~~ Kaiser Traktate
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Der Jude Paulus und wir Heiden ANFRAGEN AN DAS ABENDLÄNDISCHE CHRIST...
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~~ Kaiser Traktate
- - - KRISTER STENDAHL - - -
Der Jude Paulus und wir Heiden ANFRAGEN AN DAS ABENDLÄNDISCHE CHRISTENTUM
- - - - CHR. KAISER - - - -
Titel der Originalausgabe: Paul among lews and Gentiles and other Essays. © 1976 by Fortress Press, Philadelphia, Pennsylvania. Aus dem Amerikanischen von utrike Berger.
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Stendahl, Krister: [Sammlung } Der lude Paulus und wir Heiden: Anfragen an das abendl. Christentum. - 1. Aufl. München: Kaiser, 1978. (Kaiser Traktate; 36) Einheitssacht.: Paul among lews and Gentiles and other Essays ISBN 3-459-01177-7
© 1978 Chr. Kaiser Verlag München. Printed in Germany Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages. Fotokopieren nicht gestattet. Umschlag: Christa Manner. Gesamtherstellung: Georg Wagner, Nördlingen.
INHALT
Vorwort der Übersetzerin . . .
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Paulus unter Juden und Heiden 1. Paulus unter Juden und Heiden 2. Eher Berufung als Bekehrung . . 3. Eher Rechtfertigung als Vergebung 4. Eher Schwäche als Sünde . . 5. Eher Liebe als Integrität . . 6. Eher einzigartig als universal
Gericht und Gnade Glossolalie - der neutestamentliche Befund Quellen und Kritiken
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VORWORT DER ÜBERSETZERIN
Der vorliegende Band vereinigt eine Reihe von Aufsätzen, die Krister Stendahl in den Jahren 1963-1975 zunächst als Vorträge vor den verschiedensten Hörerkreisen gehalten hat, vor Theologen und Laien, auf kirchlichen und auf politischen Versammlungen. Die schriftliche Fassung bemüht sich, den Erfordernissen wissenschaftlicher Genauigkeit Rechnung zu tragen, ohne der Gefahr zu erliegen, die offene, allgemeinverständliche und auch ungeschützte Form mündlicher Rede über einem zu großen wissenschaftlichen Apparat zu verlieren. Es geht diesem Buch um die Vermittlung von exegetischen Methoden und Ergebnissen in einer Form, die jeder Interessierte nachvollziehen kann. So entwirft der erste Aufsatz ein Bild des jüdischen Menschen Paulus in seiner Größe und mit all seinen Schwächen. Zentral ist dabei der Versuch, die einzigartige Weise nachzuzeichnen, in der Paulus darüber nachdachte, wie Juden und Heiden gemeinsam in Gottes Plan mit seiner Welt stehen - ein Thema, das in der Geschichte des westlichen Christentums so rasch verdrängt wurde. Auch die folgenden Aufsätze kreisen um dieselben Fragen: Wie kommt es, daß das westliche Christentum - bis vor kurzem noch unbestritten in seinem Führungsanspruch - heute von Christen anderer Kulturen und auch von Teilen seiner eigenen Mitglieder so heftig kritisiert wird? Was sind die Leistungen, und was sind die Grenzen dieses abendländischen Christentums? Besteht die Möglichkeit einer Ver7
ständigung sowohl mit der »älteren Schwester«, der jüdischen Religion bzw. dem Volk Israel, als auch mit den »jüngeren Brüdern«, den Befreiungsbewegungen in aller Welt? Stendahl geht diesen Fragen nach und versucht, sie exemplarisch zu beantworten. Die englische Fassung verdankt ihre Fertigstellung Stendahls Mitarbeiterin, Emilie T. Sander, die kurz vor der Drucklegung verstarb. Ihr ist das Buch gewidmet. Die deutsche Ausgabe wurde darüberhinaus an einigen Stellen' vom' Verfasser überarbeitet. Ein für den Leser theologischer Literatur vielleicht überraschendes Moment liegt in Stendahls Gebrauch humoristischer oder ironischer Elemente zur Verdeutlichung seiner Gedanken. Er selbst schreibt dazu im Vorwort zur englischen Ausgabe: »Ich glaube, daß Theologie eine zu ernste Sache ist, als daß es uns Menschen erlaubt wäre, theologisch zu denken ohne eine gewisse Leichtigkeit und Ironie. Es wäre arrogant, so ernsthaft sein zu wollen wie die Sache, um die es geht, und es könnte den HörerfLeser dazu verleiten zu glauben, alles sei genau so, wie ich es beschreibe. In letzter Zeit wurde mir die theologische Notwendigkeit der Ironie und ihres vornehmeren Vetters, des Humors, immer deutlicher - als Schutz vor Blasphemie. Ich glaube, auch aus diesem Grunde sprach Jesus in Gleichnissen, von denen viele einen humorvollen Einschlag zeigen. Und die jüdische Tradition, von der rabbinischen über die chassidische bis zur gegenwärtigen, weiß um den grundlegenden Unterschied zwischen Gott und unserem Nachdenken über ihn, und sie weiß, daß diese Differenz durch Humor und Ironie angemessen bewahrt ist, was von >ernsthaften< Theologen oft übersehen wird. Auf diesem Gebiet habe ich viel von meiner Frau Brita gelernt, aus ihrer Arbeit über Kierkegaard, dessen berühmte Melancholie über seinen Humor und seine Ironie nicht hinwegtäuschen sollte. Theologie der Art, wie ich sie hier betreibe, hat 8
spielerischen, versuchsweisen Charakter. Wie Paulus sagte: Wissen - auch Prophetie - ist unvollkommen. Wenn man dies vergiBt, >bläht man sich auf< (1. Kor. 8,1). Und ich möchte wie ein Kind denken, wie ein Kind argumentieren, denn als Christ bin ich noch nicht erwachsen, auch habe ich meine kindliche Art noch nicht abgetan. Dies wäre verfehlt vor jenem Tag, an dem wir durch Gottes Gnade völlig erkennen werden, wie wir völlig erkannt sein werden (1. Kor. 13,8-13). In der Zwischenzeit lade ich andere Kinder ein, mit mir zu spielen.« Für Stendahls exegetische Herkunft sei auf die beiden skandinavischen Theologen Anton Fridrichsen und Johannes Munck verwiesen, deren Arbeiten der Paulusforschung in den vierziger und fünfziger Jahren wichtige Anstöße gaben. Auch wenn Stendahl nicht in allem mit ihnen übereinstimmt (vor allem nicht in der Frage nach unserem Verhältnis zu den Juden), so ist seine eigene Arbeit ohne diese beiden jedoch nicht denkbar. Berlin, Juli 1978
Ulrike Berger
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PAULUS UNTER JUDEN UND HEIDEN
