Das neue Abenteuer 367
Otto Emersleben
Der Turm des Todes
Verlag Neues Leben, Berlin V 1.0 by Dumme Pute
© Verla...
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Das neue Abenteuer 367
Otto Emersleben
Der Turm des Todes
Verlag Neues Leben, Berlin V 1.0 by Dumme Pute
© Verlag Neues Leben, Berlin 1977 Lizenz Nr. 303 (305/68/77) LSV 7503 Einband und Illustrationen: Peter Becker Typografie: Walter Leipold Schrift: 8/9p Excelsior Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland Berlin Bestell-Nr. 642 506 3 DDR 0,25 M
Glatt und drohend ragt der wuchtige Kegelstumpf des
Kaljan-Minaretts in den mondhellen Nachthimmel, läßt
die kantige Silhouette der Moschee unter sich im Schweigen des nächtlichen Buchara. Achmed atmet stoßweise, so erschöpft ist er. Noch hundert Schritte vielleicht . Dort hinter der Koranschule, zu der die Moschee gehört, liegt das Haus seines Onkels Omar, des Vorstehers der Schule. Er wird ihn aufnehmen und gut und sicher verstecken, denn niemand wird dort nach ihm, Achmed, suchen, Achmed, dem Kameltreiber, den die Wogen des Schicksals für kurze Zeit in ungeahnte Höhe gehoben haben und den sie jetzt wieder hinabstürzen - vielleicht ins Verderben, vielleicht an ein sicheres Ufer. Achmed klammert sich an die Mauerkante. Er beugt sich vor und sieht um die Ecke. Nichts. Da hastet er weiter, springt eher, als daß er läuft, hält von neuem an, sichert. Die Menschenleere, mit der die Nacht ihn umgibt, beunruhigt Achmed. Kein verspäteter Mullah auf dem Heimweg vom Abendgebet, kein Eseltreiber, keine eiligen Derwische. Niemand. So streng also ist die Ausgangssperre noch immer . Nur - warum ist er dann noch keiner der mongolischen Schildwachen begegnet? Unverständlich. Seit Achmed heute kurz vor dem Schließen der Tore in die innere Stadt geschlüpft war - ein Moment Unaufmerksamkeit des kontrollierenden Postens, ein gewagter Sprung über eine Mauer -, hatte er sich in der Menge geborgen gefühlt, die über den Basar wogte wie früher so, als wären die letzten vier Wochen niemals gewesen, als hätte es keinen Aufstand gegeben und als wäre diese Stadt Buchara und das Land ringsum nie von einem Kalifen
Machmud regiert worden, dem Siebflechter aus Tarab, und seinem Wesir, Achmed, ihm, dem Kameltreiber. Mit dem Einbruch der Dunkelheit waren die Menschen in ihren Häusern verschwunden, der Basar und bald darauf auch die Gassen hatten sich geleert. Es war eben in Buchara an diesem feuchtklammen Winterabend doch nicht so, wie es sonst immer gewesen war . Noch liegt es keine Woche zurück, daß die Mongolen auf ihren kleinen kurzbeinigen Pferden in großen Scharen zurückgekehrt sind in die Stadt und mit ihnen der Sadr und die anderen Würdenträger der islamischen Hierarchie. Kurz war der Traum gewesen von einem Leben ohne sie, den die Stadt geträumt hatte in den wenigen Tagen der Herrschaft des Kalifen Machmud Tarabi. Die Handwerker, die kleinen Händler und mit ihnen die Bauern in den Dörfern der Oasen ringsum haben ihn ausgeträumt, den Traum, den Hoffnungsrausch, sie sind - das sieht Achmed - unter dem Zwang der Ereignisse schon wieder zum nüchternen Alltag zurückgekehrt. Das Leben geht weiter, auch wenn es sich mit der untergehenden Sonne hinter Hofmauern und fensterlosen Lehmwänden verstekken muß. Achmed versteht die Leute, die froh sind, noch einmal davongekommen zu sein, und die jetzt - als wäre nie etwas gewesen - weiterleben, wie sie vorher gelebt haben. Nur - und hier unterscheidet sich sein, Achmeds, Wunsch weiterzuleben von dem der Basarhändler und Bettelderwische - er kann nicht weiterleben, ohne daß auch sie ihn verstehn, ihn unterstützen, verstecken, ihm weiterhelfen. Denn hat er nicht in den wenigen Tagen, in denen Buchara sich aus der altgewohnten unterwürfigen Haltung erhob und aufstand, um sich auf eigene Beine zu
stellen, sich für alle sichtbar von dem alten Achmed gelöst? Und mußte es nicht allen - Freunden wie Feinden - wie eine Loslösung ohne Wiederkehr scheinen? Er hastet weiter, an dem prachtvollen Portal der Koranschule vorbei, erreicht außer Atem das Haus seines Onkels Omar. Die Pforte ist zugesperrt, Achmed erklimmt mit größter Anstrengung die Mauer, die glatt ist und nur wenige leichte Lehmdellen aufweist. Im Hof ist es still. Achmed ist froh, daß der weiche Boden das Geräusch seines Aufsprungs verschluckt hat. Die Mauer des Nachbarhauses wirft einen undurchdringlichen Schatten, der Achmed anzieht, weil er Sicherheit bietet, jedenfalls für den Moment. Er schrickt zusammen, als plötzlich Licht durch ein Fenster fällt, und dreht sich um. Er sieht den Onkel das Fenster öffnen und hört ihn in den Hof hinein fragen: "Ist dort jemand?" Einen Atemzug lang bleibt Achmed stumm. Dann flüstert er fest und vernehmlich: "Ich bin es, Achmed. Ich bin allein und muß dich sprechen, Onkel. Schließ das Fenster und komm hierher in der Hof. Aber ohne Licht ." Da wird das Fenster wieder dunkel. Im mondhellen inneren Hof sieht Achmed schließlich die aufrechte Gestalt seines Onkels auftauchen, sieht ihn, den Vorsteher der Koranschule, im würdevollen Gewand, mit Turban und kantig gestutztem Bart, seinen gewaltigen Schatten hinter sich herziehen, und da hört er schon die vertraute Stimme des Onkels sagen: "Wo bist du, Achmed?" Achmed tritt heraus aus seiner Ecke Dunkelheit. Als er Omar gegenübersteht, gewahrt er den gutmütigen Ausdruck, der stets auf diesem Gesicht gelegen hat, seit
Achmed sich erinnern kann. "Ich komme, um dich zu bitten, Onkel ." "Ich bin dein Onkel nicht mehr. Meines Bruders Sohn ist tot für mich, seit er die Demut vergaß und die Hingabe, die er Allah schuldet. Denn Allah allein gibt, und er nimmt auch allein, und es ist niemand, der dies ihm gleichtun könnte. Such dir einen anderen, der dich Neffe zu nennen bereit ist. Und jetzt verlasse mein Haus." Dann knarrt die Tür. Achmed ist wieder allein. Allein mit seiner entschwundenen Hoffnung und mit seinen Fragen. Er tritt zurück in den Schatten. Für Ratlosigkeit, das weiß er, ist jetzt keine Zeit. Und doch spürt er die Leere, die sein Denken so plötzlich erstarren läßt und seine Entschlußkraft zu lahmen droht. Daß sein Onkel ihm die Hilfe versagen könnte . Mit allem hat er gerechnet, aber damit nicht. Wohin soll er gehen? Setzen andere, die ihn verstecken, nicht viel mehr aufs Spiel, als sein Onkel Omar dies hätte tun müssen Omar, der nicht mehr sein Onkel sein will? Achmed erinnert sich an seine Kindheit, an die Zeit vor achtzehn Jahren, als Buchara nach vielen Wochen Belagerung schließlich von den Steppenkriegern DschingisChans im Sturm genommen wurde. Es hatte furchtbar viele Opfer gegeben, und die Stadt war fast ganz zerstört danach. Aber Achmed entsinnt sich, daß sein Vater Unbekannte versteckt hatte damals, Menschen, die er nie vorher gesehen und auch später nie wieder zu sehen bekommen hatte. Es waren Mohammedaner gewesen und eben keine Mongolen. Das hatte genügt, um sie aufzunehmen. Und jetzt dieses: "Ich bin dein Onkel nicht mehr ."
Dabei war damals sein Vaterhaus am Rande des Rabat, der äußeren Stadt, zusammen mit den anderen Häusern der Gasse nur durch einen glücklichen Umstand erhalten geblieben. Jetzt aber - jetzt ist die Stadt unzerstört. Sie hatten die Herrschaft Machmuds zerschlagen, weil sie Buchara brauchten: als Umschlagplatz für den Handel, an dem der Sadr Steuern verdiente - Abgaben für jede eingebrachte Kamelladung, für jeden auf dem Basar verkauften Teppich, für jeden Gewürzposten. Und als festen Punkt für den Nachschub der mongolischen Reiterei. Als festen Punkt - nicht als zerstörte Festung. Also hatten sie Buchara geschont und nur den Willen der Menschen gebrochen - gründlich und schnell und für lange Zeit. Es bleibt ihm nur ein Weg aus diesem halb dunklen, halb hellen Hof: zurück über die Mauer. Vorsichtig läßt Achmed sich herab, drückt sich an den kühlen Lehmwänden entlang. Der Mond hat den höchsten Punkt seiner Bahn schon überschritten. Groß und rot hängt er über der schlafenden Stadt. Da steht plötzlich eine fackeltragende Streife vor ihm, als er um eine Ecke biegt. Sein Erschrecken löst sich, bevor die Mongolen ihn greifen können. Mit einem Satz ist er herum, hört hinter sich ihr wildes Speerschlagen gegen die runden Schilde, ihre Alarmrufe. Dann zischt ein Pfeil an ihm vorbei, ein zweiter. Aber Achmed hat schon einen Haken geschlagen. Nur raus aus der inneren Stadt! Er hastet durch die vom Mondlicht erhellten Gassenschluchten, hält sich, so eng es geht, an den Wänden der Häuser und Höfe, versucht im Schattendunkel zu bleiben. Als er sich den Verfolgern entzogen glaubt, holt er Atem, horcht. Dort drüben drohen die Zinnen der Mauer, die die Innenstadt einschließt. Er war froh gewesen, als er sie
heute überwunden hatte. Jetzt war auch das umsonst, er muß raus hier . Achmed tritt aus dem Schatten. Schnell überquert er den hellen Streifen Straße, der zwischen ihm und dem letzten Haus an der Stadtmauer liegt. Mit einem kräftigen Zug seiner Arme erklimmt er das flache Dach. Dort ertastet sein Fuß eine Stange, Achmed stellt sie schräg an die Mauer, hangelt sich an ihr nach oben. Nur nicht hochsehen jetzt . Wie ein Tier an den kalten Lehm gepreßt, versucht er, im Riß der klaren, harten Schatten Verdächtiges zu erkennen. Vorsichtig läßt er sich an der anderen Mauerseite herabgleiten. Seine Finger sind klamm, sie schmerzen, als er lang ausgestreckt an ihnen hängt. Da hört er rechts auf dem Turm einen langgezogenen Schrei: Die Wache nimmt den Ruf der Streife auf, der er eben entwischt ist, gibt ihn weiter an den nächsten Mauerposten. Schnell springt Achmed ab, sieht sich kurz um, läuft weiter. In einem Garten des Rabat kommt er schließlich zur Ruhe. Und da der Mond inzwischen untergegangen ist, wartet Achmed, bis es Morgen wird. Dann sieht er sich um in dem Garten. Ein paar Büsche sind da, aber sie sind nicht dicht genug, um ihn zu verbergen, einige enghalsige Tonkrüge, eine Rundmauer in der Ecke. Achmed sieht genauer hin. Es scheint ein verfallener Brunnen zu sein. Als er hineinschaut, erkennt er ein Gitter in geringer Tiefe, das den Brunnenschacht abschließt. Auf den Eisenstangen wird er sich ausstrecken können, hier wird er sogar Schlaf finden, da kein anderes Versteck sich bietet. Aber statt des Schlafs mit seiner erlösenden Leichtigkeit
kommt das Grübeln über Achmed: das Grübeln über die Hilfe, die sein Onkel Omar ihm verweigert hat, über das weitere Schicksal, das Allah für ihn, Achmed, bereithält, über das, was er in den letzten Wochen erlebt hat. Was ist aus den Freunden geworden, mit denen er in die letzte, alles entscheidende Schlacht zog? Was aus Machmud Tarabi? Achmed hatte versucht, im Kampf bei dem Kalifen zu bleiben, war dann aber in dem unüberschaubaren Getümmel, im Vor- und Zurückwogen der schlecht bewaffneten Männer doch von Tarabi getrennt worden. Als es plötzlich geheißen hatte, Machmud sei - getroffen durch einen mongolischen Pfeil - vom Pferd gestürzt, hatte Achmed gemeinsam mit ein paar Lanzenträgern die feindliche Flanke durchbrochen, um sich zu ihm durchzuschlagen. Es war ihnen gelungen, sich aus der Umklammerung mongolischer Bogenschützen zu lösen und den Anschluß an andere Aufständische wiederzufinden. Machmud lebe, hatte es dort geheißen. Da war Achmed geblieben und hatte weitergekämpft, wo er stand. Der Druck der mongolischen Reiterei, dem sie nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen imstande waren, hatte schließlich die Schlacht gegen die Aufstandsarmee entschieden. Sie wurde auseinandergejagt, und die Stadt fiel in die Hand der Feinde. Achmed war noch vor Erreichen der Stadtmauer durch einen Kampfwagen in die Wüste abgedrängt worden, der Mongole hatte Spaß daran gefunden, ihn bis zum Umfallen zu hetzen, dann aber von ihm abgelassen. Als Achmed wieder zu sich gekommen war, hatte er das Ende der Kämpfe aus der Ferne beobachtet, stündlich darauf wartend, die Stadt in Flammen aufgehen zu sehen. Aber sie hatten sie geschont, diesmal .
