Atlan - Minizyklus 04 - Die Lordrichter Nr. 21
Der Turm des Denmogh von Achim Mehnert
Atlan, der unsterbliche Arkonid...
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Atlan - Minizyklus 04 - Die Lordrichter Nr. 21
Der Turm des Denmogh von Achim Mehnert
Atlan, der unsterbliche Arkonide, hat in seinem nach Jahrtausenden zählenden Leben viele Wunder des Kosmos gesehen und stand sogar als Ritter der Tiefe im Dienst der Hohen Mächte. In seinem Kampf für Frieden, Freiheit und partnerschaftliche Beziehungen zwischen allen Völkern des Universums fand er stets treue Freunde – wie Perry Rhodan –, aber auch erbitterte Gegner. Im Jahr 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) macht sich Atlan zusammen mit der geheimnisvollen Varganin Kythara auf, einem Hilferuf der Cappins aus der Galaxis Gruelfin zu folgen, die von den geheimnisvollen »Lordrichtern von Garb« bedroht werden. Doch schon in der Milchstraße sind deren insektoide Hilfsvölker aktiv, rauben und pervertieren Psi-Quellen für bislang unbekannte Zwecke. Um den Missbrauch der Psi-Quellen zu stoppen, beschließen Atlan und Kythara, sich einen »Kardenmogher« zu beschaffen, eine alte varganische Waffe. Ihre Suche führt sie über mehrere Vergessene Welten der Varganen. Auf Parkasthon begegnen sie degenerierten Nachkommen von Varganen und varganischen Androiden, die ein altes Artefakt anbeten: Dieses Artefakt ist DER TURM DES DENMOGH …
Der Turm des Denmogh
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide wird geprüft. Kythara - Die Unsterbliche stellt sich der Macht des Kardenmoghers. Contelapo und Enteran - Vater und Sohn stehen am Scheideweg. Emion - Ein Diener erwacht.
1. Kytharas Triumph Der Kardenmogher erwachte. Unwillkürlich hielt ich den Atem an und drückte Kytharas Arm fester, als das blaumetallische Artefakt aus der varganischen Vergangenheit von innen heraus zu leuchten begann. Die eben noch düster wirkende Außenhülle des Turms von Denmogh erstrahlte nun in kaltem blauem Licht. Rings um mich wurden überraschte Ausrufe laut. Aus den Augenwinkeln registrierte ich die Reaktion der Gläubigen, die von Entsetzen gepackt zurückwichen, bis sie von den Begrenzungen des Tempelhofs aufgehalten wurden. Kytharas Atem ging heftig, und mir war ebenfalls nicht wohl in meiner Haut. Wir wussten beide, wozu der Kardenmogher fähig war. Vor 15.000 Jahren hatte er gewütet, Parkasthon verwüstet und die Bewohner in die Primitivität geworfen. Wenn er erneut erwachte, unkontrolliert, ungebändigt, blieb von der Hauptstadt Cortasta und ihren 20.000 Einwohnern nur verbrannte Erde. Ich drehte den Kopf und schaute zu den steinernen Terrassen hinüber. Ministranten und jüngere Priester hockten dort, einfache Leute und Neugierige, die von dem Spektakel angelockt worden waren. Längst waren auch die Letzten von ihnen auf die Knie gesunken, um ihre Demut zu beweisen. In ihren Augen war die ultimative Waffe der Varganen die Inkarnation ihres Gottes Yracht, die nur dank Contelapos Beschwörungsgebet ihren Zorn nicht über die Welt entlud. »Wir müssen die Arkasther evakuieren, wenn wir kein Massensterben erleben wollen.« Meine varganische Begleiterin fuhr
herum, aber ich hielt sie fest. »Dafür ist Contelapo verantwortlich. Kannst du seine Gedanken empfangen?« Der untersetzte Priester kniete dicht vor dem Denmogh und murmelte eine monoton klingende Litanei. Seine Anhänger in ihren prachtvollen Roben hatten sich in einem Halbkreis hinter ihm platziert und unterstützten ihn nach Kräften. Ihre Körper vibrierten vor Anspannung, und sie schienen weit entrückt. Ich bemühte mich, die Worte zu verstehen, aber in meinen Ohren ergaben sie keinen Sinn. Kythara wehrte meinen Griff ab und starrte in Contelapos Richtung. Der Hochpräses bekam unsere Worte nicht mit, und auch seine Anhänger achteten in dem allgemeinen Durcheinander nicht auf uns. »Sieh, was er tut!«, flüsterte sie. Jetzt, da sie mich darauf hinwies, erkannte ich es ebenfalls. Contelapo führte beschwörende Bewegungen über einem kleinen Kasten aus, den er seinem Volk als heilige Reliquie verkaufte. Die unbedarften Arkasther begriffen nicht, was er wirklich tat. Sie sahen nur die Demonstration seiner angeblich gottgegebenen priesterlichen Macht, denn im Gegensatz zu mir kannten sie keine Schaltmodule. »Er steuert seinen Hokuspokus mit der kleinen Fernbedienung«, teilte ich meiner Begleiterin mit. Doch wie weit würde der machtbesessene Hochpräses gehen? Ich hoffte nur, dass er nicht so verrückt war, den Kardenmogher wirklich zu aktivieren. Ich spürte Kytharas Gedanken, die sich kühl in meinen Kopf drängten. Du glaubst so wenig wie ich, dass er dazu fähig ist, aber immerhin beherrscht er das Schaltmodul gut genug, um optische Efekte damit erzeugen zu können, vor denen das Volk kuscht. Ich konnte nicht umhin, Kythara zuzu-
4 stimmen. Die Sicherheit, mit der Contelapo agierte, ließ vermuten, dass er die Demonstration seiner Macht nicht zum ersten Mal durchführte. Mit erhobenem Kopf wiegte er seinen Oberkörper vor und zurück, während er das Steuermodul blind handhabte. Seine gesamte Gestik erweckte den Anschein, als befände er sich in Trance. Mir konnte er nichts vormachen. Er war nicht halb so vergeistigt, wie er tat. Vielmehr hatte ich den Eindruck, dass jede seiner Bewegungen einstudiert war. »Großer Gott Yracht«, erhob er die Stimme, und nun sprach er laut und deutlich. »Deine Untertanen rufen dich. Ich, dein von dir bestimmter oberster Priester Contelapo, rufe dich.« Während er sein Schauspiel abzog, änderte das Blau des sechzig Meter hohen und fünfzehn Meter durchmessenden Turms seine Intensität. Der Kardenmogher erstrahlte stetig heller. Ich war nahe daran, an Contelapos Seite zu springen, und ihm das Schaltmodul aus der Hand zu schlagen. Kopfschüttelnd unterdrückte ich den Impuls. Ich wollte sehen, wie weit er es treiben würde. Wenn ich nicht ebenfalls der Überzeugung wäre, dass Contelapo den Kardenmogher gar nicht in Betrieb nehmen kann, würde ich dich einen unverbesserlichen Narren nennen, raunte mein Extrasinn. Vergiss nicht Kytharas Erklärung zu dieser multifunktional einsetzbaren Allzweckwaffe. Wie könnte ich die vergessen? Laut der Varganin konnten mit dem Kardenmogher ebenso Planeten entvölkert wie komplette Städte errichtet werden. Er ersetzte Kriegsflotten, Transportsysteme und Verwaltungen und war in der Lage, sich in Einzelmodule aufzuspalten und formenergetisch projizierte Zusatzteile zu erstellen. Seinen immensen energetischen Eigenbedarf stellte er durch Sonnenzapfung sicher. Ein solches Wunderwerk konnte es leicht mit einer ganzen Flotte aufnehmen. Alles in allem war es damit auch unsere aussichtsreichste Waffe gegen die von den
Achim Mehnert Lordrichtern pervertierte Psi-Quelle. Zumindest hoffte ich das. Contelapo verfiel in ein rituelles Gebet, vorgetragen in einer Mischung aus Wechselgesang mit seinen Anhängern und kurzen Ausrufen spiritueller Verzückung. Die Masse der Gläubigen verharrte gebannt im Angesicht der priesterlichen Macht. Gelenkt wurde sie von Contelapos führenden Anhängern, seinen drei engsten Vertrauten, dem Volk als Magier und Seher gleichermaßen bekannt. Natürlich waren sie weder das eine noch das andere, sondern lediglich Scharlatane, die sich die Unwissenheit der ihnen Untergebenen zum Vorteil machten. Mit peitschenden Handbewegungen putschten sie die Zuschauer auf, dirigierten sie und verwandelten sie in eine willfährige Masse. Demir, der Mächtigste der drei, warf mir einen ausdruckslosen Blick zu. Ich wusste dennoch, was er bedeutete. Kythara und ich sollten bei der Zeremonie sterben, bei der Contelapo einmal mehr zeigen wollte, dass er allein die Welt auf Dauer retten konnte. »Der Denmogh erwacht!«, verkündete der Hochpräses, wobei sein Kopf sich wie zufällig in meine und Kytharas Richtung drehte. Seine schlohweißen, schulterlangen Haare umgaben sein Gesicht wie eine Aureole. »Er wird sein Urteil fällen über alles, was lebt. Yrachts Zorn wird falsche Götter ebenso strafen wie Frevler, doch ich vermag zumindest für die leichten Fälle sein Tun zu mildern, um mein Volk zu beschützen, auf dass es zurückkehre zum einzig wahren Glauben.« Als der Hochpräses für einen Moment verstummte, sprang Demir sofort ein und setzte den Singsang fort, riss Gafor und Rario sowie die Anhänger des heiligen Rats mit sich. Immer lauter erhoben sich ihre Stimmen, wobei sie ihre Körper wild schüttelten. Unwillkürlich hatte ich das Gefühl, dass der Boden unter mir erzitterte. Heller und heller strahlte der Kardenmogher. Sein bläuliches Licht flutete den Tempelhof und
Der Turm des Denmogh schmerzte in den Augen. Contelapo machte keine Anstalten, die Darbietung abzubrechen. »Gott Yracht!«, rief er, und seine Stimme drohte sich zu überschlagen. »Ich bitte dich, mein Volk zu verschonen!« Seine Anhänger steigerten sich in die reinste Raserei. Immer stärker schüttelten sie ihre Körper, immer lauter wurde ihr Singsang, bis er Contelapos Gebete übertönte. Mittlerweile war ich mir nicht mehr sicher, ob all das immer noch zu ihrem Schauspiel gehörte oder ob ihre religiöse Verzückung zumindest im Ansatz echt war. Die Anstrengung zeichnete sich in ihren schweißgebadeten Gesichtern ab, die zu Fratzen verzerrt waren. Ich erkannte, dass einige von ihnen am Ende ihrer Kräfte angelangt waren und vor Anstrengung und Anspannung körperliche Schmerzen litten. Wenn er uns töten will, muss er es bald tun, denn viel weiter kann er nicht mehr gehen, teilte mir Kythara mit. Seine Leute sind am Rand der Erschöpfung und werden bald zusammenbrechen. Ich stimmte ihr zu. Worauf wartete Contelapo noch, und wie wollte er unser Ableben bewerkstelligen? Schließlich durfte er bei den Gläubigen nicht den Verdacht erregen, seine Finger dabei im Spiel zu haben. Angsterfüllte Schreie rissen mich aus meinen Gedanken. Ich starrte auf den in hellem Blau leuchtenden Kardenmogher, dessen Oberfläche sich unter Knistern und Knacken veränderte. An zahlreichen Stellen platzte seine Metallhaut auf, zeichnete Linien, die sich zu klaffenden Wunden erweiterten und ineinander übergingen. Trotz der nun schon beinahe gleißenden Leuchtkraft, die er ausstrahlte, ließ sich der in wenigen Sekunden ablaufende Prozess erkennen. Bis zu achtzig Zentimeter tiefe Furchen klafften über die gesamte Höhe des Turms, als habe sich das Metall kurzfristig verflüssigt, um eine neue Oberflächenstruktur zu bilden. Die dabei entstehenden Geräusche klangen bedrohlich, als würde das Metall zerfetzt. Schließlich war die fast ultimative
5 Waffe von Kerben überzogen. Meine Begleiterin verzog bei dem Vorgang keine Miene. Du hast damit gerechnet? Sie antwortete nicht, stattdessen ließ mich eine andere Stimme zusammenzucken. »Was ist das?« Unwillkürlich fuhr ich herum. Woher Azarete gekommen war, konnte ich nicht sagen, jedenfalls stand er plötzlich hinter mir. Fasziniert verfolgte er die fortgeschrittene Veränderung des Turms. »Die Risse erstrecken sich über die gesamte Höhe.« Die »Risse« lagen parallel nebeneinander, gerade Linien mit identischen Abständen. Im Gegensatz zu Azarete verfügte ich über einen Extrasinn, der den Ausschnitt, den wir sahen, auf die gesamte Außenhülle des Kardenmoghers extrapolieren konnte. Seine Oberfläche war nun nicht mehr glatt wie zuvor, sondern … »In der Draufsicht würden wir einen 24-zackigen Stern sehen«, kam Kythara mir zuvor. Niemand nahm Notiz von ihren Worten, auch nicht von der Tatsache, dass die Varganin die Verwandlung so gelassen hinnahm, als hätte sie sie erwartet. Alle waren viel zu sehr von dem Vorgang, der sich vor ihren Augen abspielte, in den Bann gezogen. Vielstimmiges Gemurmel drang von den Gläubigen herüber, durchsetzt von Ausrufen der Angst. Der Hochpräses stand jetzt, da er die Zuschauer in der Hand hatte, kurz davor zu triumphieren. Ich konnte die Furcht, die von ihnen ausging, förmlich riechen. Der Tempelhof badete in ihren Ausdünstungen, während er vom blauen Licht des Kardenmoghers geflutet wurde. »Glaubt ihr mir endlich?«, flüsterte Azarete. »Contelapo will euch, die Fremden, töten und den Denmogh dann in letzter Sekunde bändigen, bevor er scheinbar ganz Arkasth vernichtet.« Ich nickte in menschlicher Manier, um rasch zu sagen: »Wir glauben dir.« Allmählich wurde mir die Sache zu heiß. Die Umformung des Kardenmogher war ab-
6 geschlossen, und Contelapos Anhänger tobten, sofern sie noch dazu in der Lage waren. Mehrere von ihnen waren inzwischen vor Erschöpfung in sich zusammengesunken. Ich wechselte einen Blick mit Kythara, und wir hatten den gleichen Gedanken. Contelapo kann den Kardenmogher nicht aktivieren. Es war so, wie wir erwartet hatten; er war ein Scharlatan, aber das machte ihn nicht ungefährlicher. Ohne es zu wollen, konnte er ein Unglück anrichten, das sich nicht mehr rückgängig machen ließ. Ehe ich mich's versah, trat die hochgewachsene Varganin energisch vor. In ihren goldenen Augen blitzte es bedrohlich auf, und ich war froh, die bronzehäutige Frau nicht zur Gegnerin zu haben. Kurzerhand ging sie an dem Hochpräses vorbei und baute sich vor dem Kardenmogher auf, ihre hüftlangen Goldlocken umspielten ihre Figur. Für mich sah es aus, als ginge sie direkt in den leuchtenden Turm hinein, doch sie blieb ein paar Meter vor ihm stehen. Gewaltig wuchs er vor ihr in die Höhe, ein uraltes Monument mit nur schwer vorstellbarer Vernichtungskraft. Die Seher stießen angesichts ihres Frevels empörte Rufe aus, aber davon ließ sich Kythara nicht aufhalten. Was hatte sie vor? Als sie die Arme erhob, war dies zwar ein wenig theatralisch, aber für die schlichten Gemüter der Gläubigen genau das Richtige. Die Zuschauer hielten ihr Vorgehen für das Walten überirdischer Mächte. Erstaunte, ungläubige Ausrufe erklangen, als das Leuchten schlagartig erlosch und mit ihm die Kerben in der Oberfläche des Turms verschwanden. Schlagartig war er wieder so glatt und von der blaumetallenen Färbung wie zuvor. Erleichtertes Seufzen und Raunen kam von den Zuschauern, als die für sie unheimlichen Vorgänge endeten. Wahrscheinlich hatten sie sich bereits mit ihrem Ende und dem ihrer Heimat abgefunden. Ehe du dich wunderst, übermittelte sie mir gedanklich, ich habe ebenfalls einen miniaturisierten Kodegeber bei mir. Nicht nur
Achim Mehnert Contelapo besitzt so etwas, allerdings ist meiner mit den speziellen Sicherheitskodes von Ezellikator programmiert, die ich in die Steuerungssysteme des Kardenmoghers eingespeist habe. Ich konnte ein Grinsen nicht unterdrücken und wandte rasch das Gesicht ab, damit es Contelapo nicht zu sehen bekam. Der Mann würde sich dadurch nur noch mehr provoziert fühlen. Als ich meine Züge wieder unter Kontrolle hatte, suchte ich hingegen geradezu den Blick des Hochpräses. Er machte alles andere als einen erleichterten Eindruck. Dumpf stierte er vor sich hin, weil er nicht recht fassen konnte, was gerade geschehen war. Ich konnte seine Fassungslosigkeit sogar nachvollziehen, hatte er doch vor den versammelten Gläubigen das Gesicht verloren. Nicht nur, dass Kythara und ich noch lebten, zu allem Überfluss hatte sie ihm auch noch die Schau gestohlen. Völlig ungerührt wandte sich die Varganin jetzt von der Szenerie ab. Mit hoheitsvollen Schritten verließ sie den Tempelhof und schritt zwischen der Götterstatue, einem in den Boden gerammten torpedoförmigen Einmannjäger, und dem Stein der Weisen hindurch.
* Gebannt von den Ereignissen, stand Azarete da wie ein knorriger, dreihundert Jahre alter Korrach-Baum mit versteinerter Rinde und seit Generationen entlaubt. Er kam sich vor wie ein Außenstehender, von Yracht in ein Geschehen versetzt, in das er nicht gehörte. Er war nicht körperlich, sondern nur noch Geist, nicht fähig, sich zu bewegen oder etwas zu sagen. Einzig seine Sinne funktionierten und registrierten weiterhin. Sie zeigten ihm die Bilder der Gläubigen, von denen viele so reglos waren wie er selbst, empfingen die ungläubigen Ausrufe und benebelten ihn mit Schwaden von Murgus-Myrte. Vereinzelt huschten in Roben gewandete Gestalten vor seinen Augen vorbei wie Schatten, die ihm seltsam vertraut
Der Turm des Denmogh waren. Beweg dich endlich! Er musste all seine Kraft zusammennehmen, um sich aus seiner Erstarrung zu lösen. Wie ein Kokon platzte sie auf. Sein Blick klärte sich. Manche der Gläubigen waren aufgesprungen und eilten verwirrt und verängstigt zum Ausgang des Tempelhofs. Dass das Spektakel vorüber und der Denmogh durch die fremde Göttin wieder in Schlaf gesunken war, erschütterte ihr Weltbild und vor allem das Bild, das sie bisher von der Macht des Hochpräses gehabt hatten. Sie wollten den Ort des Schreckens so schnell wie möglich verlassen, schließlich konnte Yrachts Inkarnation jederzeit erneut erwachen. Die meisten jedoch saßen, hockten, standen oder kauerten aber immer noch an Ort und Stelle, unfähig, sich zu rühren. Contelapo war einer von ihnen. Azarete entdeckte den Hochpräses wenige Meter vor dem Turm. Verständnislos glotzte er den Denmogh an, der ihm den Gehorsam verweigert und sich der Fremden gebeugt hatte. Das ist deine Chance, Silios Tod zu rächen, wallte ein Gedanke durch den Verstand des jungen Priesters. Er spürte, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten. Yracht erwartete zwar Vergebung von denen, die an ihn glaubten, aber weder war überliefert noch stand irgendwo geschrieben, dass er Rache ächtete. Wenn ihr Genüge getan war, konnte die Vergebung immer noch einsetzen. Azarete zauderte. Verstieß er damit nicht gegen alles, woran er glaubte? Doch auch der Tod eines unschuldigen Kindes ließ sich nicht mit seinem Glauben vereinbaren. Seines Kindes noch dazu, ermordet von dessen Großvater Contelapo, der nichts anderes als seinerseits den Tod verdient hatte. Seine widersprüchlichen Gefühle und die süßlichen Düfte der Murgus-Myrte ließen den jungen Priester einen Schritt nach dem anderen machen. Wie im Rausch nahm er wahr, dass sich niemand um ihn kümmerte. Alle Augen waren auf den Denmogh gerich-
7 tet, der sich Ehrfurcht gebietend und mächtig in die Höhe erhob und alle, die in seinem Schatten kauerten, wie Insekten erscheinen ließ. »Contelapo, komm zur dir!« Die Worte brachten Azarete endgültig in die Wirklichkeit zurück. Angesichts des Denmogh unterdrückte er eine Verwünschung. Seine Fäuste erschlafften, als Demir an die Seite des Hochpräses trat, doch der innere Widerstreit blieb. Er wollte sich auf seinen Vater stürzen, aber das wäre ihm schlecht bekommen. Nicht nur der Mächtigste der drei Seher war bei Contelapo, auch Gafor und Rario gesellten sich zu ihm. Zahlreiche weitere hohe Würdenträger im Dienste des Hochpräses hielten sich zudem in der Nähe auf. »Du darfst jetzt keinen Fehler begehen.« Eine Hand legte sich auf Azaretes Schulter. »Wenn du Contelapo angreifst, werden sie dich töten. Selbst die Neutralen unter den Zuschauern werden ihm dann Recht geben.« »Dantino«, erkannte Azarete. »Schon gut, ich habe mich unter Kontrolle.« »Dann komm. Wir sollten nicht hier stehen, als ob wir etwas im Schilde führten.« Contelapos ehemaliger Berater zog ihn kurzerhand mit sich in eine abseits gelegene Ecke, wo sie nicht auffielen. Minuten waren vergangen, doch immer noch rührten sich die meisten Besucher des Konzils nicht. Sie schienen Angst vor Denmoghs nächstem Erwachen zu haben, sollten sie sich auch nur bewegen. »Kümmert euch nicht um mich!«, keifte Contelapo seine Magier an. Seine Fassungslosigkeit schlug in Wut um, die sich in irgendeine Richtung kanalisieren musste. »Tut endlich etwas! Scheucht das Volk vom Hof! Wie stehe ich denn sonst da?« »Wie du es verdienst, Enkelmörder«, flüsterte Azarete, während die Priester ausschwärmten. Sie rüttelten die Gläubigen auf und jagten sie schimpfend und drohend am Stein der Weisen vorbei. »Die Leute fürchten den Hochpräses mehr als den Denmogh«, stellte Dantino fest. »Es
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Achim Mehnert
wird Zeit, dass diese Tyrannei durch eine gerechte Ordnung ersetzt wird.« Azarete machte eine zustimmende Geste, als er sah, wie sich die einfachen Arkasther wie Vieh durch den Eingang treiben ließen. Sie hielten das Vorgehen der Magier für gerechtfertigt, an Widerstand gegen ihre Unterdrückung dachten sie nicht einmal. Zu Azaretes Leidwesen war der Großteil des Volkes überhaupt nicht in der Lage, selbständig zu denken, es war ihm über die Jahrhunderte schlicht aberzogen worden. Damit besaß ein selbst ernannter Führer wie Contelapo einen immensen Vorteil. »Wir kehren in meine Höhle zurück, um uns dort zu beratschlagen«, sagte er grübelnd. Ganz wohl war ihm nicht bei dem Gedanken, den Mann mit sich zu nehmen, der vor wenigen Stunden noch Contelapos Berater gewesen war. Trotzdem durfte er sich Dantinos Gefolgschaft nicht entgehen lassen. Dessen Wissen konnte sich bei der Befreiung des Volkes als unschätzbar erweisen. Gemeinsam tauchten die beiden Männer im Strom der flüchtenden Gläubigen unter.
* Ich schloss mich Kytharas Abgang an. Als ich mich beim Verlassen des Hofes nach Azarete umschaute, war dieser verschwunden. Ich hatte zwar erwartet, dass er versuchen würde, sich uns anzuschließen, war aber froh, dass er es nicht getan hatte. Ich wollte mich zunächst alleine mit Kythara unterhalten. Niemand hielt uns auf. Im Gegenteil bemerkte ich den Respekt, den die Gläubigen der selbst in meinen Augen geheimnisvollen Frau auf dem Rückweg zu unseren Quartieren entgegenbrachten. Wer sie vor dem Zwischenspiel mit dem Turm des Denmogh noch nicht für eine Göttin gehalten hatte, tat es spätestens nach ihrem Erfolg. Sie hatte die Inkarnation des mächtigen Gottes Yracht in die Schranken gewiesen. Wie ich trug sie nicht ihren Schutzanzug,
sondern die Bekleidung, die uns Contelapos Berater Dantino für das Konzil angedient hatte. Bei ihr war es ein bodenlanges blaues Kleid, das einen gewissen archaischen Kontrast zu ihrem exotischen Antlitz und der Goldlockenmähne bildete. Kythara war eine Schönheit, nicht nur rein äußerlich, sondern auch von ihrem beeindruckendem Charisma her. Und sie war ungeachtet ihres straffen, jugendlichen Körpers leicht 800.000 Jahre älter als ich, den man in der Milchstraße schon oft als den ältesten Unsterblichen bezeichnet hatte. Aufgrund meiner persönlichen Erlebnisse in den zurückliegenden Jahrtausenden wusste ich einiges über die Geschichte der Varganen, aber noch längst nicht alles und zu meinem Leidwesen über Kythara noch viel weniger. Wieso hatte sie Parkasthon als Ziel ausgewählt? Ich hielt es für einen merkwürdigen Zufall, dass es uns ausgerechnet auf diese Welt verschlagen hatte. Wie gering war die Wahrscheinlichkeit, dass wir durch bloßen Zufall einen Planeten betraten, auf dem ein Kardenmogher zu finden war? Minimal, blockte ich ab, bevor der Logiksektor die Frage als an ihn gerichtet klassifizierte und mich mit Zahlen im negativen Potenzbereich langweilte. Ich konnte die Möglichkeit nicht ausschließen, dass sie es gewusst hatte und deshalb Parkasthon aus der Transmitterliste ausgewählt hatte. Immerhin war Kythara es gewesen, die mich auf den Kardenmogher als mögliche Waffe gegen die Psi-Quelle hingewiesen hatte, wenn auch zunächst in Zusammenhang mit der Sternenstadt VARXODON. Sie war es gewesen, die als Zwischenziel die Versunkene Welt Parkasthon programmiert hatte. Sollte das alles eine Verkettung von Zufällen sein, oder hatte sie dabei Informationen berücksichtigt, die mir nicht bekannt waren? »Diesmal haben wir Glück«, sagte Kythara in diesem Moment. »Ich hatte kaum zu hoffen gewagt, dass wir bereits auf Parkast-
Der Turm des Denmogh hon einen Kardenmogher finden würden. Als wir allerdings von den hiesigen Zerstörungen erfuhren, war ich mir ziemlich sicher. Zu eindeutig waren die Hinweise auf die destruktive Macht eines Kardenmoghers.« »Du meinst, du hattest nicht die geringste Ahnung …?« Sie lächelte sphinxhaft. »Ahnung … Intuition … wer weiß? Ich kann es nicht besser erklären.« »Wie groß ist dein Einfluss auf den Kardenmogher?«, erkundigte ich mich. Sie warf mir einen nachdenklichen Blick zu. »Es ist mir gelungen, einen ersten Kontakt herzustellen. Viel mehr hätte ich beim momentanen Stand der Dinge nicht tun können. Dazu brauche ich die technischen Möglichkeiten meines Anzugs. Selbst mit ihnen wird es nicht leicht werden, den Kardenmogher zu aktivieren. Wir werden die alte Aktivierungsprozedur über uns ergehen lassen müssen.« Die man erst einmal lebend überstehen musste, wie mir bekannt war. Eine angenehme Aussicht war das nicht, nur Kytharas Teilerfolg ließ mich ein wenig optimistischer in die Zukunft sehen als bei unserer Flucht von Maran'Thor.
