckliches Knurren aus. Als es die Kiefer wieder aufklappte, sah Fallon, daß die Klinge das Tier leicht verwundet hatte. Braunes Blut lief über den Unterkie fer. Das Untier zog den Kopf zurück und öffnete den Rachen für ein letztes Zuschnappen – und dann er goß sich ein Eimer voll Flüssigkeit von oben über Fal lon. Blinzelnd und spuckend merkte er, wie Fredro derselben Behandlung unterzogen wurde. Jetzt erst
bemerkte er den entsetzlichen Gestank, der ihn an ein Desinfektionsbad für Schafherden erinnerte. Nach einem erstaunten Zurückzucken stieß der Shan den Schädel noch einmal vor, knurrte und ließ sich mit angewidertem Schnauben auf alle sechs Füße fallen. Dann schlich er zurück in seine Höhle. Fallon sah sich um. Hinter und über ihnen hielten zwei Zoowärter eine Leiter an der Außenseite der Umzäunung, wo Fallon und Fredro hereingeklettert waren. Ein dritter Krishni war die Leiter hinaufge stiegen und hatte die Eimer über den Erdenmenschen geleert. Jetzt reichte er den zweiten leeren Eimer ei nem seiner Kollegen und machte sich ans Hinunter klettern. Ein anderer Krishni, der am Hang weiter unten stand, rief: »Beeilt Euch, Herren, wir lassen Euch aus dem Käfig heraus. Der Geruch wird den Shan zu rückhalten.« »Was ist denn das für ein Zeug?« fragte Fallon beim Hinunterklettern. »Aliyab-Saft. Das Tier meidet den Geruch; deswe gen besprengen wir unsere Kleider damit, wenn wir den Käfig betreten wollen.« Fallon hob sein Schwert auf und lief durch die Git tertür, die der Wärter offenhielt. Weder wußte er, was Aliyab-Saft war, noch kümmerte es ihn, doch war er der Meinung, seine Retter hätten bei Anwendung
dieser Flüssigkeit ruhig weniger großzügig vorgehen sollen. Fredros Bündel war durchnäßt, und das Krishni-Papier, das sehr leicht wasserlöslich war, be gann sich aufzulösen. Ein paar Wärter schlossen sich ihnen an und mach ten Andeutungen, daß ein Trinkgeld als Belohnung für die Rettung nicht unwillkommen wäre. Verärgert hätte Fallon ihnen am liebsten gesagt, sie sollten sich zum Hishkak scheren, und außerdem dachte er dar an, die Stadtverwaltung wegen der Jagd im Käfig zu belangen. Doch das wäre ein unkluges Verhalten ge wesen, da Balhib noch nicht jenen Grad der Zivilisa tion erreicht hatte, da eine Regierung sich von einem Bürger verklagen läßt. Und die Wärter hatten ihm schließlich das Leben gerettet. »Diese Schwachköpfe wollen Geld«, sagte er zu Fredro. »Sollen wir einen Betrag aussetzen, den sie sich teilen können?« »Das übernehme ich«, sagte Fredro. »Sie arbeiten für mich, also trage ich die Verantwortung. Eine Sa che der polnischen Ehre.« Er gab Fallon eine Faustvoll Goldstücke und trug ihm auf, sie dem obersten Wärter zu geben, der sie gerecht unter denen verteilen sollte, die an der Ret tung beteiligt gewesen waren. Nur zu erfreut, daß die Kosten der Rettung von der Ehre der Polnischen Re publik übernommen wurden, tat Fallon wie geheißen.
Dann sagte er zu Fredro: »Kommen Sie. Vor uns liegt harte Arbeit.« Hinter ihnen erhob sich ein wilder Streit unter den Wärtern über die Aufteilung des Geldes. Die Erden menschen bestiegen einen Omnibus und jeder setzte sich auf den ersten freien Platz, den er entdecken konnte. Nach einer Weile merkte Fallon, daß etliche Sitze sowohl neben Fredro als auch vor und hinter ihm selbst leergeworden waren. Er ging zu Fredro hin über. In der anderen Sitzreihe sprühte ein bunt gekleideter Zanidu Parfüm auf ein Taschentuch. Das hielt er sich unter die Nase, während er über diese improvisierte Er frischungseinrichtung hinweg Fallon und Fredro böse anstarrte. Ein anderer verrenkte sich den Hals, um sich nach den zwei Erdenmenschen umzusehen. Dabei hielt er sich geziert eine Lorgnette vor die Augen. Und schließlich stand ein kleiner Bebrillter auf und wechsel te ein paar Worte mit dem Schaffner. Letzterer kam auf sie zu, schnüffelte und sagte dar aufhin zu Fallon: »Ihr müßt aussteigen, Erdenmen schen.« »Warum?« »Weil Ihr den Aufenthalt in diesem Omnibus durch Eure üble Ausdünstung für die anderen unerträglich macht.«
»Was er sagt?« fragte Fredro, denn der Schaffner hatte rasch und im Jargon der Stadt gesprochen, so daß der Archäologe nicht hatte folgen können. »Er sagt, wir verstänkern seinen Bus und sollen aussteigen.« Fredro war außer sich. »Sagen Sie ihm, daß ich polnischer Staatsbürger bin! Ich bin genauso viel wert wie er, und ich steige nicht aus, weil –« »Ach, um Qarars willen, lassen Sie das! Kommen Sie. Wir werden mit diesen Taugenichtsen nicht über Ihre kostbare polnische Staatsbürgerschaft streiten.« Fallon stand auf und streckte dem Schaffner die Hand entgegen. »Wofür?« fragte dieser. »Sie werden so gut sein, und uns den Fahrpreis zu rückerstatten, guter Mann.« »Aber Ihr seid mindestens zwei Haltestellen weit mitgefahren ...« »Fastuk!« rief Fallon. »Die Stadt Zanid hat mir heu te Unannehmlichkeiten bereitet – mehr als ich gewillt bin, mir bieten zu lassen! Und jetzt werdet Ihr ...« Der Schaffner wich vor diesem Wortschwall zurück und gab ihm hastig das Geld. Als sie Fallons Haus betraten und sich ihrer Lasten entledigt hatten, fragte Fredro: »Wo ist Ihre – hm – Jagaini?«
»Macht einen Besuch«, sagte Fallon schroff, weil er im Moment keine Lust hatte, seine häuslichen Zwi stigkeiten zu ventilieren. »Äußerst attraktives Weib«, sagte Fredro. »Viel leicht bin ich schon so lange auf Krishna, daß die grüne Farbe mir ganz natürlich erscheint. Sie hatte so viel Charme. Ich bedaure, daß ich sie heute nicht an getroffen habe.« »Ich werde es ihr bestellen«, sagte Fallon. »Legen wir jetzt die Gewänder und unsere Sachen an die Luft. Hoffentlich ist der Gestank weg, wenn wir uns wieder anziehen müssen.« Fredro entfaltete ein Gewand und seufzte: »Ich bin seit vierunddreißig Jahren Witwer. Habe viele Nach kommen – Kinder, Enkel, und so weiter – sechs Gene rationen.« »Ich beneide Sie, Dr. Fredro«, sagte Fallon aufrich tig. Fredro fuhr fort: »Aber keine Frau. Mr. Fallon, sa gen Sie, wie schafft es ein Erdenmensch in Balhib, zu einer Jagaini zu kommen?« Fallon sah seinen Gefährten mit spöttischem Lä cheln an. »So wie man auf der Erde zu einer Frau kommt. Man fragt.« »Ich verstehe. Sie müssen wissen, ich möchte diese Auskunft nur als wissenschaftliches Faktum haben.«
»Wie es sich für Ihr Alter ziemt.« Den Rest des Tages verbrachten sie damit, das Ri tual durchzugehen und zu proben und den schlur fenden Gang der Priester des Yesht zu üben. Um die dritte Mahlzeit des Krishni-Tages einzunehmen, gin gen sie in die Kneipe Savaichs. Dann kehrten sie in Fallons Haus zurück. Fallon ra sierte Fredros Schnurrbart ab, ungeachtet der Prote ste. Eine Schicht grünen Puders verlieh ihrer Haut den richtigen Farbton. Den Haaren ließen sie eine grüne Spülung angedeihen. Dann klebten sie künstli che Ohren und Antennen, mit denen Mjipa sie ausge stattet hatte, an den Kopf. Zuletzt legten sie die purpur-schwarzen Priester gewänder über ihre normale Kleidung an. Sie ließen die Kapuzen herunterhängen und rafften die Röcke zu Knielänge hoch, indem sie sie mit Gürtelbändern festhielten. Darüber zogen sie die in Zanid üblichen Regenmäntel an: Fallon seinen neuen und Fredro den alten, geflickten, den Fallon hatte wegwerfen wollen. Schließlich machten sie sich zu Fuß auf den Weg zum Safq. Und bald zeichnete sich vor ihnen der gro ße, rätselhafte konische Bau vor dem dunkler wer denden Himmel ab.
13
Fallon fragte: »Sind Sie sicher, daß Sie überhaupt wei termachen wollen? Es ist noch nicht zu spät zur Um kehr.« »Weiß ich. Wie – wieviele Eingänge gibt es?« »Nur einen, von dem ich weiß. Vielleicht gibt es ei nen unterirdischen Gang zur Kapelle, aber den würde ich nicht empfehlen. Jetzt geben Sie acht: Zunächst gehen wir vorbei und sehen zu, wie weit wir hinein sehen können. Ich glaube, sie haben neben dem Ein gang einen Tisch, an dem man sich zu erkennen ge ben muß. Mit diesen Gewändern müßten wir rein kommen. Wir geben acht, bis niemand hinsieht, schlüpfen dann hinter die Anschlagtafel und ziehen die Regenmäntel aus.« »Verstehe, verstehe«, sagte Fredro ungeduldig. »Man möchte meinen, Sie könnten es nicht erwar ten, bis man Ihnen die Kehle durchschneidet.« »Wenn ich an die Geheimnisse da drinnen denke, die darauf warten, von mir entdeckt zu werden, dann ist mir alles egal.« Fallon schnaubte und bedachte Fredro mit jenem vernichtenden Blick, den er für derart tollkühne Idea listen reserviert hatte. Fredro fuhr fort: »Sie halten mich wohl für einen
Narren? Konsul Mjipa hat mir von Ihnen erzählt. Hat gesagt, Sie wären auch so verrückt, wenn es um die Rückgewinnung Ihres Thrones geht.« Insgeheim mußte Fallon zugeben, daß an diesem Vergleich viel Wahres war. Doch da sie eben den Park, der den Safq umgab, betraten, konnte er diese Gedankenkette nicht weiter verfolgen. Fredro fuhr leise fort: »Krishna ist ein ArchäologenParadies. Seine Ruinen und Funde stellen mindestens dreißig- bis vierzigtausend Erdenjahre Geschichte dar – acht oder zehnmal so lang wie die überlieferte Ge schichte auf der Erde – aber alles durcheinander, mit riesigen Lücken und von den Krishni selbst nie ge wissenhaft studiert. Hier kann man ein Schliemann, ein Champollion und ein Carnarvon gleichzeitig sein ...« »Pst, wir kommen näher.« Der Haupteingang des Safq war von Feuern erhellt. Sie flackerten in zwei Becken, die die großen Flügel türen flankierten. Stimmengemurmel, das Wehen purpur-schwarzer Gewänder empfing die beiden. Als Fallon und Fredro vor dem Eingang standen, konnte Fallon über die Köpfe der Krishni hinweg ins Innere sehen, das vom Schein vieler Kerzen und Öl lämpchen erhellt wurde. Dann und wann lichtete sich die Menschenmenge, und dann konnte Fallon zu dem Tisch hinsehen, an
dem der Priester saß, der an Hand eines Registers die Eintretenden kontrollierte. Seit der Einführung der Fotografie auf Krishna wa ren die Priester des Yesht dazu übergegangen, an ihre vertrauenswürdigen Gefolgsleute Identitätsabzeichen auszugeben, die kleine Bilder des Trägers zeigten. Fünfzehn bis zwanzig Einlaß heischende Laien stan den in einer Schlange, die vom Tisch bis zu den Tü ren und die drei Stufen zur Straße hinunterreichte. Fallon schlenderte nahe ans Portal heran und hielt Augen und Ohren offen. Er war erleichtert, als er sah, daß sich seine Hoffnung bewahrheitet hatte. Die Prie ster drängten sich durch die Menge, ohne sich vor dem Tisch auszuweisen. Offenbar war es so unerhört, daß ein Laie im Priesterornat aufkreuzen könnte, daß man dagegen keine Vorsichtsmaßregeln getroffen hatte. Kein Mensch hinderte Fallon und seinen Begleiter, als sie zum Anschlagbrett gingen und so taten, als studierten sie es eingehend. Eine Minute später ka men sie hinter dem Brett hervor, allem Anschein nach Priester des Yesht. Im Schatten hinter dem Brett lagen eingerollt die Regenmäntel auf dem Boden. Die Ka puzen der Priestergewänder beschatteten ihre Gesich ter. Klopfenden Herzens schritt Fallon auf den Eingang zu. Devot machten ihm die Laien Platz, so daß er sich
gar nicht hindurchzudrängen brauchte. Fredro folgte so dicht hinter ihm, daß er ihm auf die einstudiert schlurfenden Fersen trat. Sie gingen zwischen den zerschrammten Bronzeflügeln der großen Tore hindurch. Vor ihnen ragte von links her eine Trennwand vor, die nur einen schmalen Zwischenraum zwischen dem Tisch des Türstehers und der Wand freiließ. Links standen zwei Männer in der Rüstung der Bürger wehr, auf Hellebarden gestützt. Sie sahen den Vor beigehenden ins Gesicht. Knapp vor Fallon flatterte ein Priester hinein. Fallon hörte, daß er so etwas ähn liches wie »Rukhval« murmelte, als er zwischen den Aufpassern zur Linken und dem zur Kontrolle der Identität dienenden Tisch zur Rechten hindurchging. Fallon senkte den Kopf und zögerte vor dem aller letzten Sprung. Von irgendwoher erklang eine Glok ke. Flüsternde Bewegung durchlief die Menge am Eingang. Fallon vermutete, daß die Glocke zum pünktlichen Erscheinen beim Ritual mahnen sollte. Er trat vor, murmelte »Rukhval« und tastete nach dem Griff des Rapiers unter dem Ornat. Der Priester am Tisch sah gar nicht auf, als Fallon und Fredro vorübergingen, da er in ein leises Ge spräch mit einem Laien vertieft war. Fallon wagte nicht, die Posten anzusehen. Sein Herz drohte stillzu stehen, als einer von ihnen grollte: »Soi! Soi hao!«
Fallons Hirn war vor Angst wie gelähmt, so daß es eine Sekunde dauerte, bis er merkte, daß der Kerl bloß jemanden zur Eile antrieb. Ob er zu Fallon oder Fredro gesprochen hatte oder zu dem Priester und den Laien beim Tisch – das herauszufinden nahm sich Fallon nicht die Zeit, sondern ging weiter. Ande re Priester drängten hinter den Erdenmenschen nach. Fallon ließ sich vom Strom treiben. Als er immer tiefer in den Safq eindrang, wurde er sich des seltsa men Geräusches bewußt, das er bemerkt hatte, als er vor vier Nächten den Bau von außen besichtigt hatte. Hier im Innern klang es lauter als draußen, aber es erwies sich auch hier als ein noch komplizierteres und rätselhafteres Geräusch, als er gedacht hatte. Es war nicht nur tiefes, rhythmisches Schlagen zu hören, sondern auch leisere und schnellere Geräusche wie Gehämmer und Scharren, wie vom Feilen oder Mah len. Die Schar der Krishni flutete in den rückwärtigen Teil der Cella des Tempels des Yesht, der einen Teil des Safq bildete, oder in jenen hineingebaut worden war und sich als der große Raum auf Kordaqs Plan erwies. Vorsichtig unter dem Kapuzenrand nach links spähend, konnte Fallon die Rückseite der Sitzbänke sehen – drei große Gruppen, etwa zur Hälfte besetzt. Als er durch die die Bänke trennenden Reihen hin durchgegangen war, erblickte er eine Barriere, die die
Gemeinde von der Priesterschaft trennte. Links, von der Mitte aus gesehen, erhob sich die Kanzel, eine zy lindrische Struktur aus schimmerndem Silber. Dahin ter stand etwas Schwarzes, undeutlich Geformtes. Das mußte die große Statue des Yesht sein, die Panja ku von Ghulinde, selbst Yeshtiter, geschaffen hatte und deswegen eigens nach Zanid gekommen war, wie Rashm berichtet hatte. Das Lampenlicht schimmerte auf den vergoldeten Verzierungen und funkelte von den Halbedelsteinen der Mosaiken am oberen Teil der Mauern. Fallon konnte diese Mosaiken von seinem Standpunkt aus nicht klar erkennen, doch hatte er den Eindruck, daß es sich dabei um eine Szenenfolge aus dem YeshtMythos handelte – einem Mythos, der sogar unter den zu Fantastereien neigenden Krishni als grotesk galt. Die durch den Eingang hereinströmende Volks menge der Krishni hatte sich geteilt. Die Laien such ten sich Plätze in den Bankreihen, während die viel seltener vertretenen Priester sich zu einer Tür weiter drängten. Nach Liyaras Instruktionen vermutete Fallon, daß hinter dieser Tür ein Umkleideraum lag, wo die Prie ster die Übergewänder anlegten, die sie während des Gottesdienstes trugen. Die niederen Priesterränge wechselten zu diesem Zweck nicht alle ihre Gewän
der, nur die Oberpriester legten eine vollständige Montur und Insignien an. Mit einem Blick zurück vergewisserte sich Fallon, daß Fredro ihm folgte, und durchschritt dann die Tür. Doch als er sie hinter sich hatte, befand er sich nicht in dem Raum, den er aufgrund des unauffälligen kleinen Quadrates, wie es in Kordaqs Plan einge zeichnet war, erwartet hätte. Er stand in einem mittelgroßen, spärlich erhellten Raum, mit einer weiteren Tür genau gegenüber, durch die die Priester vor ihm hasteten. Und dann veranlaßte ihn Kettengeklirr, den Kopf nach links zu wenden. Was er jetzt sah, ließ ihn so unvermittelt zurückweichen, daß er dem ihm folgenden Fredro auf die Zehen trat. Angekettet an eine Wand des Raumes, doch mit genügend Spielraum, um mit dem schlangenähnli chen Hals alle Teile des Raumes erreichen zu können, war ein Shan. Obgleich nicht so groß wie der in Ka stambangs Arena und der im Zoo, war er doch groß genug, um einen Menschen mit wenigen Bissen ver schlingen zu können. Im Moment lag der Schädel des Tieres auf dem Vorderpaar seiner sechs klauenbewehrten Füße. Die großen Augen starrten Fallon und seinen Begleiter unausgesetzt an – und das aus einer Entfernung von knapp zwei Metern. Ein einziger Satz, und sie wären geliefert gewesen.