Nun, da die Zeit der schlimmsten Verfolgungen und der ersten Rache sicher vorbei war, ist er zurückgekehrt, um sich wieder Tarabi anzuschließen. Denn wer außer Machmud selbst war imstande, die Geschlagenen zu sammeln? Achmed weiß, daß er jetzt dorthin gehört. Er wird nie wieder derselbe duldsame Kameltreiber werden, der er war, bevor Machmud ihn gelehrt hatte: "Achte Allahs Gesetz, aber hüte dich vor dem, was der Imam und die Hodshas von dir verlangen, denn sie betreiben des Teufels Geschäft. Sie predigen heilige Worte mit Satanszungen ." Als die Sonne des neuen Wintertages sich hinaufgequält hat zu ihrer kläglichen Mittagshöhe, schläft Achmed endlich ein. Er träumt sich auf eine saftige, blumenbesäte Wiese, die bis zu den Bergen am Horizont reicht. Schwarze und braune Pferde mit gestriegeltem, glänzendem Fell weiden ringsum, und er geht zwischen ihnen her mit einer eisernen Zange und versucht, einem Pferd nach dem anderen ein glühendes Hufeisen aufzudrücken. Dabei staunt er selbst: Was soll das Eisen, die Pferde sind alle unbeschlagen, und sie sind es so gewohnt. Aber die Karawane die Karawane, die sich auf der Weide formiert, scheint einen weiten Weg vor sich zu haben . Da schließlich gelingt es ihm, einen Hengst am linken Hinterfuß zu fassen. Er reißt den Huf hoch, der Gestank des versengten Horns sticht ihm in die Nase. Ein paar Hammerschläge, dann läßt er das Tier frei. Aber er kommt nicht dazu, wegzugehen und das nächste Hufeisen aus der Glut des Schmiedefeuers zu holen. Kaum hat er sich umgedreht, holt das Tier aus und schlägt ihm den frisch beschlagenen Huf in die Seite. Da erwacht Achmed.
Er dreht sich auf den Rücken, reibt sich die Augen und sieht einen bärtigen Kopf mit blaßgelbem Turban sich zu ihm über den Brunnenrand beugen. Und er hört eine gewaltige Stimme in den Schacht röhren: "Wer bist du? Und was suchst du in meinem Garten?" Da steht Achmed auf und zieht sich bedächtig an der rissigen Wand des Schachtes nach oben. "Mein Leben ist von Allah in deine Hand gelegt", sagt er, als er in die Augen unter dem Turban sehen kann. "Ich bin nach dem mongolischen Sieg in die Wüste geflohen. Jetzt aber bin ich zurückgekehrt, weil ., weil ich mein altes Leben wieder neu beginnen will. Ich weiß nicht, ob du mich verstehst." Achmed lügt, aber er spürt keine Reue. Er hat sich ganz aus dem Brunnen gezogen, mit hastigem Klopfen versucht er seine Kleidung zu säubern. Den Blick des anderen spürt er an sich hinauf- und wieder hinabgehen, dann hört er ihn plötzlich sagen: "Das ist doch ., natürlich, Achmed, der Wesir. Nach dir suchen sich die Mongolen die Augen aus. Und unsere Hodshas und Derwische helfen ihnen dabei wie vor Hunger emsig gewordene Mäuse. Aber sei beruhigt, Achmed, bei mir bist du sicher wie sonst nirgendwo im besiegten Buchara. Du selbst hast dir den sichersten Platz in der ganzen Stadt ausgesucht. Ich werde dir Wasser und Teigfladen in dein Versteck bringen. Und wenn es nachts regnet, kommst du in mein Haus, denn ich wohne allein. Und nachts haben sie bisher noch nicht herumgeschnüffelt. Nur tagsüber - da mußt du hier im Brunnen ausharren. Ich bin dann in meiner Werkstatt am Osttor." Einen Augenblick lang herrscht Schweigen. Achmed steigt zurück hinter den Brunnenrand. Gegen fremde Neugier geschützt, beginnt er nun seinerseits mit dem
Fragen.
"Woher kennst du mich? Und wer bist du selbst?"
"Ich bin Usman, der Kupferschmied und Besitzer dieses Gartens und des Hauses dort vorn. Und ich kenne dich daher, woher jeder dich kennt, von den Reden Machmuds am Fenster des Palastes Sindshar Melik, von den Umzügen, vom Siegesgebet in der Großen Moschee. Immer warst du an seiner Seite, auch beim letzten Auszug gegen die Angreifer, gegen die, die uns unser neues Leben nicht gönnten und die euch besiegt haben, weil sie in der Übermacht waren. Eine Woche haben sie sich als Sieger gezeigt, und schon gibt es neue Steuern, neue Aushebungen für den Mongolenzug in das Land der untergehenden Sonne. Und der Sadr - der Sadr hält es mit den Ungläubigen, wie er es immer gehalten hat." "Aber - Machmud Tarabi? Was hört man in der Stadt von ihm?" Mit einer plötzlichen Wendung seines Kopfes sieht Usman Achmed ins Gesicht, kneift die Augen zusammen, sagt: "Der Kalif? Machmud Tarabi ist tot. Hast du es nicht gewußt? Einer, der es mir erzählt hat, hat ihn regungslos liegen sehen mit einem Pfeil in der Brust. Die Schlacht war noch nicht zu Ende, aber Machmud war schon tot. Der Pfeil hat ihn getötet, weil er kein Panzerhemd trug." Mit der Wucht eines Geschosses treffen die Worte Achmed, er duckt sich, zieht sich zurück in seinen Brunnenschacht, als fürchte er, umgeworfen zu werden. Der Kalif von einem Pfeil getötet. Das war es - Machmud war ungeschützt in die Schlacht geritten. Allah wird mich schützen, hatte er gesagt. Aber Allah hatte die Ungläubigen zum Siege geführt: die ungläubigen Mongolen und die Leute des Sadr - all die
falschen Propheten, die in seinem Namen des Teufels Geschäft betrieben. Allah hatte der Übermacht der Reiter und Bogenschützen den Sieg geschenkt über die mit Hakken, Messern und Knüppeln bewaffneten Bauern, Handwerker und Stadtarmen, die mit Machmud ausgezogen waren. Und er hatte die am Leben gelassen, die sich am besten zu schützen gewußt hatten mit fest geflochtenen Panzerhemden, mit Schilden und Helmen. "Warum schweigst du? Hast du es nicht gewußt, Achmed?" Was soll er diesem Mann erzählen, den er nicht kennt und dessen Vertrauenswürdigkeit er noch nicht geprüft hat? Was würde dieser Usman verstehen von seiner Hoffnung, der letzten, die er nun auch aufgeben muß . Tarabi tot. Noch glaubt Achmed es nicht, aber er sieht die Ohnmacht seines Unglaubens ein. Was allein ihn zu trösten vermag, das sind andere Gedanken: Selbst wenn der Kalif tatsächlich in jener Schlacht gefallen ist - keiner von uns hat den Kampf aufgegeben, solange er ihn noch nicht ganz verloren sah. War nicht das schon ein Sieg, wie es ihn nicht oft gegeben hat? Und ist es nicht seine Pflicht weiterzukämpfen, da er die mörderische Schlacht überlebt hat? Tarabi tot. Wie viele aber von denen, die überlebt haben, werden auch solch ein Versteck gefunden haben, solch einen Usman, und warten, bis das Gehetztsein vorüber ist? Wenn man sie ausfindig machen könnte in ihren Brunnen, in ihrem Alleinsein und ihnen den Glauben wiedergeben könnte, daß der Traum von einem Leben ohne Sadr auch nach dem Tode Machmud Tarabis nicht ausgeträumt ist . Daß sie zwar eine Schlacht verloren haben, aber daß der Kampf weitergeht und daß der Sieg schließlich denen gehören wird, die den Sieg davontragen
im allerletzten, alles entscheidenden Kampf . Er muß unbedingt seine alten Freunde finden. "Wirst du mir einen Weg abnehmen, Usman?" "Ich habe dich meiner Gastfreundschaft versichert, Achmed. Und ich meine damit mehr als Essen und Trinken und diesen unwürdigen Unterschlupf hier. Ich tue, was du mir sagst." "Geh noch vor dem Dunkelwerden in die alte Karawanserei und suche Kerim, er ist ein Freund von mir. Sag ihm, daß ich seine Hilfe brauche. Und sag ihm: Achmed grüßt dich vom anderen Ufer. Hörst du: vom anderen Ufer. Genau das sagst du ihm." Statt einer Antwort nickt Usman. Und da er stumm bleibt, spricht Achmed weiter. "Ich habe daran geglaubt, daß Machmud noch lebt, daß er nach der Einnahme der Stadt wieder auftauchen wird, um uns alle mit einem Zeichen um sich zu sammeln und sein Reich wieder aufzurichten gegen unsere Feinde. Denn nichts ist so trügerisch in seiner Dauer und seiner Beständigkeit wie ein leicht errungener Sieg." Und in Gedanken fügt er hinzu: Das sollen auch der Sadr zu spüren bekommen und die Ungläubigen, die mit ihm verbündet sind. Sie werden es spüren, selbst wenn Machmud wirklich tot sein sollte.