2. Todesschwüre Contelapo bebte vor Zorn, als er in seine Höhle stürmte. Nie zuvor hatte jemand gewagt, sich in seine Beschwörungen des Gottes Yracht einzumischen. Nicht allein, dass die falsche, blasphemische Göttin ihn in aller Öffentlichkeit bloßgestellt hatte, hatte sie den Turm des Denmogh auch noch besänftigt. Doch allein ihm als Oberstem Präses stand dieses Vorrecht zu. Und niemand sonst beherrscht die Technik, die dazu nötig ist! Er dachte an den kleinen Kasten, der sich in seiner Obhut befand. Wie das Wissen um seine Bedienung wurde er stets von einem Hochpräses an seinen Nachfolger weiterge-
9 geben. Niemand sonst wurde in das Geheimnis eingeweiht, das Contelapo wie schon all seinen Vorgängern die Macht sicherte. »Wie ist der falschen Göttin das gelungen?«, schrie er außer sich. Seine Stimme war heiser vor Entrüstung. »Ihr seid meine Seher, wieso habt ihr sie nicht gehindert?« Demir, Gafor und Rario hatten den Tempelhof gemeinsam mit ihm verlassen. Sie hielten sich in respektvollem Abstand, wie er mit einer gewissen Genugtuung zur Kenntnis nahm. Nachdem er bereits den Verräter Dantino an Azarete verloren hatte, war es umso wichtiger, dass die Magier sich ihm beugten. Doch er durfte es auch nicht übertreiben. Auch wenn es Scharlatane waren, die über keine magischen Fähigkeiten verfügten, brauchte er sie, um das Volk unter Kontrolle zu behalten. Ob es ihm nun gefiel oder nicht, mit ihren Fähigkeiten, die nur auf dem Missbrauch alter technischer Artefakte beruhten, sicherten auch sie seine Macht. Nach dem Überlaufen seines ehemaligen Beraters blieb ihm nichts anderes übrig, als sie sich gewogen zu halten. Er verfluchte seinen verhassten Sohn zum wiederholten Male. Wieso nur ignorierte Gott Yracht den Todesfluch? Aus einem unbegreiflichen Grund hatte er sogar dafür gesorgt, dass Azarete das Attentat überlebte. »Keiner von uns konnte ahnen, wozu die Fremde fähig ist«, verteidigte sich Demir, der Mächtigste der drei. »Sie muss ein Instrument wie das unsrige besitzen. Nur damit konnte sie den Denmogh kontrollieren.« »Ach was!«, schnappte Contelapo. »Ich bin kein Narr. Aber wir haben sie und diesen Atlan doch genau beobachtet. Sie trugen nichts bei sich.« »Wenn du dir dessen so gewiss bist, sind es vielleicht wirklich Götter, die mit Yracht in Kontakt stehen.« Contelapo warf Rario einen vernichtenden Blick zu. Am liebsten hätte er ihm die Robe von den Schultern gerissen. »Sagt dir das dein drittes Auge?« Anstelle einer Antwort schaute Rario be-
10 treten zu Boden. »Kann sonst jemand einen brauchbaren Vorschlag machen, wie wir unsere Niederlage nachträglich ausgleichen können?« Mit Bedacht bezog der kleine, gedrungene Mann seine Magier mit ein. Sie sollten nicht denken, dass er allein einen Schlag erlitten hatte. Was ihm schadete, verschonte auch sie nicht. »Wir sollten mit den fremden Göttern verhandeln. Vielleicht gelingt es uns, sie auf unsere Seite zu ziehen.« »Nenn sie in der Öffentlichkeit so, aber nicht in unserem Kreis!« Contelapo starrte seinen obersten Seher an, als hätte Yracht ihm den Verstand ausgebrannt. »Atlan und Kythara sind keine Götter, sondern Blender, die mit Tricks arbeiten.« So wie wir selbst, dachte er mit kalter Berechnung. Gleichwohl war er davon überzeugt, dass der Denmogh ihm allein gehorchte. Wieso nur hatte Dantino ihn verlassen, diese Schabe aus der ärmlichsten aller armen Hütten? Gerade jetzt benötigte er dessen Ratschläge wie selten zuvor. »Die Fremden sind über den Altar in unsere Welt gekommen«, wagte Demir Widerspruch. »Heißt das nicht, dass sie gesandt wurden, um uns beizustehen?« »Uns beistehen? Haben sie das bisher getan?« Immer größer wurde in Contelapo die Überzeugung, sich mit den falschen Männern zu umgeben. Dummerweise konnte er sie nicht einfach ersetzen, da sie ein paar seiner Geheimnisse teilten. Zwar waren sie ihm unterstellt, aber sie hatten ihn auch in der Hand. Sollten sie die Wahrheit verbreiten, käme der Pöbel am Ende auf die Idee, ihn von Gott Yracht ungestraft in Stücke reißen zu können. »Nein«, musste Demir kleinlaut zugeben. »Aber bisher haben wir sie noch nicht darum gebeten. Vielleicht warten sie nur darauf.« »Du bist blind. Hast du nicht bemerkt, dass ihnen Macht und Geld nichts bedeuten? Die beiden haben keinen Preis, den wir zahlen könnten!«
Achim Mehnert Was das anging, war sich Contelapo vollkommen sicher. Er erkannte Wesen seines Schlages, und die beiden Fremden waren davon so weit entfernt wie nur irgend möglich. Mit ihrer unbekannten Macht stellten sie eher eine Gefahr als einen Nutzen dar, deshalb blieb ihm keine andere Wahl. Sie mussten sterben. Doch ein zweites Mal würde er sich bei der Vorbereitung ihres Ablebens nicht auf den Denmogh verlassen. Diesmal musste er selbst aktiv werden.
* Dank meines fotografischen Gedächtnisses fanden wir den Rückweg zu unserem Quartier, ohne uns zu verlaufen. Die beiden Wächter standen noch immer vor dem Eingang. Wie ich es ihnen aufgetragen hatte, schienen sie sich nicht von der Stelle gerührt zu haben. »Willkommen, Gott Atlan«, begrüßten sie mich unterwürfig. Offenbar war ihnen noch nicht zugetragen worden, was sich bei dem Konzil ereignet hatte. Ohne eine Antwort zu geben, gingen Kythara und ich an ihnen vorbei. Im Innern des Quartiers empfing uns ein aufgeregter Gorgh-12. Der 1,50 Meter große insektoide Chefwissenschaftler von Maran'Thor, der an eine aufrecht gehende Riesenameise erinnerte, stakste auf dem hinteren seiner beiden Beinpaare umher. Jede seiner Bewegungen wurde von knisterndraschelnden Geräuschen begleitet. »Endlich! Ich war nahe daran, die Höhle zu verlassen und nach euch zu suchen.« Seine gewölbten Facettenaugen schimmerten eine Spur stärker als vor unserem Aufbruch, trotzdem fiel es mir schwer, eine Regung darin zu erkennen. Doch das brauchte ich auch nicht, um die Unruhe des Daorghor beinahe körperlich zu spüren. Seine fingerdicken Antennenfühler zitterten unablässig, und seine Mandibeln klackten aufgeregt aufeinander. »Was ist geschehen?«, fragte Kythara. »Der Wurm ist erwacht.« Gorgh drehte
Der Turm des Denmogh sich um und deutete mit den Zangen seines Armpaares zu einer Nische. »Ich habe ihn angesprochen, erfolglos. Ich glaube nicht, dass er mich versteht.« »Das Saqsurmaa versteht dich sehr wohl.« Doch anscheinend wollte es nicht mit dem Insektoiden reden. Mit weiten Schritten lief ich an dem Hyperphysiker vorbei und betrachtete das zweieinhalb Meter lange und dreißig Zentimeter durchmessende, wurmähnliche Geschöpf mit dem Namen Emion. Es war nicht weiter gewachsen. Es ist auf dich fixiert, vernahm ich die Gedankenstimme der Varganin, der ich unterwegs berichtet hatte, was ich von dem Saqsurmaa wusste. Ich beglückwünschte mich dazu, weil mir damit nun langwierige Erklärungen erspart blieben. Das wurmartige Wesen musterte mich aus seinen vier biegsamen Stielaugen. Es schlängelte sich mir ein Stück entgegen, hielt aber in respektvollem Abstand inne und rollte die hintere Hälfte seines segmentierten, schlauchförmigen Körpers zusammen, während sich die vordere leicht aufrichtete. In der Tat war seine Aufmerksamkeit nur auf mich gerichtet, Kythara und Gorgh ignorierte es. Das war schon nach unserem Transmitterdurchgang so gewesen, als es das erste Mal sein Bewusstsein erlangt und zu uns gesprochen hatte. »Herr, erkenne deinen Diener«, sprach Emion mich in der Vorläufersprache der Mächtigen an. Seine Fühler tasteten durch die Luft.»Deine Aura verrät mir, dass du wie Litrak bist.« Ähnliche Worte hatte er schon einmal an mich gerichtet, bevor er nach einer kurzen Wachphase wieder eingeschlafen war. Das Saqsurmaa sprach damit meine Ritteraura an, die mir einst im Tiefenland bei der Weihe zum Ritter der Tiefe verliehen worden war. Die Aura haftete mir immer noch an, und das Saqsurmaa nahm sie offenbar wahr. »Du warst Litraks persönlicher Adjutant«, konfrontierte ich Emion mit dem Wissen, das ich in der Obsidian-Kluft in Litraks Er-
11 innerungen gesehen hatte. »Das war ich, vor meinem … Schlaf. Wie viel Zeit seither verstrichen ist … Wenn ich genauer darüber nachdenke, ist da … nichts.« Jahrmillionen, dachte ich. Schade. Wider alle Wahrscheinlichkeit hatte ich insgeheim erwartet, dass das Saqsurmaa einen zumindest groben Überblick über die verstrichene Zeitspanne hatte. Sag's dem Wurm, empfahl der Extrasinn. Und stell dich schon einmal auf zahlreiche Wissenslücken seinerseits ein. Das sind Mutmaßungen, gab ich verärgert zurück. Ich wäre dankbar für Fakten. »546 Millionen Jahre sind vergangen«, wandte ich mich an Emion. »Wie konntest du so lange überleben?« Der Oberkörper des Wurmartigen glitt zu Boden. Seine Augen taxierten mich, und trotz der Fremdheit des Wesens glaubte ich Ratlosigkeit darin zu sehen. »Ich kann mich nicht erinnern, auch nicht daran, wie ich zu euch gelangte.« Also auch nicht an den Würfel, in dem das Saqsurmaa gesteckt hatte, bis der Transmitterdurchgang es daraus befreit hatte. Ich verzichtete darauf, eine diesbezügliche Frage zu stellen. »Wo war ich all die Zeit?« Emions Stimme klang beinahe weinerlich. Es spricht nichts, was ich als Lüge erkennen könnte, erklang Kytharas Stimme in meinem Kopf. Sie ahnte, was ich wissen wollte. Was Ahnung und Intuition anging, war sie tatsächlich einzigartig. Ich kann das auch, kommentierte mein Extrasinn bissig. Aber bei ihr bewunderst du es. Ich ignorierte den Logiksektor und schilderte dem Saqsurmaa die Ereignisse, die sich in der Milchstraße um den Urschwarm Litrakduurn ereignet hatten, bis es zu dessen Havarie gekommen war. Daran konnte sich Emion erinnern, auch an Litraks misslungene Initiierung des Notfallsystems. »Doch danach sehe ich nur Schwärze. Es ist, als sei ich eben erst wieder aus einem langen Schlaf aufgewacht.« Der Wurm
12 krümmte sich wie unter Schmerzen. Offenbar bereitete ihm seine Unwissenheit körperliche Pein. »Ich schäme mich, weil ich dir nicht weiterhelfen kann, Herr.« Ich wollte dem Saqsurmaa versichern, dass es keine Schuld daran trug. Kythara war weniger rücksichtsvoll. »Hattest du jemals Kontakt zu den Kosmokraten oder ihren Dienern?« Ich horchte auf. Nicht nur aus gegebenem Anlass hatte mir die Frage ebenfalls auf der Zunge gelegen. Ich hatte zudem einen sehr persönlichen Grund, mehr über die Hohen Mächte hinter den Materiequellen zu erfahren. »Schon wieder muss ich euch enttäuschen. Das Einzige, was ich weiß: Litrak hat mich vor dem Untergang gerettet«, sagte das Saqsurmaa, ohne auch nur für einen Moment den Blick von mir zu nehmen. »Dafür danke ich dem Herrn. Leider weiß ich nicht, was genau er getan hat, um mich zu retten.« »Der Wurm mag ja älter sein, aber er weiß weniger als ich«, konstatierte Gorgh abfällig. »Es ist nutzlos, ihm weitere Fragen zu stellen. Mit seinen Aussagen bringt er uns nicht weiter.« Uns, dachte ich. Gorghs Sprachduktus resultierte aus seiner Insektenmentalität, die auf das Kollektiv ausgerichtet war. Seit er sich Erzherzog Garbhunar und damit auch dem Volk der Daorghor entzogen hatte, stellten Kythara und ich sein neues Kollektiv dar. Unsere Gesamtinteressen überwogen das Einzelinteresse Emions, deshalb war Gorgh mit dessen Aussagen unzufrieden, mehr vielleicht noch, als ich selbst es war. Ich stellte dem Saqsurmaa weitere Fragen, musste aber zu meiner Enttäuschung erkennen, dass es nicht die geringste Erinnerung an sein Vorleben hatte. Es handelte sich nicht nur um partielle Wissenslücken, sondern sie betrafen die ganzen 546 Millionen Jahre seit dem Desaster mit dem Urschwarm. »Ich bin nicht vollständig«, brachte Emion sein Dilemma auf den Punkt. Ein Zittern durchlief den Wurmkörper. »Ich habe einen
Achim Mehnert Teil meines Ichs verloren.« »Dieser Teil bezieht sich auf dein Wissen und deine Erinnerungen.« Kythara war noch nicht bereit aufzugeben. »Der Erinnerungsverlust begann anscheinend, als Litrak dich gerettet hat. Was war davor? Du wurdest Litraks persönlicher Adjutant genannt, was also hast du für ihn getan?« Emion schwieg. Unruhig bewegten sich seine Stielaugen, als er sich in Bewegung setzte. Erst einen halben Meter vor mir kam er wieder zur Ruhe. »Mir ist nicht mehr als ein dunkles Loch verblieben«, erklärte er. »Nicht einmal an meine Fähigkeiten erinnere ich mich mehr. Da ich für Litrak in einer solch gehobenen Position tätig war, muss ich über spezielle Qualifikationen verfügt haben.« »Und du hast keine Ahnung, worum es sich dabei gehandelt hat?« »Nein, Herr. Ich vermute, dass ich meine Fähigkeiten noch habe.« Emions Körper bäumte sich auf. »Wie soll ich sie abrufen, wenn ich nicht weiß, wie sie aussehen?« Ich sah Kytharas angespannten Gesichtsausdruck. Offenbar versuchte sie einen Gedankenfetzen des Saqsurmaas zu erhaschen, dessen es sich selbst nicht bewusst war. Der kleinste Hinweis hätte uns möglicherweise weitergeholfen. Doch sie fand nichts, sie war nun einmal keine richtige Telepathin. Ich fragte mich, ob Emion die halbe Milliarde Jahre tatsächlich nicht im Wachzustand erlebt hatte oder ob ihm die Erinnerung an diese äonenübergreifende Zeitspanne lediglich nachträglich genommen worden war. Die Vorstellung an einen künstlich hervorgerufenen Block, der sich mit keinem Mittel durchbrechen ließ, jagte mir einen Schauer über den Rücken. Darüber hast du dir zu oft den Kopf zerbrochen, mahnte mich der Extrasinn. Du kennst die Erfolglosigkeit solcher Anstrengungen. Wenn die Kosmokraten verhindern wollen, dass sich jemand an bestimmte Ereignisse erinnert, erinnert er sich auch nicht. Es ist nicht gesagt, dass sie Emions Ge-
Der Turm des Denmogh dächtnislücken bewerkstelligt haben, wehrte ich ab. Ganz andere Gründe können dafür verantwortlich sein. Warum belastest du dich dann mit diesem Gedanken? Manchmal verabscheute ich die Logik des Extrasinns. Plötzlich kam Bewegung in das Saqsurmaa. Es schlängelte an mir vorbei zu einem Stuhl und fiel darüber her. Ehe ich mich's versah, war er zur Hälfte in seiner mundähnlichen Öffnung verschwunden, die sich gegenüber dem Normalzustand erheblich erweitert hatte. Der Vorgang erinnerte mich an die Nahrungsaufnahme einer Schlange, die ihr Maul beim Verschlingen der Beute ebenfalls auf nachgerade groteske Weise aufriss. Es dauerte nur ein paar Sekunden, dann hatte Emion sein Beutestück vollständig absorbiert. »Du hast den Stuhl gefressen.« Gorghs Worte klangen erstaunt und vorwurfsvoll. »Wieso?« »Weil ich Hunger hatte«, erklärte Emion verwundert. »Aus welchem Grund nimmt man sonst Nahrung zu sich?« »Du scheinst über eine Art Konvertermagen zu verfügen«, mutmaßte ich. Auch Haluter konnten zur Aufrechterhaltung ihrer Stoffwechselprozesse so gut wie alles verzehren, ohne dabei auf organische Nahrung angewiesen zu sein. Das Saqsurmaa schielte zu mir herüber und rollte sich zusammen. Es bettete seine einem Kopf adäquate Auswölbung am vorderen Körperende zu Boden und zog die Stielaugen ein. »Dapsorgam«, sagte es unvermittelt und schlief ein.
* Azarete hatte stets ein Leben ohne Hass geführt. Im Gegensatz zu Contelapo bevorzugte er Tugenden wie Güte und Nächstenliebe. Aus diesem Grund verstörten ihn die neuen Gefühle, die sich seiner bemächtigt hatten. Ohne sein Zutun waren sie über ihn
13 gekommen und hatten den Platz in seinem Inneren eingenommen, an dem vorher die Liebe zu seinem Sohn Silio genistet hatte. Silio, den dessen Großvater Contelapo getötet hatte. Immer wieder übermannte dieses Wissen ihn. Es ließ sich einfach nicht vertreiben. Azarete warf seinem Begleiter einen abschätzenden Blick zu. Hatte Dantino wirklich mit dem Hochpräses gebrochen, oder spielte er in dessen Auftrag ein perfides Spiel, um den jungen Priester auszuspionieren? Contelapo war verschlagen. Doch Dantino hatte ihn im Tempelhof vor einer großen Dummheit bewahrt. Hätte Azarete dort seinen Gefühlen nachgegeben, wäre er jetzt nicht mehr am Leben. »Ich danke dir, dass du mich zurückgehalten hast«, sagte er. »Ohne dein Eingreifen …« Dantino winkte ab. »Ich konnte die einzige Hoffnung für unser Volk nicht in ihren Untergang laufen lassen. Niemand außer dir wird Contelapo jemals die Stirn bieten.« Der Meinung war Azarete ebenfalls. Auch aus diesem Grund musste er Dantino vertrauen, denn er brauchte einen echten Verbündeten. Zwar hatte er zahlreiche Anhänger, aber die würden nie das Wort gegen den obersten Priester erheben, wenn sie nicht geführt wurden. Dass Dantino vor einem solchen Affront mit seinem bisherigen Herrn nicht zurückschreckte, hatte er bewiesen. »Die Gefährtin des fremden Gottes ist mächtig. Contelapo wird sich diese Niederlage nicht gefallen lassen.« Azarete machte eine abweisende Geste. »Die Fremden sind keine Götter, auch wenn sie über erstaunliche Kräfte verfügen. Ich dachte, du hättest das begriffen.« »Bis vorhin habe ich das auch gedacht. Nun bin ich mir nicht länger sicher. Du hast erlebt, was geschehen ist.« »Dafür gibt es eine rationale Erklärung.« Auch wenn Azarete an Yracht glaubte, war er nicht bereit, Göttliches zu akzeptieren, das sich ihm in Fleisch gewordener Form darstellte.
14 »Ich habe dich im großen Tempelhof beobachtet. Du hast mit Atlan gesprochen.« »Ich wollte ihn vor Contelapo warnen, weil er meine Warnung schon einmal übergangen hat. Er fühlt sich sicher, zu sicher vielleicht.« »Dann willst du es erneut versuchen?« Das fragte sich Azarete auch. Hatte ein weiteres Gespräch mit dem Fremden denn einen Sinn? Er trug selbst die Schuld, wenn er nicht auf die Warnungen hörte. Zweifellos schmiedete Contelapo nach der erlittenen Schmach erst recht an verderblichen Plänen, um seine Macht zu festigen und seine Gegner auszuschalten. Wie Atlan durfte auch Azarete sich nicht sicher fühlen. »Mir bleibt keine andere Wahl. Um eine Veränderung der bestehenden Verhältnisse zu erzwingen, brauche ich die Unterstützung des Fremden.« »Ich werde dich begleiten.« Azarete dachte kurz nach, dann machte er eine verneinende Handbewegung. »Bevor ich Atlan aufsuche, gehe ich zu Tesea. Sicher macht sie sich schon Sorgen.« »Dazu ist jetzt nicht die richtige Zeit.« »Findest du? Durch deinen ehemaligen Herrn hat Tesea unser beider Kind verloren. Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie sie sich fühlt?« So wie ich. Azarete behielt den Gedanken für sich. Noch bis zum heutigen Tage war Dantino sein Gegner gewesen, da wollte er ihm gegenüber seine seelischen Schmerzen nicht offenbaren. Doch Dantino schien auch so zu spüren, was den jungen Priester belastete. Beschämt schaute er zu Boden und flüsterte: »Es tut mir Leid. Trotzdem möchte ich dich begleiten. Einmal bist du Contelapos Attentat entgangen. Nächstes Mal kann das anders aussehen, und es wird ein nächstes Mal geben. Ich kenne ihn. Er gibt keine Ruhe, bevor er seine Ziele erreicht hat, und neben den beiden Fremden stehst du auf seiner verderblichen Liste ganz oben.« »Ich danke dir. Gerade wenn es so ist, würdest du in meiner Begleitung ebenfalls in
Achim Mehnert Lebensgefahr geraten. Jetzt, da ich vorgewarnt bin, passe ich auf mich auf. Warte du hier auf mich, damit wir unser künftiges Vorgehen später beraten können.« Dantino gab schließlich nach, aber es war ihm anzusehen, dass er mit der Entscheidung nicht einverstanden war. Nur aus Respekt beugte er sich den Worten von Contelapos potentiellem Nachfolger in der Hierarchie der Priesterkaste. Azarete sandte ein stummes Gebet an Gott Yracht und bat darum, von seinen Hassgefühlen auf den eigenen Vater erlöst zu werden. Es war sinnlos, sie vergingen nicht. Wie ein Geschwür fraßen sie sich durch seine Eingeweide und machten ihn sich selbst fremd. Ihm dämmerte, dass es nur einen Weg gab, sie loszuwerden und wieder seinen inneren Frieden zu gewinnen. Dieser Weg war Contelapos Tod.
3. Vater und Sohn Die Sonne stand hoch am Himmel, als Azarete über eine steinerne Treppe aus den unterirdischen Kavernen stieg. Straßenlärm und Stimmengewirr empfingen ihn, aromatische Gerüche von über offenen Garstellen Zubereitetem und die säuerlichen Ausdünstungen von Zugtieren, die Lasten durch die verwinkelten Gassen des Markts schleppten. Auch wenn der letzte Einsatz des Kardenmoghers bereits Tausende von Jahren zurücklag, waren die Spuren noch heute zu sehen. Überall gab es Ruinen. In manchen hatten sich Arkasther notdürftig einquartiert. Über wie unter der Erde hatte sich eine Symbiose aus Alt und Neu gebildet. Azarete streckte sich im Schein der wärmenden Sonne. Über dem ganzen Bild schwebte ein Klangteppich, den eine Gruppe von Musikanten mit ihren Ranchen-Instrumenten wob. Sie priesen den Hölzernen Mischal, einen unterarmlangen Avatar von Yracht, den man gegen andere Gaben tauschen konnte und von dem es hieß, er verkörpere das ewige Leben.