Mit einem erstickten Luftholen riß sich Fallon zu sammen und ging weiter, in der Hoffnung, keiner der Krishni möge sein Zögern bemerkt haben. Ihm fielen die zwei Eimer voll Aliyab-Saft ein, die Fredro und er vorhin im Zoo abbekommen hatten. Ohne Zweifel würde der Shan aus diesem, wenn nicht auch aus an deren Gründen, von einem Angriff Abstand nehmen. War es etwa so, daß alle Priester das Zeug auf ihre Gewänder träufelten, so daß geruchlose Eindringlin ge – verkleidet wie Fallon und Fredro – vom Shan verschlungen wurden? Fallon konnte nicht beurtei len, ob die echten Priester nach Aliyab rochen – er hatte sich an diesen Geruch schon zu sehr gewöhnt. Doch wenn es der Fall war, dann hatte sich die un vorhergesehene Dusche im Zoo als wahrer Glücksfall erwiesen. Der Blick des Shan folgte ihnen, doch das Untier hob den Kopf nicht von den Pranken. Fallon beeilte sich, die nächste Tür hinter sich zu bringen. Vor ihm lag jetzt ein Korridor, in einer langen sanf ten Kurve verlaufend der Außenwand des Bauwerkes folgend. Fenster waren hier keine vorhanden. Und obgleich Jadeit an dünnen Stellen lichtdurchlässig ist, waren die Außenwände viel zu dick, um Licht von außen einzulassen. In gewissen Abständen hingen Lampen in Halterungen an der Wand. Die linke Gangseite wurde von einer Wand gebildet, die häufig
von Türen unterbrochen wurde. Um die Kurve, wo jetzt die Wölbung der inneren Wand einen weiteren Blick nach vorn blockierte, mußte eine Treppe liegen; das wußte Fallon vom Plan her. Unmittelbar zur Linken zweigte ein geräumiger Gang oder ein langes Gewölbe ab, in dem sich vor ei nem langen Tisch die Priester drängten. Auf dem Tisch lagen Übergewänder. Die niederen Priesterrän ge suchten sich ihre Sachen heraus, warfen sie über und strichen sie, vor einer Reihe von Spiegeln an der entgegengesetzten Wand, glatt. Obwohl Gemurmel hörbar war, fiel es Fallon auf, daß die Priester für eine Schar Krishni außergewöhnlich ruhig waren. Da er von Liyara eingeweiht worden war, schritt Fallon mit selbstbewußtem Gehabe, das in Wirklich keit gespielt war, den Tisch entlang bis zu einem Haufen roter Umhänge. Er nahm zwei, reichte einen Fredro und legte den anderen vor einem Spiegel an. Er war kaum fertig, als zweimal eine Glocke ertön te. Mit hastigem Gescharre und Geschiebe bildeten die Priester an jener Stelle der Halle, wo die Spiegel hingen, eine Doppelreihe. Fallon zog Fredro, der noch immer an den Verschlußbändern seiner Soutane han tierte, an den ersten Platz, den er in der Doppelreihe der Priester ihrer eigenen Rangordnung erspähte. Diesen folgten Priester, die blaue Soutanen trugen, voran gingen gelbgekleidete. Glücklicherweise schien
es innerhalb der einzelnen Ränge keine festgelegte Reihenfolge zu geben. Fallon und Fredro standen mit geneigtem Kopf Sei te an Seite, um ihr Gesicht zu verstecken. Da läutete die Glocke dreimal. Das Scharren von Füßen ertönte. Aus den Augenwinkeln sah Fallon eine gleichgeklei dete Gruppe von Krishni vorübereilen. Einer trug an einer Kette ein Weihrauchfaß, das hin- und her schwang und aus dem sich eine Wolke duftenden Rauches erhob. Ein zweiter hatte eine Art Harfe, ein dritter einen kleinen Kupfergong. Einige waren mit Gold und Juwelen beladen und trugen verzierte Stangen mit Kultsymbolen an der Spitze. Fallon konnte sein Erschrecken nicht unterdrücken, als zwei vorübergingen, die zwischen sich an einem Metallhalsband, an dem vorn und hinten Ketten befe stigt waren, eine nackte weibliche Krishni führten, deren Handgelenke hinter dem Rücken zusammen gebunden waren. Trotz des trüben Lichtes und obwohl er sie nicht genau gesehen hatte, glaubte Fredro, daß es sich bei dem weiblichen Wesen um eine der kleinwüchsigen, hellhäutigen, kurzschwänzigen Primitiven handelte, die aus dem großen Waldgürtel östlich von KataiJhogorai hinter den Drei Meeren stammten. Die west lichen Krishni hatten von diesen Gebieten nur gerin ge Kenntnisse, bis auf die Tatsache, daß die Waldleu
te lange Zeit die Varasto-Völker mit Sklaven versorgt hatten. Die meisten Krishni waren nämlich zu stolz, eigensinnig und grausam, um gute Sklaven ab zugeben. Sie neigten dazu, ihre Herren zu ermorden, auch wenn es ihr eigenes Leben kostete. Doch die ängstlichen kleinen Waldmenschen aus Jaega und Aurus wurden noch immer geraubt, um in den westlichen Häfen der Drei Meere verkauft zu werden. Fallon hatte keine Zeit, sich den Kopf zu zerbre chen, was die Yeshtiter mit der Waldfrau vorhatten. Denn die Glocke ertönte abermals, und die Würden träger formierten sich an der Spitze des Zuges zu ei ner Prozession. Harfenist und Gongträger begannen, musikalische Geräusche hervorzuzaubern. Die Men ge bewegte sich in einem feierlichen Zug vorwärts, der in krassem Gegensatz zum vorherigen unzere moniellen Hasten stand. Während des Gehens wurde ein klagender Gesang angestimmt. Fallon konnte den Text nicht verstehen, da die Priester in Varastou san gen – einer toten Sprache, der Ursprungssprache von Balhibou, Gozashtandou, Qiribou und anderer Idio me der Varasto-Völker, die die Gebiete im Westen der Drei Meere bewohnten.
14
Unter traurigem Gesang zogen die Priester durch die Ankleidehalle und eine Tür, die sich an der Seite der Hauptkapelle öffnete. Angeführt von Hierarchen und Musikanten, schritten sie den rechten Gang entlang zum rückwärtigen Teil der Kapelle, durchquerten diesen und kamen wieder nach vorn. Fallons Blick glitt über die Innenausstattung: reich, alt und fanta stisch verziert. Immer wieder tauchte die SafqMuschel als Hauptsymbol auf. Ein um das Kapitell einer der Säulen aufgestelltes Gerüst ließ darauf schließen, daß die Priester die Vergoldungen restau rierten. Um das obere Mauerdrittel verlief die große Mosa ikdarstellung des Yesht-Mythos. Fallon konnte sich nach Liyaras Bericht einen Reim auf die Bilder ma chen. Der Gott war im Pantheon Varastos ein einfa cher Erdgott gewesen, den die Varasto-Völker von den Kalwmianern übernommen hatten, als sie diese über den Haufen gerannt und ihr Reich gestürzt hat ten. In den letzten Jahrhunderten aber hatte sowohl die Priesterschaft des Yesht als auch des Bakh, des Himmelsgottes in Varasto, henotheistische Tenden zen entwickelt. Jede Religion hatte versucht, eine Monopolstellung zu erreichen, statt zu leben und le
ben zu lassen, wie in den alten Tagen des Polytheis mus in Balhib. Bis heute war den Bakhiten mehr Er folg beschieden gewesen, die die Mitglieder der herr schenden Dynastie zu ihren Gläubigen zählen durf ten und behaupteten, daß Yesht überhaupt kein Gott, sondern nur ein scheußlicher Dämon gewesen wäre, durch obszöne Riten von jenen geschwänzten Völ kern verehrt, die die Länder der Drei Meere durch streift hatten, ehe die schwanzlosen Krishni das Land vor vielen Jahrtausenden besiedelt hatten. Nach dem geltenden kanonischen Mythos des Yesht hatte der Gott sich in einem Sterblichen, in Kharaj, in den Tagen des Königreiches von Ruakh, das vor dem Kalwm-Reich bestanden hatte, inkar niert. Yesht-Kharaj besiegte Ungeheuer und böse Geister, trieb Gespenster aus und erweckte Tote zum Leben. Einige seiner Erlebnisse schienen dem Nichtbeteilig ten auf surrealistische Art seltsam bedeutungslos, hatten jedoch für den Gläubigen zweifellos tiefe sym bolische Bedeutung. Einmal wurde er von einem weiblichen Dämon ein gefangen, und der gemeinsame Nachkomme wurde der legendäre König Myande, der Gräßliche von Ru akh. Nach einem langen und komplizierten Kampf zwischen dem Gott und seinem halbdämonischen Sohn wurde Yesht-Kharaj von den Kriegern des Königs
gefangen und ausdauernd und einfallsreich gefoltert. Schließlich hatte man ihn sterben lassen. Die Leute des Königs hatten die Überreste begraben, doch am folgen den Tag war an jener Stelle ein Vulkan ausgebrochen und hatte König und Stadt hinweggeblasen. Das Mosaik stellte diese Ereignisse mit beispielhaf ter Offenheit und Gegenständlichkeit dar. Fallon hör te, wie Fredro leise vor sich hin pfiff, während er die Szenenfolge betrachtete. Fallon trat ihm auf die Ze hen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Die Prozession schlängelte sich durch eine Öffnung in der Barriere zwischen Bänken und Altar. Dort teilte sie sich in Gruppen auf. Fallon folgte den übrigen Priestern mit roten Gewändern und drängelte sich in die letzte Reihe ihrer Abteilung in der Hoffnung, hier weniger aufzufallen. Jetzt stand er links vom Altar. Die zylindrische Silberkanzel nahm ihm einen Groß teil der Sicht auf die Gemeinde. Zu seiner Linken, wenn er sich der Gemeinde zu wandte, erhob sich die große Statue des Yesht, auf vier, in der Form von Baumstümpfen gestalteten Fü ßen stehend, auf dem Haupt einen Berg tragend, in einer der ausgestreckten Hände eine Stadt und in ei ner anderen einen Wald haltend. Die übrigen Hände hielten andere Dinge, wie zum Beispiel ein Schwert. Die anderen Gegenstände waren weniger leicht zu erkennen.
Hinter der Kanzel konnte Fallon zwischen Statue und Gemeinde den Altar sehen. Er stellte mit einigem Entsetzen fest, daß die Hierarchen das Waldweib mit goldenen Fesseln an Hand- und Fußgelenken banden. Jetzt bemerkte er hinter dem Altar einen muskulö sen Krishni, dessen Kopf von einem schwarzen Sack mit Augenlöchern verhüllt war. Dieser Krishni brach te eine Reihe von Instrumenten, deren Zweck eindeu tig war, zum Glühen. Fallon hörte Fredros entsetztes Flüstern: »Kommen jetzt Foltern?« Fallon hob die Schultern in der Andeutung eines Achselzuckens. Die Gesänge verstummten, und der prunkvoll gekleidete Hierarch erklomm die Stufen zur Kanzel. Von irgendwoher aus der Nähe hörte Fal lon ein Flüstern in Balhibou: »Was ist denn heute bei den Roten los? Die sind heute so zahlreich, daß man glauben könnte, es wäre einer dazu gekommen ...« Ein Flüstern mahnte den Aufbegehrenden zum Schweigen, und der Oberhierarch begann zu spre chen. Der Beginn des Gottesdienstes unterschied sich nicht sehr von den Riten der wichtigsten irdischen Religion: Gebete in Varastou, Lieder, Verkündigun gen und dergleichen. Fallon scharrte nervös mit den Füßen und bemühte sich, einen Juckreiz zu unter drücken. Wenn es still war, hörte man das leise
Wimmern der Waldfrau. Die Hierarchen verbeugten sich voreinander und vor der Statue und reichten symbolische Gegenstände hin und her. Schließlich bestieg der Haupthierarch wieder die Kanzel. Die Gemeinde wurde mucksmäuschenstill, so daß Fallon das Gefühl bekam, der Höhepunkt wäre nahe. Der Hierarch begann in Neu-Balhibou: »Hört, mei ne Kinder, die Geschichte des Gottes Yesht, als er zum Manne wurde. Und seht zu, während wir diese Legende darstellen, daß Ihr allzeit dieser traurigen Geschehnisse eingedenk seid und ihr Bild in eure Le ber eingegraben tragt. Es war an den Ufern des Flusses Zigros, daß der Gott Yesht zuerst dem Leib des Knaben Kharaj be gegnete und von ihm Besitz ergriff, während dieser spielte und mit seinen Gefährten tollte. Und als der Geist des Yesht vom Leib des Kharaj Besitz ergriffen hatte, sprach der Leib wie folgt: ›O meine Spielge fährten, hört und gehorcht! Denn ich bin kein Knabe mehr, sondern ein Gott, und ich bringe euch Kunde vom Willen der Götter ...!‹« Während dieser Erzählung führten die anderen Hierarchen eine Pantomime aus, die die Taten von Yesht-Kharaj darstellen sollte. Als der Hohepriester berichtete, wie einer der Knaben das Wort des Yesht nicht hatte annehmen wollen und ihn geneckt habe,
hätte der Gott einen Finger gegen ihn ausgestreckt, und der Spötter wäre umgefallen, da stürzte auch prompt ein Priester an dieser Stelle der Erzählung mit überzeugend hartem Aufprall zu Boden. Die Pantomime beschäftigte sich sodann mit den intimen Einzelheiten der Jugend Kharajs, unter der unfreiwilligen Mitwirkung der weiblichen Gefange nen, die dann die Rolle des Gottes übernahm, als sein grausamer Foltertod berichtet wurde. Die Augen der Krishni-Priester und der Laien gleichermaßen glänz ten bei diesem Schauspiel. Fallon mußte seinen Blick abwenden. Neben sich hörte er slawische Flüche von Fredro. Anthony Fallon war kein Mensch von hervorra gendem Charakter. Obwohl er ein gewisses Quantum von Tod und Vernichtung im Laufe seiner Abenteuer auf sein Gewissen geladen hatte, so war er doch nicht mutwillig grausam. Im großen und ganzen mochte er die Krishni – bis auf ihren sadistischen Zug, der, ob wohl sonst nicht offen sichtbar, bei Gelegenheiten wie diesem Folter-Sermon an die Oberfläche kam. Trotz des krankhaften Bemühens, eine Haltung zu bewahren, die zynischen Abstand ausdrücken sollte, ertappte er sich dabei, daß er mit den Zähnen knirschte und die Fingernägel in die Handfläche grub. Mit Vergnügen hätte er den Safq samt allen dar in Befindlichen in die Luft gejagt, wie Wagner es vor
geschlagen hatte. Hatten die vermißten Erdenmen schen auch auf diesen blutigen Steinplatten geendet? Fallon, der die Bakhiten auch nicht sehr gut leiden konnte, hatte lange ihre Beschuldigungen gegen die Yeshtiten mit Vorsicht aufgenommen und sie ge schäftlicher Rivalität zugeschrieben. Doch nun zeigte es sich, daß die Priester des Bakh gewußt hatten, wo von sie sprachen. »Ruhig«, flüsterte er Fredro zu. »Wir müssen so tun, als ob wir unsere Freude dran hätten.« Der Hohepriester stimmte wieder ein Lied an, während eine Kollekte durchgeführt wurde. Nach Gebeten und Segenserteilungen stieg der Hoheprie ster von seiner Kanzel und führte singend die Priester den Mittelgang entlang zurück, denselben Weg, den sie gekommen waren. Sie zogen mit der Priesterpro zession in die Umkleidehalle. Fallon hörte allgemei nes Füßescharren, als die Gemeinde durch den Haupteingang ins Freie trat. Münzengeklimper kün dete eine weitere Kollekte an. Fallon beobachtete die echten Priester und warf so wie diese seine Soutane auf den Tisch. Dann schlenderte er mit Fredro davon, noch immer erschüttert von dem, was er gesehen hat te. Die unerklärlichen Geräusche drangen jetzt wieder klarer an Fallons Ohr, da das Singen und Predigen, das sie vorhin übertönt hatte, verstummt war. Die
anderen Priester standen entweder in Gruppen um her und unterhielten sich oder gingen wieder eigenen Angelegenheiten nach. Fallon wandte den Blick zu dem Gang hin, der entlang der Außenmauer des Bauwerkes verlief. Zusammen mit Fredro folgte er diesem gebogenen Gang. Über den Eingängen auf der linken Seite gab es der Reihe nach Inschriften, über die Fredro ganz aus dem Häuschen geriet. »Vielleicht in Vor-Kalwm-Sprachen«, flüsterte er. »Einige davon kann ich entziffern. Ich muß stehen bleiben und sie abschreiben ...« »Heute abend nicht!« zischte Fallon. »Können Sie sich nicht vorstellen, was sich diese Idioten denken, wenn man Sie dabei ertappt? Wenn man uns er wischt, werden wir für den nächsten großen Ritus verwendet.« Einige Türen standen offen und gaben den Blick ins Innere verschiedener Räume frei, die den Priestern als Archive oder Büroräume dienten. Aus einer Tür drangen Küchengerüche. Während des Gehens merkte Fallon, daß die Wän de dieses Baues von enormer Mächtigkeit waren, so daß Gänge und Räume aus einer festen Masse he rausgehauen schienen. Niemand hatte die Erdenmenschen aufgehalten oder angesprochen, als sie der sanften Biegung der
Halle bis zu jener Treppe folgten, zu der Fallon kommen wollte. Hier waren die Geräusche lauter. Priester liefen hinauf und hinunter. Flott stieg Fallon zum nächsten Stockwerk hinauf. Es erwies sich als dasjenige, wo die Hierarchie ihre Wohn- und Schlafquartiere hatte. Die Erdenmen schen schnüffelten dort kurz herum. Im Freizeitraum erkannte Fallon den Hohepriester, der seine prächti gen Gewänder gegen ein schlichtes schwarzes Ge wand vertauscht hatte, eine dicke Zigarre rauchte und die Sportseite des Rashm las. Auf dieser Ebene schienen die geheimnisvollen Geräusche schwächer. Fallon führte Fredro die Treppe wieder hinunter und den Korridor entlang. Unter der nach oben füh renden Treppe lag der Eingang zu einer anderen, die hinunter führte. Wenigstens folgerte Fallon das, ob wohl er durch die massive Eisentür nicht sehen konn te, die die Öffnung verschloß. Vor dieser Tür stand ein Krishni in der Uniform der Bürgerwehr von Za nid, in der Hand eine Hellebarde. Und Anthony Fallon erkannte Girej, den Yeshtiten, den er vor zwei Nächten wegen Raufhandels arretiert hatte.