Am Abend, als klamme Dunkelheit sich über die Brunnenmauer den Schacht hinab bis zu Achmed getastet hat, hört er seinen Namen rufen und fährt aus dem Halbschlaf auf, in dem er die Zeit durchgleitet. Noch einmal ist da die Stimme, und obwohl er dieses Mal sanfter geweckt wird und ohne Steinwürfe, erschrickt er wie bei Usmans erstem Erscheinen.
"Achmed, komm. Es sieht dich jetzt niemand. Aber steig vorsichtig heraus, mach keinen Lärm." Das Haus am Rande des Anwesens, in das er geführt wird, ist klein, das Zimmer, in das Usman ihn schiebt, niedrig, aber es ist anheimelnd mit Teppichen ausgelegt. In einer Nische liegen sauber gestapelt ein paar Decken und Tücher - der Schatz einer ärmlichen Haushaltung. "Hast du keine Familie?" "Wie soll ich mir eine Frau kaufen, wo meine Arbeit kaum noch mich selbst ernährt? Und gar Kinder großziehen ." Mit einer einladenden Geste bittet der Hausherr Achmed, auf dem Fußboden Platz zu nehmen, und läßt sich dann selbst mit gekreuzten Beinen neben ihm nieder. "Ich wohne hier mit meinem Vater, der das Haus gebaut hat, noch bevor der Chan Dschingis unsere Stadt eroberte. Mein Vater schläft jetzt, wir können uns ungestört unterhalten." Aus einer kugeligen Kanne, die den angenehmen strohigen Duft von frisch gebrühtem Kok tschai - grünem Tee - verströmt, füllt Usman zwei hölzerne Trinkschalen. Er nickt Achmed mit einem leichten Zurückziehen seines nach vorn gebeugten Oberkörpers zu, bittet ihn zuzulangen. Er ist es zufrieden, seinen Gast gierig das heiße Getränk schlürfen zu sehen. "Du wirst lange schon keinen Tee mehr getrunken haben." "Ja, lange schon." Achmed stellt die Schale ab. "Seit jene Schlacht verlorenging, halte ich mich verborgen, esse so gut wie nichts. Und Tee - Tee habe ich natürlich auch nicht zu trinken gehabt seitdem." Achmed nimmt das Trinkgefäß wieder auf, und bevor er es ansetzt, sagt er
noch: "Er tut gut, dein Tee!" Dann schweigen sie. Die Flamme der Öllampe verbreitet unruhig tänzelndes Licht. Achmed sieht seinem Gastgeber in die Augen, und der Blick, den er von ihm zurückerhält, scheint ihm fest und ohne Falsch zu sein.
"Ich war bei Kerim", hört er Usman sagen. "Ich habe ihn in der alten Karawanserei gesucht, wie du es gesagt hast. Aber da war er nicht mehr. Sie haben ihn weggejagt, weil er bei Machmud gekämpft hat. Und er kann noch von Glück reden, daß er in ihrem großen Siegestaumel nicht gefangen und eingesperrt wurde. Jetzt arbeitet er im Dampfbad am Osttor, gar nicht weit entfernt von meiner Werkstatt." "So, im Dampfbad." Achmed lächelt. Kerim würde sich niemals fangen lassen. Er hatte Machmud seit seinem
ersten Einzug in Buchara, als der unbekannte Siebmacher aus seinem Heimatdorf Tarab in die große Stadt kam und sie allein durch sein Erscheinen in Aufruhr versetzte, als Reitmeister gedient und dem Kalifen später aus mancher ausweglos scheinenden Lage geholfen. "Hat er dich tüchtig geschrubbt? Und was läßt er mir ausrichten?" "Als er deinen Gruß hörte, entgegnete er: Achmed soll am anderen Ufer bleiben. Das hiesige Ufer ist zu sumpfig, um ihn herüberzuholen." Zu sumpfig. Also muß er selbst verdammt in Bedrängnis sein. Und trotzdem: Kerim war richtig als erster Anlaufpunkt. Er hat in der Zeit unter Machmud kein Amt bekleidet, das ihn bekannt gemacht hätte. Der Reitmeister ist nie öffentlich in Erscheinung getreten. Dabei ist Kerim umsichtig und wendig. Wenn er noch seine alten Beziehungen hätte, würde er nicht zögern, Achmed in ihr Teppichwerk einzuknüpfen. Und er wird es gewiß tun, sobald er dazu eine Möglichkeit sieht. "Ich danke dir, Usman. Ich sehe, du bist ein ehrlicher Mensch, und deine Anteilnahme an meinem Schicksal ist ohne Falschheit. Verzeih mir, wenn ich erst jetzt, nachdem wir zusammen Tee getrunken haben, so offen zu dir bin." Achmed verbeugt sich kurz, dann fährt er fort: "Ich dachte, Kerim würde mir helfen. Aber er kann es nicht, wie du siehst, sonst hätte er es getan. Ich danke dir, Usman!" Nach einer längeren Pause fragt er: "Was gibt es sonst noch in der Stadt? Wovon sprechen die Leute?" Da sieht Usman ihn mit großen Augen an und sagt: "Man spricht davon, daß die Gefangenen bald abtransportiert werden sollen. Die Mongolen haben die kräftigsten ausgesucht und schicken sie ihrem Chan als Sklaven."
"Und die anderen?" "Die anderen werden zum Wegebau eingesetzt. Das riesige Reich braucht Straßen, Verbindungswege, damit es zusammenhält." Das also wäre mein Schicksal gewesen, denkt Achmed, denn er ist von schmächtigem Wuchs. Beim Messen am Achsenstift der mongolischen Kampfwagen wäre er den weniger Kräftigen zugeteilt worden. Den fremden Blutsaugern Straßen bauen . "Gibst du mir noch etwas Tee?" Usman schenkt ein, und sie sitzen schweigend nebeneinander. Dann bereiten sie sich aus den Decken ein Lager für eine ruhige Nacht.
Der nächste Morgen ist kalt und regnerisch. Achmed geht noch vor dem Hellwerden zurück in den Brunnen, obwohl Usman ihm anbietet, im Hause zu bleiben wegen des Wetters, es würde schon niemand kommen, und vor dem Vater könne er das Zimmer verschließen. Aber Achmed läßt sich nicht dazu bewegen. "Ich habe kein Recht darauf", sagt er, "dich noch mehr in Gefahr zu bringen, als ich es schon tue. Es ist ja so lange nicht bis zum Abend." Dann ist er wieder allein in dem feuchten Erdloch. Wenn schon Kerim keine Möglichkeit sieht . Sie hatten sich in den glücklichen Tagen des Herbstes Freundschaft gelobt und gegenseitige Hilfe. Damals hatte keiner geahnt, wie bald er diese Hilfe bitter nötig haben würde und wie machtlos der andere inzwischen geworden sein könnte, zu machtlos, um sein Versprechen noch einzulösen. Am Abend, als Achmed von Usman ins Haus geholt
wird, lösen sich seine ausweglosen Gedanken auf in ahnungsvolle Hoffnung. Zuerst ist es nur ein Lächeln um den Mund des Kupferschmieds, das er im Halbdunkel zu sehen glaubt, dann die Beschwingtheit, mit der er aufgefordert wird, Platz zu nehmen - beim gemeinsamen Tee wird es ihm schließlich zur Gewißheit: Etwas Entscheidendes ist vorgefallen. Da beginnt Usman auch schon zu sprechen: "Machmud Tarabi lebt. Er hat heute früh auf dem Basar zu den Händlern und Bauern geredet." "Hast du ihn gehört? Wie sieht er aus, der Kalif? Und was hat er gesagt?" Obwohl es ihn hochreißt, bleibt Achmed neben dem Teegeschirr sitzen. Erst Usmans Antwort ernüchtert ihn. "Nein, ich selbst habe ihn nicht gesehen. Aber die ganze Stadt spricht von nichts anderem. Niemand hat ihn gesehen, aber alle haben davon gehört, daß er lebt und sich in Buchara aufhält." Nur mit Mühe unterdrückt Achmed seine Erregung. Wenn das alles tatsächlich stimmt und der Kalif lebt, braucht er seinen Wesir. Dann darf ich keine Zeit verlieren. Wenn er auf dem Basar spricht, gibt er den Kampf noch nicht verloren. So gelassen, wie er es vermag, wendet Achmed sich an seinen Gastgeber. "Usman, du mußt versuchen, Machmud zu treffen. Sag ihm, daß du mich versteckt hältst und daß ich auf seine Befehle warte. Nur - bring mir ein untrügliches Zeichen dafür, daß du mit Machmud Tarabi gesprochen hast und mit keinem anderen!" Machmud am Leben . Mitten unter den Siegern wird er das Volk von neuem wachrütteln und die Besiegten bewaffnen. Die Sieger von gestern wird er morgen besiegen. Und die Waffen dazu? Hat er nicht auch, bevor es zum
Kampf mit den vor der Stadt aufmarschierten Mongolen kam, die Ankunft himmlischer Waffenlieferungen vorausgesagt? Und tatsächlich war kurz darauf von Süden her, aus Richtung der persischen Grenze, eine Karawane in Buchara eingetroffen mit Säbeln und Lanzen. Niemand hatte danach mehr an der Kraft des Kalifen, Wunder zu tun, zweifeln können. Allah hatte sein Wohlgefallen an dem Siebflechter Machmud vor allen bezeugt. Er hatte ihn nicht umsonst zum Kalifen, dem Hüter des Glaubens, berufen. Denn siehe, meine Propheten werden Wunder tun in meinem Namen, und wer an mich glaubt, der wird dieser Wunder ansichtig werden und an ihnen teilhaben. So sagt Allah es durch den Mund seines Knechtes Mohammed, und Machmud hatte Gnade gefunden vor seinem allmächtigen Auge. Und er wird nun - daran gibt es für Achmed keinen Zweifel - noch einmal dieser Gnade teilhaftig werden und neue Wunder vollbringen. Wunder und Zeichen zum Nutzen der einfachen Menschen und zum Ruhme Allahs. Er wird den Abtransport der Gefangenen zu verhindern wissen, wird die hochmütigen Sieger strafen und die Geduckten aufrichten. In seinem Innern ist Achmed von einem Taumel ungekannter Freude ergriffen. Nachdem sie den Tee ausgetrunken haben, entschließt sich Achmed, diese Nacht im Brunnenloch zuzubringen. Es ist trocken heute, und er möchte jeden noch so dummen Zufall ausschalten, jetzt, da das Ende der Unsicherheit zum Greifen nahe scheint. "Aber laß mich morgen nicht allzu lange warten!" Damit verabschiedet er sich von Usman. Die Nacht ist sternenklar. Die Kälte beißt in die Füße, ins Gesicht und in die Hände trotz der kamelwollenen Decke aus Usmans bescheidenem Vorrat in der Stubenni-
sche. Aber Achmeds Freude verdrängt die Kälteschauer, die ihn immer wieder packen und zu schütteln suchen. Er ist schon beim morgigen Tag, und wie von selbst stellt sich auch die Erinnerung ein an das, was dem Aufstand vorausging. Achmed war Ende vergangenen Sommers mit einer Karawane aus Astrachan zurückgekehrt. Seide, Gewürze, Tee, edle Hölzer und andere Schätze Asiens hatten sie dorthin geschafft, an die Mündung des Wolgastroms, wo Schiffe die Ladungen übernahmen. Mit Salz, kostbaren Pelzen und Tuch beladen, waren sie heimgekehrt. Die Tiere - vierzig Kamele waren es auf dem Rückweg gewesen - hatten wie immer eine stoische Ruhe gezeigt, aber sie waren ausgedürstet gewesen bei ihrer Ankunft in Buchara nach dem Zug durch die Wüste. Sie hatten am Nordtor Quartier genommen, in der Karawanserei, die "die alte" genannt wurde, weil sie noch aus der Zeit vor der Einnahme durch die Mongolen stammte. Dort hatte er Kerim kennengelernt, der die Kamele im Innenhof tränkte und der den Treibern ihre Schlafstuben im Erdgeschoß zuwies und den Kaufherren ihre Gemächer in der Galerie des oberen Stockwerks. Er hatte sich viel mit Kerim unterhalten, hatte durch ihn von dem wachsenden Unwillen gegen den Sadr gehört, gegen die willkürlichen Steuererhöhungen und gegen immer neue Abgabeauflagen, die - wenn es anders nicht ging - von mongolischen Speerträgern eingetrieben wurden. Kerim hatte ganz furchtlos, und ohne sich ständig umzusehen, wie Achmed es sonst von den Menschen in Buchara gewohnt war, von diesen Dingen gesprochen, und als Achmed ihn gefragt hatte, ob er denn gar keine Angst habe vor neugierigen Ohren, hatte er ihm zur Antwort