1. -------------------Paulus unter Juden und Heiden Paulus verbrachte sein Leben unter Juden und Heiden. Diese Feststellung ist weder überraschend noch besonders kontrovers. Als Jude war er gewohnt, die Menschheit in diese zwei Gruppen zu teilen. In einigen seiner Briefe erklärt sich die Struktur seiner Argumentation nur durch diese Zweiteilung. Öfter jedoch bezieht er sich mit seinem »alle« auf »beide, Juden und Griechen«. Nach seinen eigenen Worten ist er Apostel der Heiden; im Römerbrief spricht er von seiner Verpflichtung gegenüber beiden, Griechen und Barbaren, doch indem er dieser Verpflich\jtung nachkommt, ist er sich der Juden und ihrer Rolle in Gottes Plan sehr bewußt (Röm. 1,14-16). Die Apostelgeschichte zeichnet ein programmatisches Bild von Paulus dem Juden, dem Ex-Pharisäer, der das Evangelium in die heidnische Welt bringt, und sie endet erst, als Paulus Rom erreicht hat, das Machtzentrum der heidnischen Welt. Bei näherem Hinsehen ist der Titel dieses Aufsatzes, Paulus unter Juden und Heiden, jedoch nicht ganz so harmlos, wie er scheinen mag. Ich will hier zeigen, daß die Hauptlinien der Paulus-Auslegung - und deshalb das bewußte wie das unbewußte Lesen und Zitieren des Paulus durch Wissenschaftler und Laien gleichermaßen - seit vie-
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len Jahrhunderten die Beziehung zu einer der Grundfragen des Paulus verloren haben, die sein Denken vor allem anderen bestimmte: der Beziehung zwischen Juden und Heiden. ' In der protestantischen Tradition und besonders bei Lutheranern nimmt der Römerbrief des Paulus einen Ehrenplatz ein; er liefert Denkstrukturen, denen die Rolle von beherrschenden Ordnungsprinzipien für das paulinische Material zugesprochen wird. Eine solche Rolle spielt des Paulus Darstellung der Rechtfertigung aus Glauben; für manche dient sie nicht nur als Schlüssel zum paulinischen Denken, sondern als Kriterium für das wahre Evangelium, wie es im ganzen Neuen Testament, in der ganzen Bibel und in der langen, wechselvollen Geschichte der christlichen Theologie zu finden ist. Di~~.!~.!g~!1~~!! . ßapj Alk--die"allgemememenschliCIievenegeiilieit - zeitlos, erfahren in einem corpus christianum - erst einmal der Rahmen für die kirchliche Auslegung des paulinischen Denkens geworden war, da ging auch verloren, daß es ja große Unterschiede im Kontext, Denken und Argumentieren zwischen den verschiedenen Paulusbriefen gibt. Nachdem seine Rechtfertigungslehre aus ihrem Rahmen in der Beziehung zwischen Juden und Heiden gelöst und Teil seiner Erlösungslehre geworden war, da war auch der Unterschied zwischen den Juden im Römerbrief und den J udaisierern im Galaterbrief nicht mehr interessant. Ja, es wurde sehr schwer und war auch irrelevant, überhaupt noch zu erkennen, daß die Briefe an die Korinther oder an die Thessalonicher eine wieder andere Sprache, Problematik und Absicht haben. Man konnte die paulinische Theologie vereinheitlichen, weil der gemeinsame Nenner vorschnell in verallgemeinernden theologischen Themen gefunden war, und die jeweiligen Bespnderheiten der paulini-
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sehen Argumentation wurden unkenntlich. Aber wir haben im ersten Korintherbrief ein faszinierendes Bild von »Paulus unter den Heiden«! In den folgenden Kapiteln werden wir genauer sehen, wie reich und differenziert das Denken des Paulus ist, und wie wichtig eine solche Erkenntnis für unsere Frage nach Juden und Heiden ist. Müssen wir zunächst nicht die Frage stellen: Wie können Briefe, die Paulus an einzelne Kirchen in spezifischen Situationen richtete, das Wort Gottes für die Kirche' als ganze und in allen Zeiten sein? Es ist verlockend, daran zu erinnern, daß eine der ältesten noch erhaltenen Diskussionen, die des Canon Muratori, einer lateinischen Liste der neutestamentlichen Bücher, die Kanon sein sollten (gewöhnlich ins 2. Jahrhundert datiert, neuerdings von Albert Sundberg ins vierte), das Problem erkannt hat, das dann entsteht, wenn an Einzelgemeinden gerichtete Briefe als Wort Gottes für alle gesehen werden. Im Canon Muratori wird bemerkt, daß Paulus an sieben Kirchen geschrieben hat und daß in der Offenbarung des J ohannes sieben Kirchen so angesprochen werden (Kap. 1-3), als ob die ganze Kirche angeredet ist. Daraus könnte man folgern, daß wir die Paulusbriefe aufgrund ihrer Analogie zu den sieben Kirchen der Offenbarung als Schrift akzeptieren können. Dies ist eindeutig eine spätere Rationalisierung, aber sie zeigt, wie man in der römischen Kirche erklären wollte, was bereits Tatsache war: daß nämlich die Sammlung der Paulusbriefe im Kanon enthalten war. Irgendwie wurde die Zahl Sieben als bewußte Übereinstimmung mit dem Vorbild aus Gottes eigener Offenbarung in der Johannes-Apokalypse gesehen, also sind die Briefe des Paulus an die ganze Kirche gerichtet, also haben sie eine katholische (allgemeine) Bedeutung. Sobald die Einzelbriefe aber als Schrift anerkannt waren, wurden sie rasch einer Homogenisierung unterworfen. Im letzten Teil dieses Aufsatzes werden wir noch genauer über die Gründe nachdenken müssen, warum diese Briefe
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für sich genommen werden sollten; der einfachste Grund ist der: Wir müssen sicherstellen, welche Fragen der Apostel beantworten wollte. Selbst die göttlich richtige Antwort kann nicht recht gehört werden, wenn sie auf die falsche Frage gegeben wird. Im folgenden bin ich das Risiko eingegangen, einige schlagwortartige Titel zu wählen, durch die ich zu enthüllen hoffe, was Paulus ursprünglich beabsichtigte. Wenn ich in dieser antithetischen Form spreche - »Eher Rechtfertigung als Vergebung«, »Eher Schwäche als Sünde«, »Eher Berufung als Bekehrung« etc. - dann behaupte ich nicht, daß Paulus explizit oder implizit gegen, sagen wir, Vergebung gewesen sei. Ich benutze die Methode der Wortuntersuchung nur in einer ganz elementaren Weise, die jedem Bibelleser zugänglich ist. Und ich will damit zeigen, daß einige der Dinge, die wir oft bei Paulus zu hören oder zu erkennen glauben, gar nicht da stehen, oder wenn doch, dann aus ganz anderen Gründen und zu ganz anderen Zwecken, als wir vermuten. Das ist alles. So wende ich eine Methode an, die alles andere als esoterisch ist. Meine Hoffnung geht dahin, daß Bibelleser der Argumentation nicht nur folgen können, sondern sie in Zukunft selbständig anwenden. Denn unsere Sicht ist oft mehr durch das verdunkelt, was wir zu wissen meinen, als durch unseren Mangel an Wissen. Aus dieser Überzeugung heraus wird das Buch wenig Gelehrsamkeit enthalten und hartnäckig auf einem einfachen Verständnis des Textes beharren.