15
Drei Sekunden lang starrte Fallon den bewaffneten Krishni an. Und dann drängte ihn sein Spielerin stinkt, der ihm so viel Erfolge – und auch vernichten de Mißerfolge – eingebracht hatte, auf die Wache zu zugehen und zu sagen: »Hallo, Girej.« »Heil, verehrter Herr«, antwortete Girej mit fra gendem Unterton in der Stimme. Fallon hob den Kopf, so daß unter der Kapuze sein Gesicht sichtbar wurde. »Ich bin gekommen, Euch Euer Versprechen abzunehmen.« Girej sah Fallon ins Gesicht und rieb sich das Kinn. »Ich – ich sollte Euch kennen. Euer Gesicht kommt mir bekannt vor. Ich könnte bei der Männlichkeit des Yesht schwören, Euch schon gesehen zu haben, aber ...« »Erinnert Ihr Euch an den Erdenmenschen, der Euch unlängst davor bewahrt hat, aufgespießt zu werden?« »Ach! Ihr wollt damit sagen, daß Ihr in Wirklich keit kein ...« »Genau. Aber Ihr werdet uns nicht verraten, hm?« Der Posten machte ein bekümmertes Gesicht. »Aber wie – was – das ist ein Sakrileg, meine Herren! Es würde bedeuten, daß ich ...«
»Ach, laßt das! Es macht Euch doch nichts aus, die sem hochnäsigen Hierarchen einen kleinen Streich zu spielen?« »Einen Streich? Im geheiligten Tempel?« »Sicher. Ich habe um tausend Karda gewettet, daß es mir gelingt, mit heiler Haut in die Krypta des Safq hineinzukommen und wieder heraus. Natürlich wer de ich eine Bestätigung brauchen, daß ich es wirklich geschafft habe. Ein Zehntel für Euch als Belohnung, wenn Ihr bezeugt, daß Ihr mich hier gesehen habt.« »Aber ...« »Aber was? Ich habe Euch nicht um etwas Sünd haftes gebeten. Ich biete nicht einmal Bestechung an. Nur eine ehrliche Entlohnung dafür, daß Ihr die Wahrheit sagt, wenn Ihr gefragt werdet. Was soll da schlecht dran sein?« »Na, gute Herren ...« setzte Girej an. »Und habt Ihr nie den Wunsch verspürt, die An maßung dieser aufgeblasenen Hierarchen ein wenig aufs Korn zu nehmen? Auch wenn Yesht ein großer Gott ist, so sind doch diejenigen, die ihm dienen, nur menschlich wie wir alle. Nicht wahr?« »Das stimmt ...« »Und habt Ihr mir nicht Hilfe versprochen, wenn ich ihrer bedürfte?« So ging es eine Zeitlang hin und her. Doch nur weni ge Menschen, Terraner oder Krishni, konnten Fallons
Drängen lange widerstehen, wenn er erst seinen geball ten Charme einsetzte. Als er schließlich die Belohnung auf ein Viertel seines Wettgewinnes erhöht hatte, gab Girej nach und sagte: »Das Ende der vierzehnten Stun de naht, meine Herren. Seht zu, daß Ihr vor dem Ende der fünfzehnten zurück seid, denn dann endet meine Wache. Wenn Ihr nicht rechtzeitig kommt, müßt Ihr bis morgen mittag warten, bis ich wiederkomme.« »Ihr steht zehn Stunden lang Wache?« fragte Fallon mit mitfühlendem Stirnrunzeln. Da die Krishni ihren langen Tag in zwanzig Stunden teilten und in der Dämmerung zu zählen begannen (oder genauer ge sagt, in der Mitte zwischen Mitternacht und Mittag) würde das eine Wache von erheblich mehr als zwölf Erdenstunden bedeuten. »Nein«, sagte Girej. »Ich habe nur einmal in fünf Nächten die Nachtwache und wechsle mich mit mei nen Kameraden ab. Morgen habe ich von der sech sten bis einschließlich der zehnten Stunde Dienst.« »Wir werden achtgeben«, sagte Fallon. Der Krishni lehnte die Hellebarde an die Wand und öffnete die Tür. Wie so viele Türen auf Krishna, hatte auch diese einen einfachen Sperrmechanismus, der aus je einem Riegel zu beiden Seiten der Tür und einem großen Schlüsselloch bestand. Durch dieses Schlüsselloch konnte jeweils der Riegel auf der ande ren Seite bewegt werden.
Girej faßte nach dem Griff des diesseitigen Riegels, zog ihn zurück und zerrte an dem eisernen Türring. Mit leisem Ächzen ging die Tür auf. Fallon und Fredro schlüpften hinein. Die Tür fiel dumpf metallisch dröhnend hinter ihnen zu. Fallon bemerkte sofort, daß das geheimnisvolle Ge räusch nun viel lauter war, so als käme es aus einer nahen, aber der Sicht entzogenen Quelle. Er erkannte diese Geräusche als solche, die bei der Metallbearbei tung entstehen. Er führte seinen Begleiter die lange, schwach erhellte Treppe hinunter in die Krypta, wo bei er sich fragte, ob es ihnen je wieder glücken wür de, herauszukommen. Fredro murmelte: »Was ist, wenn er uns den Prie stern verrät?« »Darauf wüßte ich auch gern eine Antwort«, sagte Fallon. »Bis jetzt aber haben wir Glück gehabt.« »Vielleicht hätte ich nicht darauf bestehen sollen, hierher zu kommen. Ein schlimmer Ort.« »Genau der richtige Zeitpunkt, Ihre verdammte Ansicht zu ändern! Reißen Sie sich zusammen und gehen Sie so aufrecht, als wären Sie hier der Haus herr, dann schaffen wir es vielleicht ...« Fallon mußte husten, als er Rauchluft einatmete. Am Fuß der Treppe verlief ein niedriger, grob aus dem Fels gehauener Gang geradeaus. Zu beiden Sei ten sah man Kammern, aus denen Lärm drang. Außer
dem gelben Schimmer der Öllampen in den Wand halterungen wurde das Labyrinth blitzartig von roten Strahlen erhellt, die von Essen und Schmelzöfen her rührten, wobei die roten Strahlen den Eindruck einer Vorhölle erweckten. Krishni – meist geschwänzte Koloftumer beiderlei Geschlechts – bewegten sich durch diese rote Finster nis, nackt bis auf Lederschürzen. Sie schoben Karren mit Material vor sich her, schleppten Werkzeuge und Wassereimer und mühten sich anderweitig ab. Da zwischen stolzierten Aufseher umher. Da und dort stand ein bewaffneter Krishni in der Uniform von Kirs Königlicher Garde. Sie bedachten Fallon und Fredro mit scharfen Blicken, hielten sie aber nicht auf. Während die Erdenmenschen den Gang entlang schritten, nahm das Durcheinander um sie herum allmählich planvolle Gestalt an. Auf der rechten Seite lagen Räume, in denen Eisen zu Barren geschmolzen wurde. Diese Barren wurden über einen Gang in an dere Räume gekarrt, wo sie wieder eingeschmolzen und in kleinere Formen gegossen wurden, die wie derum den Schmieden übergeben wurden. Der Schmied hämmerte die Stangen zu flachen Streifen aus, bog diese um Eisendorne und verschweißte sie schließlich zu Röhren. Während die Erdenmenschen einen Raum nach
dem anderen durchschritten, dämmerte ihnen, wozu diese Einrichtung diente. Fallon war der Wahrheit dicht auf der Spur, noch bevor sie zu der Kammer gelangten, in der die Teile zusammengesetzt wurden. »Musketen!« murmelte er. »Glattläufige Musketen!« Er blieb vor einem Ständer stehen, in dem etwa ein Dutzend dieser Feuerwaffen stand, und nahm eine zur Hand. »Wie schießt man damit?« fragte Fredro. »Ich sehe keinen Abzug oder Hahn.« »Da ist die Feuerpfanne. Ich nehme an, dazu ge nügt ein Zigarrenanzünder. Ich wußte ja, dies würde früher oder später passieren! Es ist nur zufällig schon damals nicht passiert, als ich versuchte, Maschinen gewehre einzuschmuggeln. Der I. R. wird diese Katze nie wieder zurück in den Sack stecken können.« Fredro fragte: »Glauben Sie, daß Erdenmenschen das angefertigt haben, die – äh – die hypnotische Be handlung umgangen haben, oder daß die Krishni selbst es ganz unabhängig erfunden haben?« Fallon zuckte die Achseln und stellte die Muskete wieder an ihren Platz. »Verdammt schwere Dinger. Ich weiß nicht, aber vielleicht läßt es sich herausbe kommen!« Sie standen jetzt in dem Montageraum, wo zwei Arbeiter geschnitzte Holzstöcke an die Läufe paßten.
Auf der anderen Seite des Raumes unterhielten sich drei Krishni über ein Produktionsproblem: zwei Männer, dem Aussehen nach Aufseher, und ein klei ner ältlicher Krishni, mit buschigem hellgrünem Haar und einem langen Gewand von ausländischem Schnitt. Fallon schlenderte zu den drei Männern hinüber und richtete es so ein, daß er eben hinkam, als die zwei Aufseher ihrer Wege gingen. Er faßte den Lang haarigen am Ärmel. »Na, Meister Sainian«, sagte er. »Wie seid Ihr denn da hineingeraten?« Der ältere Krishni drehte sich zu Fallon um. »Ja, verehrter Herr? Ihr wollt mich sprechen?« Fallon fiel ein, daß Sainian ein wenig schwerhörig war und es nicht günstig wäre, ihm Privatangelegen heiten in aller Öffentlichkeit zuzubrüllen. »In Eurem Privatraum, wenn ich bitten dürfte.« »Ach ja. Hierher, meine Herren.« Der Krishni führte sie durch den Irrgarten von Räumen und Gängen zu einem Teil, der Schlafgele genheiten vorbehalten war: Schlafräume für die Ar beiter, primitiv ausgestattet mit Strohhaufen, die zur Zeit von schnarchenden und stinkenden Koloftumern der dienstfreien Schicht belegt waren, und Einzelräumen für die Aufseher. Sainian führte die Erdenmenschen in einen der
letzteren. Der Raum war bescheiden, aber nicht un gemütlich eingerichtet. Der winzige Raum war zwar weder künstlerisch noch ästhetisch ausgestattet, doch gab es hier ein bequemes Bett und einen Armsessel, einen Stapel Bücher und reichlich Zigarren und FalatWein. Fallon machte die zwei Gelehrten in Sprachen be kannt, die beide verstanden, und sagte dann zu Fre dro: »Sie würden unserer Unterhaltung ohnehin nicht lange folgen können. Würden Sie daher vor der Tür warten, bis wir fertig sind? Warnen Sie uns, wenn je mand herein will.« Fredro murrte, ging aber hinaus. Fallon schloß die Tür, schob die Kapuze zurück und sagte: »Erkennt Ihr mich jetzt?« »Nein, Herr, aber wartet! Seid Ihr ein Krishni oder ein Terraner? Ihr seht aus wie letzterer, verkleidet als ersterer ...« »Jetzt kommen Sie der Wahrheit schon näher. Erin nert Ihr Euch an Hershid vor vier Jahren?« »Bei der Oberaufsicht des Universums!« rief Saini an. »Ihr seid der Erdenmensch Antane bad-Faln, zeitweiliger Dour von Zamba!« »Ja, aber nicht so laut!« sagte Fallon. Wegen seines Gebrechens neigte Sainian dazu, ein normales Ge spräch im Brüllton abzuwickeln. »Na, was im Namen aller nicht existierenden Teu
fel treibt Ihr hier?« fragte Sainian jetzt gedämpfter. »Seid Ihr wirklich ein Priester des Yesht geworden? Ihr seid mir nie als einer erschienen, der sich willig den Drogen-Träumen eines Kultes unterwürfe.« »Dazu komme ich noch. Als erstes sagt mir: Seid Ihr immer hier unten in diesem Loch, oder könnt Ihr nach Belieben kommen und gehen?« »Ha! Ihr könnt kein echter Priester sein, oder Ihr würdet das wissen, ohne zu fragen.« »Ja, ich weiß, Ihr seid schlau. Aber beantwortet meine Frage!« »Was das betrifft«, sagte Sainian, zündete sich eine Zigarre an und schob die Schachtel Fallon zu, »so bin ich frei wie ein Aqebat – in einem Käfig in König Kirs Zoo. Ich komme und gehe nach Belieben – wie ein Baum in den Königlichen Gärten. Kurz gesagt, ich le be in diesem kleinen Königreich des Safq-Kellers oh ne Ausgang oder Behinderung. Aber nur eine einzige Bewegung, die nach Flucht aussieht, bedeutet eine Pike in meinen Bauch oder einen Bolzen in den Rük ken.« »Behagt Euch diese Sachlage?« »Es ist eine relative Sache. Zu sagen, mir gefällt diese düstere Gruft ebenso wie der üppige Hof von Hershid, hieße die Wahrheit verfälschen. Zu sagen, daß ich es als ebenso übel erachte wie die Schinderei und Braterei, der die Yeshtiten die armen Wesen bei
ihren Hauptgottesdiensten unterziehen, wäre weni ger als die reine Wahrheit. Relativität, wie Ihr seht. Wie ich immer behauptet habe, sind Begriffe wie ›wie‹ in jedem absoluten Sinn bedeutungslos. Man muß wissen, was einem lieber ist ...« »Bitte!« Fallon, der seine Krishni kannte, hob die Hand. »Dann kann ich also darauf zählen, daß Ihr mich nicht verratet?« »Dann ist es also doch eine Verkleidung oder Mas ke, wie ich vermutet habe! Keine Angst. Eure Unter nehmen bedeuten nichts für mich, der ich versuche, mit klarem philosophischem Abstand die Welt zu se hen. Obgleich solche Fallen wie die, in der ich mich gegenwärtig befinde, mein löbliches Vorhaben zeit weise schwierig gestalten. Würde sich eine Chance ergeben, den irren Kir in eine passende Jauchegrube zu werfen, ich glaube, ich würde den erhabensten ...« »Ja, ja. Aber warum hat man Euch gefangen?« »Zunächst, guter Herr, sagt mir, was Ihr in diesem verdammten Keller treibt? Reine Neugier ist es doch nicht?« »Ich suche Informationen. Daher ...« Ohne sich über den Grund auszulassen, warum er diese Infor mationen brauche, berichtete er kurz über die Art und Weise, wie er in die Krypta eingedrungen war. »Bei Myande dem Gräßlichen! Jetzt glaube ich alle Märchen, die man sich von der Tollheit der Terraner
erzählt! Eure Chance, so weit einzudringen, ohne daran gehindert zu werden, stand vielleicht eins zu hundert.« »Da'vi hat mich diesmal nicht im Stich gelassen«, sagte Fallon. »Ob sie Euch auch auf Eurem Rückweg so wacker beisteht, ist eine andere Sache, deren Ausgang ich be gierig erwarte. Ich möchte Euren zitternden Leib nicht auf dem grausigen Altar des Yesht ausgestreckt sehen.« »Warum wird hier Anbetung mit Folter verbun den? Nur zum Vergnügen?« »Nicht ganz. Hier im Land herrschte einst ein alter Aberglaube, daß man – mittels des Prinzips sympa thetischer Magie – den Himmel dazu bringen konnte zu weinen und dadurch die Ernte wachsen zu lassen, indem man in gewissen Abständen Opfer tötete, und zwar auf eine Weise, daß der oder die Bedauernswer te im Übermaß zum Weinen gebracht wurde. Und mit der Zeit wurde diese grausame Sitte auf die Ver ehrung des Erdgottes Yesht übertragen. Doch die Wahrheit ist, daß in Wirklichkeit viele Leute gern zu sehen, wenn andere gequält werden – eine Eigen schaft, in der wir uns, wenn ich die irdische Geschich te richtig verstehe, von Euch nicht allzusehr unter scheiden. Wollt Ihr einen Becher Wein?« »Nur einen. Führt mich nicht mit einem zweiten in
Versuchung. Wenn ich mir den Rückweg erkämpfen muß, brauche ich alle meine Sinne. Aber jetzt zu Eu rer Geschichte.« Sainian holte tief Luft und betrachtete das glühen de Ende seiner Zigarre. »Es kam mir in Hershid zu Ohren, daß der Dour von Balhib um märchenhaftes Entgelt die führenden Philosophen der Welt um sich schare, um mit vereinten Kräften einen Angriff auf die Geheimnisse des Alls zu starten. Da ich – wie alle Menschen von hohem Intellekt – in weltlichen Din gen ein Tölpel bin, gab ich meine Stelle als Professor am Kaiserlichen Lyzeum auf, fuhr nach Zanid und trat hier in die Dienste des Königs. Nun, mag er auch verrückt sein, so hatte Kir doch eine schlaue Idee – es sei denn, sein Schwiegersohn, dieser Chabarian, hat ihm den Floh ins Ohr gesetzt. Ich selbst neige zu der Chabarian-Hypothese, denn der Mann hat Eure Erde einmal besucht und von dort alle möglichen exotischen Begriffe importiert. Er hatte nun die Idee entwickelt, man könnte gutgläubige Dummköpfe wie mich sammeln, uns in Höhlen sper ren, mit Alkohol und Weibern versorgen, um uns dann mitzuteilen, wir sollten entweder ein Mittel er finden, mit dem man die Qaathianer besiegen könne, andernfalls wir auf den schwelenden Altären des Yesht enden würden. Mit dieser grausigen Alternati ve konfrontiert, haben wir uns mächtig ins Zeug ge