gegeben: "Du warst zu lange nicht hier. Vieles hat sich geändert inzwischen. Jetzt sind es die neugierigen Ohren, die Angst haben vor dem offenen Wort." Und Kerim hatte etwas erzählt von einem Siebflechter Machmud, der in dem Dorf Tarab, nicht weit vor der Stadt, Kranke heile und dabei wahre Wunder vollbringe und der gleichzeitig mit seinen Heilkünsten auch seine Ansichten offen verbreite: daß die Herrschaft des Sadr, der Hodshas und Emire, und wie das Geschmeiß alles hieß, gar nicht von Allah gewollt und gebilligt sei, daß dieses Ungeziefer vielmehr darauf aus sei, im trüben Wasser des Unverstandes die größten Fische für sich zur Seite zu bringen; daß die schlimmsten Ungläubigen nicht die Fremden seien denn sie hätten wie die Mongolen meist eigene Götter -, sondern die, die am lautesten Allahs Namen im Munde führten; daß schließlich ein heiliger Krieg kommen würde, der all die Teufelsknechte vernichten und mit ihrer Herrschaft aufräumen würde. Diesem Machmud Tarabi lief damals alle Welt zu teils, um sich heilen zu lassen von körperlichen Gebrechen, teils, weil seine Worte die Armen und Hilflosen aufrichteten in ihrer Not. Aber auch vornehme Leute gehörten zu seinen Anhängern, und bald bildete sich eine Sekte heraus, die in Buchara und Umgebung der bislang unangefochtenen Macht des Sadr und dessen Leuten erhebliche Schwierigkeiten bereitete. Es kam zu Steuerverweigerungen und anderem Ungehorsam, und schließlich wurde Machmud Tarabi vom Rat des Sadr nach Buchara gerufen - angeblich, um ihn von seinen Irrtümern abzubringen, in Wahrheit aber, weil man ihn zu töten beschlossen hatte. Der Einzug des wundersamen Mannes, der zunächst
hatte geheimgehalten werden und in aller Stille erfolgen sollen, wurde zu einem Triumphzug durch die begeisterte Menge seiner Anhänger auf den Straßen. Hier hatte Achmed, neben Kerim in der prallen Sonne ausharrend, Machmud zum erstenmal gesehen: sein gütiges, noch junge Gesicht; den vollen schwarzen Bart, der etwas von der Abgeklärtheit und Weisheit des Alters vorwegnahm; den einfachen grauen Chalat, in dem er auf einem weißen Esel saß und hindurchritt durch die wogende Menge der rufenden, winkenden Menschen. All das hat sich für immer in Achmeds Gedächtnis gegraben, und er erinnert sich daran mit jeder Einzelheit, als sei es gestern gewesen und nicht vor vier Monaten. Die Tage waren in erregender Hochstimmung verflogen damals, und als es hieß, eine Pilgerkarawane formiere sich zur Reise nach Mekka, hatte Achmed lange überlegt, ob er diese Arbeit annehmen oder lieber in Buchara bleiben solle. Dann war ihm die Entscheidung abgenommen worden, denn die Ereignisse hatten sich zu überstürzen begonnen. Auf Machmud wurde durch einen Bogenschützen ein Anschlag verübt, als der heilige Mann nach dem Gebet die Große Moschee verließ. Zwar blieb er unverletzt, aber er vermied es seitdem, öffentlich aufzutreten. Er besuchte Kranke, war Gast in armen und reichen Häusern und predigte seine Lehre von der Gleichheit der Gläubigen im engen Kreis seiner Anhänger. Abends kam er nach dem Gebet immer gleich in sein Quartier in der Karawanserei zurück.
Durch einen Zufall war Achmed, der Machmud jetzt täglich sah, da sie unter dem gleichen Dach wohnten, Zeuge eines Gesprächs von zwei Unbekannten geworden, die sich am Hoftor der Karawanserei die örtlichen Gegebenheiten sehr genau ansahen. Wir werden, so hatte er einen von ihnen sagen hören, ihn hier abpassen, wenn er heimreitet, der komische Heilige. Und falls er sich wehrt, gibt es eins auf den Turban, und wir verschnüren ihn mitsamt seinem Esel. Die beiden hatten gelacht und waren gegangen. Achmed hatte sich gleich in die Stadt aufgemacht, Machmud aber nicht gefunden. Erst als der Muezzin vom Kaljan-Minarett zum abendlichen Gebet rief, hatte er Machmud im Kreise seiner Begleiter entdeckt. Beim Verlassen der Gotteshalle war er an ihn herangetreten und hatte gesagt: Machmud, Verkünder des wahren Glaubens, geh nicht zurück in deine Herberge, denn dort lauern zwei Männer auf dich, die dich fangen wollen. Machmud hatte ihn mit großen Augen angesehen, und so hatte er, Achmed, noch hinzugesetzt: Wenn du mir nicht glaubst, so gib mir deinen Turban und dein Gewand und laß mich an deiner Stelle auf diesem Esel heimreiten. Da hatte Machmud lachend zugestimmt, sie hatten die Kleider getauscht, und Achmed hatte sich auf dem weißen Esel zur alten Karawanserei aufgemacht. In einiger Entfernung waren Machmud und ein paar seiner Leute gefolgt, und sie hatten gesehen, wie vor dem steinernen Torweg zwei Männer hervorgesprungen waren und Achmed mit Stricken gebunden hatten. Der hatte sich nicht gewehrt, hatte nur immer geschrien: Ich bin nicht der, für den ihr mich haltet! Da waren auch schon die Männer heran gewesen, die Machmud Tarabi begleiteten,
hatten Achmed befreit und die beiden Kerle verprügelt. Machmud hatte damals die Stadt verlassen und war durch die Oasengärten bis in die Wüste gezogen, wo er auf dem Hügel Abu Hafsa zu predigen anfing. Viele Menschen waren ihm gefolgt, die Empörung hatte auch die Zweifler sehend gemacht. Vor dem andächtig staunenden Volk hatte Machmud Tarabi dem Kameltreiber Achmed für seine Rettung gedankt und ihn zu sich auf die Steinplatte geholt, von der herab er zu den Menschen sprach. Das war jene Rede gewesen, in der er die um sich gescharten Gläubigen aufrief zum heiligen Krieg gegen alle, die Allahs Namen mißbrauchten. Von seinen Worten hochgerissen, waren sie unter die Stadtmauer gezogen, hatten mit der Gewalt ihrer unabsehbaren Zahl die Torwachen einfach beiseite geschoben und sich unblutig Einlaß erzwungen. Als der drohende Menschenhaufen vor dem Palast des Sadr anlangte, war der Herrscher schon aus der Stadt geflohen. Seitdem war Achmed nicht mehr von Machmuds Seite gewichen, hatte ihn überallhin begleitet und ein Auge auf ihn gehabt, wann immer Gefahr drohte. Als Machmud den Titel eines Kalifen annahm, hatte er Achmed zu seinem Wesir ernannt, seinen höchsten Ratgeber und engsten Vertrauten. Und erst die Verwirrung des letzten, alles entscheidenden Kampfes hat die beiden zu trennen vermocht. Aber jetzt ist Machmud wieder aufgetaucht und wird allem eine Wende zum Guten geben. Wenn nur erst Usman da wäre mit Nachricht von ihm . Achmed fällt es schwer zu warten. Er ist begierig darauf, den Kalifen wiederzusehen, seine feste, entschlossene Stimme zu hören, seine Befehle. Als der Abend in die Stille des Gartens hinabfällt, packt
Achmed tiefe Unruhe. Was hält Usman gerade heute so lange auf? Er weiß doch, wie sehr er erwartet wird! Der letzte Vogelgesang verstummt, über der Brunnenöffnung ziehen die Sterne auf. Achmed fröstelt. Zweifel fallen ihn an wie ein Rudel hungriger Wölfe den Reiter. Hat er Usman nicht zuviel Vertrauen geschenkt? Selbst wenn der Kupferschmied nicht aus eigenem Antrieb hingeht und das erzählt, was er weiß über ihn, seine Absichten, seine Hoffnungen, Pläne und vor allem über seinen derzeitigen Aufenthalt - unter dem leisesten Druck schon oder einfach aus Unerfahrenheit kann er zum Verräter werden. Aber wozu solche Gedanken, warum lasse ich mich von dem bißchen Warten verrückt machen, denkt Achmed und ist wieder ganz ruhig. Habe ich diesen Tag nicht lange genug herbeigesehnt? Was macht da die eine Stunde, um die Usman sich verspätet! Und er lehnt sich mit dem Rücken an die Steine des Brunnenschachtes, versucht sich zu entspannen. Was macht schon die eine Stunde . Achmed blickt nach oben in das Kreisrund des nachtschwarz gewordenen Himmels. Die Sternenpunkte, die die schwarze Schale durchlöchern, scheinen ihm Boten einer verborgenen Welt zu sein. So, als wäre die schwarze Himmelsglocke nichts als ein Schutzschild vor einer unendlichen brodelnden Feuermasse, die dem Auge verborgen ist und die man nur ahnen kann durch die Lichtpunkte, jene Flecke, an denen sie den Panzer der Nacht durchdringt. Achmed zittert. Wieviel mehr gibt es doch auf der Welt, als wir manchmal annehmen und als uns von allen möglichen Leuten weisgemacht werden soll: mehr Freundschaft,
mehr Güte, mehr Liebe auch. Und mehr Schlechtigkeit, mehr Gemeinheit, mehr Bosheit, mehr Elend und mehr Erbärmlichkeit. Er zieht die Beine an, legt die Arme um seine Knie. Die Nachtkälte schüttelt ihn. Nach einer Zeit sieht er den Mond unter dem Rand seines Brunnenhimmels verschwinden. Vor drei Tagen ist er in Usmans Garten gelangt, um die gleiche Stunde. Vor drei Tagen erst . Und doch hat die Welt sich inzwischen verändert. Er hat sich verkriechen können vor seinen Verfolgern und hat gleichzeitig den Anschluß an das Leben draußen wiedergefunden. Plötzlich hört Achmed auf dem Kies des Gartenweges den Takt schlurfender Schritte. Er schrickt zusammen. Kommt endlich Usman? Oder ist es dessen Vater? Oder ein Fremder? Achmed sieht nach oben, aber nichts zeigt sich in seinem Brunnenloch. Erst die sich entfernenden Schritte beruhigen den Versteckten. Wenn jemand ihn hier gesucht hätte, hätte er auch genau gewußt, wo das Versteck zu finden ist. Mit dem tiefen Aufatmen über die gewichene Gefahr kommt neue Ruhe über Achmed. Aber sie bleibt nicht lange. Er hört die Haustür zuschlagen, dann die erschreckte, schon brüchige Stimme eines alten Mannes: "Was wollt ihr frechen Eindringlinge hier? Mein Sohn wird euch jagen!" Laut knallt ein Fenster, eine andere Stimme ruft: "Auf deinen Sohn kannst du lange warten! Der kommt nicht wieder." Dann ist Stille. Achmed sitzt ratlos, sackt in sich zusammen. Was soll er tun? Sofort weglaufen, irgendwohin? Das wäre sinnlos. Nirgends ist er jetzt so sicher wie in diesem Brunnen. Er
muß wenigstens den morgigen Tag hier abwarten und dann zusehen, ein neues Versteck zu finden. Ob er ins Haus geht und den Vater nach Usman fragt? Der wird auch nicht mehr wissen, also ist es besser, den alten Mann nicht noch mehr zu verwirren. Er wird warten und morgen früh weitersehen.