Der Turm des Denmogh »… stirbt nicht!«, intonierten die Musikanten, die im Schatten der äußeren Tempelhofmauern kauerten, voller Inbrunst die letzten Worte des heiligen Gesanges. Lebte Yracht wirklich noch? Und wenn ja, wachte er dann noch über sein Volk, oder hatte er es nicht vielmehr längst vergessen? Azarete zuckte heftig zusammen, als ihm die Unbotmäßigkeit seiner Gedanken bewusst wurde. Sein Glaube wurde in diesen Tagen auf eine schwere Probe gestellt. Warum hatte Yracht nicht besser auf Silio Acht gegeben? Ließ sich jeder persönliche Schicksalsschlag mit einer göttlichen Vorsehung oder Prüfung erklären? Zumindest musste es erlaubt sein, daran zu zweifeln, auch wenn Contelapo ihn für eine solche Denkungsweise öffentlich diffamiert hätte. Azarete unterdrückte seine Überlegung, so gut es ihm möglich war. Sekundenlang verharrte er und beobachtete das Treiben in der Umgebung der heiligen Stätten. Als hätte das Konzil mit seinem ungewöhnlichen Verlauf niemals stattgefunden, ging das tägliche Leben seinen normalen Gang. Doch er spürte, dass der Schein trog. Die Arkasther trugen ihre Angst, die von Contelapo mit seinen Lügen am Leben gehalten wurde, in ihrem Inneren bei sich, verborgen unter Panzern aus eigener Haut und fremdem Chitin. Da half auch kein Hölzerner Mischal. Doch Azarete ließ sich nicht täuschen. Seine Berufung als Priester hatte ihn gelehrt, in den Augen der Stadtbewohner zu lesen. Weder entging ihm das ängstliche Flackern noch die in stummer Verzweiflung ausgestoßenen Hilferufe. Die meisten Arkasther vertrauten ihm, mehr als dem Hochpräses allemal. Viele hegten Sympathien und freundschaftliche Gefühle für ihn. Doch hier im Ortskern, in der Nähe der heiligen Stätten, waren zu viele von Contelapos Schergen unterwegs. Wenn ein offenes Wort gegen ihren Herrn laut wurde, waren sie mit ihren Knüppeln schnell bei der Hand. Die Zustände wurden mit jedem Tag schlimmer, erkannte Azarete verbittert. Contelapos Machtdemonstrationen schürten die
15 Furcht unter seinen Artgenossen. Die Arkasther hatten nicht nur Angst vor der Zerstörung ihrer Welt durch den Denmogh, jeder Einzelne zitterte zudem vor dem Zorn Yrachts für eine persönliche Verfehlung. Es tat Azarete weh, in Lumpen steckende Büßer zu sehen, die sich Richtung Heiligtum bewegten, um sich mit ihrer erbärmlichen Habe Absolution zu erkaufen. Es wurde Zeit, dass sich die Verhältnisse änderten. Wenn Atlan der Mann war, als den Azarete ihn einschätzte, konnte er seine Hilfe nicht verweigern. Ohne dass ihn irgendwer darum gebeten hatte, hatte er die entführten Kräuterfrauen aus ihren Verliesen befreit und den Hochpräses damit brüskiert. Azarete setzte sich in Bewegung und wandte sich stadtauswärts. Auch in den Gassen zeigte sich, dass heute kein Tag war wie jeder andere. Manchmal musste man sich seinen Weg durch die Menge mit sanfter Gewalt bahnen, doch diesmal kam der junge Priester mühelos voran. Früher hatte es hier wahrscheinlich großzügig angelegte, breite Straßen gegeben, nun wanden sich die Gassen in abenteuerlichen Kapriolen zwischen den Trümmerhügeln hindurch. Als er eine Kreuzung passierte und in eine Nebengasse einbog, die in nördliche Richtung führte, blieben auch die letzten Passanten hinter ihm zurück. Nur ein gebückt gehender alter Mann, der sich auf einen Holzstab stützte, kam ihm entgegen. Für seinen körperlichen Zustand lief er viel zu schnell, hastig beinahe. Als er den Priester sah, fuchtelte er mit seinem Stock durch die Luft. »Azarete, verschwinde«, haspelte er, wobei ihm Speichel aus den Mundwinkeln lief. »Verschwinde schnell!« Er machte einen Bogen um den jungen Arkasther und war kurz darauf verschwunden. Der Weg vor Azarete war wie leer gefegt. Weiter vorn entstand ein knarrendes Geräusch, dem Augenblicke später donnerndes Getöse folgte. Eine Staubwolke erhob sich zwischen zwei Trümmerhügeln in die Luft und blieb wie erstarrt dort stehen. Es kam
16 häufig vor, dass irgendwelche Gebäudereste einstürzten und alles unter sich begruben. Daher war es klug, sich von solch trügerischen Orten fern zu halten. Azarete tat dies, aber immer wieder wurden Schutz Suchende unter den Trümmern begraben. Auch das kreidete er seinem Vater an. Statt sich unter der Erde einzugraben, hätten längst Aufbauarbeiten an der Oberfläche einsetzen müssen. Azarete hatte die Vision, dass sich hier oben viel von dem, was einst gestanden hatte, wieder errichten ließ. Aber nur wenn alle gemeinsam dafür stritten und nicht von einer Schar alter Männer ausgebeutet wurden, die nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht waren. Als er weiterging, fiel ihm die plötzliche Stille auf. Nur das Schreien eines Panzertiers, das sich aus der Ödnis offenbar in die Außenbezirke verirrt hatte, war aus der Ferne zu hören. Ungewöhnlich, ging es Azarete durch den Sinn. Dabei war hier zumeist eine Menge los. Dass es heute anders war, erklärte er sich mit dem stattgefundenen Konzil. Viele Leute mochten sich unter der Erde in ihren Behausungen verstecken und über das Aufleuchten des Denmogh nachdenken. Wie gewöhnlich wollte Azarete auf dem Heimweg an einem kleinen Marktstand vorbeischauen, von dem er Tesea hin und wieder ein Geschenk mitnahm, wie er es bereits getan hatte, bevor sie ein Paar geworden waren. Nach Silios Tod sollte es etwas besonders Schönes sein, um sie ein wenig aufzumuntern. Zu seiner Überraschung war auch der Stand verwaist, der in der Peripherie eines ehemals prächtigen Gebäudes lag, von dem nur die untere Etage die Zerstörungen halbwegs intakt überstanden hatte. »Jari?«, rief Azarete fragend. Von dem Alten, der sonst hinter dem Bretterverhau stand, war nichts zu sehen. Verwundert hielt Azarete inne, als er die Geräusche von Füßen vernahm. Er fuhr herum und sah ein halbes Dutzend Gestalten auf sich zukommen. Eine Falle!, schrie es in ihm. Deshalb diese Einsamkeit. Contelapos Schergen hatten
Achim Mehnert dafür gesorgt, dass es keine Zeugen gab. Der Alte mit dem Holzstock hatte ihn warnen wollen, aber Azarete war zu töricht gewesen, seine Worte richtig zu deuten. »Verschwindet!«, schrie er, aber sie dachten gar nicht daran. Sie hatten ihm hier aufgelauert, und obwohl Dantino ihn gewarnt hatte, war er in seiner Wachsamkeit nachlässig gewesen. Er warf sich herum, um zu flüchten, aber plötzlich kamen sie auch von der anderen Seite. In beide Richtungen war ihm der Weg abgeschnitten. Azarete keuchte auf, während er ohne Aussicht auf Erfolg versuchte, sich einen Weg zu bahnen. Er kannte die Männer nicht, aber sie konnten nur zu Contelapo gehören. Hände griffen nach ihm, als er die vordere Phalanx der Männer zu überwinden versuchte, drei, vier, ein halbes Dutzend. »Ich bin Azarete, von der Kaste der Priester!«, stieß er aus. Als ob sie das nicht genau wüssten. »Ihr begeht einen schweren Fehler.« Todesahnung befiel ihn, als immer mehr Hände an ihm zogen und zerrten. Und niemand war in der Nähe, der ihm helfen konnte! Dafür hatten sie gesorgt. Aber woher hatten sie gewusst, wohin er unterwegs war? Hatten sie ihn verfolgt, oder …? Mit einem Mal wurde ihm alles klar. Dantino! Der angebliche Überläufer spielte ein doppeltes Spiel und hatte ihn ans Messer geliefert. Ich hätte ihm niemals trauen dürfen. In Erwartung des Todesstoßes warf er sich mit aller Kraft nach vorn, um sich zu befreien, aber gegen die Übermacht hatte er keine Chance. Als ein harter Schlag seinen Kopf traf, wurde es schwarz um Azarete.
* »Dapsorgam?« Verständnislos wiederholte ich das Wort. Ich hatte es nie zuvor gehört, geschweige denn konnte ich mir etwas darunter vorstellen. Kythara ging es nicht anders. »Vielleicht sollte das gute Nacht heißen«,
Der Turm des Denmogh spekulierte Gorgh. Bei einem anderen Wesen hätte ich die Bemerkung für einen Scherz gehalten, doch aus dem Mund des Insektoiden klang sie völlig rational. Behutsam stieß er das Saqsurmaa, dessen Körper sich in regelmäßigen Abständen hob und senkte, wie es aufgrund der Atmung auch bei Menschen und Arkoniden geschah, mit einer seiner Greifzangen an. Dass es nicht auf die Berührung reagierte, bewies, wie tief und fest es schlief. »Wie ein kleines Kind. Es ist gesättigt, und nun schläft es«, stellte Kythara einen Vergleich an, während sie begann, sich des Kleides zu entledigen. Mit geschmeidigen Bewegungen schlüpfte sie in ihre Raumkombi und legte ihre zusätzliche Ausrüstung an. »Status deiner anzuzeigenden Systeme?« »Hundert Prozent«, konstatierte sie, nachdem sie sämtliche Funktionen kontrolliert hatte. »Einschließlich der Deflektoranzeigen. Bei unserem nächsten Ausflug kommt es hoffentlich zu keinen technischen Ausfällen mehr.« Sie deutete auf das Saqsurmaa. »Meinst du, es hat die ganze Zeit über in diesem Würfel gesteckt?« »Seit den verheerenden Ereignissen um den Urschwarm? Seit gut 546 Millionen Jahren?« Ich zuckte die Achseln. »Wenn ich ehrlich bin, kann ich die Länge dieses Zeitraums nicht einmal halbwegs begreifen. Vielleicht war der Würfel Emions Rettung, von Litrak bewusst ausgewählt. Vielleicht griff aber auch eine kosmokratische Schutzvorrichtung. Ich weiß es wirklich nicht.« »Damit bist du ja in guter Gesellschaft. Das Saqsurmaa hat die Jahrmillionen zwar überlebt, aber es ist zu Verlusten in seiner Erinnerungsstruktur gekommen. Unser Würmchen weiß also auch nicht mehr zu erzählen.« »Vielleicht soll es das nicht. Die Schutzvorrichtung könnte nicht nur Emions Überleben gesichert haben, sondern zusätzlich eine Garantie darstellen, die verhindert, dass Unbefugte Informationen über die Vergangenheit erhalten, die sie nichts angehen.«
17 »Du denkst an eine Sicherung der Kosmokraten?« »Ich halte sie sogar für wahrscheinlich. Vielleicht soll sie verhindern, dass das Saqsurmaa zu viel ausplaudert, sollte es in die Hände der Chaotarchen fallen. Weder Litrak noch die Kosmokraten konnten schließlich voraussehen, in wessen Begleitung das Saqsurmaa wieder aufwacht.« Während ich mich ebenfalls daranmachte, mich der einheimischen Kleidung zu entledigen und meinen Schutzanzug anzulegen, musste ich wieder einmal an die Blockade meiner Erinnerung denken – ein schwarzes Loch in meinen Gedanken, das ebenfalls auf das Konto der Kosmokraten ging. Einst war ich durch die Materiequelle GOURDEL ins Reich der Hohen Mächte gelangt, um in ihrem Auftrag tätig zu werden. Doch als ich zurückkehrte, besaß ich keinerlei Erinnerungen mehr an die Zeit hinter den Materiequellen. Bei Emion konnte es sich so ähnlich verhalten. Und falls die Erinnerungslücken wirklich auf die Kosmokraten zurückzuführen waren, stand eines fest: Sie hatten Emion noch eine Funktion zugedacht, ebenso wie das bei mir der Fall gewesen war – und noch immer war, wie ich vermutete. Wer die Vorgehensweise der Kosmokraten kannte, wusste, dass sie den Aufwand einer Erinnerungsblockade nicht betreiben würden, stünde nicht auch ein Eigeninteresse dahinter. Eher hätten sie das Saqsurmaa getötet. Sie hatten schließlich bereits ganze Völker oder gar Galaxien geopfert, wenn das ihren Zwecken diente. Steckte also doch Litrak ganz allein hinter Emions Rettung? Nachdem ich meinen Schutzanzug angelegt hatte, kontrollierte ich seine Funktionen und teilte Kythara meine Überlegungen mit. Sie musterte das Saqsurmaa, dessen Lebenszeichen durch das rhythmische Heben und Senken des schlauchförmigen Körpers ausgedrückt wurden. »Wir wissen also immer noch nichts Genaues. Na schön. Zumindest scheint es sich zu erholen. Viel Schlaf bedeutet Regenerati-
18 on.« Die Varganin schloss die doppelt handgroße Gürtelschnalle ihrer eng anliegenden Kombination und kontrollierte die Taschen und Etuis, mit denen der Gürtel bestückt war. »Vielleicht kehren seine Erinnerungen zurück, wenn es wieder im Vollbesitz seiner Kräfte ist.« Ich hatte den Eindruck, dass ihre Gedanken um ein ganz anderes Thema kreisten, und sprach sie darauf an. In ihrem Gesicht zuckte es verräterisch. »Es ist dieser Planet«, sagte sie so leise wie bestimmt. »Parkasthon? Ich begreife nicht, worauf du hinauswillst.« »Öffne die Augen. Dies ist eine ehemalige Varganenwelt, und schau dir an, was daraus geworden ist. Und nicht nur diese Welt könnte so aussehen. So etwas ist eine entsetzliche Vorstellung für ein nahezu ausgelöschtes Volk.« »Es war eure eigene Waffe, die das angerichtet hat«, hielt ich ihr vor. »Ich rede nicht von dem Kardenmogher, sondern von der herrschenden Priesterkaste, die sich alle Mühe gibt, die bestehenden Verhältnisse zu konservieren.« Auch das war bedrückend, da musste ich ihr Recht geben. Solange Männer wie Contelapo das Sagen hatten, würden sich die Zustände auch nicht ändern. Mit einem geistlichen Führer Azarete war das vielleicht anders. »Ich verstehe diese Handlungsweise nicht.« Gorghs metallischer Schutzanzug, der den Chitinpanzer nur am Kopf und den Gliedmaßen frei ließ, produzierte eine Reihe knisternder Geräusche. Der Daorghor ließ von dem Saqsurmaa ab und gesellte sich zu uns. »Sie widerspricht dem kollektiven Interesse der Arkasther, da lediglich einige Individuen davon profitieren. Warum streben die anderen keine Veränderung der Verhältnisse an?« Mir lag eine sarkastische Entgegnung auf der Zunge. Volksverdummung! Ich verkniff sie mir, da ich nicht wusste, ob der Chefwissenschaftler von Maran'Thor mit dem Be-
Achim Mehnert griff etwas anfangen konnte. Stattdessen sagte ich: »Religion wird in vielen Gesellschaften dazu benutzt, ihre Anhänger für bestimmte Ideale zu missbrauchen.« »Wie kann das sein?« Ich warf dem Daorghor einen überraschten Blick zu. Er mochte zwar mit seinem Lebensumfeld, das um die Lordrichter von Garb kreiste, gebrochen haben, aber tief im Innern hatte er noch nicht begriffen, wie stark das dahinter stehende quasireligiöse Weltbild zur Unterjochung seines Volkes beigetragen hatte. Der insektoide Wissenschaftler hatte noch einen weiten Weg vor sich. Wie wir alle.
* Die orangefarbene Sonne Arka schälte sich aus der Dunkelheit, winzig wie der Kopf einer Nadel zunächst, dann aber rasch zu einem leuchtenden Fleck wachsend. Einsam schwebte sie in einem Nichts aus Schwärze, bis sie sich unversehens verdoppelte. Wie die beiden Komponenten eines binären Systems umkreisten die Sonnen einander, aber dann verloren sie an Geschwindigkeit, wurden immer langsamer, bis sie Seite an Seite zum Stillstand kamen und den umliegenden Raum erhellten. Die Züge eines Gesichts entsprangen daraus, die Sonnen verwandelten sich in ein Paar wunderschöner orangefarbener Augen. Teseas Augen. Azarete gab ein Stöhnen von sich, als Schmerz durch seinen Kopf zuckte. Sein Mund war trocken und seine Lippen spröde, als er mit der Zungenspitze darüber fuhr. Allmählich kehrten die Lebensgeister in seinen Körper zurück. Sein Kopf lag auf seiner Brust, stellte er fest, als er die Augen aufschlug. Tesea! Für einen Moment glaubte er sie zu sehen, aber sie war nicht da. Dafür zwei grobschlächtige Burschen, Wächter mit derber Bekleidung und Harnischen, die ihn gelang-
Der Turm des Denmogh weilt betrachteten. Sie saßen auf hölzernen Schemeln und vertrieben sich die Zeit mit einem Geflecht aus Holzstäben, die sie abwechselnd umlegten. Anscheinend war es der Sinn des Spiels, die Hölzer nach Farben zu sortieren. Azarete saß auf dem Boden, mit dem Rücken gegen eine Wand gelehnt. In seinem Hinterkopf pochte ein schwacher Schmerz. Er wollte nach der malträtierten Stelle tasten, aber das ging nicht, weil seine Hände über dem Kopf gefesselt und an einem in die Wand eingelassenen Ring befestigt waren. Er hatte die Männer, die ihn bewachten, nie zuvor gesehen, auch nicht in Contelapos Umfeld, aber er hatte keinen Zweifel, dass sie im Dienst des Hochpräses standen. »Wo … bin ich?«, krächzte er. Seine Stimme klang wie ein rostiges Scharnier, sein Gaumen kratzte wie raues Chitin. Die Frage konnte er sich auch allein beantworten. Er steckte in einem armseligen Verlies, zweifellos irgendwo in den ausgedehnten Höhlensystemen unterhalb der Hauptstadt Cortasta. »Wo ist … Contelapo?« Und wo dieser Verräter Dantino? »Was interessiert dich Contelapo?« »Er war es doch, der euch geschickt hat.« »Du irrst dich.« Einer der beiden Männer erhob sich. Seine Holzschuhe klapperten hohl auf dem felsigen Untergrund. »Der Hochpräses hat nichts damit zu tun.« »Wer sonst sollte ein Interesse daran haben, mich gefangen zu setzen?« Azarete zog prüfend an den Stricken, mit denen er angebunden war. Da war nichts zu machen, erkannte er. Die Schergen hatte ganze Arbeit geleistet, ihre Knoten saßen fest. »Wie lange sollt ihr mich hier festhalten?« »Sei nicht so neugierig. Es ist besser für dich, wenn du nichts weißt.« »Sag ihm doch die Wahrheit«, nuschelte sein Komplize. »Er kommt hier ohnehin nicht mehr raus. Denk an Contelapos Worte.« Damit hatte Azarete die Bestätigung. Nicht nur dafür, wer der Auftraggeber der beiden Büttel war, sondern auch darüber,
19 dass sie ihn umbringen sollten. Doch wieso hatten sie das nicht gleich getan, sondern ihn verschleppt? Wahrscheinlich ließ sein Vater ihn so lange als Faustpfand am Leben, wie er meinte, ihn noch brauchen zu können. Allzu lange würde das allerdings nicht sein, deshalb musste er fliehen. Nur wie? Azarete stieg auf die Beine und ruckte an seinen Fesseln. »Gib dir keine Mühe. Wenn du uns das Leben nicht schwer machst, lassen wir dich in Ruhe. Jedenfalls bis wir andere Befehle bekommen.« Seine Wächter lachten gehässig und widmeten sich wieder ihrem Spiel. Was erwarteten sie? Sie glaubten doch nicht wirklich, dass er sich ruhig verhielt und tatenlos auf sein Ende wartete? Doch genau das taten sie, und dummerweise hatten sie Recht mit ihrer Einschätzung der Lage. Der Strick gab keinen Deut nach, er schnitt lediglich in Azaretes Handgelenke, als er daran zerrte. »Ich möchte mit Contelapo sprechen«, verlangte er. »Geht und holt ihn.« Seine Wächter antworteten nicht einmal. Unbeeindruckt widmeten sie sich ihrem Spiel, bis von außen jemand dumpf gegen die Tür klopfte. »Hier ist Dantino«, ertönte eine Stimme. »Was will der denn hier?« Die beiden grobschlächtigen Kerle schauten einander ratlos an, dann erhob sich erneut der, der bereits zuvor zu Azarete gegangen war. Er bewegte sich zur Tür und riss sie mit einem Ruck auf. Mit ernstem Gesichtsausdruck stand Dantino davor. »Ich komme, um den Gefangenen zu verhören.« »Man sagt, du folgst ihm. Es heißt, du hast Contelapo verlassen.« Dantino lächelte. »Dann ist alles so geschehen, wie wir es geplant hatten. Aber weder Contelapo noch ich werden es ausgerechnet dir erklären. Los, und nun lass mich zu diesem Aufrührer!« Azarete schalt sich einen Narren. Wie hatte er nur auf diesen Blender hereinfallen können? Die ganze Zeit über hatte er ein
20 doppeltes Spiel gespielt, und nun kam er, um sich vom Erfolg seiner Ränke zu überzeugen. Azarete wollte ihn anschreien, aber er unterdrückte den Impuls. Diesen Triumph eines unkontrollierten Gefühlsausbruchs wollte er Dantino nicht gönnen. Der Berater kam mit großen Schritten auf ihn zu, hielt aber mitten in dem Verlies inne. Plötzlich geschah alles so schnell, dass Azarete erst begriff, als es vorbei war. Auch die Wächter waren viel zu überrascht von dem Angriff, um reagieren zu können. Bevor sie wussten, wie ihnen geschah, lagen sie blutend am Boden. »Und jetzt nichts wie raus hier!«, stieß Dantino aus. Mit dem Messer, mit dem er die Wächter niedergestochen hatte, zerschnitt er Azaretes Fesseln. Es war getränkt mit Blut, und er ließ es achtlos fallen. »Wir müssen verschwunden sein, bevor jemand Verdacht schöpft. Kannst du laufen?« Der junge Priester nickte. Wie im Traum eilte er hinter seinem Befreier her, gleichzeitig von Erleichterung wie schlechtem Gewissen wegen seines Misstrauens Dantino gegenüber gepackt. Beiläufig registrierte er, dass die Wächter sich nicht rührten. Sie waren tot. »Wir müssen zu Atlan«, forderte er, während er neben Dantino herlief. So Leid es ihm tat, aber Tesea würde noch länger auf ihn warten müssen. Zwar schmerzte sein Kopf noch ein wenig, aber ansonsten ging es ihm gut. »Du hast deinen Plan also nicht aufgegeben.« »Es ist der einzige mit Aussicht auf Erfolg.« »Das wird sich zeigen, wenn es uns gelingt, zu Atlan vorzudringen. Contelapo will das Konzil heute Abend fortsetzen, deshalb patrouillieren seine Anhänger überall.« Damit hatte Azarete gerechnet, und die Wachgänge würden sich weiter verschärfen, wenn seine Flucht entdeckt war. Doch davon ließ er sich nicht abschrecken, denn mit der Unterstützung durch Atlan und seine goldhäutige Begleiterin stiegen seine Chan-
Achim Mehnert cen auf einen Sturz des Hochpräses.