legt, und nach drei Jahren des Schweißes und der Plackerei haben wir geschafft, was bis jetzt noch nie mandem auf diesem Planeten geglückt ist.« »Nämlich?« »Wir haben eine funktionierende Feuerwaffe er funden. Nicht so handlich und schnell bei der Aussendung der tödlichen Geschosse wie bei Euch auf der Erde, aber doch ein Anfang. Wir wußten na türlich von terranischen Waffen. Obgleich niemand sie je in Wirklichkeit gesehen hatte, suchten wir In formationen bei denen, die sie gesehen hatten – zum Beispiel bei den Zambavern, die Ihr bei Eurem Blitzüberfall auf Gozashtand angeführt habt, als König Eqrar noch regierte. Von diesem haben wir die Grundprinzipien in Erfahrung gebracht: die hohle Metallröhre, die Kugel, die Explosivstoffe und die Mittel, diese zu entzünden. Die Röhre mit dem Holz stock stellte keine große Schwierigkeit dar. Auch die Geschosse nicht. Ein echtes Kreuz war es aber mit dem Explosiv stoff. Wir waren total entmutigt, als wir entdecken mußten, daß der Sporenstaub der Yasuvar-Pflanze – bei Knallfröschen und anderen Pyrotechnika sehr wirkungsvoll – für diesen speziellen Zweck völlig nutzlos war. Nach vielen Versuchen wurde das Pro blem von meinem Kollegen Nele-Jurdare aus KataiJhogorai mit einem Gemenge aus bestimmten, ganz
gewöhnlichen Substanzen gelöst. Von da an war es nur mehr eine Sache des Ausprobierens.« »Stimulan-Diffusion.« »Was?« »Egal«, sagte Fallon. »Nur ein terranischer Aus druck, den ich von Fredro habe. Wer ist neben Euch an diesem Projekt beteiligt?« Sainian entzündete seine Zigarre von neuem. »Nur zwei, die den Namen Philosoph verdienen: NeleJurdare, der leider vor einiger Zeit bei einer Explosion seiner Mixtur den Tod gefunden hat ... Welches Da tum haben wir heute? Wenn man als Zeitmesser nur die Wachablösung hat, dann verliert man jeden Zeit begriff.« Fallon sagte es ihm und setzte hinzu: »Ehe ich ver gesse, drei Erdenmenschen – Soares, Botkin und Daly – sind in den vergangenen drei Jahren aus Zanid ver schwunden. Habt Ihr etwas von ihnen zu sehen be kommen? Sie wurden doch nicht etwa auch in Cha barians Waffenschmiede gesteckt, oder?« »Nein, der einzige andere ist mein Kollege Zarrash bad-Rau aus Majbur. Die anderen führenden Köpfe in diesem Unternehmen waren nur hochqualifizierte Me chaniker, fünf an der Zahl, alle Krishni. Von ihnen sind drei eines natürlichen Todes gestorben. Die anderen zwei bleiben als Aufsichtsfunktionäre bis – wenn Kir sein Versprechen hält – diese Röhren ihre Macht auf
dem blutigen Schlachtfeld bewiesen haben. Sodann werden wir mit so viel Gold, wie wir tragen können, freigelassen. Vorausgesetzt, der Dour schneidet uns nicht die Kehle durch, um uns mit Sicherheit zum Schweigen zu bringen, oder die Yeshtiten kommen uns nicht auf die Spur und töten uns, weil wir über ihren in fernalischen Kult zu viel wissen.« »Wo ist dieser Zarrash jetzt?« »Er hat die dritte Kammer hier auf dem Gang. Er und ich verkehren im Moment nur auf Distanz.« »Warum?« fragte Fallon. »Ach, eine Meinungsverschiedenheit. Eine kleine epistemologische Uneinigkeit, bei der Zarrash – als realistischer Transzendentalist – die Forderungen der deduktiven Beweisführung vertrat. Und ich als No minalist und Positivist jene der induktiven Beweis führung. Leidenschaften wogten, Worte flogen – kin disch, das kann ich Euch versichern, aber lange Ab geschiedenheit nutzt die Nerven ab. Nach einigen Tagen werden wir immer wieder zur Versöhnung ge trieben, allein durch die bloße Langeweile, weil man niemanden anderen hat, mit dem man sich intelligent unterhalten kann.« Fallon fragte: »Wißt Ihr, woraus die Explosivstoffe bestehen?« »Doch, ja. Aber ich glaube nicht, daß ich die Neu igkeiten weitergeben werde.«
»Ihr hofft, Euer Wissen an einen anderen Potenta ten auf Krishna weiterzugeben – sagen wir an den Dour von Gozashtand?« Sainian lächelte. »Ihr könnt Eure eigenen Schlüsse ziehen. Ich riskiere keine Antwort, ehe ich nicht von dieser Fessel befreit bin.« »Was haltet Ihr davon, daß es jetzt auch auf diesem Planeten Feuerwaffen gibt?« »Der verblichene Nele-Jurdare beklagte das ganze Unternehmen und hat nur ungern dabei mitgewirkt, um seine Haut zu retten. Er hat behauptet, wer solche mörderischen Neuerungen fördern hilft, begeht eine Sünde gegen einen Mitbruder, und das wäre eines wahren Philosophen unwürdig. Zarrash hingegen ist für die neue Waffe. Er glaubt, sie würde alle Kriege auf dem Planeten beenden, weil sie die Kriegführung zu schrecklich mache. Allerdings haben Feuerwaffen diese Wirkung im Verlauf der irdischen Geschichte nicht gehabt.« »Und Ihr?« »Ach, ich sehe die Sache von einem anderen Ge sichtspunkt aus: Ehe wir Krishni mit Euch Terranern in waffentechnischer Hinsicht nicht ungefähr gleich gezogen haben, können wir nicht Gleichheit in der Behandlung erwarten.« »Aber was ist los mit der Behandlung, die man Euch angedeihen läßt?«
»Nichts. In Anbetracht dessen, was ihr hättet tun können, habt Ihr eine beispielhafte Zurückhaltung bewiesen. Aber Ihr seid eine wankelmütige und schwankende Schar –.« »Entschuldigt mich«, sagte Fallon, »aber ich muß zurück, ehe mein Freund, der oben an der Tür Wache schiebt, seinen Dienst beendet.« Er legte seine Zigarre weg, erhob sich und öffnete die Tür. Von Fredro keine Spur. »Bakh!« keuchte Fallon. »Entweder ist dieser Idiot auf eigene Faust auf Entdeckungsreise gegangen, oder die Wachen haben ihn geschnappt! Kommt, Sai nian, zeigt mir diesen Kaninchenbau. Ich muß den Mann finden.«
16
Sainian führte Fallon durch die Hallen und Räume der Krypta. Fallon folgte ihm, wobei er unter seiner Kapuze hervor Blicke in die vielen dunklen Ecken zu beiden Seiten warf. Sainian erklärte: »Hier werden die Waffen nach der Fertigstellung und Überprüfung gelagert ... Das ist der Raum, wo die Läufe nach dem Schmieden nach gebohrt werden ... Das ist die Kammer, in der die Kolben hergestellt werden. Seht, wie hier die Kolben aus Bolkis-Holz zurechtgeschnitten und poliert wer den; Chabarian hat Holzschnitzer aus Suruskand hergelockt, denn hier, in diesem baumlosen Land, sind diese Künste nur schwach entwickelt ... Hier wird der Zündstoff gemischt ...« »Wartet«, sagte Fallon und sah sich den Mischvor gang an. In der Raummitte stand ein geschwärzter Koloftu vor einem Kessel, unter dem ein kleines Ölflämmchen brannte. Der Kessel enthielt eine Masse, die allem Anschein nach geschmolzener Teer war. Der Koloftu holte mit einer Schöpfkelle das Material aus zwei Fäs sern, die sandähnliches weißes Pulver enthielten, während er mit der anderen Hand behutsam das Gemenge umrührte.
»Achtung!« sagte Sainian. »Stört ihn nicht, damit wir nicht alle in Stücke gerissen werden!« Doch Fallon trat näher an den Kessel heran, steckte einen Finger in ein Pulverfaß und kostete. Zucker! Obgleich Fallon kein Chemiker war, sagte ihm sein Vorrat an Allgemeinwissen, das er sich im Verlauf seiner vierundneunzig Jahre angeeignet hatte, daß das zweite Faß wahrscheinlich Salpeter enthielt ... Hinter dem Koloftu konnte Fallon eine Form sehen, in die die Mixtur gegossen wurde und wo sie zu klei nen Blöcken erstarrte. Doch konnte er nicht länger verweilen und diesen Vorgang weiter beobachten. Sie durchsuchten noch einige Räume. In einem Ab schnitt des Labyrinths kamen sie an eine Tür, vor der ein Mitglied der Königlichen Garde stand. »Was ist da drinnen?«, fragte Fallon. »Das ist der Tunnel zu der Kapelle auf der anderen Straßenseite. Früher wurde er von den Priestern aus Bequemlichkeit benutzt, besonders bei Regenwetter, doch jetzt, da die Regierung die Krypta gemietet hat, müssen sie durch die Pfützen waten wie gewöhnliche Sterbliche.« Während der Suche fuhr Fallon zusammen, als ein Trompetenstoß in der Kaverne widerhallte. Wachen eilten umher. »Wachablösung um Mitternacht«, sagte Sainian. »Ist das von Bedeutung für Euch?«
»Ja, zum Hishkak!« sagte Fallon. »Jetzt können wir vor morgen mittag nicht mehr raus. Ihr müßt uns verstecken.« »Was? Mein lieber Kollege, es kostet mich den Kopf, wenn man entdeckt, daß ich Euch Schutz ge währe ...« »Wenn wir erwischt werden, kostet es Euch auf je den Fall den Kopf, weil man Euch mit mir hier gese hen hat.« »Na, dann wäre es nicht unvernünftig, wenn ich als Gegenleistung von Euch eine Vergünstigung verlan ge. Hält Euer Verschwörerhirn für mich einen Plan bereit, wie Ihr mich von diesen widerlichen Placke reien befreien könnt?« »Das soll heißen, daß Ihr türmen wollt?« »Certes!« »Aber dann verwirkt Ihr doch die Bezahlung, die die Regierung angeblich für Euch hortet?« Sainian grinste und tippte sich an die Stirn. »Mein wahres Vermögen liegt hier. Versprecht mir, daß Ihr mich herausschafft – und wenn möglich auch Zarrash –, und ich werde Euch und Euren Begleiter verstek ken. Zarrash ist zwar nur ein mieser Animist, aber ich kann einen Berufskollegen doch nicht hier in dieser Klemme sitzen lassen!« »Ich werde mein Bestes tun. Ach, da ist ja dieser verdammte Fastuk!«
Nachdem sie fast den gesamten Keller durchsucht hatten, stießen sie endlich auf Dr. Julian Fredro. Der Archäologe stand vor einem alten Mauerteil nahe der Ausgangstreppe, auf dem man ganz undeutlich eine Inschrift sah. In einer Hand hielt er einen Zettel, in der anderen einen Bleistift, mit dem er die Zeichen kopierte. Als Fallon sich ihm wutentbrannt näherte, sah Fre dro mit glückseligem Lächeln auf. »Sehen Sie doch. Mr. Fa-Fallon! Das hier sieht aus wie einer der älte sten Teile des Bauwerks, und die Inschrift könnte uns sagen, wann es errichtet wurde ...« »Kommen Sie, Sie Esel!« schnaubte Fallon leise. Auf ihrem Weg zu Sainians Zimmer erklärte er Fredro mit vielen Ausschmückungen, was er von ihm hielt. Sainian sagte: »Ich habe nur Platz für einen, des wegen werde ich den anderen in die Kammer von Zarrash verlagern.« Er hieb mit dem Knöchel an den Türgang von Zarrashs Behausung. »Was ist?« fragte ein älterer Krishni, der die Tür ei nen Spalt breit öffnete. Sainian gab eine Erklärung ab. Zarrash knallte die Tür zu und sagte durch das Holz hindurch: »Hebe dich hinweg, unwissender materialistischer Quatsch kopf! Versuch ja nicht, mich in ein so verwegenes Abenteuer zu locken. Ich habe schon Kümmernis ge nug, ohne daß ich Spionen Unterschlupf gewähre.«
»Aber das ist deine Chance, aus dem Safq zu ent fliehen!« »Ohe? Bei Dashmoks Wanst, das ist natürlich ein Aya von ganz anderer Gangart!« Zarrash öffnete wieder die Tür. »Tretet ein, tretet ein, ehe man Euch hört. Was ist denn?« Sainian ließ sich jetzt näher aus, und Zarrash lud alle zu Wein und Zigarren ein. Als sie erfuhren, daß Fredro ein terranischer Gelehrter war, begannen ihn beide mit Fragen zu bombardieren. Sainian sagte: »Nun, um die Sache der induktiven gegen die deduktive Beweisführung aufs Tapet zu bringen, werter Kollege von der Erde, vielleicht könnt Ihr mit Eurem reiferen Wissensstand Licht auf unse ren Zwist werfen. Wie lautet Eure Meinung?« So zog sich die in die Gefilde höherer Gedanken sphären entschwebende Unterhaltung bis tief in die Nacht hin. Am folgenden Morgen befühlte Fallon sein Stop pelkinn und besah sich in Sainians Spiegel. Kein Er denmensch konnte sich mit einem sprießenden Bart als Krishni ausgeben. Die Schnurrbärte auf Krishna waren so schütter, daß ihre Eigentümer sie Haar für Haar mit Pinzetten auszupften. Sainian schlüpfte herein. Er trug einen Teller, auf dem die Bestandteile eines einfachen KrishniFrühstücks standen.
»Jetzt darf Euch nicht die Angst lähmen«, sagte der Philosoph, »aber die Yeshtiter durchsuchen ihren Tempel nach zwei Verrätern, die angeblich gestern abend als Priester verkleidet dem Ritus beigewohnt haben. Der Zweck dieses Eindringens und die Identi tät der Eindringlinge sind nicht bekannt. Doch da die Türsteher schwören, daß keine derartigen Personen nach dem Gottesdienst hinausgegangen sind, müssen sie noch immer hier sein. Und in die Krypta können sie nicht eingedrungen sein, weil die einzige hinein führende Tür dauernd bewacht wird. Ich habe natür lich eine Ahnung, wer diese Übeltäter sein können.« »Wie hat man es entdeckt?« »Jemand hat die roten Umhänge der Priester ge zählt und hat bemerkt, daß zwei mehr als nötig be nützt worden sind. Ehe daher dieses Geheimnis zu weiteren Suchmaßnahmen führt, glaube ich, tut Ihr und Meister Julian am besten daran, wenn Ihr Euch entfernt, ehe Ihr die Katastrophe für uns auslöst!« Fallon schauderte bei dem Gedanken an den bluti gen Altar. »Wie lange ist es noch bis Mittag?« »Etwa eine Stunde.« »Wir müssen bis dahin warten.« »Also wartet, aber rührt Euch nicht. Ich gehe an meine übliche Arbeit und sage Euch, wann die Wachablösung stattfindet.«
Fallon verbrachte die nächste Stunde einsam und bedrückt. Sainian steckte den Kopf zur Tür herein und sagte: »Wachablösung!« Fallon zog die Kapuze tief ins Gesicht, schlurfte in der Gangart der Yesht-Priester aus dem Zimmer und holte Fredro aus dem Zimmer von Zarrash. Sie hiel ten auf die nach oben führende Treppe zu. Die Kryp ta war noch immer von Öllampen und dem Glühen der Schmelzöfen beleuchtet, wie gestern. Man konnte hier unten nicht unterscheiden, ob es Tag oder Nacht war. Als Fredro die Inschrift erblickte, die er gestern kopiert hatte, wollte er stehenbleiben und seine Transskription beenden. »Macht, was Ihr wollt«, wütete Fallon. »Ich gehe jedenfalls.« Er stieg die Treppe hinauf und hörte hinter sich Fredros mürrisches Brummeln. Oben stand er vor der großen Eisentür. Nach einem letzten Blick hinter sich schlug Fallon mit der Faust an die Tür. Nach wenigen Sekunden ertönte ein Klirren, als der äußere Riegel zurückgeschoben wurde und die Tür quietschend aufging. Fallon stand einem Ange hörigen der Bürgerwehr in Uniform gegenüber – aber nicht Girej. Dieser Krishni war ein Unbekannter.