--------------,. 2. Eher Berufung als Bekehrung
Die Erfahrung des Paulus auf der Straße nach Damaskus wird gewöhnlich als seine Bekehrung bezeichnet. In der Apostelgeschichte gibt es drei Berichte darüber (9,1-19;
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22,4-16; 26,9-19), sodann gibt es Material im Galaterbrief (1,11-17). Wenn man diese Berichte liest, dann scheint es angemessen, von diesem Ereignis als »Bekehrung« zu sprechen, da dies unser gebräuchlicher Terminus für eine solche Begebenheit ist: Ein Jude, der so sehr an seinem jüdischen Glauben hing, daß er die Christen verfolgte, wird durch eine plötzliche und überwältigende Erfahrung zum Christen. Doch wenn man die Berichte genauer liest, sowohl die in der Apostelgeschichte als die bei Paulus selbst, dann entdeckt man eine gr~~~ I~g_nti~t1ität ~isc;hel1 dem »Vorher.~{: . pn-hat, für das ~ir .son~t ~einen Beleg ha~en. Die ?1.ob~13e ·~;;~~,~,c;. "
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R-eichweite der MissIOn 1St In der GlossolalIe symbolisIert . Wenn dies richtig ist, dann ist es zumindest sehr bedenklieh, wenn wir unser Verständnis der Glossolalie gerade auf den Bericht der Apostelgeschichte stützen 14 •
- - - - - - - - - - III. - - - - - - - - - Bei unserem Nachdenken über die paulinische Einstellung zur Glossolalie und anderen spektakulären Geistesgaben hatten wir guten Grund hervorzuheben, daß diese Gaben nicht in der Öffentlichkeit praktiziert werden sollten. In der Tat ist die Frage sehr wichtig, wie die frühen Christen ihr Verhältnis zur Öffentlichkeit sahen, genauer, wie und wo 13. Dies wird durch die Beobachtung gestützt, daß, wenn an anderen Stellen in der Apostelgeschichte von Glossolalie die Rede ist (10,44; 19,6; vgl. 4,31), das Phänomen dort dem Bild sehr ähnlich ist, das wir in 1. Kor. 12-14 erhalten. In Apg. 10 etwa gibt es keinen Hinweis auf Sprachschwierigkeiten. Es geht vielmehr darum, daß Gott das Zögern des Petrus vor einer Aufnahme von Heiden in die Kirche dadurch überwindet, daß Cornelius und seine Leute diesen spektakulären Geistesbeweis ablegen, was Petrus zu der Aussage veranlaßt, daß es keinen Grund geben könne, diejenigen nicht zu taufen, die den Heiligen Geist »so wie wir« empfangen haben (Apg. 10,47). Hier überwindet der Geist - manifestiert in Glossolalie - keine geographischen oder sprachlichen Grenzen, sondern die zwischen Juden und Heiden. 14. Unsere traditionellen Bibeln enthalten einen weiteren Abschnitt, in dem die christliche Mission so dargestellt ist, daß sie ein Reden in »neuen Zungen« einschließt (Mk. 16,17). Wie man in neuen Ausgaben aber sehen kann, gehören die Verse 9-20 in Mk. 16 nicht zum ursprünglichen Text, sie fehlen in den zuverlässigsten Handschriften. Trotzdem kann der Text »Mk. 16,17« als Beleg dafür angesehen werden, wie das Verständnis aus Apg. 2 in das Denken der Kirche eingegangen ist, vor allem, wenn es um die Weite der Mission ging, d. h. um gerade das Thema, das in »Mk. 16,9-20« angesprochen ist. Man beachte jedoch, daß manche Handschriften hier nicht von »neuen Zungen«, sondern ganz allgemein von »Zungen« reden, also sich auf das Phänomen der Glossolalie als solches beziehen.