Usman war, als er den Weg in seine Werkstatt eingeschlagen hatte, froh und heiterer Laune gewesen. Nichts hatte ihn bedrückt, nichts an ein Unglück denken lassen. Vielleicht hatte sogar die für seinen Auftrag nötige Vorsicht unter dieser guten Laune gelitten. Er würde Machmud Tarabi finden, würde mit ihm zusammentreffen und ihm vom Schicksal Achmeds berichten, seines Wesirs, den er, der Kupferschmied Usman, in einem trockenstehenden Brunnen seines Gartens versteckt hielt. Auf dem Weg zum Osttor ging er an der Tischlerwerkstatt des blinden Abdul vorbei, wo gestern der Altgeselle Hamid als erster vom Auftauchen Machmuds berichtet hatte - noch bevor die Sache Stadtgespräch war. Und da dieser Mann nicht um die Sache herumgeredet und gesagt hatte, nun sei die Niederlage keine Niederlage mehr, nun könne man bald wieder mit Machmud und seiner Streitmacht rechnen, glaubte Usman, dieser Hamid sei der richtige, um ihm weiterzuhelfen bei seiner Suche. Als er sich aber jetzt nach ihm erkundigte, erntete er betretenes Schweigen in der Werkstatt. Jeder werkelte weiter an dem, was er gerade vor sich hatte, aber Usman sah, daß sie nicht bei der Sache waren, daß sie über etwas schweigen, was alle wußten, allein er nicht und was ihm keiner zuerst sagen wollte. Da winkte der blinde Abdul ihn zu sich
heran, tastete ihm einen Platz frei neben sich auf der Meisterbank und begann zu sprechen, wie Blinde es oft tun, ohne ihm das Gesicht zuzuwenden. "Bist du es, Usman?" "Ja, ich bin es, Meister Abdul." "Dann setz dich zu mir. Setz dich und höre. Unser Altgeselle ist nicht mehr da, er wurde heute nacht hier aus meinem Haus, wo er wohnt, abgeholt. Frag nicht von wem, wohin, weshalb. Ich weiß das alles nicht. Die heute nacht kamen, waren Mohammedaner, keine Mongolen. Mehr weiß ich nicht, und es tut ja wohl auch wenig zur Sache. Aber eins weiß ich: Das, was Hamid gestern zu berichten gewußt hat von der Rede des Machmud Tarabi auf dem Basar, das kann gar nicht stimmen. Das muß irgend jemand in Umlauf gesetzt haben, der sehen wollte, wie das Gerücht sich ausbreitet. Denn alle, von denen ich es gehört habe, erzählten es in genau der gleichen Weise. Und weißt du - so gleich können es gar nicht alle erlebt haben." "Aber Hamid, war Hamid denn nicht auf dem Basar, als Machmud sprach?" "Nein. Er war den ganzen Tag hier. Das können alle bezeugen in meiner Werkstatt. Aber das ist es gar nicht. Hamid war wie ein Narr von einer fixen Idee besessen, er glaubte die Sache Machmud Tarabis noch nicht verloren. Und da hat er das Gerücht von der plötzlichen Wiederkehr des Kalifen - ich meine, von der Rede gestern auf dem Basar, was er hier von irgendeinem Besucher gehört haben muß -, das hat er so ernst genommen, daß er sicherlich selbst geglaubt hat, er wäre dabei gewesen. Und heute, das hatte er sich ganz fest vorgenommen, wäre er hingegangen."
"Wohin?" "Ja, weißt du denn noch gar nicht, ich meine, was sie alle erzählen? Daß heute mittag kurz vor dem Mittagsgebet der Kalif wieder sprechen soll? Hast du denn davon nichts gehört?" Usman sah die Blicke der Gesellen und Lehrlinge auf sich gerichtet. Sie schwiegen. Er sagte nur kurz: "Wo?" Da verstummte auch Meister Abdul. Nur seine blinden Augen schienen plötzlich zu reden. Es sprach Nachsicht aus ihnen, wie man sie nur kindlichem Unverstand gegenüber empfinden kann. Noch einmal sagte Usman: "Wo?" Er schrie es fast, sah sich um in der Runde, aber es kam keine Antwort. "So bleib doch ruhig!" Abduls Hand legte sich ihm auf die Schulter. "Ich sagte dir doch, daß das alles nur ein Gerücht ist. Du weißt doch, Usman, wie man eine Schweinsblase prüft. Ob sie dicht ist, meine ich. Du füllst sie mit Wasser und siehst, wo es rausläuft. Es ist immer dasselbe Wasser, das aus den verschiedenen Löchern kommt, nämlich das, was du reingefüllt hast. Siehst du, und nichts anderes haben sie mit der Nachricht gemacht vom wiederauferstandenen Machmud. Hamid war eins von den Löchern, aus denen ihr Wasser rauskam. Und darum haben sie diese undichte Stelle gestopft, und der Altgeselle ist verschwunden und wird es wohl auch bleiben." "Und ihr? Ihr habt Angst, daß es euch genauso gehen könnte! Alle habt ihr nur Angst! Und mit dieser Angst rechnen sie: die Mongolen, der Sadr. Wenn diese Angst nicht wäre, würden sie sich so manches nicht wagen!" Doch auch Usmans Erregung vermochte das Schweigen nicht zu brechen. Er wollte aufstehen, aber die Hand des
blinden Meisters hielt ihn zurück. "Bleib noch einen Augenblick hier. Man soll nicht im Zorn gehen und ohne klaren Verstand. Den Weg der Gläubigen erleuchtet Allah mit himmlischen Feuern." Ein seltsamer Alter . Was nur soll diese Geschichte von der Schweinsblase? Und sein Gerede von himmlischen Feuern, wo er doch blind war! So etwas kann er den Kindern erzählen zum Ramadan, aber nicht, wenn es auf Leben und Tod geht wie bei der Verhaftung seines Gesellen. Hamid ein Narr - wie konnte man so etwas sagen! Oder . vielleicht war er selbst, Usman, auch so ein Narr? War es geworden durch Achmed, der auf seine Hilfe rechnete, mehr noch, der auf sie angewiesen war. Er durfte aber Achmed nicht enttäuschen. Und er würde es nicht, seine Angst hatte er überwunden. Usman blieb sitzen, solange er den Händedruck des Alten auf seinem Knie spürte. Dann stand er auf und ging ohne ein weiteres Wort. Zunächst wollte er sofort Achmed benachrichtigen, aber dann fiel ihm ein, daß er ja auch erst die Hälfte wußte. Kerim würde ihm sagen, wo Machmud vor dem Mittagsgebet sprach. Im Badehaus am Osttor herrschte der gewohnte Andrang. Usman mußte warten, bis er eintreten konnte. Er zog sich aus, gab seine Kleider ab und setzte sich in der großen runden Mittelhalle nackt auf eine der steinernen Bänke. Hier war es angenehm warm. Aus den Rundbögen, die in die kleinen Seitenkuppeln führten, zog Dampf in weißen Schwaden herein und vermischte sich wirbelnd mit der kühleren Luft. Usman übergoß sich mit Wasser aus einem Trog. Wohlig entspannte sich sein Körper. Als er aufstand, um Kerim zu
suchen, fühlte er ein angenehmes Prickeln bis in die Fingerspitzen ziehen. Er fand den Bademeister in einem der dampfgefüllten Seitengewölbe. "Hast du Nachricht von Machmud Tarabi?" fragte er ihn, als er an der Reihe war, sich von ihm Bauch, Rücken und Schultern durchkneten zu lassen. Lange schwieg Kerim. Schließlich zischelte er: "Ich kenne keinen Machmud Tarabi." Aber Usman ließ nicht locker: "Warum willst du mir nicht weiterhelfen? Habe ich dir nicht bewiesen, daß ich mit Achmed im Einvernehmen bin? Er hat deinen Rat befolgt und ist am anderen Ufer geblieben, bisher jedenfalls. Aber nun will er rüberkommen, um sich mit Machmud Tarabi zu treffen." "Ich weiß nicht, was du von mir willst. Ich kenne auch keinen Achmed. Und ich habe dir niemals Ratschläge gegeben für jemanden, den ich nicht kenne." Kerim strich ein letztes Mal mit dem nassen grobleinenen Tuch über Usmans schweißperlenden Rücken. Dann gab er ihm einen leichten Schlag auf die Schulter, wrang den Lappen aus und sagte: "Ich würde an deiner Stelle das Bad nicht zu sehr in die Länge ziehen. Das bekommt nicht jedem, gerade zu dieser Jahreszeit. Und vor allem, sei vorsichtig an der frischen Luft!" Usman sah sich um, aber Kerim hatte sich schweigend den nächsten Massagepatienten vorgenommen. Da begoß er sich noch einmal mit kaltem Wasser und ging. Draußen blickte Usman aufmerksam in die Runde. Was hatte Kerim gemeint? War das nur so dahingesagt, oder war es nicht doch vielleicht ein ernst gemeinter Rat? Sei vorsichtig an der frischen Luft - seltsam war es auf jeden Fall. Aber dann war der Gedanke daran auch schon vorbei,
er mußte weiter. Wohin? In seine Werkstatt wollte er nicht. Und sofort zu Achmed? Sinnlos. Er wußte noch immer nur die halbe Wahrheit. Sollte er etwa Achmed sich in Gefahr begeben und selbst den Ort ausforschen lassen, an dem er Machmud würde treffen können? Er hockte sich hin, andere Gedanken kamen.