* »Du treibst ein gefährliches Spiel«, warnte Demir. Er tastete über sein drittes Auge, das schwarz schillernde Metallstück, das zwischen den Brauen in seine Haut gepflanzt war und dem Volk die angebliche Mächtigkeit des Magiers vorgaukeln sollte. Contelapo machte eine herrische Handbewegung. »Hör mit diesem Unsinn auf, oder willst du mich beeindrucken?« »Ich will dich nur warnen. Atlan braucht kein Gott zu sein, um deinen Plan zu durchschauen. Ich an seiner Stelle wäre jedenfalls misstrauisch, von dir ein solches Geschenk zu erhalten.« Der Hochpräses betrachtete die bauchige Flasche in seinen Händen, in der eine rötliche Flüssigkeit schwappte. Der Inhalt war eine traditionelle Gabe zu besonderen, höchst seltenen Anlässen an wenige auserwählte Personen und daher entsprechend selten und kostbar. Einem Gott aus einer anderen Welt stand sie in jedem Fall zu. Contelapo ärgerte sich, dass er nicht früher auf diese Idee gekommen war, dann wäre das Problem mit den falschen Göttern längst erledigt. Doch noch war es nicht zu spät für seinen rettenden Einfall. Durch ihn konnte er sich Atlans und Kytharas auf einen Schlag entledigen. Kein zweites Mal würden sie ihm bei einem Konzil die Schau stehlen! »Was tätest du an meiner Stelle?« »Ich werde nie an deiner Stelle sein, aber ich rate dir, die falschen Götter in der Öffentlichkeit zu entlarven. Wenn es dir gelingt, das Volk gegen sie aufzustacheln, wird man sie vertreiben.« Demir grinste. »Oder besser noch – töten. Ohne dass du selbst damit in Verbindung gebracht wirst.« »Das Volk ist töricht, aber es hängt am Leben. Nachdem die Fremden beim Konzil ihre Macht unzweifelhaft unter Beweis gestellt haben, wird niemand auch nur eine Hand gegen sie erheben.«
Der Turm des Denmogh Die erlittene Niederlage nagte an dem Hochpräses. Auch wenn er sich noch immer nicht erklären konnte, was Atlans Weib getan hatte, war er sicher, dass keine göttlichen Faktoren bei ihrem Tun eine Rolle gespielt hatten. Wenn sie einen technischen Zauber eingesetzt hatte, hoffte er sich den aneignen zu können, sobald sein Plan in die Tat umgesetzt war. Contelapo und sein Seher liefen durch die unterirdischen Kavernen. Jeder, der ihnen begegnete, machte bereitwillig Platz. Contelapo beobachtete die Reaktionen der Arkasther ganz genau. Wenn sein Ansehen Schaden genommen hatte, wagte niemand, ihn das spüren zu lassen. Noch nicht. Aber eine weitere Niederlage gegen die Fremden durfte er sich nicht leisten. Azaretes Anhänger murrten ohnehin, und sie waren forsch genug, mit ihren Hetztiraden gegen den Hochpräses öffentlich zu werden. Bisher hatten sie sich nicht einschüchtern lassen, aber er war nahe daran, sie bald mundtot machen zu können. Wenn seine Leute seine Befehle ohne Pannen umgesetzt hatten, gehörte das Problem Azarete endgültig der Vergangenheit an. Die beiden Männer passierten eine Gangkreuzung und gelangten in einen Korridor, der sich sanft abwärts neigte. Muffiger Geruch kroch ihnen entgegen, und aus einer unbestimmten Richtung war das Geräusch sich bewegenden Wassers zu vernehmen. Die uralten steinernen Leitungen, deren Erbauer unbekannt waren, verströmten ihren Geruch von Fäulnis und Fäkalien in die angrenzenden Bereiche. Hier hätte ich Atlan einquartieren sollen, sagte sich Contelapo. Doch so verlockend die Vorstellung war, so unausführbar war sie auch. Trotz seiner kollektiven Feigheit hätte das Volk ihm nämlich nicht verziehen, wenn er sich offen gegen die Götter gestellt hätte. Zumindest hätte es angefangen, Fragen zu stellen, die Azarete noch mehr Anhänger in die Arme getrieben hätten. »Heute Abend werde ich das Konzil weiterführen«, kündigte er seinem mächtigsten
21 Seher an. »Du wirst dir ein paar Überraschungen für das Volk einfallen lassen. Wir müssen die Wankelmütigen zum Verstummen bringen. Danach kümmern wir uns um Azaretes Anhänger. Wenn er verschwunden ist und sie nicht mehr führt, wird die meisten ohnehin der Mut verlassen.« Wenig später lag der Eingang zu Atlans Quartier vor den Männern. Mit knappen Worten schickte Contelapo die beiden Wächter fort. Er spürte Demirs Blicke auf sich lasten. Am liebsten hätte der Magier, dessen Atem schneller ging als sonst, noch auf der Schwelle kehrtgemacht und das Weite gesucht. So wohl, wie er vorgab, fühlte sich auch der Hochpräses nicht in seiner Haut. Wenn Atlan wirklich Verdacht schöpfte, konnte ihm die Situation entgleiten. Irgendwie musste er dann einen möglichst würdevollen Rückzug antreten, der ihn vor den falschen Göttern und seinem Seher nicht schlecht aussehen ließ. Stumm bat er Yracht um Beistand, dann betrat er das kurze Gangstück, das zum Höhlenquartier der falschen Götter führte.
4. Durch die Unterwelt Der Tempelbezirk und die angrenzenden Wohnbereiche erstreckten sich viele Kilometer unter den Hängen und Gipfeln des Kardedor-Gebirges. Obwohl Azarete die Kavernen durch zahlreiche Exkursionen bekannt waren, verlief er sich schon allein aufgrund der schieren Ausdehnung und der frappierenden Ähnlichkeiten noch immer regelmäßig. Das Verlies, in dem er untergebracht worden war, lag in einem Bereich, den er nie zuvor gesehen hatte. Er konnte dort wochenlang umherirren, ohne ihm bekanntes Terrain zu finden. »Wie hast du mich … aufgespürt?«, fragte er, als er neben Dantino durch einen kahlen Gang lief. Zellentüren, die in regelmäßigen Abständen in die Wände eingelassen waren, zeigten ihm, dass es hier viel mehr
22 Verliese gab, als er jemals gedacht hätte. Die meisten von ihnen standen offen. Zu seiner Erleichterung. Dem Schuft von Contelapo hätte er zugetraut, noch sehr viel mehr unliebsame Personen als Gefangene zu halten. Doch vielleicht waren sie auch an anderer Stelle eingekerkert. »Ich bin dir gefolgt, zum Glück.« Dantino machte eine abwehrende Handbewegung. »Ich weiß, ich habe gegen deine Anweisung verstoßen, aber das muss man manchmal. Du bist zu gutgläubig.« Azarete lächelte. »Ohne dein Eingreifen wäre mein Leben keinen Tierpanzer mehr wert.« »Freu dich nicht zu früh, noch sind wir nicht entkommen. Wir sind nicht einmal auf dem direkten Weg. In der anderen Richtung liegen die Wohnbereiche von Contelapos Gefolgschaft. Sie könnte ich nicht übertölpeln, daher bleibt uns nichts anderes übrig, als sie zu umgehen.« »Aber du weißt zumindest, wo wir entlanggehen, richtig? – Richtig?« Dantino machte eine ausweichende Bemerkung. Sie hatten eine Gangkreuzung erreicht, und der gut aussehende Berater schaute sich unsicher um. Zögernd entschied er sich für den nach links führenden Korridor. Also war er sich über den richtigen Weg keineswegs klar, sondern verließ sich auf sein Gefühl. Ein paarmal glaubte Azarete Stimmen aus der Ferne zu vernehmen, aber weder ließ sich abschätzen, aus welcher Richtung noch aus welcher Entfernung sie kamen. In diesem Labyrinth aus Röhren mochten sie kilometerweit tragen. Vielleicht, so überlegte er nervös, waren sie hier sogar noch zu hören, nachdem ihr Erzeuger längst tot war … War so etwas überhaupt möglich? Mittlerweile war er bereit, fast alles für denkbar zu halten. Die Männer passierten eine Reihe von Kreuzungen und Gabelungen und änderten mehrmals die Richtung. Mit jedem Meter fühlte sich Azarete weiter in eine fremde
Achim Mehnert Welt versetzt, dabei war er zeitlebens in Kardedor zu Hause gewesen. Zum ersten Mal wurde ihm richtig klar, welch geringen Teil des Tempelbezirks er nur kannte. Er war so ausgedehnt und unüberschaubar, dass es Jahre dauern würde, ihn vollständig zu erforschen, zumal das Mauerwerk an manchen Stellen eingebrochen war und den Durchgang verwehrte. Kamen sie anfangs noch zügig voran, wurden Dantino und er später immer wieder aufgehalten und zu unfreiwilligen Richtungsänderungen gezwungen, wenn vor ihnen ein Korridor verschüttet war. Zweimal mussten sie sogar umkehren und nach einem anderen Weg suchen. Trotzdem wurden die Gänge ständig besucht, anders ließen sich die Fackeln an den Wänden nicht erklären. Es gab sie zwar nur sporadisch, doch einige wenige Lichtinseln waren immer noch besser als völlige Dunkelheit. Azarete wurde immer unruhiger, weil er nicht wusste, was draußen vor sich ging. Er traute seinem Vater alles zu. Wenn Contelapo von seiner Flucht erfuhr, ließ er seine Wut darüber womöglich an Tesea aus, oder er entführte sie erneut, um sie als Druckmittel gegen ihn zu benutzen. Beruhige dich, redete der junge Priester sich ein. Das wird er nicht erneut wagen, um keine weitere Brüskierung durch Atlan zu riskieren. Hin und wieder schaute er sich um, um sich zu vergewissern, dass nicht plötzlich lautlose Verfolger hinter ihnen waren. Wie weit waren sie schon gelaufen? Und wie lange? Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren, aber sein Verstand sagte ihm, dass sie noch keine Stunde unterwegs sein konnten, denn er spürte keine Anzeichen von Ermüdung. Doch jeder Schritt in dem unterirdischen Reich gaukelte seinem Geist eine verrinnende Ewigkeit vor, verunsicherte ihn, gab ihm das Gefühl, in einem in sich abgeschlossenen Labyrinth ohne Ausgang gefangen zu sein. Die Mauern drohten ihn zu erdrücken. Klaustrophobisch! Ungleich schlimmer
Der Turm des Denmogh als in Contelapos Verlies! »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir jemandem über den Weg laufen«, sagte er, mehr zu sich selbst. »Das möchte ich vermeiden, aber ich fürchte, das wird sich auf Dauer nicht vermeiden lassen.« »Du hättest dein Messer nicht wegwerfen sollen. Wenn wir auf Contelapos Schergen treffen, haben wir keine Waffe, um uns zu verteidigen.« »Ich hätte es behalten, wenn es meine einzige Waffe gewesen wäre.« Dantino hob seinen Umhang. Eine weitere Klinge aus Chitin steckte in einer Messerscheide an seiner Seite. »Aber versprich dir nicht zu viel davon. Sobald die Priester uns entdeckt haben, werden sie zur Hetzjagd auf uns blasen. Dann bleibt uns sowieso nur noch die Flucht.« Und zweifellos war Azaretes Flucht inzwischen bemerkt worden. Er konnte sich vorstellen, wie Contelapos Gefolge ausschwärmte, um ihn zu jagen und ihm endgültig den Garaus zu machen. Abermals wechselte Dantino die Richtung. Azarete war jetzt sicher, dass auch er längst die Orientierung verloren hatte. Keiner von ihnen hatte noch eine Ahnung, wohin sie sich bewegen mussten. Er konnte die Himmelsrichtung, in die sie liefen, nicht einmal schätzen. Ein Säulengang lag vor ihnen, hoch aufragend bis zu einer gewölbten Decke, die mit einem moosartigen Überzug bedeckt war, das schwaches Licht verbreitete. Es roch muffig, und Feuchtigkeit lag in der Luft. Entweder gab es in der Nähe Grundwasser, einen Wasserlauf, oder die Nässe sickerte von der Erdoberfläche durch die Bodenschichten herab. »Wie tief sind wir eigentlich?« »Ich … kann es dir nicht sagen.« Dantino klang hilflos, und er blieb einfach stehen. In seinem Gesicht arbeitete es angestrengt, als er sich um seine eigene Achse drehte und in die Richtung spähte, aus der sie gekommen waren. »Hier war ich noch nie, aber diese Säulen erinnern mich an etwas.«
23 Auch Azarete hatte ähnliche Steinsäulen schon an anderen Stellen des Tempelbezirks gesehen. Kolossal ragten sie in die Höhe und stützten das Gewölbedach. Fresken unbekannter Motive, an manchen Stellen abgebröckelt oder nicht mehr zu erkennen, verzierten ihre Oberflächen. »Sie helfen uns nicht weiter«, murmelte er. »Wir brauchten so etwas wie einen Plan, auf dem die Kavernen und Stollen verzeichnet sind.« »Darüber denke ich gerade nach. Contelapo besitzt Aufzeichnungen, die seine Vorgänger angefertigt haben. Er hält sie unter Verschluss, aber seine Seher und ich als sein Berater konnten manchmal einen Blick darauf werfen. Diese kreuzförmige Anordnung dort vorn kommt mir bekannt vor. Nimm eine Fackel!« Ohne Ankündigung lief Dantino los, beiläufig eine Fackel von der Wand reißend. Azarete tat es ihm gleich. »Was hast du vor?« »Komm schon! Wenn ich mich nicht irre, gibt es dahinter eine Treppe, die in die Höhe führt.« »Dein Wort ins Yrachts Namen.« Azarete schickte eine stumme Beistandsbitte an seinen Gott und eilte hinter Dantino her. Ein triumphierender Ausruf ließ ihn zusammenzucken. Als er den ehemaligen Berater des Hochpräses einholte, wurde ihm schlagartig leichter ums Herz. Vor ihnen führte eine schmale Steintreppe nach oben. Doch seine Freude währte nur Sekunden, denn plötzlich ertönten Schreie in ihrem Rücken. Azarete fuhr herum und erstarrte. Ihre Verfolger hatten sie gefunden.
* »Wie kann das sein?«, wiederholte Gorgh seine Frage. In den Facettenaugen funkelte es, die Antennenfühler vibrierten sanft. Wunderbar. Beginne also einen theologischen Disput, du Narr, höhnte der Extrasinn. Und sieh zu, wie du das alles einem in Gruppenzwängen denkenden Insektoiden ver-
24 ständlich machst. »Besitzen diejenigen, die in einer Religion wortführend sind, stets die Macht über andere?«, fragte Gorgh. »So, wie es Contelapo tut?« »Leider viel zu oft.« Ich erinnerte mich an manche dunklen Epochen in der Geschichte der Menschheit, die ich miterlebt hatte. »Viele religiöse Führer und ihre Priester hieven sich selbst in gottähnliche Positionen. Statt für das Volk da zu sein, wie es ihr Glaubenssystem lehrt, drohen sie auf mehr oder weniger unterschwellige Weise mit den Sanktionen, die darin vorkommen.« Ein System, das fast immer zu Lasten der Armen und Schwachen ging. Ich hatte gelernt, es zu verachten, wenn es von findigen Priestern wie Contelapo zu weltlichen Zwecken ausgenutzt wurde. »Warum erheben sich die Gläubigen nicht gegen die Bevormundung?« »Weil sie Gläubige sind. Aus Angst vor göttlicher Strafe. Ein Gläubiger tut beinahe alles, um das ewige Leben zu erlangen. Manchmal opfert er in einem Akt des Fatalismus sein sterbliches Dasein sogar freiwillig. Religiöse Eiferer benutzen ihre eigenen Körper als Waffen, um Angst und Terror zu verbreiten. Leute wie Contelapo wissen das und machen es sich zunutze.« »Und alle machen mit? Das ist fast wie …« Gorgh verstummte und wiegte nachdenklich den Kopf. Seine Antennen vibrierten. »… wie Erzherzog Garbhunars Macht über uns. Aber …« »Sprich es ruhig aus.« Kythara legte dem Wissenschaftler eine Hand auf die rechte Schulter. »Eure Treue gegenüber den Lordrichtern und dem Schwert der Ordnung entspringt ähnlichen Beweggründen.« »Nein«, rief Gorgh-12, »nein, sicher nicht, nein!« Seine Mandibeln klackten, auf und zu, auf und zu. Er knickte in einer ungeschickten Bewegung unter der Hand der Varganin weg. »Das ist nicht zu vergleichen. Wir Daorghor sind … logisch orientiert. Am Gemeinsinn. Rational. Das … ist nicht das … Gleiche.«
Achim Mehnert Er sah sich betreten um. »Oder?« Wir blieben ihm die Antwort schuldig. Es gibt Wege der Erkenntnis, die man alleine gehen muss, und Gorgh-12 befand sich mitten auf einem solchen. Kythara wandte sich mir zu. »Ich möchte diesen großspurigen Contelapo lieber heute als morgen zu Fall bringen.« Ich gab ein unwilliges Knurren von mir, dabei konnte ich mich ihrem Wunsch nicht verschließen. Von Anfang an hatte ich den Hochpräses der Yracht-Kirche nicht leiden können. Er war die personifizierte Verkörperung sämtlicher Vorbehalte, die ich gegen die meisten Vertreter institutionalisierter Glaubensgemeinschaften hegte. Religion stiftet auch Trost, warf mein Extrasinn ein. Sowohl ihre Doktrin ist dazu in der Lage als auch die bloße Anwesenheit an einem spirituellen Ort wie einer Kirche. Selbst die tröstenden Worte eines Priesters können positiv auf das Seelenheil eines Trauernden wirken. Zweifellos hatte er Recht. Ich hatte es in meinem Leben oft genug erfahren, aber das war hier überhaupt nicht von Belang. »Mit unserer Ausrüstung dürfte es uns keine Schwierigkeiten bereiten, Contelapo aus Amt und Würden zu jagen.« Es war schon immer leichter, etwas bloß umzustürzen, als einen Prozess der Veränderung einzuleiten. Du willst doch keine verbrannte Erde hinterlassen, auf der sich zwei verfeindete Parteien gegenüberstehen? Natürlich hatte ich das nicht vor, schließlich gab es Azarete, dem ich zutraute, die Entfremdung innerhalb seines Volks zu reparieren. Unter Contelapo hingegen würde die Kluft zwangsläufig noch größer werden. Der Extrasinn hatte natürlich wieder seine eigene Meinung zu meiner Überlegung. Es entbehrt nicht einer gewissen Arroganz, als Außenstehender, der du bist, eine solche Entscheidung für ein anderes Volk zu trefen. Diese Entscheidung hat Azaretes Volk längst getrofen, konterte ich. Es braucht lediglich den Impuls, sie auch in die Tat umzusetzen. Wenn du willst, kannst du meine
Der Turm des Denmogh Sichtweise als Arroganz klassifizieren. Zu meiner Überraschung schwieg der Extrasinn. »Wir können nicht auf eigene Faust vorgehen.« Bei dem Charisma, das Kythara auch in diesem Augenblick ausstrahlte, hatte ich keinen Zweifel, dass sie das durchaus konnte. »Der Weg kann nur über den jungen Priester führen.« Ich nickte. Nach dem, was wir seit unserer Ankunft auf Parkasthon erlebt hatten, hegte ich die Vermutung, dass Azarete ähnliche Überlegungen anstellte. Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als ein Klopfen am Zugang zu unserer Unterkunft erklang. Zu meiner Überraschung war es nicht Azarete, der uns einen Besuch abstattete, sondern der Hochpräses Contelapo.
* Dantino zog ihn einfach mit sich. Als Azarete die Stufen emporsprang, blieb das Bild der herbeistürzenden Getreuen seines Vaters zurück. Es waren sieben oder acht, die durch den Säulengang huschten. Trotz des Zwielichts glaubte er die pure Mordlust in ihren Augen lesen zu können. Sie wollten ihn nicht einfangen, sie wollten ihn umbringen. Azarete bedauerte, nicht über Contelapo hergefallen zu sein, als er im Tempelhof die Möglichkeit dazu gehabt hatte. Auch wenn es sein eigenes Leben gekostet hätte, wäre den Arkasthern ohne den Hochpräses vielleicht eine bessere Zukunft beschieden gewesen. Jetzt aber standen die Zeichen wieder gut für Contelapo. Die Stufen waren schmal und ausgetreten. Zunächst geradeaus führend, erlebte die Treppe nach ein paar Metern Höhenunterschied einen gewendelten Fortsatz. Er war so eng, dass keine zwei Männer nebeneinander Platz gefunden hätten. Ringsum gab es keinen Ausstieg auf eine andere Ebene der unterirdischen Welt, die steinernen Stufen waren direkt aus massivem Gestein geschlagen. Azaretes Gedanken überschlugen sich,
25 während er hektische Blicke hinter sich warf. Führte die Treppe an die Oberfläche von Arkasth? Und wenn ja, in welchen Teil der Stadt würde sie Dantino und ihn speien? Oder war sie nur die Verbindung zwischen zweien der unterirdischen Bereiche? Von den Verfolgern war nichts zu sehen, dazu war der Aufstieg zu stark gekrümmt, aber ihre Stimmen folgten ihm. Die konservativen Mitglieder der Priesterkaste dachten gar nicht daran, ihre vermeintliche Beute entkommen zu lassen. Mit Schrecken stellte sich Azarete vor, dass jemand von oben kam. Wenn das geschah, saßen Dantino und er wie die Grorcht-Ratten in der Falle. »Kennst du diesen Weg?« »Verdammt, nein! Obwohl ich vorhin den Eindruck hatte.« Wenn er bereits fluchte, war es nicht gut bestellt. Azarete schwenkte seine Fackel. Zum Glück hatte Dantino die Eingebung gehabt, sie mitzunehmen, denn in dem Treppenschacht gab es kein Licht. In der Dunkelheit wären die Flüchtenden hoffnungslos gestürzt. Doch auch so war der Aufstieg auf den steinernen Stiegen nicht ungefährlich. Manche waren so schmal, dass sie nicht dem ganzen Fuß Platz boten. Die wütenden Rufe aus der Tiefe trieben ihn an – oder besser: die Furcht davor, was mit ihm geschehen würde, bekäme die rasende Meute ihn zwischen die Finger. Der junge Priester schätzte, dass Dantino und er einen Höhenunterschied von dreißig Metern bewältigt hatten, als seitlich der Stufen ein schwarzes Loch gähnte, rechteckig und nur zur Hälfte geöffnet. Die andere Seite wurde von einer massiven Metallplatte versperrt. Der Durchgang war für körperlich größere Wesen gebaut, daher war er für die beiden Arkasther allemal breit genug. Fetzen feinen Vlieses bedeckten den offen stehenden Teil des Eingangs, der anscheinend seit langer Zeit von niemandem mehr passiert worden war. Azarete fragte sich, wohin der Eingang führte. Sein neuer Verbündeter schien diese Bedenken nicht zu haben.
26 »Hier hinein!« Dantino wischte das Gespinst mit der Fackel beiseite und sprang in den dahinter liegenden Raum. Lieber hätte Azarete die Flucht nach oben fortgesetzt. Er musste seine Anhänger aus den Reihen der Reformatoren um sich scharen, wenn er eine Überlebenschance über diesen Tag hinaus haben wollte, doch für lange Diskussionen blieb ihm keine Zeit. Ohne Dantino traute er sich nicht zu, dieses Labyrinth jemals wieder zu verlassen, also folgte er ihm. Ein Raum von fünf mal fünf Metern Kantenlänge schälte sich aus der Dunkelheit. Bis auf einen quaderförmigen Block in einer Ecke war er leer. Metallisch schimmerten die Wände im Schein der Fackeln und warfen das Licht zurück, als seien es Spiegel. Doppelt mannshoch erhoben sie sich und mündeten in eine Decke, die mit unbekannten Symbolen versehen war. Auch wenn Azarete sie nicht verstand, erinnerten sie ihn an eine Art von Zeichenschrift. Hatte er solche Darstellungen nicht bereits gesehen? Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. »Der Altar im Kuppelraum ist mit ähnlichen Zeichen versehen.« »Ich habe es ebenfalls erkannt, aber das ist kein Grund, hier zu verweilen«, drängte Dantino. »Contelapos Schergen sind gleich hier.« Ihre Schritte und Stimmen waren bereits zu hören. »Wir hätten auf der Treppe bleiben sollen. Hier sitzen wir in der Falle.« Azaretes Stimme klang vorwurfsvoller als beabsichtigt. Noch waren sie in Freiheit, und in der gegenüberliegenden Wand gab es einen Durchlass, der als Fluchtmöglichkeit dienen konnte. Gemeinsam hetzten die beiden Männer hinüber, und Azarete spürte sein Herz rasen. Der Schmerz in seinem Kopf machte sich wieder stärker bemerkbar, aber es gelang ihm, ihn zu unterdrücken. Diesmal erreichten sie keine leere metallische Kammer, keinen weiteren Gang und keine Kaverne. Stattdessen wuchs ein Gewölbe vor den beiden Männern in die Höhe, zwanzig Meter oder mehr hoch, das sich zu
Achim Mehnert einer Kuppel verjüngte. Eine unheimlich aussehende Konstruktion aus Röhren und Gestänge hing scheinbar haltlos in ihrem Zenit. Doch nicht sie schlug Azarete in ihren Bann, sondern die Einrichtung des unüberschaubaren Gewölbes.