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sie überhaupt Berührungspunkte zwischen der Kirche und der Welt sahen. Warum ich diese Frage aber in einer Untersuchung über Glossolalie stelle, ist vielleicht weniger einsichtig. Und doch gibt es hier eine wichtige Verbindung. Wir sagten bereits, daß die spektakulären Geistesgaben zur Erbauung des einzelnen und nicht für die Öffentlichkeit gedacht waren. Doch eine Geistesgabe ist für die denkbar öffentlichste Situation zugesagt, in der sich ein Christ befinden konnte: »Und wenn sie euch hinführen und vor Ge-' richt stellen, so sorgt euch nicht im voraus darum, was ihr, reden sollt; sondern was euch in jener Stunde gegeben wird, das redet! Denn nicht ihr seid es, die reden, sondern der heilige Geist« (Mk. 13,11; vgl. Mt. 10,19 fund Lk. 12,11 f). Tatsächlich ist der Christ, der vor Gericht steht, ' der einzige, dem in der Schrift die Gabe des Geistes zugesagt wird. Niemandem sonst ist eine besondere Geistesgabe versprochen. Dies ist nicht so befremdlich, wie es zunächst scheinen mag, denn vor den Gerichten hatte die christliche Kirche die Möglichkeit, ihr Zeugnis vor den Mächten der Welt abzulegen. Auf dieser Überzeugung gründet der ausführliche Bericht darüber, wie Paulus bei Caesar Berufung einlegt, ohne die er vermutlich hätte gerettet werden können (Apg. 25,11; 26,32), sowie der Abschnitt im Epheserbrief, der das Auftreten vor Caesar und das vor den himmlischen Mächten und Gewalten in eins setzt und der die Leiden des Paulus als Ruhm der Kirche interpretiert, weil der Gerichtsprozeß die Konfrontationzwischen dem Evangelium und der Welt, zwischen Christus und Caesar ermöglicht (Eph. 3,10-13). Zeuge sein (das griechische Wort dafür ist »Märtyrer«) heißt Zeuge sein vor den herrschenden Mächten. Deshalb sollte es uns nicht überraschen, wenn der Geist gerade für eine solche Situation zugesagt wird. Mir erscheint diese biblische Sicht für unser Thema wichtig. Manchmal hat man die Sorge um die Geistesgaben in der charismatischen Bewegung als Gegensatz zu jener
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Haltung g~sehen, die wir bei den Berrigans und den Kriegsdienstverweigerern in unserem Lande erkennen. Wenn dieses Gefühl, diese Interpretation richtig sein sollte (und sie wird in den Massenmedien oft noch verstärkt), dann haben wir uns vom biblischen Verständnis der Geistesgaben wahrlich weit entfernt. Dann haben wir eine wesentliche christliche Erkenntnis verfälscht. Es gibt Menschen, die eine öffentliche Wirksamkeit des Geistes mit spektakulären religiösen Fernseh-Auftritten und größt-· möglicher Publizität für Evangelisationskampagnen verwechseln, und die zugleich jene verdächtigen, die die Herrschenden vor den Gerichten durch ihr mutiges Zeugnis für Christi Gerechtigkeit herausfordern. Es scheint doch so, daß die biblisches Sicht das genaue Gegenteil besagt: Jene Begegnung, die unter der Verheißung des Geistes steht, findet vor den Gerichten statt.
--------------------IV.-------------------Mir scheinen die Aussagen der neutestamentlichen Texte zu jener Erscheinung, die wir Glossolalie nennen, recht deutlich und auch einfach zu sein - und äußerst aktuell. Die verschiedenen Texte enthalten in sich bereits eine Kritik an unserer gegenwärtigen Situation. Die Geschichte unserer wichtigsten Traditionen ist eine Geschichte der Spaltungen und Verarmungen in der christlichen Gemeinde. Wenn ich Paulus lese, dann wird mir ganz deutlich, daß die Geistesgaben, die Glossolalie eingeschlossen, zum gemeinsamen Erbe unserer christlichen Erfahrung gehören könnten, wenn nicht die Reformierten, die Anglikaner, die Lutheraner und alle jene anderen »ordentlichen« Christen einschließlich der Katholiken solche Phänomene wie Glossolalie bewußt oder unbewußt unterdrückt hätten, während andere Denominationen sie besonders förderten. Das paulinische Rezept hilft auch hier. Die Fülle der 130
Kirche kann nicht besser zum Gespött gemacht.werden als durch die weitverbreitete Unsitte, daß jede Denomination oder Sekte ihre spezielle Geistesgabe nimmt und in einer besonderen kleinen Kapelle einmauert. Die Fülle der Kirche ist im paulinischen Denken der Leib der Kirche mit vielen unterschiedlichen Gliedern, d. h. Gaben. Es gibt heute in der charismatischen Bewegung Anzeichen dafür, daß wir vielleicht die Möglichkeit haben, zu jener Fülle zurückzufinden. Deshalb sehe ich die charismatische Bewegung mit Interesse und mit Hoffnung. Könnte es sein, daß wir an jenem Punkt angelangt sind, an dem die Großkirchen genügend paulinische Liebe haben, so daß sie in sich die Erscheinungen des Geistes - und auch die Glossolalie - ertragen können? Könnte es sein, daß diejenigen, die mit solchen Erfahrungen gesegnet sind, genügend Liebe und Geduld aufbringen, wenn sie im Geist zum Herrn sprechen, daß sie erkennen, daß diese Gabe gegeben wurde, um zur Fülle der Kirche beizutragen, nicht dazu, andere in ihrem Glauben als weniger christlich erscheinen zu lassen? Vielleicht haben wir diesen Punkt heute erreicht - ich hoffe es, zum Nutzen von uns allen. Glossolalie ist ein Ausdruck dessen, was ich als Hochspannungsreligion bezeichnen möchte. Es scheint mir unzweifelhaft, daß für manche Menschen in ihren jeweiligen Situationen die Erfahrung Gottes so überwältigend ist, daß charismatische Phänomene der »natürliche« Ausdruck dieser Erfahrung werden. Wer behauptet denn, daß rationale Worte oder Schweigen das einzig Angemessen sind? Als Prediger und Lehrer meine ich sogar, daß es vielleicht klug wäre, die Glossolalie in der Kirche zu erlauben, damit jene, die sich mit Worten nicht artikulieren können, frei sind, ihr überwältigendes Lob Gottes ganz auszudrücken. Tatsächlich hat Glossolalie in der Kirchengeschichte häufig eine demokratisierende Wirkung gehabt. Sie ist eine jener Ausdrucksformen, in denen »die Letzten die Ersten« geworden sind.