Hamid war es zum Verhängnis geworden, daß er von Machmud Tarabi gesprochen hatte. Vielleicht lag in der sonderbaren Geschichte des alten Abdul doch ein Wahrheitskörnchen. Auf einmal kauerte sich jemand neben ihn. Ein junger Mann, den Usman noch nie gesehen hatte vorher. Beide schwiegen sie, musterten einander. Der Fremde war bartlos, auch in der Hocke sah man, daß es ein kräftiger Bursche war. "Du hast nach Machmud Tarabi gefragt?" sagte er plötzlich.
Seine Stimme klang angenehm, leise schwang in ihr etwas mit von verschworenem Dazugehören und Helfenwollen. Aber Usman schwieg weiter. Schließlich kannte er den Fremden doch nicht. Er nahm einen Stock auf und malte Kreise vor sich in den Straßenstaub. Den anderen beirrte das Schweigen nicht. Auch er begann Sandfiguren zu malen, verschlungene Linien, und als Usman aus den Augenwinkeln auf die Striche hinsah, merkte er, daß es eine Rose wurde: das Zeichen der Anhänger Tarabis. Denn die Blume wird über die Dornen siegen . In Usman klangen die Worte an, mit denen Machmud Tarabi seine letzte Rede beendet hatte am Fenster des Palastes Sindshar Melik. Er hatte die Arme dazu gehoben und die auf dem Platz versammelten Menschen gesegnet, die bereitstanden zum Marsch in die Schlacht. Mitten im Strich hielt er ein mit der eigenen Kritzelei, warf den Stock weg. Er wollte aufstehen und einfach davongehen. Aber könnte er dann jemals erfahren, wo Machmud sprechen würde? Nicht jeder, der etwas wußte, brauchte gleich ein Spitzel zu sein. Warum sollte Achmed ewig warten, wenn hier der Weg, der aus seinem Brunnenloch hinausführte, so nahe lag? Man brauchte nur den ersten Schritt zu tun . "Ja, ich habe nach Machmud Tarabi gefragt", hörte Usman sich sagen, und als es heraus war, bereute er seine Worte schon. Da hörte auch der Fremde zu malen auf, legte seinen Stock neben die Rose im Sand und sagte: "Ich führe dich zu ihm. Komm mit!" Der Fremde erhob sich, und Usman folgte ihm. Er lief hinter ihm her wie in einem leichten Nebel, der seine Sinne durcheinanderzubringen drohte. Und doch lief er,
setzte Schritt vor Schritt, nahm aber die Häuser nicht wahr, an denen ihr Weg vorbeiführte. Einmal sah er sich kurz um, da bemerkte er hinter sich einen Mann, nur ein paar Schritte zurück. Er war ihm ebenso unbekannt wie der, dem er hinterherlief. Er schien etwas älter zu sein, aber kräftig und breitschultrig war auch er. Immer belebter wurden die Straßen, obwohl der Basar noch weitab lag. Die Menschen, so schien es Usman plötzlich, hatten alle das gleiche Ziel, und er spürte, er gehörte zu ihnen. Der Strom erfaßte ihn, trug ihn mit sich fort. Usman wehrte sich nicht. Eine enge Gasse umgriff die Menschenflut, raffte sie, schob sie zu einem stürmisch vorwärtsstrebenden Wirbel zusammen. Im Gedränge verlor Usman seine Begleiter aus den Augen, aber was machte das schon, selbst wenn er anders gewollt hätte - er konnte jetzt nur noch vorwärts gehen, die anderen schieben und selbst von ihnen geschöben werden. Die Gasse mündete auf den Platz vor der KaljanMoschee. Nur stockend nahm das riesige Geviert die Neuankömmlinge auf, so angefüllt war es bereits mit Menschen. Erwartungsvolles Schweigen lag über der Menge. Glücklich sah Usman sich um. Auch er würde Machmud sehen, ihn sprechen hören. Nur - wird er auch an ihn herankommen, ihm von Achmeds Aufenthalt in seinem Brunnen berichten können? Er versuchte, sich durch die wartenden Männer nach vorn zu drängen, aber er gab den Versuch auf. Dafür war immer noch Zeit, wenn sich die anderen nachher verliefen. Da sah er die Köpfe der Umstehenden sich nach oben recken, zur Spitze des Minarettes. Ein Raunen ging über den Platz.
In einer der Öffnungen zwischen den Säulen dort oben zeigte sich ein Kopf, ein Arm. Sollte das .? Doch bevor Usman den Gedanken zu Ende gebracht hatte, reckten andere Arme sich über die Brüstung empor, gestikulierten, hoben ein verschnürtes Bündel hoch, das in wildem Zukken auf ihren Händen zu tanzen schien. Das Raunen der Menge verstummte. Da rief vom Minarett eine Stimme: "In diesem Sack befindet sich der Tischlergeselle Hamid. Noch lebt er. Wenn er unten bei euch sein wird, lebt er nicht mehr. Er hat es gewagt, Lügen zu verbreiten. Oder habt ihr . Machmud ist tot . Hamids Beispiel zur Lehre dienen ." Immer schlechter war die Stimme zu verstehen in dem vom Platz aufsteigenden Rufen des Entsetzens. Panik ergriff Usman. Erinnerungsfetzen jagten sich vor seinem inneren Auge. Er hatte als Junge schon davon gehört, daß das Volk auf den Basaren und Karawanenstraßen das Kaljan-Minarett den Turm des Todes nannte. Hier hatte es manchmal geheime Hinrichtungen gegeben, plötzlich am Fuße des Turmstumpfes aufgefundene zerschmetterte Körper von Unbekannten oder aber auch von Leuten, deren Feindschaft zum Sadr allen bekannt war und die selbst kein Hehl daraus gemacht hatten. Jetzt also Hamid . Noch bevor der strampelnde zuckende Sack in die Tiefe gekippt wurde, geriet der Platz in Aufruhr. Die Menschen begriffen, warum man sie hierher gelockt hatte, und da sie unbewaffnet waren, erkannten sie ihre Ohnmächtigkeit. Sie schrien, versuchten davonzulaufen, trampelten über Gestürzte hinweg, schlugen um sich. Doch niemand konnte sich lösen aus dem hoffnungslos verfilzten Gedränge. Da sah Usman eine Kette mongolischer Bogenschützen sich auf dem Dach der Koranschule postieren. Er
schrie, stieß mit den Armen um sich, aber er blieb eingekeilt zwischen angsterfüllten Menschen. Die Pfeilhagel kamen zu kurz, als daß Usman hätte getroffen werden können. Wie ein Schwärm bösartiger Riesenhornissen schwirrten die Geschosse heran, die Schreie der Getroffenen schlugen gegen Fassaden und Mauern. Die Menge begann zu quirlen. Nur erst die Gasse erreichen . Es gelang Usman, mit seinen Nachbarn Schritt zu fassen, und neue Hoffnung ergriff ihn. Die Gasse! Aber kaum hatte es ihn vom Platz gedrängt, in den schmalen, aus Häusermauern und Hofeinfriedungen gebildeten Schlauch, da sah er, daß dies eine Falle war: Die Gasse war abgeriegelt durch lanzentragende Reiter. Alle, die dort vor ihm keuchten und drängten, wurden in den Hof der Koranschule geschoben. Da erkannte Usman, daß auch er seinem Schicksal nicht würde entrinnen können.
Achmed ist es eng geworden in seinem Versteck. Die Beine schmerzen vom Hocken, aber vor allem reißt die Ungewißheit an seinen Nerven. Jedes Rascheln in einem der Büsche, das laut genug ist, um an sein Ohr zu gelangen, läßt ihn zusammenschrecken, jedes Knacken, jedes Jaulen des Windes. Als es Morgen wird und die Kälte am unangenehmsten ist, hält es ihn nicht mehr. Er zieht sich hoch in dem Brunnen, sieht vorsichtig über den Rand und steigt hinaus, sich sofort wieder duckend. Noch liegt Dämmerung über den Gärten, aber es wird nicht lange dauern, und das volle Tageslicht wird sie verdrängen und jede Einzelheit ringsum sichtbar machen: die Sträucher, die Mauerrücken, ihn selbst. Die Sonne wird aufsteigen, wird scharfe Schatten werfen und ihm kein Versteck mehr übriglassen.
Er sieht sich aufmerksam um, eine Lehmwand bietet ihm Schutz. Die Vorstellung, sich im Freien zu bewegen, hat ihn ratlos gemacht. Wohin soll er? Soll er Usman auf eigene Faust suchen? Aussichtslos! Und dazu falsch und ohne Wert für das, was jetzt seine einzige Aufgabe ist: Machmud Tarabi zu finden. Aber wo, um alles in der Welt? Die Beine haben die Ungelenkigkeit des Verstecks schon überwunden - Achmeds Entschlußkraft braucht länger dazu. Doch jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt. Von der Mauer, die ihm schon keinen Schutz mehr bietet, weil er sie unter Aufbietung aller Kräfte erstiegen hat, sieht Achmed auf das unentwirrbar erscheinende Netz der Straßen und Gassen herab, auf die Schluppen zwischen den Häusern und Gärten. Überall lauert Gefahr, jeder Weg kann in die Wüste führen, zum Straßenbau - oder aber zum Richtklotz. Jeder Weg . Wirklich jeder? Irgendwo in dem Gewirr muß doch auch die schmale Gasse sein, die zu Machmud führt. Wer aber kann sie ihm zeigen? Er springt, fängt mit den Händen den kraftvollen Aufsprung ab, hastet weiter und läßt die Gärten der Vorstadt hinter sich. Erst am äußersten Wasserloch der Oase gönnt er sich Ruhe. Achmed erfrischt sich, trinkt von dem nachtkalten Wasser. Am anderen Ufer waschen verschleierte Frauen Wäsche und Laken, der Wind bläht den nassen Stoff zu großen Blasen auf. Allein wird er nichts ausrichten können, dazu kennt er die Situation in der Stadt zuwenig, weiß nicht, wer verhaftet und wer noch in Freiheit ist, wer nicht mehr helfen will und wer nicht kann, weil sie ihn beschatten. Wieder sieht er zu den Wäscherinnen hinüber, da erinnert er sich
an das Stichwort, an das mit Kerim vereinbarte Stichwort. Natürlich - Kerim! Der muß wissen, wo Machmud zu finden ist. Achmed läuft weiter. Die morgenleeren Straßen füllen sich langsam; müßige Fußgänger, vollbeladene Karren, Wasserträger quirlen bunt durcheinander. Die Stille ist lautem Stimmengewirr gewichen, das von Räderkreischen und Peitschengeknall zerschnitten wird. An der Mauer, die das Rabat, die äußere Stadt, vom Stadtinneren, dem Schachristan, trennt, hockt er sich in den Schatten einer Zypresse und läßt die morgendlichen Basarkarawanen an sich vorbeiziehen: Esel, mit Teppichen beladen, daß man sie kaum noch sieht unter ihrer Last, Kamele, die Wasserschläuche zum Füllen bringen für einen baldigen Aufbruch, humpelnde Bettler an knorrigen, krummen Stöcken. Es ist, als ziehe aller Reichtum und alles Elend der Welt an ihm vorbei in die Stadt, um dort auf dem Basar sein Glück zu versuchen: noch reicher zu werden - oder eben noch ärmer. Mit einem Händlerzug aus Samarkand gelangt Achmed durch das östliche Stadttor. Er hält eines der Kamele am Schwanz gefaßt, als sei er ein Helfer des Treibers. Die mongolischen Wachen am schmalen Mauerdurchlaß mustern grimmig jeden, den sie passieren lassen. Ihre metallenen Schilde glänzen in der matten Sonne des Wintermorgens. Vor dem Badehaus hockt Achmed sich nieder. Er nestelt an seinem Turban, als komme er eben aus dem Dampfbad. Er will warten, bis Kerim Feierabend hat. Als Kerim endlich erscheint, ist es Mittag. Achmed läßt ihn vorausgehen und folgt ihm erst, als er ihn um die nächste Ecke hat biegen sehen.