* »Was verschafft uns die Ehre deines Besuches?« Es war mir gleichgültig, dass meine Worte vor Spott troffen. Der Hochpräses konnte ruhig wissen, woran er war. Wir wussten es bei ihm schließlich auch, sein Blick auf Kythara sprach Bände. Er hatte ihr nicht verziehen, was im Tempelhof geschehen war. Sicher hätte er ihr gern eine Klinge an die Kehle gehalten, aber er war kein Mann, der offen vorging. Dafür hatte er seine Handlanger und sein Intrigenspiel. War die bauchige Flasche, die er bei sich trug, Teil davon? Eine rötliche Flüssigkeit schimmerte darin, die mich ein wenig an irdischen Wein erinnerte. Contelapos Blick wanderte weiter zu Gorgh und dem schlafenden Saqsurmaa, das zusammengerollt in einem Winkel der Höhle auf dem Boden lag. Erst als er mich ansah, erschien ein unterwürfiges Lächeln in seinem Gesicht. Es war so falsch wie seine Bemühungen um die Arkasther. Trotzdem erwiderte ich es, denn ich war neugierig, was ihn zu uns trieb. »Wir sind gekommen, um unseren Gästen die Ehre zu erweisen, die ihnen zusteht«, antwortete sein Seher Demir an seiner Stelle. Er griff an sein drittes Auge, als vollführte er damit eine spirituelle Handlung. »Besser spät als nie«, gab ich ungerührt zurück. »Diesem Zweck dient also euer Gastgeschenk.« Contelapo hielt mir die Flasche hin. »Ein edler Tropfen für die unerwartet aufgetauchten Götter. Ihr müsst meine Nachlässigkeit entschuldigen, ihn dir und deiner Begleiterin nicht früher offenbart zu haben. Wir waren
Der Turm des Denmogh schlechte Gastgeber.« Daher wehte also der Wind. Erniedrigte sich der Hochpräses tatsächlich vor uns? Wohl kaum. Ein Danaergeschenk, raunte der Extrasinn. Das dir aber, wenn ich die richtigen Schlüsse ziehe, nicht viel ausmachen wird. Mir nicht, wohl aber meinen Gefährten. Sie besaßen keinen Zellaktivator, der toxische Substanzen neutralisierte. Sie durften also auf keinen Fall etwas von der Flüssigkeit zu sich nehmen, wollten sie sich nicht vergiften. »Das ist sehr nobel«, sagte Kythara. Sie schaffte es sogar, Dank vortäuschend den Kopf zu senken. »Dann sollten wir alle zusammen davon trinken.« Ich grinste still in mich hinein. Hätte Contelapo zugestimmt, hätte er mich damit über seine Motive eines Besseren belehrt, doch das wäre einer plötzlichen Umkehrung der Schwerkraftverhältnisse gleichgekommen. »Das … dürfen wir nicht.« Verunsichert sah Demir zu seinem Herrn. »Das Geschenk ist allein für die Götter bestimmt. Yracht wird uns nicht verzeihen, wenn wir ebenfalls davon kosten.« Lass es uns ihnen in die Hälse schütten, dann haben sich sowohl unsere als auch Azaretes Probleme erledigt, schlug Kythara mir gedanklich vor. Eine reizvolle Idee, aber ich war kein Mörder. Auch nicht, wenn es sich um solche Lumpen wie Contelapo und seinen Seher handelte. In mir brodelte es. Ich war nahe daran, den Hochpräses mit seiner vergifteten Gabe aus der Höhle zu jagen. Doch eine derartige Zurückweisung hätte er als Zeichen für die Undankbarkeit der falschen Götter öffentlich missbraucht. Damit hätte ich auch Azarete, der sich uns nahe fühlte, geschadet. Aber es gab noch eine andere Möglichkeit, die den gedrungenen Priester viel stärker beeindrucken musste. »Ich danke dir für dein Geschenk. Allerdings steht es auch meiner Gefährtin nicht zu, sondern ausschließlich mir«, verkündete ich großspurig. Ehe Contelapo sich's versah,
27 hatte ich ihm die Flasche aus der Hand genommen. Ich öffnete sie, setzte sie mir an die Lippen und trank mit großen Schlucken von ihrem Inhalt. Demir wurde bleich. »Das erlaubt Yracht nicht. Ihr alle müsst von dem Geschenk trinken, um ihn nicht zu beleidigen.« Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was in seinem Kopf vor sich ging. Er erwartete, dass ich im nächsten Moment tot umfallen würde. Dann würde Kythara begreifen, dass ich vergiftet worden war, und ihn womöglich mit ihrer göttlichen Macht zerschmettern. Contelapo, der seine Gedanken teilte, schwankte wie Schilfrohr im Wind. Das schlohweiße, schulterlange Haar, das sein Gesicht umrahmte, verlieh ihm den Ausdruck einer Totenfratze. Er wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus. Ich spürte die Impulse des ZellaktivatorChips, der gegen das dem Wein beigemengte Gift ankämpfte. Er verhinderte, dass ich Schaden dadurch erlitt. »Ein bisschen zu süß für meinen Geschmack.« Ich trank die letzten Schlucke, bis die Flasche leer war, und reichte sie dem kleinen, gedrungenen Mann zurück. »Trotzdem kannst du mir bei Gelegenheit gern mehr davon bringen.« Contelapo starrte mich an. Er glaubte an seinen Gott Yracht, doch was ging ihm bei meinem Anblick durch den Kopf? Wie sollte er sich meine fehlende Reaktion auf seinen Giftanschlag erklären? Schließlich hatte er noch nie von einem Zellschwingungsaktivator und dessen Fähigkeiten gehört. Er verliert seine Fassung, warnte mich Kythara. Er verkraftet nicht, dass du nicht stirbst. Anscheinend stürzt heute zu viel auf ihn ein, was er nicht begreift. Mit keiner Regung zeigte ich, dass ich mich auf die Abwehr eines körperlichen Angriffs einstellte. Mit meinen Dagor-Fähigkeiten war Contelapo kein ernsthafter Gegner für mich, auch nicht, wenn er überraschend eine Waffe zückte. Doch der Hochpräses war viel zu konster-
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Achim Mehnert
niert, außerdem zeigte sich wieder seine Schwäche Autoritätspersonen gegenüber. »Das wirst du bezahlen«, stieß er aus, sich seiner eigenen Worte anscheinend nicht einmal bewusst. »Auch Götter können sterben, doch du bist kein Gott. Du bist nur ein Schwindler.« »Und du ein Ausbeuter und Unterdrücker, der seinem Volk schadet.« Ich konnte mir die Antwort nicht verkneifen, auch wenn sie bedeutete, dass Contelapo eine Bestätigung für seine Zweifel erhielt. Damit waren die Fronten endgültig geklärt, doch das war mir allemal lieber als ein ständiges Versteckspiel. Demir packte seinen Herrn bei den Schultern und zog ihn mit sich Richtung Ausgang. Widerstandslos ließ Contelapo sich fortführen. Ich war sicher, dass er nicht lange brauchen würde, um sich von diesem neuerlichen Schlag zu erholen. Spätestens danach würde sein Hass auf mich ins Unermessliche wachsen. »Du weißt, dass er ab jetzt erst recht alles an unseren Tod setzen wird.« Ich schaute Kythara an. »Und wo liegt da der Unterschied zu bisher?«
5. Artefakte Die Artefakte, die in dem Gewölbe angehäuft waren, erinnerten Azarete an den Kuppelraum mit dem Altar und an die Halle der wechselnden Bilder. Anscheinend hatte er Werkzeuge des gleichen Gottes vor sich, denn kein Arkasther war in der Lage, solche Dinge herzustellen. »Gepriesen sei Yracht«, flüsterte er voller Ehrfurcht. Mit einem Aufschrei ließ Dantino seine Fackel fallen, als überraschend Licht aufflammte. Es drang aus einem quaderförmigen Kasten, dessen Seiten so lang waren wie ein Unterarm. Er stolperte zurück, als griffe das Licht ihn an. Gleichzeitig ertönten Stimmen vom Eingang her. Die Verfolger waren da und ver-
sperrten den Rückweg zur Treppe. Gehetzt sah Azarete sich um. Diesmal war er es, der seinen Begleiter antreiben musste. Gemeinsam liefen sie um einen Aufbau aus Dutzenden oder Hunderten rätselhafter Dinge herum, die beinahe bis zur Decke des Gewölbes reichten. Sekundenlang hatte Azarete die verwegene Hoffnung, dass die Verfolger zurückblieben. Unschlüssig hielten sie inne, und ihre Stimmen erklangen nur noch gedämpft. Anscheinend stritten sie über ihr weiteres Vorgehen. Vielleicht hatten sie Angst vor den Artefakten und kehrten freiwillig um, um kein Sakrileg zu begehen. Auch Azarete fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Ängstlich erwartete er, dass Yracht eine Demonstration seiner Macht gab. So wie vor Stunden im Tempelhof. Doch nichts geschah, was auch Contelapos Anhänger mutiger werden ließ. »Gebt endlich auf!«, rief einer von ihnen. »Wenn ihr euch ergebt, habt ihr nichts zu befürchten.« »Für wie dumm halten die uns eigentlich?«, zischte Azarete seinem Begleiter zu, als sie sich hinter einen Stapel aus verschieden großen Kästen duckten. Sie erinnerten den jungen Priester an diejenigen, die die wechselnden Bilder produzierten, nur dass die hier keinen Mucks von sich gaben. Dennoch beging er nicht den Fehler, einen davon zu berühren, um ihn nicht aus seinem Schlaf aufzuwecken. »Hinter uns geht es nicht weiter.« Azarete schaute sich um, aber auch er entdeckte keinen weiteren Zugang zu dem Gewölbe. Wenn sie es wieder verlassen wollten, dann nur durch den Eingang, durch den sie gekommen waren. Doch ihre Verfolger schienen das zu ahnen. Zwei von ihnen hatten sich mit gezückten Messern am Zugang postiert, während ihre Kumpane ihre Scheu endgültig überwunden hatten. Ihnen ging es nicht anders als den meisten Arkasthern – sie hatten größere Angst vor Contelapo als vor dem Denmogh. »Wir müssen kämpfen«, überlegte Danti-
Der Turm des Denmogh no, als Contelapos Anhänger sich aufteilten. »Eine andere Möglichkeit gibt es nicht, denn sie kommen von beiden Seiten.« »Yracht wird uns beschützen.« Azarete schickte ein Stoßgebet himmelwärts und wurde gleichzeitig von heftigen Zweifeln befallen. Was war, wenn Dantino und er Yracht gleichgültig waren und der Gott Besseres zu tun hatte, als ihnen zu helfen? Wenn auch die Gegenseite Yracht mit einem Gebet um Beistand bat, konnte er sich nicht gegen sie wenden. »Da sind sie.« Dantino zog sein Messer, doch damit hatte er gegen die Angreifer keine Chance. Azarete erkannte lange Dolche aus Chitin in ihren Händen, groß genug, einen Arkasther in zwei Hälften zu teilen. Als Dantino gegen ihn stieß, wollte er in die andere Richtung ausweichen. Auch dort war ihnen der Weg abgeschnitten, ebenso wie im hinteren Bereich des Gewölbes. Verzweifelt schlug er mit der Fackel, um sich seine Gegner vom Leib zu halten. Auch wenn es der ungünstigste Moment überhaupt war, musste er plötzlich an Tesea denken. Sollte sie nach ihrem Kind auch noch dessen Vater verlieren? Das durfte auf keinen Fall geschehen! Sie würde diesen zweiten Verlust gewiss nicht verkraften, und dann hätte Contelapo auf ganzer Linie gesiegt. Ein verwegener Gedanke nahm in seinem Kopf Gestalt an. Eine Richtung blieb übrig, wohin sie sich wenden konnten. Direkt in das Innere von Yrachts Artefakten hinein. Er winkte Dantino, ihm zu folgen, und erkletterte einen Vorsprung. »Was … was hast du vor?«, stammelte Dantino. Das zuvor aufgeflammte Licht, das nach wie vor brannte, strahlte ihn von unten an. Verlieh es ihm ein unheimliches Aussehen, oder waren Contelapos Anhänger durch sein Tun so schockiert, dass sie buchstäblich erstarrten? Regungslos beobachteten sie, wie er an den Kästen in die Höhe kletterte. Dantino unternahm keine Anstalten, sich zu wehren. In Azaretes Griff schlotterte er vor Angst, ließ sich aber bereitwillig mitziehen.
29 »Du bist verrückt!« Einer der Verfolger hatte seine Sprache wiedergefunden. »Yracht wird dich verbrennen und nichts von dir übrig lassen. Der Hochpräses wird zufrieden sein.« Das musste sich erst noch zeigen. Außerdem wollte Azarete sich lieber von seinem Gott verbrennen als von den Häschern seines Vaters ermorden lassen. Verbissen kletterte er weiter, tiefer hinein in die Ansammlung unverständlicher Artefakte, von denen jedes ein Heiligtum war. Er achtete darauf, keines davon zu beschädigen, dabei hatte er eine an Sicherheit grenzende Ahnung, dass ihm das überhaupt nicht möglich war, selbst wenn er es darauf angelegt hätte. »Warum zürnt Yracht ihm nicht?«, hörte er einen von Contelapos Häschern rufen. »Wenn Azarete nichts zu befürchten hat, kann auch uns nichts geschehen.« Es folgten ein paar scharfe Entgegnungen, die Azarete nicht verstand. Die Männer schienen zu streiten. Er konnte sie kaum noch sehen, doch ihren Geräuschen nach zu urteilen, wagten sie es schließlich, ihm auf seiner Klettertour zu folgen. Als er den Kopf verdrehte, erkannte er, dass zwei von ihnen noch immer am Ausgang standen. »Dantino, komm endlich zu dir!«, herrschte er seinen Verbündeten an. »Du wirst mir zu schwer. Wenn ich dich weiterhin mitschleifen muss, werden wir beide abstürzen.« Er bekam eine glatte Fläche aus Metall zu fassen und zog sich daran empor. Sie war so kalt, dass sie ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Dafür brachte sie Dantino wieder zur Besinnung. Azarete spähte in die Tiefe. Abermals hatten die Verfolger sich aufgeteilt. Auch wenn sie zögerlich vorgingen, näherten sie sich aus unterschiedlichen Richtungen. Einen von ihnen hatte er aus den Augen verloren, und das war beinahe sein Verderben. »Vorsicht!«, gellte Dantinos Warnung, und Azarete reagierte instinktiv. Er duckte sich, als plötzlich das Gesicht eines der Verfolger vor ihm auftauchte, verlor den Halt
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und ruderte wild mit den Armen. Er spürte einen Luftzug, als ein Messer die Luft zerteilte, ihn aber verfehlte. Dann kippte er über die Kante der Plattform und riss Dantino mit sich. Sein entsetzter Aufschrei verlor sich in den Weiten des Gewölbes, sein Leben raste an ihm vorbei, als er in den Abgrund fiel … und mit einem atemraubenden Schlag aufkam. Wieder pochte dumpfer Schmerz in seinem Kopf, aber weitere Verletzungen hatte er sich nicht zugezogen. Dantino ächzte neben ihm. »Willst du uns umbringen?« Der junge Priester wollte antworten, aber er brachte kein einziges Wort heraus. Denn die Artefakte erwachten. Oder Yracht? Azarete wusste es nicht. Er sah nur dieses Licht, das inmitten des Aufbaus aus dem Nichts erwuchs. Schneller, als irgendwer überhaupt reagieren konnte, wuchs es in einem der Kästen und raste daraus hervor, wurde zu einem einzigen gleißenden Strahl der Sonne Arka. Zu einem Lichtblitz aus Teseas Augen, der kam, um ihn zu retten. Oder um ihn zu vernichten für seine Zweifel? Sein Körper gehorchte keinem Befehl, war wie betäubt, eine leblose Hülle, in der sein Geist zum Zuschauen verurteilt war. Azarete sah … sah die Messer von Contelapos Anhängern, die im Nichts verschwanden, aus dem der Lichtstrahl auftauchte. Sah die Körper der Männer in Flammen aufgehen. Hörte ihr Schreien. Spürte für scheinbar endlose Augenblicke die Hitze, die über ihn hinwegfegte, und wünschte, von Dunkelheit umfangen zu werden. Doch die Dunkelheit kam nicht, auch nicht, als der Lichtstrahl wieder erlosch.
* Staub zu Staub. Doch nicht einmal der war geblieben.
Fassungslos starrte Azarete auf die Stelle, an der Sekunden zuvor vor seinen Augen zwei Männer aufgelöst worden waren. Zu nichts verbrannt. Ihm war schlecht, aber er durfte sich nicht gehen lassen, denn weitere Anhänger Contelapos waren in der Nähe. »Komm hoch.« Hilfreiche Hände griffen nach ihm. Mit einem Ruck zog Dantino ihn in die Höhe. »Alles in Ordnung?« Azarete antwortete nicht. Bevor er sich aufrappeln konnte, kletterten die Verfolger zwischen den Artefakten hervor. Ihre Bewegungen waren fahrig, ihre Messer hatten sie entweder weggesteckt oder verloren. Statt sich auf ihn zu stürzen, wie sie es ursprünglich vorgehabt hatten, wichen sie vor ihm zurück. »Begreift ihr nun, wem Yrachts Unterstützung gilt?«, wandte Dantino sich an sie. »Ihr folgt dem falschen Herrn.« Die Männer waren zu keiner Antwort fähig. Am ganzen Körper zitternd, bewegten sie sich rückwärts zum Ausgang hin. Azarete war sicher, dass die kleinste Bewegung seinerseits genügte, um sie aus Angst um ihr Leben rennen zu sehen. »Verschwindet endlich!«, herrschte Dantino sie an. »Bevor Yracht euch Grorcht-Ratten ebenfalls zu sich holt.« Azarete kam auf die Beine, als Contelapos Anhänger flüchteten. »Ich verstehe das nicht«, sagte er matt. »Was gibt es da zu verstehen? Hauptsache, wir sind sie los.« »Du weißt genau, was ich meine. Wieso hat Yracht das getan?« Azarete schaffte es nicht, das Grauenhafte auszusprechen. Er zeigte auf die Stelle, wo die beiden Männer zu Fackeln geworden und danach spurlos ins Nichts verschwunden waren. Dantino straffte seine Gestalt und schaute Azarete in die Augen. »Keine Inkarnation Gottes hat das getan, sondern diese Artefakte.« Er zögerte. »Auch wenn ich nicht begreife, was ich darunter verstehen soll. Doch eins weiß ich ganz genau: Yracht hat nichts damit zu tun.« »Aber wieso ist es dann geschehen?«
Der Turm des Denmogh »Zufall? Schicksal? Ich kann es dir nicht sagen.« Azarete warf Dantino einen skeptischen Blick zu. Schicksal? War das nicht nur eine weitere göttliche Komponente, die Vorherbestimmung in sich barg? Er trat zwei Schritte vor und blieb direkt vor dem Kasten stehen, aus dem der Blitz entsprungen war. Wenn es einmal geschehen war, konnte es wieder geschehen. Trotzdem verspürte er keine Angst, betrachtete nur die Symbole auf dem Metall, die in rechteckigen Feldern angeordnet waren. Er erkannte, dass Felder und Symbole in einem direkten Zusammenhang standen. Wenn er ihn doch nur begriffen hätte! Zaghaft streckte er eine Hand aus, ließ sie keine Daumenbreite über einem der Felder schweben und verharrte, weil ihn eine innere Stimme warnte. Was, wenn er bei seinem Sturz eines der Felder berührt und den Blitz dadurch ausgelöst hatte? »Wir müssen gehen.« »Ja, sicher.« Azarete machte eine zustimmende Geste und zog die Hand endgültig zurück. Hier würde er ohne weiteres Wissen höchstens eine Katastrophe auslösen. »Willst du noch immer zu Atlan vordringen?« Azarete überlegte. Einerseits bestand weiterhin die Möglichkeit, Atlan als Verbündeten auf seine Seite zu ziehen, andererseits musste er seine Leute um sich scharen. Wenn Contelapo, wie Dantino behauptet hatte, das Konzil noch heute fortsetzen wollte, blieb nicht mehr viel Zeit. »Du wirst in meinem Namen zu Atlan gehen«, entschied er. »Berichte ihm, was geschehen ist. Wenn er uns helfen will, hat er heute Abend die Gelegenheit dazu.« »Und wenn er nicht glaubt, dass du mich geschickt hast?« »Er wird dir glauben. Ich bin sicher, dass er, auch wenn er kein Gott ist, zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden kann. Danach wirst du, egal wie Atlans Entscheidung aussieht, wieder zu mir stoßen.« Nun, da sie nicht länger verfolgt wurden
31 und panikerfüllt durch das unterirdische Labyrinth hasteten, fanden sie den Rückweg beinahe auf Anhieb.
* Zuerst dachte ich, der Hochpräses sei zurückgekommen, doch diesmal war es sein ehemaliger Berater, der uns in unserem Quartier besuchte. »Azarete schickt mich mit einer Botschaft.« Dantino verbeugte sich. Ich konnte nicht erkennen, wem seine Demut galt. Fremden Göttern oder lediglich fremden Sterblichen mit großer, wenn auch erklärbarer Macht? Ich nahm Blickkontakt mit der Varganin auf. Zwar hatten wir miterlebt, wie Contelapos früherer Berater dem Hochpräses die Gefolgschaft aufgekündigt und sich auf Azaretes Seite geschlagen hatte, aber wir hatten auch erfahren, dass Contelapo ein Meister der Ränke und des Verwirrspiels war. Ich traute ihm einen weiteren Winkelzug in seiner Verschleierungstaktik zu. Keine Gefahr, signalisierte Kythara mir. Er sagt die Wahrheit. Dantino zögerte. Als weder sie noch ich antworteten, ergriff er wieder das Wort. »Contelapo wird das Konzil fortsetzen und den Denmogh erneut beschwören. Doch diesmal will Azarete ihn davon abhalten.« Was nicht ohne Gewalt abgehen würde, wie mir klar war. Wenn Contelapo seine Macht erhalten wollte, blieb ihm keine andere Möglichkeit, als mit aller Härte gegen seinen Sohn vorzugehen. Dass er dazu bereit war, hatte sein Attentat bewiesen. »Wann?«, fragte ich nur. »Bei Einbruch der Dunkelheit.« Also blieb nicht mehr viel Zeit. Immerhin verringerte Contelapos Vorhaben die Wahrscheinlichkeit, dass er bis dahin einen weiteren Schlag gegen die Varganin und mich führte. Er hatte genug mit seinen Vorbereitungen zu tun. Ich schaute zu dem Saqsurmaa hinüber, das sich allmählich zu regen begann. Ich hoffte, dass es vor unserem Auf-
32 bruch zum Kardenmogher rechtzeitig wieder aufwachte. »Was erwartet Azarete von uns?«, fragte Kythara. »Er hat dich doch nicht nur geschickt, um uns das mitzuteilen.« »Azarete braucht jede Hilfe, die er bekommen kann.« Ich konnte Dantinos ausweichende Worte nachvollziehen, da er nicht definitiv wusste, woran er mit uns war. Seiner Weltanschauung zufolge mochten wir wirklich Götter sein. »Dann wünschen wir ihm, dass er sie erhält«, kam mir Kythara zuvor, was ihr einen verärgerten Blick von mir einbrachte. Sie quittierte ihn, ohne eine Miene zu verziehen. Dantino wandte sich an mich, er ignorierte Kytharas Aussage einfach – typisch für diese Gesellschaft, in der Frauen wenig galten. Selbst Göttinnen. »Welche Antwort darf ich Azarete überbringen?« »Du hast es gehört«, brachte ich hervor. »Wünsche ihm viel Glück.« Mir entging das Zittern von Dantinos Lippen nicht. Natürlich hatte er einen positiven Bescheid erwartet und war umso enttäuschter, dass wir seinen neuen Herrn offenbar seinem Schicksal überließen. Ich erwartete, dass er noch etwas sagte, aber er drehte sich einfach um und verließ wortlos unser Quartier. Sogar der mögliche Zorn der Götter über sein unbotmäßiges Verhalten war ihm gleichgültig. Mit ihm hatte Azarete tatsächlich einen ergebenen Gefolgsmann gefunden. »Denke an den Kardenmogher.« Mit raschelnden Bewegungen gesellte sich der Daorghor zu mir und sah aus seinen Facettenaugen zu mir herauf. »Wenn Contelapo in Bedrängnis gerät, macht er vielleicht einen Fehler bei dessen Erweckung.« »Gorgh hat Recht«, pflichtete Kythara dem Insektoiden bei. »In seiner Unwissenheit kann Contelapo selbst Schaden an dem Kardenmogher anrichten. Wir müssen ihm zuvorkommen und die Aktivierungsprozedur durchführen.« Nichts anderes hatte ich vor. »Bist du sicher, diesmal die Kontrolle über ihn zu ge-
Achim Mehnert winnen?« »Es gibt keine Sicherheit, das musste sogar Magantilliken erfahren. Aber beim zweiten Versuch kann ich die Instrumente meines Anzugs einsetzen. Ich habe bereits einen Eindruck davon bekommen, wie der Kardenmogher zu handhaben ist.« Einen Eindruck, mehr nicht, und geholfen hatte der auch nicht. Wo ist deine Risikobereitschaft geblieben?, stichelte der Extrasinn. Schließt du dich neuerdings denen an, die Probleme auf die lange Bank schieben? Unsinn, belehrte ich ihn. Du weißt, dass meine Entscheidung längst gefallen ist. Und Kythara kannst du ohnehin nicht aufhalten, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Erinnert dich das nicht an einen gewissen Kristallprinzen, den ich einst kannte? Statt mich auf das Geplänkel einzulassen, ging ich zu dem Saqsurmaa. Auch wenn es durch Zufall zu uns gelangt war, musste ich das Geheimnis lösen, das es umgab. Was hatte Emion uns mit Dapsorgam sagen wollen? Was verbarg sich hinter diesem Begriff? »Es erwacht«, stellte ich fest. »Das ist gut, denn ich werde es nicht zurücklassen.« »Und mich auch nicht«, warf Gorgh ein. »Kythara und du – ihr kommt mit euren technischen Hilfsmitteln unbemerkt zum Tempelhof. Emion und ich werden auf herkömmlichem Weg folgen. Wir wissen nicht, was genau dort geschehen wird, also müssen wir improvisieren, auch wenn das eine Vorgehensweise ist, die ich verabscheue. Und wenn wir vor Ort sind, können wir nicht getrennt werden. Und wer weiß, vielleicht können wir beide euch ja sogar helfen.« Der Gedanke behagte auch mir nicht, aber ich sah keine Alternative. Wenn die Aktivierungsprozedur gelang, war vorstellbar, dass wir keine Gelegenheit mehr erhielten, noch einmal in unser Quartier zurückzukehren.