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Eine Öffnung für die ganze Weite religiöser Erfahrung ist für jene Kirchen bitter nötig, die die charismatische Dimension unterdrückt haben. Ein Christentum, das nicht mehr Spannung ausstrahlt als eine Taschenlampenbatterie, ist sicherlich nicht stark genug, um z. B. den Drogenmißbrauch zu bekämpfen. Und keine religiöse Tradition kann sich erneuern, ohne daß ursprüngliche, neue, frische religiöse Erfahrungen hinzukommen. Es könnte sein, daß die charismatische Bewegung den Kirchen zu diesem Zweck gegeben wurde. Wir Nicht-Charismatiker müssen nicht zu Charismatikern werden- Glossolalie ist ein Geschenk, kein Ziel oder Ideal - aber wir brauchen die Charismatiker bei uns in der Kirche, wenn die Kirche die Fülle des christlichen Lebens empfangen und ausdrücken soll. In diesem Sinne brauchen wir sie. Jene Kirchen, die charismatische Erfahrungen unterdrücken, behaupten oft, daß das biblische Phänomen der Glossolalie der frühen Kirche in ihrer Anfangszeit gegeben wurde, daß aber, sobald die Kirche gefestigt war, solche »primitiven« Dinge überflüssig waren. Diese Argumentation klingt sehr defensiv. Sie drückt nichts als Verlegenheit aus, Verlegenheit entweder über das Fehlen eines Teiles der christlichen Erfahrung, wie er in der Bibel beschrieben ist, oder Verlegenheit über Erscheinungen, die den »aufgeklärten« Christen in den Zeugnissen ihrer Tradition geschmacklos bzw. primitiv vorkommen. In diesem Kontext ist die Vorstellung von einer Anfangs- oder Durchbruchszeit nicht hilfreich. Aber in einem anderen Zusammenhang hat sie ihre Bedeutung und entspringt sie den Erfahrungen der Praxis. Es scheint mir, daß nur wenige Menschen über eine längere Zeit hinweg in einer hochgespannten religiösen Erfahrung leben können, ohne Schaden zu nehmen. Während ich die Vorstellung eines anfänglichen Durchbruchs für die Geschichte von Institutionen also ablehne, so halte ich sie in der individuellen Geschichte für sehr hilfreich. Ich frage mich, was mit
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Charismatikern nach fünf oder nach zehn Jahren geschieht. Aus meinen Beobachtungen glaube ich, daß sie uns brauchen; sie müssen wissen, daß die größere Kirche ihre Heimat ist, in der ihre Stellung als Kinder Gottes nicht von der Intensität ihrer Erfahrungen abhängt. Auch im Leben eines Christen gibt es verschiedene Zeiten. Da sind die Zeiten spektakulärer Durchbrüche, und da sind Zeiten langsamen Wachsens. Natürlich möchten diejenigen, die starke, wunderbare Erfahrungen gemacht haben, diese weiterhin erfahren. Wenn jene Erfahrung dann aber einmal nicht mehr so frisch oder so mächtig ist wie früher, dann kommt die Versuchung, ein wenig »dem Geist nachzuhelfen « - d. h. zu betrügen. Dies wiederum ruft Schuldgefühle hervor. Sicher, die etablierten Kirchen brauchen den erfrischenden Einfluß neuer charismatischer Erfahrung, aber aufs Ganze des geistigen Wachstums gesehen braucht der einzelne Charismatiker die Heimat der ganzen Kirche, in der er/sie im Glauben wächst und die wichtigstes Lektion des Glaubens lenrt: Gott zu lieben, der die Gabe gibt, und nicht die Gabe, die Gott gegeben hat. Diese Lektion kann nur in einer Kirche gelernt werden, in der wir uns mit den Charismatikern an ihren Gaben freuen - und sie sind die kostbare Würze in unserem alltäglichen Leben - wo aber zugleich diejenigen, denen eine solche Gabe gegeben ist, in ihrem Glauben wachsen dürfen, ohne sich bedroht zu fühlen, wenn ihre Erfahrungen sich in einem langen, aufrichtigen Leben verändern. All diese Überlegungen entstammen den Einsichten des Paulus in die Fülle der Kirche und in den Aufbau unseres gemeinsamen Lebens. Sie kommen aus der Überzeugung, daß die Frage der Glossolalie in der Kirche eine seelsorgerliehe Frage ist. Es geht nicht darum, ob Glossolalie ein theologisch legitimes Phänomen ist - natürlich ist sie theologisch legitim! Es geht vielmehr darum, wie dieses Phänomen eine Kraft zum Wohl der ganzen Kirche werden kann. In diesem Sinne scheinen mit die Visionen und Erkenntnis-
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se des Paulus in ihrer Weisheit und in ihrer Gültigkeit höchst aktuell zu sein. Es könnte wichtig sein, das Verhältnis von Glossolalie zu jenem Teil aller Religionen zu untersuchen, den wir als Mystik kennen, und auch, wie Glossolalie speziell mit der Praxis und mit den Erfahrungen der christlichen Mystik zusammenhängt. Ich denke, daß eine solche Untersuchung das oben genannte Kriterium bestätigen würde: Es geht nicht um die Gabe, die Gott gegeben hat, sondern um Gott, der sie gibt. Die Charismatiker laufen Gefahr, über der Gabe den Geber zu vergessen. Die Mystiker sind diejenigen, die alle Gaben transzendieren und nicht ruhen, bis Gott alles in allem ist. Dies ist nur noch ein weiterer Grund für meine Forderung, daß wir in jener Liebe zusammenbleiben müssen, die eine größtmögliche Verschiedenheit der Gaben zuläßt, die Gott unterschiedlichen Menschen zu verschiedenen Zeiten gibt.