Im Halbdunkel der überdachten Gasse spricht er ihn an, fragt nach Usman und dann auch nach Machmud. Aber Kerim beantwortet seine Fragen nicht, dreht sich nicht einmal um. Erst als er in einem Mauerdurchbruch verschwinden kann, winkt er Achmed, ihm zu folgen. "Du darfst dich nicht mit mir zeigen. Ich werde beobachtet, scheinbar bekomme ich zuviel Besuch. Einen haben sie gestern vor dem Bad mitgehen lassen, er hatte mir gesagt, er käme von dir." "Usman!" "Ja, Usman. Ein Kupferschmied." "Und wo ist er jetzt?"
"Weggefangen. Jeden Tag fangen sie Dutzende weg . Und gestern - gestern waren es mehr als zweihundert." Mit hastigen Worten spricht er von dem Gerücht, auf das hin die Menschen zum Platz vor der Kaljan-Moschee
geströmt sind, von dem vor aller Augen zu Tode gestürzten Tischlergesellen Hamid, von der Massenverhaftung. Und von dem Schrecken, den die Davongekommenen in der Stadt verbreiten mit ihren Erzählungen. "Das hat der Sadr gut eingefädelt, mit eiskalter Grausamkeit. Und dein Usman ist auch drauf hereingefallen!" "Bist du sicher, Kerim?" "Ganz sicher. Er kam zu mir und wollte wissen, wo Machmud spricht. So ein Irrsinn! Machmud .! Das Gespräch in der Badestube muß jemand belauscht haben. Jedenfalls kam er nicht weit, nachdem er von mir weg war. Armer Usman!" "Und ich habe auf ihn gewartet! Sagst du jetzt wenigstens mir, wo ich Machmud Tarabi finde?" Als habe er die Frage nicht richtig verstanden, neigt Kerim sein regloses Gesicht ganz nahe zu Achmed und sagt: "Schlag dir diesen Gedanken aus dem Kopf! Oder willst du den Rest deines Lebens die Wüste umschaufeln und Steine karren? Machmud Tarabi ist tot. Niemand hat ihn je wieder gesehen, aber viele sind auf das Gerücht hereingefallen, er lebe noch und sei wieder aufgetaucht. Du mußt endlich begreifen: Machmud ist in der Schlacht gefallen! Wir haben ihn überlebt ." Achmed läßt kraftlos die Arme herabhängen. "Was heißt überlebt? Uns haben sie einfach zu töten vergessen." "Uns hat niemand vergessen - weder mich noch dich, Achmed. Sie wollen auch uns noch beiseite schaffen. Aber sie sollen uns nicht bekommen." Es geht, so erzählt Kerim, morgen eine Karawane nach Bagdad ab. Er wird Reisekleidung besorgen, und dann wird es nicht sonderlich schwer sein, diese verdammte Stadt zu verlassen. "Ewig werden wir uns nicht verstecken können. Machmud hätte
die Niederlage vielleicht noch überwinden können ." Achmed schweigt, er ist nachdenklich geworden. Für ihn ist Machmud jetzt erst wirklich tot. Es gibt keine Auferstehung zu einem zweiten Leben, es sei denn, man entscheidet sich selbst zu einem Neubeginn, bevor es dafür zu spät ist. "Ich komme mit dir, Kerim", sagt er. "Morgen früh nach dem Morgengebet bin ich an der Kaljan-Moschee." "Nach dem Morgengebet!" hört er Kerim noch sagen, dann geht er. Seine Schritte sind willenlos, und doch scheinen sie ihren Weg ganz von allein zu finden. Jetzt erst, da Achmed Gewißheit hat über das Schicksal Machmuds, hat für ihn die Unruhe und das Suchen ein Ende. Was hält ihn nun noch in Buchara? Die Sehnsucht nach einem besseren, gottgefälligen Leben in dieser Stadt ist ausgebrannt in ihm. Und seine Schuld an Usman wird er wohl niemals ganz begleichen können . Vielleicht vermag er sie ein wenig anderswo abzutragen, wo Menschen bedrängt werden oder aufbegehren und dafür leiden. Wer weiß - vielleicht schon in Bagdad, wohin mit Kerim zu gehen er nun fest entschlossen ist. Achmed ist wieder Herr über seine Schritte. Er läuft, als nähme er für immer Abschied, biegt in die Gasse der Töpfer ein, die zum Palast des Sindshar Melik führt. Die Leere des riesigen Platzes erschreckt ihn. Vor den zinnenbewehrten Schloßmauern fühlt er sich machtlos, aber das Gefühl des Verlorenseins hat er überwunden. Sindshar-Melik-Palast . Hierher war das Volk von Buchara geströmt, sooft Machmud Tarabi gesprochen hatte. Wie ein Traum kommt es Achmed vor, da das Pflaster ihn angähnt, kalt und stumm.
Von hier waren sie losgezogen, von hier wird auch er aufbrechen. Morgen schon . Wenn nur dieses Morgen endlich schon da wäre! Sein Onkel muß ihn verbergen, wenigstens für diese eine Nacht. Aber dann ist der Gedanke daran schon wieder vorbei, er wird die wenigen Stunden bis zu seinem Treffen mit Kerim auch ohne den Onkel irgendwie überstehen. Er schlägt den Weg zur Karawanserei ein. Die alte Karawanenherberge reckt ihre Ecktürme schief in den grauen Himmel. Solche hohen abweisenden Mauern hat Achmed oft gesehen auf seinen Reisen. Sie haben ihm Ruhe verheißen nach langen erschöpfenden Märschen oder - wenn er sich beim Aufbruch noch einmal hat umsehen können - den Beginn neuer Strapazen. Aber mit diesem Gasthof in seiner Vaterstadt verbinden ihn festere Bande als mit irgendeiner der Karawansereien, die er unterwegs kennengelernt hat. Hier hat er schon als Junge gespielt, vor diesem Tor haben sie ihn gefaßt und gebunden, als er auf Machmuds Esel in den Hof ritt. In Gedanken versunken tritt Achmed unter den steinernen Bogen. Er weiß nicht, was ihn hierher geführt hat bei seinem Abschiednehmen. Er hört seine Schritte dumpf und laut widerhallen - so, als wollten sie ihm selbst Angst einjagen. Plötzlich schrickt Achmed tatsächlich zusammen. Aber nicht seine Schritte haben ihn verstört: Im hellen Geviert der Toröffnung zeigen sich zwei Köpfe, und eine Stimme schreit laut: "Das ist er!" Mehr sieht und hört er nicht, und schon hat er sich umgedreht und die Flucht ergriffen. Er läuft, wie er noch nie in seinem Leben gelaufen ist. Wohin? Zurück zum Sindshar-Melik-Palast? Vielleicht ist er von dort den Häschern
signalisiert worden. . Also auf den Basar, in der Menschenmenge wird er untertauchen und spurlos verschwinden können. Hinter sich hört Achmed das Keuchen seiner Verfolger. Es sind zwei . Aber sie dürfen ihn nicht kriegen! Er denkt an die morgige Karawane. Kerim und er müssen die Botschaft des Machmud Tarabi weitertragen, dorthin, wo sie noch nicht gehört wurde, wo aber morgen vielleicht schon ein Leben ohne Imam und Sadr möglich sein wird, ohne Angst und Gejagtsein und Flucht. Achmed hastet weiter, stürzt in eine Seitengasse, aber seine beiden Verfolger wird er dadurch nicht los. Also weiter . Er streift die Ecke des Hauses, um das er herumwischt, strengt noch einmal alle Kraft an, dreht sich kurz um: Noch sieht er keinen der beiden hinter sich. Er muß weg von der Straße . Da entdeckt er in der endlosen Lehmmauer eine Tür. Er stößt dagegen und stolpert fast, weil sie sogleich nachgibt. Im Zurückschwingen fängt er die Tür auf und läßt sie leise zugleiten. Von innen gegen die Mauer gepreßt, hält er den Atem an. Wartet. Draußen stiebt Lärm vorbei. Allah sei Dank, sie haben ihn nicht entdeckt. Vorsichtig sieht Achmed sich um in dem engen Hof. Unter einem Maulbeerbaum mit kahlen Zweigen quillt leise plätschernd Wasser aus dem Rohr eines Springbrunnens. Ein steinerner Trog fängt den dünnen Strahl auf. Unter der überdachten Hofumrandung liegen Tücher, daneben noch eben benutztes Werkzeug. Achmed weiß nicht, wo er ist, er weiß nicht einmal, in welchem Viertel er sich befindet. So kopflos ist er vor den beiden geflohen. Seine Ratlosigkeit aber hält nicht lange an. Ein Fenster
öffnet sich, und in dem dunklen Geviert erscheint ein Gesicht, weißbärtig und von einem hellen Turban gekrönt. "Wer bist du? Was suchst du hier? Kann ich dir helfen?" hört Achmed sich angesprochen. Er hebt einen Finger und verschließt seinen Mund damit. Seine Verfolger können zurückkommen, draußen vorbeigehen, ihn suchen. Zu ihnen darf kein Laut über die Mauer dringen. Mit ein paar Schritten ist er an dem Fenster, verneigt sich vor dem Alten und flüstert: "Wer ich bin? Ich bin ein Gejagter. Was ich hier will? Daß du mich versteckst, und zwar sofort!" Der Hausherr stützt sich fest auf das Fensterbrett und sieht Achmed in die Augen. "Wen sie heute jagen", sagt er, "den jagen sie, weil er ihre alten Vorrechte anzutasten gewagt hat. Wer aber dazu den Mut aufbringen konnte, der verdient Allahs Schutz. Ich bin ein alter Mann. Allahs Wille ist mir das heiligste. Komm!" Behutsam schließt der Mann das Fenster und steht kurz danach schon an der Tür. Stumm winkt er Achmed herein. Im Halbdunkel eines engen Ganges geht er voran, bückt sich plötzlich und klappt eine Falltür hoch. "Hier kannst du bis morgen bleiben", sagt er. "Niemand wird dich dort suchen!" Wortlos steigt Achmed die schmale Leiter hinab, schaut noch einmal hoch, dankt. Als er die Klappe über sich zugehen sieht, kommt ihm noch einmal ganz kurz der Gedanke an eine Falle. Er verscheucht ihn mit einer müden Armbewegung. Achmed setzt sich. Über sich hört er es laut poltern. Hier wird ihn tatsächlich niemand suchen.
