Werkausgabe Band 7
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Werkausgabe Band 7
»Die Abrechnung mit dem Stalinismus erfolgte in dem Roman Der Fall Deltschev, einer grandios erzählten Absage an moralisches Pathos und Führerkult am Beispiel eines Schauprozesses in einem namenlosen Balkanstaat … Wenn man Vergleiche für seine erzählerische Meisterschaft sucht, muß man schon den Joseph Conrad vom Geheimagent und den Somerset Maugham der Ashenden-Geschichten zitieren. Eric Ambler, bei uns allzulange fast unbekannt geblieben, ist einer der großen britischen Romanciers dieses Jahrhunderts.« Hans C. Blumenberg/Die Zeit
Eric Ambler
Der Fall Deltschev Roman Aus dem Englischen von Mary Brand und Walter Hertenstein
Diogenes
Titel der englischen Originalausgabe: ›Judgment on Deltchev‹ Copyright © 1951 by Eric Ambler Umschlagzeichnung von Tomi Ungerer
Alle deutschen Rechte vorbehalten Copyright© 1975 Diogenes Verlag AG Zürich 80/90/29/9 isbn 3 257 20178 8
Vieles an euren Guten macht mir Ekel, und wahrlich nicht ihr Böses. Wollte ich doch, sie hätten einen Wahnsinn, an dem sie zu Grunde gingen, gleich diesem bleichen Verbrecher! Nietzsche, Also sprach Zarathustra
1 In Ländern, die Hochverrat nur als Opposition gegen die Machthaber definieren, wird der politische Führer, der dieses Verrates überführt ist, nicht unbedingt sein Ansehen beim Volk verlieren. Und wenn das Volk ihn verehrt und geliebt hat, trägt vielleicht gerade sein Tod durch die Hand eines tyrannischen Regimes dazu bei, seinem Leben eine Würde zu verleihen, die es vordem nicht besaß. In solchen Fällen sehen sich seine Gegner dann nicht dem Gedanken an einen fehlbaren Menschen gegenüber, sondern einem Mythos, mächtiger als der wirkliche Mensch es je hätte sein können – und unverletzbar. Daher ist ein solcher Prozeß keine Formalität, sondern eine wohleinstudierte Zeremonie der Vorsicht. Der Politiker muß als Mensch entehrt und zerstört werden, damit man ihn gefahrlos als Verbrecher behandeln kann. Manchmal zwingt man ihn, die Verbrechen, deren er beschuldigt ist, kläglich einzugestehen; wenn er aber nicht Mitglied der Partei war, die ihn jetzt zu vernichten sucht, so finden solche Geständnisse nicht immer Glauben beim Volk; und wenn er gar Führer einer noch nicht aufgelösten Oppositionspartei ist, tut die Regierung gut daran, den Schein eines korrekten Prozesses zu wahren, Zeugen beizubringen, Beweise zu beschaffen und ihm zu gestatten, sich zu verteidigen. 7
So war es mit Nikolai Petkow in Bulgarien, mit Julius Maniu und Jon Mihalatsche in Rumänien und mit vielen anderen Liberalen in Osteuropa. Petkow wurde gehenkt. Maniu und Mihalatsche wurden zu lebenslänglicher Einzelhaft verurteilt. Als der Prozeß gegen Jordan Deltschev anfing, gab es bereits ein Schema für derartige Verfahren. Die Anklage gegen ihn lautete auf ›Verrat und Vorbereitung einer terroristischen Verschwörung zur Ermordung des Staatsoberhauptes‹. Der Prozeß begann am 11. Juni vor dem Volksgericht. In der Anklageschrift wurde er als ›Vorsitzender der agrarsozialistischen Partei und früheres Mitglied der Provisorischen Regierung der Nationalen Einheit‹ bezeichnet. In Wirklichkeit war er Premier- und Außenminister dieser Regierung gewesen und war immer noch Führer der letzten nennenswerten Opposition gegen die Regierung der Volkspartei. Ein amerikanischer Zeitungsverleger, dem ich in London mehrmals begegnet war, hatte mich aufgefordert, dem Prozeß beizuwohnen und eine Artikelserie darüber zu schreiben. Ich war von dem Angebot überrascht, denn ich hatte niemals etwas in dieser Art geschrieben und dachte zuerst an eine Namensverwechslung. Es war aber kein Irrtum gewesen, und ich hatte den Auftrag angenommen. Ich glaube, die meisten Schriftsteller, die noch nie für Zeitungen gearbeitet haben, gefallen sich dann und wann in dem Gedanken, sie wären glänzende Reporter, wenn sich nur die Gelegenheit böte. 8
Manche haben damit auch recht. Bei mir lag es anders. Mit einer Feierlichkeit, die mir nachträglich rührend erscheint, suchte ich mir den alten TimesArtikel über Deltschev heraus, kaufte einige einschlägige Bücher und speiste mit einem Volkswirtschaftler, der einmal vor dem Königlichen Institut für Internationale Angelegenheiten einen Vortrag gehalten hatte. Ich fühlte mich verpflichtet, über das Land, das ich besuchen wollte, sein Volk und seine Probleme etwas zu erfahren. Sonderbarerweise erfuhr ich tatsächlich etwas. Bei diesem Mittagessen hörte ich zum erstenmal von der ›Bruderschaft des Offizierskorps‹. Mein Bekannter tat sie als Witz ab. Ursprünglich war diese Bruderschaft anscheinend eine Wohlfahrtseinrichtung gewesen für die Familien der Armee-Offiziere, die nach dem Putsch in Mazedonien anno 1925 erschossen worden waren; der Bund sollte die Familien schützen und ihnen finanzielle Hilfe angedeihen lassen. Die Gründer waren Kameraden der Opfer und hatten mit ihrer Sache sympathisiert; aber sie waren keine reichen Leute, und nach kurzer Zeit kamen sie zu der Überzeugung, der ehrenhafteste Schutz und die beste Hilfe für die Hinterbliebenen sei, jene zu ermorden, die deren Ernährer zum Tode verurteilt hatten. Anfang der dreißiger Jahre war die Bruderschaft zu einer Geheimgesellschaft reaktionärer Extremisten geworden und hatte mindestens achtundzwan9
zig politische Morde verübt. Sie befaßte sich nun nicht mehr mit einfachen Racheakten, sondern war bestrebt, die potentiellen Urheber künftiger Ungerechtigkeiten, die später nach Rache geschrien hätten, vorsorglich umzubringen. Und da nach dem Dogma der Bruderschaft jeder Politiker oder höhere Beamte mit Neigung zu liberalen Ideen als potentieller Urheber künftiger Ungerechtigkeiten galt, wurde die Bruderschaft zu einem Problem für alle Parteien. Alle Versuche der verschiedenen Vorkriegsregierungen, die Mörder der Gerechtigkeit auszuliefern und die Organisation zu unterdrücken, hatten nur zum Teil Erfolg, da sie niemals radikal durchgeführt wurden. Es war freilich leicht, die Bruderschaft zu mißbilligen, aber es gehörte Mut dazu, sich an einer Aktion gegen sie zu beteiligen. Die Bruderschaft überstand alles und behielt auch viel von ihrem traditionell militärischen Charakter bei, obwohl sie von ihrem Prinzip, nur Offiziere als Mitglieder aufzunehmen, abgegangen war, und sich bald die Psychopathen aus allen möglichen Bevölkerungsschichten ihr geistesverwandt fühlten. ›Revolver und Dolch‹, das Symbol anderer terroristischer Organisationen der Balkanländer, wurde von der Bruderschaft in ›Gewehr und Bajonett‹ umgeändert, und während der Besetzung hatte sie aus Snobismus lieber mit der Wehrmacht zusammengearbeitet als mit der Gestapo. Jedoch auch dieser Beweis von Unterscheidungs10
vermögen hatte die Provisorische Regierung, die nach der Befreiung eingesetzt wurde, nicht vom Versuch, dem ersten ernsthaften, abgehalten, die Bruderschaft ein für allemal auszurotten. Sie bediente sich dabei aller Vollmachten, die ihr die Notstandsgesetze gaben. Schon auf der Mitgliedschaft bei dieser Organisation stand der Tod, und monatelang fanden Verhaftungen, Schnellverfahren und Hinrichtungen statt. Die Säuberungsaktion war so erfolgreich gewesen, daß niemand an einem Verräter in den Reihen der Bruderschaft zweifelte. Aber das Interesse an diesem Aspekt war bald erloschen. Als während der Wahlen keiner der üblichen Morde durch die Bruderschaft vorkam, nahm man erleichtert an, daß die Organisation nun endlich tot und begraben sei. Und jetzt wurde diese Leiche ausgegraben und – o Wunder! – für lebendig erklärt. Denn unter anderem beschuldigte die absurde Anklageschrift Deltschev, daß er, der es sich als Führer der Provisorischen Regierung zur Aufgabe gemacht hatte, die Bruderschaft auszurotten, in Wirklichkeit eines ihrer Mitglieder und da Haupt einer Verschwörergruppe gewesen sei, die den Regierungschef der Volkspartei ermorden wollte. Ich verließ London Ende Mai und kam einen Tag vor Beginn des Prozesses in der Landeshauptstadt an.
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2 Über einen großen Teil Südeuropas brechen die schwersten Regengüsse schon Anfang Juni nieder, und der Schlamm in den Straßen trocknet dann und wird Staub. Die bunten Mauern der Dörfer glühen in der starken Sonne, und die Schatten sind schwarz und scharf. Nur auf den höheren Balkangipfeln liegt noch Schnee. Das Getreide steht hoch und üppig, und in den Flußtälern östlich der jugoslawischen Grenze sieht man vom Zug aus die Felder mit Rosen und weißem Mohn in voller Blüte. In den Städten aber ist die Luft feucht, und die Insekten, die in der Sonne über den Abfällen schwirren oder aus den dunklen Tiefen der Hotelbetten kriechen, sind auf dem Höhepunkt ihres Lebens. Der Mensch jedoch verspürt um diese Zeit eine seltsame Niedergeschlagenheit; seltsam, weil trotz der Trägheit des Körpers der Geist unruhig wacht, als fürchte er ein drohendes Unheil. Auf dem Zentralbahnhof empfing mich der lokale Vertreter meines Auftraggebers. Sein Name war Georghi Paschik. Ich sah ihn auf dem Bahnsteig stehen, als mein Zug einlief; ein kleiner, brünetter, schwächlicher Mann mit randloser Brille, einem knapp sitzenden Leinenanzug und einer ganzen Reihe von Füllfederhaltern in der äußeren Brusttasche. Unter dem Arm trug er eine dünne schwarze Aktentasche mit 12
einem silbernen Medaillon am Ende des Reißverschlusses. Er stand an einem Pfeiler und blickte sich um, herrischunsicher, wie ein reicher Reisender, der keinen Gepäckträger sieht und weiß, daß er sein Gepäck nicht selbst tragen kann. Ich glaube, es waren die Füller, an denen ich ihn erkannte. Er trug sie wie eine militärische Auszeichnung. Heute weiß ich viel über Paschik. Ich weiß zum Beispiel, daß die schwarze Aktentasche, die er mit soviel Würde trug, selten etwas anderes enthielt als ein vertrocknetes Sandwich und einen Revolver; daß er den Anzug bekommen hatte, als er in einem Vertriebenenlager arbeitete; daß einer dieser Füllfederhalter aus Passaic, New Jersey, stammte, und daß diese Tatsachen eine unmittelbare Beziehung zu seinem Tode hatten. Ich weiß jetzt ungefähr, wie sein Geist arbeitet, und ich kenne die seltsamen Phantasien, von denen er besessen war. Aber damals war er für mich nur ein Name, den ich gelegentlich bei einer Unterhaltung gehört hatte – ›unser Vertreter da unten, Paschik, wird Ihnen die nötigen Papiere besorgen‹ –, eine wartende Gestalt auf einem Bahnsteig. Ich war nicht darauf vorbereitet, einem von Gott Gezeichneten zu begegnen. Er schüttelte mir die Hand und lächelte freundlich. »Es freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Foster. Haben Sie schon gefrühstückt?« »Bis jetzt noch nicht. Nett von Ihnen, mich abzuholen!« 13
Er machte eine abwehrende Geste. »Ich habe meinen Wagen draußen. Wir werden Ihr Gepäck tragen müssen, Mr. Foster. Um diese Zeit sind keine Gepäckträger da.« Er sprach recht gut Englisch, mit einem ausländisch-amerikanischen Akzent. Er war mir unsympathisch. Er hatte ein rundliches, blasses Gesicht mit Doppelkinn und zwei Tage alten Bartstoppeln, und die braunen, feuchten Spanielaugen schielten leicht durch die randlosen Brillengläser. Er wirkte sachlich und sehr höflich. »Gute Reise gehabt, Mr. Foster?« fragte er, als wir zu seinem Wagen gingen. »Danke, ganz leidlich.« »Keine Schwierigkeiten beim Grenzübertritt?« »Nur die üblichen.« »Das freut mich.« Er trug mein Gepäck zu einem schäbigen Opel, der hinten keine Polster hatte. Er nahm mir die Schreibmaschine ab, um sie mit dem Handkoffer zu verstauen, hielt aber plötzlich inne und betrachtete sie nachdenklich. »Wissen Sie, Mr. Foster«, sagte er, »manchmal machen die Behörden jenen Besuchern, bei denen sie nicht viel Sympathien für unsere Regierung vermuten, große Schwierigkeiten.« »So?« »Leider ja.« Er stellte die Schreibmaschine in den Wagen, ließ aber den Handgriff noch nicht los und wandte sich mir zu. Einen Augenblick schien er et14
was sehr Wichtiges sagen zu wollen. Es lag ihm schon auf der Zunge. Dann besann er sich anders. Er zuckte die Achseln. »Es ist jetzt hierzulande alles etwas schwierig, Mr. Foster«, sagte er. »Jedenfalls freut es mich, daß man Ihnen keine Ungelegenheiten machte.« Sein Büro war in einem Haus direkt neben dem Boulevard Marschall Sokolowski. Es nannte sich ›Paneurasischer Pressedienst‹ und vertrat die Interessen mehrerer amerikanischer und einiger englischer Zeitungen, deren Besitzer es nach dem Krieg für überflüssig gehalten hatten, wieder eigene Redaktionen in der Hauptstadt zu eröffnen. Paschik war tüchtig und machte einen recht guten Eindruck. Ich mußte als Ausländer bei der Polizei und als Pressekorrespondent beim Innen- und beim Propagandaministerium gemeldet werden. Außerdem brauchte ich einen Spezialausweis für den Prozeß. Wir waren erst gegen Abend mit allem fertig. Obwohl wir bei den verschiedenen Amtsstellen ziemlich lange warten mußten und sich auch die üblichen Gelegenheiten zur Unterhaltung boten, wurden wir den ganzen Tag nicht warm miteinander. Er blieb in seiner höflichen Zurückhaltung, vermied jedes Gespräch über Deltschev oder den Prozeß, aus dem manchmal recht fadenscheinigen Grund, daß man uns zuhören könnte, und stellte mich den Beamten mit gemessener Höflichkeit vor, die deutlich ausdrückte, daß er für mein künftiges Verhalten keine Verantwortung übernehme. Er machte den 15
Eindruck eines Filialleiters, der den Sonderbearbeiter aus der Hauptstelle zwar auf jede erdenkliche Art unterstützt, sich im stillen aber berechtigte Zweifel erlaubt, ob die Ergebnisse den Aufwand auch rechtfertigen. Das verstand ich recht gut; ich hätte diese Zweifel sogar geteilt. Mit fortschreitendem Tag realisierte ich aber, daß seine Zweifel nur zum Teil ein Vorwand für seine durchaus verständliche und der Lage angemessene Berufseifersucht waren. Hinter ihr verbarg er, daß er sich um mich Sorgen machte. Das trat auf die wunderlichste Art in Erscheinung: auf plötzliche Ausbrüche von Herzlichkeit folgten betretene Pausen, wo ich, aufblickend, feststellen mußte, daß mich seine braunen kurzsichtigen Augen verstohlen musterten, als wolle er mein Bankkonto abschätzen; oder daß er, wie vorhin auf dem Bahnhof, etwas verschwieg, das er schon auf der Zunge hatte. Wahrscheinlich waren, während ich unterwegs war, schlechte Nachrichten für mich eingetroffen oder er hatte eine Bitte an mich, die ich vermutlich ablehnen würde. Der Gedanke machte mich nervös. Und zum Unglück hatte ich Paschik gegenüber bereits ein schlechtes Gewissen. Ich konnte ihn nicht leiden – seines Geruches wegen. Ich hatte diesen sauren, muffigen Geruch gleich bemerkt, als wir am Bahnhof in seinen Wagen gestiegen waren, und zuerst wußte ich nicht, ob der Wagen oder der Besitzer stank. Ich habe sicher keine heikle Nase, und die Ausdünstung der Groß16
städter stört mich nicht. Ich habe oft Leute mit starkem Körpergeruch getroffen, die mir aber deshalb nicht zuwider waren. Paschik aber war mir zuwider. Vielleicht lag es daran, daß gerade der Typ, den er in Auftreten und Erscheinung darstellte – mit Leinenanzug, amerikanischer Brille, Aktentasche, betonter Gefälligkeit – ganz und gar nicht zu diesem schlechten Geruch paßte. Ich erinnere mich noch jetzt: als ich festgestellt hatte, daß er und nicht der Wagen so roch, achtete ich bei allen Leuten, mit denen wir in Berührung kamen, besonders darauf, ob das, was meine Nase beleidigte, nicht vielleicht nur der Geruch dieser Stadt und nicht der eines bestimmten Bürgers sei. Aber nein – es war Paschik. Ich konnte ihn nicht riechen, und diese dumme Antipathie trübte bei allem, was weiter geschah, mein Urteil. Die Sonne war noch nicht untergegangen, aber ein Kirchturm und die Kuppel einer Moschee streckten ihre Schatten wie Daumen und Zeigefinger über den St. Michaelsplatz, als wir, für diesen Tag zum letztenmal, aus dem Propagandaministerium traten und zu Paschiks Wagen zurückgingen. Ich hatte meinen Sonderausweis für den Prozeß. Paschik machte eine Geste falscher Bescheidenheit, als ich ihm dankte. »Man tut, was man kann, Mr. Foster.« Es war einer seiner herzlichen Augenblicke. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, mitzukommen und zu warten, bis ich in meinem Büro Ordnung gemacht habe, möchte ich Sie zum Essen 17
einladen. Ich gehe immer in ein spezielles Restaurant.« Ich hätte gern abgelehnt; statt dessen nahm ich dankend an. Zu seinem Büro gehörte ein winziger Vorraum mit einer Milchglastür, auf der in Ölfarbe die Namen aller Zeitungen standen, die er vertrat. Die Liste war lang und imponierend, und das Büro dahinter bildete einen grotesken Gegensatz dazu. Es enthielt einen Schreibtisch, einen Tisch, zwei Stühle und ein paar Aktenregale. Das Fenster ging auf einen hohen Schacht mit Feuerleitern und ließ nur warme, schale Luft und schwaches Licht herein, so daß die Ecken des Zimmers im Dunkeln lagen. Auf einem der Aktenregale stand, auffallend gerahmt, als wäre es das Bild seiner Frau, ein Reklamebild von Myrna Loy mit dem Faksimile ihrer Unterschrift. Er schaltete die Schreibtischlampe ein und machte sich daran, einen Stoß von Pressemeldungen durchzusehen. Die meisten wurden zerknüllt beiseite geworfen; auf zwei oder drei schrieb er etwas und händigte sie einem Jungen mit einer Dienstmütze aus, der ihn hier erwartet hatte; einige klammerte er zusammen und legte sie in eine Mappe. Nachdem er bei der letzten Meldung angelangt war, gab er dem Jungen etwas Geld und schickte ihn fort. Dann hob er das Telefon ab und führte mit einer Frau ein Gespräch, von dem ich nichts verstand. Ihre Stimme tönte dünn und blechern aus der Muschel. Das Gespräch endete mit einem Crescendo von Verneinun18
gen. Paschik stand auf und begann, den Schreibtisch aufzuräumen, stirnrunzelnd und sichtlich verstimmt. Ich saß außerhalb des Lichtkreises seiner Lampe im Dunkeln und beobachtete ihn. Die kleinen Hände bewegten sich jetzt unsicher. Er rang sich offensichtlich zu einem Entschluß durch. Dann hörte er mit Aufräumen auf und blickte zu mir herüber, setzte sich wieder, lehnte sich zurück, zog eine Pakkung amerikanischer Zigaretten aus der Tasche und machte sie auf. »Mr. Foster«, sagte er behutsam, »da ist ein Problem, über das ich noch nicht mit Ihnen gesprochen habe.« Jetzt waren wir soweit. »Ja – und das wäre?« Er ließ die Augen nicht von dem Zigarettenpäckchen. »Das Problem der Zensur. Sie wissen natürlich, daß die Zensur hier sehr streng ist?« »Ja – das wurde mir gesagt.« »Gewöhnlich spielt sich die Sache so ab, daß ich das Manuskript der Zensurstelle unterbreite und es dann als Telegramm oder per Luftpost wegschicke.« »Ich verstehe.« »Ja, das ist der normale Ablauf.« Er betonte jedes einzelne Wort. »Und Sie meinen, es wäre Ihnen am liebsten, wenn auch ich Ihnen meine Artikel gäbe, damit Sie sie der Zensur vorlegen und dann weiterbefördern? Stimmt das?« Einen Augenblick zögerte er mit der Antwort, 19
dann begann er langsam auf den hinteren Beinen seines Stuhles hin und her zu wippen. »Mr. Foster – die Verhältnisse, unter denen wir hier leben müssen, sind nicht normal«, sagte er. Ich wartete. In seinen Brillengläsern blinkte das Licht der Schreibtischlampe regelmäßig auf, wenn er vorwärts wippte. Er fuhr fort: »Ich kann mir vorstellen, daß Ihre Berichte eine satirische Darstellung der Regierung enthalten.« »Das ist wohl möglich.« Er schüttelte feierlich den Kopf. »Ich kann Ihnen offen sagen, Mr. Foster: das ist ausgeschlossen, völlig ausgeschlossen.« »Nun, das werden wir ja sehen.« »Hat man Sie in der Chefredaktion nicht gewarnt, daß hier alles etwas schwierig sein wird?« Ich lächelte liebenswürdig. »Man sagte mir, daß Sie schwierig sein würden, Herr Paschik.« Er hörte auf zu wippen. »Aber, aber, Mr. Foster! Sie verstehen mich ganz falsch. Die Zensur ist hier sehr mächtig. Wenn Sie Artikel gegen das Regime der Volkspartei schreiben, könnte Ihnen das gemäß der Februarverordnung Gefängnis und eine hohe Buße eintragen.« »Ja, vielleicht könnte es das.« »Zugegeben, in Ihrem Fall würde die Verordnung wohl kaum angewendet werden, aber man würde Ihnen den Spezialausweis für den Prozeß sofort entziehen, und Sie hätten Unannehmlichkeiten mit der Polizei.« 20
»Auch daraus ließe sich ein Artikel machen.« Seine Lippen wurden schmal. »Es versteht sich von selbst, daß Ihre Artikel konfisziert würden, Mr. Foster. Wenn Sie es amüsant finden, Artikel zu schreiben, damit sie konfisziert werden, so ist das Ihre Sache. Ich befasse mich mit nützlicher Pressearbeit.« Das saß. Ich tat das nicht. Aber ich merkte, daß er es im Moment auch nicht tat. Ich vermute, er wollte mir zeigen, wie hilflos ich ohne ihn wäre. Ich sagte so ruhig ich konnte: »Nun gut, Sie sind hier der Repräsentant der Zeitung, und Sie sagen mir, daß alles sehr schwierig sei. Ich verstehe. Also: wie können wir die Schwierigkeiten umgehen?« Ich mußte eine Weile warten, während er sich eine Zigarette anzündete und den Rauch langsam an dem brennenden Ende vorbeiblies, wie ein schlechter Schauspieler, wenn er nachdenkt. »Nun, Sie könnten ja versuchen, übers Wochenende nach Griechenland zu fahren und Ihre Berichte von dort wegzuschicken.« Die Rauchwolke wurde etwas dichter. »Natürlich würde die Polizei Ihre Umwege durchkreuzen. Ein Amerikaner von einer Chicagoer Zeitung hat es probiert.« »Und?« Nun sah er mich fest an. »Er hat bloß eine Menge Zeit verschwendet, Mr. Foster. Selbstverständlich hatte er kein Manuskript bei sich, als man ihn an der Grenze untersuchte; er hatte es auswendig gelernt; aber man machte ihm Schwierigkeiten mit seinem 21
Visum, nahm ihm zwecks Überprüfung den Paß ab und hielt ihn eine Woche an der Grenzstation fest. Es war keine behagliche Zeit für ihn.« »Ich verstehe. Und nun, da Sie mir erzählt haben, auf welche Art man es nicht machen kann, schlagen Sie etwas anderes vor!« Er wippte wieder. »Ich habe keinen Vorschlag, Mr. Foster. Es sind auch schon andere Methoden versucht worden. Eine Zeitlang benutzte man das Personal fremder Fluglinien als Kurier, aber nicht lange. Es ist zu gefährlich für die Leute. Ich habe mein Bestes getan, der Chefredaktion das alles begreiflich zu machen – aber es scheint, daß London und New York die Zustände hierzulande nicht realisieren.« »Sie halten es also für eine große Zeitvergeudung, daß ich überhaupt hier bin?« »Das habe ich nicht gesagt.« »Dem Sinn nach haben Sie es gesagt.« »Sie haben mich mißverstanden. Ich selbst stehe Ihren Artikeln positiv gegenüber. Dieser Prozeß ist dramatisch – hm –« Er brach ab und suchte das richtige Wort. »Sie meinen – theatralisch?« »Jawohl, theatralisch. Danke sehr. Ein aus ideologischen Gründen gegen einen Politiker geführter Prozeß muß der westlichen Mentalität höchst theatralisch vorkommen. Daher finde ich es eine gute Idee unseres Redakteurs, einen hervorragenden Bühnendichter wie Sie, Mr. Foster, über den Prozeß Deltschev berichten 22
zu lassen. Ich selbst brenne auf Ihre Artikelserie. Aber« – er beugte sich eindringlich nach vorn – »Sie können sie nicht hier schreiben und nicht von hier ins Ausland schicken oder bringen; das heißt, wenn Sie nicht einfach die offiziellen Berichte des Propagandaministeriums zugrunde legen und ausschmücken und jede Seite von der Zensur abstempeln lassen wollen. Damit müssen Sie sich abfinden.« »Aber –« »Wohnen Sie dem Prozeß bei, Mr. Foster, memorieren Sie« – er berührte mit dem Finger die Stirn, um mir zu zeigen, wo ich zu memorieren hätte – »und fahren Sie dann nach Hause und schreiben Sie Ihre Artikel. Das ist der einzige Weg.« Ich antwortete nicht gleich. Ich hatte vier Tage lang im Zug gesessen und unterwegs wenig geschlafen. Um sieben Uhr morgens war ich in einer fremden Stadt angekommen, bei drückend heißer Sonne, in einer stickigen Atmosphäre, die mich einfach fertiggemacht hatte. Mein Gepäck stand in einem Hotel, das, was meine Erinnerung an das Straßennetz anbetraf, ebenso gut hundert Meter wie drei Kilometer von dem Büro entfernt sein konnte, in dem wir jetzt saßen; aber selbst wenn ich mein Hotel fand und mich an die Zimmernummer erinnerte – wie sollte ich nach dem Schlüssel fragen? Ich hatte Cafés und Ämter abgeklappert, Gespräche, die mich betrafen, in einer mir unverständlichen Sprache anhören müssen, immer im Schlepptau eines beleidigten, wichtigtuerischen 23
Balkanesen mit fetten Hüften und unangenehmer Ausdünstung. Ich hatte eine Blase an der rechten Fußsohle und ein schmutziges Gesicht. Dazu kam, daß ich hungrig war und schon wünschte, ich wäre überhaupt nie hergekommen. Jetzt sagte man mir noch, es sei bedauerlich, daß ich überhaupt gekommen sei, aber ich dürfe hierbleiben und mir das Theater ansehen, falls ich mich anständig betrüge und Lust hätte, meine Zeit zu vergeuden. So schien es mir damals wenigstens. Ich wurde wütend, beherrschte mich aber und antwortete dann mit ruhiger Stimme. »Herr Paschik, Sie wissen genauso gut wie ich, daß diese Artikel als Kommentare zum Prozeß gedacht sind. Später haben sie doch keinen Wert mehr.« »So, glauben Sie das?« Er lächelte wissendüberlegen. »Deltschev wird zum Tode verurteilt werden, und Ihre Artikel bilden einen Teil der Kampagne gegen das Urteil.« »Das entspräche nicht meinem Auftrag. Ich soll sie wegschicken, sobald sie geschrieben sind.« »Und warum?« Er warf beide Hände hoch und zeigte beim Lächeln Zähne wie Salzmandeln. »Damit Sie, Mr. Foster, der berühmte Bühnendichter, keine Zeit haben, sich auf Spesenkonto zu amüsieren; oder einen Einfall für ein neues Stück über das Leben hinter dem düsteren Eisernen Vorhang ausarbeiten und Ihren Auftrag vergessen. Die Verleger behandeln uns alle wie Kinder.« 24
»Trotzdem – man wartet auf meine Artikel.« »Nein, Mr. Foster. Man wartet nicht auf Ihre Artikel. Ich habe an die Chefredaktion gekabelt, daß sie vor Ihrer Rückkehr nicht verfügbar sein werden.« »Ich muß schon sagen – Sie hätten mich fragen sollen, ehe Sie das taten.« »Ich trage die Verantwortung, Mr. Foster.« Eine peinliche Pause entstand. Dann sagte ich: »Herr Paschik, sind Sie Mitglied der Volkspartei? Ich habe ganz vergessen, Sie danach zu fragen.« Er lächelte wieder, aber sein amerikanischer Akzent wurde noch betonter. »Oh, Mr. Foster, jetzt sind Sie mir böse. Ich kann es Ihnen nicht verdenken. Ich will offen zu Ihnen sein.« »Gut.« »Wenn es Scherereien mit der Zensur gibt über irgendeinen Artikel, der aus diesem Büro abgeschickt wird, so wird es einfach geschlossen. Das bedeutet für mich: ich sitze auf der Straße und bin erledigt. Denn ich bin dafür verantwortlich.« »Dann sind Sie aber auch verantwortlich, wenn diese Artikel nach dem Prozeß erscheinen.« »O nein. Läßt das Propagandaministerium Sie ins Land, so ist es seine Sache, wenn Sie nach Ihrer Abreise kritische Artikel veröffentlichen, nicht meine. Solange Sie aber hier sind, ist dieses Büro dafür verantwortlich, daß Sie den Ablauf des Prozesses nicht durch negative Berichterstattung beeinflussen.« Er zuckte die Achseln. »Das ist fraglos zweckdienlich 25
für das Ministerium. Ich persönlich bin ein Feind des Regimes. Aber ich bin schon einmal wegen meiner Überzeugung ausgewiesen worden, und der ›Paneurasische‹ hat als Repräsentant von 27 ausländischen Zeitungen nicht nur gegen Ihren Redakteur Verpflichtungen. Sehen Sie, Mr. Foster, deshalb muß ich mit der Regierung zusammenarbeiten.« Ich wußte nichts Rechtes zu antworten. Am liebsten hätte ich meinen Spezialausweis für den Prozeß aus der Tasche gezogen, auf Paschiks Schreibtisch gelegt und ihm gesagt, daß ich am nächsten Morgen abreisen würde. Und das war sicher genau das, was er sich erhofft hatte. Ich zögerte, weil ich mich meiner Aversion gegen ihn schämte. Er schob mir die Zigaretten hin. Ich schüttelte den Kopf. »Wann haben Sie das Telegramm abgeschickt?« »Vor vier Tagen, Mr. Foster.« »Warum nicht eher?« »Es stand nicht ganz fest, daß Sie kommen würden.« »Aber das war doch seit drei Wochen fest abgemacht.« »Das wußte ich nicht.« »Bekamen Sie eine Antwort?« »Ja, Mr. Foster.« »Darf ich sie sehen, bitte?« »Selbstverständlich.« Er zog eine Schublade heraus, entnahm ihr ein Telegramm und legte es vor mich hin. Ich las: Ihr 109 vom sechsten Juni ver26
standen benachrichtigen Sie Foster und arrangieren Sie Rückflug London sobald Prozeß abgeschlossen. »Das hätten Sie mir früher zeigen können«, sagte ich. »Ich habe nicht gleich begriffen, daß Sie mir nicht trauen, Mr. Foster«, sagte er leise. »Das Telegramm besagt nur, daß ich Sie benachrichtigen und Ihnen die Rückreise per Flugzeug sichern soll. Es erklärt nichts von dem, was ich Ihnen erzählt habe. Sie müssen mir ganz einfach glauben, daß ich Ihnen die Wahrheit sage.« Sein Lächeln verriet, daß er den Augenblick für gekommen hielt, da ich mir selbst dumm vorkommen und mich entschuldigen mußte. Vielleicht war es dieses Lächeln, das mich davon abhielt. Ich sagte statt dessen: »Ich nehme an, die übrigen ausländischen Korrespondenten unterliegen denselben Bestimmungen?« »Wenn sie gegen die Regierung sind, müssen sie sich dieselbe Zurückhaltung auferlegen.« »Und die Geschichte von dem Amerikaner, der versuchte, in Griechenland sein Wochenende zu verbringen – die haben Sie vermutlich erfunden, für den Fall, daß ich auf diese Idee kommen sollte, ohne Ihnen etwas davon zu sagen?« »Ich wollte Sie vor so plumpen Methoden warnen.« »Sie pflegen auf Umwegen zu Ihren Zielen zu gelangen, nicht wahr?« Er sah mich nachdenklich an. »Daran gewöhnt 27
man sich, Mr. Foster«, sagte er. Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: »Umwege sind manchmal die sichersten Wege. Nun, wie dem auch sei« – seine Miene verwandelte sich und er stand auf, Freundlichkeit und seine Ausdünstung verströmend –, »es tut gut, einen Menschen zu treffen, der die Offenheit vorzieht. Wir werden uns schon verstehen.« Er lächelte heiter. »Wir werden gut miteinander auskommen, Mr. Foster. Wir können einander behilflich sein – und das ist das Richtige. Ich will es Ihnen beweisen.« Er ging zu einem Aktenschrank, der ganz im Dunkeln stand, öffnete eine der Schubladen und begann darin herumzukramen. »Wissen Sie, Mr. Foster«, murmelte er, während er die Akten durchsah, »es ist weder ehrenvoll noch lohnend, aus einem Lande ausgewiesen zu werden. Ein paar Stunden lang sind Sie der tapfere Mann, der es gewagt hat, die Wahrheit zu sagen. Aber am nächsten Tag, wenn der Händedruck der Freunde vergessen ist, sind Sie einer der vielen arbeitslosen Reporter – weiter nichts.« Er kam wieder zum Schreibtisch, mit einem unordentlichen Aktenbündel und einem großen Briefumschlag. »Wann passierte Ihnen das?« fragte ich. »1930, in Italien. Ich war damals auch noch verheiratet«, sagte er. Er zögerte ein paar Sekunden, dann stopfte er die Akten in den Umschlag und gab ihn mir, mit dem bekümmerten Lächeln eines rei28
chen Onkels für seinen ungeratenen Neffen, den er gern hat. »Die Büro-Akten über Jordan Deltschev, Mr. Foster. Sie werden Ihnen von Nutzen sein.« »Danke sehr.« »Nichts zu danken.« Er hob abwehrend die Hand. »Ich möchte Ihnen gern behilflich sein, Mr. Foster. Und ich möchte, daß Sie das auch wissen. Und das meine ich ehrlich. Avanti! Jetzt gehen wir essen, nicht wahr?« In der Nacht war ich zu müde, um zu schlafen. Eine Weile versuchte ich es, dann gab ich es auf, machte Licht und las die Akten, die Paschik mir gegeben hatte. Zu diesem Zeitpunkt glaubte ich noch, daß ich über den Deltschev-Prozeß schreiben würde.