17
Drei Sekunden lang starrten sie einander an. Dann brachte der Posten seine Hellebarde in Anschlag und wandte den Kopf, um auszurufen: »Ohe! Ihr dort! Ich glaube, das sind die Männer, die ihr ...« In diesem Augenblick trat ihm Fallon gekonnt zwi schen die Beine, eine Angriffsform, gegen die Krishni – trotz vieler anatomischer Unterschiede – ebenso verwundbar sind wie Erdenmenschen. Als der Mann aufschrie und zusammenbrach, langte Fallon um die Türkante und zog den großen Schlüssel heraus. Dann warf er die Tür zu und schob den Riegel zu, so daß man vom Tempel aus die Tür zur Krypta nicht mehr öffnen konnte, wenn man sie nicht aufbrach oder ei nen zweiten Schlüssel suchte. »Was ist?« sagte Fredro hinter ihm. Ohne sich die Zeit für eine Erklärung zu nehmen, steckte Fallon den Schlüssel in die Tasche und lief die Treppe wieder hinunter. Solch verzweifelte Momente waren seine Sternstunden. Als sie am Fuß der Treppe angelangt waren, ertönte oben lautes Klopfen. Fallon, der sich seinen Rundgang von gestern abend in Erinnerung rief, suchte sich seinen Weg durch den Komplex in Richtung Tunneleingang. Zweimal ging er in die Irre, doch er fand sich wieder
zurecht, nachdem er, gleich einer Ratte im Irrgarten eines Psychologen, durch die Gänge gejagt war. Hinter sich hörte Fallon auf der Treppe Laufschritte und Waffengeklirr. Offenbar hatte man die Tür ge öffnet. Schließlich sichtete er den Posten vor dem Eingang zum Tunnel. Wachsam hob der Krishni seine Helle barde. Fallon hielt sich auf der rechten Seite, schwenkte die Arme und rief: »Lauft um Euer Leben! Im Zündstoff-Raum ist Feuer ausgebrochen. Es wird uns alle in Stücke reißen!« Fallon mußte es noch einmal sagen, ehe der Posten begriffen hatte. Dann sprangen dem Kerl vor Schreck fast die Augen aus dem Kopf. Er ließ klirrend seine Hellebarde fallen und wandte sich um, um die Tür zum Gang aufzusperren. Der Riegel war zurückgeglitten, und die Tür flog auf, als Fallon, der die Hellebarde an sich genommen hatte, sie so schwang, daß die flache Seite den Posten am Helm traf. Der Mann ging unter dem Hieb halb betäubt zu Boden, und Fallon und Fredro schlüpften durch die Tür. Fallon wollte die Tür schließen und merkte dann erstens, daß der Körper des Postens im Weg lag, und zweitens, daß, wenn er die Tür schlösse, es im Tunnel völlig finster würde. Er konnte sie entweder halb of fen lassen, oder den Posten aus dem Weg zerren, eine
der Lampen aus der Wandhalterung nehmen und hinter sich die Tür schließen. Das Trappeln sich nähernder Schritte überzeugte ihn davon, daß ihm zur Ausführung dieses Manövers keine Zeit mehr blieb. Er nahm also den Schlüssel, ließ die Tür offen und wandte sich mit den Worten: »Jetzt laufen!« dem Tunnel zu. Die zwei Erdenmenschen rafften ihre Gewänder hoch und liefen über den groben Steinboden, wobei sie manchmal über Unebenheiten stolperten. Sie lie fen, und das Licht von der Tür hinter ihnen wurde mit der Entfernung immer kleiner. »Achtung ...« Fallon wollte Fredro warnen, rannte aber mit dem Kopf selbst in der Dunkelheit gegen eine Tür. Er schlug sich die Nase wund und die Kniescheibe an. In mehreren Sprachen fluchend, tastete er umher, bis er die Klinke fand. Als die Tür bloßem Ziehen und Drücken nicht nachgab, suchte er durch Tasten nach dem Schlüsselloch und probierte seine zwei Schlüssel aus. Einer paßte, und der Riegel auf der anderen Seite glitt zurück. Der Lärm vom anderen Ende des Tunnels zeigte an, daß die Verfolger den überwältigten Posten ent deckt hatten. »Beeilen Sie sich, bitte!« wimmerte Fredro zwi schen zwei keuchenden Atemzügen.
Fallon öffnete die Tür. Sie betraten einen fast dunk len Raum, der schwach vom Tageslicht erleuchtet wurde, das durch einen Treppenschacht eindrang. Die Wände waren mit Regalen vollgestellt, in denen unordentlich Mengen von Büchern standen – KrishniBücher mit hölzernen Einbänden und einem harmo nikaartig gefalteten langen Papierstreifen dazwi schen. Fallon glaubte die allgemein benutzten Ge sangbücher des Yesht-Kultes zu erkennen, hatte aber keine Zeit, sich zu überzeugen. Aus dem Tunnel drang das Getrappel vieler Füße im Laufschritt. Die Erdenmenschen liefen die Treppe hinauf und standen auf einmal im Erdgeschoß der Kapelle des Yesht. Fallon, der sich jetzt sehr vorsichtig bewegte und unter seiner Robe das Schwert festhielt, damit es nicht klirrte, sah oder hörte kein Lebenszeichen. Sie gingen einen Gang entlang, an Räumen vor über, in denen Sesselreihen standen. Auf einmal standen sie im Vestibül, das hinter den Eingangstüren lag. Die Türen waren von innen verriegelt. Fallon schob die Riegel zurück und öffnete eine Tür. Leichter Nieselregen fiel schräg auf die feuchten Pflastersteine und besprühte Fallons Gesicht. Nur we nige Passanten waren zu sehen. Fallon flüsterte: »Kommen Sie! Wir schleichen hinaus und um die Ecke. Dort legen wir die Gewänder ab. Wenn die Wachen he rauskommen, dann gehen wir frech auf sie zu!«
Fallon schlich hinaus, die Steinstufen hinunter und um die Hausecke, an eine enge Stelle zwischen der Kapelle und den anschließenden Häusern. Hier schützte sie ein Strauch gegen Sicht von der Straße her. Sie legten die Gewänder ab, rollten sie zu kleinen Bündeln zusammen, umwickelten sie mit den Gürtel riemen und warfen sie auf den Strauch hinauf, wo sie über Augenhöhe liegenblieben und so vielleicht über sehen wurden. Dann eilten sie auf die Straße. Sie wandten sich um und gingen gemächlich an der Ka pelle vorüber, als die Tür erneut aufschwang, aus der eine Schar von Wachen und Priestern brodelte, über die Stufen polterte, in den Regen starrte, mit Zeige fingern deutete und einander anschrie. Fallon, eine Hand in die Hüfte gestützt, die andere am Schwertgriff, sah die Verfolger herausfordernd von oben herab an, als sie die Treppe herunter und auf ihn zuliefen. Er machte eine kleine Verbeugung und bedachte sie mit einer Ansprache im üppigsten und elegantesten Krishni-Stil: »Heil, werte Herren! Darf ich es wagen, Ihnen Hilfe anzutragen bei der wichtigen Suche, mit der Ihr so emsig befaßt seid?« Ein Wachtposten keuchte: »Habt Ihr – habt Ihr zwei Männer in den Gewändern der Priester des Yesht gese hen, die eben jetzt aus dem Portal gekommen sind?« Fallon wandte sich mit hochgezogenen Brauen an Fredro: »Haben wir dergleichen gesehen?«
Fredro breitete die Hände aus und zuckte die Ach seln. Fallon sagte: »Es betrübt mich, sagen zu müssen, daß weder mein Begleiter noch ich etwas Ähnliches bemerkt haben. Aber wir sind eben erst gekommen – die Flüchtenden haben das Gebäude vielleicht schon früher verlassen.« »Na dann –« fing der Krishni an, doch dann sagte ein anderer, der sich während der Unterhaltung vor gedrängt hatte: »Halt, Yugach! Verlaß dich nicht vor eilig auf das Wort eines jeden Passanten, der zufällig vorübergeht, besonders wenn es inhumane fremde Wesen wie diese da sind. Wie sollen wir wissen, daß nicht sie es sind, die wir suchen?« Die anderen Krishni begannen, von der Unterhal tung angezogen, sich mit blanken Waffen um sie zu scharen. Fallon sank das Herz in die weichen KrishniStiefel. Fredro öffnete und schloß den Mund und brachte keinen Ton heraus. Er wirkte wie ein Fisch in abgestandenem Wasser. »Wer seid Ihr, Erdenmenschen?« fragte der erste Krishni. »Ich bin Antane bad-Faln, von der Juru –« Der zweite Krishni unterbrach ihn: »Iay! Tausend mal Verzeihung, meine Herren – nein, eine Million mal, weil ich Euch nicht erkannt habe. Ich war im Haus der Gerechtigkeit, als Ihr gegen den Räuber Shave und sei nen Komplizen ausgesagt habt – der dann an der Wun
de gestorben ist, die Ihr ihm so tapfer zugefügt habt. Nein, Yugach, ich habe mich geirrt. Dieser Antane ist eine der verläßlichsten Stützen von Gesetz und Ord nung. Doch kommt und helft uns bei der Suche!« Der Posten wandte sich um und rief seinen Gefährten Anweisungen zu. Eine Viertelstunde lang halfen Fallon und Fredro bei der Jagd nach sich selbst. Nachdem schließlich die Suche als hoffnungslos aufgegeben wurde, machten sich die zwei Erdenmenschen davon. Als sie außer Hörweite der Kapelle waren, wo sich die ratlosen Verfolger auf den Stufen in einem gesti kulierenden Haufen versammelt hatten, fragte Fre dro: »Ist alles vorüber? Kann ich jetzt in mein Hotel zurückkehren?« »Aber ja. Doch wenn Sie Ihren Bericht für die Zeitung schreiben, dann erwähnen Sie mich lieber nicht. Und berichten Sie Percy Mjipa, daß wir keine Spur von den verschwundenen Erdenmenschen gesehen haben.« »Ich verstehe. Danke, danke, Mr. Fallon, für Ihre Hilfe. Ein Freund in der Not ist besser als neun in gu ten Zeiten. Danke, und auf Wiedersehen.« Fredro drückte Fallons Hand mit beiden Händen und sah sich dann nach einer Khizun um. »Sie müssen einen Bus nehmen«, sagte Fallon. »Es ist wie auf der Erde. Sobald ein Regentropfen fällt, sind alle Taxis verschwunden.« Er ließ Fredro stehen und ging in westlicher Rich
tung, wobei er überlegte, ob er nicht direkt zu Tas hins Kneipe gehen und Qais Bericht erstatten sollte, ehe die Ereignisse seine Neuigkeiten in Vergessenheit geraten ließen. Er wurde immer nasser und bedauer te, daß er den schönen neuen Regenmantel vor der Eingangstür des Safq hatte liegen lassen – er konnte ihn von seinem jetzigen Standort fast sehen. Doch er war nicht so tollkühn, ihn jetzt holen zu wollen. Als er endlich zum Platz des Qarar kam, hinkte er von dem Stoß gegen die Kniescheibe im Tunnel. Auch war er so naß und fühlte sich so elend, daß er sich entschloß, nach Hause zu gehen, etwas zu trin ken und sich umzuziehen, ehe er weitere Schritte un ternahm. Er besaß noch eine alte Winter-Obertunika, die er bei Regen anziehen konnte, und der Heimweg bedeutete nur einen kleinen Umweg. Als er mit gesenktem Kopf durch den Regen schritt, hörte er Trommelwirbel und drehte sich um. In der Asada Straße marschierte eine Abteilung der Bürger wehr, die Piken geschultert. Der Trommler an der Spit ze schlug den Takt. An den zwei weißen Bändern auf den Ärmeln erkannte sie Fallon als zur Gabanj-Kompa nie gehörig. Seine eigene Juru-Kompanie sah im Ver gleich dazu aus wie eine Sammlung seltener Vogel scheuchen. Ein paar Passanten säumten die Straßen und sahen sich den Vorbeimarsch der Abteilung an. Fallon frag
te etliche, was diese Parade zu bedeuten hätte, doch konnte ihm niemand eine plausible Antwort geben. Als die Milizsoldaten vorbei waren, ging Fallon wei ter. Er öffnete eben die Tür, als eine Stimme sagte: »Meister Antane!« Es war Cisasa, der Osirische Wachtposten. Der an tike Helm wurde vom Kinnband nur unsicher auf der Spitze des Reptilienkopfes gehalten, und ein KrishniSchwert hing an einem Riemen über der Schulter, wenn man bei diesem Wesen überhaupt von Schulter sprechen konnte. Er fuhr in seinem seltsam klingenden Balhibou fort: »Holt sofort Eure Ausrüstung und kommt mit ins Ar senal. Die Juru-Kompanie hat den Marschbefehl er halten!« »Warum? Ist der Krieg schon ausgebrochen?« »Ich weiß nicht – ich gebe nur Befehle weiter.« O Bakh! dachte Fallon. Warum mußte das ausge rechnet jetzt passieren? Laut sagte er: »Sehr gut, Cisa sa. Geht voraus, ich komme gleich nach.« »Entschuldigung, aber das darf ich nicht. Ich soll Euch persönlich begleiten.« Fallon hatte gehofft, sich fortschleichen und den Besuch bei Qais doch noch machen zu können. Of fenbar hatte Kordaq aber vorausgesehen, daß einige seiner Leute versuchen würden, sich bei der Mobili sierung rar zu machen, und hatte Maßnahmen ergrif
fen, solchen Absenzen zuvorzukommen. Es hatte kei nen Zweck, Cisasa davonzulaufen, der jeden Terraner einholen konnte. Fallons Widerwillen gegen die Einberufung war nicht der Feigheit zuzuschreiben – er hatte nichts ge gen einen anständigen Kampf –, sondern der Angst, er würde nie mehr in die Lage kommen, bei Qais ab zukassieren. Müde sagte er: »Kommt herein, während ich mich rüste.« »Bitte, beeilt Euch, denn ich muß noch drei Leute holen, nachdem ich Euch abgeliefert habe. Habt Ihr keine rote Jacke?« »Nein, und ich hatte keine Zeit, mir eine zu besor gen«, sagte Fallon, der nach seinen Feldstiefeln such te. »Wollt Ihr einen Drink, bevor wir gehen?« »Nein, danke! Die Pflicht geht vor! Ich bin sehr aufgeregt. Seid Ihr nicht aufgeregt?« »Na und wie, ganz wildes Herzklopfen«, brummte Fallon. Im Arsenal drängte sich die gesamte Juru-Kompanie, oder wenigstens alle jene, die schon eingelangt wa ren. Alle Augenblicke kamen Verspätete. Kordaq saß mit der Brille auf der Nase am Schreibtisch, vor ihm eine Reihe von Soldaten, die um ihre Freistellung vom aktiven Dienst baten.
Kordaq hörte sich jeden an und traf sehr rasch sei ne Entscheidung, meist gegen das Ansuchen. Jene, deren Entschuldigung er als geringfügig ansah, ent ließ er mit einer beißenden Tirade über die Feigheit der heutigen Generation im Vergleich mit den heroi schen Altvorderen. Denjenigen, die vorgaben, krank zu sein, wurde von Qouran, dem Arzt aus der Nach barschaft, eine rasche Untersuchung zuteil. Seine Me thode schien darin zu bestehen, einfach Augen, Hän de und Füße abzuzählen. Fallon ging zu der Wand, an der zweihundert der neuen Musketen gestapelt waren. Sie wurden von Neugierigen umlagert, die sie zur Hand nahmen und Vermutungen über die Handhabung anstellten. Er drehte eine der Feuerwaffen um und sah den Lauf entlang. Er war froh, als er sah, daß sie Visiere hatten. Dann dröhnte Kordaqs Stimme durchs Arsenal. »Achtung! Legt diese Gewehre hin und stellt euch an der anderen Wand auf, alle! Ich werde euch mit wenigen Worten mitteilen, was ich sagen muß.« Fallon, der die hiesige Sitte sehr gut kannte, immer zehn Wörter zu sagen, wo ein einziges genügt hätte, machte sich auf eine lange Rede gefaßt. Kordaq fuhr fort: »Wie die meisten von euch wis sen, haben nun die Armeen des barbarischen Qaath die geheiligten Grenzen des schönen Balhib überflu tet und nähern sich Zanid. Die heilige Pflicht verlangt
von uns, sie kurz und klein zu schlagen und sie dort hin zurückzuwerfen, woher sie gekommen sind. Und hier vor euch liegen die Werkzeuge, von denen ich schon andeutungsweise gesprochen habe. Es sind echte und wahre Gewehre, so wie die mächtigen Ter raner sie benützen, hier in Zanid im Geheimen erfun den und hergestellt. Falls Ihr euch wundert, warum ausgerechnet die Ju ru-Kompanie – von allen in Zanid die verschiedenar tigste – zu den wenigen zählt, die erwählt wurden, die se neue Waffen zu tragen – denn es stehen nur Schuß waffen für drei Kompanien zur Verfügung –, so sage ich es rundheraus. Erstens ist es bekannt, daß unser Pi ken-Drill unter aller Kritik ist und unsere Bogenschüt zen noch schlechter sind, während andere Kompanien der Wache in diesen Disziplinen der regulären Armee gleichkommen. Wir wären daher schlecht beraten, wenn wir die Armee jener Kampfkraft beraubten, die in den Piken und Bolzen dieser Leute nun einmal vorhan den ist. Zweitens ist es eine Tatsache, daß diese Kom panie teils aus Wesen von anderen Planeten besteht, wo solche schreckliche tödliche Spielzeuge allgemein üb lich sind, und dadurch sind wir alle anpassungsfähiger. Diese Ausländer – ich spreche jetzt besonders von Er denmenschen und Osiriern – können als fix und fertige Instruktoren zur Unterweisung in der Handhabung dieser Waffen dienen.
Würde die Zeit es zulassen, so wäre es vorteilhaft, ei nige Tage zur Übung zu verwenden; doch die Dring lichkeit wirft unsere Wünsche über den Haufen. Wir müssen daher sofort losmarschieren und uns die Praxis unterwegs aneignen. Merkt euch eines: ohne Befehl darf nicht geschossen werden, denn die Menge an Ge schossen und Zündstoff ist begrenzt. Sollte ich jeman den dabei ertappen, wie er unerlaubt auf Stumpf und Stein losballert, lasse ich ihn binden und als Ziel für of fizielle Übungen verwenden. Jetzt zu der Handhabung dieser Dinger. Harsun, stell den Sandsack an diese Wand. Und jetzt, Ihr Helden, seht mir genau zu, wäh rend ich mich bemühe, auf meine unbeholfene Weise diese Operationen so klar wie Wüstenluft zu machen.« Kordaq nahm eine Muskete zur Hand und fuhr fort zu erklären, wie sie geladen und abgefeuert wurde. Jetzt sickert durch, daß man – wegen des Fehlens ei nes Abzugmechanismus – von den Musketieren er wartete, die Feuerpfanne mit der brennenden Zigarre im Mund zu berühren. Fallon sah etliche blutige Na sen voraus, ehe man lernen würde, den Rückstoß der Gewehre zu meistern. Einer der Wachen sagte: »Na, mir scheint, wir bekommen gratis Zigarren.« Kordaq runzelte die Stirn ob solcher Leichtfertig keit und zielte, nachdem er geladen und seine Zigarre angezündet hatte, auf den Sandsack. Dann berührte er den Zündstoff mit der Zigarre.