Zaghaft kriecht das Morgenlicht zwischen den Dielenbrettern hindurch zu Achmed in sein freiwilliges Verlies. Er steht auf, tastet sich auf dem Lehmboden vor zu der Stiege, auf der er gestern abend hinabgelangt ist. Die Luke gibt seinem Armdruck nicht nach, und selbst als er den gekrümmten Rücken mit ganzer Kraft dagegen stemmt, vermag er sie nicht anzuheben. Leise klopft er. Wartet. Wenn der Alte nicht vorgehabt hat, ihn auszuliefern, hat er ihn wirklich gut versteckt hier unten. Und wenn er es vorgehabt hat, hätte er nicht die Nacht über gewartet damit. Achmed fürchtet, das Morgengebet zu versäumen. Um nichts in der Welt darf er die Verabredung mit Kerim verpassen. Noch einmal klopft er, ungeduldiger schon. Da hört er es über sich scharren. Was gestern auf die Bretter polterte, wird wieder weggezogen. Als die Luke hochgeht, bricht das Licht herein wie Wasser durch eine Dammöffnung. Und in dem Licht sieht ihm der bärtige Alte von gestern abend entgegen. "Komm herauf!" hört Achmed ihn sagen. Er gehorcht und ist mit ein paar Sätzen neben ihm. "Du wirst diesen neuen Turban aufsetzen und mir auch deinen Chalat hierlassen! In deinen alten Sachen würde dich jeder wiedererkennen. Auch ich habe, seit du gestern kamst und ich dich hier unter diesem Berg in der Grube versteckte, nachgedacht, wo ich dich schon einmal gesehen habe. Und dann ist es mir eingefallen: Du bist Achmed, der Wesir unseres Kalifen Machmud Tarabi!" Dabei sieht er Achmed aus schelmisch leuchtenden Augen an, wiegt den Kopf und sagt noch einmal: "Jeder
würde dich in deinem Chalat erkennen. Ich bin ein alter Mann, und meine Augen sehen nicht mehr alles ganz scharf. Aber überall gibt es welche, denen nichts entgeht. Überall sind sie, die Spürhunde." Dankbar greift Achmed nach dem Kittelkleid, das der Alte ihm reicht, nach den weiten Hosen. Auch Usman hat ihn erkannt, und jetzt dieser Alte . Wirklich, eine gefährliche Leichtsinnigkeit. Er wickelt den Turban tiefer über die Stirn, als er es sonst tut. "Kann ich mich so auf die Straße trauen?" fragt er, und er ist zufrieden, als er den Alten zustimmend nicken sieht. Zum Zeichen des Abschieds legt er die rechte Hand auf die Brust, verbeugt sich noch einmal und geht. Vorsichtig sieht er sich um, als er durch die Tür auf die Gasse tritt. Die Morgenkühle erfrischt ihn. Sein Kopf ist klar, seine Sinne scharf gespannt. Er ist allein. Jetzt heißt es den Weg zurückfinden, den sie ihn gestern gehetzt haben: rechts, dann ein Stück geradeaus, dann wieder rechts. Achmed entsinnt sich. Er hat zum Basar laufen wollen, um unterzutauchen, aber dann war da vorher die rettende Tür in der Mauer gewesen. Als er die alte Herberge vor sich auf dem Platz liegen sieht, das Tor, unter dem die Hetzjagd gestern begann, hält er an. Dorthin nicht mehr! Und obwohl er sich in seiner Verkleidung sicher fühlt wie ein unsichtbarer Zauberreiter, schaut er vorsichtig um sich, bevor er den Weg zum Kaljan-Minarett einschlägt. Drohend ragt der Turm des Todes auf über die Häuserwürfel, die Kuppeln der Bäder, Moscheen und überdachten Basare. Er scheint Achmed ein warnender Zeigefinger Gottes zu sein. "Allah ist Allah .", schallt es ihm aus den Rundbögen des oberen Umgangs entgegen. Der Ruf des
Muezzins zum morgendlichen Gebet. Da ist sich Achmed plötzlich ganz sicher, daß die Flucht gelingen wird. Er tritt in den lichtdurchfluteten Vorraum der Moschee, streift die Stiefel ab. Wäscht Füße, Hals, Stirn, Ohren. Spült seinen Mund. Dann taucht er in das Gewoge der knieenden, betenden, murmelnden Gläubigen. Allah ist Allah . In ihm singt es, sein Herz greift den eintönigen Schrei des Vorbeters auf, der den Takt angibt für das Beugen und Aufrichten der knieenden Körper. Wie lange hat er nicht gemeinsam mit seinen Brüdern gebetet! "Siehe sie, die da glauben und wandern und streiten in Allahs Weg: Sie mögen hoffen auf Allahs Barmherzigkeit. Denn Allah ist verzeihend, und er ist barmherzig ." Es ist Achmed, als sei dieser Teil des Gebets, den alle mitmurmeln und zu dem sie hilfesuchend die Hände emporrecken, sein ganz alleiniges Anliegen, als beteten alle um einen glückvollen Ausgang der Reise, die anzutreten er sich mit Kerim anschickt. "Erwarten sie etwas anderes, als daß die Stunde plötzlich über sie kommt, ohne daß sie sich es versehen? O meine Diener, keine Furcht komme auf in euch an jenem Tage. Und niemand soll traurig sein, der an unsere Zeichen glaubt und der ein wahrer Moslem ist." Laut murmelt Achmed mit den anderen, und in Gedanken setzt er hinzu: Beschütze die Wege der dir ergebenen Wanderer, die in die Fremde gehen, um dein Wort und das Gebot deines Knechtes Mohammed zu bewahren. Und die die Lehre unseres Kalifen Machmud vom reinen und nicht der Selbstsucht verfallenen Glauben weitertragen werden - dorthin, wo sie noch niemand vernommen hat und wo die Geknechteten doch nach ihr dürsten.
Der Hodsha hebt die Arme, bittet den Segen Allahs herab für alle, die guten Willens sind. Die Betenden stehen auf und drängen zum Ausgang. Plötzlich sieht Achmed, wie es die Menge aufwühlt. Schreie hört er, sieht gereckte Hälse ringsum. Unwillkürlich schiebt er sich mit den Armen nach vorn. An der Tür zum Vorraum ist ein Gedränge entstanden. Die nach draußen strebenden Gläubigen wogen hin und her, kommen nicht durch. Ist der Ausgang versperrt? Noch kann Achmed nicht ausmachen, was das Gedränge hervorruft, aber eins weiß er: Jetzt heißt es, vorsichtig zu sein! Er drückt sich an der Wand entlang, versucht vorbeizukommen, das Knäuel zu umgehen, das den Ausweg verkeilt hält. Nur raus hier! Im Vorbeizwängen erkennt er, um wen sich dort in der Tür alles zusammenballt: Kerim. Er trägt ein weites Reisekleid, in das sich vier, fünf, sechs Hände geschlagen haben wie Falkenkrallen in ein Hasenfell. Und unter dem Arm trägt er ein Bündel - seine, Achmeds, Kleider für unterwegs . Einen Atemzug lang zögert Achmed. Seine Hilflosigkeit lahmt ihn. Dazu kommt die Angst, nackte, ausweglose Angst, wie er sie seit seiner Kindheit nicht mehr empfunden hat. Er läßt die Augen über die Kämpfenden irren, versucht Kerims Blick zu begegnen, und als es ihm schließlich gelingt, sieht er, wie der Freund ihn erkennt und ihm mit dem Kopf ein Zeichen gibt: Verschwinde! Sieh zu, daß es wenigstens einer schafft von uns beiden! Es ist nur ein ganz leichtes Aufzucken, ein Hochreißen des Kopfes, ein Hinweisen darauf, daß sein, Achmeds, Platz dort ist, wo die Freiheit wartet, die abgehende Karawane.
Achmed versteht. Aber er sieht auch, wie sehr ihn dieses Aufgespartsein überhäuft mit Verantwortung: Jetzt darf ihm nichts mehr passieren. Noch ein paar kräftige Armstöße, dann ist er draußen. Die Menge läßt ihn durch, schließt sich sofort wieder hinter ihm. Achmed geht an der Vorderfront der Moschee entlang, gibt sich möglichst ungezwungen. An ihm hasten Menschen vorbei, einzelne, die wie er herausgetropft sind aus dem verstopften Flaschenhals und sich in Sicherheit bringen wollen. Eine mongolische Schildwache kommt ihnen entgegengerannt, die Helme und Speere wippen im schnellen Takt der Marschtritte. Als sie vorüber ist, bleibt Achmed stehen und sieht ihr nach. Die Soldaten ordnen sich vor dem Eingang zur Moschee. Ein Kommando ertönt, und da kommt schon das Knäuel herausgewälzt, in dessen Mitte Kerim eingekeilt ist. Verzweiflung greift nach Achmed, aber er hat sich jetzt ganz in der Gewalt und geht weiter: zum Osttor. Mit einem Schub Bauern gelangt er hinaus, trennt sich draußen von ihnen und begibt sich zum Stellplatz der Karawanen am Arik. Wie oft ist er von hier aufgebrochen . Er wüßte die Zahl nicht zu sagen, wenn ihn jemand danachfragen würde. Heute ist es ein Aufbruch zu einer Reise, von der es so schnell keine Wiederkehr gibt. Die Wüste wird ihn aufnehmen, sie ist ihm vertraut wie einem Seemann das Meer. Und sie wird ihn sicher tragen bis ans andere Ufer, dorthin, wo keine Verfolger mehr lauern und wo die Angst ihn nicht mehr erreicht. Die Kamele liegen zufrieden wiederkäuend im Sand, ein Teil ist schon beladen. Geschäftig eilen Lastenträger herum, die ihr Gepäck schon losgeworden sind, andere verstauen hier noch ein Bündel, zurren dort eine Leine fest.
Reich gekleidete Kaufherren erteilen Befehle, es ist, wie es immer schon war. Achmed wird an das Treiben in den Häfen des Kaspischen oder auch des Persischen Meeres erinnert, die er auf seinen Wanderungen mit den Karawanen gesehen hat. Die reich gekleideten Kaufleute - das sind die, die nicht mitziehen mit der Karawane. Und wenn sie an Bord eines Schiffes steigen oder aber sich in den Kamelsattel setzen - das weiß Achmed -, ziehen sie ihre Prachtkleider aus, um bei einem Überfall von Piraten oder von Steppenräubern nicht als erste ausgeplündert zu werden oder als Geisel irgendwohin zu verschwinden. Das Leben ist stärker als alle Äußerlichkeit . Achmed fragt sich durch zum Karawanenführer, und er bekommt einen Platz von ihm zugewiesen. "Jawohl, bis nach Bagdad. Und von dort vielleicht nach Damaskus. Und nun sieh zu, daß du dein Tier findest!" Ein Glück - der Mann kennt ihn nicht, er soll, wie die anderen sagen, aus Persien kommen, nahe der indischen Grenze. Und seine Leute mit ihm. So bleibt Achmed allein, geschützt von seinem Unbekanntsein, aber es wird nicht lange dauern, dann wird er neue Freunde haben unter den anderen Kameltreibern, vielleicht sogar einen Vertrauten.
Heft 368 Jack London Die Teufel von Fuatino
Seit Wochen halten Piraten von Tahiti und Sträflinge von Neukaledonien die Insel Fuatino besetzt, morden und plündern. Sie glauben sich sicher, denn ein gekapertes Schiff liegt verankert am Strand, und die unbewaffneten Eingeborenen sind ihnen ausgeliefert. Und doch gibt es da jemanden, der Rachepläne schmiedet, Mauriri nämlich, der sich zwischen den Felsklippen am Eingang der Lagune versteckt hält und auf den Handelsschoner "Rattler" wartet. Der Kapitän und der Steuermann des Schiffes gehören zu seinen Freunden, und er weiß, daß er auf ihre Hilfe rechnen kann.