3 Ich will kurz aufzeichnen, was ich aus den Akten erfuhr. Bis zum Frühjahr 1940, als das Land sich mit zwei anderen Balkanländern zusammengetan und ein Bündnis mit der Achse geschlossen hatte, verfügte Jordan Deltschev über keine breite Gefolgschaft im Volk, obwohl er im Rate der agrarsozialistischen Partei eine bedeutende Rolle spielte. Ursprünglich Rechtsanwalt von Beruf, war er Abgeordneter eines Industriegebietes gewesen und dann, 29
nachdem er der Monarchie und später der Republik auf verschiedenen untergeordneten Posten gedient hatte, Postminister geworden. Damals galt er in unterrichteten Kreisen als ein sehr fähiger Mann, der entweder ehrlich war oder der noch nicht ernstlich in Versuchung geführt worden war. Begreiflicherweise traute man ihm um diese Zeit überhaupt keine der Eigenschaften zu, die zu einem großen und beliebten Volksführer gehören. Sein besonderes Talent lag im Organisatorischen; und obwohl er als Redner nicht unbegabt war, schien seine sachliche Argumentation, die in der Debatte ausgezeichnet gewirkt hatte, durchaus nicht geeignet, die Herzen einer bäuerlichen Zuhörerschaft zu erobern. Dennoch geschah dies eines Tages; doch das war ein Ergebnis, das nur durch eine besondere Verkettung von Umständen eintreten konnte. Deltschev selbst hatte herzlich wenig damit zu tun gehabt. Er war einer der wenigen Abgeordneten und der einzige Minister, der sich energisch gegen das Bündnis mit der Achse ausgesprochen hatte; und während des Sommers 1940 hatte man ihn auf Drängen der deutschen Behörden interniert. Gegen Ende des Jahres wurde er freigelassen, blieb aber unter Polizeiaufsicht. Zwei Jahre vergingen, ehe diese Aufsicht so weit gelockert wurde, daß er sich der politischen Untergrundbewegung anschließen konnte, mit der sein Name in Zukunft so eng verknüpft werden sollte. Vor diesem Zeitpunkt bestand der Widerstand 30
gegen die deutschfreundliche Regierung hauptsächlich aus Sabotageakten gegen Werke, die Kriegsmaterial herstellten, und Propaganda gegen die Rekrutierung von Divisionen für die russische Front. In den Gruppen, die unter der Leitung kämpferischer Volksparteileute diese Sabotage durchführten, befand sich auch ein gut Teil Agrarsozialisten. Ihre Aktionen waren spektakulär und immer gefährlich, fügten jedoch dem Feind nur wenig Schaden zu, und die Wirkung im Volk war gering. Nach Deltschevs Meinung mußte die Untergrundbewegung eine ganz andere Politik betreiben; sie sollte die Entscheidungen des Krieges denen überlassen, die wirkungsvoll kämpfen konnten, und sich auf die Planung der Zukunft des Landes konzentrieren, für die Zeit, die unmittelbar auf den unvermeidlichen Zusammenbruch der Deutschen folgen würde. Er sah ein, daß das Schicksal des Landes, was die Siegermächte anbetraf, sehr davon abhängen würde, wie schnell es eine provisorische Regierung zu stellen vermochte, die so wenig kompromittiert war, daß sie ohne Unterwürfigkeit verhandeln konnte, und zugleich stark genug, um einen Bürgerkrieg zu verhindern. So entstand das Komitee der Nationalen Einheit; es war nicht von Deltschev allein geschaffen worden, aber ihm verdankte es seinen Erfolg. Die Untergrundbewegungen eines Staates bestehen meistens aus seinen opfermutigen, romantischen und geistig unausgeglichenen Männern und Frauen, die 31
mehr Mut und Hingabefähigkeit als Organisationstalent und politische Geschicklichkeit besitzen. Da Deltschev der hellste Kopf des Komitees und zudem das einzige Mitglied mit praktischer Erfahrung in Regierungsgeschäften war, wurde er – obschon niemals offiziell dazu ernannt – faktisch Präsident, Generalsekretär und schließlich Wortführer dieses Komitees. Hunderttausende, die noch nie etwas vom Postminister Deltschev gehört hatten, lernten jetzt den Patrioten Deltschev kennen und verehren. Und als die Zeit kam, da er zu ihnen sprechen mußte, waren seine feste Stimme und seine sachliche Art nach dem hysterischen Gefasel der Kriegsjahre Ausdruck von gesundem Menschenverstand und Güte. Das Volk fühlte, daß aus Deltschevs Mund die Wahrheit sprach. Hätte sich die vom Komitee im Frühjahr 1944 gebildete Provisorische Regierung der Nationalen Einheit nur für einen raschen Friedensschluß eingesetzt, so hätte sie damit allein ihre Daseinsberechtigung schon bewiesen; denn dadurch bewahrte sie alle nördlichen Grenzprovinzen bis auf eine vor der Zerstörung und rettete die kleine Armee für polizeiliche Aufgaben. Sie tat aber viel mehr. Sie konnte die bedingte, aber ausreichende Anerkennung durch die Vereinten Nationen sichern und brachte es in diesen Tagen übereilter Verhandlungen und wechselnder Herrschaft fertig, die Diskussionen über territoriale Ansprüche und über Demontagen von Industrieanlagen zu verwirren und hinauszuzögern. 32
Sie erreichte bei größter Schonung der nationalen Wirtschaft und des nationalen Stolzes, daß die meisten lebenswichtigen Entscheidungen über die Zukunft des Landes nicht im Siegestaumel, sondern in der freundlichen Atmosphäre langwieriger Friedenskonferenzen getroffen wurden. Das Verdienst an diesen Erfolgen wurde Deltschev zugeschrieben. Man fing an, ihn scherzhaft und liebevoll ›Väterchen Deltschev‹ zu nennen. Ohne diesen Kosenamen hätte es vielleicht keine Volkspartei-Regierung und keinen DeltschevProzeß gegeben. Als die Provisorische Regierung zur Macht kam, sagten vernachlässigte Mitglieder aus Deltschevs eigener Partei, die Motive seiner Handlungen seien schon immer die eines gerissenen, ehrgeizigen Politikers gewesen; wenn man ihn auch nicht dafür tadeln könne, daß er sich als Mann von Bedeutung feiern lasse, so dürfe er doch seinen alten Freunden gegenüber nicht tun, als sei er es auch. Nun, sie sollten bald wünschen, sie hätten recht gehabt. Ein Hauptpunkt des ursprünglichen Programmes des Komitees forderte freie Wahlen, und zwar so bald als möglich. Dieser Paragraph und der scheinheilige Wortlaut waren, wie jeder wußte, Zugeständnisse an die anglo-amerikanische Mentalität, die nichts schaden konnten. Zwar waren die Männer des Komitees keine Zyniker, die nichts von Wahlen gehalten hätten, jedoch fanden sie solche Worte wirklichkeitsfremd, solange sie gezwungen 33
waren, Pläne für einen schwierigen Notstand zu machen, von dem sie nichts Genaues wußten und das Schlimmste erwarten mußten. Ein künstlich hervorgerufenes Gefühl für den Notstand läßt sich jedoch nicht so leicht unterdrücken, und so blieb der Wunsch nach freien Wahlen hartnäckig bestehen. Als daher die Mitglieder der Volkspartei in der Provisorischen Regierung anfingen, auf die Einlösung des Versprechens zu drängen, legte man ihre Haltung zu Recht als die Forderung nach mehr Macht aus; das heißt, nach einem größeren Anteil an den wichtigen Posten. Nur bei Deltschev war die Sache offensichtlich anders. Die Volkspartei war unterdessen stark und einflußreich geworden. Die Beteiligung der Agrarsozialisten an der Bildung und der Arbeit des Komitees verschaffte diesem öffentliche Unterstützung auf breiter Basis, aber es stellte sich auch die Nebenwirkung ein, daß das Komitee zu einer Werbestelle für die Volkspartei wurde. Diese unliebsame Folgeerscheinung war längst Gegenstand erbitterter Wortwechsel und Klagen innerhalb der Regierung gewesen, und bei einer solchen Gelegenheit war Petra Vukaschin, der Führer der Volksparteileute, ganz offen gewesen. Er hatte gesagt: ›Wer dumm genug ist, seiner Frau einen hübschen jungen Mann von schlechtem Ruf vorzustellen, darf sich nicht beklagen, wenn er die beiden zusammen im Bett findet.‹ Als Deltschev zum offensichtlichen Mißfallen 34
Vukaschins und der Volkspartei die Wahlen ernst nahm und dafür zu sprechen begann, nahmen seine rührend naiven Kollegen zuerst voll Freude an, ›Väterchen Deltschev‹ wolle bloß den Gegner auffordern, die Karten zu zeigen. Sie wußten, und hatten schon seit einiger Zeit gewußt, daß die Provisorische Regierung die Billigung und Unterstützung der Westmächte besaß, die nicht auf die versprochenen Wahlen dringen würden, solange das Land unter sowjetischer Besetzung stand. Sie hatten Beweise, daß die Russen, beeindruckt von Deltschevs Tüchtigkeit, sich damit zufriedengeben würden, alles so zu lassen, wie es zu diesem Zeitpunkt war. Manche Mitglieder vermuteten sogar, eines Tages würde das Wort ›provisorisch‹ vor dem Titel einer Regierung mit so hoher Lebenserwartung verschwinden. Sie ahnten nicht, daß für ihren Führer Deltschev die Tage dieser Regierung schon gezählt waren. Später versuchte man wiederholt, für Deltschevs damalige Handlung eine vernünftigere Erklärung zu finden als die, mit der sich die primitiveren Parteigenossen zufriedengaben: daß er ein von Gott inspirierter Patriot war, der sich selbst geopfert habe. Da aber fast jede andere Deutung auf der Voraussetzung beruhte, daß Deltschev durch und durch korrupt war, war keine sehr überzeugend. Die wesentlichen Tatsachen waren sehr einfach. Nach der Sitzung, bei der das Versprechen zur Debatte gestanden hatte, schien Deltschev befangen 35
und nicht geneigt, über die Angelegenheit weiter zu reden. Immerhin sagte er zu einem sehr beharrlichen Freund: ›Wenn wir reine Hände haben, kann uns niemand anklagen.‹ Der Freund hielt das für einen Hinweis auf die starke Position der Regierung und die Sinnlosigkeit des Manövers der Volkspartei. Das war an einem Donnerstag. Die nächsten Tage verbrachte Deltschev mit einer schweren Erkältung im Bett. Am folgenden Dienstag hatte er eine Rundfunkansprache über eine damals laufende Kampagne für Wintervorräte an Viehfutter zu halten. Er kam direkt aus dem Bett ins Funkhaus und sah, wie der Intendant der Station sagte, aus ›wie ein Mann, der sich mit dem Leibhaftigen herumgeschlagen hat‹. In seiner Ansprache streifte er die Wintervorräte nur, zog dann nach kurzem Zögern ein handgeschriebenes Manuskript aus der Tasche und begann, eine Erklärung vorzulesen. Fünf Minuten später wußte das Volk, daß nach Väterchen Deltschevs wohlerwogener Entscheidung nunmehr für die Regierung die Stunde gekommen sei, das feierliche Versprechen des Komitees auf Abhaltung freier Wahlen einzulösen. Zu Beginn dieser Erklärung hatte er betont, er spreche nur für sich selbst, nicht für die Provisorische Regierung der Nationalen Einheit. Diese Feststellung wurde sowohl als Beweis seiner schamlosen Verachtung für die Zuhörerschaft als auch als Beweis seiner unbedingten Lauterkeit gewertet. Die einen behaupteten, nur ein Narr würde glauben, 36
Deltschev könne seine private Meinung über ein solches Problem von der Einstellung einer von ihm geführten Regierung trennen; die andern führten dagegen ins Treffen, daß Deltschev bei seiner unleugbaren Integrität gar keine andere Möglichkeit gehabt hatte als die öffentliche Lossagung, wenn er das Volk nicht betrügen wollte. Da man fast jeden Satz seiner Rede so oder so auslegen konnte, buchte keine Seite Punkte. Deltschev selbst war vom Funkhaus direkt nach Hause zurückgekehrt und hatte sich wieder zu Bett gelegt; er blieb in seinem Krankenzimmer, schweigsam und unzugänglich, und ließ nur durch seinen Sekretär die Erklärung verbreiten, die Rundfunkansprache ›bedürfe keiner Erklärung‹. Doch schon nach zwei Tagen war es klar, daß der Sturm über die Rede, der unter den Politikern mit steigender Wut tobte, das Volk gar nicht mehr interessierte. In seinen Augen war jetzt die Provisorische Regierung unwiderruflich verpflichtet, die Wahlen in allernächster Zukunft abzuhalten, und ihm war klar, daß jeder, der Deltschev angriff, nur versuchte, diese Tatsache zu leugnen. Dennoch war es die Volkspartei, die den größten Vorteil aus der Lage zog. Die meisten der unglücklichen Agrarsozialisten waren klug genug, einzusehen, daß sie nur mit ihrem Strohmann Deltschev siegen konnten, gleichviel was sie unter sich von ihm sagen mochten; sie wurden aber stark behindert durch eine beträchtliche schwergekränkte Minorität, die jetzt keine an37
deren Sorgen zu haben schien, als ›Väterchen Deltschev‹ in aller Öffentlichkeit zu schmähen und zu bekämpfen. Die Volkspartei hingegen verfiel nicht in diesen Fehler, nützte ihn aber voll und ganz aus. Indem sie Deltschev gönnerhaft, aber achtungsvoll als eine Art älteren, erfahrenen und hochgeachteten Staatsmann behandelte (tatsächlich war er damals erst sechzig), gelang es ihr, den Eindruck zu erwekken, er sei hoffnungslos senil, womit sich auch seine dauernde Bindung an die Agrarsozialisten entschuldigen ließ. Durch die Verschiebung der Wahlen bis Anfang Sommer gewann die Volkspartei außerdem vollauf Zeit, einen coup d’état vorzubereiten, welcher der Veröffentlichung der Wahlergebnisse um mehrere Stunden zuvorkam. Übrigens wäre das tatsächlich kaum nötig gewesen; dank Deltschev kam die Partei beinahe legal an die Macht. Deltschev verhielt sich diesen Ereignissen gegenüber zuerst merkwürdig passiv. Zwar protestierte er gegen den coup d’état, aber nur formell, so als wolle er einen passenden Kommentar abgeben, nicht aber ein von Herzen kommendes Gefühl ausdrücken. Wenn er im Ministerrat die neue Regierung angriff, erinnerten seine Attacken an das wohleinstudierte Verhalten des Fechtmeisters, der einen neuen Schüler trainiert. Lange Zeit schien er die raschen, schlauen Schachzüge, durch die die Regierung ihre Position sicherte, nicht zu bemerken, oder nicht bemerken zu wollen. Bald fand sogar die Anti-Deltschev-Gruppe 38
in seiner Partei gläubige Zuhörer für ihr Märchen von dem großen Vermögen, das am Tage nach der Radioansprache irgendwo im Ausland auf Deltschevs Namen deponiert worden sei. Selbst in der breiten Masse schien er seine Beliebtheit einzubüßen. Es war verständlich, daß die Stützen der neuen Regierung ihn schließlich als einen der ihren ansahen. Dann fand ›Deltschevs Fußballmatch‹ statt. Gelegenheit dazu bot die offizielle Einweihung eines Sportstadions. Es war 1940 fertiggestellt und unmittelbar danach von den deutschen Truppen requiriert und als Durchgangslager verwendet worden. Später hatte die russische Armee es als Garnisons-Hauptquartier benutzt. Es war eine Geste guten Willens, daß die Sowjets es freigaben, und die neue Regierung hatte pflichtschuldigst beschlossen, diese Geste mit soviel Publizität wie nur möglich zu feiern. Wahrscheinlich war die Anwesenheit der diplomatischen Vertreter der Westmächte bei der Feier der Grund, daß Deltschev als Führer der ›Opposition‹ gebeten wurde, eine Rede zu halten. Er begann heuchlerisch mit einem Dank an die Rote Armee und drückte die Anerkennung seiner Partei für die Großzügigkeit aus, die der Grund zur schnellen Freigabe des Stadions war. Er hoffe, sagte er, daß es bald der Schauplatz eines denkwürdigen Fußballspiels gegen das Team der stationierten russischen Truppen sein würde. Dieser Anregung folgte nur sehr gelinder Beifall; 39
währenddessen trat er näher ans Mikrofon. Diesmal zog er kein Manuskript aus der Tasche. Er wußte aufs Wort, was er sagen wollte. »Inzwischen aber, meine Landsleute, haben wir einen anderen, lebensgefährlichen Kampf zu bestehen – den Kampf für die Freiheit in unserem Staat.« Er machte eine Pause. Völliges Schweigen folgte – man konnte die Fahnen im Winde flattern hören. Dann fuhr er fort: »Vor zwei Tagen ersuchte mich der Führer der Volkspartei, Petra Vukaschin, das Amt des Justizministers in der Regierung zu übernehmen, die jetzt an der Macht ist. Ich habe ihm für heute meine Antwort versprochen. Ich ergreife die Gelegenheit, sie ihm hier und jetzt zu geben. Ich antworte: wenn er denkt, daß ich durch einen solchen Verrat an meinen agrarsozialistischen Brüdern etwas an ihrem Entschluß ändern würde, zu kämpfen, bis diese neue Tyrannei mit Stumpf und Stiel ausgerottet ist – wenn er so etwas denkt, dann ist er dumm. Und wenn unser Widerstand gegen die verbrecherischen Pläne seiner Partei so stark ist, daß er versuchen muß, uns mit einem Anteil an der Beute zu bestechen, dann fürchtet er sich auch. Meine Landsleute, die Zeit ist knapp. Diese dummen, furchtsamen Männer sind gefährlich. Nicht weil sie dumm und furchtsam sind, sondern weil sie uns beherrschen wollen. Sie sind nicht …« Bei diesem Wort wurden die summenden Lautsprecher abgeschaltet. In der Stille, die nun folgte, 40
klang Deltschevs Stimme hoch und dünn im Wind, nur den wenigen vernehmbar, die ganz in seiner Nähe standen, während er den Satz vollendete. Dann setzte brausender Beifall ein. Er rollte durch das überfüllte Stadion wie eine tosende, stöhnende Woge, die aufwallt, sich krachend überschlägt und in der Luft explodiert. Er hielt fast eine Minute an und ließ erst nach, als ein anderer Ton ihn verdrängte. Die Menge schrie in Sprechchören ununterbrochen Deltschevs Namen. Plötzlich entstand auf der andern Seite des Stadions in der Menschenmasse eine große wirbelnde Bewegung. Ein Handgemenge entwickelte sich. Aus der Nähe drangen Wutschreie. Deltschev, der während der Ovation reglos vor den abgeschalteten Mikrofonen gestanden hatte, winkte jetzt mit der Hand und wandte sich ab. Wieder gab es Beifallsgebrüll und Pfuirufe. Jetzt beschloß der russische Militärkapellmeister, der die Turnerriege ins Stadion führen sollte, nicht erst das Kommando abzuwarten. Durch diesen vernünftigen Entschluß wurden wahrscheinlich ernstliche Unruhen vermieden. Als die Kapelle mit klingendem Spiel einmarschierte, wurden die Hochrufe seltener, und Lachen und Händeklatschen setzten ein. ›Deltschevs Fußballmatch‹ war vorbei; vorbei bis auf die atemlose Erregung, mit der er diskutiert und denen berichtet wurde, die ihn nur durch das Radio mitangehört hatten. Aber er blieb unvergessen, und man erinnerte sich vieler Einzelheiten, die sich gar nicht zugetragen hatten. ›Väterchen Deltschev‹ war zu seinem 41
Volk zurückgekehrt. Er hatte seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, und das Volk hatte ihm gezeigt, daß es in seinem Kampf gegen die ›Herren‹ auf seiner Seite stand. Vier Tage später fand nachts ein Attentat auf ihn statt. Haus und Hof von Deltschev waren nach alter Weise von einer Mauer umgeben. Als er aus seinem Wagen stieg, um ins Haus zu gehen, wurde eine Handgranate geworfen. Sie traf die Mauer, gleich neben dem Tor, und prallte auf die Straße zurück, ehe sie explodierte, so daß Deltschev, der schon durchs Tor getreten war, von der Explosion verschont blieb. Um diese Nachtzeit waren nur wenige Leute auf der Straße, und der Mann, der die Granate geworfen hatte, entkam. Den Chauffeur hatte es an Kopf und Hals erwischt, Deltschev aber war kaum verletzt, obwohl er gegen das halbgeöffnete Tor geflogen und etwas mitgenommen war. In der Verwirrung, die nun folgte, hörte niemand auf seinen Einwand, daß der Schmerz in seiner Schulter nur von einer Prellung herrühre, und er wurde zusammen mit dem Chauffeur ins Krankenhaus gebracht. Nach einer Stunde war das Gerücht, er sei tot oder liege im Sterben, schon durch alle Cafés gelaufen, und eine große Menschenmenge sammelte sich vor dem Krankenhaus. Deltschev war zu diesem Zeitpunkt bereits in sein Haus zurückgekehrt, vor dem eine noch größere Menschenmenge der Polizei zusah, wie sie die 42
Bruchstücke der Granate zusammensuchte. Die Stimmung gegenüber der Polizei war ziemlich feindselig. Bald darauf erzählte man sich flüsternd folgenden Ausspruch von Vukaschin: als er später in der Nacht den Bericht des Polizeipräsidenten entgegennahm und hörte, daß man das Attentat auf Deltschev ganz unverhohlen als Antwort der Regierung auf seine Rede im Stadion betrachte, habe er ausgerufen: ›Dachten die Leute etwa, wir würden sie im Kabinett beantworten?‹ Die Geschichte ist vielleicht nicht wahr, aber unglaubhaft erscheint sie im Lichte der folgenden Ereignisse nicht. Fest steht, daß von diesem Augenblick an eine verdächtige Veränderung in der Haltung des Propagandaministeriums gegen Deltschev eintrat, und es ist wahrscheinlich, da damals der Entschluß gefaßt wurde, ihn vor Gericht zu bringen. Die offizielle Erklärung des Ministeriums zu der Angelegenheit klang so bösartig witzig, daß sie nicht dazu beitrug, die allgemeine Meinung zu erschüttern, die Regierung habe von vornherein um das Attentat gewußt. Sie stellte fest, die Granate sei amerikanischen Fabrikats und deutete an, daß der Attentäter wohl am ehesten in den Reihen von Deltschevs eigener Partei zu suchen sei, in der es viele Verbrecher gebe, die mit anglo-amerikanischen Imperialisten Geschäftsbeziehungen hätten. Der Redakteur einer Zeitung, der diese Erklärung ›ungenügend, aber vielsagend‹ nannte, kam sofort ins Gefängnis. Jetzt setzte eine Reihe wilder Angriffe auf die agrar-sozialistische Partei ein. Der heftige 43
Ton und die kaum mehr verhüllten Drohungen, die jede Anspielung auf Deltschev begleiteten, waren unmißverständliche Warnungen. Die Opposition war untragbar geworden und mußte liquidiert werden; zuerst aber mußte man sich Deltschevs entledigen. Er hatte die Wahl. Er konnte ins Ausland fliehen und verurteilt werden, oder er konnte zu Hause bleiben und verurteilt werden. Verurteilt wurde er in jedem Fall. Deltschev zog es vor, zu bleiben. Einen Monat später wurde er verhaftet. Das war alles. Ich blickte eine Weile aus meinem Hotelfenster auf die flachen Dächer und die byzantinischen Türme der Stadt, die im Mondlicht so still unter mir lag wie die Landschaft einer toten Welt; schließlich wurde ich schläfrig. Als ich den Wust von Zeitungsausschnitten, Notizen und Manuskripten, der Paschiks Akten bildete, wieder in den Umschlag schieben wollte, fiel mir ein Zettel auf, den ich vorher nicht gesehen hatte. Er war an die Rückseite eines Bündels von Blättern mit aufgeklebten Ausschnitten geheftet und daher leicht zu übersehen. Der Zettel stammte von dem Notizblock, den ich auf Paschiks Schreibtisch gesehen hatte. Darauf stand in Maschinenschrift: Der Fall K. Fischer. Wien, 1946 – Alekos Hand? Für mich war es damals noch nicht das interessanteste Blatt aus den Deltschevakten. Ich schlief ein. 44
4 Paschik hatte mir versprochen, mich zur Verhandlung zu fahren, und wir trafen uns zum Frühstück. Er nickte mit dem beifälligen Lächeln eines freundlichen Schulmeisters, als er das große Kuvert sah, das ich bei mir trug. »Ah, Mr. Foster, Sie haben es gelesen?« »Ja. Ziemlich viel Material. Haben Sie es selbst gesammelt?« Er betastete einen Augenblick verlegen sein Kinn; er war frisch rasiert. »Warum fragen Sie, Mr. Foster?« »Weil ein gut Teil dieses unveröffentlichten Materials offenbar von jemandem geschrieben worden ist, der Deltschev sehr gut kannte und sehr schätzte. Sie?« »Ach so – der Bericht.« Er sah verwirrt aus. »Nein, den hat Petlarow im Auftrag einer meiner Zeitungen geschrieben.« »Wer ist das?« »Er war Deltschevs Sekretär und Freund. Bis zu den Wahlen. Dann hatten sie Streit. Der Bericht wurde ihm zwar bezahlt, ist aber nicht verwendet worden. Der Augenblick war nicht dafür geeignet.« »Wo ist Petlarow jetzt? Ist er hier?« »Vielleicht.« »Ich würde gern mit ihm sprechen.« »Er wird nichts über den Prozeß wissen, Mr. Foster.« 45
»Trotzdem – ich würde ihn gern sprechen.« »Vielleicht möchte er aber Sie nicht sehen.« »Dann wird er es mich wissen lassen. Sie sagten doch, Sie würden mir gern behilflich sein, Paschik. Nun, hier haben Sie gleich Gelegenheit dazu.« Er wand sich vor Unbehagen. »Bitte, Mr. Foster! Ich sehe schon, ich muß es Ihnen erklären.« Er senkte die Stimme »Sie verstehen mich nicht. Nach Deltschevs Verhaftung wurde natürlich auch Petlarow verhaftet. Er ist jetzt zwar entlassen worden, ist aber immer noch verdächtig. Es wäre höchst unvorsichtig, Verbindung mit ihm aufzunehmen. Ich kann es nicht riskieren.« »Das brauchen Sie auch gar nicht. Sie sollen ihm nur eine Nachricht von mir schicken. Er spricht doch sicher Deutsch?« »Ich weiß nicht. Vielleicht nicht.« »Sagen Sie ihm in meinem Namen, daß er mich heute abend im Hotel anrufen soll.« Er seufzte. »Nun ja, gut, Mr. Foster. Aber ich glaube, es wird nichts nützen.« Ich hielt den Umschlag mit den Akten hoch. »Das wollen wir lieber nicht mitnehmen – oder? Wir können es im Vorbeifahren in Ihr Büro bringen und gleich ein paar Worte an Petlarow schreiben, die Ihr Bürojunge bei ihm abgeben kann.« Nun kniff er die Lippen zusammen. »Ich sehe schon, Sie trauen mir immer noch nicht, Mr. Foster«, sagte er. »Was meinen Sie damit?« 46
Er sah die Gefahr einer Erklärung gerade noch. »Es ist nicht wichtig«, sagte er würdevoll. Er nahm mir das Kuvert ab. Dabei fiel es mir ein. »Übrigens, auf was bezieht sich das hier?« Ich zeigte ihm das Blatt, an das hinten der Hinweis auf Aleko geheftet war. Er sah es einen Augenblick völlig ausdruckslos an. »Ach das, Mr. Foster«, sagte er, nahm mir den Zettel ab und steckte ihn in die Tasche, »das ist weiter nichts. Etwas aus einer anderen Akte.« Wenn man einmal weiß, wie einer lügt, merkt man’s gleich. Paschik hatte einen besonderen Tonfall bei direkten Lügen, der ihn verriet – einen kalten, allzu nüchternen Tonfall. In diesem Tonfall hatte er mir die unwahre Geschichte von dem amerikanischen Journalisten erzählt, der es mit dem Wochenende in Griechenland versucht hatte. Daß er jetzt dieses Zettels wegen log, hielt ich für ebenso unwichtig. Man hatte den großen Saal im Justizministerium für einen politischen Prozeß von solcher Bedeutung zu klein gefunden. Deshalb inszenierte man ihn in der Aula der Fliegerschule, einem modernen Gebäude an der Peripherie der Stadt. Die Wände, sonst mit Kriegstrophäen behängt, trugen jetzt Fahnenschmuck – Fahnen der Republik und der Sowjetunion und auch Fahnen jener Länder Osteuropas, die mit der Regierung sympathisierten. Über die Richtertribüne waren zwei Sowjetfahnen 47
drapiert, die aber taktloserweise nicht ganz eine andere Trophäe zudeckten – die Höhenflosse eines russischen Flugzeugs, ein Geschenk einer deutschen Flakeinheit. An einige Fahnen waren Zettel geheftet, die in vier Sprachen verkündeten, daß Rauchen verboten sei. Im Balkon war eine Reihe schalldichter Zellen eingebaut, aus denen Dolmetscher ihre Übersetzung der Verhandlungen an die Kopfhörer fremder Diplomaten und Pressevertreter unten im Saal weitergaben. Große Scheinwerfer, auf schweren Ständern oder an der Brüstung des Balkons montiert, waren so ausgerichtet, daß sie den Gerichtshof für die Filmkameras des Propagandaministeriums beleuchteten. Neben der Richtertribüne, zu beiden Seiten der Anklagebank, in jeder Ecke des Saals, auf dem Balkon, an den Türen und unter jeder Fahne an der Wand waren Posten aufgestellt, nur Offiziere und Unteroffiziere, mit Maschinenpistolen bewaffnet, die sie aber nicht umgehängt, sondern schußbereit in den Händen trugen. Das Propagandaministerium befürchtete, daß bei der Beweisveröffentlichung der Volkszorn am Verräter Deltschev Lynchjustiz verüben würde, bevor die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen konnte. Der Saal war überfüllt. Paschik und ich saßen in der Abteilung für die ausländische Presse, seitlich unter der Ecke des Balkons. In der Mitte waren die Plätze für die Diplomaten. Bei ihnen wie bei uns befanden sich auf der Leiste vor jedem Platz ein Paar Kopfhörer und vier Steckdosen mit den An48
fangsbuchstaben für die russische, französische, englische und deutsche Leitung der Simultanübersetzung. Eine vervielfältigte französische Übersetzung der Anklageschrift lag ebenfalls auf der Leiste. Für das Publikum ohne Eintrittskarten gab es keine Sitzplätze, aber hinter uns waren mehrere Stuhlreihen unverkennbar durch Karten mit Initialen reserviert. Es waren, wie Paschik erklärte, die Initialen der wichtigsten Gewerkschaften. Die Inhaber dieser Plätze trugen ihre besten Kleider und ihr bestes Benehmen zur Schau. Sie alle hatten Abzeichen, und in einer Reihe saß eine Gruppe von Bauern in Nationaltracht. Sie sahen aus, als wohnten sie einer Preisverteilung bei. Die vorderen Reihen wirkten ganz anders. Sie waren für die prominenten Parteigenossen und Funktionäre reserviert, die ordentliche dunkle Anzüge trugen und entweder mit verlegenem, nachdenklichem Stirnrunzeln auf ihren Plätzen saßen oder wichtigtuerisch mit ihren Nachbarn flüsterten. Sie waren sich voll bewußt, im Lichte der Öffentlichkeit zu stehen, und sie bemühten sich zu zeigen, daß sie offiziell hier waren, nicht nur als begünstigte Zuschauer. Es war warm, und fast alle Frauen und auch viele Männer hatten grellbunte Papierfächer. Gegen zehn Uhr wurden die Scheinwerfer am Balkon eingeschaltet und die Filmkameras begannen zu surren. Ein erwartungsvolles Gemurmel ging durch den Gerichtssaal. Als dann die drei Richter in ihren schwarzen Roben langsam herein49
schritten, erhob sich alles. Die Richter gingen zu ihren Plätzen auf der Tribüne, blieben aber stehen, bis die Nationalhymne aus dem Lautsprecher verklungen war. Es war genauso, wie wenn der König die Oper besucht. Selbst das allgemeine Gemurmel, als wir uns wieder setzten, war mir vertraut. Der einzige Unterschied war, daß die Lichter nicht verlöschten und kein Vorhang aufging, sondern daß jemand aufstand und den Namen Jordan Deltschev aufrief, und alle Augen sich auf die Glastür neben der Tribüne richteten. Dann entstand ein Schweigen, in dem man nur das Geräusch der Kameras und das leise Ticken des Generators hörte, welcher die Scheinwerfer mit Strom versorgte. Nach ein paar Sekunden wurden die beiden Flügel der Glastür aufgeschlagen und drei Männer betraten den Gerichtssaal. Sie blieben einen Augenblick im Türrahmen stehen und blinzelten in das Licht, das sich auf sie ergoß. Zwei von ihnen waren uniformierte Posten, große, schneidige junge Burschen. Zwischen ihnen stand ein ältlicher abgezehrter Mann mit grauem Gesicht, tiefliegenden Augen und weißem Haar. Er war nicht groß und war sicher stämmig gewesen, aber jetzt hingen seine Schultern nach vorn und er hielt sich schlecht. Er hatte die Hände tief in den Taschen seines Jacketts vergraben und sah sich unsicher um. Einer der Posten berührte seinen Arm, und nun ging er hinüber zu der Anklagebank und stieg hinauf. Es stand ein Stuhl für ihn bereit, aber er blieb noch einen Au50
genblick stehen und betrachtete die Fahnen ringsum an den Wänden; er lächelte dabei ein wenig. Die Hände nahm er nicht aus den Taschen. Dann nickte er jedem der drei Richter kurz zu, setzte sich hin und schloß die Augen. Das war Jordan Deltschev. Die Anklageschrift wurde verlesen. Sie enthielt 23 Punkte und beschuldigte Deltschev (vor allem in Punkt 8, aber mit verändertem Wortlaut auch noch in zwei andern Punkten), ›terroristische Verschwörungen gegen den Staat vorbereitet und mit reaktionären Organisationen, einschließlich der verbrecherischen Bruderschaft des Offizierskorps, um finanzieller und anderer persönlicher Vorteile willen die Besetzung des Vaterlandes durch Truppen einer fremden Macht geplant zu haben.‹ Andere Anklagepunkte befaßten sich mit terroristischer Betätigung, mit Waffenschmuggel und mit Mordverschwörungen gegen Mitglieder der Regierungspartei, insbesondere gegen P. I. Vukaschin. Durch die ganze Anklageschrift liefen unklare Anspielungen auf ›verschiedene Mitverschworene‹, ›berüchtigte ausländische Agenten‹, ›gedungene Saboteure und Mörder‹, ›reaktionäre Gangster‹ und so weiter, und der Name der ›Bruderschaft des Offizierskorps‹ kehrte mit der Regelmäßigkeit des Klingelzeichens an der Schreibmaschine wieder. Man erkannte sehr bald, daß die Anklageschrift ein Propagandadokument und auf die Verbreitung im Ausland berechnet war. Sie sagte – oder versuchte zu sagen: ›Er gehört zu jenen Männern, gegen die im Ernst solche An51
klagen erhoben werden können‹, und: ›Wenn man ihm überhaupt so viel vorwerfen kann, dann muß er etwas davon sicher getan haben.‹ Der Staatsanwalt vertrat den Fall persönlich. Er hieß Dr. Prochaska und war einer der wenigen Juristen, die in die Volkspartei eingetreten waren, ehe sie an die Macht kam. Er war eine Autorität in Fragen des Grundbesitzes und hatte in seiner Praxis hauptsächlich Fälle dieser Art vertreten. Dagegen besaß er wenig Erfahrung in Gerichtsverhandlungen und gar keine in Strafverfahren. Er war ein stämmiger Mann, der wie ein Boxer aussah, mit raschen, ruckartigen Bewegungen und der Gewohnheit, sich alle paar Minuten die Lippen zu lecken, und er schien mehr bemüht zu sein, sich selbst gegen jeden Verdacht von Nachsicht zu verteidigen, als den Fall eindrücklich darzulegen. Er griff aus der offiziellen Anklageschrift nur zwei Punkte heraus; wenn er für diese Beweise oder auch nur Scheinbeweise erbringen konnte, war Deltschev aller andern Punkte mit überführt. Auf jeden Fall war das der Eindruck, den ich bekam. Schon beim einleitenden Teil der langen Anklagerede brachte er seine Denunziationen in einem unglaubwürdigen bombastischen Ton vor, der auch die plausiblen Stellen beeinträchtigte. Trotz meiner Kopfhörer und der Stimme des Dolmetschers, der die Rede ruhig übersetzte, war ich ständig abgelenkt durch das Gesicht und die undeutliche Stimme des Redners. Die Anklage war einfach und gefährlich. 52
Es war allgemein bekannt, daß Deltschev, der insgeheim mit den Russen wie mit den Westmächten in Verbindung gestanden hatte, sich zur Zeit des deutschen Rückzugs 1944 sehr große Mühe gab, seinem Land die Besetzung durch angloamerikanische Truppen zu sichern. Gegen die Wünsche der Mehrheit des Komitees der Nationalen Einheit war er in einem Punkt sehr weit gegangen: er hatte vorgeschlagen, daß die Nationale Armee den Russen im Norden solange Widerstand leisten sollte, bis Engländer und Amerikaner in den Mittel-OstBasen eine Luftlandeinvasion vorbereitet hätten. Nun hatte die Anklage diese Tatsache so verdreht, als hätten die Westmächte selbst den Vorschlag gemacht und sich Deltschevs Zustimmung durch das Versprechen erkauft, die Neuverteilung der deutschen Ölkonzessionen ihm zu übertragen. Mit anderen Worten: daß er versucht hätte, sich Geld und Macht mit dem Leben und Blut seiner Mitbürger zu erkaufen. Der andere gefährliche Anklagepunkt hatte meinen Londoner Freund, den Volkswirtschaftler, sehr amüsiert. In ihm wurde Deltschev beschuldigt, Mitglied der Bruderschaft des Offizierskorps zu sein und die Ermordung von Regierungschef Vukaschin, dem Führer der Volkspartei, geplant zu haben. Wenn man das auch nur scheinbar beweisen konnte, so würde Deltschev legal und mit allgemeiner öffentlicher Billigung zum Tode verurteilt werden. Die Anklage war darauf angelegt, Deltschev und 53
mit ihm die agrar-sozialistische Partei, aus der er hervorgegangen war, zu vernichten. Ich verließ an jenem Tage den Gerichtshof in einer wunderlichen Gemütsverfassung. Ich hatte das Gefühl, der Premiere eines miserablen Theaterstükkes beigewohnt zu haben, das allen andern aber sehr gut gefallen hatte. Im Raum neben dem Verhandlungssaal war vom Propagandaministerium ein Büro eingerichtet worden, und als wir hinausgingen, holte sich Paschik den amtlichen Bericht über den ersten Verhandlungstag. Man hatte Tische aufgestellt, auf denen mit Schildern jeweils eine der offiziellen Sprachen bezeichnet war. Das Büro war überfüllt und ich wartete beim Eingang. Wie ich dort stand, verließ ein kahler junger Mann, der mir bekannt vorkam, den englischen Tisch. Ich hatte ihn schon früher am Tage bemerkt und nicht recht unterbringen können. Jetzt, da er sich seinen Weg aus dem Zimmer bahnte, standen wir uns plötzlich gegenüber. Er nickte. »Sie sind doch Foster, nicht wahr?« »Ja. Ich glaube, wir kennen uns.« »Sibley, Incorporated Press.« »O ja.« Ich erinnerte mich jetzt auch, daß er mir unsympathisch gewesen war. »Und was tun Sie hier?« fragte er. »Suchen Sie Lokalkolorit für ein neues Stück?« Ich erklärte ihm, weshalb ich da war. Er zog die Augenbrauen hoch. »Auch ganz nett. Immerhin – vermutlich werden 54
Sie eines Tages ein Theaterstück daraus machen – meinen Sie nicht?« »Ich weiß nicht.« »Hier gibt’s doch sicher haufenweise Material für Sie. Man könnte übrigens aus Ihrer Anwesenheit einen netten kleinen Artikel machen. Würden Sie ihn mir übelnehmen?« »Allerdings, das würde ich.« Ich verzog mein Gesicht zu einem Lächeln. Er lachte. »Nun gut. Sie sollen geschont werden. Aber es wäre nett, wenn man etwas wegschicken könnte, das ein bißchen interessanter ist als diese Presseerklärungen da.« Er schwenkte den amtlichen Bericht in der Hand. »Eigentlich arbeite ich in unserer Pariser Redaktion. Ich bin für den Prozeß hierher ausgeliehen worden. Keine Ahnung, warum. Diesen Mist könnte jeder kleine Stift für uns besorgen.« Er wandte den Kopf, als Paschik auftauchte. »Hallo, Georghi! Wir haben gerade von Ihnen gesprochen.« »Guten Abend, Mr. Sibley. Wir müssen gehen, Mr. Foster. Ich muß ins Büro.« »Ja, ja – so ist unser Georghi – immer auf dem Posten.« Sibley grinste. »Wo wohnen Sie, Foster?« Ich sagte es ihm. »Wir müssen unser Wiedersehen begießen«, sagte er. Im Wagen gab mir Paschik den zusammengestoppelten Bericht. Ich überflog ihn. Es waren zum größten Teil Sätze aus Dr. Prochaskas Rede und sie lasen 55
sich noch idiotischer als sie sich angehört hatten. Ich legte die Blätter weg. Die Straßen, die ins Innere der Stadt führten, waren schmal und voller Menschen, und Paschik war ein Fahrer, der am Steuer herumzerrte, statt zu lenken. Nicht übermäßig geschickt drängte er sich zwischen zwei Karren durch. »Mr. Foster«, sagte er, »ich muß Ihnen einen Rat geben.« Er sah sich mit seelenvollem Blick nach mir um. »Ich hoffe, es wird Sie nicht kränken.« »Bestimmt nicht – Achtung!« Er wich gerade noch rechtzeitig einem Radfahrer aus. Der Mann brüllte etwas. Paschik hupte unnötigerweise und fuhr schneller. »Es ist nur eine Kleinigkeit«, sagte er. Der Wagen holperte beängstigend über ein paar hervorstehende Straßenbahnschienen. »Aber, wenn ich an Ihrer Stelle wäre – nun, ich würde nicht allzu intim mit Mr. Sibley werden.« »Nicht? Was ist denn los mit ihm?« »Nichts Persönliches – bitte mißverstehen Sie mich nicht.« »Was also?« »Er trinkt zuviel und wird dann unvorsichtig.« »Ich sehe nicht recht, was das mit mir zu tun hat.« »Wer sich mit ihm einläßt, macht sich verdächtig.« Ich dachte einen Augenblick nach. »Herr Paschik«, sagte ich dann, »meinen Sie nicht, Sie seien wegen der Zensur, des Propagandaministeriums, der Polizei und allem Drum und Dran ein bißchen zu vorsichtig für einen Pressemann?« 56
Eine Frau entging nur um Haaresbreite dem Tode. Er hupte geistesabwesend und schüttelte den Kopf. »O nein. Das glaube ich nicht. Es ist schwer zu erklären.« »Was ist denn daran so schwer?« »Sie sind fremd hier, Mr. Foster. Sie sehen unser Leben von außen. Sie interessieren sich für den Prozeß eines Mannes, den Sie kaum dem Namen nach kennen, weil seine Lage Ihnen die Voraussetzungen für einen geistigen Konflikt zu enthalten scheint. Das ist ganz natürlich. Sie sind Theaterschriftsteller und schaffen die Welt nach Ihrem Bilde. Aber seien Sie vorsichtig. Gehen Sie nicht selbst auf die Bühne. Sie könnten die Erfahrung machen, daß die Mitspieler nicht das sind, was sie spielen.« »Ist Sibley einer der Mitspieler?« »Ich sprach nur ganz allgemein, Mr. Foster.« »Ich bedaure – aber dann weiß ich nicht, wovon wir reden.« Er seufzte. »Das habe ich befürchtet. Aber vielleicht kommt es gar nicht darauf an.« Ich ging nicht auf diesen Stoßseufzer ein. Wenig später hielt er vor meinem Hotel. Ich stieg aus. »Wollen wir uns zum Abendessen treffen, Mr. Foster?« Ich zögerte. Die Luft außerhalb des Wagens roch gut … Ich schüttelte den Kopf. »Ich möchte heute abend früh zu Bett gehen«, sagte ich.