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QUELLEN UND KRITIKEN
Kein Theologe arbeitet im luftleeren Raum. Meine eigene Arbeit ist durch bestimmte Interessen geformt, und es mag für den Leser nützlich sein, wenn ich etwas davon mitteile. Im Grunde sind es zwei Hauptinteressen. (1) Die Prinzipien der Bibelauslegung, von der gelehrten Welt Hermeneutik genannt (ich würde sie lieber so beschreiben: wie die Kirche mit ihrer Bibel lebt). Je länger ich exegetisch arbeite, um so dringlicher wird mir die Frage nach Gebrauch und Mißbrauch der Schrift. Auslegen ist eine verantwortungsvolle Tätigkeit, und die vorliegenden Aufsätze dienen dem Bemühen, die Gefahr eines Mißbrauches zu verringern, um so die biblischen Texte für einen friedestiftenden, befreienden, erlösenden Gebrauch freizusetzen. Ich glaube, der erste und unerläßliche Schritt dabei :' besteht darin, daß man deutlich unterscheidet zwischen I dem, was der Text seiner ursprünglichen Intention nach sagen wollte, und dem, was er später bedeuten konnte oder I in Zukunft bedeuten mag. Für dieses hermeneutische Pro- I gramm verweise ich auf meinen Artikel Biblical Theology, Conternporary, in: Interpreter's Dictionary 01 the Bible, Bd. I, 418-432 (Nashville 1962). Ein solches Vorhaben führt uns dazu, daß wir niemals fragen: Was bedeutet dies? ohne sogleich hinzuzufügen: ... für wen? Mir wurde dieses Problem vor allem in meinem Aufsatz The Bible and the Role 01 Wornen (Philadelphia 1966) deutlich; noch schärfer stellte es sich, als ich zu dem Ergebnis kam, daß Paulus' Worte im Röm. 12,20 über das i
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Sammeln von feurigen Kohlen auf das Haupt eines Feindes wirklich so schrecklich sind, wie sie klingen (vgl. Hate, Non-Retaliation and Love, in: HaT ;ard Theol. Review 55, 1962, 343-355). Diese befremdliche Haltung hat dann einen religiösen und ethischen Wert, wenn man sie als Ausdruck von Nicht-Vergeltung sieht, daß man also sich selbst nicht rächen darf. Die Frage ist dann wie immer: Wer spricht für wen?, wie ich es im zweiten Aufsatz dieses Buches, Gericht und Gnade, ausgeführt habe. Was bedeutet dieses oder jenes Wort für Paulus, für Luther - und was könnte es mit Hilfe des Geistes vielleicht für uns bedeuten? Ein solches Interesse verlangt, daß wir die Tatsache berücksichtigen, daß die biblischen Schriften in der christlichen Tradition Heilige Schrift sind. Von daher wende ich mich in diesen Aufsätzen mehrfach der Kanonfrage zu. Der Artikel von C. Sundberg Jr., Canon Muratori: A Fourth Century List (in: Harvard Theol. Review 66, 1973, 1-41) war für mich sehr hilfreich. Für das Phänomen einer »Heiligen Schrift« und wie man damit umgeht, ist es nützlich, den Beitrag von W. C. Smith zu lesen: The Study 01 the Bible, in: Journal 01 the American Academy 01 Religion 39, 1971, 131-140. (2) Das zweite Interesse erwuchs aus meinen Paulusstudien. Es faszinierte mich immer mehr und bekam in meinem Leben und Arbeiten einen unerwarteten Vorrang: die Frage nach dem Verhältnis von Judentum und Christentum, oder besser, die nach dem Verhältnis zwischen der Kirche und dem jüdischen Volk. Was als wissenschaftliche, intellektuelle Neugier begann, führte mich zu der Erkenntnis, daß der christliche Umgang mit der Schrift - und nicht zuletzt mit den paulinischen Schriften - zu Entwicklungen mit geradezu satanischen Folgen geführt hat. Der Hauptteil dieses Buches ist ein Versuch, an einige der Wurzeln des christlichen Antisemitismus heranzukommen. Es mag sinnvoll sein, hier einige meiner anderen Arbeiten zu nennen, die sich mit diesen Fragen befassen:
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ludaism and Christianity, in: Harvard Divinity Bulletin, 1963. ludaism and Christianity 11: After a Colloquium and a War, in: Harvard Divinity Bulletin, 1967. Auf dem Wege zu einer die Welt umfassenden Gemeinschaft, in: F. v. Hammerstein (ed.), Von Vorurteilen zum Verständnis, Frankfurt 1976. In No Other Name, in: Christian Witness and the lewish People, hrsg. vom Lutherischen Weltbund, Genf 1976. Wenn der Hauptteil dieses Bandes behauptet, daß die Argumentation des Paulus über die Rechtfertigung aus Glauben weder aus seiner »Unzufriedenheit« mit dem Judentum kommt noch als Frontalangriff gegen »Gesetzlichkeit« gemeint ist, dann glaube ich, daß ich hier an die böseste Wurzel des christlichen Antijudaismus rühre. In meiner Diskussion mit Ernst Käsemann werde ich auf diese Behauptung noch näher eingehen. Diese Aufsätze setzen voraus, daß nur einige Paulusbriefe wirklich von Paulus selbst geschrieben/diktiert/unterschrieben sind (vgl. Gal. 6,11). Es sind dies der 1. Thessalonicher-, der Galater-, der 1. und 2. Korinther-, der Philipper-, der Philemon- und der Römerbrief. Ich stimme in dieser Frage mit Günther Bornkamm überein (vgl. Paulus, 2. Aufl. 1970, 245 ff). Auch in anderer Hinsicht halte ich Bornkamms Buch für die beste allgemeine Einführung in Paulus. Ich meine hier vor allem den ersten Teil, Leben und Wirken, sowie seine Darstellung vom Römerbrief als Testament des Paulus (103 ff), die zeigt, daß man den Römerbrief innerhalb des paulinischen Apostolatsverständnisses interpretieren sollte und nicht aufgrund von Spekulationen über Konflikte unter den Christen in Rom. Hier befindet sich Bornkamm an einem Ende des wissenschaftlichen Spektrums; das andere ist in dem neueren Versuch von P. S. Minear, zu sehen, The Obedience 01 Faith. Studies in Biblical Theology II (London 1971), der ein verwickeltes Bild davon zeichnet, wie Paulus auf die Bedingungen der 137