6. Pilgerzug
Der Turm des Denmogh Unzählige Arkasther waren in den unterirdischen Gängen unterwegs. Ich vermutete, dass an der Planetenoberfläche nicht viel weniger Betrieb herrschte. Längst hatte sich auch bei den Einwohnern von Cortasta, die dem Konzil nicht beigewohnt hatten, herumgesprochen, was am frühen Tag geschehen war. Während Kythara und ich im Schutz unserer Deflektorfelder Richtung Tempelhof schlichen, fingen wir zahlreiche Bruchstücke von Unterhaltungen auf. Sie hatten alle den gleichen Inhalt. Die Inkarnation des Gottes Yracht war erwacht, doch eine fremde Göttin mit goldener Haut hatte den Denmogh niedergeworfen. Ein zweites Mal wollte niemand dieses Schauspiel verpassen. Weniger wäre mehr, meldete sich die Varganin gedanklich, wobei sie dem losen Strom ihrer Landsleute auswich. Diese Leute finden nicht alle im Tempelhof Platz. Es wird zu Ausschreitungen kommen. Auch ich selbst war ständig bemüht, keinen der Arkasther zu berühren, um kein Aufsehen zu erregen. Schließlich wurde es mir zu bunt, und ich aktivierte das GravoPak meines Schutzanzugs, stieg bis an die Decke des Korridors empor und schwebte über den Köpfen der Gläubigen. Aus dieser Position sah ihr Pilgerzug sehr beeindruckend aus. Sekunden später war Kythara an meiner Seite. Dank der Antiflex-Schaltung unserer Helmvisiere konnten wir uns gegenseitig sehen, blieben den Arkasthern aber verborgen. In der Luft kamen wir wesentlich schneller voran, und zu unserem Glück behielt der Gang, durch den wir flogen, seine Abmessungen bei. So hatten wir den ganzen Weg über genug Platz. Der Korridor erweiterte sich zu einer Kaverne von acht Metern Durchmesser. Mein fotografisches Gedächtnis ließ keinen Zweifel, in welche Richtung wir uns wenden mussten. Aus mehreren Gängen strömten Arkasther, es mussten Hunderte sein, und sie alle marschierten auf den gleichen Gang zu, der sie näher an den Tempelhof führen wür-
33 de. Dabei sahen wir nur einen Ausschnitt des Pilgerzugs an die heilige Stätte. Unwillkürlich dachte ich an Azarete. Wahrscheinlich waren die Voraussetzungen für einen Umsturz in seinem Sinne nie besser gewesen, doch sie glichen einem Ritt auf Messers Schneide. Wenn der Funke erst entzündet war, blieb nur noch ein Schritt bis zu einem blutigen Bürgerkrieg. An diesem Durcheinander seid ihr nicht ganz unschuldig, warf mir der Extrasinn vor. Oder um es nett auszudrücken: Ihr bringt Bewegung in die Sache. Seine berechtigte Kritik ließ mich keineswegs kalt, denn ich hätte mit einer solchen Entwicklung rechnen müssen. Nun konnte ich nichts mehr tun. Oberstes Ziel für Kythara und mich blieb der Kardenmogher, dessen Machtmittel wir gegen die Psi-Quelle benötigten. Ich war froh, dass niemand meine Überlegungen mitbekam, denn sie hätten mich in einem schlechten Licht dastehen lassen. Sie zeugten von einer gefühllosen Kälte, die mir nicht gerecht wurde. Meine Hoffnungen ruhten auf Azarete. Der junge Priester durfte es nicht zum Äußersten kommen lassen! Dort vorn gibt es Streit. Kytharas Einwurf minimierte meine Hoffnungen auf einen friedlichen Fortgang der Ereignisse. Zwei Gruppen von Arkasthern standen sich gegenüber und beschimpften einander lautstark. Alle schrien gleichzeitig und versuchten sich gegenseitig zu übertönen, sodass ich kaum etwas verstehen konnte. Doch worum es bei dem Streit ging, war ohnehin offensichtlich. Contelapos Anhänger und Azaretes Reformatoren beharkten sich. Zwar war es bisher noch zu keinen Handgreiflichkeiten gekommen, doch die würden nicht mehr lange auf sich warten lassen. Ich verzögerte meinen Flug und schwebte über den Köpfen der beiden Gruppen. Mitten in der Kaverne stehend, behinderten sie die Nachrückenden, die sich einen Weg an den steinernen Mauern vorbei bahnten. Nur beiläufig registrierte ich, dass an einer Seite Metallplatten verbaut worden waren, die
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einst zu dem varganischen Doppelpyramidenraumer gehört hatten. Was hast du vor? In Kytharas Gedankenimpuls schwang Ungeduld mit. Wir haben eine andere Aufgabe, also beweg dich endlich. Unter uns eskalierte die Situation. Die ersten Arkasther schlugen aufeinander ein, und es kam zu einem wilden Durcheinander, als sie zu Boden stürzten und andere zu Fall brachten. Komm endlich, Arkonide! Ich zögerte, doch dann gab ich mir einen Ruck und folgte der Varganin quer durch die Kaverne. Hier konnte ich ohnehin nichts ausrichten, wollte ich meine Waffen nicht einsetzen, und dazu war ich nicht bereit. Wir folgten einem weiteren Korridor, der uns zu einer hölzernen Treppe brachte, die an die Oberfläche führte. Auch hier war die aufgeladene Atmosphäre zu spüren. Was hatte Azarete vor, und wie verhielten sich Contelapos Anhänger? Da der Hochpräses nicht naiv war, dürfte er eine Aktion seines Sohnes erwarten. Ohne dass uns jemand bemerkte, gelangten wir an die Oberfläche von Parkasthon, wo es allmählich zu dämmern begann.
* Fackeln brannten an den Außenwänden der Hütten und erhellten die Gassen. Noch war es nicht dunkel, aber Arka tauchte bereits hinter den Horizont und war nur noch als verwaschene, orangefarbene Sichel zu erkennen. Sie zitterte hinter der Lufthülle und schien zu zwinkern. »Wenn ich nur die Zeichen deuten könnte«, flüsterte Azarete. »Wir dürfen uns jetzt keinen Fehler leisten.« Beinahe die ganze Stadt war auf den Beinen. Die Arkasther spürten, dass die bevorstehende Zeremonie sich von früheren unterscheiden würde, aber nur ein Bruchteil von ihnen konnte dem Konzil persönlich beiwohnen. Der Rest musste wie so oft vor den trennenden Mauern ausharren. Azarete emp-
fand die Vorstellung als allegorisch, denn nicht nur die Mauern des Tempelhofs galt es einzureißen, wenn er das Volk wieder einen wollte. Auch die Barrieren in den Köpfen mussten fallen, die unterschiedlichen Ansichten, die sein Vater und er hegten, zu einem Konsens gebracht werden, sollte es nicht zu einer dauerhaften Spaltung kommen. Mit einer Schar seiner Getreuen und Dantino an seiner Seite näherte er sich dem Zentrum des Tempelbezirks. Die Leute ließen ihn bereitwillig passieren. Viele jubelten ihm zu, manche schlossen sich ihm spontan an. Vereinzelte Anhänger Contelapos hatten sich unter sie gemischt, aber in der Öffentlichkeit wagten sie nicht, gegen ihn vorzugehen. »Azarete!«, riefen die Arkasther und: »Nieder mit Contelapo!« In der Anonymität des Zuges, der sich dem Tempelhof näherte, fassten selbst die sonst eher Zurückhaltenden Mut. Sie ließen ihrer Wut auf die Ungerechtigkeit, der sie sich durch den Hochpräses und seine Kaste ausgesetzt sahen, freien Lauf. »Mir gefällt das nicht«, raunte der junge Priester Dantino zu. »So aufgewühlt wie heute habe ich die Arkasther noch nie erlebt.« »Du hattest stets großen Einfluss auf sie. Heute bemerkst du es auch selbst. Das ist alles.« Azarete hatte seine Zweifel. Auch wenn der Großteil des Volks auf seiner Seite stand und Veränderungen – zumindest insgeheim – forderte, gab es keine Garantie für das, was heute noch geschehen würde. Seine Anhänger standen treu zu ihm und hörten auf sein Wort, doch wenn die unüberschaubare Menge ihre Wut spontan entlud, war auch er machtlos dagegen. Mehrere Dutzend Getreue befanden sich in seinem Gefolge, als der Zug um eine Ecke bog und das Gemäuer des Tempelhofs sichtbar wurde. Ihnen schlossen sich die Unzufriedenen an, deren Zahl Azarete nur schätzen konnte. Sie skandierten einen Ruf
Der Turm des Denmogh nach Freiheit und riefen immer wieder seinen Namen. »Sie erwarten uns bereits.« Eine enorme Anzahl von Contelapos Anhängern hatte sich vor dem Zugang zum Tempelhof versammelt. Sie versperrten das Tor, durch das man in die hundert Meter durchmessende, kraterähnliche Senke gelangen konnte. Lediglich der Stein der Weisen wurde nicht von ihnen abgeriegelt. »Sie warten nicht auf uns«, widersprach Azarete. »Sondern darauf, dass das gemeine Volk, das in den Hof will, seine Ehrerbietung erweist.« Was nichts anderes hieß, als sich durch Ablegen von Geschenken an dem heiligen Stein seinen Eintritt zu erkaufen. »Warum sind sie dann bewaffnet?« Erst jetzt bemerkte auch Azarete, dass Contelapos Männer ihre Waffen offen zur Schau trugen. So etwas war noch nie vorgekommen. Wenn sie Waffen bei sich trugen, hatten sie früher zumindest den Anstand besessen, sie unter ihrer Kleidung zu verbergen. Offenbar wollte sein Vater keinen Zweifel daran aufkommen lassen, wer hier das Sagen hatte. »Das kann Yracht nicht gefallen.« Aber Yracht ließ die Arkasther ihre Händel allein austragen. Azarete begriff, dass es kein Zurück mehr für ihn gab. Selbst wenn er sich zurückziehen wollte, um mögliche Kämpfe zu vermeiden, würde die Menge weiterlaufen. Immer lauter wurden die ausgestoßenen Rufe, immer aggressiver klangen sie in Azaretes Ohren und steigerten seine Selbstzweifel. Er wollte den Wandel, aber nicht um jeden Preis. Jedenfalls nicht um den zahlreicher Leben. »Contelapo schert sich nicht darum, was aus dem Volk wird.« Dantino tastete nach seinem eigenen Messer. »Kannst du meine Gedanken lesen?« »Das brauche ich nicht, denn ich teile sie.« Azaretes Handflächen waren feucht. Wieso nur konnte er diese Sache nicht friedlich
35 regeln, mit Verhandlungen und Absprachen? Vorn wurden dessen Anhänger unruhig. Bis eben noch gelangweilt, begannen sie sich zu formieren, postierten sich zu beiden Seiten des Steins der Weisen und bildeten eine schmale Gasse zwischen sich. Keine zehn Meter trennten die beiden Gruppen noch voneinander. Was wohl Atlan gerade machte? Azarete hegte wenig Hoffnung, dass der Fremde zu seiner Unterstützung auftauchte. Es war schade, aber nicht zu ändern, denn dies hier war sein Kampf. Er blieb einfach stehen, und die Menge tat es ihm gleich. Wenn es eines Beweises bedurft hätte, hatte er ihn damit erhalten. Die Leute waren wie Wachs in seiner Hand. Die Erkenntnis belastete ihn, denn er wollte nicht wie sein Vater sein. »In Contelapos Namen«, erklang eine Stimme. »Erweist eure Ehrerbietung, dann dürft ihr dem Konzil beiwohnen. Heute Abend wird Contelapo den Denmogh für alle Zeiten besänftigen.« »Das will ich sehen.« Azarete traute den Worten nicht. Zwar würde Contelapo erneut seine Schau abziehen, aber nicht zum letzten Mal. Nur ihr hatte er die Willfährigkeit des Volks zu verdanken, und dieses Faustpfand würde er niemals freiwillig aus der Hand geben. »Die Einladung des Hochpräses gilt nicht für dich.« Der Sprecher der Contelapo-Anhänger trat aus der Menge hervor. »Und auch nicht für den Verräter Dantino, dessen Zeit bald kommen wird.« Hinter Azarete brach ein Sturm der Entrüstung los. Wütende Schreie brandeten auf, übertönten einander und machten die Worte unverständlich. Die Arkasther drängten nach vorn, aber Azarete gab keinen Schritt nach. Als er einen Arm hob, wusste er bereits, was geschah. Augenblicklich trat Ruhe ein. »Wir wohnen dem Konzil nur mit unserem Anführer bei!«, rief ein kaum erwachsener Mann. Er löste sich aus der Menge und trat neben Azarete, der sich verwundert umschaute. Er kannte den jungen Burschen nicht. »Wir sind bereit, für ihn zu sterben, so
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wie er für uns.« »Niemand wird …« … sterben, wollte der Priester sagen, als er einen heftigen Stoß erhielt und zu Boden geworfen wurde. Mit seinem ganzen Körper warf sich Dantino auf ihn und begrub ihn unter sich. »Eine Klinge!«, schrie jemand. »Sie wollen Azarete töten!« Doch Dantino war schneller. Bevor der unbekannte Junge Azarete das Chitin in die Brust rammen konnte, hatte er sich dazwischen geworfen und fing den Stoß mit seinem Leib ab. Mit einem schmerzvollen Aufschrei sackte er in sich zusammen.
* Ringsum setzten Tumulte ein. Hände rissen den jungen Burschen weg, schirmten Azarete und Dantino ab, zogen sie aus dem Gefahrenbereich. Die aufgeputschte Menge war nicht mehr zu halten, stapfte los und warf sich auf Contelapos Anhänger. »Nein!«, stieß Azarete einen gequälten, lang gezogenen Schrei aus, aber niemand hörte auf ihn. Die Tragödie nimmt ihren Lauf, dachte er, als Dantino in seinen Armen starb. Ratlos standen ein paar Arkasther da und schauten auf ihn herab, Sekunden später wurden auch sie von der allgemeinen Hysterie ergriffen. Sie überließen ihn sich selbst und stürzten sich ins Kampfgetümmel, und da begriff Azarete endgültig, dass die ganze Welt verrückt geworden war. Wenn er nicht eingriff, gab es für die Arkasther keine Zukunft mehr. »Es tut mir Leid, mein Freund«, flüsterte er. Behutsam bettete er den Leichnam des Mannes, der ihm an einem Tag zweimal das Leben gerettet hatte, gegen eine Wand. Er ließ Dantinos fleischliche Hülle nur ungern zurück, doch wenn es ihm nicht gelang, den losbrechenden Wahnsinn aufzuhalten, würde der Boden außerhalb des Tempelhofs vom Blut getränkt. Im Licht der Fackeln spielten sich gespen-
stische Szenen ab. Die kämpfenden Arkasther bildeten ein wirres Knäuel, in dem Azarete Freund und Feind nicht mehr unterscheiden konnte. Schmerzensschreie drangen an seine Ohren, übertönt von hasserfüllten Parolen. Contelapos Männer hatten die Lücke zwischen sich wieder geschlossen und gaben keinen Fußbreit nach. Wer nicht zahlte, kam nicht ins Innere des Tempelhofs. Da nahmen sie lieber zahlreiche Tote auf beiden Seiten in Kauf. Fürchteten sie Contelapos Macht wirklich so sehr, dass sie bereit waren, ihr eigenes Leben zu geben? »Aufhören!« Azarete sprang zu seinen Anhängern und zerrte die, die er zu packen bekam, aus dem Kampfgetümmel zurück. »Ihr seid alle Arkasther! Hört auf zu kämpfen!« Seine Worte waren vergeblich, niemand hörte auf ihn, nicht einmal seine Getreuen. Sie hatten ihre Individualität verloren, verschmolzen zu einer Masse, aus der sich schlagartig alles löste, was bisher unterdrückt worden war. Wo steckte sein Vater? Sicherlich befand er sich mit seinem innersten Priesterzirkel im Tempelhof, also musste auch er dorthin. Azarete versuchte sich einen Weg zu bahnen, aber die tobende Menge ließ ihn nicht passieren. Vielleicht rettete das für den Augenblick sein Leben. Daran dachte er aber nicht. Abermals erhob er die Stimme und schrie gegen den Aufruhr an, doch seine Appelle verhallten unbeachtet. Er erhielt einen Schlag gegen die Brust und torkelte zurück. »Das Sterben hat eingesetzt. Bitte steh uns bei.« Flehend blickte Azarete zum Firmament empor, vor dessen bläulicher Schwärze sich die ersten Sterne abzeichneten. »Sende uns ein Wunder, Yracht. Oder dein Volk kommt zur dir.«
* Unzählige Fackeln brannten entlang der Mauern des Tempelhofs und entlang der Gassen bis hin zum Zugang. Überall waren
Der Turm des Denmogh Gruppen von Arkasthern unterwegs. Nicht nur die gelegentlichen Zusammenstöße unter uns demonstrierten die feindselige Atmosphäre, die Mikrofone unserer Schutzanzüge übermittelten uns zudem Ausschnitte aus den geführten Unterhaltungen. Viele der Gläubigen erwarteten, dass dieser Tag eine Entscheidung zwischen Contelapo und Azarete bringen würde. Die Ansichten darüber, wer von beiden als Sieger aus der bevorstehenden Auseinandersetzung hervorginge, waren so unterschiedlich wie Gorgh und Emion, die sich etwas abseits der Massen ebenfalls in Richtung der Tempelhofmauern bewegten. Eine Weile hatten Kythara und ich unsere zwei Verbündeten unsichtbar begleitet, bis wir sicher waren, dass die Arkasther sie in Ruhe ließen. Zwar erregten der Daorghor und das Saqsurmaa einige Aufmerksamkeit, aber die Einheimischen waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um ihnen mehr Beachtung als eben unbedingt nötig zu schenken. Mit Hilfe unserer anzugeigenen Antigravs näherten wir uns der Anlage aus westlicher Richtung, dicht nebeneinander fliegend, so dass wir uns ohne Funk unterhalten konnten. »Der Kardenmogher«, sagte Kythara. Ich sah die Metallröhre, die aus der Senke emporwuchs und die Mauern hoch überragte, ebenfalls. Sie war dunkel und bar jeglicher Aktivität, also hatte der Hochpräses mit seiner Darbietung noch nicht begonnen. Als Trümmerlandschaft, Gassen und Gebäude unter uns zurückblieben, drosselten wir unsere Geschwindigkeit und gingen etwas tiefer. Zu meiner Überraschung war die Senke mit der Multifunktionsmaschine verlassener, als ich erwartet hatte. Einige der terrassenartig aufgebauten Steintribünen waren besetzt. Der Innenraum war bis auf eine Gruppe, die sich um Contelapo scharte, noch leer. Leider war ich noch zu weit von ihm entfernt, um seine Worte über das Außenmikro empfangen zu können. Er machte einen aufgeregten Eindruck, lief hin und her und stieß seine Leute beiseite, wenn sie ihm im Weg stan-
37 den. »Am Eingang wird gekämpft.« Ich folgte Kytharas Hinweis und flog auf halber Höhe eine Schleife um den Kardenmogher. Er wirkte friedlich wie ein ehernes Monument, das nichts aus seiner Lethargie reißen konnte, aber hinter seiner glatten, fugenlosen Oberfläche schlummerten Kräfte, die über das Begriffsvermögen eines jeden Arkasthers hinausgingen. Wir jagten auf den Eingangsbereich des Hofs zu. Ich bremste die Aggregate brutal ab, als ich über der Mauer schwebte. Unter uns tobte eine ausgewachsene Schlacht. Ich schätzte, dass auf jeder Seite ein paar hundert Mann kämpften. Mit solch einem dramatischen Verlauf hatte ich wirklich nicht gerechnet. »Bei den She'Huhan!«, entfuhr mir der alte arkonidische Ruf an die Götter. In manchen Dingen unterscheidest du dich also nicht von den primitiven Varganennachkommen, du Narr, wies mich der Extrasinn auf meinen archaischen Ausbruch hin. Kytharas Worte waren da wesentlich nachvollziehbarer. »Deshalb ist der Tempelhof so leer. Contelapos Anhänger versperren den Zugang.« »Diesmal sind sie einen Schritt zu weit gegangen.« Daher auch Contelapos Unruhe, aber ich hatte eine andere Sorge. Dieses Blutvergießen durfte ich nicht zulassen. Zu oft hatte ich ähnliche Barbarei erlebt, um einfach wegzuschauen und meinen Plänen nachzugehen. Plötzlich entdeckte ich Azarete. Er befand sich im rückwärtigen Bereich und versuchte, sich einen Weg durch die Kämpfenden zu bahnen. Ein aussichtsloses Unterfangen, wie ich von oben erkannte, denn dabei bewegte er sich genau auf das Zentrum des Irrsinns zu. »Hinabstoßen und ihn da rausholen!«, schlug Kythara vor. »Aber schnell, bevor Contelapo seine Zeremonie beginnt.« »Und dann? Azarete in sicherer Entfernung absetzen?« Ich war sicher, dass er sich ohne Zögern sofort wieder in die Menge ge-
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Achim Mehnert
stürzt hätte. Wenn du noch länger zögerst, brauchst du gar nichts mehr zu tun. Dann ist Azarete nämlich tot. Ich stürzte mich kopfüber in die Tiefe und raste auf die brodelnde Menge zu. Meinen Kombistrahler ziehen, auf Paralysemodus stellen und für Sekunden den Deflektorschirm abschalten waren eins. Daran, dass Contelapo dadurch zwangsläufig von meiner Anwesenheit in seiner Nähe erfuhr, verschwendete ich keinen Gedanken. Zunächst ging es darum, weiteres Blutvergießen zu vermeiden. Schon jetzt lagen zahlreiche Arkasther regungslos am Boden oder krümmten sich unter Schmerzen. »Arkonide!«, gellte Kytharas Stimme in meinen Ohren. Diesmal benutzte die Varganin den Funk. »Jetzt wissen alle, dass wir hier sind!« »Dass ich hier bin«, gab ich unbeeindruckt zurück. »Du bleibst unsichtbar.« Entschlossen eröffnete ich das Feuer auf die Menge, während ich keine fünf Meter über den Köpfen dahinraste. Entsetzte Schreie setzten ein, als die ersten Arkasther betäubt zu Boden fielen und die anderen in meine Richtung sahen. »Gott Atlan«, glaubte ich zu verstehen. Es scherte mich nicht, denn nach ein paar weiteren Schüssen endeten die Kampfhandlungen. Die Menge stob in alle Richtungen davon, nur zwei Dutzend Männer verharrten regungslos. Azarete war einer von ihnen. »Mehr kann ich nicht für dich tun«, murmelte ich vor mich hin und schaltete den Deflektorschirm wieder ein. »Jetzt liegt es an dir.« »Sentimentaler Arkonide.« Unversehens war Kythara wieder an meiner Seite, das Gesicht so ausdruckslos wie meistens. Dennoch war ich sicher, dass sie mein Vorgehen akzeptierte, ja sogar begrüßte. Wir drehten ab und flogen zurück zum Kardenmogher.
7. Konzelebration
Es war kein Traum. Atlan war aus dem Nichts gekommen und wieder ins Nichts gegangen. Gott Atlan. Unbeweglich stand Azarete da und starrte in den Himmel. Eben noch hatte er den Fremden deutlich gesehen, und im nächsten Moment war er verschwunden, einfach so vor ihren Augen. Nur allmählich gelang es dem jungen Priester, seine Erstarrung zu überwinden. Er bot ein leichtes Opfer, falls einer von Contelapos Anhängern über ihn herfiel. Er sah sich um und erkannte, dass die wenigen, die hier geblieben waren, sich nicht rührten. Azarete räusperte sich, um seiner Stimme einen festen Klang zu geben. »Kümmert euch um die Verwundeten!« Zu seinem Entsetzen gab es viel weniger Verletzte als Tote. Sie durften nicht auch noch sterben. Wie hatte es nur so weit kommen können? All das hätte niemals geschehen dürfen. Nun ließ es sich nicht mehr rückgängig machen. Mechanisch setzte er sich in Bewegung und ging durch das Tor in den Tempelhof hinein. Es war niemand mehr da, der ihn aufhielt. »Die Toten hast du zu verantworten«, empfing ihn eine Stimme. Contelapos Stimme. »Was nun, jämmerlicher kleiner Priester, missratener Spross eines wunderbaren Geschlechts? Dein Gefolge hat sich in alle Winde verstreut.« »Deins ebenfalls.« Der Hochpräses grinste überheblich. »Wie mir scheint, sind mir mehr Männer geblieben als dir. Ein Fingerzeig von mir, und dein Weib ist Witwe.« Unauffällig schaute Azarete sich um. Ihn selbst hatten die Kämpfe und die Toten beeinflusst. Zu erwarten, dass sein Vater ebenfalls Gewissensbisse zeigte, war jedoch töricht. Zu seinem Erstaunen wie zu seinem Glück betraten nach und nach weitere Arkasther den Tempelhof. Sie gehörten weder zu ihm noch zu Contelapo. Es waren neutrale Gläubige, vor deren Augen der oberste Priester keinen Mord riskieren konnte. Azarete machte ein paar Schritte auf sei-
Der Turm des Denmogh nen Vater zu, sodass nur der seine Worte verstehen konnte. »Du bist klug, dich zu beherrschen. Du überlegst, ob Atlan immer noch in meiner Nähe ist, um mich zu beschützen.« »Der falsche Gott wird nicht mehr kommen. Ich werde es dir beweisen.« »Und wie willst du das tun?« »Indem ich den Denmogh meinem Willen unterwerfe – endgültig.« Contelapo drehte sich barsch um und ging auf den Turm zu. Zehn Mannslängen davor hielt er inne und fiel auf die Knie, ohne sich noch einmal umzusehen. Das war das Zeichen für seine Priester, mit ihrer Litanei zu beginnen. Die gleiche Prozedur, die sich früher am Tag ereignet hatte, ging es Azarete durch den Kopf. Danach hatte er bedauert, seinen Vater nicht getötet zu haben. Nun bekam er die Gelegenheit ein zweites Mal, und er durfte sie nicht wieder ungenutzt verstreichen lassen. Er wollte loslaufen, schneller, als Contelapos Anhänger reagieren und ihn aufhalten konnten, wollte sich auf seinen verhassten Vater stürzen, ihn beim Hals packen und seinem Leben mit einem heftigen Ruck ein Ende bereiten. Für Silio! Für Dantino! Und auch für Tesea, die in dieser Sekunde bestimmt vor Sorge um Azarete umkam. Doch Azarete konnte nicht. Wie versteinert stand er da. Seine Beine versagten ihm den Dienst wie morsche Äste, sein Geist war zu schwach, sie in Bewegung zu versetzen. Keine Zeit schien zu vergehen, und doch trauten sich weitere Arkasther ins Innere des Tempelhofs. Dass Atlan verschwunden blieb, ließ sie wieder Mut fassen, allerdings nahm niemand die Feindseligkeiten wieder auf. Das konnte sich zwischen zwei Herzschlägen schnell ändern. Azarete stieß einen klagenden Laut aus, als ihm sein Versagen bewusst wurde. Zehn Meter hinter Contelapo verharrte er. Er verlor alles, und mit ihm verlor die Reformation. Unterlegt vom Singsang der Priester, begann der Hochpräses mit seinem Gebet.