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5 Das Hotel Boris war 1914 von einer deutschen Gesellschaft erbaut worden, und es war eines jener Hotels, wo nur das Hallen von Schritten und das Rauschen einer entfernten Wasserspülung einen daran gemahnten, daß man nicht allein da war. Das Foyer war eine Riesenhöhle mit Mosaikfußboden und einem hydraulischen Lift in schmiedeeisernem Käfig. Der Hotelportier war ein körperlich und geistig unbeweglicher junger Mann mit einem charmanten Lächeln. Er sprach nur wenig Englisch. »Es ist eine Nachricht für Sie da, mein Herr«, sagte er. Er blickte auf den Zettel, den er mit meinem Schlüssel aus dem Schlüsselfach genommen hatte. »Herr Stanojew wollte Sie besuchen – er wird wiederkommen.« »Stanojew? Kenne ich nicht. Sind Sie sicher, daß er zu mir wollte?« Er sah mich dumm an. »Ich weiß nicht, mein Herr. Er ging wieder weg.« »Schon gut.« Der Lift war außer Betrieb. Ich ging die breiten flachen Stufen hinauf zum sechsten Stock. Mein Zimmer lag am Ende eines langen Korridors, an dessen Wänden in regelmäßigen Abständen gepolsterte Bänke standen. Als ich den Korridor entlangging, sah ich auf der hintersten Bank einen Mann sitzen. Er las in einer Zeitung. Ein unge58
wohnter Anblick. Auf Möbeln in Korridoren erwartet man nur Servierbretter oder den Staubwedel des Zimmermädchens. Als ich mich näherte, blickte der Mann wie von ungefähr auf, dann sah er wieder weg und las weiter in seiner Zeitung. Ich betrachtete ihn im Vorbeigehen. Er war ein dünner, ausgetrockneter Mensch mit traurigen Augen, das graue Haar so kurz geschnitten, daß der Schädelknochen durchschien. Er hatte eine sonderbar fleckige Haut, wie jemand, der gerade eine Hautkrankheit hinter sich hat. Die Hände, mit denen er die Zeitung hielt, waren lang und gelb. Neben ihm auf der Bank lag ein weicher schwarzer Filzhut. Ich ging an ihm vorüber zu meinem Zimmer. Als ich den Schlüssel ins Schloß gesteckt hatte und ihn umdrehte, fragte jemand dicht hinter mir: »Herr Foster?« Ich fuhr zusammen und drehte mich um. Der Mann, der auf der Bank gesessen hatte, stand jetzt mit dem Hut unterm Arm vor mir. Ich nickte. »Petlarow«, sagte er kurz und fügte dann auf deutsch hinzu: »Ich kann französisch und deutsch sprechen, was Ihnen lieber ist.« »Mit Deutsch wird es schon gehen. Ich freue mich, Sie zu sehen.« Jetzt machte ich die Tür ganz auf. »Bitte, wollen Sie hereinkommen?« Er verbeugte sich leicht. »Vielen Dank«, sagte er. Er trat ein, dann wandte er sich um und sah mir ins 59
Gesicht. »Ich muß mich entschuldigen«, sagte er kurz und geschäftsmäßig, »daß ich Ihre Aufforderung auf diese Art beantworte. Wer hierzulande lebt, findet es nicht sonderbar; aber da Sie ein Fremder sind, muß ich es erklären.« »Bitte nehmen Sie doch Platz.« »Danke sehr.« In der Helligkeit des Zimmers wirkten seine Kleider schäbig, und er sah krank aus. Aber seine knappe, sachliche Art ließ das vergessen. Er wählte einen harten Stuhl, als wolle er nicht lange bleiben. »Das erste, was Sie meines Erachtens wissen müssen«, sagte er, »ist, daß ich unter Aufsicht stehe; das heißt, ich habe mich täglich bei der Polizei zu melden. Zweitens bin ich amtlich als ›unzuverlässiges Element‹ registriert. Das bedeutet: wenn Sie mein Haus betreten oder an einem öffentlichen Ort mit mir reden, so lenken Sie dadurch die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich und werden auch verdächtig. Deshalb bin ich inkognito gekommen. Ich habe Ihre Zimmernummer festgestellt, indem ich unter dem Namen Stanojew einen Zettel für Sie abgab und aufpaßte, in welches Fach er gelegt wurde. Dann ging ich vorsichtig hier hinauf und erwartete Ihre Rückkehr. Sie brauchen daher keine Angst zu haben, daß mein Name mit dem Ihren verknüpft oder meine Anwesenheit hier bekannt wird.« Er verbeugte sich knapp. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie gekommen sind.« 60
»Nichts zu danken. Darf ich fragen, wie Sie zu meiner Adresse kamen?« »Durch einen Mann namens Paschik.« »Ach so. Nun, ich dachte mir schon, daß er es war.« Er blickte nachdenklich ins Leere. »Kennen Sie ihn gut, Herr Petlarow?« »Sie wollen wissen, was ich von ihm halte?« »Ja.« Er überlegte einen Augenblick: »Sagen wir: ich pflichte der allgemeinen Überzeugung nicht bei, nach der er nur ein unangenehmer Mensch ist, dessen politische Ansichten sich ganz nach demjenigen richten, mit dem er gerade spricht. Doch da ich nun hier bin – bitte, was wünschen Sie von mir, Herr Foster?« Ich hatte ihm meine Zigaretten hingehalten. Er hatte die Hand danach ausgestreckt, während er sprach, jetzt aber zögerte er. Er sah von den Zigaretten auf und seine Augen begegneten den meinen. »Ich habe noch mehr«, sagte ich. Er lächelte bittend. »Wenn Sie vielleicht ein Stück Schokolade oder Keks hätten, Herr Foster, wäre es besser für meinen Magen als Tabak.« »Aber natürlich.« Ich ging zu meinem Koffer. »Schokolade habe ich nicht, aber hier sind ein paar Kekse.« Ich hatte mir in Paris eine Schachtel als Reiseproviant gekauft, sie dann aber vergessen. Ich öffnete sie. Es war die Sorte mit dem rosa Zuckerguß. »Nicht sehr gut für einen kranken Magen«, bemerkte ich. 61
Er nahm mit höflichem Lächeln einen Keks. »O doch – ausgezeichnet!« Er knabberte mit sehr weißen falschen Zähnen daran. »Paschik gab mir Ihren Artikel über Deltschev zu lesen«, sagte ich. »Wirklich? Aber man hielt ihn für nicht geeignet zur Veröffentlichung.« »Wer hielt ihn für nicht geeignet? Paschik?« »Ja. Aber das hat mich weder überrascht noch geärgert. Ich wußte, daß mir der Auftrag in der Hoffnung gegeben wurde, ich würde Ungünstiges über Jordan berichten, weil ich eine Meinungsverschiedenheit mit ihm gehabt hatte. Hätte mich Paschik zuvor gefragt, so hätte ich ihm gleich gesagt, was ich schreiben würde. Zum Glück aber fragte er nicht.« »Wieso zum Glück?« »Nun, wenn er das gewußt hätte, so hätte ich den Auftrag nicht bekommen; und ich brauchte das Geld.« »Ach so. Natürlich. Ich habe übrigens ein Flasche Whisky hier. Was meinen Sie – ist es gefährlich, den Zimmerkellner nach Gläsern zu schicken?« »Ich glaube schon. Aber vielleicht dürfte ich mir noch einen Keks nehmen?« »Selbstverständlich. Bedienen Sie sich! Sie wissen, Herr Petlarow, daß ich hergekommen bin, um eine Artikelserie über den Prozeß Deltschev zu schreiben. Aber Paschik scheint zu fürchten, daß ich den Zensor verärgere, wenn ich sie hier schreibe.« »Damit hat er vermutlich recht«, sagte Petlarow 62
ruhig. »In solchen Dingen hat er meistens recht. O ja, ich verstehe ihn schon; wenn Sie jemanden verärgern, wird man ihn dafür strafen.« Ich mußte wohl ungläubig dreingesehen haben. Er nahm noch einen Keks. »Ich will Ihnen eine kleine Geschichte über unser Regime erzählen«, fuhr er fort. »Ein Mitglied der Volkspartei schrieb einen Roman über den Kampf einer Arbeitergruppe gegen die Kapitalisten, die eine Fabrik schließen wollen. Es war eine naive Geschichte, in der die Kapitalisten alles teuflische Bestien waren, und der Arbeiterführer Mitglied der Volkspartei. Der Propagandaminister – er heißt Brankowitsch – wollte gleichwohl die Veröffentlichung nicht erlauben. Er sagte, der Held wirke nicht positiv genug.« »Das verstehe ich nicht.« »Nun, der Autor hat nicht erklärt, daß das heldenhafte Parteimitglied ein guter Mann ist.« »Aber das mußte der Leser doch aus der ganzen Geschichte schließen?« »Brankowitsch würde Ihnen da einen Denkfehler ankreiden, Herr Foster. Rückschlüsse sind nicht positiv. Das Publikum muß belehrt werden, daß der Mann gut ist, und es muß auch in allen andern Dingen belehrt werden.« »Ich glaube, Sie übertreiben ein wenig.« »In London oder Paris würde ich übertreiben. Hier nicht. Die Folge war, daß der verärgerte Verfasser auf eigene Faust ein wenig Propaganda für sein Buch machte. Er wurde daraufhin zu Zwangs63
arbeit verurteilt. Paschik möchte sich ein solches Schicksal ersparen. Ja, sehen Sie, Herr Foster, wen man erst zum Gehorsam überreden muß, der ist nicht mehr wichtig; denn wir werden bald aufhören zu existieren. Unsere Liquidierung hat schon begonnen.« Er lächelte vielsagend. »Was meinen Sie damit?« Er nahm noch einen Keks und hielt ihn mir hin. »Dies ist der dritte Keks, den ich mir genommen habe«, sagte er. »Es sind also noch einundzwanzig in der Packung. Ich darf noch neun essen.« »Sie können die ganze Packung haben.« Er nickte zustimmend. »Ich danke Ihnen. Ich habe gehofft, daß Sie sie mir schenken würden, und habe es mir ausgerechnet: wenn ich jetzt noch neun esse, habe ich im ganzen zwölf gehabt. Dann bleiben zwölf für meine Frau. Zum Glück haben wir keine Kinder, mit denen wir teilen müssen.« Ich wußte nichts zu antworten. »Ich will es Ihnen erklären. Es ist ganz einfach. Personen, die als unzuverlässig registriert sind, dürfen nur körperliche Arbeit verrichten. Ich habe es versucht, bin aber nicht kräftig genug dazu. Also haben meine Frau und ich, da ich nicht arbeite, keine Lebensmittelkarten. Wir sind natürlich oft sehr hungrig, und Hunger macht fügsam.« Ich stand auf und ging zum Schrank, um den Whisky zu holen. Aus dem Augenwinkel sah ich ihn wieder nach einem Keks greifen. Er blickte mich über die Schulter an. »Bitte, machen Sie sich 64
deshalb keine Sorgen, Herr Foster. Ein schlechtes Gewissen kann ebenso unangenehm sein wie ein leerer Magen – auf mancherlei Art, das weiß ich. Und die Leute mit vollem Magen haben oft ein schlechtes Gewissen. Das Schlimme bei uns ist, daß die meisten neben einem leeren Magen auch noch ein schlechtes Gewissen haben. Beides zusammen wird tödlich sein.« »Ich habe einen Metallbecher«, sagte ich, »und ein Zahnputzglas. Wenn Sie gern Whisky trinken –« »Ich habe ihn einmal gekostet«, sagte er höflich, »und finde ihn besser als Schnaps und pikanter als unseren Sliwowitz. Aber Sie brauchen keine Angst zu haben, daß ich darauf aus bin, ihn mitzunehmen, wie die Kekse.« Ich gab ihm das Zahnputzglas. Er nahm einen kleinen Schluck und sah mich an. »Sie werden mir sicher verzeihen, wenn ich gestehe, daß ich heute abend, ehe ich herkam, Ihren Namen in meinem englischen Nachschlagewerk gesucht habe.« »Und nun möchten Sie gern wissen, wie ein Bühnenautor dazu kommt, Artikel über einen politischen Prozeß zu schreiben?« »O nein. Den Zusammenhang verstehe ich. Ich habe mich an Ihre Stelle versetzt. Sie sind nur ein paar Tage in dieser Stadt gewesen; Sie kennen weder Land noch Leute. Sie sehen einen Prozeß, der für Sie ein Spiel mit Jetons ist, deren Wert Sie nicht kennen. Und doch müssen Sie das Spiel so erklären, daß westliche Köpfe es begreifen können.« 65
»So etwas Ähnliches wurde mir heute schon einmal gesagt.« Er nickte ruhig. »Und als Ratgeber und Begleiter haben Sie Paschik, der so stark mit seinem Problem beschäftigt ist (vielleicht ist es Selbsterhaltung, aber man kann das nie wissen), daß er Sie auch nur zum Schalter des Propagandaministeriums führen kann.« Er nahm noch einen Keks. »Haben Sie den amtlichen Bericht über die heutigen Verhandlungen gelesen?« »Diesen hier?« Ich zog ihn aus der Tasche. »Man verteilte gerade die Kopien, als wir den Gerichtssaal verließen.« »Das wird jeden Tag geschehen. Und nun sagen Sie mir, Herr Foster, ob irgend etwas in Ihren Berichten stehen wird, das sich ein routinierter, sarkastischer Journalist nach der Lektüre solcher Berichte nicht an seinem Londoner Schreibtisch ausdenken könnte?« »Sie können sich diese Frage sicher selbst beantworten.« »Oh – ich habe Sie beleidigt.« Er lächelte. »Aber kaum ernstlich, wenn Sie es recht überlegen. Ich wollte nur darauf hinaus, daß meine Dienste Ihnen vielleicht recht nützlich sein könnten, Herr Foster.« »Ja, das habe ich mir gedacht. Und was für Dienste?« »Nun, in der Art eines Fremdenführers. Ich schlage Ihnen das vor, ohne mich zu schämen. Sie waren so freundlich, mich aufzufordern, Ihnen et66
was über Jordan zu erzählen, und das will ich natürlich gern tun.« Er tippte leicht auf die Keksschachtel. »Dafür habe ich schon ein gutes Honorar bekommen. Aber ich denke, ich könnte Ihnen auch weiterhin nützlich sein.« Seine gramvollen Augen blickten mich an, und es stand ein kleines kaltes Lächeln darin. Er leckte sich eine Krume von der Lippe. »Davon bin ich überzeugt«, sagte ich und wartete. »Es würde mich zum Beispiel interessieren«, fuhr er fort, »ob Sie schon überlegt haben, daß manche Anschuldigungen gegen Deltschev gar nicht so dumm sein müssen, wie sie in der Anklageschrift tönen?« Er blickte in sein Glas. Ein häßlicher Verdacht fuhr mir durch den Sinn. »Ihre Meinungsverschiedenheit mit ihm bezog sich auf die Radioansprache, in der er die Wahlen forderte, nicht wahr?« Er begriff sehr schnell. Er sagte ruhig: »Wenn ich Jordans Feind wäre, brauchte ich hier nicht um ein paar Kekse zu betteln, Herr Foster. Dann würde ich im Prozeß als Zeuge gegen ihn aussagen. Und wenn Sie befürchten, ich sei als Agent des Propagandaministeriums zu Ihnen gekommen, um Ihr Urteil zu kaufen, dann haben Sie den Mann noch nicht erkannt, der diese Aufgabe tatsächlich übernommen hat.« »Tut mir leid, aber ich weiß wirklich nicht, wovon Sie sprechen. Welchen Mann?« »Unser Freund Brankowitsch sieht sich gezwungen, eine Anzahl feindlich gesinnter Auslandsjournalisten zur Berichterstattung über den Prozeß zu67
zulassen. Glauben Sie wirklich, daß er während ihres Aufenthaltes nicht den Versuch machen wird, ihre Feindseligkeit zu neutralisieren? Er muß es einfach versuchen. Ich kann Ihnen sogar die Methode verraten, nach der er verfahren wird. Vielleicht schon morgen oder in den nächsten Tagen, jedenfalls nach Vukaschins Zeugenaussage, wird Brankowitsch eine Auslandspressekonferenz einberufen und Fragen beantworten. Dann – vielleicht einen Tag danach – wird sich jemand an Sie heranmachen. Er wird Ihnen von einem Weg erzählen, auf dem man Nachrichten unzensiert ins Ausland bringen kann. Dann wird er sich von Ihnen überreden lassen und Sie in sein Geheimnis einweihen. Natürlich werden Ihre Berichte nicht abgeschickt. Aber aus Ihren Ansichten schließt man auf Ihre Absichten, die dann von der offiziellen Propaganda schon im voraus vereitelt werden. Brankowitsch liebt es aus mancherlei Gründen, agents provocateurs zu benutzen.« Er sah mich höhnisch an. »Ich kenne seine Art Humor. Ich habe ihn ja Jordan für einen Sitz im Komitee vorgeschlagen.« Ich bot ihm wieder eine Zigarette an. Er zögerte. »Dürfte ich wohl zwei nehmen?« fragte er. »Eine für Ihre Frau?« »Ja.« »Bitte – behalten Sie das Päckchen.« »Oh – danke sehr.« Es war nicht ganz voll. Sorgfältig zählte er die Zigaretten ab. 68
»Wie haben Sie Deltschev kennengelernt?« Er blickte auf. »Er war mein Partner«, sagte er, anscheinend überrascht, daß ich es nicht wußte. Ich reichte ihm eine Schachtel Zündhölzer, und er steckte sich eine Zigarette an. »Danke sehr.« Er blies den Rauch in die Luft. »Als Jordan seine Anwaltskanzlei eröffnete, war ich sein Schreiber. Später wurde ich sein Partner. Als man ihn zum Postminister ernannte, wurde ich sein Mitarbeiter und Sekretär. Ich war auch sein Freund.« »Was für ein Mann ist er? In groben Zügen, meine ich.« »Er ist ruhig, überlegt, sehr geduldig. Ein guter Rechtsanwalt. Wenn Sie ihn in seinem Büro interviewen würden, so wären Sie wahrscheinlich irritiert durch seine Gewohnheit, an Ihnen vorbeizusehen, während er spricht. Er hält Ordnung auf seinem Schreibtisch und leert seinen Aschenbecher, sobald Sie Ihre Zigarette ausgedrückt haben. Aber sehr höflich. Er würde vielleicht dazu neigen, Ihnen Worte in den Mund zu legen – Kritiken über ihn –, die er dann beantwortet. Für einen Anwalt eine schlechte Gewohnheit. Er hat Familie, eine Frau, eine Tochter, einen Sohn, die er sehr liebt, ist aber kein Familienvater. Ein guter Mensch, der es mit sich selbst nicht leicht hat.« »Ist er ein Mann, der seine Prinzipien um Geld verraten würde?« »Mit Geld kann man Jordan nicht bestechen, 69
denn es bedeutet ihm wenig. Vielleicht war die Macht einmal eine Versuchung für ihn. Sie sprechen natürlich von seinem Verhalten bezüglich der freien Wahlen?« »Ja.« »Hätte er für seine Rundfunkansprache Geld genommen, so hätte er etwas aufgegeben, was ihm vielleicht etwas bedeutet hat – Macht, um dafür etwas zu gewinnen, auf das er überhaupt keinen Wert legte – eben Geld.« Er zuckte die Achseln. »Ich habe viel Zeit zum Nachdenken gehabt, und viel von der Bitterkeit ist vergangen. Früher einmal dachte ich ernstlich daran, Jordan für das umzubringen, was er damals getan hat – aber selbst im größten Haß ist mir nie der Gedanke gekommen, er hätte sich bestechen lassen.« »Und wie erklären Sie sich dann alles?« »Gar nicht. Man hat Jordan oft beschuldigt, nichts weiter zu sein als ein routinierter Politiker. Rückblickend erscheint mir das ebenso lächerlich wie jetzt die Beschuldigung, er sei ein Mörder. Indem er unnötigerweise die Novemberwahlen veranlaßt hat, hat er politischen Selbstmord begangen, und zugleich alle Menschen betrogen, die ihm treu waren. Sie fragen nach einer Erklärung.« Er warf die Hände empor. »Wenn ich jetzt sage, daß er verrückt war, so ist das ebenso bequem, wie wenn ich leugne, daß er bestochen war. Als ich ihm damals abends in seinem Zimmer gegenüberstand, sah er nicht verrückt aus. Er sah merkwürdig aus – als ha70
be er Frieden mit sich selbst gemacht. Das machte mich noch wütender, und Sie wissen ja, im Zorn scheinen viele Dinge sehr einfach. ›Warum?‹ rief ich außer mir, ›warum?‹. ›Es ist besser so‹, war seine ganze Antwort. Und als ich dann mit meinen zornigen Vorwürfen fertig war, sagte ich: ›Väterchen Deltschev ist gestorben – der Postminister ist wieder da. Väterchen Deltschev war nicht stark genug, die Liebe eines Volkes zu ertragen!‹« Petlarow sah zu mir herüber und lächelte ein wenig. »Aber jetzt weiß ich nicht mehr, was ich damit sagen wollte«, fügte er hinzu. Nach einer Weile fragte ich: »Wird die Sache mit den Wahlen im Prozeß aufgerollt werden?« Er schüttelte den Kopf. »Durch den Staatsanwalt jedenfalls nicht. Je weniger über die Wahlen gesprochen wird, um so besser ist es für unsere Regierung. Aber man wird vielleicht zulassen, daß sich die Verteidigung darauf stützt, um Jordans ursprüngliche Sympathie für die Regierung zu beweisen.« »Wer ist sein Verteidiger?« »Er heißt Stanojew. Es hat mich amüsiert, hier seinen Namen zu gebrauchen. Er ist das Parteimitglied, das zum Verteidiger ernannt wurde. Er wird auf mildernde Umstände plädieren. Sie werden angerechnet werden und definitiv zur Verurteilung führen.« Er runzelte die Stirn. »Was ich nicht begreife, ist die Sache mit der Bruderschaft des Offizierskorps. Jordans Haltung gegenüber der Besetzung durch die Sowjets – ja, das ist etwas für Streit, 71
Mißdeutungen und Scheinargumente. Aber die Bruderschaft – das ist etwas anderes. Die Leute müssen etwas in der Hand haben, wenn sie so viel davon hermachen. Aber die Idee ist absurd.« »Es ist doch sicher leicht, falsche Beweise herzustellen?« »Das wohl – aber es ist nicht ihre Art. Denken Sie an den Fall des Kardinals Mindszenty. Er war einer Verletzung der Devisenvorschriften angeklagt. Wir wissen, daß es nur eine formelle Verletzung war; er hatte sie nicht zu seinem Vorteil begangen; aber er hatte sich dieses Delikts schuldig gemacht, und darum benutzte man es. Es hätte natürlich eine viel größere Wirkung gehabt, wenn man ihn als Verführer der Jugend angeklagt hätte. Und zweifelsohne hätte man auch die nötigen Beweise fälschen können. Aber – das Devisenvergehen war ja tatsächlich begangen worden. Und die Lüge steht nirgends so fest und sicher wie auf einem Stecknadelkopf von Wahrheit.« Er nahm den letzten seiner zwölf Kekse und schloß die Schachtel. »Was kann ich für Sie tun, Herr Forster?« »Sie haben mir schon sehr geholfen.« »Ich möchte Ihnen etwas vorschlagen. Sprechen Sie doch einmal mit Madame Deltschev.« »Ist das möglich?« »Ja, für Sie schon. Madame Deltschev und ihr Haus werden überwacht; das heißt, daß niemand das Haus verlassen darf; aber Ihr Passierschein wird Ihnen den Zutritt ermöglichen. Ich werde Ihnen ei72
nen Brief an sie mitgeben. Andere Journalisten empfängt sie nicht, das versichere ich Ihnen. Sie tun da einen Fang.« »Ja, das sehe ich ein. Was für eine Frau ist sie?« »Sie war Lehrerin – in der Stadt, wo wir vor Jahren unsere Praxis anfingen. Sie kommt aus einer griechischen Familie. Hätte sie mich statt Jordan geheiratet, so wäre ich wahrscheinlich Minister geworden. Doch es ist besser, Sie bilden sich Ihr eigenes Urteil. Wenn Sie wünschen, werde ich jeden Abend um diese Zeit herkommen und Ihnen alles, was ich in Erfahrung bringen kann, mitteilen.« Er beugte sich vor und berührte mit dem Zeigefinger leicht mein Knie. »Abgemacht?« »Abgemacht. Und was erwarten Sie dafür?« Er zögerte. »Nun, Geld – ein wenig Geld, soviel Sie für angemessen halten – und Ihre Lebensmittelkarte. Nicht die Abschnitte für die Restaurants, die werden Sie selbst brauchen, während ich sie nicht verwenden könnte – aber die Marken für Butter, Brot, Fleisch, Milch, Eier und Frischgemüse. Sie werden als Fremder die 1. Klasse haben, vermute ich.« »Ja.« »Haben Sie sie noch? Oder haben Sie schon anderweitig darüber verfügt?« »Nein, sie gehört Ihnen. Ich werde sie mir jetzt gleich abholen.« Er seufzte. »Wie gut, daß meine Frau nicht hier ist«, sagte er. »Sie würde weinen.« 73
Später, nachdem er gegangen war, saß ich am Fenster und trank einen Whisky mit Wasser aus meinem Zahnputzglas. Die Situation wurde klar und verständlich. Und das wäre der rechte Augenblick gewesen, meinen Koffer zu packen und nach Hause zu fahren.