Bang!! Die Dachsparren des Arsenals bebten nach der Ex plosion. Der Rückstoß der Muskete ließ den Oberst taumeln, und der Mündung entströmte eine riesige schwarze stinkende Rauchwolke. Der Sandsack hatte ein Loch. Fallon, der wie alle anderen hustete, kam der Gedanke, daß dieses Teer-Zucker-SalpeterGemisch als Erzeuger künstlicher Rauchwolken eher geeignet war, denn als Angriffswaffe. Die Krishni der Kompanie machten einen wilden Luftsprung. Einige schrien vor Angst. Einige riefen, sie hätten Angst, eine solche Erfindung des leibhafti gen Dupulan zu bedienen. Andere weinten den guten alten Piken und Bogen nach, was alle verstanden. Kordaq besänftigte den Aufruhr und fuhr mit seinen Erläuterungen fort, indem er betonte, wie wichtig es wäre, den Zündstoff trocken und den Lauf sauber zu halten. »Nun, habt Ihr noch Fragen?« meinte er nach einer kurzen Pause. Sie hatten. Die Thothianer wandten ein, sie wären zu klein, um solch schwere Waffen zu handhaben, während die Osirier hervorhoben, daß der Tabakrauch der Zigarren bei ihnen Hustenanfälle hervorrie fe, weswegen sie das Kraut nie verwendeten. Beide Argumente wurden nach vielem Hin und Her zuge lassen, und man faßte den Entschluß, daß diese Gat
tungen ihre Piken wieder bekommen sollten. Schließ lich sagte Kordaq, die Kompanie würde ein paar Pi kenträger als Schutz brauchen, damit nicht trotz des gewaltigen Blitzens und Donnerns der tückische Feind im Handgemenge die Oberhand gewänne. Es stellte nur noch der einsame Isidianer ein Pro blem dar; denn während sein elephantenähnlicher Rüssel ausreichte, Diebe in den Straßen von Zanid zu fassen, war das Wesen nicht imstande, eine Vorderla der-Arkebuse zu bedienen. Fallon schlug vor, den Isidianer als Standartenträger einzusetzen. Der Vor schlag wurde angenommen. Es hatte aufgehört zu regnen, und Roqir kämpfte sich hinter der Wolkendecke hervor, als die JuruKompanie aus dem Arsenal marschierte, mit Oberst Kordaq, dem Trommler und dem isidianischen Stan dartenträger an der Spitze.
18
Die Armee von Balhibo lag in Chos, einem Verkehrs knotenpunkt im Westen. Fallon, der Wache schieben mußte, schritt langsam das Gelände ab, das man der Bürgerwehr von Zanid zugewiesen hatte. Die Muske te trug er auf der Schulter. Die Bürgerwehr lag am nördlichsten Flügel des Lagers. Daneben lag ein an deres Regiment, dann das nächste und so weiter. Die Taktik der Krishni war viel einfacher als die der Terraner. Fallon war der Gruppenführer. Über ihm stand Savaich, der Kneipenwirt, der als Abtei lungskommandant begrenzte Befehlsgewalt in sei nem Bereich innehatte. Über Savaich stand Oberst Kordaq (seine Rangbezeichnung entsprach etwa der eines Majors oder Oberstleutnants), der die JuruKompanie befehligte. Bis jetzt hatte es zwei Tote und fünf Verwundete – davon vier schwer – bei Musketenunfällen gegeben. Eine Muskete war explodiert, entweder als Ergebnis falscher Handhabung oder einer Doppelladung. Ein anderer Mann war am Schießplatz von einem Muske tier angeschossen worden, der nicht bemerkt hatte, wohin er zielte. Alle sieben Unfallopfer waren Krish ni. Die Nicht-Krishni waren vorsichtiger oder an die Feuerwaffen mehr gewöhnt.
Über der Prärie tauchte jetzt eine Staubfahne auf, ungefähr an jener Stelle, wo die Straße nach Westen führte. Sie wurde größer, und aus der Wolke kam allmählich ein Reiter auf einem Aya, dem der Rük kenwind die Staubwolke nachgejagt hatte. Fallon sah den Mann ins Lager galoppieren und zwischen den Zelten verschwinden. Meist brachte eine solche An kunft wichtige Neuigkeiten mit sich. Nun, das schien auch jetzt der Fall zu sein, denn eine Trompete ertönte. Reiter galoppierten in alle Richtungen, und Fallon sah die Musketiere über eine Bodenwelle zurück ins Lager marschieren. Auch er ging dorthin, wo die Standarte der Juru-Kompanie inmitten der Zelte flatterte. Die Angehörigen der Kompanie waren dabei, Schwerter zu schärfen, Hel me zu polieren und ölgetränkte Lappen in die Mus ketenläufe zu stopfen. Als Fallon ankam, schlug der kleine Trommler – ein kurzschwänziger Freigelassener aus dem Wald von Jaga – zum Antreten. – Mit viel Geklirr und ha stigem Gesuche nach Ausrüstungsgegenständen kam die Kompanie langsam auf die Beine. Fallon war fast der erste der dritten Abteilung, der an seinem Platz stand. Schließlich standen sie alle an ihren Plätzen – bis auf einige. Fluchend schickte Kordaq Cisasa zu den Zelten der Gavehona.
Inzwischen galoppierte eine Kavallerieabteilung auf der Straße westwärts, ein Seil im Schlepptau, an dessen Ende ein Raketengleiter ging. Chabarian hatte nämlich eine Anzahl dieser primitiven Flugzeuge samt den Pi loten in Sotaspe für Aufklärungsflüge gemietet. Das Flugzeug erhob sich wie ein Drachen in die Lüfte. Wenn der Pilot in einen Aufwind geriet, warf er die Leine los und zündete die erste der Raketen, die – als Zündstoff wurden die Sporen der Yasuvar-Pflanze verwendet – das Flugzeug in Bewegung hielt. Und dann stand die Juni-Kompanie und sie stand und stand. Cisasa kam mit den noch fehlenden Leuten. Krishni auf Ayas galoppierten hin und her und über brachten Nachrichten. Offiziere, deren vergoldete Rü stungen im hellen Sonnenschein blendend schimmer ten, konferierten außer Hörweite der Truppe. Zwei Ab teilungen der Bürgerwehr aus Zanid wurden verlegt und mußten den linken Flügel verstärken. Fallon, der sich gelangweilt auf seine Muskete stützte, überlegte, daß alles ganz anders gewesen war, als er selber eine Armee befehligt hatte. Er konn te sich gut vorstellen, was da jetzt vor sich ging. Fal lon hatte sozusagen an der Spitze begonnen und sich nach unten gearbeitet. Sollte er je wieder eine eigene Armee haben, würde er versuchen, seine Soldaten besser zu unterrichten. Um ihn herum gähnten Menschen, hantierten mit
ihren Waffen und tratschten. »Man sagt, der Kamu ran hätte eine Art mechanischen Bishtar, der von ei ner Maschine bewegt wird und in einer Eisenrüstung steckt ...« »Es heißt, die Jungaver sollen eine Flotte fliegender Galeerenschiffe haben. Sie schlagen die Luft mit Rudern, die wie Flügel wirken. Die werden uns überfliegen und uns mit schweren Steinen bom bardieren ...« »Ich habe gehört, Minister Chabarian ist wegen Verrats enthauptet worden!« Eine Stunde nach dem Antreten gab es plötzlich großes Trompetengeschmetter, Gongschlagen und Trommelrühren, und die Armee setzte sich in Bewe gung. Fallon, der wie die übrigen durch das lange Moosgras trampelte, sah, daß die Kommandierenden die Schlachtreihe in Form eines großen Halbmondes aufstellten, dessen Enden – die Bürgerwehr bildete das rechte Ende – westwärts gegen den Feind gerich tet waren. Die Musketiere waren an den beiden Spit zen der Mondsichel massiert, die konventionelleren Einheiten der Pikenträger und Bogenschützen in der Mitte, während Chabarian hinter der Mondsichel sei ne Kavallerie aufgestellt hatte. Er hatte eine Schwa dron Bishtars, hielt sie aber im Hintergrund, denn diese elephantenähnlichen Tiere waren zu tempera mentvoll, als daß man sie hätte überstürzt einsetzen dürfen. Sie waren imstande kehrtzumachen und die eigene Armee niederzutrampeln.
Als sie so weit marschiert waren, daß die Zelte nur mehr Punkte am östlichen Horizont waren, machten sie Halt und standen wieder da, während die Offizie re Unebenheiten in der Formation begradigten. Für Fallon gab es nichts zu sehen, außer dem im Wind bewegten Moosgras und einem Gleiter, der über ih nen am grünlichblauen Himmel kreiste. Die Juru-Kompanie wurde auf eine Anhöhe ver legt. Jetzt hatte man einen weiteren Überblick, doch es gab auch von hier aus nicht mehr zu sehen als die olivgrüne Ebene, die sich wie eine Wasseroberfläche kräuselte, wenn der Wind das Moosgras bewegte. Fallon schätzte die Streitkräfte in ihrer Gesamtheit auf etwa dreißigtausend Mann. Jetzt konnte er die Straße sehen, auf der weitere Staubfahnen auftauchten. Diesmal bewegten sich ganze Reiterschwadronen auf der Straße. Andere tauchten wie kleine schwarze Punkte über dem Hori zont auf. Fallon schloß aus ihren Bewegungen, daß es Balhibo-Späher waren, die sich vor den herannahen den Jungavern zurückzogen. Dann wieder Warten. Weitere Reiter der Balhibos. Und ganz plötzlich kämpften – ein paar hundert Schritte entfernt – zwei Reiter miteinander. Sie um kreisten einander; die Schwerter blitzten wie Nadeln in der Sonne. Fallon konnte nicht klar sehen, was sich da abspielte, doch einer fiel vom Reittier und der an
dere galoppierte davon. Also mußte der Balhibo das Duell verloren haben. Und schließlich wimmelte es am Horizont von Punkten, die langsam zu Schwadronen der Steppen bewohner anwuchsen und sich über die Prärie aus breiteten. Kordaq rief: »Juru-Kompanie! Zu den Waffen! Zündet die Zigarren an!« Doch da blieb der Feind stehen, und alles schien durcheinanderzuwimmeln. Eine Gruppe löste sich von der Hauptstreitmacht und galoppierte in einem großen Bogen um die Flanke und hinter die JuruKompanie. Unter Schreien schickten sie Pfeile los, doch aus so großer Entfernung, daß fast alle vor dem Ziel zu Boden fielen. Nur einer prallte mit scharfem metallischem Klang vom Helm eines Kriegers ab, richtete aber keinen Schaden an. Fallon konnte die Feinde nur ganz undeutlich sehen. Vom linken Flügel kam ein einziger Musketenknall und eine Rauchwolke. »Idiot!« rief Kordaq. »Noch nicht schießen.« Und dann setzte sich die feindliche Armee mit ge waltigem Getöse wieder in Bewegung. Fallon konnte einen kurzen Blick auf eine Phalanx von Speerträgern werfen, die auf der Straße gegen die Mitte der Schlachtreihe der Balhibos zumarschierte, wo Kirs Königliche Garde postiert war. Die Phalanx war
zweifellos aus Surianern oder Dhaukianern oder an deren Alliierten zusammengesetzt, da die Armee der Qaathianer zur Gänze beritten sein sollte. Andere Truppenteile, beritten oder zu Fuß, konnte man noch da und dort in Bewegung sehen. Wolken von Pfeilen und Bolzen verdunkelten die Luft. Das Schnappen der Bogensehnen und das Zischen der Geschosse sorgten für eine Art Orchesterbegleitung zum Cre scendo des Schlachtenlärms. Die ganze Szenerie wurde jedoch von Staub so sehr eingehüllt, daß Fallon nicht viel sehen konnte. Au ßerdem würde die Juru-Kompanie bald im Kampf al le Hände voll zu tun bekommen. Eine Riesenstreitmacht berittener Bogenschützen auf Ayas kam auf die rechte Flanke zugedonnert. Kordaq schrie: »Ist alles geladen und bereit? Ach tung! Erste Reihe – kniet!« Die ersten zwei Reihen hoben die Musketen. Die Männer der zweiten Reihe zielten über die Köpfe der ersten. Am Ende der Reihe saß Kordaq mit erhobe nem Schwert auf seinem Aya. Pfeile flitzten vorüber. Einige trafen das Ziel. Die sich nähernde Kavallerie war so nahe gekommen, daß Fallon, die Muskete im Anschlag, die aus der Stirn sprießenden Antennen der Gegner sehen konn te. Da kreischte Kordaq: »Gebt Feuer!« und ließ sein Schwert herabsausen.
Die Musketen gingen in einer langgezogenen, un regelmäßigen Salve los, die der Kompanie die Sicht hinter einer riesigen stinkenden bräunlichen Rauch wolke nahm. Hinter dem Rauch vernahm Fallon Schreie. Dann trieb der Wind den Rauch über die Kompa nie hinweg. Die Masse der Aya-Bogenschützen strömte nach rechts, um das Ende der Reihe herum. Fallon sah einige Ayas vor der Kompanie im Gras liegen, um sich schlagend, und einige, die mit leeren Sätteln weiterliefen. Die Ausfälle konnte er jedoch nicht zählen, weil das Moosgras die gefallenen Reiter verbarg. »Dritte und vierte Reihe vortreten!« rief Kordaq. Die dritte und vierte Reihe drängte sich zwischen den vor ihnen Stehenden durch, die inzwischen nach luden. Von irgendwo aus südlicher Richtung kam das Ge räusch einer Musketensalve, als am linken Flügel ge feuert wurde. Zu sehen gab es für Fallon nichts. Im Rücken der Kompanie erhob sich wildes Getöse. Sich umblickend sah er, daß ein Großteil der berittenen feindlichen Bogenschützen hinter die Fußtruppen der Bahibos geraten war, dort aber auf eine Formation der Kavallerie der Balhibos stieß. Kordaq befahl den Osiriern und Thothianern, die in Gruppen hinter den Musketieren standen und sich auf ihre Piken stützten,
eine geordnete Reihe zu bilden und die Kompanie vor Angriffen von hinten zu schützen. Mittlerweile war vor der Juru-Kompanie eine an dere Truppe aufgetaucht. Sie saß auf Shomals – Tiere, die höckerlosen Kamelen ähnelten – und trugen lange Lanzen. Als sie vorwärtsgaloppierten, brachte die er ste Reihe abermals ihre Musketen in Anschlag. Wie der eine krachende Salve und eine Rauchwolke – und als sich der Rauch verzogen hatte, waren die ShomalReiter nirgends mehr zu sehen. Dann hatte die Juru-Kompanie eine Weile Ruhe. Das Zentrum der Schlachtreihe der Balhibos war vom Staub verhüllt, aus dem ein Höllenlärm drang, als sich Speer träger und Bogenschützen im Nahkampf verbissen und die Front über die Leiber der Erschlagenen und Zerhauenen hin und her wogten. Die Ebene erbebte un ter den Angriffen und Gegenangriffen der Reiterei. Fallon hoffte nur, daß Fürst Chabarian mehr von den Vorgängen wußte als er. Dann rief Kordaq seine Kompanie wieder zur Ord nung, als sich eine Schar feindlicher Speerträger aus den Staubwolken löste und im Laufschritt auf die Za nidumer zukam. Die erste Musketensalve erschütter te die sich nähernden Speerträger, doch der Druck der Nachströmenden hielt die Schar in Bewegung. Die zweite Salve riß große Lücken in die erste Reihe, doch sie kamen unbeirrbar näher.