39 Azarete schaute zum Denmogh empor. Gleich würde es wieder geschehen, und er unternahm nichts.
* Ich hätte Azarete berühren können, so dicht flog ich an ihm vorbei. Beiläufig registrierte ich, dass er einfach nur dastand, als ginge es ihn nichts an, was Contelapo tat. Hoffentlich hatte der Aufruhr mit den Toten dem jungen Priester keinen psychischen Knacks versetzt. Ich selbst konnte ihm keine weitere Unterstützung gewähren, denn der Hochpräses hielt bereits seine Fernbedienung für den Kardenmogher umklammert. Auch wenn Kythara seine Manipulationen vergleichsweise mühelos wieder rückgängig machen konnte, wollten wir es diesmal erst gar nicht so weit kommen lassen. Nebeneinander landeten wir vor der Metallröhre. Als ich den Kopf in den Nacken legte und an der blauen Wölbung in die Höhe schaute, schien sie sich zu bewegen. Eine optische Täuschung, die den Eindruck erweckte, sie würde kippen und auf uns stürzen. Ich sah nicht, was die Varganin tat, sondern nur das Ergebnis. In Kopfhöhe des Kardenmoghers befand sich eine Klappe, die erst sichtbar wurde, als Kythara sie durch einen geflüsterten Befehl öffnete. Ein Tastenfeld mit varganischen Symbolen kam dahinter zum Vorschein. Ich schaute zu Contelapo hinüber. Er hatte die Worte durch die Litaneien seiner Priester nicht vernommen. Allerdings würde er die geöffnete Klappe sehen, sobald er den Kopf hob. Kythara brauchte nur ein paar Sekunden, um sich einen Überblick zu verschaffen, dann huschten ihre Fingerspitzen über die Sensorfelder. Die Geschmeidigkeit ihrer Bewegungen erinnerte mich an Ischtar, die Goldene Göttin. Kythara ließ von den Sensorfeldern ab. Die bordinterne Positronik hat von Standby-Modus auf Aktiv geschaltet. Allgemeine Bereitschaft besteht, teilte sie mir mit und
40 schloss die Klappe wieder. Nichts deutete in der fugenlosen Metallhülle noch auf ihre Existenz hin. Das war nur auf diesem Weg zu erfahren. Der Rest geht ohne mechanische Eingabe – hoffe ich. Jetzt heißt es abwarten, ob die Ezellikator-Erkennungskodes akzeptiert werden. Mir kam diese Prozedur zu simpel vor. Sie konnte kaum ausreichen, den Kardenmogher zu aktivieren, denn die Kodes hätten einem Unbefugten auch zufällig in die Hände fallen können. So naiv konnten die varganischen Konstrukteure nicht gewesen sein, dass sie nicht weitere Sicherungen eingebaut hatten. Wieder schaute ich zu Contelapo hinüber. Er war in seinem vorgetäuschten Gebet an den Denmogh versunken. Zumindest sahen die Gläubigen, von denen sich inzwischen trotz meines vorherigen Eingreifens zahlreiche eingefunden hatten, das so. Kythara aktivierte die eingearbeitete Minipositronik ihres Anzugs und rief die gespeicherten Kodes auf. Über Funk übermittelte sie sie an die Positronik des Kardenmoghers. Nun musste sich nach ihrem ersten oberflächlichen Kontakt vom Vormittag zeigen, was sie wert waren. Ein Geräusch ließ mich herumfahren, gleichzeitig änderte sich das Klangbild des priesterlichen Singsangs. Contelapo hat sich erhoben. Er hielt den kleinen schwarzen Kasten vor seiner Brust umklammert. Da er den Arkasthern den Rücken zuwandte, konnte niemand außer mir das sehen. Jeden Moment würde er seine Erweckungszeremonie beginnen. Kythara sah sich nicht einmal nach dem Hohepriester um. Halt ihn auf, damit ich ihm eine richtige Überraschung bereiten kann. Ich werde ihn zusätzlich verunsichern. Mit ein paar Sätzen war ich neben dem Hochpräses und gab ihm einen Stoß, der ihn taumeln ließ. Zwar gelang es ihm, auf den Beinen zu bleiben, dafür ließ er die Fernbedienung fallen. Ich war ihm ganz nahe und konnte die Überraschung in seinem Gesicht lesen. Mir war klar, was er zwangsläufig
Achim Mehnert denken musste. Der Denmogh selbst hatte ihn berührt. Sonst hielt sich für ihn ersichtlich schließlich niemand in seiner Nähe auf. »Gott Yracht, dein Diener führt das Ritual zu deinen Ehren durch.« Die Worte bestätigten meine Vermutung. »Schicke mir ein sichtbares Zeichen deiner Anwesenheit bei deinen ergebenen Untertanen.« Das wirst du gleich bekommen, dachte ich. Aber anders, als dir lieb ist. Contelapo bückte sich und vollführte ein paar beschwörende Bewegungen, die den Anschein erwecken sollten, sie gehörten zu dem Ritual, als er die Fernbedienung aufhob. Am liebsten hätte ich ihm eine weitere Kostprobe der unsichtbaren Mächte gegeben. Ich wollte es nicht übertreiben, sonst kam er vielleicht auf die Idee, dass nicht Yracht sondern ich meine Finger im Spiel hatte. Außerdem vertraute ich auf Kytharas Fähigkeiten. Mit ihrer angekündigten zusätzlichen Verunsicherung hatte sie natürlich ihre Fähigkeit der Gedankenübermittlung gemeint. Ich habe den Kontakt hergestellt. Ezellikator-Kodes sind eingespeichert, wandte sie sich an mich, als ich zu ihr zurückeilte. Ich kann dir nicht sagen, was gleich geschehen wird. Jedenfalls akzeptiert die Positronik des Kardenmoghers meinen Zugrif. Wieder verwandelte sich die Oberfläche der blauen Metallröhre.
* Contelapo erbebte unter dem Widerstreit der Gefühle. Mit dem schwarzen Kasten, den er von seinem Vorgänger geerbt hatte, hatte er göttliche Erscheinungen bisher immer selbst erzeugt. Heute waren sie zum ersten Mal unangekündigt über ihn gekommen. Er blickte zwischen dem Kasten und dem Denmogh hin und her und wartete darauf, dass sich Yrachts Inkarnation ihm ein weiteres Mal offenbarte. Oder war es gar nicht Yracht gewesen? Zwar glaubte er fest an seinen Gott, aber Yracht hatte sich nie so klar gezeigt, noch
Der Turm des Denmogh gab es Überlieferungen, dass dies bei einem früheren Hochpräses geschehen war. Wieso ausgerechnet hier und heute? Wollte Yracht auf einen Fehler hinweisen, den sein oberster Priester begangen hatte? Contelapo horchte in sich hinein. Wenn Yracht seinen Leib berührt hatte, hatte er womöglich einen göttlichen Splitter seines Geistes hinterlassen, doch da war nichts. Etwas stimmte hier nicht, und es bereitete dem Hochpräses Mühe, seine Beherrschung zu bewahren. Seine Priester und die Gläubigen durften nichts von seiner Verunsicherung bemerken, besonders Azarete würde sie gnadenlos ausnutzen. Ohnehin wunderte Contelapo sich, dass sein Sohn nicht mehr tat, als ihn zu beobachten. Er öffnete die Hand mit dem schwarzen Kasten und betrachtete die Vorsprünge. Er hatte keine Ahnung, was er mit den meisten von ihnen ausrichten konnte. Deshalb beschränkte er sich stets darauf, die zu benutzen, deren Bedeutung von seinem Vorgänger an ihn übertragen worden war. So, wie er es auch in diesem Moment vorhatte. Du hast es zu weit getrieben, mein Sohn. Contelapo zuckte heftig zusammen. Plötzlich war die Stimme in seinem Kopf. Vorsichtig drehte er sich um. Er schien der Einzige zu sein, der sie vernommen hatte. Die Sprechgesänge seiner Priester hielten unvermindert an, nur Azarete musterte ihn aufmerksam. »Yracht«, keuchte der Hochpräses, zu keinem weiteren Wort fähig. Denn der Denmogh erwachte wieder, doch diesmal ohne sein Zutun. Demir, Gafor, Rario und die Priester erhoben ihre Stimmen immer höher und verfielen in schrillen Diskant. Sie begriffen nicht, dass der Denmogh von sich aus handelte. Heute wirst du mich entfesseln, denn du hast mich zu oft herausgefordert, war wieder die lautlose Stimme in Contelapos Kopf. Nichts kann dich jetzt noch retten. »Verzeih mir!«, schrie der alte Priester. Seine Stimme drohte sich zu überschlagen. »Ich werde dich nie wieder belästigen!«
41 Doch es war zu spät, Yrachts Inkarnation ließ sich nicht mehr besänftigen. Contelapo sah das Ende seiner Welt gekommen. Aus aufgerissenen Augen starrte er auf den Denmogh, auf dem sich Rillen bildeten. Der Turm leuchtete auf, greller und heller denn je, verschwamm und wurde zu einem wahrhaftigen Gott. Contelapo fiel atemlos vornüber, seinen Tod und den Untergang von ganz Arkasth vor Augen. Ihm blieb nur ein Trost. Auch Azarete würde diesen Tag nicht lebend überstehen.
* Das varganische Multifunktionsgerät reagierte, und das nach all den Jahrtausenden, die es weitgehend inaktiv gewesen war. Vor meinen Augen veränderte sich seine Oberfläche und bildete die Kerben aus, die wir bereits kannten. Knisternd zeigte der Kardenmogher sein wahres Gesicht. Es lag nicht nur an der fortgeschrittenen Dunkelheit, dass mir sein Leuchten viel heller vorkam als beim ersten Mal, da ich Zeuge des Vorgangs geworden war. Der Kardenmogher öfnet sich. Kythara ließ die Kontrolleinrichtungen ihrer Kombination nicht aus den Augen, um bei einer bedrohlichen Entwicklung sofort eingreifen zu können. Die Frage war nur, ab welchem Punkt der Vorgang sich verselbständigte und nicht mehr aufzuhalten war. Sollte die destruktive Macht der Röhre vorrangig aktiv werden, war nicht sicher, ob sich mit den Kodes ein Abbruch bewerkstelligen ließ. Eine weitere Verwüstung würden Cortasta und seine Bewohner nicht überstehen. Aus zehn Metern Höhe ertönte ein Sirren, als ein mehrere Quadratmeter großes Segment der Außenhülle aufklappte. Wie eine Rampe blieb es in horizontaler Position stehen, dann setzte sich der Vorgang kreisförmig fort. Nach einer halben Minute waren acht Rampen nebeneinander ausgefahren. Erfolglos versuchte ich zu erkennen, was sich im Inneren verbarg. Das blaue Leuchten ließ keinen Einblick zu.
42 Hofentlich zerlegt sich der Kardenmogher nicht in seine Einzelteile, dachte ich. Noch weiter oben schoben sich nach der Arretierung der Rampen ohne ersichtliche Anordnung Module aus dem Metall. Sie waren so verschieden groß wie unterschiedlich geformt. Das Fehlen jeglicher Symmetrie erinnerte mich ein wenig an die Raumschiffe der Posbis und stand in krassem Gegensatz zu der vollkommenen Röhrenform der varganischen Gesamtkonstruktion. Sieh das Wirken varganischer Meistertechnologie. Ich wünschte, ich hätte Kytharas beinahe fatalistische Zuversicht gehabt, doch Murphys Gesetze galten auch für Varganen, befürchtete ich. Dicht unter dem oberen Abschluss der Röhre bildete sich ein Energiewulst, der sie wie ein Kragen umrahmte. In seinem Blau, das noch einen Deut heller strahlte als der Kardenmogher selbst, pulsierten gelbe Knoten, stationär zunächst, dann in einen Kreisorbit verfallend. Wie aus weiter Ferne drangen die Ausrufe der Arkasther zu mir herüber. Sie drückten Ungläubigkeit und Erstaunen aus, Faszination und Erschrecken, vor allem aber Angst. So weit hatte Contelapo es mit seinem Denmogh wohl noch nie getrieben. Arkonide, zurück! Ich war ebenso überrascht wie Kythara, als unmittelbar vor uns das blaue Leuchten wie ein Vorhang geteilt wurde. Eine Öffnung bildete sich, mannshoch und so breit, dass sie zwei Personen Durchlass gewährte. Contelapo schrie auf, vielleicht weil er erwartete, dass Yracht ins Freie trat. Das sieht nach einer Einladung aus, forderte ich Kythara auf. Hinter der entstandenen Öffnung befand sich eine Nische, groß genug, um uns beide aufzunehmen. Die hintere Wand war ebenfalls von einem blauen Leuchten überzogen. Keine Furcht. Ich glaube nicht, dass das Energiefeld eine Gefahr für uns darstellt. Ich zögerte. Kytharas Vertrauen in die Technik ihres Volkes erschien mir mittlerweile sehr naiv.
Achim Mehnert Treflich bemerkt, befand der Extrasinn. Aber trotzdem ist es an dir, den logisch nächsten Schritt zu tun. Er hatte Recht. Wir waren beinahe da, wo wir sein wollten, nämlich im Besitz eines überlichtflugfähigen Raumschiffs, das gleichzeitig die Waffe war, die wir brauchten, um die Psi-Quelle auszuschalten. Wie um mir zu beweisen, dass ihr Vertrauen gerechtfertigt war, trat Kythara vor mir durch die Öffnung. Als sie sich umdrehte, bedachte sie mich mit einem undefinierbaren Lächeln. Was sollte ich gegen so viel Abgeklärtheit ausrichten? Kommentarlos folgte ich ihr und sah mich um. Die Nische hätte keiner weiteren Person Platz geboten und war wie für uns gemacht. Möglicherweise war sie an genau dieser Stelle eben erst aus Formenergie entstanden. An keiner der drei Seiten gab es eine Schleuse oder einen anderen Durchgang, auch die Taster zeigten nichts an. Dafür maßen die Ortungseinrichtungen meiner Kombi Energieemissionen aus verschiedenen Quellen an, von denen sich keine in unmittelbarer Nähe befand. »Das Energiefeld verändert seine Struktur«, wechselte ich zum gesprochenen Wort. Draußen konnten die Arkasther uns sowieso nicht hören. »Die Flussdichte variiert und mit ihr die Feldstärke.« »Das könnte ein Schutz gegen unbefugten Zutritt sein.« »In dem Fall würde das Feld stärker. Das wird es zwar, aber nur für ein paar Sekunden, dann dreht sich der Prozess wieder um, um schließlich von vorn zu beginnen.« Nach einer Weile begann das bläuliche Leuchten der Rückwand zu oszillieren, wellte von links nach rechts, glättete sich wieder und erstarrte schließlich zu einer ovalen Fläche, die an einen matten und fleckigen Spiegel erinnerte. Verschwommen stand mein Spiegelbild vor mir. »Und nun?«, fragte ich. Kythara wurde einer Antwort enthoben, denn wie aus heiterem Himmel veränderte sich die Umgebung.
Der Turm des Denmogh
8. Befreiung Schwärze war um mich, so tief, dass ich nicht einmal irgendwelche Konturen darin erahnen konnte. Ich spürte keinen Boden unter den Füßen und keinen Widerstand, als ich die Arme ausstreckte. Völlige Stille herrschte, in der ich mein pochendes Herz und meinen eigenen Atem übermäßig laut zu hören glaubte. »Kythara?« »Ich bin hier«, drang die vertraute Stimme der Varganin an mein Ohr. »Wo sind wir?« »Gute Frage. Vermutlich irgendwo im Innern des Kardenmoghers.« Meine Behauptung war voreilig. Tatsächlich hätten wir uns bei den technischen Möglichkeiten des varganischen Multifunktionsgeräts auch in einer anderen Galaxis oder gar Dimension befinden können. Ein Licht flammte vor meinen Augen auf, aber sofort musste ich mich korrigieren. Es war ein schwach pulsierendes Energiefeld, schätzungsweise drei Meter von mir entfernt. Ihm folgte ein weiteres und noch eins, Dutzende, die sich kugelförmig um Kythara und mich gruppierten. Ihre Zahl stieg weiter an, bis ich den Überblick verlor. »Gefangen«, sagte die Varganin, wobei sich das Pulsieren des Lichts in ihrem Gesicht spiegelte. »Wo auch immer.« »Kardenmogher an Kythara und Atlan.« Aha, unsere Namen hatte die Positronik also bereits mitbekommen. Ihre angenehm modulierte Stimme kam aus keiner bestimmten Richtung. »Ich beginne mit der Aktivierungsprozedur.« Durch eine leichte Bewegung drehte sich Kythara einmal um ihre eigene Achse. »Wenn wir sie bestehen, werden wir als berechtigt anerkannt?« »Positiv.« »Und wenn wir sie nicht bestehen?«, konnte ich mir zu fragen nicht verkneifen. »Dann werdet ihr eliminiert.«
43 Die Auskunft überraschte mich nicht einmal. Zum Schutz des Kardenmoghers gegen unberechtigten Zugriff war sie logisch und nachvollziehbar. »Ich aktiviere zufallsvariable Berechtigungsmatrix«, erklang wieder seine Stimme. »Definiere den Absolutwert der Entropie am absoluten Nullpunkt der Temperatur.« Mit allem hatte ich gerechnet, aber nicht damit, dass der Kardenmogher eine – in meinen Augen – simple physikalische Frage stellte. Man musste kein Vargane sein, um sie beantworten zu können. Der Anflug eines Lächelns huschte über Kytharas Gesicht. Sie schien der gleichen Meinung zu sein. »Der dritte Hauptsatz der Thermodynamik …«, begann ich. »… der gleichbedeutend ist mit Daschturs sechstem unumstößlichem Grundsatz«, unterbrach sie mich. »Kardenmogher, die Antwort lautet null.« Die uns umgebenden Energiefelder pulsierten und gruppierten sich um. Durch die Veränderung war eine quantitative Bestimmung schwierig, dennoch hatte ich den Eindruck, dass sich ihre Zahl verringerte. Während ich noch eine positive Bestätigung auf Kytharas Antwort erwartete, ging der Kardenmogher bereits zur nächsten Frage über. »Ich variiere zufallsvariable Berechtigungsmatrix: Nenne Herkunftsort derer, die über den Zerfall siegten und den Fortbestand verloren.« Bei jedem einzelnen der beiden Teilbereiche hätte ich eine Vielzahl an möglichen Lösungen parat gehabt, die Kombination indes schränkte sie stark ein. Im Gegensatz zur ersten Frage klang diese reichlich schwammig. Grimmig beobachtete ich die Energiefelder. Würden sie uns bei einer falschen Antwort den Garaus machen? Keine Panik, Arkonide. Er spricht von uns Varganen. Durch Erlangung der relativen Unsterblichkeit nach dem Übergang in unser Universum haben wir den körperlichen Zerfall überwunden, sind jedoch untereinander nicht mehr fortpflanzungsfähig, wie du weißt. Willst du ihm diesmal antwor-
44 ten? Ich nickte, dann sprach ich die Antwort laut aus. »Mikrokosmos.« Wieder gruppierten sich die Energiefelder nach heftig eruptivem Pulsen um, und diesmal war ich sicher. Ein paar von ihnen erloschen. Ich atmete erleichtert auf, weil ich Sorge gehabt hatte, dass unsere Schlussfolgerung vielleicht doch in eine falsche Richtung ging. »Ich variiere zufallsvariable Berechtigungsmatrix: Was führt zur Aufheizung der Akkretionsscheibe bei einem Schwarzen Loch innerhalb eines Doppelsternsystems?« Im Gegensatz zur vorherigen Frage war ich völlig sicher. Es waren kollidierende Gasatome, die in einem strudelförmigen Strom vom normalen Stern auf den kollabierten Begleiter einstürzten. »Dissipative Reibungsprozesse«, damit brachte ich es auf den Punkt. Der Kardenmogher schien damit zufrieden. »Ich variiere zufallsvariable Berechtigungsmatrix: Nenne die Anzahl der Chromosomen in einer varganischen Zelle.« Einfach, aber prägnant, dachte ich. So simpel die Frage klang, als Arkonide hätte ich sie nicht beantworten können. Dennoch beschlich mich ein eigenartiges Gefühl. Die vom Kardenmogher ständig wiederholte Berechtigungsmatrix folgte keinem bestimmten Schema. War das gewollt, oder war vielmehr, wie ich es vor unserem Eindringen befürchtet hatte, die Positronik durcheinander geraten? »Achtundvierzig«, antwortete Kythara wie aus der Pistole geschossen. »Angeordnet in vierundzwanzig Paaren.« Die neuerliche Umgruppierung und Dezimierung der Energiefelder nahm ich nur noch beiläufig zur Kenntnis. Ich erwartete einen Pferdefuß bei diesem Frageund-Antwort-Spiel. Sosehr ich auch nach einem Warnsignal Ausschau hielt, entdeckte ich keins. »Ich variiere zufallsvariable Berechtigungsmatrix: Nenne das evolutionäre Bindeglied zwischen einer fortgeschrittenen,
Achim Mehnert raumfahrenden Zivilisation und einer Materiequelle.« »Eine Superintelligenz«, sagte ich spontan. Wenn sich auch diese Frage in meinen Ohren simpel anhörte, war sie alles andere als das. Jedes Wesen ohne Einblick in die kosmische Ordnung hätte ratlos wie ein Ochse vorm Berg gestanden. »Ich variiere zufallsvariable Berechtigungsmatrix: Benenne Energiekupplung für Initialisierung des Dakkar-Flusses.« Ich stieß die Luft aus und sah Kythara an. »Cappin-Technologie?« Trotz meines fotografischen Gedächtnisses besaß ich keine detaillierten Informationen über die DakkarTechnik der Cappins. Wieso sprach der Kardenmogher sie an? Mit einem Mal erschien mir das Auftauchen Carscanns in einem anderen Licht. Gab es weitere Verbindungen, von denen ich nichts wusste, oder handelte es sich doch nur um einen Zufall, dem ich aufgrund des Ratespiels des Kardenmoghers zu viel Bedeutung beimaß? Keineswegs, ließ mich Kythara wissen. Erinnere dich, dass die AMENSOON wie alle varganischen Raumschife über Aggregate verfügt, die in den Dakkar-Bereich hineinwirken. Ich nickte. Natürlich bezog der Kardenmogher sich nicht auf die Technik der Cappins, sondern auf die Entwicklung der Varganen, auch wenn die im Technologie-Konglomerat der Doppelpyramidenschiffe nur eine untergeordnete Rolle spielte. »Kardenmogher: Induktionsfluss-Regulator«, sagte Kythara. »Konkretisiere Trägermedium, bei dem Alter gleich Ausdehnung bei angenommener Lichtgeschwindigkeit ist.« Wieso hat der Kardenmogher den obligatorischen Vorsatz weggelassen? Angesichts von Kytharas gerechtfertigter Frage zuckte ich die Achseln. Die Veränderung im Sprachduktus des Kardenmoghers behagte mir ebenfalls nicht. Einen Arkoniden oder Menschen hätte die ständige Wortwiederholung, die er betrieb, ermüdet, doch
Der Turm des Denmogh die varganische Positronik kannte keine solche Regung, daher hätte sie eigentlich bei ihrem starren System bleiben müssen. Irgendwelche Kommentare?, erkundigte ich mich bei meinem Extrasinn. Ich analysiere noch. Die Vorgehensweise des Kardenmoghers folgt nur bis zu einemgewissen Grad rationalen Gesichtspunkten. Zumindest in der Hinsicht sind wir einer Meinung. Allerdings half mir auch diese Erkenntnis nicht weiter. Verunsichert wandte ich mich an die Varganin. Die Erwähnung von Lichtgeschwindigkeit weist auf das Universum hin. »Bei seinem Alter von etwa fünfzehn Milliarden Jahren geht man auch von einer Ausdehnung von fünfzehn Milliarden Lichtjahren aus. Eine definitive Aussage ist selbst bei unserem Wissensstand nicht möglich. Die Ausdehnung kann auch geringer ausfallen, da sich die expandierende Materie selbst am Rand des Kosmos mit maximal Lichtgeschwindigkeit bewegt. Die Fluchtgeschwindigkeit kann auch geringer sein. Hilft uns das?«, flüsterte ich. Kythara nickte. Hingegen kann die des eigentlichen, materiefreien Raums überlichtschnell erfolgen, womit es ebenfalls zu einer Diskrepanz zwischen seiner Ausdehnung und dem Alter des Universums käme. »Kardenmogher«, wagte ich einen Vorstoß. »Wenn auf eine Frage mehrere Antworten möglich sind, werden alle akzeptiert?« »Konkretisiere Trägermedium, bei dem Alter gleich Ausdehnung bei angenommener Lichtgeschwindigkeit ist.« Das klingt nach einem Nein, befand der Extrasinn. Kythara und ich verständigten uns mit Blicken. Wir waren beide der Meinung, dass wir keine andere Wahl hatten. Mit einer knappen Handbewegung ließ ich ihr den Vortritt. »Kardenmogher: Die Antwort lautet Universum.« Die Energiefelder zeigten keine Veränderung. War das ein gutes oder ein schlechtes
45 Zeichen? Auch das Pulsieren blieb im bestehenden Rhythmus. Stattdessen fragte der Kardenmogher: »Spannen Materieteilchen, die über dessen Rand hinausgehen, neuen Raum auf und vergrößern damit das Universum?« Beinahe hätte ich laut aufgelacht, wäre die Lage für uns nicht lebensbedrohlich gewesen. Natürlich war das nicht möglich, da selbst die von der Ursprungssingularität am weitesten entfernte Materie Lichtgeschwindigkeit niemals überschreiten und damit die eigentlichen Raumabmessungen auch nicht überwinden konnte. Die Antwort lag also auf der Hand. Warte! Die Warnung des Extrasinns peitschte durch meinen Verstand, und rasch bedeutete ich Kythara, ebenfalls noch nicht zu antworten. Habe ich einen Denkfehler begangen? Im Grunde nicht, winkte der Extrasinn ab. Aber ich habe eine gewisse Struktur in den Fragen des Kardenmoghers erkannt. Einige waren eindeutig zu beantworten, andere nicht, doch stets gab es einen Wechsel zwischen Fragen von allgemeingültiger Natur und solchen, die speziell die Varganen betrafen. In Gedankenschnelle ging ich die Aufgaben des Kardenmoghers mit meinem fotografischen Gedächtnis noch einmal durch. Der Extrasinn hatte Recht. Worauf willst du hinaus? Der Kardenmogher ist soeben aus seinem Schema ausgebrochen und hat einer allgemein gültigen Frage der Disziplin Kosmologie eine Zusatzfrage nachgestellt. Ich halte das für keinen Zufall, sondern für einen Test eurer geistigen Flexibilität. Er will feststellen, ob ihr das Abstrakte in der scheinbar starren Struktur erkennt. Ich vertraute den logischen Fähigkeiten des Extrasinns. Auf diesem Gebiet hatte er mich noch nie enttäuscht. Ich bat die Varganin stumm, mir zu vertrauen. Dann antwortete ich: »Also gut. Kardenmogher: Antwort wird bis zu einer weiteren Nachfrage verweigert. Zunächst fordere ich eine Erklä-
46 rung. Mit der Abweichung in deinem Frageschema hast du einen Fehler begangen. Wieso?« Ganz schön gewagt. Ich betrachtete die Energiefelder, die drohend um unsere Köpfe platziert waren. Sollten sie das Letzte sein, was ich in meinem langen Leben sah? Ich blinzelte, als sie nacheinander verschwanden. »Geschafft«, wisperte Kythara … zu früh. »Ich vollende zufallsvariable Berechtigungsmatrix mit der Frage, die für die Einstufung als berechtigter Vargane ausschlaggebend ist«, meldete sich der Kardenmogher. »Wie nannte Litrak den Schmiegschirm des Urschwarms Litrakduurn?« Meine Gedanken überschlugen sich. Die Bezeichnung war in Litraks Erinnerungen nicht aufgetaucht. Ich hatte gedacht, seine ganze Geschichte in der Obsidian-Kluft erfahren zu haben. Von wegen! Offenbar fehlte mir ein wichtiger, wenn nicht der in unserer Lage entscheidende Teil. Auch in Kytharas Gesicht zeichnete sich Ratlosigkeit ab. Ich war nahe daran, den Kardenmogher zu fragen, woher nach all den Äonen er diese Information hatte. Ich traute ihm sogar zu, dass sie nicht existierte, sondern Bestandteil eines perfiden Spiels war, das ich nicht begriff. Doch wozu hätte es dienen sollen? Hierbei kann auch ich dir nicht weiterhelfen, gab mir der Extrasinn beinahe zerknirscht zu verstehen. Stumm schauten Kythara und ich uns an. Über dieses Wissen konnten wir einfach nicht verfügen. Wie hätten wir es denn erlangen sollen? Die Erkenntnis überfiel mich siedend heiß … Oder hatte ich es erlangt, ohne mir dessen bewusst gewesen zu sein? Blieb mir die Antwort verschlossen, oder lag sie so nahe, dass ich sie beinahe übersehen hätte? Alles oder nichts, Arkonide! Folge deiner Eingebung. Die letzte verbliebene Trumpfkarte aus der Hinterhand. Ich räusperte mich, dann spie ich das Wort beinahe aus. »Dapsorgam!« »Aktivierungsprozedur abgeschlossen«, vernahm ich die Stimme des Kardenmo-
Achim Mehnert ghers wie in Trance. »Berechtigung anerkannt.« Also doch! Genauso gut hätten Kythara und ich jetzt verwehende Molekülwolken sein können. Ich hatte mich nicht getäuscht, die Gefolgschaft des Saqsurmaas auf keinen Fall aufgeben zu wollen. Woher hatte es dieses Wissen, und mehr noch … … wieso hatte es mir ausgerechnet diesen einen scheinbar mit nichts in Zusammenhang stehenden Begriff genannt? Während ich noch über die Fähigkeiten von Litraks geheimnisvollem Adjutanten nachdachte, änderte sich abermals die Umgebung.