6 Am Nachmittag des zweiten Verhandlungstages beendete der Staatsanwalt den ersten Teil seiner Anklagerede und begann, Zeugen aufzurufen. Der erste war Regierungschef Vukaschin. Als er die Zeugenbank betrat, lief ein Raunen durch den Saal. Er war einer jener Politiker, deren Auftreten in der Öffentlichkeit wie der Auftritt eines Chargenspielers wirkt, der Sprache und Gesten dem Charaktertypus angepaßt hat, zu dem ihn sein Äußeres bestimmt, und dessen Rollen Anwälte, Hausärzte und Heldenväter sind. Vukaschin war untersetzt, kräftig, stiernackig; er stand unbeholfen in der Zeugenbank; seine großen Hände umklammerten die Leiste vor ihm, und die Schultern seines schlechtgeschnittenen Jacketts schoben sich bis zu den Ohren hinauf. Er hatte grobe Gesichtszüge, kräftiges Kinn und volle, energische Lippen. Die niedrige Stirn war faltig. Man sah, daß er nachdachte. Die Volksausgabe seiner Biographie, die das Propagandaministeri74
um herausgegeben hatte, nannte ihn einen ›alten Frontsoldaten des Klassenkampfes‹, und aus den Illustrationen mußte man schließen, er habe die meiste Zeit seines Lebens damit verbracht, an der Spitze faustschwingender wütender Revolutionäre steile Berge hinaufzustürmen. Seine Lieblingspose war offenbar die des ›schlichten Arbeiters‹. In Wirklichkeit war er weder schlicht noch, genaugenommen, ein Arbeiter. Als Sohn eines kleinen, doch ziemlich wohlhabenden Kaufmanns war er während der Anfangszeit seiner politischen Laufbahn als Buchhalter in einer Holzhandlung tätig gewesen. Nicht revolutionärer Eifer, sondern ein angeborenes Talent für Rechnungsführung und Büroorganisation hatte ihn zum Gewerkschaftssekretär und dann zum Parteiführer aufsteigen lassen. Er war bekannt dafür, politische Erklärungen in Form von Zoten und Fäkalscherzen abzugeben. Körperlich war er sehr kräftig, und man sagte ihm nach, er habe einmal einen Kollegen, der sich ihm widersetzte, niedergeschlagen. Aber man sagte auch, das Opfer habe mit seiner Opposition allein gestanden und sei unbeliebt gewesen, und Vukaschin habe mit dem tätlichen Angriff nur bezweckt, die Moral anderer starrköpfiger Mitglieder zu erschüttern. Er redete schroff und ohne Umschweife und hatte bei Massenversammlungen starken Erfolg. ›Um was geht es denn hier eigentlich?‹ pflegte er zu fragen; und obwohl er niemals antwortete, waren die sture Sicherheit, mit der er die Fragen vorbrachte, und die Ge75
wohnheit, jeden seiner Sätze zu betonen, so eindrucksvoll, daß seine Worte wie Hammerschläge der Logik klangen und über den Schwindel hinwegtäuschten. Die Kriecherei des öffentlichen Anklägers vor Vukaschin war so widerlich, daß sie nicht einmal mehr komisch wirkte. Aus einem schwülstigen Eisenfresser aus Fleisch und Blut war Dr. Prochaska plötzlich zu einer körperlosen, unpersönlichen Stimme geworden, zu einem Souffleur, der dem Zeugen mit einer kurzen Frage das Stichwort gab und dann wartete, bis die lange Aussage vorbei war und er wieder an die Reihe kam, die nächste Frage zu stellen. »Minister Vukaschin, wie war die Haltung des Angeklagten Deltschev im März 1944, als die Waffenstillstandsverhandlungen anfingen?« »Unsere Politik hieß Frieden, Frieden so rasch als möglich, um das Land vor der Zerstörung durch die reaktionären Streitkräfte zu schützen, die versuchten, ihre verlorene Schlacht gegen unsere russischen Verbündeten weiterzuführen. Jede Stunde bedeutete die Vernichtung einer Hütte, eines Bauernhofes, jeder Tag neue Schrecken für die Landbevölkerung des Frontgebietes. Wer hätte da noch sagen können: ›Aushalten!‹ Kein Mensch mit Gewissen und Gefühl! Nur eine betrunkene Bestie. Und dennoch – es gab eine solche Kreatur. Ihr Name war Deltschev.« »Minister Vukaschin – auf welche Weise hat der Angeklagte Deltschev gegen den Frieden gearbeitet?« 76
»Herr Staatsanwalt, es wäre leichter, dem Gerichtshof zu erzählen, auf welche Weise er nicht gegen den Frieden gearbeitet hat, denn dann könnte ich kurz antworten: ›auf keine Weise!‹ Von Beginn der Verhandlungen an benützte er seine Stellung im Komitee dazu, alle Beschlüsse zu verhindern. Sie werden mich vielleicht fragen, warum ein solches Verhalten toleriert und er nicht sofort seines Posten enthoben wurde. Die Antwort darauf ist einfach. Wir glaubten damals, daß er irrige, aber echte Zweifel hatte, ob die Abmachungen auch eingehalten werden würden. Wir waren eine verantwortliche Gruppe, die nicht für ein besiegtes Land – denn wir waren niemals besiegt –, sondern für eine wiederauferstehende Nation verhandelte. Die russischen Friedensbedingungen enthielten jedoch, was unter diesen Umständen natürlich war, militärische Klauseln, die die Abtretung gewisser Regierungsbefugnisse einschlossen. Wie man diese Klauseln auslegte – das hing einzig und allein davon ab, ob man Rußland trauen konnte. Wir von der Volkspartei haben Rußland getraut, und die Ereignisse haben uns recht gegeben. Alle Rechte, die wir damals preisgaben, sind uns wiedererstattet worden. Der Angeklagte nahm einen entgegengesetzten Standpunkt ein – das heißt, er tat nur so, denn jetzt wissen wir es besser. Und diese seine angebliche Meinung wollte er uns aufdrängen, als Rechtfertigung für sein Zaudern und für die Fortsetzung seiner Verhandlungen mit den Anglo-Amerikanern.« 77
»Behauptete er, man hätte von ihnen bessere Bedingungen bekommen können als von unseren russischen Verbündeten?« »Nein. Die Bedingungen waren im wesentlichen gleich. Sie waren bei der Moskauer Konferenz 1943 mit Zustimmung der Außenminister festgelegt worden. Nach Ansicht des Angeklagten lag der Unterschied lediglich in der Art ihrer Durchführung. Das behauptete er wenigstens.« »Minister Vukaschin: hat der Angeklagte an den Unterredungen mit den Sowjetvertretern teilgenommen?« »Sehr selten. Er war zu sehr damit beschäftigt, den Anglo-Amerikanern in den Hintern zu kriechen.« Gelächter. »Minister Vukaschin: welche Vorteile versprach sich denn der Angeklagte, wenn er Ihnen seine Gründe für die Verhandlungen mit den Westmächten darlegte?« »Er versprach sich so viele Vorteile, daß man glauben konnte, wir seien die Sieger, die nun den Besiegten ihre Bedingungen diktieren konnten. Wie aber stand es tatsächlich damit? Nun: erstens …« Die Kopfhörer gaben, leise summend, die Übersetzung wieder, aber über diesem Geräusch hörte man Vukaschins grelle Stimme. Ihr Ton war scharf, und, wenn er leise sprach, gefährlich. Er verlangte so eindringlich Feindschaft, wie andere Liebe verlangen, und ihn zu hassen, hieß 78
von ihm fasziniert zu sein. In einer gewissen Art war er eindrücklich. Die Stimme tönte weiter, und der Unsinn, den sie redete, wurde widerspruchslos als Beweis zugelassen. Ich betrachtete die Gesichter der zuhörenden Richter. Inzwischen waren alle Scheinwerfer für die Kameras eingeschaltet worden. Der Tag war heiß, und als die Nachmittagssonne durch die hohen, von Stahlrahmen eingefaßten Fenster hereinschien, schwitzten die Leute im Scheinwerferlicht. Die meisten wischten sich häufig übers Gesicht und fächelten sich; aber die Richter, die in ihren schwarzen Roben und ihren Baretts schier verschmachten mußten, wollten ihr Unbehagen den Augen der Kameras nicht preisgeben. Sie waren bereits Richter gewesen, ehe die Volkspartei ans Ruder gekommen war, und es war allgemein bekannt, daß solche Posten von der Regierung überprüft wurden. Vielleicht wurde der Film später in einem kühlen Vorführungsraum des Propagandaministeriums von spitzfindigen, feindseligen Beurteilern begutachtet, die imstande waren, Gesten wie das Abwischen der Hände oder der Stirn als Zeichen der Nichtachtung gegenüber dem Minister und seiner Zeugenaussage zu deuten? Ein solches Risiko war den Richtern eine momentane Erleichterung nicht wert. Zwei ihrer älteren Kollegen waren schon entlassen worden, weil sie gezögert hatten, den Vorsitz bei diesem Prozeß zu übernehmen. Jetzt steckte hinter der 79
schwitzenden Ungerührtheit der Richter, die nicht gezögert hatten, die furchtbare Angst von Menschen, die ihre Prinzipien geopfert haben und fürchten, daß das Opfer ohne Lohn bleiben wird. Nur der Angeklagte schwitzte nicht. Er saß da, die Hände in den Taschen seines Jacketts, die Augen geschlossen, und lehnte den Hinterkopf mit dem weißen Haar an das Holzgitter, das die Tische der Anwälte vom Zuschauerraum trennte. Sein Gesicht war fahl in dem grellen Licht, und er sah aus, als würde er ohnmächtig werden. Aber unglaublicherweise schwitzte er nicht. Hätte man nicht das Prickeln der eigenen Haut gefühlt, so hätte man meinen können, die Hitze im Saal sei nichts als Einbildung, und das allgemeine Schwitzen einfach die sichtbare Auswirkung der Kollektivschuld. Der Nachmittag kroch weiter, und die Schatten bewegten sich langsam über den Gerichtssaal hin, bis nur noch schmale Streifen von Sonnenlicht an den Wänden waren. Es fehlten noch zehn Minuten bis zum Schluß der Verhandlung, als sich der ›Zwischenfall‹ ereignete. Vukaschin hatte seine Aussage fast beendet, und der Staatsanwalt stellte ihm eine Reihe von Fragen über jene Sitzung des Komitees, in welcher endgültig die Annahme der Waffenstillstandsbedingungen beschlossen wurde. »Minister Vukaschin: wie verhielt sich der Angeklagte, als sich herausstellte, daß die Mehrheit des Komitees für die Annahme stimmen würde?« 80
»Er war wie gewöhnlich dagegen und wiederholte alle seine früheren Argumente, und als diese vom Komitee erneut verworfen wurden, sagte er, er habe weitere Verhandlungen mit den Vertretern der Anglo-Amerikaner geführt und es ließe sich immer noch etwas mit ihnen machen.« »Machte er den Eindruck, als ob er ihnen tatsächlich diese Vorschläge unterbreitet hätte?« »Diesen Eindruck hat er immer gemacht. Aber jetzt in der Hitze des Gefechtes machte er einen Schnitzer, der seine wahren Absichten enthüllte. Er sagte, die Anglo-Amerikaner warteten nur auf das Stichwort, er brauche nur mit dem kleinen Finger zu schnippen, damit sie kämen.« In diesem Augenblick sagte eine Stimme im Saal laut und scharf ein paar Worte, und in der Totenstille, die folgte, übersetzte der Dolmetscher automatisch. »Das ist eine Lüge.« Deltschev hatte sich erhoben und stand jetzt mit dem Gesicht der Zeugenbank zugekehrt. Seine Hände steckten noch immer in seinen Taschen, aber er stand sehr gerade. Vukaschin schien einen Augenblick bestürzt zu sein, dann wandte er seinen Kopf zu den Richtern. »Der Angeklagte leugnet die Wahrheit.« Der Richter in der Mitte beugte sich vor: »Der Angeklagte hat zu schweigen.« Aber Deltschev fuhr fort. »Ich leugne die Wahrheit nicht«, sagte er. »Ich widerspreche nicht einmal 81
den phantastischen Verdrehungen der Wahrheit, denen der Gerichtshof heute gelauscht hat, denn kein Mensch, der seine fünf Sinne beisammen hat, wird sie akzeptieren. Ich verbitte mir aber, daß man mir Aussprüche in den Mund legt, die ich nie getan habe.« Der Richter rief aufgebracht: »Schweigen Sie! Sie werden später Gelegenheit zum Reden haben.« »Wird mir der Minister Vukaschin zu einem Kreuzverhör zur Verfügung stehen?« »Ihr Anwalt kann den Zeugen vernehmen, wenn er es wünscht.« »Mein Anwalt wird diesen Antrag nicht stellen. Dazu ist ihm seine Haut zu lieb.« Bei diesen Worten brach Unruhe im Saal aus, und der dünne, brünette Mann, den ich für Stanojew hielt, schien den Richtern eine Bitte vorzutragen. Da mehrere andere Leute, einschließlich Dr. Prochaska, zu gleicher Zeit sprachen, verstummte der Dolmetscher. Einer der Richter protestierte laut. »Der Herr Vorsitzende bittet um Ruhe«, sagte der Dolmetscher. Vukaschin war mit grimmigem Lächeln in der Zeugenbank stehen geblieben. Nun hob er die Hand, und als der Lärm sich legte, sagte er: »Ich habe meine Aussage gemacht. Meinetwegen kann er sagen, was er will.« Deltschev sah ihn wieder an. Jetzt herrschte vollkommenes Schweigen. Die Stimme des Angeklagten war leise, aber sehr klar und deutlich. 82
»Minister Vukaschin«, sagte er, »wußte das Komitee, daß ich den anglo-amerikanischen Unterhändlern 1944 den Vorschlag machte, wir sollten im Norden den Kampf noch weiterführen?« Vukaschin antwortete nicht gleich. »Seien Sie vorsichtig mit Ihrer Antwort«, fügte Deltschev rasch hinzu. »Diese Tatsachen können nachgeprüft werden. Die Protokolle des Komitees sind noch vorhanden.« Vukaschin machte eine ungeduldige Geste. »Das weiß ich selbst.« »Dann werden Sie auch einsehen, daß Vorsicht am Platz ist. Wollen Sie bitte meine Frage beantworten?« »Die Antwort ist nicht so einfach, wie Sie es hinstellen möchten. Das Komitee wußte zwar, daß ein Vorschlag gemacht wurde, es wußte aber nicht, daß Sie auf Befehl Ihrer anglo-amerikanischen Freunde den Anschein erwecken mußten, daß der Vorschlag vom Komitee käme.« »Ihre Antwort lautet also, daß ich tatsächlich vom Komitee ermächtigt war, diesen Vorschlag zu machen.« »Ja … aber –« »Lassen Sie mich fortfahren, Herr Minister. Wenn mich das Komitee zu dem Vorschlag ermächtigt hatte und wenn, wie Sie behaupten, die AngloAmerikaner wünschten, daß er gemacht würde – können Sie mir dann erklären, weshalb sie ihn nicht prompt annahmen?« 83
»Bitte verlangen Sie von mir nicht, daß ich die Handlungen der Anglo-Amerikaner erkläre.« Gelächter. »Es sind nicht die Handlungen der AngloAmerikaner, über die ich eine Auskunft von Ihnen möchte. Mich interessiert bloß Ihre Darstellung des Sachverhalts.« Vukaschin wandte sich ärgerlich zu den Richtern. »Ich bin hier, um eine Zeugenaussage zu machen, nicht um politische Rätsel zu lösen. Das genügt.« »Sie haben sehr viel Geduld bewiesen, Herr Minister. Das Gericht dankt Ihnen. Der Angeklagte hat zu schweigen.« Vukaschin verließ den Zeugenstand und nahm wieder seinen Platz ein. Als er sich setzte, wandte sich Deltschev mit mattem Lächeln dem Saal zu. »Der Minister fürchtet sich, zu antworten«, sagte er. In diesem Augenblick beging Dr. Prochaska einen groben Fehler. Während des Wortwechsels hatte er ohnmächtig und unbeachtet beiseite stehen müssen. Er war verärgert. Er war der Ankläger, bei dem die Verantwortung lag, – und doch war ihm die Verhandlung aus der Hand geglitten, und ein wichtiges Wortgefecht hatte ohne ihn stattgefunden. Und was noch schlimmer war: der Minister, den er hätte schützen müssen, hatte dabei den kürzeren gezogen. Jetzt sah er eine Möglichkeit, nicht nur das eigene, sondern auch das Ansehen des Ministers wiederherzustellen. Deltschev hatte seit der 84
Eröffnung der Verhandlung nicht ein einziges Mal die Hände aus den Taschen genommen, und das hatte Dr. Prochaska gereizt. Und plötzlich entdeckte er da eine Möglichkeit, den Angeklagten zu demütigen. »Er fürchtet sich?« rief er höhnisch. »Der Minister fürchtet sich, zu antworten?« Er lachte kurz auf. »Nicht der Minister fürchtet sich, Deltschev – Sie fürchten sich! Kein Wunder, daß Sie versuchen, die Belastungszeugen anzuschwärzen und als unglaubhaft hinzustellen. Sie zittern um Ihr Leben. Kein Wunder, daß Sie zittern. Kein Wunder, daß Sie Ihre Hände in den Taschen verstecken. Meinen Sie, wir hätten das nicht bemerkt? Oh, das Volk hat auch Augen, Deltschev. Auf die Dauer können Sie es nicht betrügen. Sie können Ihre Angst auf andere Art verbergen, aber Ihre zitternden Hände wagen Sie uns nicht zu zeigen. Los, Deltschev – zeigen Sie uns doch Ihre Hände! Oder aber schweigen Sie und lassen Sie der Gerechtigkeit ihren Lauf!« In der atemlosen Stille, die hierauf folgte, hörte man nur ein schnell unterdrücktes Kichern und dann nur noch das Surren der Kameras. Auf den Lippen des Anklägers stand ein boshaftes kleines Lächeln. In diesem Augenblick wirkte er nicht albern. Vukaschin betrachtete stirnrunzelnd seine eigenen Hände. Deltschev stand regungslos, mit ausdrucksleerem Gesicht. Er faßte einen Entschluß. Dann zog er die Hände aus den Taschen und hielt sie, die Handflächen nach unten, vor sich hin. Sie 85
zitterten so krampfhaft, daß man es bis in die letzten Reihen sehen mußte. »Die Hände des Angeklagten sind ehrlicher als seine Zunge«, erklärte der Ankläger. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, steckte Deltschev die Hände wieder in die Taschen und hob den Kopf. »Ich spreche jetzt«, sagte er laut, »zu den Mitgliedern des Diplomatischen Korps, die hier anwesend sind, und zu den Vertretern der ausländischen Presse.« Wieder entstand vor der Tribüne heftige Unruhe, und der Ankläger beschwerte sich bei den Richtern. Der Dolmetscher fing an, seinen Einwand zu übersetzen, und ich nahm meine Kopfhörer ab. Meine Nachbarn taten dasselbe. Deltschev hatte deutsch gesprochen. »Sie dürften sich über den Wert der Zeugenaussagen, die die Staatsanwaltschaft diesem Gericht liefert, Ihr eigenes Urteil gebildet haben«, fuhr er fort, »und wenn Sie noch irgendwelche Zweifel hegten, wird diese Demonstration Sie überzeugen. Jetzt sollen meine eigenen Hände hier gegen mich aussagen. Ich will Ihnen erklären, was dieses Zeugnis wert ist.« Mit einer betont ironischen Verbeugung vor den Diplomaten und den Presseleuten ließ der Ankläger seinen Protest fallen und stand nun mit verschränkten Armen und einem etwas mißlungenen Lächeln da und sah zur Decke hinauf. 86
»Wenn ich Ihnen diese Erklärung gebe, so soll das kein Versuch einer Verteidigung sein«, sagte Deltschev. »Meine Verteidigung ist wohl beim Staatsanwalt in besten Händen.« Er lächelte traurig. »Aber vielleicht kann gerade diese interessante Einzelheit für Sie von Bedeutung sein.« Er machte eine Pause, dann fuhr er sehr bedächtig fort: »Meine Herren, ich bin Diabetiker, schon seit mehreren Jahren. Das bedeutete selbstverständlich strenge Diät, die durch Insulinspritzen unterstützt wurde. Ich brauche nicht viel Insulin – 20 Einheiten morgens und 20 abends. Natürlich kann ich das mit ärztlichen Attesten belegen. Als ich nun verhaftet wurde, bekam der Gefängnisarzt Anweisung, mich weiter mit Insulin zu behandeln. Er steigerte die Dosis noch etwas, um einen Ausgleich für den Wechsel in der Nahrung zu schaffen. Vor fünf Wochen wurde ich in eine andere Abteilung des Gefängnisses gebracht, und der Gefängnisarzt durfte nicht mehr zu mir kommen. Ich habe jetzt etwas über vier Wochen kein Insulin mehr bekommen. Daher sind die Symptome des Diabetes wiedergekehrt – Durst, Mattigkeit und andere unangenehme Erscheinungen, mit denen ich Sie nicht belästigen will. Das Zittern meiner Hände ist eine Begleiterscheinung meiner allgemeinen Müdigkeit und Schwäche. Hätte mich der Ankläger aufgefordert, Ihnen meine Knie zu zeigen, so könnten Sie auch meine Knie zittern sehen.« Er sah einen Augenblick hinüber zum Ankläger und wandte sich dann wieder an uns. »Ich 87
nehme an, wenn er etwas von meiner Krankheit gewußt hätte, so hätte er sich gehütet, Ihre Aufmerksamkeit auf diese Weise darauf zu lenken. Denn es ist nicht seine Aufgabe, Mitleid für mich zu erwecken. Ich bitte Sie lediglich, zur Kenntnis zu nehmen, daß er sogar aus Tatsachen falsche Schlüsse zieht. Ich überlasse es Ihnen, sich auszumalen, was für phantastische Schlüsse er aus den Lügen ziehen wird, auf die sich dieser Fall stützt.« Dann setzte er sich. Der Ankläger sagte schnell einige Worte zu den Richtern. Der Vorsitzende erwiderte etwas. Ich beeilte mich, die Kopfhörer anzulegen, und konnte gerade noch die Übersetzung auffangen. »Die hier tagenden Richter beschließen, daß die Zwischenbemerkungen nicht in das Protokoll aufgenommen werden, da sie in einer fremden Sprache gemacht wurden und daher dem Gerichtshof unverständlich waren. Die Verhandlung wird auf morgen vertagt.« Die Richter erhoben sich. Als sie gegangen waren, trat Deltschev aus der Anklagebank und schritt zwischen seinen beiden Wachen auf die Glastür zu. Kein Mensch im Saal rührte sich. Sie schauten ihn an. In der Tür blieb er stehen und sah zurück. Dann wandte er sich mit einem kurzen, freundlichen Nicken wieder ab und ging zur Tür hinaus. Ich blickte auf Paschik. Er stand steif und gebückt da, als wäre er beim Aufstehen unterbrochen 88
worden. Anscheinend bemerkte er seine unbequeme Stellung gar nicht. Er warf mir einen sonderbaren Blick zu. »Ein guter Mann, Mr. Foster«, sagte er weich. »Und in seiner Art ein großer Mann.« Ich beachtete ihn kaum. Sogar jetzt kann ich mich noch an alles erinnern, was ich während der nun folgenden halben Stunde dachte. Ich war von dem, was ich eben gesehen und gehört hatte, erschüttert und voller Haß auf die Regierung der Volkspartei. Ich glaube, wenn ich Dr. Prochaska zufällig im Korridor getroffen hätte – ich hätte ihn geschlagen. Bald aber fing ich an, nüchterner zu denken. Vermutlich würde jeder, der das miterleben müßte, was ich soeben erlebt hatte, meine leidenschaftliche Empörung über die Vorgänge in diesem heißen Gerichtssaal teilen; wenn es mir gelänge, diese beklemmende Szene auch nur in einem Abklatsch zu schildern, so müßte sie einen Entrüstungssturm entfesseln, der dem Regime ganz erheblich schaden würde. Und dann entstand in meinem Geiste allmählich eine Vorstellung, wie ich über den Prozeß Deltschev schreiben könnte. Ich empfand plötzlich, daß es hier um etwas anderes ging als um den unfairen Prozeß, der einem Politiker von seinen mächtigen Gegnern gemacht wurde. Hier war, auf eine Formel gebracht, der ewige Kampf zwischen der Würde des Menschen und der stupiden Roheit des Unmenschen. Deltschev war krank und einsam; er wußte wohl, daß ihn nichts vor Schuldspruch und Urteil retten 89
konnte, die bereits beschlossene Sache waren. Und doch war er willens, weiter für die Wahrheit zu kämpfen, an die er glaubte. Dimitrow hatte im Reichstagsbrand-Prozeß um sein Leben gekämpft und gesiegt. Deltschevs Leben war verwirkt, und dennoch kämpfte er – vielleicht konnte er einen größeren Sieg erringen. Und dies war ein selbstgewählter Kampf. Er hätte vor Monaten ins Ausland fliehen können – dadurch hätte er aber der Regierung ihre Aufgabe leichtgemacht. Er hatte es nicht getan. Lang vergessene Sätze gingen mir wieder durch den Sinn: »Wirst du also etwa den Städten mit guter Verfassung, und den Menschen, die einen ordentlichen Wandel führen, aus dem Wege gehen? Und wenn du das tust, glaubst du, daß dann das Leben noch einen Wert für dich haben wird? Oder wirst du dreist genug sein, dich doch an die guten Städte und ordentlichen Bürger heranzumachen und mit ihnen zu reden? Was denn wohl, Sokrates? Etwa dasselbe, was du hier zu sagen pflegtest, nämlich, daß Tugend und Gerechtigkeit und Gesetz und Sitte für den Menschen die höchsten Güter seien? Meinst du nicht, daß dann Sokrates und seine Sache in einem recht üblen Licht erscheinen würden? Man sollte es wenigstens denken … Daß aber ein so alter Mann, dem nach aller Voraussicht nur noch ein so kurzer Lebensrest übrig war, nicht so schmählich hätte am Leben hängen sollen, daß er die höchsten Gesetze so freventlich übertrat, – wird sich niemand finden, um 90
dir das zu sagen? … Diese Reden, dessen sei versichert, mein lieber Freund Kriton, höre ich im Geiste so deutlich, wie die korybantisch Verzückten den Flötenschall.« Ich war tief ergriffen und fing an, über meine Aufgabe glücklich zu sein. Und dann ging ich zurück in mein Hotel, wo Petlarow im Korridor auf mich wartete. Wir gingen in mein Zimmer und ich erzählte ihm vom Vorfall bei der Verhandlung. Als ich fertig war, nickte er kühl. »O ja. Der arme Jordan. Er ist bestimmt nicht sehr kräftig. Aber wie dumm von ihnen, daß sie Prochaska nicht gesagt haben, wie sie das Opfer präparierten! Nun ja, mit solchen Fehlern dürfen wir rechnen. Sehen Sie, bisher konnte sich diese Partei immer auf die Dummheit der anderen verlassen. Nun, da sie auf sich selbst angewiesen ist, treten ihre Mängel klar zutage. Natürlich wird ein Zwischenfall dieser Art auf den Ausgang des Prozesses keinen Einfluß haben.« »Nein – aber auf die Beurteilung des Prozesses in den westlichen Staaten wird er einen ganz erheblichen Einfluß haben.« »Die Kommentare des Westens haben weder Mindszenty noch Petkow gerettet. Ich finde die Sache aber in ganz anderer Hinsicht interessant.« Er lächelte schwach. »Was meinen Sie – warum hat Jordan diese Demonstration gemacht? Was hoffte er durch sie zu gewinnen?« 91
»Nun, er sah eine Gelegenheit, zurückzuschlagen, und er nahm sie wahr. Das ist doch ganz einleuchtend. Er war großartig.« »Er sah eine Gelegenheit, und er nahm sie wahr. Sicher. Was hat er denn zum Schluß gesagt – wie lauteten die letzten beiden Sätze?« Während Deltschev gesprochen hatte, hatte ich seine Worte mitgekritzelt. Jetzt las ich die letzten zwei Sätze noch einmal. »Ich bitte Sie lediglich, zur Kenntnis zu nehmen, daß er sogar aus Tatsachen falsche Schlüsse zieht. Ich überlasse es Ihnen, sich auszumalen, was für phantastische Schlüsse er aus den Lügen ziehen wird, auf die sich dieser Fall stützt.« Petlarow zeigte seine weißen Zähne. »Was für ein geschickter Anwalt Jordan doch ist«, sagte er. »Sehen Sie nicht, was er getan hat, Herr Foster? Natürlich hat er auch die Sympathie der fremden Diplomaten und der Presse gewonnen, und das ist schon viel – aber was außerdem?« »Nun – er hat den Staatsanwalt restlos blamiert.« »Er hat viel mehr getan. Überlegen Sie. Er hat seine Ansprache auf deutsch gehalten. Warum?« »Anscheinend, damit man ihn überhaupt sprechen ließ. Die Dolmetscher haben natürlich nicht übersetzt, was er sagte. Was das Publikum anbetraf – nun, für das Publikum war es unverständlich. Offenbar waren es die Vertreter Englands und Amerikas, auf die es ihm ankam, und Vukaschin und Prochaska und die Richter wollten sich diese nicht 92
noch mehr zu Feinden machen, indem sie Deltschev das Wort verboten. Wenn sie sich ohnehin nicht allzuviel aus der Meinung der Westmächte machen, konnten sie sich’s leisten, ihn reden zu lassen.« »Wenn es ihm aber gerade auf die Amerikaner und Briten ankam – warum hat er dann nicht englisch gesprochen? Jordan spricht sehr gut Englisch.« »Oh …« »Die gebildete Schicht jeder kleinen Nation bedient sich außer ihrer Landessprache gewöhnlich noch einer Fremdsprache. Bei uns ist es vor allem das Deutsche. Viele der Parteimitglieder im Saal sprechen Deutsch, und manche von ihnen stehen Jordan nicht unfreundlich gegenüber. Sehen Sie, das waren die Leute, auf die es ihm ankam. Was er erreichen wollte – und vielleicht auch erreicht hat –, war, die Beweisführung des Staatsanwalts von vornherein in Meßkredit zu bringen.« »Das dürfte nicht schwierig sein, denn das tut sie von alleine.« »Soweit schon. Aber vielleicht ist Jordan noch klüger, als wir annahmen.« »Ich verstehe Sie nicht.« »Es ist ganz einfach.« Er beugte sich mit einem Lächeln vor, das mich erschaudern ließ. »Sehen Sie, Herr Foster, manche Dinge, die gegen ihn vorgebracht werden, sind vielleicht gar keine Lügen. Manche Dinge könnten wahr sein …«
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7 Deltschevs Haus lag am Stadtrand, in einem alten Wohnviertel hinter dem Park des Präsidentenpalais. Petlarow hatte mir den Weg skizziert, und nach einem zeitigen Abendessen begab ich mich von meinem Hotel aus dorthin. Es wehte eine leichte Brise und die Luft schien kühler. Die Hauptstraßen und die Cafés waren voller Menschen; die Frauen trugen unelegante Kleider und billige Schuhe mit Keilabsätzen, die Männer Tuchmützen, die Jacken überm Arm und die Hemden offen. Jenseits des Parks aber, wo es wenig Läden und fast keine Cafés gab, waren die Straßen leer, und man hörte nur gelegentlich Radioklänge aus einem Mietshaus. Ich fand das Viertel ohne viel Mühe; es lag hinter dem Boulevard Dragutin; sechs stille Straßen, die am Boulevard noch gepflastert waren und sich dann kaum merklich in einem unbebauten Berghang mit Gebüsch und Tamarisken verliefen. Sie waren mit Platanen gesäumt, dahinter standen viereckige, alte Häuser, jedes in seinem eigenen Hof und durch eine hohe Mauer mit schwerem hölzernem Tor von den andern abgetrennt. Zwischen den Mauern der benachbarten Häuser liefen schmale Gassen, die zum Teil wieder die parallel laufenden Straßen verbanden; die meisten aber waren durch hohe eiserne Gitter abgeschlossen und von wilden Reben überwuchert. 94
Über den Toren standen auf blauen Emailschildern die Hausnummern, und als ich zur richtigen Straße kam, sah ich gleich, daß Deltschevs Haus das letzte war. Da mich jedoch die untergehende Sonne blendete, sah ich die Wachtposten vor dem Hause nicht, bis ich ihnen fast in die Arme lief. Sie standen im Schatten einer Platane dicht neben dem Tor. Der Stamm dieses Baumes war narbig und die unteren Zweige kahl; die Granate amerikanischer Herkunft mußte direkt daneben explodiert sein. Als ich mich näherte, wandten sich die Posten mir zu. Sie trugen eine Uniform, zu der mir ›Militärpolizei‹ einfiel, obwohl ›Gardes mobiles‹ vielleicht ein besserer Vergleich gewesen wäre. Es war dieselbe graugrüne Uniform, die die Posten im Gerichtssaal trugen, aber die beiden Leute hier hatten Gewehre statt Maschinenpistolen, und statt der Tunika eine Bluse, die in der Mitte von einem fettigen Ledergürtel mit Munitionstaschen zusammengehalten war. Aus der Verschiedenheit ihrer Abzeichen schloß ich, daß es ein Unteroffizier und ein Soldat war. Sie waren jung, sonnverbrannt und sahen eher einfältig aus. Als ich aufs Tor zuging, trafen sich unsere Blicke und ich nickte, aber sie machten keine Miene, meinen Gruß zu erwidern oder mich am Weitergehen zu hindern. Ich stand beim Tor still, blickte auf die Nummer, um mich zu vergewissern, daß es das richtige Haus sei, und griff dann nach dem Klingelzug, der an der Mauer befestigt war. 95
Im nächsten Augenblick bekam ich einen heftigen Schlag auf die Schulter. Ich erschrak so, daß ich nach Luft schnappte. Ich taumelte gegen das Tor und wandte mich dann um. Der Soldat hatte sein Gewehr zu einem zweiten Schlag erhoben. Der Unteroffizier zielte auf meinen Magen, sein Finger lag am Abzug. Ich hob die Hände. Der Unteroffizier rief ein paar Worte und trat einen Schritt zurück. Ich ging vom Tor weg. Ich fing an, ihm auf deutsch auseinanderzusetzen, daß ich ihn nicht verstünde, aber er rief nochmals etwas und diesmal verstand ich das Wort ›Papiere‹. Ich wies mit dem Handballen auf meine Brusttasche und sagte: »Papiere«. Der Soldat stieß mir die Mündung seines Gewehrs in die Rippen. Dann riß der Unteroffizier, vortretend, mein Jackett auf, griff sich meine Brieftasche und trat schnell wieder zurück. Das alles spielte sich in wenigen Sekunden ab. Ich war lächerlich aufgeregt. Man mußte es mir angesehen haben, denn der Soldat grinste mir ganz freundlich zu, als sei mein Mißbehagen ein Kompliment für seine Tüchtigkeit. Der Unteroffizier betrachtete stirnrunzelnd meinen Presseausweis. Er sah prüfend erst das Bild und dann mich an. Schließlich faltete er den Schein zusammen, legte ihn wieder in die Brieftasche, kam auf mich zu und begann sehr langsam und deutlich zu sprechen; dabei schwenkte er die Brieftasche vor meiner Nase hin und her, wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Es war offenbar eine Ermahnung. Ich nickte. Darauf gab er 96
mir die Brieftasche zurück, grüßte nachlässig und ging weiter. Hinter mir griff der Soldat nach dem Klingelzug. Im Hof schlug eine Glocke an. Der Soldat bezog nun wieder seinen Posten unter der Platane. Die beiden beobachteten mich, während ich wartete; der Soldat immer noch grinsend, der Unteroffizier mit kaltem Mißfallen. Meine Schulter tat scheußlich weh, und ich hätte sie gern gerieben; aber eine sonderbare Scham und vielleicht auch die Furcht, den Posten damit eine Freude zu machen, hielten mich davon ab. Ich war selbst befremdet durch diese mir ganz unähnlichen und, wie ich mir eingestehen mußte, recht kindischen Gefühle. Ich hatte mich töricht benommen und war infolgedessen grob behandelt und gedemütigt worden; aber die Einsicht half mir nichts; mein Haß gegen die beiden Männer stieg hoch wie ein Erbrechen. Dann vernahm ich Schritte im Hof: klappernde Schritte von Sandalen mit Holzsohlen ohne Fersenriemen. Dann kam eine Pause. Dann rasselte der Riegel, das Tor ging etwas auf und eine alte Frau schaute heraus. Sie hatte ein Gesicht wie eine Walnußschale, wolliges graues Haar und blanke kleine Augen, die tief in ihren Höhlen lagen. Sie blickte an mir vorbei auf die Posten. »Ich möchte zu Madame Deltschev«, sagte ich auf deutsch. Sie gab eine rasche, schnippische Antwort, die ich nicht verstand. 97
Der Unteroffizier hinter mir rief ihr etwas zu. Ich blickte mich um und sah gerade noch, daß er drohend das Gewehr hob. Die Alte fuhr ihn grob an, dann öffnete sie sehr langsam das Tor. Als ich hineinging, hörte ich den Soldaten lachen. Die Mauer des Hofes war etwa vier Meter hoch und ringsum mit großen Freskengemälden bedeckt. Tanzende Bauern, ein junger Mann, der einem Milchmädchen schöne Augen macht, eine Bauernhochzeit: ländliche Szenen. Alles war grob und in konventioneller Manier, wie die Bemalung russischer Spielzeuge. Die vorherrschenden Farben waren Kobaltblau, Terrakotta und Ocker, aber an manchen Stellen waren sie so abgesprungen, daß nur noch eine matte Verfärbung der Steine zeigte, wo sie gewesen waren. Der Boden des Hofes war mit viereckigen Steinen gepflastert, auf denen Topfpflanzen verschiedener Art standen, manche in vollster Blüte. Aus einer ungepflasterten Stelle wuchs ein großer Kirschbaum. Dahinter war in einer Ecke ein sauberer Holzstoß, und daneben lehnten Rebenstöcke an der Wand. Die Alte war stehengeblieben, um das Tor wieder zu verriegeln, jetzt aber richtete sie sich auf und sah mich, die Arme verschränkt, grimmig an, die Augen blank und voller Bosheit. Sie sprach ein paar Worte zu mir, die wohl bedeuten sollten: »Nun gut, jetzt sind Sie hier. Was wollen Sie eigentlich?« Ich antwortete ihr auf deutsch, daß ich sie nicht verstünde, 98
und das verstand wiederum sie nicht. Ich zog Petlarows Brief heraus, auf dem Madame Deltschevs Adresse stand, und reichte ihn ihr. Sie nahm ihn in ihre klauenartige gichtige Hand und blickte verständnislos auf die Schrift. Ich erriet, daß sie nicht lesen konnte. Einen Augenblick musterte sie mich mißtrauisch, dann hieß sie mich mit erhobener Hand warten und verschwand mit klappernden Sandalen um die Hausecke. Ich rieb mir die Schulter und betrachtete das Haus von vorn. Es lag etwa sechs Meter hinter der Mauer, eine kahle, symmetrische Fassade aus grauem Stein mit weiß gestrichenen metallenen Fensterläden, die überall geschlossen waren. Zwei Treppen führten im Bogen zur Haustür empor, die mit ihren großen Azaleentöpfen zu beiden Seiten aussah, als würde sie nur selten geöffnet. Innen auf dem Fußboden klangen vernehmlich die Schritte der alten Frau. Dann Stimmengemurmel. Dann eine kurze Stille. Ich war wieder ein kleiner Junge, der einen Freund mit reichen Eltern besuchen will. Durch die Blätter des Kirschbaumes strich ein leichter Wind; von drinnen näherten sich Schritte. Ein paar Sekunden später öffnete sich die Haustür und eine junge Frau trat heraus. Sie blieb oben auf den Stufen stehen. »Herr Foster?« »Ja.« Sie kam die Treppe herunter und schaute mich mißbilligend an, wie ein vielbeschäftigter Mensch, der gezwungen ist, seine Zeit zu vergeuden. Sie war 99
Anfang Zwanzig, brünett und sehr blaß, mit hohen slawischen Backenknochen. Das Gesicht war intelligent, aber der Ausdruck milder Selbstzufriedenheit war gespielt. »Ich bin Katerina Deltschev«, sagte sie. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Fräulein.« Sie sah ihrem Vater nur wenig ähnlich. »Was wünschen Sie, Herr Foster?« »Ich möchte zu Ihrer Frau Mama. Hat Petlarow das in seinem Brief vielleicht nicht deutlich ausgedrückt?« Er hatte es getan, das wußte ich. »Im Augenblick wird das leider nicht möglich sein. Sie ist sehr erregt – das werden Sie verstehen.« »Natürlich. Und heute ist sie besonders erregt?« »Bitte?« »Ich bin überzeugt, alle diese Tage sind furchtbar für sie. Ich dachte nur, daß die heutigen Ereignisse sie besonders aufgeregt hätten.« »Das glaube ich nicht.« »Dann fragen Sie sie doch bitte, wann sie mich empfangen kann.« »Ich kann Ihnen alles erzählen, was Sie wissen möchten, Herr Foster.« Sie lächelte, aber ziemlich frostig. »Hätten Sie gern etwas zu trinken?« »Nein, danke. Sind Sie überzeugt, daß Ihre Frau Mama vor jemandem beschützt werden möchte, der ihr vielleicht behilflich sein könnte?« »Ich verstehe Sie nicht, Herr Foster.« »Wenn Sie Ihrer Frau Mama Petlarows Brief bringen, wird sie es Ihnen sicher erklären.« 100
Sie hörte auf zu lächeln. »Meine Mutter empfängt keine Journalisten.« »Davon bin ich überzeugt. Und deshalb gab mir Petlarow auch den Brief mit.« Sie zögerte, dann preßte sie die Lippen zusammen. »Also gut, bitte warten Sie hier.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging ins Haus. Sie trug schicke weiße Shorts, ein Leibchen und Sandalen. Sie tat mir ein wenig leid. Ein würdevoller Abgang in Shorts ist selbst für ein hübsches junges Mädchen schwierig. Wieder wartete ich einige Minuten. Es fing schon an zu dunkeln. Dann öffnete sich die Haustür und diesmal kam die Alte heraus. Sie winkte mir zu und ich folgte ihr. Innen war eine große Halle mit glattem Hartholzboden; zu beiden Seiten befanden sich verhängte Türen. An der Wand zwischen zwei Türen war ein Heizkörper. Alles sah sehr sauber aus und roch nach Möbelpolitur. Die Alte bedeutete mir durch eine Handbewegung mitzukommen und stieg die Treppe hinauf. Auf dem oberen Absatz war ein Fenster mit geschlossenen Läden, und im Zwielicht, das durch die Ritzen des Metalls drang, blickte ich in einen Korridor, der durch das ganze Haus lief. Die Alte bog rechts in diesen Gang ein, ging zur Tür am Ende und kratzte an der Holzfüllung. Von drinnen antwortete eine Stimme. Die Alte öffnete die Zimmertür. Das rote Licht der sinkenden Sonne strömte 101