Die zwei ersten Musketierreihen luden gerade nach. Die Musketen der anderen waren eben leerge schossen. Kordaq beorderte nun die Pikenträger nach vorn, und die Osirier und Thothianer drängten sich durch die Reihen. »Angriff!« rief Kordaq. Die Osirier und Thothianer stürmten den Hang hinunter. Hinter ihnen ließen die Musketiere ihre Musketen fallen, zogen das Schwert und folgten ih nen. Der Anblick der vielen Nicht-Krishni schien die Speerträger nervös zu machen, denn sie rannten weg, ließen die Speere fallen und schrien, es wären Teufel und Ungeheuer hinter ihnen her. Kordaq rief seine Kompanie auf den Hügel zurück, wobei er sie auf seinem Reittier wie ein aufgeregter Schäferhund umkreiste und mit flacher Klinge auf diejenigen Männer einschlug, die Neigung zeigten, den Feind bis nach Qaath zurückzujagen. Sie nahmen auf dem Hügel erneut Aufstellung, ho ben die Musketen auf und luden nach. Der Anblick der toten Feinde, die nun den sanften Abhang vor ih nen bedeckten, schien ihnen neuen Mut zu geben. Der Tag nahm seinen Fortgang. Kordaq schickte einen Osirier zum Wasserholen. Die Kompanie wehr te noch drei weitere Kavallerieattacken aus verschie denen Richtungen ab. Fallon schätzte, daß sie den Gegner gar nicht zu schlagen brauchten – Lärm und
Rauch allein würden die Ayas und Shomals um den Verstand bringen. Eine Zeitlang schien der Kampf im Zentrum abgeklungen zu sein. Dann aber nahm er an Heftigkeit zu. Fallon fragte: »Oberst, was bedeutet dieses Durch einander da unten beim Zentrum?« »Dort unten gab es schon seit dem ersten Angriff ein Durcheinander. Aber halt – da ist etwas! Mir scheint, Männer unserer Farbe fliehen auf der Straße in Richtung Heimat. Was kann denn passiert sein, daß sie – nachdem sie so lange dem Schock und Kampf standgehalten haben – ihre Leber verlassen hat?« Ein berittener Bote kam herauf und besprach sich mit Lord Chindor, der zu Kordaq galoppiert kam und rief: »Verlegt Eure Schützen ins Zentrum unserer Li nien, aber schleunigst! Die Jungava haben eine merkwürdige, bedeutsame Sache entdeckt! Dieser Bo te soll Euch begleiten!« Kordaq ließ seine Leute antreten und führte sie in flottem Tempo hinter die Linien südwärts. Da und dort sah man Gruppen verwundeter Krishni, die von den wenigen zur Verfügung stehenden Feldärzten versorgt wurden. Rechts von der Juru-Kompanie standen die Einheiten der Armbrustschützen und Pi kenträger, zerschlagen und dezimiert – die grüne Tö nung ihrer Krishnihaut war unter einer Staubschicht
verborgen, durch welche Schweißtropfen Kanäle zo gen. Sie stützten sich schweratmend auf ihre Waffen oder saßen auf Leichen. Das Moosgras war niederge trampelt und purpurbraun gefärbt. In der Mitte der Schlachtreihe schwoll der Lärm an. Staubwolken wurden immer dichter. Die Krieger drängten sich, um einander über die Schulter auf et was zu sehen, das sich außerhalb ihrer Sicht befand. »Hier entlang«, sagte der Melder, wandte sein Aya und wies auf eine Lücke in der Reihe. Kordaq auf seinem Aya, der Trommler und der isi dianische Standartenträger führten die Kompanie durch die Linie und ließen sie direkt dem Feind ge genüber Stellung beziehen. Plötzlich sah Fallon das ›Ding‹. Es sah aus wie eine riesige Holzkiste, von der Grö ße eines Zeltes, und es rollte langsam auf sechs gro ßen Rädern, die jedoch von den dicken Qong-HolzWänden fast verdeckt wurden. Darauf stand ein monströser Aufbau mit einem Loch an der Vordersei te. An der Rückseite ragte ein Stück Rohr hervor. Während sich das Ding langsam weiterbewegte, stieß das Rohr Wolken von Rauch und Dampf hervor. Puff-puff-puff. »Bei Gott«, sagte Fallon. »Die haben doch tatsäch lich einen Tank.« »Was habt Ihr gesagt, Meister Antane?« fragte der
neben ihm stehende Krishni – und jetzt merkte Fal lon, daß er englisch gesprochen hatte. »Nur ein Gebet zu meinen terranischen Gotthei ten«, sagte er. »Beeilt euch – begradigt die Reihe.« »Achtung – Feuer!« rief Kordaq. Der Tank puffte weiter und kam immer näher. Er war nicht auf die Juru-Kompanie ausgerichtet, son dern auf einen Punkt in der Reihe der Balhibos, der weiter südlich lag. Die Wände aus Qong-Holz starr ten vor Pfeilen und Bolzen. Dahinter drängte sich die Masse der feindlichen Krieger. Und jetzt konnte man weiter unten aus dem Staub einen zweiten Tank auf tauchen sehen. Ein lautes dumpfes Grollen drang aus dem nahen Tank. Aus der Öffnung an der Vorderseite des Mon steraufbaues zischte ein Eisenball und landete zwi schen den Pikenträgern. Bewegung entstand. Piken fielen um und Menschen schrien. Die ganze Masse flutete ungeordnet aus der Schlachtreihe zurück. Die Musketen der Juru-Kompanie krachten und bespien die eine Seite des Tanks mit Kugeln. Als sich jedoch der Rauch verzogen hatte, sah Fallon, daß der Tank nicht beschädigt worden war. Das Knirschen von Rädern wurde laut, und das Ding wich ein paar Schritte zurück, schwenkte herum und rollte dann wieder weiter, diesmal genau auf die Kompanie zu. »Noch eine Salve!« rief Kordaq.
Doch dann erklang wieder das dumpfe Geräusch, und der Eisenball fiel mitten in die Juru-Kompanie. Er traf Kordaqs Aya in die Brust. Das Tier überschlug sich rückwärts, und der Oberst fiel herunter. Der Ball prallte ab und traf sodann den Isidianer am Kopf und tötete den vielbeinigen Standartenträger auf der Stel le. Die Standarte fiel zu Boden. Fallon placierte eine wohlgezielte Kugel in die Öff nung des Tanks und sah sich dann um, wobei er fest stellte, daß seine Kompanie sich mit den Rufen auflö ste: »Alles verloren!« »Wir sind verloren!« »Rette sich wer kann!« Ein paar weitere Schüsse wurden abgefeuert, und die Juru-Kompanie strömte durch die Lücke in den eigenen Reihen zurück. Der Tank wandte sich wieder den Pikenträgern zu. Bumm! Weitere Piken sanken zu Boden. Und als Fallon mit allen übrigen die Flucht ergriff, konnte er noch einen raschen Blick auf einen dritten Tank wer fen. Dann lief er inmitten einer riesigen unorganisierten Masse von Flüchtenden – Musketiere, Pikenträger und Bogenschützen, alle durcheinander – während hinter ihnen die Horden der Angreifer nachströmten. Er stolperte über Leiber und sah zu beiden Seiten be rittene Qaathianer in die Menge reiten und mit ihren Krummschwertern rechts und links auf sie einhacken.
Er ließ die Muskete fallen, denn er hatte keine Muni tion. Und mit dem Zusammenbruch der Armee Bal hibs hatte er auch keine Möglichkeit mehr, seine Vor räte aufzufüllen. Da und dort hielten Gruppen der Reiterei Balhibs noch zusammen und ließen sich in Scharmützel mit dem Steppenvolk ein. Doch das Fußvolk war hoffnungslos zusammengeschlagen. Der Druck ließ ein wenig nach, als die schnelleren Läufer die langsamen hinter sich gelassen hatten und die Verfolger unter den hintersten Flüchtenden auf räumten. Hinter und über Fallons rechter Schulter rief eine Stimme in der Sprache von Qaath. Fallon sah sich um und sah einen der pelzbemützten Kerle auf einem Aya, ein Krummschwert schwingend. Fallon konnte den Satz nicht verstehen, erfaßte aber den fra genden Tonfall und die Worte ›Qaath‹ und ›Balhib‹. Offenbar war der Qaathianer nicht sicher, welcher Armee Fallon – der keine ordentliche Uniform trug – angehörte. »Dreimal Hoch für London!« rief Fallon, packte die gestiefelten Beine des Qaathianers und zog daran. Der Krishni flog aus dem Sattel, landete auf seiner Pelzmütze – und in den Sattel stieg Anthony Fallon. Er wandte das Reittier nach Norden, im rechten Win kel zur allgemeinen Fluchtrichtung, und trieb das Tier zum Galopp an.
19
Nach vier Tagen erreichte Fallon, der das Kampfge biet in nördlicher Richtung umgangen hatte, Zanid. Das Geklan-Tor war belagert von Krishni, die hin einwollten; Soldaten aus der Schlacht von Chos und Landbevölkerung, die in der Stadt Zuflucht suchte. Die Posten vor dem Tor fragten Fallon nach seinem Namen und stellten ihm ein paar forschende Fragen. »Die Juru-Kompanie, hm?« sagte einer. »Es heißt, daß ihr fast den Kampf gewonnen und die Horden der Steppenvölker mit den Geschossen Eurer Waffen zu rückgeworfen hattet, als sie versuchten, die Flanke auf zurollen und die verfluchten Dampfwagen des Feindes euch schließlich vom Schlachtfeld getrieben haben.« »Das ist eine wahrheitsgetreuere Darstellung des Kampfes, als ich sie zu hören erwartete«, entgegnete Fallon. »Sieht den heimtückischen Barbaren ganz ähnlich, eine so unfaire Waffe anzuwenden – allen Prinzipien zivilisierter Kriegsführung widersprechend.« Fallon unterdrückte die Entgegnung, daß – hätten die Balhibos gewonnen, die Qaathianer nun dieselbe Klage über die Feuerwaffen führen würden. »Was wißt Ihr sonst noch? Gibt es noch eine balhibische Armee?«
Der zweite Posten machte eine bei den Krishni als Achselzucken geltende Geste. »Es heißt, Chabarian hät te seine Reiter gesammelt und ein Scharmützel bei Malmaj geliefert, in dem er selbst gefallen sein soll. Wissen wir denn überhaupt, wo die Feinde stehen? Seit gestern morgen kommen die Leute herein und behaup ten, die Jungava seien ihnen hart auf den Fersen.« »Ich weiß nicht«, sagte Fallon. »Ich komme über die Nordroute und bin keinem Feind begegnet. Kann ich jetzt gehen?« »Ja – sobald Ihr eine kleine Formalität erfüllt habt. Schwört Ihr dem Obersten Schirmherren des König reiches Balhib, dem hohen und mächtigen PandrChindor er-Qinan, die Treue?« »Eh? Was soll das?« Der Posten ließ sich zu einer Erklärung herbei: »Chabarian ist, wie Ihr wißt, bei Malmaj gefallen. Und mein Herr Chindor ist in aller Eile blutgetränkt vom Schlachtfeld angekommen, um seiner Hoheit, dem Dour Kir, die Kunde von diesen vielfachen Kata strophen zu überbringen. Und während er bei dem König weilte, hat letzterer, in einem Anfall von Me lancholie, einen Dolch aus dem Gürtel gezogen und sich entleibt. Sodann hat Chindor die überlebenden Offiziere der Regierung bewogen, ihn mit außeror dentlicher Vollmacht auszustatten, um dieses Notfalls Herr zu werden. Ihr schwört also?«
»Ja, natürlich«, sagte Fallon. »Ich schwöre.« Insgeheim hegte Fallon den Verdacht, daß Kirs Scheiden aus der Welt der Lebenden von Chindor selbst beschleunigt worden war, der dann vielleicht auch die anderen Minister mit dem Schwert gezwun gen hatte, seiner diktatorischen Herrschaft zuzu stimmen. Nachdem ihn die Posten durchgelassen hat ten, ritt er in rücksichtslosem Tempo durch die engen Straßen zu seinem Haus. Er befürchtete nämlich, daß sein Hausherr inzwischen neue Mieter hatte einzie hen lassen, da er mit der Miete im Rückstand war. Wie erfreut war er aber, als er das Häuschen so vor fand, wie er es verlassen hatte. Sein einziges Bestreben war es nun, die anderen zwei Stücke von Qais Vertrag zu bekommen, ob nun auf redliche oder unredliche Weise. Dann wollte er zu Kastambang und das letzte Drittel des Vertrages ho len. Vielleicht mit der plausiblen Geschichte, Qais ha be ihm das Papier als Schuldpfand vor der Flucht aus der Stadt ausgehändigt. Fallon wusch sich hastig, zog sich um und stopfte jenen Teil seiner Habseligkeiten, den er nicht zurück lassen wollte, in einen Seesack. Wenige Minuten spä ter trat er aus dem Haus, versperrte die Tür – zum letzten Mal, falls seine Pläne klappten –, befestigte den Sack hinter dem Sattel auf dem Rücken des Ayas und stieg auf.
Der Türsteher in Tashins Kneipe bejahte, daß Mei ster Turanj auf seinem Zimmer sei. Der edle Herr möge nur hinaufgehen. Fallon ging über den Hof, der von Tashins komödiantischer Klientel völlig verlas sen, nun seltsam verödet dalag, und ging hinauf zu Qais Zimmer. Sein Schlag auf den Türgong wurde nicht beant wortet. Er stieß die Tür auf, die unter seiner Berüh rung nachgab. Als er hineinsah, flog seine Hand an den Schwertgriff. Qais von Babaal lag ausgestreckt auf dem Boden. Seine Jacke war fleckig vom braunen Krishniblut. Fal lon drehte den Toten um und sah, daß man den Spion säuberlich aufgeschlitzt hatte, vermutlich mit einem Rapier. Er lag inmitten seines Papierkrams. Auf den Fersen hockend ging Fallon diese Papiere durch. Da er das gesuchte Stück nicht fand, durch suchte er Qais Leichnam und den ganzen Raum. Nirgends der gesuchte Vertrag. Seine erste böse Vorahnung hatte sich also bewahrheitet. Jemand, der um den dreigeteilten Vertrag wußte, hatte Qais er mordet, um sich das Ding anzueignen. Aber wer? Soweit Fallon sich erinnern konnte, wußte niemand von diesem Schriftstück außer Qais, Kastambang und er selbst. Der Bankier hatte das Geld in Verwahrung; falls er es unterschlagen wollte, konnte er das auch ohne Dokumente tun.
Fallon durchsuchte den Raum noch einmal, fand aber weder das Schriftstück noch einen Hinweis auf die Identität des Mörders. Schließlich mußte er seufzend aufgeben. Er fragte den Türsteher: »War vor kurzem jemand bei Turanj?« Der Kerl überlegte. »Ja. Jetzt, da Ihr es erwähnt, fällt es mir ein. Vor einer Stunde oder mehr hat er Be such gehabt.« »Wen? Wie hat er ausgesehen?« »Ein Erdenmensch wie Ihr selbst, und wie Ihr in zivilisierter Kleidung.« »Aber wie hat er ausgesehen? Groß oder klein? Dick oder dünn?« Der Türsteher vollführte eine hilflose Geste. »Das kann ich nicht beurteilen. Schließlich sehen die Er denmenschen doch alle gleich aus.« Fallon bestieg sein Aya und trieb es in flottem Trab quer durch die Stadt zu Kastambangs Bank. Dieser Abstecher mochte sich als nutzlos herausstellen, doch konnte er es sich nicht leisten, auch nur die kleinste Chance, sein Geld zu bekommen, außer acht lassen. Unterdrückte Erregung lag über den Straßen von Zanid. Da und dort sah Fallon einen laufenden Pas santen. Einer rief: »Die Jungava sind in Sicht! An die Mauern!« Fallon ritt weiter. Er kam am Haus des Gerichts vorbei, wo die Exekutionstafel reicher bestückt schien
als gewöhnlich. Als sein Blick über die Reihe der ab geschlagenen Köpfe schweifte, hatte er das Gefühl, einer käme ihm bekannt vor. Als sein Blick die Reihe nochmals durchging, war er entsetzt. Er erkannte, daß der fragliche fleischige Kopf, dessen Wangen im Tod schlaff herunterhingen, jenem Krishni gehörte, den er eben aufsuchen wollte. Auf der Tafel unter dem Kopf stand: Kastambang er-Amirut Bankier aus dem Bezirk Gabanj 103 Jahre, vier Monate alt Verurteilt am zehnten Harau wegen Verrates Am zwölften hingerichtet Mit Verrat konnten nur die Bankgeschäfte für Qais von Babaal gemeint sein. Der Bankier hatte von des sen Agententätigkeit für Ghuur gewußt. Und da die Folter der überführten Verräter – um ihnen die Na men ihrer Mitwisser zu entreißen – fester Bestandteil des Gesetzesvollzuges in Balhib war, konnte Kastam bang sehr wohl in seinen letzten Todeskämpfen An thony Fallons Namen erwähnt haben. Jetzt hatte Fal lon einen Grund zum Verlassen der Stadt, der noch drängender war als die Aussicht, daß die Stadt von Qaathianern belagert und gestürmt würde. Fallon trieb das Tier zum Galopp an, fest entschlos
sen, durch das Lummish-Tor zu reiten und ohne Ver zug Zanid hinter sich zu lassen. Doch als er eine Weile geritten war, merkte er, daß er an Kastambangs Bank haus vorbeikam, das direkt auf seinem Weg zum Tor lag. Im Vorbeireiten konnte er nicht übersehen, daß die Tore der Bank aus den Angeln gerissen worden waren. Von Neugier überwältigt hielt er an und lenkte sein Aya in den Hof. Überall Anzeichen vom Wüten des Pö bels. Die anmutigen Figuren aus Katai-Jhogorai be deckten in Scherben den Boden. Die Springbrunnen waren vertrocknet. Andere Gegenstände lagen umher. Fallon stieg ab, um sie zu untersuchen. Es waren Noti zen, Kontobücher und andere Bankutensilien. Fallon vermutete, daß sich nach der Verhaftung Kastambangs der Pöbel hier eingefunden hatte unter dem Vorwand, daß das Eigentum eines Verräters Allgemeingut wäre und daß das Haus dabei verwü stet worden war. Es bestand nur eine kleine Möglichkeit, daß wenig stens eines der Drittel von Qais' Vertrag hier noch zu finden war. Eigentlich hätte er sich nicht die Zeit nehmen dürfen, danach zu suchen, da Zanid ein zu heißes Pflaster geworden war. Doch es war vielleicht seine letzte Chance, Zamba wiederzugewinnen. Und der mysteriöse Mord an Qais? War der Täter Fallon bei Kastambang auch zuvorgekommen? Fallon untersuchte im Hof jedes Stückchen Papier. Nichts.