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Gemeinde in Rom eingeht. Solche Rekonstruktionen beruhen auf der sekundären, nicht überzeugenden Information im Ambrosiaster . So sehr ich Bornkamms Arbeit also schätze, finde ich, daß sein Bild von Paulus und vom Judentum doch den üblichen »westlichen« Fehler macht (s. u.). Der zweite Teil seines Paulus, Botschaft und Theologie, wird von diesem Fehler ganz beherrscht. Wenn ich die Frage beantworten soll, welche neueren Paulusarbeiten am meisten zu dem beigetragen haben, was ich selbst an Einsichten und Perspektiven gewonnen habe, dann würde ich ohne Zögern die Arbeiten von Dieter Georgi nennen. Er zeichnet Paulus im weiten Umfeld der hellenistischen Kultur - jüdischer wie heidnischer - um so die zunehmend fruchtlosere Debatte zu lösen, ob Paulus mehr von seinem »jüdischen Hintergrund« aus oder eher vor dem Kontext heidnischer hellenistischer Kultur, Religion und Philosophie zu sehen sei. Wie falsch diese Dichotomie in der neutestamentlichen Wissenschaft ist, wurde mir klar, als ich eine neue Einleitung für die zweite Auflage meines Buches, The School 01 St. Matthew (Philadelphia 1968, i-xiv) vorbereitete. Es war für einige meiner Kollegen vom »jüdischen Hintergrund« eine Überraschung, wenn nicht ein Schock, daß der Autor jenes Buches, einer am Alten Testament und an Qumran orientierten Studie des Matthäus, jetzt das Matthäus-Evangelium als ein »hellenistisches« Phänomen sah, einer vorwiegend heidenchristlichen Gemeinde zugehörig. In jenem Vorwort habe ich mein Verständnis des Matthäus-Evangeliums genauer erläutert. Die Arbeit von Georgi über die »Kollekte« ist eine genaue Angabe über die Stellung, die Paulus innerhalb des frühen Christentums einnimmt. Seine wichtigsten Arbeiten: Die Gegner des Paulus im 2. Korintherbrief. Studien zur religiösen Propaganda in der Spätantike (Neukirchen 1964) und Die Geschichte der Kollekte des Paulus für Jerusalem (Hamburg 1965). Ein Kommentar zum 2. Ko-
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rintherbrief, der auf Englisch erscheinen wird, ist in Vorbereitung. Wie die fünfziger Jahre in der Wissenschaft unter dem großen Antrieb standen, den die Rollen vom Toten Meer gaben, die manche Hypothese über das palästinische Judentum des ersten Jahrhunderts bewahrheiteten oder auch falsifizierten, so ernten wir heute die Früchte aus der koptischen gnostischen Bibliothek von Nag Hammadi. Dieser Fund ist eine große Bereicherung für die Paulusauslegung. E. H. Pagels hat den Lesern der Paulusbriefe in ihrem Buch The Gnostic Paul (Philadelphia 1975) ein wertvolles Hilfsmittel an die Hand gegeben. Sie bringt Kapitel für Kapitel für jeden Brief des paulinischen Materials verschiedene gnostische Interpretationen. Eine ganze Auslegungswelt, die in den frühesten Anfängen der christlichen Bewegung wurzelt, wird hier lebendig. Pagels zeigt uns, daß - wie auch immer die Absichten des Paulus gewesen sein mögen - seine Schriften in mächtige Systeme gnostischer Spekulation umgeformt werden konnten. Für mich ist dies eine ernste Warnung vor allen »tieferen« Bedeutungen; sie schützt uns vor der Versuchung, in der religiöse Menschen immer stehen, Paulus und Gott dadurch zu ehren, daß wir den Worten und dem Wort »Tiefe« hinzufügen. Paulus schrieb und sprach viel klarer und konkreter, als wir es ihm erlauben. Ernst Käsemann hat in seinen Paulinisehen Perspektiven (Tübingen 1969) eine ausführliche Kritik meines Aufsatzes Paul and the Introspective Conscience 0/ the West (Harvard Theol. Review 1963) geschrieben. Ich möchte auf diese ernstzunehmende Kritik eingehen. Zugleich ist dies eine Gelegenheit, mit Ehrfurcht und Bewunderung Käsemanns neuen Kommentar An die Römer (Tübingen 1974) zu nennen. Dieses Meisterwerk wird für lange Zeit ein Meilenstein in der Erforschung des Römerbriefs bleiben - es ist so überreich an Einsichten, es ist mit einer solchen leidenschaftlichen Überzeugung von der Richtigkeit und aktuel-
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len Notwendigkeit der protestantischen Sicht des Paulus geschrieben, daß es für mich eine große Ehre ist, mit diesem Meister der protestantischen Exegese in die Diskussion zu treten. Käsemann hält mein Denken für eine ernste Bedrohung des Protestantismus - was für ihn gleichbedeutend mit einer Bedrohung des authentischen Verständnisses von Paulus und Jesus ist. Ich teile seine tiefe Sorge um die theologischen Konsequenzen exegetischer Arbeit, aber ich bin nicht sicher, ob man »das Evangelium« so einfach unter das Schema der »Rechtfertigung des Gottlosen« einreihen kann (Röm. 4,5; vgl. 5,6; Paulin. Perspektiven, 131, 134 u. ö.) - oder überhaupt unter ein einziges Schema, es sei paulinisch oder nicht. Gleicherweise bin ich nicht davon überzeugt, daß das Weiterleben der reformatorischen Erkenntnisse von der Fortsetzung einer solchen Paulusinterpretation abhängt, wie Käsemann sie vertritt. Am meisten erstaunt mich jedoch, wie Käsemann das zusammenfaßt, was er die »Stendahl-These« nennt: »Angeblich hat der nach innen gerichtete Blick des Abendlandes den paulinischen Kampf gegen das judaistische Gesetzesverständnis, infolgedessen aber auch die daraus resultierende Rechtfertigungslehre zu Unrecht in die Mitte der Theologie des Apostels gerückt« (Paulin. Perspektiven, 108). Und er deutet an, daß ich die Rechtfertigungslehre für eine »antijudaistische Kampfeslehre« halte, eine Sicht, an der ihm sehr gelegen ist. Sollte mein damaliger Aufsatz so ganz mißverständlich sein, sollte die Frage auch in diesem Buch nicht genügend klar geworden sein, so möge es mir erlaubt sein, meine »These« darzulegen: Paulus' Argumentation über die Rechtfertigung aus Glauben entspringt nicht seinem »Kampf gegen das judaistische Gesetzesverständnis«, sie ist keine »antijudaistische Kampfeslehre«. Ihr Ort und ihre Funktion besonders im Römerbrief sind nicht polemisch, sondern apologetisch; er verteidigt so das Recht der Hei-