durch die hohen offenen Fenster des vor mir liegenden Raumes in den Gang, und als ich auf die Schwelle trat, konnte ich draußen die khakifarbenen kahlen Berge hinter der Stadt sehen. Die Fenster gingen auf eine hölzerne Terrasse mit einem Sonnendach und rebenumrankten Spalieren auf beiden Seiten. Neben einem eisernen Tisch mit Büchern standen ein paar Korbstühle. Das Zimmer war groß und voll von roten massiven Plüschmöbeln, wie sie vor Sarajewo bei den reichen Wiener Kaufmannsfamilien Mode waren. An den Wänden hingen schwere vergoldete Spiegel, Armleuchter und Farbdrucke in polierten Holzoder vergoldeten Bronzerahmen. An der Decke war ein großer vergoldeter elektrischer Kronleuchter. Die Polsterbezüge waren aus façonniertem rotem Samt. Im Winter mochte der Raum vielleicht recht trübe sein, aber jetzt, da die Fenster zur Terrasse offenstanden und die Glut der untergehenden Sonne auf das viele Rot und Gold fiel, hatte er eine gewisse Üppigkeit und Wärme. Als ich eintrat, legte die Frau, die im Schatten am hintersten Fenster saß, ihr Buch nieder und erhob sich. Meine Überraschung war groß. Sie war einmal Schullehrerin in der Provinz gewesen. Petlarow hatte gesagt: ›Hätte sie mich statt Jordan geheiratet, so wäre ich wahrscheinlich Minister geworden.‹ Sie hatte einen zuckerkranken Gatten, über dem das Todesurteil schwebte. Ich machte 102
eine Wallfahrt nach dem alten Haus, um sie zu besuchen, und traf mit dem hübschen jungen Ding zusammen, dessen Mutter keine Journalisten empfangen wollte. Und die stille Villa mit den geschlossenen Fensterläden, und der Geruch von Möbelpolitur. Aus alledem hatte ich mir im Geist ein Bild der Madame Deltschev gemacht, die ich nun kennenlernen sollte; das Bild einer alten Frau mit weißem Haar, im Rollstuhl oder sogar bettlägerig; eine zähe Matriarchin, deren Züge noch die Spuren einstiger Schönheit zeigten, deren funkelnder Blick, deren knappe Redeweise noch die Vitalität verrieten, die einstmals dem jungen Rechtsanwalt gedient und dann den ehrgeizigen Politiker vorwärts getrieben hatte. Wie dieses reizbare alte Weib meiner Vorstellung noch vor zwanzig Jahren eine Tochter geboren haben konnte, und durch welche Krankheit sie nun gelähmt war – das waren Fragen, bei denen sich meine flüchtige Phantasie nicht aufgehalten hatte. Jedenfalls war ich darauf gefaßt gewesen, in Madame Deltschev das weibliche Gegenstück zu dem grauen Mann mit den zitternden Händen zu finden, den ich im Gerichtssaal gesehen hatte, und dessen Geheimnis und Schicksal mich beschäftigten. So und nicht anders hatte ich sie mir vorgestellt. Und jetzt stand vor meinen Augen eine schlanke, kerzengerade Frau von etwa fünfzig Jahren, in einer gestreiften Seidenbluse, einem gutsitzenden Rock und mit glattem schwarzem Haar, das nur Spuren von Grau zeigte. Ihre Stirn war breit und hoch, und 103
sie hatte sanfte, sehr kluge Augen. Die kühnen, regelmäßigen Züge, die ihre Tochter geerbt hatte, wirkten bei ihr männlicher, doch war sie eine schöne Frau. Sie lächelte höflich, als sie mich begrüßte. »Herr Foster, ich bedaure wirklich, daß Sie draußen warten mußten.« »Es ist sehr freundlich von Ihnen, mich zu empfangen.« »Bitte, nehmen Sie Platz.« Sie setzte sich wieder hin und fächelte mit einem kleinen Spitzenfächer ganz leicht die mir abgewandte Seite ihres Gesichtes. »Meine Tochter hatte die besten Absichten, aber sie hat Petlarows Motive nicht verstanden.« Das Mädchen stand hinter ihrem Stuhl. Es sah mich nicht an. »Für Petlarow gibt es nur ein Motiv«, sagte sie. »Er tut das, wofür er bezahlt wird.« Madame Deltschev meinte ruhig: »Bitte, Katerina, bring uns Tee.« Katerina lachte kurz. »Englische Journalisten trinken nur Whisky und Soda, Mutter. Das ist Tradition.« Sie ging hinüber zum Samowar. »Stimmt es nicht, Herr Foster?« Madame Deltschev schaute ihre Tochter tadelnd an und sagte rasch ein paar Worte in ihrer eigenen Sprache. Das Mädchen entgegnete scharf. Madame Deltschev strich sich über das Haar. »Ich glaube, Herr Foster wird dir nicht böse sein, Katerina, wenn du uns allein läßt.« Das Mädchen blieb noch ein paar Sekunden ste104
hen und sah die Mutter mit zornrotem Gesicht an. Dann setzte es mit einem kleinen harten Knall das Teeglas hin, das es in der Hand hielt, und ging hinaus. Die Mutter erhob sich, ging zum Samowar und fing an, den Tee selbst einzuschenken. »In diesem Hause sind alle Nerven zum Zerreißen gespannt, Herr Foster«, sagte sie. »Ja, das kann ich mir vorstellen.« »Für meine Tochter ist es vielleicht am schwierigsten«, fuhr sie fort. »Unglücklicherweise stimmt sie in politischen Sachen mit meinem Mann nicht überein. Ihre Sympathien liegen bei der agrarsozialistischen Gruppe, die Jordan an der gegenwärtigen Lage Schuld gibt. Und so wird sie hin und her gerissen zwischen der Liebe zu ihrem Vater und ihren Gefühlen gegen den Mann, der seine Partei betrogen hat. Es ist sehr schwer für sie, und ich kann ihr nicht helfen.« Sie reichte mir ein Glas Tee. »Sie sehen, Herr Foster, ich habe meine Gründe, keine Journalisten zu empfangen. Ich hüte meine Zunge nicht. Die Regierung würde nur zu gern von der Tatsache Gebrauch machen, daß Jordans eigene Kinder seine politischen Gegner sind. Aber Petlarow schreibt, Sie seien uns wohlgesinnt und ich dürfe Ihnen vertrauen.« »Ich möchte gerne wissen, Madame, was an Petlarows Motiven so schwer verständlich sein soll.« Sie ging mit ihrem Tee zu ihrem Sessel zurück. »Petlarow ist ein guter Freund«, sagte sie. »Auch 105
nach der Entfremdung zwischen ihm und Jordan blieb er unser Freund. Als er aus dem Gefängnis entlassen wurde, durfte ich ihn einen Augenblick sehen und bat ihn wegen der Presse um Rat. Wir standen da schon im Mittelpunkt des Interesses. Und da riet er mir, niemanden zu empfangen, bis er mir selbst jemanden schicken würde, dem ich vertrauen könne.« »Das ist sehr schmeichelhaft. Aber ehrlich gesagt, ich sehe keinen Grund für seine Wahl.« »Haben Sie seinen Brief denn nicht gelesen?« Sie hielt ihn hoch. »Leider kann ich ihn nicht lesen.« »Ach ja, die Sprache.« Sie sah auf den Brief. »Er teilt mir mit, Sie würden über den Prozeß und das Urteil eine Artikelserie schreiben, die in Amerika und England veröffentlicht werden soll. Er sagt, Ihre Artikel würden gut geschrieben und wohlmeinend sein, und trotz Ihrer politischen Naivität –« Sie brach ab und sah mich entschuldigend an. »Er meint natürlich, daß er Sie nicht in erster Linie für politisch interessiert hält.« »Damit hat er recht.« Sie lächelte. »Fast jeder aus unserem Kreis würde sich jetzt beleidigt fühlen.« Sie wandte sich wieder dem Brief zu … ›obwohl die Artikel politisch naiv sein würden, dürfte gerade die Vereinfachung der auf der Hand liegenden Probleme und die überzeugende Aufrichtigkeit Ihrer Entrüstung eine Kampagne gegen den Ausgang des Prozesses höchst wirk106
sam unterstützen.‹ Sie faltete den Brief zusammen. »Petlarow ist ein interessanter Mensch, nicht wahr?« »Ja.« »Er ist so gescheit – aber er ist kein ganzer Mann.« Sie griff nachdenklich zu ihrer Tasse. »Seine Nerven waren nicht stark genug für die Macht.« »Was ihn von Ihrem Gatten unterscheidet.« Sie blickte auf – ein wenig ruckartig, als hätte ich ihren Gedankengang unterbrochen. »Ja, lassen Sie uns von Jordan sprechen«, sagte sie, »und von dem Prozeß. Denn dazu sind Sie hergekommen.« »Ich möchte Sie nicht betrüben, aber ich fände es doch gut, wenn Sie wissen, was heute geschehen ist.« Sie nickte. »Jordan hat wieder einmal demonstriert. Ich weiß es schon.« »Es stand aber doch nicht im amtlichen Bericht?« »Nein. Aber seit wir hier unter Hausarrest sind, kommt jeden Abend ein alter Freund zu uns. Jeden Abend durchsuchen ihn die Posten und jeden Abend finden sie in seinem Taschentuch etwas Geld. Sie lassen ihn passieren.« »Ich verstehe. Diese Demonstration war ziemlich erschütternd.« »Ja, das hörte ich. Es ist mir ein großer Trost, daß sie jetzt nicht mehr wagen werden, ihm sein Insulin vorzuenthalten.« In der Art, wie sie das sagte, lag ein seltsamer Mangel an Mitgefühl. Wir hätten ebensogut über einen flüchtigen gemeinsamen Bekannten sprechen können. 107
»Glauben Sie nicht, daß er sich mehr davon erhofft hat?« »Es gibt da nichts zu hoffen, Herr Foster. Bitte denken Sie nicht, Sie müßten meine Gefühle schonen. Jordan wird verurteilt werden.« »Petlarow hatte eine andere Erklärung. Er sagte, Ihr Gatte habe die Gelegenheit benutzt, um die Beweisführung des Staatsanwalts in Mißkredit zu bringen.« »Jordan ist ein guter Rechtsanwalt.« »Aus der Art, wie Ihr Gatte die Gelegenheit wahrnahm, schloß Petlarow, daß vielleicht Beweise gegen ihn vorliegen, die nur durch eine solche Diskreditierung zu entkräften sind.« Sie schien etwas befremdet. »Beweise, die nur durch eine solche Diskreditierung zu entkräften sind?« wiederholte sie. »Ja.« Sie zuckte die Achseln. »Zweifellos wird es Anwürfe geben, die zu absurd sind, als daß man sie bestreiten müßte.« »Stützt sich denn kein Teil der Klage auf einen stichhaltigen Beweis?« Sie sah überrascht aus. »Selbstverständlich nicht.« »Und auf keine Tatsachen, die man so verdrehen kann, daß sie als Beweis für Doppelzüngigkeit anno 1944 gelten könnten?« »Fast alle Tatsachen lassen sich verdrehen, Herr Foster.« »In diesem Falle aber nicht glaubhaft verdrehen?« »Nein.« 108
»Und das gilt auch für das unterstellte Bündnis mit der Bruderschaft des Offizierskorps?« »Dafür erst recht. Die Idee ist absurd. Mein Mann war in erster Linie für die Vernichtung der Bruderschaft verantwortlich.« »Glauben Sie, daß man falsche Beweise beibringen wird?« »Aber man hat doch gar keine andere Wahl«, sagte sie fast ungeduldig. »Dann wird es Ihrem Gatten ein leichtes sein, solche Beweise zu widerlegen?« »Wenn man ihn läßt – ja, Herr Foster. Aber ich kann den Sinn Ihrer Fragen nicht ganz verstehen. Die Klagepunkte sind sichtlich an den Haaren herbeigezogen!« »Und das gerade bedrückt mich, Madame. Wenn sie sich nicht einmal auf die Spur eines Beweises stützen, sind sie zu absurd. Wie Petlarow es ausdrückt: wenn die Anklage ihre Beweise schon fälschen muß, hätte sie weniger phantastische Anschuldigungen vorbringen können.« »Petlarow ist manchmal überklug. Es ist doch ganz einfach. Jede Verbindung mit der Bruderschaft ist ein Kapitalverbrechen und heutzutage auch eine Schande.« »Sie glauben nicht, daß irgendein Beweis, der erbracht wird, Sie überraschen könnte?« »Nichts, was die Volkspartei erfindet, könnte mich überraschen.« Ich schlürfte meinen Tee. 109
Ich wollte etwas sagen, was ich nur schwer in Worte kleiden konnte. Sie saß da und wartete gespannt darauf, daß ich weitersprach. Die Sonne ging unter, und in ihrem Nachglanz sah Madame Deltschevs Gesicht erstaunlich jung aus. Ich sah beinahe die junge Lehrerin vor mir, die den Rechtsanwalt Deltschev geheiratet hatte, die junge Frau aus der griechischen Familie, deren Lippen vielleicht schon die sanfte, unbeugsame Entschlossenheit zeigten, die sie jetzt hatten. »Madame Deltschev«, sagte ich schließlich, »als Sie von Ihrer Tochter sprachen, nannten Sie Ihren Gatten einen Mann, der seine Partei verraten hat.« »Ich versuchte, ihn so darzustellen, wie meine Tochter ihn sieht.« »Und Sie sehen ihn nicht so, Madame?« »Dazu verstehe ich ihn zu gut, Herr Foster.« »Das dürfte nicht die rechte Antwort auf die Frage sein, Madame.« »Ist denn die Antwort zum Verständnis des Prozesses so wichtig?« »Ich kenne Ihren Gatten nicht. Mir scheint es wichtig, daß ich etwas über ihn erfahre.« Sie lehnte sich in ihren Stuhl zurück. Sie hatte ihr Teeglas neben sich auf den Tisch gestellt und ließ die Hände leicht auf den Armlehnen ruhen. Dort konnten sie nichts verraten. »Sie haben heute meinen Mann im Gerichtssaal gesehen. Nun, bei dieser Gelegenheit hat er wohl die meisten Eigenschaften bewiesen, über die Sie 110
etwas wissen möchten: seinen Mut, seine Geschicklichkeit, seine Fähigkeit, den rechten Augenblick zu erfassen, seine Entschlossenheit. Nur eine konnten Sie unter diesen Umständen nicht sehen – seine absolute Ehrlichkeit, und für diese kann ich Ihnen bürgen; ich, die ich sein Herz kenne.« Es war dunkel geworden, und im Schatten des Sessels war ihr Gesicht kaum zu erkennen. Dann beugte sie sich vor, und ich sah ihr Lächeln. »Und falls Sie mich nach seinen Schwächen fragen wollen, Herr Foster, so will ich Ihnen auch die verraten. Er ist unfähig, die Menschen zu nehmen wie sie sind, sondern nur so, wie sie nach dem Diktat seiner Vernunft sein müßten. Er mißtraut jedem Gefühl, nie aber der Vernunft, und den Gedanken, daß in ihm beides vereinigt sein könnte, verwirft er durchaus. Daher irrt er sich häufig in den Menschen, und ebenso oft in sich selbst.« Ich schwieg einen Augenblick. Dann stand ich auf, um zu gehen. »Darf ich Sie wieder besuchen, Madame?« »Natürlich, Herr Foster – bitte, kommen Sie!« Dann machte sie eine Pause. »Ich bin immer zu Hause«, fügte sie hinzu. »Werden Sie später das Land verlassen, falls man es Ihnen freistellt?« »Sie meinen, wenn Jordan tot ist?« »Ich meine, wenn es hier nichts mehr für Sie zu tun gibt.« »Dann werde ich weiter hinter unserer Mauer le111
ben«, sagte sie. »Ist Ihnen unsere Mauer aufgefallen?« »Sie ist sehr schön.« »Sie werden solche Mauern um fast alle unsere alten Häuser finden«, sagte sie. »In Bulgarien und Griechenland, in Jugoslawien und in allen Ländern, die einmal unter türkischer Herrschaft gestanden haben, ist es das gleiche. Eine Mauer um sein Haus bauen, das hieß damals nicht nur eine Schranke gegen gelegentliche Überfälle einer fremden Soldateska errichten, sondern gewissermaßen ihre Existenz leugnen. Damals lebte unser Volk hinter seinen Mauern in der kleinen Welt seiner Illusionen, in der es kein Osmanisches Reich gab. Und manchmal wurden die Mauern bemalt, um die Illusion noch greifbarer zu machen – mit Szenen aus dem Volksleben. Aber nur an der Innenseite, denn dort spielte sich das Leben ab. Jetzt, da wir wieder innerhalb unserer Mauern sitzen, kehren die Bräuche unserer Eltern und unserer Kindheit wieder, ganz leise, wie lang vermißte Lieblingstiere. Ich bemerke das an mir selbst. Nehmen Sie zum Beispiel diesen Raum. Seit Jordans Verhaftung ist er das einzige Zimmer in diesem Stockwerk, dessen Laden wir tagsüber öffnen. Mein Gefühl sagt mir, daß es so besser ist. Aber warum? Aus keinem anderen Grund, als weil man aus allen anderen Fenstern der Etage die Straße sehen kann.« »Ist es nicht gefährlich, die Straße einfach zu ignorieren?« 112
»Für meine Kinder – ja. Für mich – nein. Denn ich werde nicht versuchen, der wirklichen Welt meine private Welt aufzuzwingen. Mein Sohn Philip studiert in Genf, er will Anwalt werden, wie sein Vater. Er scheint begabt zu sein, und in der Schweiz studiert es sich besser als hier. Ich hoffe, daß ich es Katerina ermöglichen kann, zu ihm in die Schweiz zu gehen.« Sie machte wieder eine Pause. »Ja, kommen Sie unbedingt wieder, Herr Foster. Wann Sie wollen.« Sie drückte auf einen Klingelknopf. »Rana wird Ihnen das Tor aufriegeln und Sie hinauslassen. Ich werde ihr auch sagen, daß sie Sie gleich einläßt, wenn Sie wiederkommen.« »Ich danke Ihnen, Madame.« Wir gaben einander die Hand und sagten Gutnacht. Als ich zur Tür ging, hörte ich draußen die Sandalen der Alten den Korridor entlangklappern. »Herr Foster?« »Ja, bitte, Madame?« »Es könnte zu Mißverständnissen Anlaß geben, wenn Sie Petlarows Ansichten allzuviel Gewicht beimessen.« »Ich werde nicht vergessen, was Sie sagten. Gute Nacht, Madame.« »Gute Nacht.« Die Tür ging auf, und ein Strahl des elektrischen Lichtes draußen auf dem Gang fiel in den dunklen Raum. Ich blickte zurück. Ich hätte ihr Gesicht gern noch einmal im Licht gesehen, aber sie hatte sich abgewandt. 113
Ich trat an der Alten vorbei in den Korridor und wartete, bis sie ihre Weisungen empfangen hatte. Dann schloß sie die Tür des Zimmers und führte mich die Treppe hinunter. In der Halle stand die Tochter. Sie wartete auf mich. Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt Bluse und Rock. »Herr Foster, kann ich Sie einen Augenblick sprechen?« »Natürlich.« Ich blieb stehen. Sie sagte etwas zu der alten Frau, die achselzukkend wegging »Ich werde Sie selbst hinauslassen«, sagte Katerina. »Aber ich möchte zuerst mit Ihnen sprechen. Ich möchte mich für mein Benehmen entschuldigen.« »Aber bitte – das ist doch nicht der Rede wert.« »Doch – es war unverzeihlich.« Sie sah so feierlich aus, daß ich lächeln mußte. Ihre blassen Wangen färbten sich ein wenig. »Ich habe eine Bitte, Herr Foster.« »Ja, bitte, Fräulein.« Sie senkte die Stimme. »Bitte, sagen Sie mir: haben die Posten Sie durchsucht, als Sie hereinkamen?« »Durchsucht? Nein. Der eine stieß mich mit dem Gewehr in den Rücken, und sie sahen sich meinen Presseausweis an; aber das war alles.« »Ein ausländischer Presseausweis … ach ja.« Ihr Blick wurde sehr eindringlich. »Herr Foster, ich möchte Sie um eine Gefälligkeit bitten.« Sie schwieg und wartete, wie ich ihre Bitte aufnehmen würde. 114
»Was möchten Sie von mir? Was soll ich für Sie tun?« »Einen Brief abliefern.« »Was für einen Brief?« Sie zog einen Brief aus der Tasche ihrer Bluse. »Können Sie ihn nicht per Post schicken?« »Das darf ich nicht. Außerdem –« Sie zögerte. »Soll ich ihn für Sie zur Post geben?« »Nein, Sie sollen ihn selbst abliefern.« »Warum kann ich ihn nicht per Post schicken?« »Wegen der Stadtzensur, Herr Foster.« »Wo soll er abgegeben werden?« »Innerhalb der Stadt, Herr Foster«, sagte sie ungeduldig. »Dicht beim Bahnhof.« »Und an wen ist er gerichtet?« Sie zögerte wieder. »An einen jungen Mann.« »Und wenn man mich faßt?« »Man wird Sie nicht fassen. Rana sagt, die Posten seien freundlich zu Ihnen gewesen, als sie Ihnen das Tor aufriegelte. Bitte, Herr Foster.« Ich dachte einen Augenblick an die Posten und ihre Freundlichkeit. Die Muskeln in meiner Schulter waren ziemlich steif geworden. »Nun gut, Fräulein – es wird mir ein Vergnügen sein.« »Oh … vielen Dank, Herr Foster!« Ich nahm den Brief und warf einen Blick auf den Umschlag. Die Adresse war in deutlicher Blockschrift geschrieben. Ich steckte den Brief in die Tasche. 115
Ihr Lächeln wich plötzlich einem angstvollen Blick. »Wann werden Sie ihn abgeben?« »Morgen – im Laufe des Tages. Sobald ich kann.« Sie hätte mich am liebsten gebeten, ihn noch am gleichen Abend abzuliefern, aber dazu hatte ich keine Lust. Also machte ich Miene wegzugehen. »Ich danke Ihnen«, sagte sie nochmals. »Ich werde Sie jetzt hinausbringen.« Sie hatte eine kleine Handlaterne. Wir gingen hinaus über den dunklen Hof bis zum Tor in der Mauer. Sie zog den Riegel zurück. »Gute Nacht, Herr Foster«, flüsterte sie. Dann trat sie hinter das Tor, daß man sie von draußen nicht sehen konnte, und öffnete es. Der Strahl einer Taschenlampe fiel mir ins Gesicht und blendete mich. Ich ging durch die Mauer, und das Tor schloß sich hinter meinem Rücken, Ich blieb stehen. »Papiere«, sagte eine wohlbekannte Stimme. Ich zog meine Brieftasche und klappte sie auf, daß man den Presseausweis sah. Der Soldat hielt die Taschenlampe. Der Unteroffizier trat in den Lichtstrahl. Er sah den Ausweis an, ohne ihn zu berühren, lächelte mir grimmig zu und wies mit dem Daumen den Weg. Er sagte etwas, und der Soldat lachte. Es machte ihnen Spaß, daß ich meine Lektion so schnell gelernt hatte. Erst als ich die Straße hinaufging und mein Herz wieder normal zu schlagen begann, merkte ich, daß ich mich sehr gefürchtet hatte, als der Lichtstrahl mir 116
ins Gesicht gefallen war und ich gespannt wartete, ob sie mich nicht doch noch durchsuchen würden. Ich befühlte den Brief in meiner Tasche. Er knisterte leicht. Ich lächelte still vor mich hin. Ich war kindisch stolz. Ich wußte nicht, daß ich soeben eine der größten Torheiten meines Lebens begangen hatte.
8 Ich frühstückte wie gewöhnlich mit Paschik. »Gestern abend rief ich in Ihrem Hotel an, Mr. Foster«, sagte er. »Ich war ausgegangen.« »So. Nun, es war nicht wichtig.« In seinen braunen Augen war ein Schimmer der schwächlichen Feindseligkeit des Liebenden, der sich entschlossen hat, nicht auf Besitzerrechte zu pochen. »Ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß Monsieur Brankowitsch, der Propagandaminister, für heute abend eine Auslandspressekonferenz einberufen hat. Wir sind natürlich eingeladen.« »So?« Mir fielen Petlarows Worte über die Taktik des Propagandaministeriums ein. »Monsieur Brankowitsch wird sprechen, und er wird auch Fragen beantworten«, sagte Paschik feierlich. »Es wird sehr interessant werden. Das kalte Büfett wird vorzüglich sein.« »Und anschließend Kollekte für die Armen der Partei, was?« 117
»Wie bitte?« »Ach nichts – ein fauler Witz.« »Die Konferenz wird im Empfangssaal des Ministeriums stattfinden, um sechs Uhr.« »Gut.« Er stippte sein Brot in den Kaffee. »Haben Sie Petlarow wiedergesehen, Mr. Foster?« »Ja. Aber ich dachte, es sei Ihnen angenehmer, nichts davon zu wissen.« Ich überlegte, ob ich meinen Besuch bei Madame Deltschev erwähnen sollte, ließ es dann aber bleiben. »Nun, Hauptsache, daß keine Gefahr besteht, Mr. Foster.« »Er kommt heimlich in mein Hotelzimmer. Der Portier kennt ihn nicht.« Paschik seufzte etwas bekümmert. »Nun, er wird zweifellos um seiner selbst willen vorsichtig sein. Interessiert er Sie immer noch?« »Ja. Er ist ein intelligenter Mensch, meinen Sie nicht auch?« »Wenn er sich seiner Intelligenz bedient hätte, Mr. Foster, wäre er mir bedeutend sympathischer.« »Sie meinen, wenn er mit der Regierung gemeinsame Sache gemacht hätte, nicht wahr?« »Natürlich. Das wäre nichts weiter als Realpolitik gewesen.« Wir gingen zur Gerichtsverhandlung. Es war der dritte Verhandlungstag, und sechs Zeugen wurden vernommen. Alle waren Mitglieder des Komitees der Nationalen Einheit gewesen und waren jetzt, 118
bis auf einen, Mitglieder der Volkspartei. Die Ausnahme war ein Mann namens Lipka; er war Mitglied der Anti-Deltschev-Gruppe in der agrarsozialistischen Partei. Die Aussagen waren zum großen Teil Wiederholungen der Behauptungen, die Vukaschin tags zuvor aufgestellt hatte. Es wurden eine Menge Dokumente beigebracht, auch die Protokolle der Komiteesitzungen aus der kritischen Zeit, und es entstand ein langes pseudo-juristisches Gefasel darüber, welche Dokumente als Beweisstücke zugelassen werden sollten und welche nicht. Die Protokolle spielten natürlich die Hauptrolle. Als Protokolle waren sie schlimmer als unbrauchbar, aber als Munition für den Staatsanwalt waren sie ideal. Ich erinnere mich einer typischen Stelle: ›Nach einigen Diskussionen kam das Komitee überein, Jordan Deltschev solle erneut mit den anglo-amerikanischen Bevollmächtigten zusammenkommen und in sie dringen, die endgültige Entscheidung über die kürzlich gemachten Vorschläge möglichst hinauszuzögern.‹ Die Zeugen der Anklage erklärten nun, die betreffenden ›Diskussionen‹ seien Versuche Deltschevs und seiner Anhänger gewesen, das Komitee so ins Bockshorn zu jagen, daß es eine Reihe anglo-amerikanischer Vorschläge annähme, ohne sie auch nur gelesen zu haben. Deltschev habe über die Entscheidung des Komitees ›vor Wut hörbar mit den Zähnen geknirscht‹. Hierzu äußerten sich die Richter ausführlich, und selbst der Verteidiger Stanojew fand es ungefährlich, sich in 119
diese Art Argumentation einzumischen. Bei einem dieser Punkte kam es sogar zu einer Spiegelfechterei zwischen den beiden Anwälten – zu einem Duell mit Gummischwertern, von zwei Clowns ausgefochten – , und der hitzige Wortwechsel verlief nach bewährtem Muster. Die einzige Aussage von Bedeutung machte der Zeuge Lipka. Er war ein zorniger, verbitterter Mann, dem die Spuren seiner Niederlagen im Gesicht geschrieben standen. Solche verdrießlichen Leute erwarten von jedermann Feindseligkeit, bewirken aber nur Ungeduld. Er war ein talentloser, aber ehrgeiziger Mann und war jahrelang Abgeordneter der Agrarsozialisten gewesen, ohne jemals zu einem Posten zu kommen. Seine Mitgliedschaft im Komitee erschien ihm als die langerwartete Anerkennung seines Wertes und als der Beginn einer Periode der Erfüllung. Er hatte für das verfassungswidrige Komitee nur den einen Wert, daß er gewählter Abgeordneter war, und als die Provisorische Regierung ihre Ämter verteilte, hatte man ihn ohne Bedenken übergangen. Von diesem Augenblick an hatte er einen krankhaften Haß auf Deltschev genährt. Zuerst hatten die Leute über diesen Haß nur gelächelt und die Achseln gezuckt. Jetzt benützte ihn die Volkspartei als Waffe. Lipkas Taktik war dumm, richtete aber viel Schaden an. Die meisten Menschen, deren Arbeit in unmittelbarer Beziehung zu den Launen und dem Gebaren der Öffentlichkeit steht, neigen dazu, diese gele120
gentlich mit höhnischen, sogar schmähenden Worten zu bedenken. Aber wenn der Spott eines geplagten Autobusschaffners über die Dummheit des Publikums ganz amüsant sein kann, hat derselbe Spott aus dem Mund eines führenden Politikers für viele einen recht häßlichen Beigeschmack. Und Lipka zitierte jetzt Deltschevs private Bemerkungen über verschiedene Begebenheiten und kontrastierte sie mit den gleichzeitig gemachten öffentlichen Äußerungen. So hatte ›Väterchen Deltschev‹ in einer Rede den Zwischenfall beklagt, bei dem einige Bauern, die den Befehl der Roten Armee, ein gewisses Gebiet nicht zu betreten, mißverstanden oder mißachtet hatten, von den russischen Posten erschossen worden waren. Privat hatte er geäußert: ›Es wäre gar nicht schlecht, wenn noch ein paar solche verdammte Narren erschossen würden.‹ Nach einer Rede, in der er die Bauern warm zu ihren gemeinnützigen Bemühungen beglückwünschte, den Städtern mehr Nahrungsmittel zu schicken, hatte er den Stoßseufzer getan: ›Gott sei Dank! Endlich haben diese dummen Kerle den schwarzen Markt entdeckt!‹ Und zu seinen eigenen Vorschlägen betreffs der Brennstoffknappheit hatte er bemerkt: ›Und wenn sie weiter frieren, so werden wir ein paar Auflagen der neuen Vorschriften drucken, die sie dann verbrennen können!‹ Lipka erzählte etwa ein Dutzend solcher Beispie121
le für Deltschevs ›Geringschätzung der Wohlfahrt eines Volkes, dessen Interessen ihm angeblich so am Herzen lagen‹. Zweifellos stimmte seine Behauptung, daß er noch weitere Beispiele hätte anführen können. Die abschätzigen Randbemerkungen eines überarbeiteten Ministers, der sich mit dem Chaos eines Verwaltungsapparates herumzuschlagen hat, dürften sich vermutlich nie durch ihre Warmherzigkeit oder ihre Vernunft auszeichnen, und wenn er dazu noch ein ungeduldiger Mensch mit derbem Humor ist wie Deltschev, sollte man sie am besten vergessen. Keinesfalls ist es billig, sie als Beweise seiner wahren Absichten und Ansichten zu werten. Diesen Einwand machte Deltschev selbst; es war an diesem Tage das einzige Mal, daß er die Verhandlung unterbrach. Er sagte: »Wenn man einen Arzt in einer kalten Winternacht aus dem Bett holt, wird er auf die ganze Menschheit fluchen; sein Fluchen wird ihn aber nicht hindern, für den Patienten sein Bestes zu tun.« Diese Bemerkung wurde als ›irrelevant‹ nicht ins Protokoll aufgenommen. Im Gerichtssaal aber tat sie ihre Wirkung; jedoch mir dämmerte allmählich die Erkenntnis, daß es nicht das Gericht war, das Deltschev den Prozeß machte. Petlarows Kommentare waren nicht ermutigend. »Nach drei Tagen in diesem Gerichtssaal«, sagte er, »werden Sie bemerkt haben, daß nicht ein einziger der Beweise, auf die sich die Klage stützt, von einem zivilisierten Gerichtshof als Beweis gewertet 122
würde, und daß Sinn und Verstand nur jene Worte hatten, die der Angeklagte zu seiner Verteidigung vorbrachte. Und dennoch hat sich die Lage verschlechtert. Der Lebensmittelhändler, den ich jetzt – dank Ihnen, mein Freund – wieder aufsuche, ist ein intelligenter Mensch und ein Anhänger Deltschevs. Er haßt die Volkspartei und mißtraut allem, was er in der zensierten Presse liest. Und dennoch – da der Prozeß ihm wichtig ist und er ihm nicht persönlich beiwohnen kann, muß er den amtlichen Zeitungsbericht lesen. Er liest natürlich voll Mißtrauen und zieht die Hälfte ab von dem, was er liest. Aber welchen Maßstab kann er anlegen? Wie kann er entscheiden? Er liest, daß die Aussage Vukaschins den entscheidenden Beweis für gewisse Anschuldigungen gegen Deltschev erbringt. Weiß er, ob nach den Regeln des Beweisverfahrens Vukaschins Aussage etwas anderes ist als ein Beweis für seine Verlogenheit? Natürlich nicht. Nun, der Lebensmittelhändler ist ein vorsichtiger Mensch und schwer zu überzeugen – aber als ich ihn heute fragte, was er denke, wurde er verlegen und wich meinem Blick aus. ›Offenbar‹, sagte er schließlich, ›gibt es da allerlei Dreck, von dem wir nichts wußten. Und selbst wenn es diese Schweine sind, die ihn jetzt aufdecken – es ist doch gut, daß wir nun darum wissen. Na ja, wir sitzen eben in der Patsche.‹ Und sehen Sie, Herr Foster, für Vukaschin und Brankowitsch ist das ein Erfolg. Denn die Ernüchterten und Enttäuschten kämpfen nicht.« 123
»Ich dachte, die Möglichkeit, daß an der Anklage etwas dran sein könnte, mache Ihnen Kopfzerbrechen.« »Die ausländische Presse ist nicht so leicht durch amtliche Berichte irrezumachen wie mein Lebensmittelhändler. Was hat Madame zum Anklagepunkt betreffs der Bruderschaft gesagt?« »Sie sagte, diese Beschuldigung sei einfach lächerlich.« »Und haben Sie ihr geglaubt?« »Ich glaube, das ist ihre Überzeugung.« »Sie waren sehr beeindruckt, nicht?« »Ja. Sie hält Sie übrigens für zu gescheit.« »Das ist möglich. Ich hoffe es. Aber vergessen Sie nicht: die Anklagepunkte, die sich auf die Bruderschaft beziehen, sind die einzigen, die widerlegt oder bewiesen werden können. Man kann mit einer Fülle falscher Darstellungen beweisen, daß ein Mensch schlechte Absichten hatte, und kann sein Leugnen in Zweifel ziehen; behauptet man aber, er habe an einem bestimmten Tag an einem bestimmten Ort eine bestimmte Person getroffen, und er kann beweisen, daß er es nicht getan hat – dann ist alles vergebliche Liebesmüh. Und weil der Gerichtshof verächtlich ist, sind Prochaska und Brankowitsch noch lange keine Dummköpfe.« »Was tut Katerina Deltschev?« »Sie hat die schönen Künste studiert.« »Hat?« »Nun, sie studiert noch, soviel ich weiß. Aber na124
türlich kann sie zur Zeit keine Vorlesungen hören.« Er sah auf meine Armbanduhr. »Es ist Zeit für Sie, zu gehen. Brankowitsch dürfen Sie auf keinen Fall versäumen!« Ich begab mich in ziemlich düsterer Gemütsverfassung zur Pressekonferenz. Das Propagandaministerium befand sich in einem Flügel des ehemaligen königlichen Palastes. Er war Ende des 18. Jahrhunderts in einer Periode nationalen Wohlstandes erbaut worden. Ein italienischer Architekt, der Versailles gesehen hatte, hatte die Pläne gemacht. Nur ein Viertel des geplanten Baus war vollendet, aber dieses Viertel war groß genug für drei Ministerien und die Nationalbank. Die Konferenz des Propagandaministers fand in einem großen Prunksaal mit bemalter Decke und zwei riesigen Kronleuchtern statt. Um den mit Intarsien verzierten Schreibtisch, an dem der Minister stehen sollte, waren im Halbkreis Sessel aufgestellt. Ein langer Tisch an einer der Seitenwände diente als Büfett; die Speisen waren noch mit Servietten zugedeckt. Bei den britischen und amerikanischen Journalisten hieß Brankowitsch allgemein der ›schleichende Jesus‹; er hatte einen sonderbaren Gang – Kopf und Schultern waren leicht vorgeschoben, die Arme an die Seiten gedrückt, als stehe er stramm. Die französischen Korrespondenten behaupteten, er nehme diese Haltung zwangsweise ein, da er im Geiste ständig zwei Portefeuilles trage: unter dem einen 125
Arm das des Propagandaministers, unter dem anderen das des Staatschefs. Er war ein bleicher, brünetter Mann mit massigem Kopf und hochmütigen Augen. Nachdem er an der Warschauer Universität studiert hatte, war er zunächst Bergbauingenieur gewesen, und seine Verbindung mit der Politik hatte damit begonnen, daß er Flugblätter verfaßte. Vor dem Krieg hatte er sich als Erzfeind aller fremden Ölgesellschaften einen Namen gemacht. Er war ein kluger, ehrgeiziger Mensch, der keine Möglichkeit vorübergehen ließ, seine Ergebenheit und Bewunderung für Vukaschin zu betonen. Über diese widerliche Liebedienerei vor dem Parteiführer wurden viele Witze gerissen; aber man munkelte, daß er zwar nicht gerade lächelte, wenn sie ihm wiedererzählt wurden, aber auch nicht verstimmt war. Man glaubte allgemein, Vukaschin könne ihn persönlich nicht ausstehen, respektiere jedoch seine Meinung. Es waren etwa sechzig Personen im Saal anwesend; ungefähr die Hälfte davon Ausländer. Brankowitsch trat mit energischem Schritt ein, gefolgt von zwei Sekretären, die Akten und Notizbücher trugen. Die Leute, die noch plaudernd herumstanden, nahmen ihre Plätze ein. Brankowitsch blickte sich um und wartete, bis sich niemand mehr rührte. Dann begann er: »Meine Herren von der Presse«, sagte er auf deutsch, »als ich Sie bat, sich zu mir zu bemühen, hatte ich drei Dinge im Auge: erstens möchte ich Ihnen bei Ihrer Aufgabe soweit wie irgend möglich 126
behilflich sein, indem ich Ihnen gewisse Informationen gebe, die notwendig sind zum Verständnis der noch folgenden Beweise in dem Kriminalprozeß, über den Sie zu berichten haben; weiter möchte ich Ihnen Gelegenheit geben, mir Fragen zu stellen, auch wenn Sie glauben, die Antworten schon zu kennen, und zwar über Tatsachen und« – er lächelte ein wenig – »auch über Ansichtssachen; drittens wollte ich mir das Vergnügen machen, meine Bekanntschaft mit denjenigen unter Ihnen, die ich schon kenne, zu erneuern, und die übrigen Herren kennenzulernen. Aber erst die Arbeit, dann das Vergnügen, wie das Sprichwort sagt. Ich will mich kurz fassen, und dann werden wir reichlich Zeit für Ihre Fragen haben.« Er sah auf die Uhr. Er besaß eine Art kurzangebundener Freundlichkeit, die nicht unsympathisch wirkte. Er fragte nicht viel, was wir von ihm dachten, und machte sich nichts daraus, wenn seine Freundlichkeit nicht erwidert wurde. Er war der vielbeschäftigte Mann, bereit, etwas von seiner kostbaren Zeit an Narren zu verschwenden, und folglich unempfindlich gegen alle Narrheiten. »Ich möchte Ihnen etwas über die Bruderschaft des Offizierskorps erzählen«, sagte er. »Nicht, wie sie entstanden ist – ich bin überzeugt, das wissen Sie schon –, sondern über ihre spätere Tätigkeit und ihre Methoden. Terroristische Organisationen gibt es nicht erst seit gestern. Die meisten Staaten haben unter ihnen zu leiden gehabt. Viele Länder – ein127
schließlich der Vereinigten Staaten – leiden gelegentlich noch jetzt unter ihnen. Es ist selbstverständlich die Pflicht einer jeden zivilisierten Regierung, diese Verbrecher zu finden und zu vernichten. Ich sage: Es ist ihre Pflicht. Und dennoch wird diese Pflicht nicht immer erfüllt. Manchmal wird die Regierung selbst terrorisiert. In andern Fällen sympathisiert sie mit den Zielen der Terroristen und wünscht ihnen insgeheim Erfolg. Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß die Regierung der Volkspartei weder in irgendeiner Weise eingeschüchtert ist noch mit der Bruderschaft des Offizierskorps sympathisiert; wir wollen keine Verbrecher dulden, welcher Art auch immer. Dem Arbeiter, der im Jähzorn seinen Kameraden umbringt, und dem Fanatiker, der aus ideologischen Gründen kaltblütig seine Gegner tötet, soll die gleiche Gerechtigkeit widerfahren.« »Durch einen Volksgerichtshof?« murmelte jemand in der Reihe hinter mir. Aber wenn Brankowitsch es gehört hatte, nahm er keine Notiz davon. Er fuhr fort: »Unter den reaktionären Regierungen der Vorkriegsjahre wurde die Bruderschaft für unser Volk eine große und furchtbare Last. Es ist nicht genau bekannt, wie viele Morde sie auf dem Gewissen hat. Zweifellos geht die Zahl in die Hunderte. Genauere Angaben kann ich Ihnen über die Zahl der schweren Körperverletzungen machen, welche die Bruderschaft zwischen 1930 und 1940 begangen hat: es waren etwa 1400. Diese Zahl schließt nur jene schweren 128
Fälle ein, die ärztliche Behandlung im Spital erforderten. Daß ich Ihnen hier genauere Zahlen angeben kann, hat seine Ursache darin, daß diese Personen am Leben blieben und berichten konnten, was ihnen widerfahren war. Die Verletzungen waren folgender Art: Schußwunden – ungefähr 600 Fälle; Dolchstiche – etwa 200 Fälle; Attentate mit Schwefelsäure – etwa 30; Auspeitschungen – rund 200; schwere Verletzungen durch Knüppel, Ruten und andere Waffen dieser Art machen den Rest aus.« Er hatte sich an die vor ihm liegenden Notizen gehalten. Nun schob er sie beiseite. »Jedoch die Statistiken können Ihnen keinen Begriff geben von den Gefühlen, die dieser Zustand auslöste, von dem Haß und der Furcht, die er erweckte, und von seiner Wirkung auf das öffentliche Leben. Daher möchte ich Ihnen von den bekannten Fällen nur einen ganz typischen erzählen und das übrige Ihrer Phantasie überlassen. Es ist der Fall Kyril Schatew. Schatew war 1940 Polizeipräfekt dieser Stadt. Ein Mann namens Brodno war wegen Mordverdachts verhaftet worden – ein krimineller Schwuler und Mitglied der Bruderschaft. Es war genügend Beweismaterial vorhanden, und Schatew beschloß, den Mann vor Gericht zu bringen. Sogleich begannen die üblichen Drohungen der Bruderschaft; er beachtete sie nicht. Ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein: er wußte von früher, daß sich bei Beginn des Prozesses die Aufmerksamkeit der Bruderschaft von ihm ab- und dem Vorsitzenden Richter zuwenden wür129