Er ging weiter hinein und fand den zerschmetter ten Leichnam eines der Diener, einem Koloftu, der drinnen vor dem Haupteingang ausgestreckt lag. Wo würden sich die Teile des Vertrages am ehesten befinden? Kastambang hatte sein Drittel in der Lade des großen Tisches in seinem unterirdischen Konfe renzzimmer aufbewahrt. Fallon beschloß, den Raum zu durchsuchen. Und wenn er das Papier dort nicht fand, würde er die Stadt auf der Stelle verlassen. Der Lift funktionierte natürlich nicht, doch Fallon fand eine Treppe, die hinunter führte. Er nahm aus der Wandhalterung eine Lampe, füllte ihren Brenn vorrat aus einer anderen Lampe nach, stutzte den Docht und zündete ihn mit seinem Feuerzeug an. Dann stieg er die Treppe hinunter. Der Gang war bis auf dieses eine Licht dunkel. Schritte und Atemzüge klangen laut in der Stille. Fallons ›Riecher‹ führte ihn durch eine Folge von Türen und Räumen zu Kastambangs Höhle. Die Fall gitter waren nicht heruntergelassen worden. Ein paar Münzen, die der Pöbel hatte fallen lassen, glänzten auf dem Boden. Doch die Tür zu der Höhle selbst schien geschlossen. Aber warum? Der Mob hatte sich wahrscheinlich nicht die Mühe gemacht, die Türen hinter sich zu schließen. Die Tür war nicht ganz geschlossen, sie war ange
lehnt, und ein Lichtstrahl drang heraus. Die Hand am Schwertgriff, stemmte Fallon einen Fuß gegen die Tür und drückte. Die Tür glitt auf. Der Raum war von einer Kerze in den Händen ei ner Krishni erleuchtet, die mit dem Rücken zur Tür stand. Fallon gegenüber, auf der anderen Seite des Verhandlungstisches, stand ein Erdenmensch. Als die Tür aufging, fuhr die Frau herum. Der Mann ließ sein Schwert zischend herausfahren. Das bewirkte, daß Fallon als Reflexbewegung seine eigene Klinge zog, obwohl er dann, als er mit blan kem Schwert dastand, mit vor Erstaunen offenem Mund erstarrte. Die Frau war Gazi er-Doukh, und der Mann war Welcome Wagner in Krishni-Tracht. »Hallo, Gazi«, sagte Fallon. »Ist das dein neuer Ja gain? In letzter Zeit: wechselst du sehr häufig.« »Nein, Antane. Ich glaube, daß er tatsächlich die wahre Religion vertritt, nach der ich lange gesucht habe.« Während Gazi redete, nahm Fallon die Tatsache wahr, daß man den riesigen Tisch so lange mit Axt und Meißel bearbeitet hatte, bis aus ihm eine Ruine geworden war. Die Laden hatte man aufgehackt oder auf andere Art gewaltsam aufgebrochen. Die darin aufbewahrten Papiere lagen verstreut auf dem Boden. Vor Wagner lagen auf der zerschrammten Tischfläche zwei kleine rechteckige Papierstreifen. Obwohl Fallon
sie aus der Entfernung nicht lesen konnte, ließen Größe und Form in ihm die Überzeugung wachsen, daß es jene Teile waren, die er suchte. Er sagte zu Wagner: »Woher haben Sie die?« »Einen von dem Kerl, der ihn bei sich hatte, und den anderen aus dieser Tischlade«, sagte Wagner. »Habe lange genug gebraucht, um es zu finden.« »Sie gehören mir. Ich werde sie an mich nehmen, wenn Sie nichts dagegen haben.« Wagner nahm die zwei Streifen mit der linken Hand und steckte sie in die Tasche. »In diesem Punkt irren Sie sich, mein Herr. Sie gehören niemanden. Wenn damit Geld zu holen ist, dann wird es die Wahre Kirche bekommen, der es zusteht, um mitzu helfen, das Licht zu verbreiten. Ich nehme an, Sie ha ben das dritte Stück.« »Rücken Sie sofort die Teile heraus«, sagte Fallon und ging näher. »Sie geben Ihren Streifen heraus«, sagte Wagner und kam hinter dem Tisch hervor. »Ich möchte Ihnen nichts zuleide tun, Jack, aber der Ökumenische Mo notheismus braucht den Kies viel nötiger als Sie.« Fallon machte noch einen Schritt. »Sie haben doch Qais auf dem Gewissen, nicht?« »Es hat geheißen, er oder ich. Jetzt tun Sie, was ich Ihnen sage. Denken Sie dran, ich war ein ziemlich gu ter Kämpfer, ehe ich die Wahrheit erkannt habe.«
»Wie sind Sie denn darauf gekommen, was Qais wirklich ist?« »Ich ging zum Prozeß, den man Kastambang ge macht hat, und habe mir die Zeugenaussagen ange hört. Gazi hat gewußt, daß der Vertrag in drei Teile zerrissen worden ist, also konnte ich mir den Rest zu sammenreimen.« »Hört auf mit diesem Gequassel«, sagte Gazi und stellte die Kerze auf den Tisch. »Teilt das Geld, oder tragt euren Kampf anderswo aus. Die Stadt steht vor der Einnahme durch Feinde, und wir haben keine Zeit für Privatzwistigkeiten.« »Immer noch mein praktisch denkendes Schätz chen«, sagte Fallon, und dann zu Wagner gewandt: »Sie sind mir ein feiner Heiliger! Sie wollen zwei Menschen töten und dann samt Beute und Weib ab hauen, und das alles im Namen Ihres Gottes ...« »Sie verstehen von diesen Dingen nichts«, sagte Wagner sanft. »Ich tue nichts Unmoralisches, wie Sie es getan haben. Gazi und ich haben streng platoni sche Beziehungen. Sie wird meine Schwester sein ...« In diesem Augenblick sprang Wagner wie eine Katze vor. Sein Rapier schoß ihm voraus. Fallon pa rierte gerade noch rechtzeitig, um sein Leben zu ret ten. Wagner stoppte Fallons Gegenstoß mit Lässig keit. Die Klingen blitzten und glänzten im schwach erhellten Raum. Wisch-zing-klang!
Der Raum war für ausgeklügelte Beinarbeit zu be grenzt, und Fallon war zusätzlich durch die Lampe in seiner Hand behindert. Durch seine Bewegungen wurde Öl verschüttet. Wagners Arm war kraftvoll, seine Schwertführung flink und gewandt. Fallon hatte eben den Entschluß gefaßt, die Lampe in Wagners fanatisch verzerrtes Gesicht zu werfen, als Gazi rief: »Laßt ab, Ihr Schwachköpfe!« Sie packte mit beiden Händen von hinten Fallons Tunika und zerrte daran. Wagner machte einen Satz nach vorn. Fallon sah die Schwertspitze des Missionars auf seine Mitte zielen. Er mußte in der Parade innehalten, während die Spitze aus seiner Sicht verschwand und eisiger Schmerz durch seinen Leib fuhr. Wagner zog die Klinge zurück. Durch sein Ohren sausen hindurch hörte Fallon, wie sein eigenes Schwert ihm aus der schlaffen Hand fiel und auf den Steinboden klirrte. Seine Knie gaben nach, und er sank auf dem Boden zusammen. Undeutlich nahm er wahr, daß die Lampe zu Bo den polterte und verlöschte. Er nahm auch noch ei nen Ausruf Gazis wahr, nicht aber dessen Bedeutung, sodann Wagners Suche nach dem dritten Teil des Dokumentes. Und schließlich die Schritte Wagners und Gazis. Und dann war alles dunkel und still. Fallon war nicht sicher, ob er das Bewußtsein ver loren hatte oder nicht, und wenn, für wie lange. Doch
eine unendliche Zeitspanne später, als er sich im Dunkeln am Boden liegend vorfand, die Tunika blut getränkt, samt einer Wunde, die teuflisch schmerzte, schien ihm hier nicht der geeignete Ort zum Sterben zu sein. Er kroch mühsam zur Tür. Auch in seinem jetzigen Zustand irrte er sich nicht in der Richtung. Er schleppte sich einige Meter weit, ehe die Erschöpfung ihn zum Anhalten zwang. Eine Weile später kroch er wieder ein paar Meter weiter. Er versuchte nach seinem Puls zu tasten, doch er konnte ihn nicht finden. Wieder eine kleine Rast, dann wieder weiter. Und immer wieder. Er wurde zusehends schwächer, so daß jede Kriechperiode immer kürzer wurde als die vorherige. Stunden später, so schien es ihm, erreichte er end lich den Fuß der Treppe, die er heruntergekommen war. Konnte er überhaupt daran denken, diese Stufen zu bewältigen, da er es nur mit Mühe und Not fertig gebracht hatte, sich horizontal weiterzuschleppen? Nun, wenn er es nicht versuchte, war seine letzte Stunde gekommen.
20
Anthony Fallon kam in einem sauberen Bett, in einem fremden Raum zu sich. Als er wieder klar sehen konnte, erkannte er Dr. Nung. »Geht's besser?« fragte Nung, der sodann an ihm jene Maßnahmen vornahm, die Ärzte immer vor nehmen, wenn sie bei einem Patienten den Gesund heitszustand feststellen wollen. Fallon erfuhr, daß er sich im Haus des Konsuls befand. Einige Zeit darauf ging der Arzt hinaus und kam mit zwei Erdenmen schen wieder, mit Percy Mjipa und einem Weißen. Mjipa sagte: »Fallon, das ist Adam Daly, einer mei ner vermißten Erdenmenschen. Ich habe alle wieder zurückbekommen.« Nachdem er die Vorstellung zur Kenntnis genom men hatte, fragte Fallon: »Was ist passiert? Wie bin ich hergekommen?« »Zufällig hat der Kamuran Sie bei seinem Tri umphzug in den königlichen Palast auf der Straße liegen gesehen und seinen Lakaien befohlen, Sie mit dem übrigen Unrat wegzuschaffen. Zum Glück für Sie war ich dabei. Es hätte nicht viel gefehlt, und Sie hätten Ihr Leben ausgehaucht. Nung hat Sie mit Mü he durchgebracht.« »Die Qaathianer haben Zanid eingenommen?«
»Übergabe unter ehrenvollen Bedingungen. Ich ha be diese Bedingungen ausgehandelt, in der Hauptsa che dadurch, daß ich den Ghuur überzeugte, die Za nidumer würden bis zum Tode kämpfen, und indem ich drohte, ich würde mich selbst vor das Geklan-Tor stellen, falls er es mit einem Rammbock einzuschla gen versuchte. Diese Eingeborenen respektieren Fe stigkeit, wo sie ihr begegnen, und Ghuur ist nicht so dumm, Streit mit Novorecife anzufangen. Meine Aufgabe war es nicht, mich einzumischen, aber ich wollte nicht zusehen, wie Ghuurs Barbaren eine heile Stadt ruinieren.« »Wie waren die Bedingungen?« »Ach, Balhib soll unter Chindor als Pandr seine Autonomie behalten. Dieser Kerl ist ein verräterisches Schwein, aber eine andere Alternative hatten wir nicht. Und nicht mehr als zweitausend Qaathianer auf einmal dürfen in die Stadt, damit Plünderung und Mißhandlungen der Bürger nicht um sich grei fen.« »Ist es Euch geglückt, Ghuur zur Einhaltung dieser Bedingungen zu bewegen, als die Tore schon offen standen?« »Er hat sein Versprechen gehalten. Er ist dafür be kannt. Und außerdem glaube ich, hatte er ein wenig Angst vor mir. Er hatte noch nie einen Erdenmen schen von meiner Hautfarbe gesehen. Der abergläu
bische Halunke hat mich wahrscheinlich für einen Dämon gehalten.« »Ich verstehe«, murmelte Fallon. »Und was ist mit den vermißten Erdenmenschen?« »Ach, das! Ghuurs Leute hatten sie entführt. Ein Coup, den Ihr verstorbener Freund Qais arrangiert hatte. Der Kamuran hatte in Madhiq ein Versteck, wo er Waffen anfertigen ließ.« »Aber sie waren doch pseudo-hypnotisch behan delt worden ...« »Ja, und auch anti-pseudo-hypnotisiert. Es scheint da einen Psychologen unter den Krishni zu geben, der vor vielen Jahren in Wien studiert hat, bevor die technische Blockade eingeführt wurde, und der hat eine Methode ausgearbeitet, mittels der man die Saint-Remy-Behandlung wieder rückgängig machen kann. Das hat er bei diesen dreien gemacht, und – na, erzählen Sie doch selbst, Mr. Daly.« Adam Daly räusperte sich. »Als wir die Behandlung hinter uns hatten, kam der Kamuran zu uns und sagte uns, wir sollten etwas erfinden, mit dem man die Balhi bos schlagen könnte. Wir hatten keine Ausrede, daß wir es nicht könnten oder nicht wüßten und dergleichen. Er hatte sogar noch einen zweiten Erdenmenschen – einen Kerl, von dem wir noch nie gehört hatten – herange schleppt und ihm vor unseren Augen den Kopf abge schlagen, um uns zu zeigen, daß er nicht scherzte.
Natürlich dachten wir zunächst an Gewehre, aber keiner von uns konnte Schießpulver mischen. Aber wir wußten genug vom Maschinenbau, um eine pas sable Kolbendampfmaschine bauen zu können, be sonders da der Kamuran für uns erstaunlich gute Ar beitsbedingungen geschaffen hatte. Wir bauten also einen Tank, den wir mit Qong-Holz verkleideten und mit einem starren Katapult versahen. Die ersten zwei funktionierten nicht, aber der dritte war schon genü gend ausgereift, um als Modell für die Massenpro duktion dienen zu können. Der Kamuran bestellte fünfundzwanzig von den Dingern und trieb das Projekt mit aller Kraft voran. Wegen der Knappheit an Metallen und Bestandteilen hat man tatsächlich nur siebzehn gebaut – und wegen verschiedener Defekte sind nur drei in der Schlacht eingesetzt worden. Und was ich so von den Muske tieren der Armee Balhibs höre, bestärkt mich in der Meinung, daß hier ähnliches versucht wurde.« »Ja«, sagte Fallon, »das war aber ein Projekt, an dem nur Krishni beteiligt waren. Adieu, technische Blockade. Und ich sehe den Tag kommen, an dem das Schwert hier ebenso nutzlos sein wird wie auf Erden, und die ganze Zeit, die ich auf den Fechtunterricht verwandt habe, ist vergeudet. Übrigens, Percy, was ist mit dem Safq passiert?« Mjipa erwiderte: »Dem Vertrag gemäß hat Ghuur
die Kontrolle über die Waffenherstellung. Als daher die Priester des Yesht vor seinen Kriegern die Tore schließen wollten, ließ er den restlichen Vorrat an Schießpulver in Balhib vor den Toren anhäufen und hat sie aufgesprengt.« »Haben die Qaathianer zwei Philosophen namens Sainian und Zarrash in der Krypta gefunden?« »Ich glaube ja.« »Wo sind die zwei jetzt?« »Das weiß ich nicht. Ich nehme an, Chuur hat sie festgenommen und entscheidet noch, was mit ihnen geschehen soll.« »Würden Sie bitte dafür sorgen, daß Sie freigelas sen werden? Ich habe versprochen, ich würde ihnen zu helfen versuchen.« »Ich werde sehen, was sich tun läßt«, sagte Mjipa. »Und wo ist Fredro, dieser Esel?« »Er ist glückselig. Fotografiert nach Herzenslust im Safq und betätigt sich wissenschaftlich. Ich habe Chindor überredet, ihm die freie Benützung des Safq zu gestatten, nachdem Liyara der Hartlöter aus Gründen, die Sie sich denken können, den Obersten Schirmherr bestürmt hat, den Kult des Yesht zu un terdrücken. Fredro schäumt über vor freudiger Erre gung. Er sagt, er hätte schon bewiesen, daß Myande der Gräßliche nicht nur tatsächlich eine historische Figur war, sondern den Safq als Denkmal für seinen
Vater erbaut hat, der zwar nicht Kharaj, aber irgend jemand anderer war. Kharaj, so scheint es, hat Jahr hunderte vorher gelebt, und der Mythos hat sie alle zusammengewürfelt. Und Myande wurde nicht der Gräßliche genannt, weil er seinem alten Herrn etwas angetan hat, sondern weil er sein Königreich an den Bettelstab brachte und seine Untertanen verarmten, nur weil er das Ding bauen ließ ... Aber wenn es Sie interessiert, wird Fredro es Ihnen nur zu gern selbst erzählen.« Fallon seufzte. »Percy, Sie scheinen die Gabe zu be sitzen, für alle alles trefflich zu arrangieren, nur mein Königreich können Sie mir nicht zurückgeben.« Er wandte sich an Daly. »Sie wissen hoffentlich, daß Ihre Tanks keinen Blech-Arzu wert gewesen wären gegen jemanden, der darauf gefaßt gewesen wäre. Man hät te sie sehr leicht in eine Falle locken, umwerfen oder anzünden können.« »Ich weiß, aber die Balhibos wußten es eben nicht«, sagte Daly. Fallon wandte sich wieder an Mjipa. »Was ist mit Gazi und Wagner? Und mit meinem Freund Kor daq?« Mjipa runzelte nachdenklich die Stirn. »Soviel ich weiß, ist Oberst Kordaq aus Chos nicht zurückge kehrt – also ist er entweder tot oder Sklave in Qaath. Gazi lebt mit Fredro zusammen.«
Fallons Grinsen fiel schief aus: »Was dieser alte ...« »Ich weiß. Er hat sich eine Wohnung genommen. Er sagte, er bliebe wahrscheinlich ein Jahr oder länger ... Der Trübe Dan Wagner – es wird Sie freuen, das zu hören – hat versucht, sich eines Nachts an einem Seil außen an der Stadtmauer hinunterzulassen und wur de von einem Bogenschützen der Qaathianer getrof fen.« »Tödlich?« »Ja. Es scheint, er wollte nach Majbur, um einen Scheck des verstorbenen Qais auf Kastambangs Bank einzulösen, ohne zu wissen, daß die Regierung Bal hibs mit dem letzten Zug Befehle an die Bank nach Majbur gesandt hat, Kastambangs Konto zu seque strieren, da er ein überführter Verräter wäre.« »Hm«, machte Fallon. Dr. Nung tauchte auf und sagte: »Meine Herren, Sie müssen jetzt gehen. Der Patient braucht Ruhe.« »Sehr gut«, sagte Mjipa und stand auf. »Ach, noch eines: Sobald Sie für eine Reise kräftig genug sind, werden wir Sie aus der Stadt schmuggeln müssen. Die Zanidumer wissen, daß Sie für Ghuur spioniert haben. Man kann Sie nicht festnehmen und verurtei len, doch es gibt viele, die geschworen haben, Sie bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zu ermorden.« »Danke«, sagte Fallon ohne jeden Enthusiasmus.
Ein Krishni-Jahr später schlurfte ein gar nicht repu tierlich aussehender Erdenmensch durch die Straßen von Mishe, der Hauptstadt Mikardands. Seine Augen waren blutunterlaufen, das Gesicht stoppelig und der Gang unsicher. Er hatte eine kleine Geschichte an die Zeitung von Mishe, die älteste auf Krishna, verhökert. Das halbe Honorar hatte er vertrunken, und jetzt befand er sich mit dem restlichen Betrag auf dem Weg zu dem schä bigen Zimmer, das er mit einer Mikardanderin teilte. Während er so dahinwankte, murmelte Anthony Fal lon vor sich hin. Ein vorbeigehender Ritter des Qarar, der sich umdrehte und ihn ansah, verstand die Worte nicht, da er nicht englisch konnte. »W – wenn ich nur ein großes Ding drehen könnte – eine gute bombensichere Sache – dann kriege ich wieder eine Armee und führe sie nach Zamba, und dann werde ich wieder König sein ... ja, König!«