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den, Vollmitglieder des Gottesvolkes zu werden. Wenn er im Galaterbrief von der »Rechtfertigung aus Glauben« spricht, dann verteidigt er damit die Rechte seiner heidnischen Konvertiten gegen die Praxis des »Judaisierens«, also dagegen, die Heiden unter Beschneidung und Speisegesetze zu stellen. Es gibt zudem keinen Grund für die Annahme, .daß Paulus persönlich irgendwelche Schwierigkeiten hatte, das Gesetz zu halten. Diese meine »These« ist also zugleich radikaler, als Käsemann erkennt, und auch begrenzter in ihrer exegetischen Funktion, als er zulassen will. Es ist schade, daß er die Diskussion auf den Römerbrief beschränkt, denn ein wichtiger Teil meiner Anfragen an die Tradition gründet auf der Beobachtung, daß die Rechtfertigungslehre im Ganzen der paulinischen Schriften gerade nicht zu den vorherrschenden Themen gehört und daß sie deshalb auch nicht als Schlüssel zu seiner Theologie geeignet ist. In dieser Situation ist es nun schwierig, Käsemann zu antworten. Anstatt zu zeigen, daß meine exegetischen Beobachtungen falsch sind, konstruiert er eine Antithese, in der ich die Heilsgeschichte der Rechtfertigungslehre gegenüberstellen soll (113). Er geht dann auf alle Übel in der Kirche und in der Welt ein, die aus einer »Geschichtstheologie« stammen können, bis hin zu naivem Kulturoptimismus und gar Nazismus (114). Ähnlich könnte ich nun I darauf verweisen, wie die Pogrome und der Holocaust (die Vernichtung der Juden durch die Nazis) ihre Begründungen in einer Sicht finden konnten, für die das Judentum ein ewig verdammter und falscher Weg zu Gott ist, in einer Vorstellung, daß die Juden (einschließlich Qumran) die »Rechtfertigung des Frommen« als Ziel des göttlichen Planes sahen (134), dieselben Juden, die im Jahre 70 »mit den Trümmern ihres Tempels ihre eschatologischen Hoffnungen« begruben (132) - und dies, nach Käsemann, weil sie eine falsche Geschichtstheologie hatten. Doch hier geht es darum, ob Paulus in seiner Rechtferti-
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gungslehre die Frage beantworten wollte: wie verstehe ich, Paulus, meine Heidenmission in Gottes Plan? Wie kann ich das Recht der Heiden auf Teilhabe an den göttlichen Verheißungen verteidigen? Oder ging es ihm um die Antwort auf eine Frage, die ich für eine spätere Frage des Westens halte: wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Das sind exegetische Fragen. Sicherlich kann man sie verschieden beantworten, aber man muß es exegetisch tun. Sind es diese zwei Möglichkeiten, an die Käsemann . denkt, wenn er sagt, daß ich »die Heilsgeschichte gegen die Rechtfertigungslehre ausspiele« (117), dann scheint er seinem Zirkelschluß zu erliegen: Er nimmt den Begriff »Rechtfertigung aus Glauben« im traditionellen protestantischen Sinne, und zwar in einer Diskussion, in der genau diese traditionelle Paulusinterpretation zur Debatte steht. Alles, was ich vorschlage, ist dies: Bei Paulus steht die Argumentation über die Rechtfertigung aus Glauben innerhalb seines Nachdenkens über Gottes Plan für die Welt. Ich mag hier Unrecht haben, aber es geht mir wahrlich nicht darum, abstrakte Positionen über Geschichtstheolo:.. gien zu verteidigen. Käsemann vermutet, daß mein Denken zu Triumphalismus führen muß. Als westlicher lutherischer Theologe des 20. Jahrhunderts teile ich seine Empfindlichkeit gegenüber den Gefahren des Triumphalismus völlig; das vorliegende Buch dürfte dies verdeutlicht haben (z. B. der Teil Gericht , und Gnade). Schon 1963 sagte ich in dem erwähnten Aufsatz - wenn auch nur kurz - daß die paulinische Grundlage für seinen Anti-Triumphalismus nicht in seiner Rechtfertigungslehre zu sehen ist, sondern zum einen in der Betonung seiner »Schwachheit« und zum anderen in der eschatologischen Akzentuierung unseres Seufzens gemeinsam mit der Schöpfung - wie auch immer das Verhältnis zwischen diesen beiden gedeutet werden mag. In keinem von beiden Fällen geht es um die Rechtfertigung' aus Glauben. 142
Ich möchte nun hinzufügen, daß eines der überraschenden Elemente des paulinischen Anti-Triumphalismus gera- : de darin liegt, daß er im Römerbrief nicht gegen das i Judentum kämpft, sondern daß er an einen Punkt gelangt, ) wo er die Heidenchristen davor warnt, Überlegenheitsge- ! fühle (das ist christlicher Triumphalismus!) gegenüber dem, Judentum und den Juden zu entwickeln (Röm. 9-11, vor. allem 11,11-35 mit seinem Höhepunkt in einer nicht-chri-! stologischen Doxologie). Wenn Paulus darauf kommt, daß die Jesusbewegung eine heidnische Bewegung werden wird - Gott wird Israel zu seiner Zeit und auf seine Weise aufrichten - dann haben wir hier keinen Triumphalismus vor uns, sondern ein Denken, das Paulus benutzt, um den religiösen Imperialismus des Christentums aufzubrechen. Ich lese dies auch als eine Warnung vor jener Art des theologischen Imperialismus, der in seiner Lehre von der Rechtfertigung des Gottlosen triumphiert und für den »das Judentum« ein Schlagwort für alle falschen Haltungen gegenüber Gott geworden ist. Aus ähnlichen Gründen kann ich Günther Bornkamms letzten Abschnitten über den Römerbrief in seinem Paulus nicht zustimmen. Bornkamm hat klar erkannt, daß das Thema im Römerbrief und vor allem in Röm. 9-11 nicht die Judaisierer oder »diese oder jene Gruppe in irgend einer Gemeinde, sondern das Judentum« ist (110). Aber er interpretiert dieses Judentum als Gegner des Paulus, von daher ist für ihn der Römerbrief »durch und durch polemisch (gegen) das Judentum und sein Heilsverständnis« (110). Ich würde wieder betonen, daß Paulus keine Polemik gegen die Juden schreibt, sondern eine Apologie seiner Heidenmission, innerhalb derer er über das Geheimnis von Gottes Handeln an Israel nachdenkt. Wichtiger ist mir jedoch zu zeigen, wie Bornkamm diese Polemik durch einen gebräuchlichen Trick noch ausweitet, wenn er sagt: »Der Jude figuriert hier in gewisser Weise als der Mensch in seinen höchsten Möglichkeiten, er repräsenJ
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