de. Vielleicht hätte der Richter nachgegeben, aber das ging Schatew nichts mehr an. Jedoch er hatte sich verrechnet. Vermutlich hätten die Beweise gegen Brodno auch ältere Mitglieder der Bruderschaft belastet, und ihre Bekanntgabe wäre zu gefährlich gewesen – sie durfte nicht erfolgen. Am Sonntag vor der Festsetzung des Verhandlungsbeginns war Schatew mit seiner Frau, seinen beiden kleinen Kindern und zwei weiblichen Dienstboten in seinem Haus, das etwa zehn Kilometer vor der Stadt lag. Sie wollten sich gerade zum Mittagessen setzen, als ein Wagen vorfuhr und drei Männer ausstiegen. Sie baten um Wasser für ihren Wagen. Ein Dienstmädchen öffnete unbedacht die äußere Tür; die Männer drängten sich an ihr vorbei, nachdem sie sie mit dem Kolben eines Revolvers bewußtlos geschlagen hatten. Dann gingen sie ins Haus. Schatew versuchte, seine Familie zu verteidigen, und wurde niedergeschossen. Zu seinem Unglück war er nicht gleich tot. Mit einem Bajonett töteten die Männer die beiden Kinder. Hierauf vergewaltigten sie die Frau, vor deren Augen sie dann mit demselben Bajonett, das die Kinder getötet hatte, den sterbenden Schatew kastrierten. Dann wurde auch die Frau ermordet. Dem andern Dienstmädchen taten sie nichts zuleide. Sie solle Zeugin sein, sagten die drei Männer, daß das Urteil der Bruderschaft an Schatew vollstreckt worden sei. Sie drohten aber auch ihr mit dem Tode, wenn sie jemals versuchen würde, die Mörder 130
zu identifizieren. Nun – die Mörder wurden niemals identifiziert, und Brodno wurde nicht vor Gericht gestellt.« Brankowitsch machte eine Pause von ein paar Sekunden und sah sich um. »Ein typischer Fall«, bemerkte er dann seufzend. »Ohne Zweifel«, fuhr er fort, »ließe sich vieles über eine Regierung sagen, die sich durch solche Mittel einschüchtern läßt. Aber man redet leicht am Kern der Sache vorbei. Tatsache ist, daß es in Regierungskreisen viele Mitglieder der Bruderschaft gab. Das haben wir später herausbekommen, denn die Mitgliedschaft war selbstverständlich immer geheim. Wer diese Männer waren? Nun, wir wissen von zweien, die Minister waren, und von 27, die hohe Ämter in der Staatsverwaltung, der Polizei und der Armee bekleideten. Es gab sicher noch viele andere auf hohen Posten. Es ist leider die nackte Wahrheit, daß es in allen Kreisen unserer Gesellschaft Mitglieder der Bruderschaft gab, nur bei den Arbeitern nicht. Diese Bruderschaft ist eine bürgerliche Krankheit. Ich gebe zu, daß es schwerverständlich ist, daß ein Mann von vermutlich überdurchschnittlicher Intelligenz und Begabung, der sich zu einem verantwortungsvollen, hochangesehenen Posten emporgearbeitet hat, unmittelbare Beziehungen etwa zu den perversen Mordbuben haben sollte, die an jenem Sonntag in Schatews Haus eindrangen, oder zu anderen gleichen Schlages. Aber so war es. Als wir, noch zur Zeit der Provisorischen Regierung, den Kampf ge131
gen diese Pest aufnahmen, erlebten wir manche schreckliche Überraschung. Jawohl, ich sage: schreckliche Überraschung! Einen Mann als Politiker verachten – das mag noch angehen. Aber die Entdeckung, daß er ein verbrecherischer Irrer ist – das ist etwas ganz anderes. Man hat in solchen Fällen Mühe, den unwiderleglichsten Beweisen Glauben zu schenken. Aber wir konnten nicht anders.« Er machte wieder eine Pause. Es herrschte Totenstille. Jetzt wußten wir, daß er von Deltschev gesprochen hatte. Er legte seine Hände übereinander. »Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel aus der Geschichte geben, meine Herren«, sagte er. »Nicht aus der Geschichte unseres Landes, sondern aus der italienisch-französischen. 1830 lebte in Italien ein junger Verbannter namens Louis Bonaparte, ein Großneffe Napoleons des Ersten und ehemals sein Adoptivenkel. Damals gab es auch in Italien eine geheime terroristische Gesellschaft. Sie nannte sich Carbonari – die Kohlenbrenner. Unter ihren Mitgliedern waren Aristokraten, Offiziere, Grundbesitzer, Regierungsbeamte, Bauern und Priester. Die Mitglieder nannten einander ›Vetter‹. Der Tod war die einzige erlaubte Form des Austritts aus der Organisation. Der junge Bonaparte wurde Mitglied der Carbonari, und ein Jahr später wurde er von der österreichischen Polizei verhaftet, weil er in einen Mordfall verwickelt war. Damals war er noch keine bedeutende, einflußreiche Persönlichkeit. Aber 28 Jahre später, als derselbe Mann Napoleon III. Kaiser von Frankreich, war, 132
brauchten ihn die Carbonari. Sie schickten ihm durch den Meuchelmörder Orsini eine Mahnung. Diese Mahnung bestand aus drei Bomben, und sie explodierten eines Abends im Januar 1858, als der Kaiser eben in die Pariser Oper gehen wollte. Dabei wurden acht unschuldige Leute getötet und 150 verwundet – aber ›Vetter‹ Bonaparte blieb unversehrt. Die Carbonari verlangten seine Mithilfe bei der Entfachung einer bürgerlichen Revolution in Italien. Er zauderte nicht. Die Verantwortung Napoleons III. des Franzosenkaisers, für sein Volk war gleich Null neben den Pflichten des ›Vetters‹ Napoleon gegenüber den Carbonari-Terroristen. Und so wurde das italienische Risorgimento mit dem Blut französischer Soldaten bezahlt, das die Felder von Montebello und Tirbigo und Solferino tränkte. – Das ist keine schöne Geschichte – so wenig schön wie die Geschichte der Familie Schatew.« Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann fügte er ruhig hinzu: »Meine Herren, unser Volk will keine Felder mehr düngen für die ›Vettern‹ und ›Brüder‹ dieses Jahrhunderts. Wir wollen die Mörder suchen und finden, ob sie auf Caféhausstühlen sitzen oder auf Thronen, die sie sich selbst über dem Haupt ihres Volkes errichtet haben. Das haben die Volkspartei und Vukaschin, ihr großer Führer, feierlich gelobt.« Er sah uns wieder in der Runde an und setzte sich dann hin. »Ich bin bereit, Fragen zu beantworten.« Er hatte seine Sache recht gut gemacht, und eine 133
kleine Weile rührte sich niemand. Dann stand vor mir ein Amerikaner auf. »Im Dezember vorigen Jahres, Herr Minister«, sagte er, »verkündete die Regierung der Volkspartei, sie habe die Bruderschaft des Offizierskorps vollkommen – ausgemerzt. Ich glaube, das war das Wort, das sie gebrauchte. Wollten Sie uns jetzt bedeuten, daß diese Bekanntmachung unzutreffend war?« Brankowitsch nickte. »Leider ja. Damals hielten wir sie natürlich für zutreffend. Die spätere Entwicklung hat leider bewiesen, daß wir uns geirrt hatten.« »Was für eine Entwicklung?« »Ich möchte dem Gerichtsverfahren lieber nicht vorgreifen.« Ein kleiner brünetter Mann stand auf. »Herr Minister, hat nicht Deltschev selbst sehr energisch Schritte zur Ausmerzung der Bruderschaft unternommen?« »Er hat zweifellos Schritte veranlaßt, die, wie wir jetzt wissen, unwirksam waren; die Entscheidung aber, überhaupt Schritte zu unternehmen, wurde von der gesamten Provisorischen Regierung gefaßt. Mit anderen Worten, die Volkspartei war am Entschluß, nicht aber an der Durchführung beteiligt.« Jetzt erhoben sich auch andere, und es hagelte Fragen. »Herr Minister, ist Ihre Anspielung auf Napoleon III. dahin zu verstehen, daß die Regierung ihre Behauptung über Deltschevs Friedensverhandlun134
gen mit der Behauptung verknüpft, er sei Mitglied der Bruderschaft gewesen?« »Wenn Sie wollen, können Sie diesen Schluß ziehen.« »Die Anklage behauptet, Deltschev sei für seine Bemühungen bezahlt worden. Widersprechen diese Behauptungen einander nicht?« »Möglicherweise. Aber bitte erinnern Sie sich daran, daß auch Napoleon III. seine Belohnung erhielt – Nizza, die Riviera und Savoyen.« »Herr Minister, sind Sie der Ansicht, daß die Beweise, die wir bis jetzt bei Gericht gehört haben, irgendeinen Anklagepunkt gegen Monsieur Deltschev erhärten?« »Das Beweismaterial muß als Ganzes betrachtet werden.« »Von wem wurde der Verteidiger bestellt, Herr Minister?« »Von der Regierung. Das ist in allen Fällen üblich, in denen der Angeklagte es unterläßt, sich einen Verteidiger zu nehmen.« »Hat der Angeklagte es verabsäumt, sich einen Verteidiger zu bestellen? Hat er nicht, als Rechtsanwalt, es vorgezogen, sich selbst zu verteidigen?« »In schweren Straffällen ist es dem Angeklagten nicht gestattet, seine Verteidigung selbst zu führen. Dieses Gesetz wurde im Interesse von unvermögenden Angeklagten geschaffen, deren Überführung außer Frage stand und die ihren Familien nicht auch noch die Verfahrenskosten aufbürden wollten.« 135
»Herr Minister, könnte dieses Gesetz, das ganz offenbar nicht für Personen von Rang wie Monsieur Deltschev bestimmt war, in seinem Fall nicht außer Kraft gesetzt werden?« »Werden in England Gesetze zugunsten hochstehender Angeklagter außer Kraft gesetzt?« »Damit geben Sie also zu, Herr Minister, daß es sich zugunsten Monsieur Deltschevs auswirken würde, wenn er sich selbst verteidigen dürfte?« »Es würde sich zu Ihren Gunsten auswirken, meine Herren, daran hege ich keine Zweifel. Ich muß um Entschuldigung bitten für unseren Widerwillen, aus der Gerichtsverhandlung eine Zirkusvorstellung zu machen.« »Bitte, sagen Sie uns, Herr Minister, ob man dem Angeklagten jetzt im Gefängnis die angemessene ärztliche Betreuung zukommen läßt – nach den gestrigen, etwas unglücklich ausgefallenen Bemühungen des Anklägers, dem Gericht ein Spektakel zu bieten.« Brankowitsch erhob sich lächelnd. »Der Angeklagte bekommt die nötige ärztliche Betreuung«, sagte er, »und soviel Insulin wie er wünscht. Es war kein Kapitalverbrechen, sondern ein dummes Versehen der Verwaltung, das an dieser Vernachlässigung schuld ist. Es sind sofort Disziplinarmaßnahmen gegen die Verantwortlichen ergriffen worden. Natürlich hat der Angeklagte den größtmöglichen Vorteil aus seinem schlechten Zustand gezogen und auf das allgemeine Mitleid spekuliert, als …« 136
»… als er vom Ankläger dazu gezwungen wurde, nicht wahr, Herr Minister?« »Oder als sich ihm ganz von selbst die günstige Gelegenheit dazu bot.« Brankowitsch lächelte wieder. »Wir deuten alles vom Standpunkt unserer eigenen Voreingenommenheit. Aber wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß niemand den Angeklagten daran hindert, frei zu Ihnen zu sprechen.« »Aber was er zu sagen hatte, wurde nicht in den amtlichen Pressebericht aufgenommen, Herr Minister.« »Und zu Recht. Die Tatsache, daß jemand zukkerkrank ist, vermindert keineswegs seine Verantwortlichkeit für Verbrechen am Volk. Meine Herren, ich schlage Ihnen vor, daß wir unsere Diskussion bei einem kleinen Imbiß fortsetzen. Ich hoffe, Sie vermuten keine Bestechungsversuche dahinter, daß Kaviar und Champagner auf Sie warten. Ich erfülle nur eine meiner Amtspflichten als Minister, indem ich Ihnen die Erzeugnisse unseres Weinbaues und unserer Fischzucht vorführe, die wir sehr gerne exportieren möchten. Es ist natürlich kein französischer Champagner, aber es ist ein trockener, feuriger Wein von sehr angenehmem Geschmack, und ich glaube, er wird Ihnen munden.« Einige der Gäste murmelten belustigt Zustimmung, wir erhoben uns von den Stühlen, und dann traten auf ein Zeichen hin die Kellner in Aktion. »Er ist klug, der Minister«, sagte Paschik ernsthaft. 137
»Ja, das ist er. Wollen wir jetzt gehen?« Er machte ein ganz erschrockenes Gesicht. »Wollen Sie ihm denn keine Fragen vorlegen, Mr. Foster?« »Was für Fragen? Über Napoleon III.?« »Ich glaube, es wäre unhöflich, wegzugehen«, sagte er wieder ernst. »Der Minister möchte Sie sicher kennenlernen. Man darf doch nicht gegen die Etikette verstoßen.« »Ach, es gehen auch andere Herren weg.« Zwar hatten die meisten Anwesenden sich zum Büfett begeben und standen dort in Gruppen beisammen und plauderten, aber ich bemerkte auch, wie einige unauffällig verschwanden. »Oh, das sind Leute von den hiesigen Presseagenturen, Mr. Foster. Sie sind dem Minister schon früher vorgestellt worden.« »Also gut. Wollen wir hinübergehen?« Brankowitsch sprach mit einer Gruppe, bei der auch Sibley war – der Mann, der zuviel trank und unvorsichtig war. »Nein, Mr. Foster. Lassen Sie uns lieber in aller Ruhe etwas genießen. Die Gelegenheit wird sich von selbst ergeben.« Etwas später gesellte sich ein Amerikaner zu uns, mit dem ich im Gerichtsgebäude ein paarmal gesprochen hatte. Ein Kellner brachte uns Champagner und Kaviarbrötchen, ein Sekretär verteilte eine Broschüre, eine lange Abhandlung über die Bruderschaft des Offizierskorps, die einem das Blut in den Adern erstarren ließ. 138
»Wußten Sie übrigens, daß auch Byron Mitglied der Carbonari war?« fragte der Amerikaner. »Ich finde, wir sollten unseren Freund Brankowitsch umtaufen! Als Ferdinand von Italien versuchte, die Carbonari zu liquidieren, ließ er durch seinen Polizeiminister einen anderen Geheimbund gründen. Die ›Calderi del Contrappeso‹ – die ›Kohlenpfannen des Gegengewichtes‹. Der Polizeiminister sammelte die schlimmsten Elemente des ganzen Landes, und was sie den italienischen Liberalen antaten – nun, dagegen ist die Affäre Schatew ein Kinderspiel. Besagter Polizeiminister hieß Prinz Canosa. Was meinen Sie – wollen wir unsern Freund Brankowitsch zukünftig nicht den ›schleichenden Canosa‹ nennen?« Paschik war weggegangen. Ich sprach mit dem Amerikaner und aß Kaviarbrötchen. Nach ein paar Minuten kam Paschik ziemlich atemlos mit einem der Sekretäre zurück, einem jungen Mann mit kalten Augen und überkorrekter Kleidung. »Das ist Monsieur Kowitsch«, sagte Paschik. »Er gehört zum Büro des Ministers.« Der Sekretär verbeugte sich und wir schüttelten einander die Hand. »Der Herr Minister würde Sie gerne kennenlernen, Herr Foster«, sagte er steif. »Es wird mir eine Ehre sein.« Mein Blick begegnete dem Grinsen des Amerikaners. Der Sekretär sah mich scharf an. »Haben Sie denn schon Zeit gefunden«, fragte er, »die schöne Umgebung unserer Stadt zu besuchen, Herr Foster?« 139
»Leider nicht.« »Um diese Jahreszeit«, fuhr der Sekretär unbeirrt fort, »können Sie hier viele der herrlichsten Rosen aus der ganzen Welt in voller Blüte sehen und riechen. Unser Land ist sehr schön. Jedenfalls hoffen wir, daß Sie am Sonnabend der offiziellen Parade und Feier beiwohnen werden, die zu Ehren des 27. Jahrestages der Gründung unserer Volkspartei stattfinden.« »Ich weiß nicht –« »Der Passierschein für Herrn Foster ist schon beantragt worden«, warf Paschik gewandt ein. »Ach so – nun, dann wird er einige der Schönheiten unseres Landes hier in unserer Stadt sehen können.« Der Sekretär sprach stur weiter. »In diesem Jahr wird die Parade friedliche Landwirtschaft und kriegerische Macht symbolisieren – Pflug und Schwert in voller Harmonie.« »Sehr interessant.« »Ja. Und es ist uns sehr daran gelegen, daß alle unsere Gäste ein richtiges Bild bekommen, ehe sie uns verlassen. Ich werde selbst Sorge tragen, daß Sie einen günstigen Platz bekommen, Herr Foster. Ah – da kommt der Herr Minister.« Er trat geschickt beiseite, wie der Ansager verschwindet, wenn der Star erscheint. Brankowitsch, von einem anderen Sekretär begleitet, war stehengeblieben, um ein paar Worte mit einer skandinavischen Gruppe zu wechseln. Nun steuerte er auf mich zu. Der Sekretär neben mir hatte etwas in der 140
Landessprache gesagt, und mein Name war gefallen. Brankowitsch streckte mir die Hand entgegen und setzte ein feuchtes Lächeln auf. »How do you do, Mr. Foster?« sagte er. Seine warme Hand ließ die meine los, kaum daß er sie berührt hatte. Er nickte Paschik zu, als ich ihm antwortete. »Sie waren früher noch nie in unserem Land, Mr. Foster?« »Nein, Herr Minister, es ist das erstemal. Ich bin fasziniert.« Er nickte. »Es gibt eine ganze Menge Literatur über unser Land, doch die meiste stammt von Ausländern. Da wir jetzt aber die kulturelle Bewegung sehr ermutigen, dürfte wohl bald eine heimische Dichterschule entstehen. Die Schwierigkeit der Sprache bleibt natürlich bestehen. Unsere Sprache wird nur selten von Ausländern gesprochen. Nun, schließlich hat Ibsen, der auch in einer nur von wenigen gesprochenen Sprache geschrieben hat, Weltruhm erlangt.« »Ibsens Helden und Heldinnen waren aber nicht verpflichtet, positiv zu sein, Herr Minister.« »Ah – ich sehe schon, Sie haben etwas von unseren besonderen Problemen gehört. Ja, wir sind hier allerdings gezwungen, uns nach dem Bildungsniveau des Volkes zu richten. Wir müssen noch für vergangene Ungerechtigkeiten büßen. Der Prozentsatz an Analphabeten ist noch hoch, und auch die, die lesen und schreiben können, sind im Sinne der 141
westlichen Welt noch ungebildet. Aber auf anderen kulturellen Gebieten – in den bildenden Künsten zum Beispiel, und in der Musik – können wir uns schon besser ausdrücken.« »Ideen brauchen nicht in Worte gekleidet zu werden, Herr Minister, um gefährlich zu sein.« »Wir wollen nicht die Wahrheit unterdrücken, Mr. Foster – wir wollen nur das leichtfertige Nachplappern von Lügen verhindern. Aber über solche Fragen müssen wir uns einmal lange und ungestört unterhalten. Es würde mich freuen, Ihre Ansichten kennenzulernen. Sagen Sie, wie ging es Madame Deltschev gestern abend? Gesundheitlich gut?« Ich fühlte mehr als ich hörte, wie Paschik die Luft einzog. Brankowitschs Blick ruhte unverändert freundlich auf mir. »Oh, es schien ihr recht gut zu gehen.« Er lächelte wieder. »Und sie wird nicht belästigt?« »Nicht daß ich wüßte.« »Wir haben versucht, sie nach Möglichkeit zu schonen. Natürlich ist ihre Lage schwierig, und wir müssen sie vor möglichen Demonstrationen schützen. Aber es freut mich, daß sie wohlauf ist. Sie sind doch der einzige Journalist, mit dem sie gesprochen hat?« »Soviel ich weiß, ja.« Er nickte leicht. »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Mr. Foster«, sagte er. »Wir müssen uns wieder einmal unterhalten. Es war sehr interessant.« 142
Er nickte nochmals und wandte sich ab. Der Sekretär glitt ihm an mir vorbei nach. Das Interview war beendet. Ich blickte Paschik an. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos. Er trat auf mich zu. »Wünschen Sie, daß wir jetzt gehen, Mr. Foster?« »Ja, ich denke, wir gehen jetzt.« »Sie haben mir nicht gesagt, daß Sie Madame Deltschev besucht haben«, sagte er, als wir weggingen. »Nein. Ich nahm an, es sei Ihnen lieber, nichts davon zu wissen.« »Nun, hoffen wir, daß es nichts geschadet hat.« »Was sollte es geschadet haben?« Er zuckte die Achseln. »Nun, solche Dinge fallen auf!« »Macht das etwas aus?« »Wir wollen hoffen, daß es nichts ausmacht. Aber es wäre mir lieber gewesen, Sie hätten mir etwas davon gesagt. Ich hätte Ihnen Ungelegenheiten ersparen können.« »Was für Ungelegenheiten? Die Posten vor dem Hause sahen sich meinen Passierschein an. Sie haben Bericht erstattet. Was weiter?« »Sie verstehen mich nicht.« »Das fürchte ich allerdings. Ich glaube, Sie sind, wie ich schon sagte, allzu ängstlich.« »Und ich glaube, daß ich von diesen Dingen mehr verstehe als Sie, Mr. Foster.« »Entschuldigen Sie, Paschik. Ich möchte Sie na143
türlich in keiner Weise gefährden, aber schließlich habe ich hier eine Aufgabe zu erfüllen.« »Und ich habe die Verantwortung zu tragen, Mr. Foster.« »Damit müssen Sie wohl oder übel fertig werden.« Ehe er antworten konnte, hörten wir rasche Schritte hinter uns. Paschik sah sich um, als erwarte er einen Überfall. Es war Sibley. »Hallo, Leute!« sagte er dreist. »Wie geht’s, wie steht’s, Foster? Und Sie, Georghi, teurer Freund? War das eine scheußliche Party! Wann begießen wir unser Wiedersehen? Jetzt? Ich könnte einen Schnaps brauchen!« »Bitte, entschuldigen Sie mich«, erwiderte Paschik hastig. »Ich muß ins Büro; Mr. Foster, Sie müssen Ihre Berichte wegschicken!« »Ich werde morgen zu Ihnen kommen, Paschik.« Er zögerte. Wir waren inzwischen bis zur Tür gekommen. Er gab das Rennen auf. »Nun gut. Guten Abend, Mr. Foster. Guten Abend, Mr. Sibley.« »Guten Abend.« Er ging, übelriechende Mißbilligung hinter sich lassend. Sibley kicherte. »Armer Kerl«, sagte er.
9 Wir gingen ins nächste Café und bestellten etwas zu trinken. Dann verschwand Sibley, um zu telefonie144
ren. Als er wiederkam, waren die Getränke schon da. Er hob sein Glas, sah hinein, als sei es eine Kristallkugel, und kippte es hinunter. »Na, was halten Sie davon?« fragte er grimmig. »Von der heutigen Vorstellung?« »Vorstellung! Genau.« Er schnippte mit den Fingern, um sich beim Kellner noch ein Glas zu bestellen. »Unglaublich – finden Sie nicht?« »In welcher Beziehung?« »Ach, in jeder! Der alte Schwindel. ›Vorurteile? Meine Freunde? Keine Spur! Immerhin, urteilt selbst, meine Freunde. Hier sind die schlichten Tatsachen, so schlicht wie möglich wiedergegeben, die Tatsachen über die Bruderschaft. Was das mit Deltschev zu tun hat? Ja, wer hat denn gesagt, es hätte etwas mit ihm zu tun? Ihr seid es, die diesen Schluß zieht, nicht wir. Wir zeigen euch nur die häßlichen Tatsachen. Um euch zu beweisen, daß diese Tatsachen wirklich häßlich sind, tischen wir ein altes Greuelmärchen auf. Kastration und Notzucht, meine Freunde. Jawohl, wir wußten schon, daß euch das an der empfindlichsten Stelle trifft. Was es mit Deltschev zu tun hat? Nun, wir sagen ja nicht, daß es unbedingt etwas mit ihm zu tun hat; ihr zieht eben eure Schlüsse, und das können wir nicht verhindern, nicht wahr? Tatsächlich beginnt (obwohl wir das nicht ausdrücklich sagen wollen) derselbe häßliche Gedanke jetzt auch uns im Kopf herumzugehen. Wie klug von euch, meine Freunde, daß ihr zuerst darauf gekommen seid. Aber es scheint doch 145
zu phantastisch, oder? Obwohl – wartet einmal! Gibt es nicht einen historischen Parallelfall, der haargenau auf die Situation paßt? Natürlich gibt es einen. Und wiederholt sich die Weltgeschichte nicht? Natürlich wiederholt sie sich. Und es gibt tatsächlich noch eine weitere Übereinstimmung, die wir gar nicht erwähnt haben. Als Murat beschloß, die Carbonari zu vernichten, gab er seinem Polizeichef den Auftrag dazu. Der Polizeichef vernichtete eine Menge Leute, und Murat dachte, daß damit der Fall erledigt sei, bis er entdecken mußte, daß der Polizeichef selbst ein Carbonari war und daß die ›Vettern‹ stärker waren denn je. Sonderbar, meine Freunde, nicht wahr? Wie klug ihr seid, daß ihr darauf gekommen seid! Sonst noch Fragen? Ja? Nun, wir wollen einander nicht länger mit Worten lästig fallen. Wir wollen lieber Kaviar essen und dazu ein gutes Glas Champagner trinken!‹ – Ach, dieses Volk hängt mir zum Hals heraus!« Er goß seinen zweiten großen Slibowitz hinunter und lehnte sich zurück. »Noch ein Glas?« »Immer nur zu!« Er beugte sich vor, sein Gesicht war leicht gerötet, seine Lippen noch feucht von Slibowitz. »Was fängt man damit an, Foster?« »Mit Brankowitschs Pressekonferenz?« Ich winkte dem Kellner. »Mit allem. Mit dem ganzen Schwindel. Vielleicht ist es Ihnen unwichtig. Sie haben massenhaft Zeit. Eine Reihe von Artikeln – in Wochen lieferbar. 146
Aber von mir erwartet man, daß ich Neuigkeiten berichte. Und ich habe bis jetzt noch nichts weiter durchgeben können als diese verdammten amtlichen Berichte. Ich nehme an, Paschik schickt sie auch an Ihre Leute?« »Ja.« »Wissen Sie, was ich am liebsten täte?« Seine trüben Augen blickten mich vertrauensvoll an. »Nein, was denn?« »Ich möchte sie gern reinlegen. Am liebsten würde ich den ganzen Schwindel aufdecken.« Er runzelte plötzlich die Stirn, als sei er ärgerlich auf sich selbst. »Bitte achten Sie nicht auf mich«, sagte er, »ich habe schon vor der Konferenz etwas getrunken.« Er lächelte schlau und senkte die Stimme. »Können Sie ein Geheimnis für sich behalten, Foster?« »Ja.« »Nun, der Witz ist der … ich könnte es nämlich.« »Was könnten Sie?« »Genau, was ich sagte: den ganzen Schwindel aufdecken.« Er sah sich vorsichtig um und beugte sich noch weiter vor. »Ich habe einen Weg gefunden, diese verfluchte Zensur zu umgehen.« »Ach … wirklich?« Mein Herz begann ziemlich unangenehm zu klopfen. »Einzelheiten kann ich Ihnen nicht sagen – weil ich geschworen habe zu schweigen. Aber im Propagandaministerium ist ein kleiner Beamter, der die Regierung ebensowenig liebt wie Sie und ich. Er 147
will es riskieren. Wenn es herauskäme, könnte er natürlich von Glück sagen, wenn er sofort gehenkt würde, aber er ist auf alles gefaßt und will es wagen. Es ist nur ein Haken dabei.« Er machte eine Pause. Ich wartete. »Er kann es nicht öfter tun – nur ein einziges Mal; und morgen ist der letzte Termin.« »Nun, noch haben Sie Zeit genug.« »Es ist ein Risiko.« Er sah stirnrunzelnd auf den Tisch, als der Kellner neue Gläser hinstellte. »Ein gewaltiges Risiko. Wenn ich gefaßt werde, schmeißen sie mich raus. Für Sie wäre das natürlich ganz egal – Sie brauchen ja nicht davon zu leben. Aber, bei Gott – ich möchte es doch riskieren!« »Der kleine Beamte im Propagandaministerium hält es offenbar für der Mühe wert.« Er lachte kurz auf. »Sie haben ganz recht«, sagte er. »Es ist komisch, nicht? Erst speie ich Pech und Schwefel und dann ängstige ich mich wegen eines kleinen Risikos.« Er lachte wieder. Die Vorstellung, die er für mich gab, wurde rapid schlechter. Ich half ihm nicht. Er mußte selbst zur Sache kommen. Ich wartete gebannt. »Würden Sie es riskieren?« fragte er plötzlich. »Das käme auf den Fall an.« »Nun gut – nehmen wir einmal an« – ich glaubte eine Note echter Verzweiflung in seiner Stimme zu hören –, »nehmen wir bloß einmal an, Sie hätten tatsächlich die Möglichkeit, einen kurzen Bericht mit dem meinen durchzuschmuggeln. Würden Sie sie wahrnehmen?« 148
»Soll das ein Angebot sein?« »Sind Sie verrückt? Warum sollte ich Ihnen eine solche Chance geben?« »Ich weiß nicht. Ja, warum sollten Sie?« »Nun … es müßte sich immerhin für mich lohnen.« »Was soll das heißen?« Er antwortete nicht. Er tat, als überlege er. »Hören Sie, Foster«, sagte er dann, »wir wollen doch einmal einen Augenblick ernst sein. Wenn ich geahnt hätte, daß Sie dabei anbeißen würden, dann hätte ich ganz sicher kein Wort davon erwähnt.« Er machte wieder eine Pause. »Aber da ich nun einmal geschwatzt habe, will ich Ihnen sagen, was ich tun werde. Wenn Sie versprechen, Ihren Bericht auf einen Kommentar über den Prozeß zu beschränken, dann würde ich ihn mit durchschmuggeln.« »Das heißt, wenn Sie selbst einen Bericht abschicken.« »Oh, ich werde ihn abschicken, keine Angst! Und nun dürfen Sie mich noch zu einem Glas einladen.« Er lehnte sich mit einem Gesichtsausdruck zurück, als habe er eben sein Erstgeburtsrecht verkauft. »Ich stelle nur eine Bedingung: ich muß das Zeug lesen, ehe ich es wegschicke. Ehrlich gesagt: in einer so verdammt kitzligen Sache würde ich meinem eigenen Bruder nicht trauen. Einverstanden?« »Ich verstehe.« Um Zeit zu gewinnen, sah ich mich nach dem Kellner um. Jetzt hatte ich alles gehört, was ich hören sollte: die leidenschaftliche Kri149
tik an der Regierung, um mein Vertrauen zu gewinnen; die schnapsselige Indiskretion; das entrüstete Leugnen; den Ausbruch von Edelmut; die reifliche Überlegung; das widerwillige Zugeständnis. Petlarow würde sich amüsieren. Paschik würde die Lippen zusammenkneifen. Ich sah auf meine Uhr. Ich hatte keine Lust mehr, weiter mit Sibley zu reden. Der Kellner war verschwunden. Ich legte etwas Geld auf den Tisch. »Ich muß gehen«, sagte ich. Aber ich brauchte fünf Minuten und einen hastig hinuntergekippten Slibowitz, um mich loszueisen. Endlich konnte ich aufstehen und meinen Hut aufsetzen. »Und wegen … na, Sie wissen ja, was ich meine«, sagte er, »es ist am besten, Sie geben mir das Zeug morgen früh. Zweihundert Worte maximum.« »Ach so … das.« Ich lächelte und schüttelte den Kopf. »Das werde ich nicht tun.« »Sind Sie verrückt?« »Nein. Bei Ihnen liegt es ganz anders. Für mich ist es das Risiko doch nicht wert.« Er sah mich einen Augenblick kalt an. Dann zuckte er übertrieben die Achseln. »Ganz wie Sie wünschen. Gute Nacht, mon brave«, sagte er. Er blieb am Tisch sitzen und machte langsam eine spöttische Verbeugung zu mir herüber. »Aber ändern Sie Ihren Entschluß nicht mehr, Foster mio«, sagte er. »Es wäre nämlich zu spät.« »Ich werde meinen Entschluß nicht mehr än150
dern.« Ich nickte ihm zu und verließ das Café. Draußen zögerte ich. Nun, da der peinliche Teil dieser Zusammenkunft vorbei war, wurde ich neugierig. Sibley, der Spitzel und agent provocateur von Brankowitsch, interessierte mich, wie mich Sibley, der aufdringliche Zeitungsmensch, nie interessiert hätte. Ich wäre am liebsten wieder zurückgegangen, hätte mich zu ihm gesetzt und versucht, eine Erklärung aus ihm herauszulocken. Ich sah zurück. Er saß noch da und sah in sein Glas, die Ellbogen auf dem Tisch. Der dünne blonde Flaum auf seinem braungebrannten Schädel schimmerte matt in der Abendsonne. Als ich hinsah, stützte er mit einer rührend hoffnungslosen Geste den Kopf in seine Hände. Dann nahm er mit einer Hand den Stiel des Glases und drehte ihn langsam zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. Die andere Hand legte er auf den Tisch, und mit einem Finger zählte er das Geld, das ich dort hingelegt hatte. Dann sah er sich nach dem Kellner um. Ich wandte mich ab. Für den Augenblick verspürte ich kein Bedürfnis, noch mehr über Sibley zu erfahren. Ich ging nach Hause in mein Hotel. Beim Abendessen entwickelte ich nicht viel Appetit. Ich erinnerte mich, daß ich in einer entlegenen Ecke des Hotelfoyers einen eingerahmten Stadtplan an der Wand gesehen hatte. Nach dem Essen betrachtete ich ihn mir und zog Katerina Deltschevs Brief aus der Tasche. Die Adresse auf dem Umschlag war kurz: ›Valmo, Patriarch Dimo 9.‹ 151
Mit einiger Mühe fand ich die Straße auf dem Plan und machte mich auf den Weg. Das Mädchen hatte gesagt, die Straße sei dicht beim Bahnhof. Das stimmte auch, aber sie lag auf der anderen Seite der Bahngleise, und ich mußte einen weiten Umweg machen, durch eine belebte Marktstraße bis zu einer Brücke, und dann längs der anderen Seite des Güterbahnhofs zurück. Als ich endlich die Kirche fand, die ich mir auf der Karte als Orientierungspunkt gemerkt hatte, war es so dunkel, daß man die Straßenschilder kaum mehr lesen konnte. Es war keine einladende Gegend. Auf der einen Seite der Hauptstraße waren große Warenhäuser und ein Elektrizitätswerk, dazwischen häßliche Wohnblocks; auf der anderen kleine Läden und steile Nebengäßchen mit Holzhäusern, deren Dächer hier und da mit rostigen Wellblechplatten geflickt waren. Das übliche Elendsviertel. Nur wenige Schritte entfernt war eine Tramendstation, und ich überlegte schon, ob ich nicht in die Stadt zurückfahren solle, statt mich weiter mit dem Brief zu plagen. Dann gab ich mir noch fünf Minuten, um die Straße zu suchen. Wenn ich sie dann, wie ich im stillen hoffte, noch nicht gefunden hatte, wollte ich umkehren. Fast im gleichen Augenblick fand ich sie. Die Straße des Patriarchen Dimo war ein steiles und schäbiges Gäßchen. An der Ecke war eine trüb erleuchtete Weinkneipe und dahinter ein altersschwacher Schuppen, der offenbar als Ochsenstall diente. Ich ging langsam bergan. Das Mädchen hatte 152
zögernd gesagt, der Brief sei ›an einen jungen Mann‹. Ich hatte mir Valmo natürlich als einen ihrer kunstbeflissenen Kollegen vorgestellt, einen hübschen Jungen, der auch andere Freundinnen hatte und ohne Skrupel Katerinas erzwungene Abwesenheit ausnützte. Offenbar mußte ich meine Vorstellungen ändern. Nummer 9 war ein Haus wie die anderen, nur waren die Läden im Parterre mit gekreuzten Latten vernagelt. In keinem der oberen Stockwerke war Licht, und der Torweg mit den fettiggrauen Mauern war mit kleinen Steinen bestreut und mit Kreidestrichen abgeteilt, als hätten dort Kinder gespielt. Das Haus sah leer aus. Ich ging durch den Torweg bis zur Haustür und zündete ein Streichholz an. Bis vor kurzem schien das Gebäude ein Wohnhaus gewesen zu sein, denn es war noch eine Tafel mit Namensschildern da. Das Zündholz ging aus, ich strich ein zweites an; der Name Valmo war nicht dabei; als das Zündholz am Erlöschen war, entdeckte ich ihn. Der oberste Name war mit einer Messerspitze weggekratzt, und darunter stand in grober Bleistiftschrift der Name Valmo. Ich ließ das ausgebrannte Hölzchen fallen und stand einen Augenblick im Dunkeln. Nachgerade wurde ich neugierig auf diesen Valmo. Beim Lichte des dritten Streichholzes suchte ich eine Klingel, fand aber keine, und versuchte nun, die Tür zu öffnen. Sie war unverschlossen. Ich ging hinein. 153
Ich stand im Hausflur, von dem eine Treppe nach oben führte. Alles war ganz still und schien wie verlassen. Ich sah mich nach einer Beleuchtung um. An der Decke war ein Haken und ein Rauchschirm, aber keine Laterne darunter. Immer wieder neue Hölzchen anzündend, ging ich die Stiege hinauf. Auf dem ersten Absatz waren zwei Türen, die beide offenstanden. Ich sah hinein. Die Zimmer waren leer. In dem einen fehlten ein paar Dielenbretter. Ich stieg weiter nach oben. Im nächsten Stock blieb ich gar nicht stehen; offenbar war das ganze Haus leer. Nur ein Umstand hielt mich davon ab, kehrtzumachen: die Zimmer, in die ich hineingeschaut hatte, mußten schon monatelang unbewohnt gewesen sein; solange hatte aber Katerina noch nicht Hausarrest; es blieb also die Möglichkeit, daß Valmo, der oben gewohnt haben mußte, erst kürzlich ausgezogen war und einen Zettel mit seiner neuen Adresse dagelassen hatte. Als ich zum obersten Geschoß hinaufging, bemerkte ich einen eigentümlichen Geruch. Es war Ammoniak – ein schwacher Ammoniakgeruch, der stärker wurde, als ich den letzten Treppenabsatz unter dem Dach erreichte. Wieder ein Streichholz. Hier war nur eine Tür, und sie war geschlossen. Es hing kein Zettel daran. Ich klopfte und wartete, bis das Streichholz erlosch. Ich entzündete ein neues, drückte die Klinke herunter und stieß die Tür auf. Dann erschrak ich: das Zimmer hinter der Tür war möbliert. 154
Ich hob das Streichholz hoch und trat in den Türrahmen. Dabei hörte ich ein schwaches Geräusch: Das Summen von Fliegen. Ich unterschied in dem schwachen Licht ein ungemachtes Bett, einen Tisch aus Kiefernholz und einen Stuhl mit einem Stoß Zeitungen darauf. Auch eine Kiste war da. Das Zündholz brannte nieder, und ich ließ es fallen. In dem schwachen Lichtbogen, den es beschrieb, sah ich auf dem Fußboden eine dunkle Masse, wie eine zusammengeknüllte Gardine. Als ich ein neues Hölzchen anstrich, machte ich einen Schritt ins Zimmer. Das Licht flammte auf. Im nächsten Augenblick tat mein Herz einen Sprung. Was da auf dem Boden lag, war keine Gardine. Es war ein Mann. Ein Mann; und sein Gesicht war schwarz. Ich machte rasch einen Schritt rückwärts und stieß einen Schrei aus. Durch die Bewegung erlosch das Streichholz – sonst wäre ich wohl kopflos vor Schreck hinausgerannt. Nun fummelte ich in der Schachtel und brachte schließlich ein Streichholz zum Brennen. Ich zwang mich, nochmals hinzusehen. Sein Haar war kurz geschnitten und weiß, bis auf die Stellen, über die sich das Schwarze verbreitet hatte. Das Schwarze war geronnenes Blut, das auf und neben ihm klebte wie geschmolzenes Wachs. Sein Mund stand offen, und hinter seinem Ohr war eine klaffende Wunde. Man konnte nicht sagen, wie er ausgesehen hatte. Er lag auf der rechten Seite, mit 155
angezogenen Knien, die fast die Ellbogen berührten. Er trug einen dunklen Serge-Anzug und Ledersandalen, aber keine Strümpfe. Er war klein und schmächtig gewesen. Die Fliegen umsummten ihn. Er war schon längere Zeit tot. Ich fing an zu würgen und ging auf den Treppenabsatz. Eine Minute verging, und als ich allmählich wieder Luft bekam, glaubte ich unten ein Geräusch zu hören. Das Blut pochte so laut in meinen Schläfen und ich atmete so schnell und oberflächlich, daß ich meiner Sache nicht recht sicher war. Dann gelang es mir, ein paar Sekunden lang den Atem anzuhalten – und da war auch das Geräusch wieder. Langsam und leise kam jemand die Treppe herauf. Ich weiß nicht, wen ich erwartete; wahrscheinlich den Mörder. In diesem Augenblick hätte ich den Kopf verloren, wenn sich bloß eine Fliege auf meine Hand gesetzt hätte. Ich stolperte im Dunkeln zurück ins Zimmer, schloß die Tür, zündete wieder ein Streichholz an und suchte fieberhaft den Türriegel. Es war ein Riegel da, aber die Halterung fehlte. Verzweifelt sah ich mich nach etwas um, womit ich die Tür verrammeln konnte. Ich versuchte es mit einem Stuhl, aber die Klinke saß zu tief. Das Streichholz in meiner Hand ging aus. Ich fummelte wieder an der Schachtel herum, riß sie endlich verkehrt auf und die Hölzchen fielen auf den Boden. Jetzt zitterte ich vor Angst. Ich kniete nieder und 156
versuchte die Hölzchen aufzulesen. In diesem Augenblick hörte ich Schritte auf dem Treppenabsatz, direkt vor der Tür. Ich verharrte unbeweglich. Unter der Tür erschien ein schmaler Lichtstrahl. Der Mensch da draußen hatte eine Taschenlampe. Dann ging das Licht aus und die Tür öffnete sich. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Plötzlich flammte die Taschenlampe wieder auf, und der Lichtstrahl fegte rasch durchs Zimmer. Bei der Leiche hielt er inne. Dann bewegte er sich schnell weiter und blieb auf mir liegen, Vor der Taschenlampe blitzte das Ende eines Revolverlaufes. Ich bewegte mich nicht. Eine Stimme fragte: »Was tun Sie hier, Mister Foster?« Es war Paschik.