* »Gute Arbeit, Arkonide«, befand Kythara. »Der Kardenmogher ist in unserer Hand.« Übergangslos standen wir wieder in der Nische, in der wir vor unserer Versetzung gewesen waren. Der Ausgang war nicht mehr da. Ich ignorierte die Tatsache, denn dafür war der matte Spiegel an der Nischenrückwand ebenfalls verschwunden. Der Durchgang weitete sich zu einem Tunnel, der ins Innere des Kardenmoghers führte. »Es sind nur ein paar Minuten Realzeit vergangen«, stellte Kythara fest. »Dabei habe ich den Eindruck, dass viel mehr Zeit verstrichen ist.« Der Chronograph meiner Kombi bestätigte ihre Worte. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir überhaupt an einen anderen Ort versetzt wurden. Vielleicht sind wir einer Suggestion aufgesessen, und die Berechtigungsprozedur hat sich auf mentaler Ebene abgespielt.« Der Korridor vor uns war von einem unüberschaubaren System aus Leuchterscheinungen durchzogen. Mit jedem Schritt drangen wir weiter in ein Labyrinth glitzernder Energiefäden vor, die sich tausendfach verästelten und in alle Richtungen strebten. Sie machten eine Orientierung beinahe unmöglich, da sie die Begrenzungen des Gangs verwässerten. Er wurde in seinen Abmes-
Der Turm des Denmogh sungen durch die Fäden definiert, die ein komplexes Netz bildeten, an dem vielfarbige Lichtknoten entlanghuschten. Wände im herkömmlichen Sinn waren nicht zu sehen. Fast wie die Innenansicht eines neuronalen Netzes, meldete sich der Extrasinn. »Wie die Darstellung eines Gehirns«, wählte ich andere Worte. An vielen Stellen durchdrangen sich die Fäden und schufen gitterartige Strukturen, die sich über unseren Köpfen zu einem Dach verflochten. Darüber strebten sie weiter, so weit ich sehen konnte. Mehr als zehn Meter waren das aufgrund des Gefunkels nicht. Ab da sah ich nur noch unzählige Leuchtpunkte, die meine beschränkten Sinne nicht mehr auseinander halten konnten. »Ich frage mich, ob das gesamte Innere des Kardenmoghers so aussieht.« »Wie die Nachbildung des Nervennetzes eines lebendigen Organismus? Wenn die Vernetzung die Gesamtstruktur der Gehirnzellen darstellt und die leuchtenden Knoten ein Äquivalent zu biologischen Neuronen, sind die Fäden die übertragenden Nervenbahnen«, überlegte Kythara. Die Ähnlichkeit war zu gravierend, um Zufall sein zu können. Ich hatte schon viele hochwertige Rechengehirne unterschiedlicher Bauarten kennen gelernt, warum also nicht auch in dieser Art? Aber wo steckten die Waffensysteme des Kardenmoghers, wo die Einrichtungen, die ihn zu einem technologischen Wunderwerk machten? Die durch die Fäden jagenden Lichtimpulse wurden vor ihrer Weiterleitung von manchen Knoten verstärkt, während sie beim Erreichen anderer schlagartig erloschen, als sei eine zu übertragende Information absorbiert worden. Das allgegenwärtige Leuchten, Flimmern und Blinken ließ mich ständige Bewegungen erahnen, wo keine waren. Außer euch ist niemand hier, verscheuchte der Extrasinn den Gedanken. Ihr seid allein. »Fünfzehn Meter«, sagte Kythara. »Erinnere dich an den Durchmesser der
47 Röhre. Ich habe das Gefühl, schon viel weiter gegangen zu sein.« Mir ging es nicht anders. Entweder lag der Eindruck an dem allgegenwärtigen Netz, oder es wirkten weitere Faktoren, deren Einflüsse wir nicht erkannten. »Die Mikropositronik errechnet knapp fünf Meter vom Eingang, durch den wir den Kardenmogher betreten haben, bis zu unserem Standort.« Wir passierten eine Stelle, an der die Konzentration der Fäden besonders groß war. Zahlreiche Leuchtentladungen pro Sekunde entstanden in den Knoten und schufen ein kleines Blitzlichtgewitter. Als ich diesmal eine Veränderung wahrnahm, irrte ich mich nicht. »Sieh nach oben«, forderte ich die Varganin auf. Über unseren Köpfen lockerte sich das Gespinst auf. Die Maschen erweiterten sich und gewährten den Blick auf eine schwebende Blase. Sie war transparent und etwa kopfgroß. Mir kam die Idee, den Individualschirm meiner Kombi zu aktivieren, aber ich unterdrückte den Impuls. Da die Bordpositronik uns als Berechtigte anerkannt hatte, unternahm sie sicher keinen Angriff gegen uns. Sicher? Besonders sicher scheinst du dir jedenfalls nicht zu sein. »Die Blase verändert sich«, sagte Kythara und ließ mich den Extrasinn ignorieren. »Sie wird größer.« »Formenergie.« So wie bei der Nische, die uns aufgenommen hatte. Im nächsten Moment wurden Traktorstrahlprojektoren aktiv. Wir verloren den Boden unter den Füßen und schwebten gemächlich nach oben, der Blase entgegen, deren Transparenz verging. Sie verfärbte sich golden und wurde undurchsichtig. Gleichzeitig setzte sich ihr Wachstum fort, zu einem Durchmesser von fünf Metern, sechs, sieben. Und noch weiter. Die Traktorstrahlen transportierten uns durch einen leeren Schacht. Entweder hatte er, vor uns verborgen, bereits zuvor existiert, oder das Neuronengeflecht hatte ihn durch
48 Rückzug gebildet. Als wir eine Höhe von zwanzig Metern erreichten, begann sich das Netz am Boden wieder auszubreiten. Kythara hatte den Kopf in den Nacken gelegt. »Zwölf Meter Durchmesser«, stellte sie fest. »Dabei scheint es zu bleiben. Der Wachstumsprozess ist beendet. Sollen wir die Helme schließen?« So ganz traute sie der varganischen Technologie also doch nicht. »Nein«, antwortete ich nur, die entstandene Hohlblase wie ein riesiges goldenes Gebilde vor Augen, auf das wir uns mit gleich bleibender Geschwindigkeit zubewegten. Sie schwebte bewegungslos im Innern des Kardenmoghers, in seiner exakten Mitte, wie mir die Instrumente meiner Kombi mitteilten. Als wir durch die goldene Hülle stießen und aufgenommen wurden, spürte ich keinen Widerstand. Die Formenergie ließ uns passieren und schloss das Kugelgebilde nach unserem Eindringen sofort wieder. Ohne unser Zutun schwebten wir ins Zentrum der Hohlblase. Sie war leer, aber erhellt. Versteckte Beleuchtungseinrichtungen hüllten alles in einen warmen Schein. »Kythara an Kardenmogher: Statusmeldung.« »Kardenmogher an Kythara: Sämtliche Systeme in Bereitschaft«, meldete das Multifunktionsgerät. »Inbetriebnahme starten! Bordroutinen einleiten!«, ordnete die Varganin an. »Bedienungselemente erstellen und in Aktionsreichweite positionieren!« Aus dem Nichts schälten sich die Silhouetten mehrerer Eingabegeräte. Erst nachdem sie sich vollständig manifestiert hatten, erkannte ich, dass es sich um Holoprojektionen von Steuer- und Kontrollanlagen handelte. Sie umschwirrten vor allem Kythara, die sich einen Überblick verschaffte. »Elemente nach meinen Vorgaben umgruppieren!«, forderte sie und markierte mit Handzeichen imaginäre Punkte in die Luft. Augenblicklich reagierte die Positronik des Kardenmoghers und setzte ihre Vorgaben in die gewünschte Anordnung der Holos um. »Schon besser«, raunte die Varganin mir
Achim Mehnert zu. Ich kam mir ein wenig überflüssig vor, wollte ihr aber nicht ins Handwerk pfuschen. Später war immer noch Zeit, mich ebenfalls mit den Bordmechanismen vertraut zu machen. Auf den Holo-Panels leuchteten Bedienungsflächen mit varganischen Logiksymbolen auf, Kontrollanzeigen meldeten Bereitschaft. Die schwebenden Darstellungen erwachten nacheinander zum Leben. Zaghaft griff Kythara nach einer Steuerung. Ihre Fingerspitzen berührten verschiedene Eingabefelder. »Hm«, machte sie nachdenklich, weil sich die Reaktionen nur zögerlich einstellten. Einige Sekunden verstrichen, bis die Goldfärbung der Kugelhüllen-Innenseite durchbrochen wurde. Zahlreiche Holomonitore flammten darauf auf und bildeten eine Panoramagalerie. Endlich waren wir nicht mehr blind, sondern wurden Zeuge dessen, was außerhalb der Hohlblase geschah. »Das blaue Leuchten erfüllt jetzt auch das Innere des Kardenmoghers.« Ich betrachtete die Holos, in denen Ausschnitte des glitzernden Netzes zu sehen waren. Wenn ich mich nicht täuschte, hatte sich die Aktivität der die Knoten verbindenden Fäden erhöht. »Ich kann nur vermuten, dass es sich bei den optischen Anzeichen um Begleiterscheinungen vorbereitender Startsequenzen handelt.« Kythara agierte bei der Bedienung der Schalteinrichtungen schon schneller und zielgerichteter. Mit jedem Handgriff erlangte sie mehr Sicherheit im Umgang mit den empfindlichen Holoelementen. »Startsequenzen? Aber wieso? Erhältst du Zugriff auf sämtliche Bordsysteme?« »Triebwerke, Steuereinrichtungen für die Waffensysteme, Schutzschirmprojektoren.« Sie fuhr herum und richtete ihre Aufmerksamkeit einem anderen Holo zu. »Holo-Emitter, Energieerzeuger und Formenergieprojektoren.« »Was ist mit den Traktorstrahlen?« »Ich bin nicht sicher, aber das hier könnten die Kontrollen sein.« Ich spürte ein sanftes Vibrieren unter mei-
Der Turm des Denmogh nen Füßen. Der Kardenmogher war drauf und dran, sich in die Luft über dem verlassenen Tempelhof zu erheben. Nicht ganz verlassen! Plötzlich sah ich in einem Ausschnitt Azarete und Contelapo, die in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt waren. Sie badeten in einem strahlenden Lichtschein, der von einer Aura ausging, die sich um den Kardenmogher gelegt hatte. Außerdem entdeckte ich Gorgh und das Saqsurmaa, die im Eingang zum Tempelhof auftauchten. »Wir müssen Azarete helfen.« Kythara warf mir einen abweisenden Blick zu. Willst du Contelapo von hier aus erschießen? Ich jedenfalls bin dazu nicht bereit, auch wenn ich ihn nicht mag. Ich presste die Lippen zusammen. Nein, das war ich auch nicht. Trotzdem wollte ich etwas für den jungen Priester tun. Aber ich kam nicht mehr dazu, Kythara dazu aufzufordern. »Der Kardenmogher startet!«, stieß sie ungläubig aus. »Ich habe nichts damit zu tun. Er macht sich selbständig.« »Du musst ihn unter Kontrolle bekommen.« »Was glaubst du wohl, was ich hier tue? Auf die meisten Funktionen kann ich zugreifen, nur der Start lässt sich nicht abbrechen. Die Steuerung gehorcht mir nicht.« Zum ersten Mal verlor sie in meiner Gegenwart ihre unerschütterliche Ruhe. »Kardenmogher: Startsequenz abbrechen und Kontrolle an mich transferieren!« Nichts geschah. Ich stieß einen Fluch aus, der einem ehemaligen Kristallprinzen nicht gerecht wurde. »Traktorstrahl aktivieren! Wir müssen Gorgh und Emion an Bord nehmen!« Ich sah Kytharas verzweifelten Gesichtsausdruck, der nichts Gutes verhieß.
* Azarete war wie erstarrt. Er wollte dem erwachenden Denmogh nicht ins Antlitz sehen, aber es gelang ihm nicht, seinen Blick abzuwenden. Das blaue Licht der Vernich-
49 tung war allgegenwärtig und brannte sich direkt in seinen Verstand. Das war das Ende! Er bedauerte es nicht für sich, sondern vielmehr für Tesea. Wie gern hätte er sie noch einmal gesehen. Sie ein letztes Mal im Arm gehalten. Ihren Geruch in sich aufgenommen und ihr betörendes Lächeln geatmet. Vorbei! Der Denmogh zitterte vor Zorn und ließ den Boden des Tempelhofs erbeben. Sich schüttelnd stieg er auf, schwebte langsam höher und höher, bis er sich über die Köpfe der Arkasther erhoben hatte. Wo blieben seine Feuerzungen, seine Speere der Rache, die herabfuhren, um seine Kinder mit loderndem Atem zu versengen? Längst war von seiner ursprünglichen Hülle nichts mehr zu sehen. Knisternd und knackend verwandelte er sich in etwas Unbeschreibliches. Merkwürdige Segmente verschoben sich und nahmen neue Formen an, Ausleger wuchsen aus seinem Körper wie riesige Arme, die fahrig durch die Luft tasteten. Erker erhoben sich und wucherten gleich Geschwüren neben wachsenden Stacheln, von denen jeder ein Dutzend Panzertiere hätte aufspießen können. Zwischen allem entstanden Nischen aus purer Dunkelheit, die nicht einmal das blaue Leuchten erhellen konnte, und klaffende Schründe, größer als die Wohnhöhlen der Priester. Azaretes Mund war trocken. Seine Stirn glühte wie im Fieber. Rings um ihn war es taghell, als der Denmogh den oberen Abschluss der Hofmauern überwand. Contelapo! Der Wahnsinnige trug die Schuld an allem, was geschah. Am Untergang Arkasths, an der Vernichtung Cortastas und an … Teseas bevorstehendem Tod. Der Gedanke an den Hochpräses riss Azarete aus seiner Erstarrung. Außer ihm bewegte sich niemand. Zitternd und flehend hockten die Priester und die Gläubigen am Boden, von kollektiver Ohnmacht ergriffen. Nur Contelapo kam eben in die Höhe, schwerfällig und schwankend. Der Welt entrückt. Als Azarete in sein Blickfeld taumelte,
50 huschte ein bösartiges Lächeln über sein Gesicht. »Ihr werdet alle sterben!«, rief er und begann hysterisch zu kichern. Er ist irrsinnig geworden. Azarete fürchtete, dass, egal was er auch tat, es zu spät war, doch plötzlich war seine Entschlossenheit wieder da. Mit selten gekannter Klarheit sah er seine Bestimmung vor sich. Contelapos Tod war die vielleicht letzte Hoffnung, den Denmogh doch noch zu besänftigen. Eine goldene Aura hüllte den Denmogh ein. Blitze umflossen den aufsteigenden Turm, wie keine Naturgewalt sie mit sich brachte. Sie verästelten sich und tasteten bodenwärts, und endlich kam Leben in die Arkasther. Schreiend fuhren sie in die Höhe und stürzten, von blinder Panik getrieben, dem Ausgang entgegen. »Du bleibst hier!«, schrie Contelapo, kaum noch Herr seiner Sinne. »Verdammter Sohn! Wir werden dich töten, der Denmogh und ich!« Er sprang Azarete an, der von dem Angriff überrascht wurde. Ineinander verkrallt rollten die beiden Männer über den staubigen Boden des Tempelhofs. Azaretes Atem ging schwer, als sein gedrungener Vater ihn schüttelte wie einen Sack und auf ihn eindrosch. Er erhielt einen derben Schlag in den Magen, der ihm die Luft raubte und ihn verzweifelt japsen ließ. Feurige Kringel tanzten vor seinen Augen, und oben tanzte der Denmogh. Schaurig senkten sich seine Feuerlanzen in den Tempelhof und rissen die steinernen Sitzreihen auseinander. Felsen zerplatzten, und es grenzte an ein Wunder, dass die umhersirrenden Splitter die beiden Männer verfehlten. Contelapo steigerte sich in Raserei, und Azarete spürte, wie ihn die Kräfte verließen. Ein wenig konnte er noch durchhalten, mehr hatte er seinem um so viel älteren Vater nicht entgegenzusetzen. Wie Klammern aus Chitin schraubten sich die Hände des Hochpräses um seinen Hals. Raubten ihm die Luft. Ließen ihn Dinge sehen, die nicht existierten, und trieben ihn an den Rand des
Achim Mehnert Todes. Dorthin, wo Sauerstoffmangel Euphorie mit sich trägt und ein glückliches Hinübergleiten in eine andere Welt bedeutet. Das blaue Licht fuhr himmelwärts, bohrte sich den Myriaden von Sternen entgegen, zwischen denen der Denmogh zu Hause war. Gelb blutete einer der Schründe, pulste ein orangefarbener Ausschnitt, orangefarben wie … … Teseas Augen. Azarete stieß einen erbitterten Schrei aus. Die Verzweiflung ließ ihn ein Bein frei bekommen. Instinktiv trat er zu, spürte, wie der Griff um seinen Hals sich lockerte. Luft ergoss sich in seine Lungen, und sie schmeckte köstlicher als der feinste Nektar, den er je gekostet hatte. Contelapo wurde nach hinten geworfen, doch was war Trugbild, was Wirklichkeit? Keuchend rappelte Azarete sich auf, stemmte sich auf die Arme und konnte wieder einigermaßen klar sehen. Einen weiteren Blitz schleuderte Denmogh, und diesmal griff er nach seinem Hochpräses. Kein Schrei entfuhr Contelapo, als er getroffen wurde. Kein Aufbäumen ging von seinem lichtgebadeten Körper aus, der buchstäblich zerfetzt wurde. Azarete schlug die Augenlider nieder, als sein Vater starb, doch nur für Sekunden. Dann blickte er dem Denmogh nach, der immer schneller und schneller in den Nachthimmel aufstieg und keine weiteren Blitze schleuderte. Er verschwand so schnell, wie er aufgewacht war. Minuten später war nichts mehr von ihm zu sehen. Er ist … gegangen … ohne uns zu zerstören! Tesea! Ihr galt Azaretes nächster Gedanke. Viel zu lange schon wartete sie auf ihn, doch damit war es nun vorbei. Es wurde Zeit, dass er sie in eine bessere Zukunft führte, sie und das ganze Volk von Arkasth. In eine weltliche Zukunft. Als Azarete sich erhob, gehörte auch der falsche Gott Atlan bereits der Legende an.
*
Der Turm des Denmogh
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»Ich entdecke keine Symbole für den Traktorstrahl.« Kytharas Gesichtsausdruck passte zu ihrer Stimme, als sie verunsichert nach dem richtigen Aktivierungsfeld suchte. Ich empfand ihre Worte wie eine Ohrfeige. »Uns bleibt keine Zeit mehr. Kannst du Gorgh und Emion an Bord holen oder nicht?« Auf einem Holo-Monitor waren der Daorghor und das Saqsurmaa zu sehen. Sie warteten immer noch am Hofeingang, klug genug, sich dem startenden Kardenmogher nicht zu nähern. »Ich empfange Gorghs Gedankenimpulse jetzt stärker. Er konzentriert sich auf mich, weil er sieht, dass der Kardenmogher startet, und wie du auf den Traktorstrahl spekuliert.« »Dann unternimm endlich etwas!« Die Worte kamen mir schärfer über die Lippen, als ich es beabsichtigte. Kythara zögerte einen Moment, dann gab sie sich einen Ruck. Ihre Fingerspitzen näherten sich einer der Schaltflächen und betätigten sie. »Glück gehabt, na immerhin. Traktorstrahl vektoriert«, murmelte sie. »Projektor aktiviert … Außenhülle … vier Quadratmeter großer Ausschnitt … Formenergie.« Ich hörte nur mit einem Ohr hin. Das Vibrieren unter meinen Füßen steigerte sich zu einem sanften Schütteln, als der Kardenmogher vom Boden abhob. Ich atmete erleichtert auf, als sich Gorgh und Emion in die Luft erhoben, doch damit waren unsere anderen Probleme noch nicht behoben. »Ich bekomme den Kardenmogher nicht unter Kontrolle.« Wie von selbst flogen Kytharas Finger über die Leuchtfelder, und
mehrmals sprach sie die Positronik direkt an. Aus einem unerfindlichen Grund reagierte sie nicht mehr. »Vielleicht haben wir eine Sicherheitsschaltung aktiviert.« »Trotz unserer Berechtigung?« Die ist anscheinend nicht ganz so weit reichend wie du angenommen hast, du Narr, warf mir der Extrasinn vor. Wie sagen deine terranischen Freunde doch so zutrefend? Die Geister, die ich rief, werde ich nicht mehr los. Das hatte mir noch gefehlt, dass er anfing, irdische Klassiker zu zitieren. Beiläufig registrierte ich, wie Gorgh und das inzwischen wieder schlafende Saqsurmaa in die Hohlblase geschwebt kamen. Irgendwie war es Kythara gelungen, sie mit dem Traktorstrahl ins Innere des Kardenmoghers und zu uns zu bugsieren. »Arkonide …« Kythara stöhnte auf und prallte von den Schaltanlagen zurück. Ich fing sie auf und sah, dass sie das Bewusstsein verloren hatte, ausgerechnet in dem Moment, in dem zahlreiche hektisch blinkende Lichter in den Kontrollen aufflammten. Ich sprang zu einem der Holos und las hilflos die Werte ab. Der Kardenmogher war nicht mehr aufzuhalten. Er jagte durch die Atmosphäre von Parkasthon und beschleunigte mit unglaublichen Werten. Nur Sekunden vergingen, bis er in den Hyperraum sprang … … mit unbekanntem Ziel. ENDE
ENDE
Flucht nach VARXODON von Arndt Ellmer Der Kardenmogher, eine Bündelung unvorstellbarer Zerstörungskräfte, ist frei! Doch um welchen Preis? Kann Kythara – kann überhaupt jemand – das Artefakt kontrollieren oder zumindest stoppen? Von ihrem Ziel, den Kardenmogher als Waffe gegen die Lordrichter einzusetzen, sind Atlan
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Achim Mehnert
und die Varganin noch immer weit entfernt. Nah hingegen sind die Verfolger, die Heerscharen des Schwerts der Ordnung. Letzte Hoffnung für die Fliehenden samt ihrer unkontrollierbaren Waffe ist die FLUCHT NACH VARXODON