10 Ich kam wieder auf die Füße. »Warum sind Sie hier, Mr. Foster?« wiederholte er. »Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Würden Sie bitte aufhören, mich zu blenden?« Er senkte die Lampe auf meine Füße. Jetzt konnte ich ihn sehen. Der Revolver in seiner Hand war immer noch auf mich gerichtet. Paschik hatte seine Aktentasche unter dem Arm, und das Medaillon am Reißverschluß baumelte hin und her. »Nun, Mr. Foster?« 157
»Ich könnte Ihnen die gleiche Frage stellen.« »Ich bin Ihnen gefolgt, Mr. Foster.« »Mit einem Revolver?« »Ich wußte nicht, daß wir allein sein würden.« »Wir sind nicht allein.« Ich sah auf den Toten am Boden, aber Paschik beleuchtete immer noch meine Füße. »Mr. Foster, ich möchte wissen, warum Sie hier sind und wer Ihnen diese Adresse gegeben hat. Und zwar möchte ich es sofort wissen.« Seine Stimme klang sehr scharf. »Katerina Deltschev bat mich, hier einen Brief für sie abzugeben. Auf dem Brief stand diese Adresse.« »Zeigen Sie mir den Brief.« »Paschik, müssen wir in diesem Zimmer bleiben? Können wir nicht hinausgehen? Überhaupt – müssen wir nicht die Polizei holen? Dieser Mann ist ermordet worden.« »Nein, Mr. Foster, wir müssen nicht die Polizei holen. Zeigen Sie mir den Brief.« Ich zog ihn aus der Tasche. Er trat vor, nahm ihn mir ab und ließ das Licht der Taschenlampe darauf fallen. »Sie sagte mir, er sei an einen jungen Mann gerichtet«, sagte ich. Ohne zu antworten, schob er den Brief in die Tasche und leuchtete das Zimmer ab. »Haben Sie hier etwas berührt, Mr. Foster?« »Ja, diesen Stuhl. Warum?« »Weshalb haben Sie ihn angefaßt?« 158
»Ich versuchte, ihn unter die Türklinke zu stemmen, als ich Sie heraufkommen hörte.« »Wischen Sie mit Ihrem Taschentuch die Stellen ab, wo Sie ihn angefaßt haben, und auch die Tür – auf beiden Seiten. Dann heben Sie alle Streichhölzer auf, die Ihnen heruntergefallen sind – auch die verbrauchten, bitte.« Ich gehorchte ihm. In diesem Augenblick war mein Wunsch, aus dem Zimmer hinauszukommen, stärker als meine Neigung, mit ihm zu streiten. Er hielt die Lampe so, daß der Fußboden beleuchtet war, während ich die Hölzchen aufsammelte. »Wußte jemand, daß Sie hierher kommen würden?« »Nur Katerina Deltschev.« »Sie haben es niemandem erzählt?« »Nein.« »Auch Petlarow nicht?« »Nein.« »Und Mr. Sibley?« »Nein. Niemandem.« »Hat Sie jemand hier hineingehen sehen?« »Ich glaube nicht. Es waren nicht viele Leute auf der Straße.« »Ihre Kleidung sieht sehr ausländisch aus. Hat sich jemand nach Ihnen umgedreht?« »Wenn Sie mir gefolgt sind, Paschik, müßten Sie das doch wissen.« »Ich war nicht nahe genug, um es zu sehen. War jemand unten im Torweg, als Sie ins Haus kamen?« 159
»Nein.« Ich hatte alle Streichhölzer aufgehoben. Jetzt richtete ich mich auf. »Länger kann ich in diesem Zimmer nicht bleiben«, sagte ich und ging hinaus auf den Treppenabsatz. »Wischen Sie die Tür ab, Mr. Foster.« Ich tat es. Er leuchtete nochmals das Zimmer ab, dann kam auch er heraus. »Schließen Sie die Tür – aber bitte mit dem Taschentuch in der Hand. Ja, so ist es richtig. Nun, Mr. Foster, mein Wagen ist am Ende der Straße, vor der Weinstube. Sie haben Ihre Streichhölzer. Gehen Sie hinunter, wie Sie heraufgekommen sind; gehen Sie dann zu meinem Wagen, steigen Sie ein und warten Sie auf mich.« »Was haben Sie noch vor?« »Man darf uns nicht zusammen weggehen sehen.« »Warum nicht?« »Gehen Sie jetzt, Mr. Foster.« Er hielt immer noch den Revolver in der Hand und handhabte ihn, als sei er es nicht anders gewohnt. Seltsamerweise wirkte er mit einem Revolver gar nicht lächerlich. Er leuchtete mir, als ich die Treppe vom Dachgeschoß hinabstieg. Dann zündete ich wieder meine Streichhölzer an. Es war eine Erlösung, auf die Straße zu gelangen. Und als ich bis Paschiks Wagen gekommen war, hatte ich mir schon allerlei durch den Kopf gehen lassen. Meine Zigarette war zur Hälfte geraucht, als Pa160
schik zu mir kam. Wortlos setzte er sich auf den Fahrersitz, nahm Revolver und Taschenlampe aus seiner Aktenmappe, steckte sie in die Tasche an der Wagentür und stopfte einen fettigen Lappen darüber. Er startete. »Und jetzt«, sagte er, »werden wir einen meiner Freunde aufsuchen.« »Was für einen Freund?« »Einen, der uns sagen wird, was wir zu tun haben. Er gehört zu … einer Sonderabteilung der Polizei.« »Was für eine Sonderabteilung ist das?« »Das werden Sie sehen, Mr. Foster. Vielleicht muß man doch die reguläre Polizei benachrichtigen – ich weiß es nicht.« Dann riß er plötzlich das Steuer herum, schoß über die Straße und schwenkte ungeschickt links in eine Querstraße ein. Ich warf meinen Zigarettenstummel weg und steckte mir eine neue Zigarette an. »Warum sind Sie mir gefolgt, Paschik?« »Mir schwante, daß Sie etwas Unvernünftiges tun würden, Mr. Foster.« »Aber Sie sind mir gefolgt, nicht wahr?« »Sie werden mir zugeben, daß ich recht dran tat.« Ich sah ihn an. »Nun, ich bin durch einen Straßenmarkt gegangen, der schon zu Fuß schwer passierbar war. Wie konnten Sie mir da im Wagen folgen?« »Wenn ich fahre, kann ich keine Fragen beantworten, Mr. Foster.« 161
»Dann lassen Sie uns eben ein paar Minuten halten. Ich habe eine Menge dringlicher Fragen an Sie.« Er fuhr stillschweigend weiter. »Sie sind doch schon vorher in diesem Haus gewesen, Paschik?« sagte ich nach kurzer Pause. »Wie kommen Sie darauf, Mr. Foster?« »Nun, Sie wußten, daß dort die Leiche eines Mannes lag – schon ehe Sie hereinkamen; das heißt, wenn Sie es nicht gewöhnt sind, Leichen mit Schußwunden herumliegen zu sehen. Sie haben diese Leiche nämlich gar nicht beachtet.« Er war bis zur Stadtmitte gefahren. Nun glitten wir in eine ruhige Allee. »Und noch etwas«, sagte ich. »Wenn Sie mir folgten und erwarteten, mich dort vorzufinden, hätten Sie mir nicht Ihren Revolver vorgehalten. Als Sie die Treppe heraufkamen, hörten Sie, daß ich mich oben bewegte. Hätten Sie gewußt, daß ich es war, so hätten Sie einfach meinen Namen gerufen. Sie sind nicht mir gefolgt. Sie gingen Ihretwegen hin und Sie hatten Ihre Gründe. Welche?« »Sie erschweren mir die Dinge sehr, Mr. Foster«, erwiderte er finster. »Ja. Wer war der Tote? Valmo? Wer hat ihn umgebracht? Sie selbst?« Er antwortete nicht. Hinter den Bäumen, welche die Straße säumten, waren Häuser mit portes cochères. Er fuhr langsamer und bog dann unerwartet in eine Lücke zwischen den Bäumen ein und fuhr in 162
einen Hof. Er stoppte und löschte die Lichter. Wir hielten im Stockfinstern. »Mr. Foster«, sagte er, »Sie sind arrogant und dumm. Wäre ich wirklich ein Mörder, so wären Sie bereits tot. Ich habe sehr viel Geduld mit Ihnen gehabt. Und nun werden wir meinen Freund besuchen.« Er knipste die Taschenlampe an, und ich sah, daß er wieder seinen Revolver nahm. Er schob ihn in seine Aktenmappe, und wir stiegen aus. Ich sah in die Höhe. Die Konturen eines großen Hauses zeichneten sich vom Himmel ab. »Wo sind wir jetzt?« fragte ich. »Mein Freund hat hier eine Wohnung«, sagte er. »Bitte – hier.« Ich sah fast nichts. Wir traten durch eine Seitentür und gingen ein paar fliesenbelegte Stufen hinab zu einem kleinen hydraulischen Lift mit Seilzug. Er schwankte, als wir einstiegen. Paschik zog am Seil, und der Lift schwebte leise zischend aufwärts. In der obersten Etage hielt er automatisch, und wir traten auf einen kahlen Treppenabsatz mit Steinfußboden. Eine eiserne Leiter führte zum Oberlicht. Paschik klopfte an die niedrige Tür daneben. Nach kurzem Warten wurde uns von einer Frau, die eine Schürze umgebunden hatte, geöffnet. Sie hatte graues Haar, hinten in einem dürftigen Knoten zusammengedreht, und einen bitteren Mund. Offenbar kannte sie Paschik. Er gab ihr eine kurze Erklärung. Sie nickte und sah mich neugierig an, als 163
wir eintraten; dann führte sie uns durch einen schmalen Korridor und wies uns in ein Empfangszimmer. Sie schaltete die Lampen ein, ging hinaus und schloß die Tür hinter sich. Es fehlte nur noch der schwache Desinfektionsgeruch, und man hätte sich einbilden können, beim Zahnarzt zu sein. Der Raum, in dem wir uns befanden, war tatsächlich einem Wartezimmer sehr ähnlich. An den Wänden standen Stühle, und in der Mitte war ein großer Tisch mit einem kleinen Aschenbecher darauf. Es fehlten nur die üblichen illustrierten Zeitschriften. »Wie heißt Ihr Freund?« fragte ich. Paschik saß auf der Kante seines Stuhles. »Ich werde Sie ihm schon vorstellen, Mr. Foster.« »Paschik – was wollten Sie in dem Haus dort?« Seine braunen Augen sahen mich kummervoll an. »Sie glauben es mir ja doch nicht, wenn ich es Ihnen sage, Mr. Foster.« Er nahm die Brille ab und putzte sie. »Aber Sie sagen ja gar nichts«, erwiderte ich. »Warum erzählten Sie mir nichts davon, daß Sibley für das Propagandaministerium arbeitet? Sie müssen es gewußt haben.« »Woher wissen Sie es, Mr. Foster?« »Petlarow warnte mich vor jemandem, der versuchen würde, mir weiszumachen, man könne die Zensur umgehen. Dieser Jemand war Sibley. Warum warnten Sie mich nicht, wenn Sie es doch wußten?« »Und wenn ich Sie gewarnt hätte – hätten Sie mir 164
geglaubt, Mr. Foster? Sie hätten lediglich gedacht, ich versuche Sie am Wegschicken Ihrer Berichte zu hindern.« »Ja. Sie haben wohl recht. Entschuldigen Sie.« »Es spielt keine Rolle, Mr. Foster. Es liegt einfach daran, daß Sie mich nicht mögen.« Er setzte seine Brille auf und starrte mich an. »Ich bin daran gewöhnt, daß man mich nicht mag«, setzte er hinzu. »Es kränkt mich nicht mehr.« Ich war peinlich berührt, aber eine Antwort blieb mir erspart, denn die grauhaarige Frau erschien in der Tür, nickte Paschik zu und sagte etwas. Er stand auf und wandte sich an mich. »Mein Freund möchte mich einen Augenblick privat sprechen«, sagte er. »Vielleicht warten Sie solange, Mr. Foster.« Er nahm seine Aktentasche und ging aus dem Zimmer. Ich setzte mich. Bis zu diesem Augenblick war mir leidlich wohl gewesen. Jetzt hatte ich plötzlich wieder den Geruch des Toten in der Nase. Mir wurde übel und schwindlig. Ich steckte meinen Kopf zwischen die Knie und versuchte an andere Dinge zu denken. Wenn Paschik vorhin nicht auf der Szene erschienen wäre, so wäre ich eiligst in mein Hotel zurückgekehrt, hätte mir ein paar große Brandy zu Gemüte geführt, eine Schlaftablette genommen und wäre zu Bett gegangen. Statt dessen saß ich nun in einem fremden Zimmer in einem fremden Hause und war 165
verzweifelt, weil ich jeden Kontakt mit der Wirklichkeit verloren hatte. Ich hätte in diesem Augenblick alles darum gegeben, wieder daheim in London zu sein und ruhig auf meine Art die Arbeit zu tun, die ich verstand. Mir war klargeworden, daß die verspätete Reaktion auf den Schrecken, in einem dunklen Zimmer eine verwesende Leiche zu finden, nur die Oberfläche meines Unbehagens war. Darunter lagen noch andere Ängste. Ich hatte vorgehabt, über den Prozeß und die Verurteilung eines Unschuldigen zu schreiben. Und nun mußte ich trotz der rechtswidrigen Prozeßführung mit der unangenehmen Möglichkeit rechnen, daß der Unschuldige vielleicht nicht ganz so unschuldig war, daß der Unsinn, den Prochaska zusammenschwatzte, sich vielleicht auf Tatsachen stützte, daß die zitternden Hände des Diabetikers Deltschev vielleicht brüderlich die Hände der Schatewmörder gedrückt hatten. Und das Schönste war: ich wollte die Wahrheit eigentlich gar nicht erfahren. Petlarows Lebensmittelhändler, dachte ich erbittert, stand keineswegs allein mit seinem schlechtinformierten Mißbehagen. Auch der große Journalist, der Streiter für Wahrheit und Gerechtigkeit, hatte vom Gestank der Korruption einen Hauch verspürt und schon die Nase voll. Merkwürdig, wie ich plötzlich auf Gerüche achtete. Sie ersetzten das Nachdenken und das Kombinieren. Der Gestank der Leiche, Paschiks Ausdünstung, der Geruch der Möbelpolitur in Deltschevs Haus – diese Düfte gehörten zusammen. 166
Und die andern Sinne unterstutzten meine Nase: ich schmeckte den Slibowitz, den ich mit Sibley getrunken hatte, ich spürte den Schmerz in meiner Schulter, als mich der Posten mit dem Gewehrkolben stieß, ich sah Petlarows falsche weiße Zähne und hörte den Klang seiner Stimme, als er sagte: ›Manche Dinge, die gegen ihn vorgebracht werden, sind vielleicht gar keine Lügen; manche Dinge könnten wahr sein.‹ Gewisse unangenehme Gedanken ließen sich jetzt nicht mehr länger verdrängen. Ich erhob mich und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Wenn man einmal das Unglaubliche als wahr annahm, nämlich, daß Deltschev schon seit Jahren ein Mitglied der Bruderschaft des Offizierskorps war, dann erhellte das einige dunkle Punkte seines Lebens. Als erstes erklärte es die unerklärliche Wahlaffäre. Deltschev mußte so und nicht anders handeln, nicht weil er es für richtig und notwendig gehalten hatte, nicht weil er ein Heiliger war, auch nicht weil er bestochen worden war: nein, einfach, weil er dem Befehl der Bruderschaft gehorchte. Das würde auch sein Schweigen motivieren. Man konnte sich, wenn auch nicht ohne Schwierigkeit, erklären, wie ein nüchterner, unbedeutender Postminister zum Führer einer heimlichen nationalistischen Revolutionsbewegung werden und endlich die Macht ergreifen konnte. Sogar die ›Fußball-Affäre‹ ließ sich in diesem Zusammenhang verstehen: die fanatische natio167
nalistische Bruderschaft hatte aus Angst vor der wachsenden Volkspartei den rechten Zeitpunkt für die Wahlen nicht genutzt und beauftragte nun ihr willenloses Werkzeug Deltschev, die Stellung zurückzuerobern. Napoleon III. hatte mehr für die Carbonari getan. Außerdem – hatte nicht sogar Petlarow zugegeben, daß vielleicht Macht Deltschev verführen könnte? Auf phantastische Weise paßte alles zusammen. Man konnte zwar einwenden, daß der Jurist Deltschev zur Entstehungszeit der Bruderschaft noch nicht als Mitglied in Frage gekommen wäre; aber so groß war schließlich der Standesunterschied zwischen Armee-Offizieren und Akademikern auch nicht. Er hätte sehr wohl ein Mitglied sein können. Idealistische junge Menschen treten oft Gesellschaften bei, die vorgeben, sich dem Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit zu weihen; und ebensooft bereuen sie später, daß sie beigetreten sind. Wann mochte Deltschev wohl begonnen haben, diese seine Bindung zu bereuen? Dann fiel mir ein anderer Einwand ein: wenn die Bruderschaft Deltschev unterstützt hatte – warum hatte sie dann auch mit der deutschen Besatzungsmacht zusammengearbeitet? Ich ließ diesen Einwand schnell wieder fallen: denn welchen besseren Deckmantel hätte es für die Umsturzbestrebungen der Bruderschaft geben können, als eine zögernde Zusammenarbeit mit der deutschen Wehrmacht? Nicht mit der bösen und mißtrauischen Gestapo, wohlgemerkt, sondern mit der Wehrmacht? Es würde interessant sein, et168
was über die Männer zu erfahren, welche die Politik der Bruderschaft machten. Vielleicht brachte der Prozeß es an den Tag? Aber inzwischen hatte Deltschevs Tochter einen Brief in eine armselige Wohnung geschickt, in der ein Ermordeter lag. Ich dachte darüber nach. Wer war Valmo? Katerinas ältlicher Liebhaber? Das bezweifelte ich. Diese schlaue junge Dame hatte mir einen Whisky angeboten in der Annahme, das sei die richtige Geste gegenüber einem nervös-reizbaren Reporter. Und sie hatte gesagt, der Brief sei für einen jungen Mann, weil sie hoffte (und damit hatte sie schon recht gehabt), dadurch das Herz eines zögernden Briefschmugglers zu erweichen. Hätte ich genug Geistesgegenwart gehabt, so hätte ich mich im Mordzimmer nach den Spuren einer Beziehung zu Katerina umgesehen, etwa nach einem Bild, oder nach einem Brief mit ihrer Handschrift. Einem Brief … und damit kehrten meine Gedanken wieder zu Paschik zurück. Ich hatte Paschik falsch beurteilt. Ich hatte ihn für einen Pechvogel gehalten, für einen überängstlichen Burschen, der sich zwangsläufig in ein Gewebe von Notlügen verstrickt hatte. Es war mir nicht im Traum eingefallen, daß er mehr als Dinge von privater Wichtigkeit zu verbergen haben könnte. Nun mußte ich die Tatsache in Betracht ziehen, daß er nicht nur ganz ungerührt mit Leichen umgehen konnte, sondern daß auch sein Getue mit der ›Vorsicht‹ alles andere war als altjüngferliche Furchtsamkeit, der ich es zugeschrieben hatte. 169
Mit einem Ruck wurde ich aus dem kuhhaften Wiederkäuen meiner Gedanken herausgerissen. Ich begann, klar zu sehen. Wenn Paschik, ehe er in jenes Haus kam, gewußt hatte, daß dort ein Toter lag, warum mußte er jetzt auf einmal so dringend seinen Freund von einer ›Sonderabteilung der Polizei‹ zu Rate ziehen? Antwort: weil ich dort gewesen war; weil ich die Leiche gesehen hatte; weil ich Paschik gesehen hatte; weil ich gewisse Schlüsse gezogen hatte; weil ich vielleicht unvorsichtig sein könnte. Ich war bisher im Zimmer auf und ab gegangen. Nun hielt ich inne und ging dann zur Tür. Aus einem anderen Teil der Wohnung hörte ich Stimmengemurmel. Ich sah auf meine Uhr. Vor fünf Minuten war Paschik hinausgegangen. Plötzlich wußte ich, daß es gescheiter wäre, mich jetzt davonzustehlen, statt auf Paschiks Freund zu warten. Ich zögerte einen Augenblick, dann hatte ich meinen Entschluß gefaßt. Ich legte meine Hand an den Türknopf und wollte ihn vorsichtig umdrehen. Er rührte sich nicht. Ich fing an zu ziehen. Die Tür bewegte sich nicht. Ich war eingesperrt.
11 Ein paar Sekunden stand ich da und sah blöde die Tür an, als erwartete ich, daß sie sich von selbst auftäte. Es ist ein höchst ungewöhnliches Gefühl, sich 170
plötzlich in einem Zimmer eingesperrt zu finden und zu wissen, daß es weder zufällig passiert sein kann noch daß es sich um einen dummen Witz handelt. Ich war ganz verwirrt und kann auch nachträglich meine Empfindungen nicht gut schildern. Jedenfalls war ich wütend und erschrocken und niedergeschlagen, alles zugleich. Dann brach mir der Schweiß aus. Ich versuchte nochmals, die Tür zu öffnen, dann drehte ich ihr den Rücken zu. Das Zimmer sah plötzlich ganz anders aus, sehr groß und sehr leer, und ich nahm auf einmal jede Einzelheit wahr. Alles war ganz vertraut und doch stimmte irgend etwas daran nicht. Während ich hin und her gegangen war, hatte ich eine Schnur bemerkt, die an einer Ecke des Teppichs eine Schlinge bildete. Nun fiel sie mir wieder ins Auge, da ich auf dem Dielenbrett direkt daneben stand. Ich überlegte, ob ich gegen die Tür hämmern und verlangen sollte, daß man mich sofort hinauslasse, oder ob ich ruhig sitzen bleiben sollte und so tun, als hätte ich gar nicht bemerkt, daß ich eingesperrt worden war. Ganz in Gedanken bückte ich mich, um die Schnur aufzuheben. Ich wollte meine Finger mit etwas beschäftigen. Ich hob die Schnur hoch – aber die Ecke des Teppichs kam mit. Die Schnur war durch den Rand gezogen und an ihr war ein Etikett befestigt. Auf dem Etikett standen ein paar Zahlen und ein gedruckter Name, offenbar der des Händlers, der den Teppich verkauft hatte. Es war ein kostbares Stück, ein Sparta, und doch hatte 171
der Besitzer sich nicht die Mühe gemacht, das Preisschild zu entfernen. Er hatte es einfach unter die Ecke des Teppichs geschoben. Das wunderte mich. Ich ließ den Teppich los und nahm meinen Spaziergang durchs Zimmer wieder auf. An der Wand neben dem Fenster stand ein Zierschränkchen. Ich zog eine Schublade auf. Sie enthielt nichts als eine Messingschraube und etwas Staub. Ich probierte die anderen; sie waren alle leer, bis auf eine, in der ein Preisschildchen des gleichen Händlers lag, der den Teppich geliefert hatte. Ich ging rasch herum und besah das Holz der Stühle. Sie waren offenbar viel benutzt worden, und dennoch sahen sie unbenutzt aus. Und plötzlich wußte ich, was mir an dem Raum bekannt vorgekommen war: er war genau wie ein Bühnenbild, wenn sämtliche Möbel gerade hereingebracht und auf die vorgeschriebenen Plätze gestellt worden sind. Im gleichen Augenblick hörte ich draußen im Gang Schritte und Stimmen. Ich setzte mich hin. Sie kamen zur Tür. Dann entstand eine kleine Pause. Ich wußte warum. Die Person, welche die Tür öffnen wollte, versuchte vorsichtig, Türfalle und Schlüssel gleichzeitig herumzudrehen, um mit dem Geräusch der Türfalle das Geräusch des Aufschließens zu verdecken. Wenn ich nicht bemerkt hatte, daß ich eingesperrt gewesen war, wollten sie mir nichts davon sagen. Mein Herz schlug schneller. Die Tür ging auf. Paschik zögerte etwas, dann kam er herein. Langsam folgte ihm ein kleiner Mann in 172
einem weiten Rohseidenanzug mit schwarzem Schlips. Ich stand auf. Paschik legte mir die Hand auf die Schulter und umhüllte mich förmlich mit einem breiten Lächeln. »Herr Foster«, sagte er auf deutsch, »darf ich Sie mit Herrn Valmo bekanntmachen?« Ich hatte keine Zeit, diese Überraschung zu verdauen. Der andere Mann trat mit höflichem Lächeln vor und streckte mir zögernd die Hand hin. »Sehr erfreut, Herr Foster«, sagte er. Er war etwa fünfzig, klein und sehr schlank, das dünne, zurückweichende graue Haar aus der sonnenverbrannten Stirn gebürstet. Er hatte ein dünnes, spitzes Gesicht mit großen blaßblauen Augen und einem Ausdruck, den man als grausam oder leicht belustigt oder beides zugleich deuten konnte. Er sah aus wie ein Ballettänzer, der sich zur Ruhe gesetzt hatte und ein erfolgreicher Impresario geworden war. In seiner Hand lag Katerina Deltschevs Brief. Geöffnet. »Herr Valmo?« fragte ich. Er lächelte. »Ich glaube, mein Herr, wir sind Ihnen eine kleine Erklärung schuldig.« Seine Stimme war ruhig und etwas eintönig. »Ich konnte Ihnen nichts erklären, Herr Foster«, fiel Paschik ein. »Es wäre ein Vertrauensbruch gewesen.« »Bitte, setzen Sie sich, Herr Foster – und auch Sie, mein lieber Paschik. Zigarette? Ach so, Sie rauchen bereits. Wie Ihnen unser Freund Paschik 173
schon sagte, bin ich – nun, man könnte sagen, eine Art Polizeibeamter, ein sehr« – er machte eine wegwerfende Geste mit der Hand –, »nun, ein sehr geheimer Polizeibeamter.« Die Frau erschien mit einem Tablett in der Tür, und er wandte sich um. »Ja, komm nur herein, Mentscha. Stell es dorthin.« Er sah mich wieder an, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich mir gegenüber. »Kaffee und etwas Slibowitz, Herr Foster. Sie haben ein recht aufregendes Erlebnis gehabt, wie mir unser gemeinsamer Freund hier berichtete. Danke, Mentscha. Mach die Tür zu. Und jetzt«, fuhr er fort, als sie hinausgegangen war, »müssen Sie sich zuerst ein wenig beruhigen. Nehmen Sie den Slibowitz in den Kaffee?« »Danke sehr.« Paschik saß ehrerbietig da, wie bei einer Konferenz seiner Vorgesetzten. Seine Hand, die die Zigarette hielt, zitterte leicht. Valmo gab mir eine Tasse und sprach weiter, während er die beiden anderen Tassen füllte. »Nur um eines muß ich Sie bitten, Herr Foster«, sagte er, »nämlich: daß Sie alles, was ich Ihnen jetzt erzählen werde, streng vertraulich behandeln.« Er reichte Paschik eine Tasse, aber sein Blick ruhte auf mir. »Paschik erzählte mir, daß Sie der Regierung hier nicht freundlich gesinnt sind. Das kann ich verstehen. Aber ich bin kein Politiker. Ich bin Beamter. Unser Land ist der Herd vieler Verschwörungen gegen Recht und Ordnung, und es ist meine Aufgabe, diese Verschwörungen unschädlich zu machen. Kann 174
ich sicher sein, daß Sie mein Vertrauen nicht mißbrauchen werden, Herr Foster?« »Ja«, sagte ich. Ich probierte den Kaffee. »Sehr gut.« Er stellte seine Tasse hinter sich auf den Tisch, dann beugte er sich zu mir vor, die Ellbogen auf den Knien und die Hände zusammengelegt. »In meiner Eigenschaft als Polizeibeamter, Herr Foster, hatte ich die Aufgabe, die Täter zu suchen, die kurz vor Herrn Deltschevs Verhaftung das Bombenattentat auf ihn verübt hatten. Ich stellte Nachforschungen und Untersuchungen an. Man vermutete, daß die Verbrecher die Familie Deltschev überwachten, und gewisse Mitglieder der Familie arbeiteten mit mir zusammen, um sie zu identifizieren. Ich sagte Ihnen schon, daß meine Tätigkeit völlig unpolitisch ist. Der Prozeß gegen Herrn Deltschev befreit mich nicht von der Pflicht, die Attentäter aufzuspüren. Das verstehen Sie doch?« Ich nickte. »Aus Gründen, mit denen ich Sie nicht behelligen will«, fuhr er fort, »war es für mich notwendig, in der Straße des Patriarchen Dimo einen Agenten einzusetzen. Einfachheitshalber und zugleich als Kennwort gebrauchte der Agent meinen Namen. Nun ja! Vor drei Tagen berichtete er mir, daß er eine Spur der gesuchten Attentäter gefunden habe. In der Nacht darauf ist er ermordet worden.« Er machte eine Kunstpause. »Wer hat den Toten gefunden?« fragte ich. Er starrte mich einen Augenblick an. Dann wandte 175
er sich um und griff wieder zu seiner Kaffeetasse. »Ich selbst, Herr Foster«, sagte er schlicht. »Doch lassen Sie mich fortfahren. Der Agent hatte schriftliche Beweise gegen die Verschwörer gesammelt und in jenem Zimmer versteckt. Ich bemerkte, daß dieses Beweismaterial von den Mördern nicht gestohlen worden war. Daraus schloß ich, daß sie nichts davon wußten. Sie würden sicher zurückkehren, sobald sie erführen, daß solche Beweise existieren. Also ersetzte ich die echten durch gefälschte und wartete.« »Sie meinen, Sie versteckten Posten im Haus, um den Mörder zu fangen, sobald er käme?« Er lächelte milde und schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, Sie kennen die Patriarch-Dimo-Straße nicht, Herr Foster«, sagte er. »Ein solches Geheimnis wäre dort nicht zu wahren. Nein. Ich stellte eine ganz andere Falle. Ich wollte nämlich den Verschwörern nur die gefälschten Beweise in die Hände spielen. Und ich hatte alle Ursache anzunehmen, daß dies auch gelungen war. Heute abend nun bat ich Herrn Paschik, der mein Freund und manchmal auch mein Helfer ist, in das Haus zu gehen und sich davon zu überzeugen.« Er spreizte wie ein Taschenspieler die Hände. »Und wen findet er dort? Sie, Herr Foster.« »Mit einem an Sie adressierten Brief – Herr Valmo.« »Ganz recht. Katerina Deltschev hatte sich an ein wichtiges Beweisstück erinnert. Sie schrieb mir, um mir das mitzuteilen.« »Durch Ihren Agenten, Herr Valmo.« 176
»Natürlich. Denn meine Adresse hier ist streng geheim, Herr Foster. So, nun wissen Sie, wie es passiert ist, und wie sehr wir auf Ihre Diskretion angewiesen sind.« Er lehnte sich lächelnd zurück, knipste sein Feuerzeug an und hielt Katerinas Brief in die kleine Flamme. Als er Feuer fing, lächelte Herr Valmo wieder. »Ich bin überzeugt, daß Sie das jetzt wissen«, fügte er hinzu. Ich kombinierte. Er hätte seine Sache schon besser machen müssen … Dieser Mann, der sich Valmo nannte und sich als Geheimpolizist ausgab, hatte von Anfang an gewisse Vorteile gehabt; er sah nicht aus wie der typische Geheimpolizist aus dem Kriminalroman. Wäre er weniger direkt gewesen, so hätte er sogar überzeugend wirken können. Ein Geheimpolizist, der geheimnisvoll ist – das ist nie unwahrscheinlich. Aber dieser Mann hatte die Löcher in seinem Lügengewebe gesehen und hatte versucht, sie zu stopfen, statt sie ruhig offenzulassen. Zum Beispiel: Mit dem Hinweis auf die offizielle Verbindung zwischen dem Hause Deltschev und der PatriarchDimo-Straße war Katerinas Brief nicht genügend erklärt. Valmo hatte nun – wenig überzeugend – hinzugefügt, sie habe sich eines wichtigen Beweisstückes erinnert. Besser wäre gewesen, mich den Fehler selbst finden zu lassen. Auf meine Frage hätte er dann mit wissendem Kopfschütteln sagen können, er halte sich leider nicht für befugt, darauf eine Antwort zu geben. Und das wiederum hätte mich an der plumpen Frage gehindert, die ich ihm stellte. 177
»Herr Valmo«, sagte ich, »ich verstehe nur eines nicht: warum mußte sich Fräulein Deltschev, die unter Hausarrest steht, an mich wenden, um dem Leiter der Geheimpolizei einen Brief zuzuschmuggeln? Warum hat sie ihn nicht einfach einem der Posten gegeben?« Er zerdrückte die Asche des Briefes auf dem Tablett. »Sie ist ein Mädchen. Zweifellos hatte sie Angst, ich würde ihn nicht bekommen.« »Nun, mir schien sie mehr wegen der Zensur besorgt, als aus anderen Gründen. Sie ließ mich feierlich versprechen, daß ich den Brief nur persönlich abgeben würde.« »Ja, die Gefangenschaft hat auf manche Menschen eine eigenartige Wirkung.« »Werden Sie nun zu ihr gehen?« »Es könnte nötig sein. Ich weiß noch nicht.« Jetzt wurde er verwirrt und ungeduldig. Dann riß er sich zusammen. »Aber diese Dinge sind jetzt nicht wichtig, Herr Foster. Es ist Ihre Einstellung, über die wir uns klarwerden müssen.« »So?« »Ich habe Ihnen eine Menge streng vertraulicher Informationen gegeben. Sie müssen, bitte, auch streng vertraulich behandelt werden.« Seine hellen Augen sahen mich fest und kalt an. »Ich will ganz ehrlich sein, Herr Foster: wären Sie nicht ein so bekannter Journalist, so hätten wir Sie vielleicht für eine kurze Zeitspanne ins Gefängnis gesteckt, um Ihrer Diskretion sicher zu 178
sein. Jedoch das brauchen wir nicht zu diskutieren. Sie haben mir ja bereits versichert, daß Sie diskret sein werden. Nun verlange ich von Ihnen noch, daß Sie mir drei Dinge versprechen. Erstens« – er hob einen Finger –, »daß Sie nicht nach der Patriarch-Dimo-Straße 9 zurückkehren oder zu jemandem davon sprechen; zweitens, daß Sie das Haus Deltschev nicht mehr besuchen; drittens, daß Sie auch keinen Versuch machen, dieses Haus hier wiederzufinden, und daß Sie seine Existenz und auch meine vergessen.« Ich antwortete nicht gleich. Jetzt wußte ich, worüber Valmo und Paschik geredet hatten, während ich eingesperrt hier saß und wartete. Und ich verspürte nur den einen Wunsch, so schnell wie möglich von hier wegzukommen. Aber ich sah ein, daß sie sich nicht sicher fühlen würden, wenn ich ihnen meine Furcht verriete und den Bedingungen allzuschnell zustimmte. Beide beobachteten mich scharf. Ich runzelte nachdenklich die Stirn, dann sah ich auf und nickte. »Gut«, erwiderte ich kurz. »Ich bin einverstanden. Und nun möchte ich gern noch einmal einen Slibowitz, wenn Sie nichts dagegen haben.« Valmo stand auf. »Aber selbstverständlich«, sagte er gleichgültig. Er goß mir ein kleines Glas ein. Er konnte es jetzt kaum erwarten, mich loszuwerden. »Herr Paschik?« »Nein, danke.« Sie standen beide und sahen mir zu, während ich 179
langsam an meinem Slibowitz nippte. Das war der einzige erfreuliche Augenblick für mich an diesem ganzen Abend, und er dauerte ungefähr zehn Sekunden. Als ich das erste Schlückchen nahm, hörte ich die Korridortür auf- und zugehen, und gleich darauf Schritte im Gang. »Das ist mein Bruder«, sagte Valmo rasch. Dann ging die Tür auf, und ein junger Mann kam ins Zimmer. Er sah mich und blieb stehen. »Guten Abend, Jika«, sagte Valmo. »Wir haben eine kleine geschäftliche Besprechung. Ich komme gleich zu dir hinüber.« Er war ungefähr fünfundzwanzig, dunkel und offenbar sehr müde. Er trug einen Regenmantel und sein Haar war zerzaust, als sei er in einem offenen Wagen gefahren. Er musterte uns mißtrauisch und rührte sich nicht. Dann wandte er sich langsam um und ging durch die Tür. »Aber laß mich bitte nicht lange warten, Aleko«, sagte er, »ich habe etwas für dich.« Ich hob mein Glas wieder zum Mund. Ich blickte Paschik nicht direkt an, aber ich konnte sein Gesicht sehen. Es war fahlgelb wie Lehm. Er wußte, daß ich die Notiz über ›Aleko‹ in seinen DeltschevAkten kannte und hatte nun aus irgendwelchen Gründen schreckliche Angst, daß ich mich daran erinnern könnte. Aleko selbst wartete ungeduldig darauf, daß ich mein Glas austrank. Es hatte ihn nicht merklich aufgeregt, daß sein Vorname gefallen war. Aber die Situation war heikel. Ich hatte etwas 180
gesehen, das ich nicht hätte sehen sollen, aber Paschik war nicht sicher, ob es mir bewußt geworden war. Hauptsache war, daß ich aus dieser Wohnung kam, ehe er sich zu einem neuen Entschluß aufgerafft hatte. Ich trank also meinen Slibowitz und streckte Aleko die Hand hin. »Vielen Dank, Herr Valmo – und adieu.« Er lächelte liebenswürdig. »Ich hoffe, Ihr Aufenthalt hier wird noch recht angenehm sein, Herr Foster«, sagte er. Ich wandte mich zu Paschik. »Bitte, würden Sie mich in mein Hotel zurückfahren, Paschik?« »Ja, Mr. Foster, ja«, sagte er mit belegter Stimme. Wir gingen durch den Korridor zur Wohnungstür. Aleko begleitete uns bis zum Aufzug. Aleko schüttelte mir nochmals die Hand. »Sie haben mir gefallen, Herr Foster«, erklärte er. »Und das ist für mich etwas ganz Neues – bei einem Journalisten. Ich habe Vertrauen zu Ihnen. Adieu.« Er benahm sich, als schicke er einen vielversprechenden jungen Tänzer auf seine erste Auslandstournee. Paschik war schon im Aufzug. Ich trat zu ihm. Schweigend fuhren wir hinunter. Erst als wir in seinem Wagen und draußen auf der Straße waren, brach ich das Schweigen. »Aleko Valmo«, sagte ich. »Ein merkwürdiger Name.« »Hierzulande ziemlich gebräuchlich, Mr. Foster«, antwortete er ruhig. 181
Er war also zu der Überzeugung gekommen, daß ich den anderen Namen vergessen hätte. Meine Gefühle für Paschik waren nicht gerade freundlich, und ein paar Sekunden spielte ich mit dem Gedanken, ihn plötzlich zu fragen: ›Wie war das doch, Paschik, mit dem Fall K. Fischer, Wien, 1946, und was hatte Aleko damit zu tun?‹ Aber dann unterließ ich es. Wir sprachen nichts mehr, bis er vor meinem Hotel vorfuhr. Als ich aussteigen wollte, legte er mir die Hand auf den Arm und seine braunen Augen suchten die meinen. »Mr. Foster«, sagte er, »Sie hatten heute abend ein sehr häßliches Erlebnis, und zweifellos möchten Sie es vergessen. Das heißt, wenn Sie klug sind.« Ich antwortete nicht. Er begann wieder durch die Blume zu reden. »Ich möchte Ihnen bloß sagen, daß ich Ihre Gefühle verstehe und teile. Aber Sie haben Ihren eigenen Beruf und brauchen sich kein Kopfzerbrechen darüber zu machen, was fern von Ihrer Heimat ein paar Gaunern und Schmarotzern passiert. Überall in der Welt sterben Menschen für die Ideen, an die sie glauben. Sie können ihre Kämpfe nicht führen, Mr. Foster.« »Das heißt, ich solle mich lieber um meine eigenen Angelegenheiten scheren, nicht wahr?« fragte ich. »Aber ich bitte Sie, Mr. Foster!« Er breitete die Hände aus. »Jetzt sind Sie böse auf mich.« Ich war erbittert. »Ich bin nicht böse auf Sie, Pa182
schik. Ich will Sie lediglich dazu bringen, mir geradeheraus zu sagen, was Sie meinen, ohne alle diese Anspielungen. Ich nehme es Ihnen nicht krumm, wenn Sie mir den Rat geben, mich um meinen Kram zu scheren. Das geht in Ordnung. Wenn mir Ihr Rat nicht paßt, brauche ich ihn ja nicht zu befolgen. Ich bin immer noch fähig, selbst zu beurteilen, was mein eigener Kram ist und was nicht. Ich führe keine Kämpfe. Ich will nur herauskriegen, was hier eigentlich gespielt wird.« »Das meine ich ja gerade, Mr. Foster. Das sollten Sie lieber nicht versuchen!« »Meinen Sie, es würde mir doch nicht gelingen?« Er sah von mir weg und fingerte nervös an seinem Steuerrad. »Jetzt zwingen Sie mich, offen zu sein, Mr. Foster.« »Nun, und? Was haben Sie gegen Offenheit? Warum muß sie erst erzwungen werden?« »Sie sagen, Sie führen keine Kämpfe, Mr. Foster«, erklärte er dann ruhig, »aber ich sage Ihnen eines: Sie laufen wie ein Narr zwischen zwei feindlichen Kräften spazieren, die Kämpfe führen. Und das ist einfach verrückt. Ich erlebte vor Jahren einmal in Wien Straßenkämpfe zwischen dem Militär und Rebellen. Die Kämpfe dauerten viele Tage. Eine Straße lag im Feuerbereich beider Parteien und keine kam voran. Da passierte eines Nachmittags etwas ganz Sinnloses, wie das im Krieg manchmal vorkommt. In diese leere, stille Straße kam ein Mann. Zuerst hörten wir seine Schritte. Dann sahen wir 183
ihn. Er stolperte aus einer Seitengasse direkt bis auf die Mitte der Straße und blieb dort schwankend stehen. Er gehörte zu keiner der beiden kämpfenden Parteien. Er war betrunken und wußte nicht, wo er war und was er tat. Er fing an zu singen und zu winken und nach einem Mädchen zu rufen. Zuerst lachten die Soldaten und schrien ihm faule Witze zu. Doch nach einer Weile merkte der Offizier, daß die Feinde aus dieser Ablenkung Vorteil zogen und einzeln und paarweise im Hintergrund über die Straße liefen, um die Truppen zu umgehen. Er rief eine Warnung, er eröffnete das Feuer. Der Feind antwortete mit Feuerschutz, und die Straße wurde von einem Ende bis zum andern mit Maschinengewehrkugeln abgefegt. Der Betrunkene wurde sofort getötet. Verstehen Sie mich, Mr. Foster?« »Auf welcher Seite waren Sie?« »Damals war ich Soldat. Ich bin schon vieles gewesen, Mr. Foster.« »Wem sagen Sie das! Nicht wahr, der Grund, warum Freund Valmo nicht wünscht, daß ich das Deltschevsche Haus nochmals betrete, ist doch einfach der: er möchte vermeiden, daß ich mir von Katerina Deltschev seine Geschichte bestätigen lasse – oder?« »Ich weiß es nicht, Mr. Foster. Aber solange Sie Ihr Wort halten, spielt es keine Rolle. Um eines muß ich Sie jedoch ganz persönlich bitten. Ich hielt es für sicherer, Ihre Verbindung mit Petlarow nicht zu erwähnen; es hätte die ganze Sache nur kompli184
ziert. Nun darf aber Petlarow von alledem nichts erfahren. Auf keinen Fall. Auch Mr. Sibley nicht. Das ist wirklich sehr wichtig.« »Gut. Abgemacht.« Ich war jetzt der ganzen Geschichte müde. Ich wollte zu Bett gehen. Paschik streckte nochmals die Hand aus, als ich die Wagentüre öffnete. »Sie werden über das nachdenken, was ich Ihnen sagte, Mr. Foster?« Seine Stimme klang ängstlich. »Ich bitte Sie darum – zu Ihrem eigenen Besten.« Ich stieg aus. »Auf alle Fälle werde ich sehr nüchtern sein, das verspreche ich Ihnen. Gute Nacht.« Ich wollte die Wagentür zuschlagen. Er beugte sich seitwärts und hielt sie offen. Seine Brillengläser blitzten im Lichtschein, der aus dem Hotelportal fiel. »Ich hoffe es«, sagte er sehr langsam. »Falls Sie aber nicht beabsichtigen, meinen Rat anzunehmen, Mr. Foster, so dürfte es für Sie erheblich schmerzloser sein, wenn Sie sich betrinken. Gute Nacht.« Dann schloß er die Tür und fuhr weg. In dieser Nacht schlief ich nicht gut.
12 Am vierten Prozeßtag erfolgte die Beweisaufnahme über Deltschevs Verbindung mit der Bruderschaft. Als die Sitzung eröffnet wurde, betrat als erster 185
ein Mann namens Kroum den Zeugenstand. Er war etwa fünfzig, mit kahlem Kopf und Brille, eine aufrechte, militärische Erscheinung. Er sah schlau und brutal aus. Er gab an, Brigadier der Geheimpolizei des Innenministeriums zu sein. Er hatte sorgfältig Toilette gemacht, und seine ganze Art wirkte aufreizend selbstzufrieden. Prochaska begann sein Verhör in einer Art, die bei ihm ganz neu war. »Brigadier Kroum – wie lange sind Sie schon bei der Polizei?« »Seit dreißig Jahren, Herr Staatsanwalt.« »Und wie lange sind Sie auf Ihrem derzeitigen Posten?« »Seit zwölf Jahren, Herr Staatsanwalt.« »Sind Sie Mitglied irgendeiner politischen Partei?« »Nein, Herr Staatsanwalt.« »Haben Sie irgendwelche politischen Bindungen?« »Nein, Herr Staatsanwalt.« »Gar keine?« »Ich interessiere mich nicht für Politik, Herr Staatsanwalt. Ich mache meine Arbeit.« »Ein Musterbürger! Haben Sie jemals einen Menschen aus politischen Gründen verhaftet oder verhaften lassen?« »Der einzige Grund für eine Verhaftung ist, daß jemand das Gesetz übertritt oder verdächtigt wird, daß er es zu übertreten beabsichtigt. Ich mache die 186
Gesetze nicht. Es ist nur meine Pflicht, das verfassungsmäßige Recht durchzusetzen. Das ist die Pflicht eines jeden Polizeibeamten«, fügte er hinzu. Bei diesen Worten kicherte jemand in meiner Nähe; aber ich hatte den Eindruck, daß Brigadier Kroum ehrlich meinte, was er sagte. Prochaska sah auf ein Blatt Papier. »Im März«, sagte er, »oblag Ihnen die Verhaftung von acht Personen, die beschuldigt wurden, unerlaubten Handel mit präpariertem Opium getrieben zu haben. Stimmt das?« »Ich habe die Verhaftungen angeordnet, Herr Staatsanwalt.« »Haben Sie die Gefangenen vernommen?« Kroum zögerte. »Inoffiziell, Herr Staatsanwalt – und einzig zu dem Zweck, durch sie Informationen über die anderen Mitglieder der Bande zu bekommen. Die Verantwortung für die offizielle Vernehmung trägt natürlich der Polizeirichter.« »Sie haben sich also nicht die Befugnisse des Polizeirichters angemaßt, sondern taten nur Ihre Pflicht als Polizeibeamter. Stimmt das?« »Jawohl, Herr Staatsanwalt. Das stimmt.« »Aber Sie erweckten in den Verhafteten den Eindruck, daß sie offizielle eidliche Aussagen machten?« »Das ist manchmal notwendig, Herr Staatsanwalt.« Er hatte einen wulstigen Mund mit bösartigen Fältchen in den Winkeln. Es wäre bestimmt kein 187
angenehmes Erlebnis, von Brigadier Kroum vernommen zu werden. »War einer der Verhafteten ein Mann namens Rila?« »Jawohl, Herr Staatsanwalt.« »Haben Sie ihn auch verhört?« »Jawohl, Herr Staatsanwalt, das tat ich.« »Bitte, erzählen Sie dem Gericht etwas über diese Vernehmung.« »Jawohl, Herr Staatsanwalt. Dieser Rila ist ein der Polizei wohlbekannter Krimineller. Ein alter Mann, der schon viele Freiheitsstrafen hinter sich hat. Ich wußte, daß seine älteste Enkelin zum ersten Male schwanger war. Ich sagte ihm, dieses Mal würde er sicher im Gefängnis sterben und seinen Urenkel nie sehen – falls er aber der Polizei behilflich sei und ihr alles sage, was er wisse, könne ich ihm möglicherweise eine Erlaubnis erwirken, das Kind zu sehen.« Kroum blickte den Ankläger zweifelnd an. »Es ist gebräuchlich, den Verhafteten solche Belohnungen in Aussicht zu stellen. Damit wurden keine Vorschriften verletzt.« »Natürlich nicht. Fahren Sie bitte fort.« »Zuerst weigerte er sich. Er sagte, er wisse von nichts. Das Übliche.« Kroum bekam wieder Mut. »Am folgenden Tag aber, als ich ihn wieder besuchte, war er in zugänglicherer Verfassung. Er hatte mein Angebot überdacht und war nun sehr bedrückt. Nach einer Weile fragte er mich, ob ich ihn 188
vor möglichen Folgen seiner Aussage schützen könne. Auch das ist üblich, wenn Kriminelle ihresgleichen denunzieren«, fügte er vertraulich hinzu. »Ja. Bitte fahren Sie fort.« »Ich fragte ihn nach den Namen weiterer Bandenmitglieder. Er sagte, es gäbe keine anderen Bandenmitglieder, wir hätten sie alle gefaßt, und er könne uns über diesen Fall keine Informationen mehr geben. Aber er möchte seinen Urenkel sehen, und wenn wir ihm die Erlaubnis dazu gäben, so könne er uns dafür eine andere, sehr wichtige Information geben. Ich antwortete ihm, daß es vielleicht für die Erlaubnis reichen würde, wenn diese Information wirklich wertvoll sei.« »Fahren Sie fort.« »Dann erzählte er mir, daß eine Verschwörung zur Beseitigung des Ministers Vulkaschin bestehe, und daß die Verschwörer Mitglieder der Bruderschaft des Offizierskorps seien.« Er machte eine Pause. »Und das glaubten Sie ihm – diesem Verbrecher, der sich durch eine Denunziation ein Zugeständnis erkaufen wollte?« »Nein, Herr Staatsanwalt. Zuerst dachte ich, es sei weiter nichts als eine unverschämte Lüge, und schickte ihn in seine Zelle zurück. Doch dann dachte ich nach und entschloß mich, ihn nochmals zu fragen. Obwohl ich unsinnig fand, was er gesagt hatte, war doch schon die Andeutung so ernst, daß ich es für nötig hielt, sicherzugehen. Ich betrachtete es als meine Pflicht«, fügte er stolz hinzu. 189
»Ja, natürlich; und so befragten Sie ihn nochmals?« »Jawohl, Herr Staatsanwalt. Wieder bat er zuerst um Schutz, den ich ihm zusicherte. Und dann erzählte er mir eine merkwürdige Geschichte. Er wohnte in einem Haus im Maria-Louisa-Viertel. Einer seiner Hausgenossen war ein Mann namens Pazar.« Er machte eine Pause. Jetzt war er in seinem Fahrwasser und sprach wie ein erfahrener Polizeibeamter, nicht mehr wie ein beifallshungriger Funktionär. »Wir kennen das Haus«, fuhr er fort, »es ist ein Schlupfwinkel für allerlei Gesindel. Und weil wir das wissen, lassen wir es dabei bewenden. Aber jeder, der dort wohnt, ist automatisch verdächtig. Pazar jedoch war neu. Rila war neugierig auf ihn. Denn für Rila konnte jeder Neue ein Polizeispitzel sein. Also beobachtete er, was der Mann tat, und war wachsam. Anfangs entdeckte er nichts, als daß Pazar an gewissen Abenden den Besuch von drei oder vier Männern bekam, die im Maria-LouisaViertel unbekannt waren. Sie sahen nicht arm aus, und Rila grübelte, was sie wohl vorhätten. Wahrscheinlich hegte er die ganze Zeit den Glauben, in ein vorteilhaftes Geschäft einsteigen zu können; aber das leugnete er natürlich, als ich es andeutete. Er gab eine andere Erklärung. Jedoch –« »Einen Augenblick bitte, Brigadier Kroum. Was für eine andere Erklärung gab er Ihnen?« Kroum sah verlegen aus. »Er sagte, er sei ein alter Mann und interessiere sich bloß für die menschliche Natur, Herr Staatsanwalt.« 190
Ein paar Leute lachten. Prochaska schaute mißbilligend drein. »Bitte weiter«, sagte er kurz. »Jawohl, Herr Staatsanwalt. Ungefähr nach einem Monat, sagte Rila, habe Pazar ihn auf der Treppe angehalten. Er wollte ihn allein sprechen. Rila willigte ein, und sie gingen auf sein Zimmer. Nach vielem Drumherumreden sagte Pazar endlich, was er von Rila wollte. Jemand hatte ihm erzählt, daß Rila mit verbotenem Rauschgift handle, und Pazar brauchte nun etwas Heroin für einen Freund. Rilas erster Gedanke war, daß Pazar doch ein Polizeispitzel sei, und er stellte sich entrüstet. Aber nachdem sie noch eine Weile hin und her geredet hatten, kam Rila zu der Überzeugung, daß Pazar selbst heroinsüchtig war und das Zeug verdammt nötig brauchte. Über das, was nun folgte, sprach Rila vollkommen offen. Pazar hatte wenig Geld und wollte Kredit. Rila lehnte ab. Heroinsüchtigen Leuten Kredit geben – ebensogut konnte man das Zeug gleich wegschenken. Statt dessen wies Rila auf Pazars gutgekleidete Freunde hin und sagte, wenn er sich einmal so anziehen könnte, so würde er sich demjenigen, der ihm dazu verhülfe, gern dankbar erweisen. Mit anderen Worten, er verlangte einen Anteil an dem rentablen Geschäft, das Pazars Freunde seines Erachtens betrieben. Pazar lehnte ärgerlich ab und ging. Rila zuckte die Achseln und wartete. Pazar brauchte sein Rauschgift, und wenn er genötigt gewesen war, Rila darum zu bitten, dann bewies das, daß seine bisheri191
ge Versorgungsquelle aus irgendeinem Grunde versiegt war. Zwei Tage später kam Pazar wieder zu Rila, der seinen Preis wiederholte. Wieder lehnte Pazar ab, wurde aber diesmal nicht wütend, sondern versuchte, mit Rila zu verhandeln. Seine Freunde hätten nichts mit irgendwelchen Geschäften zu tun, sagte er. Sie seien Politiker. Er bat von neuem und Rila lehnte ab, bis Pazar ganz außer sich geriet. Er bat ihn auf den Knien, und als Rila ihn wegschicken wollte, brach er zusammen und weinte. Und dann kam er damit heraus: er und seine Freunde, die ihn besuchten, seien Mitglieder der Bruderschaft.« Kroum machte eine Pause. Jetzt hielt er die Zuhörer in seinem Bann. Es herrschte Totenstille. Er fuhr fort: »Zuerst glaubte ihm Rila nicht. Und als er anfing, ihm zu glauben, Wurde er sehr bedrückt. Die Kriminellen haben nie etwas für die Bruderschaft übrig gehabt. Sie grollten ihr, weil ihretwegen die Wachsamkeit der Polizei verschärft worden war, aber sie fürchteten sie auch. Es ist sonderbar«, fuhr Kroum nachdenklich fort, »einen Menschen, der um Geld mordet, verstehen sie ohne weiteres; aber die Mörder der Bruderschaft machen ihnen angst. Und Rila, dieser alte Verbrecher, sprach von der Bruderschaft, wie ein Junge von Dämonen und Gespenstern spricht.« »Ja, ja. Fahren Sie nur fort.« »Rila machte sich viel Kopfzerbrechen wegen Pazar, denn er kannte die Eigenheiten der Rauschgiftsüchtigen, wie ich schon sagte, und wußte, daß sie 192
verräterisch und rachsüchtig sind. Wenn er Pazar nicht nachgab und dieser seinen geheimnisvollen Freunden von der Bruderschaft erzählte, daß Rila um ihr Geheimnis wisse, dann war er in Gefahr. Also gab er Pazar etwas Heroin, damit dieser schwieg. Nach ein paar Tagen kam Pazar wieder und verlangte mehr, und bald darauf versorgte Rila ihn regelmäßig. Pazar pflegte in sein Zimmer zu kommen, und blieb dann dort und redete, und nach und nach wurde er weniger vorsichtig.« Immer wieder dieses Wort! Ich blickte Paschik an, der neben mir saß. Sein Gesicht blieb ausdruckslos, aber seine Hände waren verkrampft. Kroum hatte wieder eine Pause gemacht. Jetzt fuhr er bedächtig fort. »Eines Tages – Rila konnte sich des Datums nicht erinnern – begann Pazar ihm von etwas zu erzählen, was er ›das Geheimnis der Macht‹ nannte. Er sprach in Rätseln über dieses Geheimnis, aber Rila ließ ihn reden, und nach einer Weile zog Pazar eine Kugel für eine Maschinenpistole aus der Tasche. ›Das ist das Geheimnis der Macht, mein Freund‹, sagte er, ›denn dieses hübsche kleine Ding kann eine Revolution entfesseln.‹ Rila fürchtete sich zu fragen, was er damit meine, aber Pazar erzählte es ihm später von selbst: die Bruderschaft plane, Minister Vukaschin zu ermorden.« Der Ankläger nickte und sah zu den Richtern hinauf. »Dieser Rila hat eine eidesstattliche Erklärung gemacht, die alles bestätigt, was der Zeuge so193
eben dem Gericht erzählt hat«, sagte er. »Diese eidesstattliche Erklärung ist von ihm unterzeichnet und ist ordnungsgemäß beglaubigt.« Er nahm ein Aktenbündel auf. »Ich übergebe sie dem Gericht als Beweisstück in drei beglaubigten Abschriften.« Die Kopien wurden dem Gerichtsschreiber gegeben, der sie zur Tribüne hinaufbrachte. Der Vorsitzende Richter warf einen Blick auf die erste Seite, nickte ernst und sagte etwas. »Die Herren Richter nehmen das Beweisstück an«, sagte die Stimme des Dolmetschers, »und fordern den Ankläger auf, fortzufahren.« Prochaska wandte sich wieder zum Zeugenstand. »Brigadier Kroum, was unternahmen Sie, nachdem Sie von diesem Plan gehört hatten?« Kroum hatte seine Antwort parat. »Ich hielt es für meine Pflicht, dem Herrn Innenminister sofort Meldung zu machen, damit die Stellen, die für die Sicherheit von Minister Vukaschin verantwortlich sind, benachrichtigt werden konnten.« »Und dann?« »Dann ging ich daran, die Wahrheit von Rilas Geschichte zu prüfen.« »Hatten Sie sie bezweifelt?« Kroum gestattete sich ein nachsichtiges Grinsen. »Die Polizei pflegt mißtrauisch gegen Leute zu sein, die ihr helfen wollen«, sagte er, »besonders wenn sie durch diese Hilfe einen Vorteil zu erlangen hoffen.« »Gut. Sie forschten also nach. Und was entdeckten Sie?« 194
»Daß es in dem besagten Haus in Maria Louisa einen Mann namens Pazar gab; daß er hin und wieder den Besuch der geschilderten Gäste empfing; daß er im Ruf stand, rauschgiftsüchtig zu sein. Als kriminell war er nicht bekannt. Er soll einmal Schullehrer gewesen sein. Er hat sich seinen Lebensunterhalt auch als Sprachlehrer verdient.« »Und was unternahmen Sie dann?« »Es gab drei mögliche Erklärungen, Herr Staatsanwalt: erstens, daß Rila den Rest der Geschichte hinzugefügt oder daß Pazar sie erfunden hatte, um Rila Eindruck zu machen und das Rauschgift zu kriegen; zweitens, daß Pazar durch das Rauschgift geistig zerrüttet war und die Geschichte nicht nur erfunden hatte, sondern auch daran glaubte; drittens, daß sie der Wahrheit entsprach. Obwohl uns diese dritte Möglichkeit unwahrscheinlich vorkam, fanden wir, es könne nichts schaden, wenn wir entsprechend handelten. Daher beobachteten wir das Haus, um Pazars Gäste zu identifizieren und wenn möglich in Pazars Zimmer zu stellen. Am Abend des dritten Tages kehrte Pazar nicht zur gewohnten Zeit nach Hause zurück. Am selben Abend kam ein Mann ins Haus, in dem die Hausbesitzerin einen der regelmäßigen Besucher Pazars erkannte. Er ging geradewegs hinauf zu Pazars Zimmer im zweiten Stock. Natürlich bekam er keine Antwort auf sein Klopfen. Er wartete eine Weile. Dann entschloß er sich, wegzugehen. Als einer meiner Leute ihn anhielt, zog er sofort den Revolver und begann zu 195
schießen, wobei er zwei Polizisten verwundete. Dann versuchte er zu entkommen, wurde aber niedergeschossen. Man identifizierte ihn als einen Universitätsstudenten namens Eftib, der im Rufe stand, ähnlich fanatische Ansichten wie die Bruderschaft zu haben.« »Wurde er getötet?« »Leider starb er, ehe wir ihn verhören konnten, Herr Staatsanwalt.« »Fahren Sie fort.« »Die Tatsache, daß Pazar nicht heimgekehrt und nur Eftib zu der Zusammenkunft gekommen war, brachte uns auf die Vermutung, daß Pazar von unserem Vorhaben Wind bekommen und die Warnung an die anderen Verschwörer weitergegeben hatte. Diese Ansicht wurde noch dadurch bestätigt, daß Eftib seine Eltern auf dem Lande besucht hatte und erst abends zurückgekehrt war. Er hatte also keine Warnung erhalten. In jedem Fall war unser Interesse an dem Haus nun doch an den Tag gekommen, also betraten wir gleich Pazars Zimmer und untersuchten seine Habseligkeiten.« »Und was fanden Sie?« »Das vollständige Dossier einer Verschwörung zur Ermordung des Ministers Vukaschin während der Feier des Jahrestages; einen genauen Operationsplan und präzise Anweisungen an die fünf Männer, die ihn ausführen sollten.« Eine Welle der Erregung lief durch den Gerichtssaal. Prochaska sah zu den Richtern empor. »Ich bit196
te in dieser Angelegenheit um das Ermessen des Hohen Gerichts«, sagte er. »Ich habe das Dossier hier und will es mit Einverständnis des Gerichts als Beweisstück anbieten. Ich bitte jedoch um die Erlaubnis, den Teil zurückbehalten zu dürfen, der den genauen Plan des Attentats enthält. Dieser Plan ist sehr raffiniert und aus begreiflichen Gründen im Augenblick nicht zur Veröffentlichung geeignet. Er ist sowieso nicht wesentlich für die Sache des Anklägers.« »Die nachgesuchte Erlaubnis wird von den Richtern erteilt.« Ein dickes Aktenbündel wurde dem Gerichtsschreiber ausgehändigt. Dann fuhr Prochaska fort: »Der Zeuge drückte sich natürlich nicht ganz richtig aus, wenn er das, was er fand, als ›Dossier‹ bezeichnet. Er fand den Operationsplan unter dem Bretterboden und weitere Dokumente in anderen Verstecken. Alle diese Papiere wurden später zu einem Dossier zusammengestellt.« Der Vorsitzende Richter nickte. Prochaska wandte sich wieder an Kroum. »Ich muß Sie jetzt bitten, die verschiedenen Akten zu identifizieren. Nummer eins.« Er nickte dem Schreiber zu, der Kroum ein zusammengeheftetes Bündel reichte. Kroum sah es an. »Erkennen Sie diese Papiere?« fragte Prochaska. »Jawohl, Herr Staatsanwalt. Ich erkenne sie als diejenigen, die ich unter den Kacheln des Ofens in Pazars Zimmer fand.« 197
»Haben Sie schon vorher ähnliche Papiere gesehen?« »Jawohl, Herr Staatsanwalt. Es sind Eidesformeln. Sie werden bei der feierlichen Aufnahme in die Bruderschaft des Offizierskorps gesprochen. Ich habe sie sofort erkannt. Sie wurden heimlich bei einem Mitglied der Bruderschaft gedruckt, das inzwischen verstorben ist. Sein Name war Markoff. Er wurde verhaftet, verurteilt und im Jahre 1945 gehenkt. Diese Eidesformeln waren sein Werk.« »Lesen Sie dem Gerichtshof das Treuegelöbnis vor.« Kroum räusperte sich. Er sagte: »Die Überschrift lautet: bruderschaft des offizierskorps zum heiligen schutz aller verwandten familien und des geliebten vaterlandes, das ihnen leben und ehre gab. Dann folgt das Treuegelöbnis: Ich, Bruder X, der ich mich auf Befehl meines eigenen Herzens und Gewissens und aus keinem anderen Grunde dem Urteil meiner Brüder in der Ehre unterworfen habe, und der ich durch die Mischung meines Blutes mit dem ihren von der Mutter Gottes Absolution empfangen habe für alle Taten, die ich in ihrem Namen begehe: ich weihe hierdurch meine Seele und meinen Leib dem Dienste der Bruderschaft bis in den Tod. In der Erkenntnis, daß es zwischen Brüdern, die so besonders stark durch die Bande des Blutes verbunden sind, weder Hader 198
noch Bevorzugung noch Ungleichheit geben kann, schwöre ich bedingungslosen und sofortigen Gehorsam einem jeden Befehl, den ich von Brüdern empfange, denen durch die Versammlung der Brüder Befehlsgewalt gegeben ist; und sollte diese Befehlsgewalt jemals mir selbst übertragen werden, so schwöre ich, sie anzunehmen und getreulich auszuüben, im Bewußtsein, daß die Verantwortung von allen gleichermaßen getragen wird, und daß meine Treue gegen die Bruderschaft hoch über allen andern, privaten oder öffentlichen Gelübden und Pflichten stehen soll. Meine Belohnung für treulich geleistete Dienste soll die Achtung und Ehre meiner Brüder sein, und der Schutz, den sie mir und meiner Familie angedeihen lassen. Sollte ich aber die Bruderschaft betrügen oder sie in irgendeiner Art enttäuschen, so soll mein Sühnetod nur ein Teil des Preises sein, der für meinen Frevel gezahlt wird. Denn durch diesen Eid binde ich mein ganzes Wesen, und wenn ich ihn breche, ist alles verwirkt, was mir teuer ist. Das alles verstehe ich, dem allem füge ich mich, das alles halte ich für recht und billig, das alles schwöre ich freiwillig bei meinem Blut, meiner Ehre und meinem Leben, und durch diesen Eid werde ich einer von euch, meine Brüder.« Kroum sah auf. »Das ist alles, Herr Staatsanwalt.« »Ein Freibrief für Verrat und Mord«, erläuterte Prochaska. »Dies ist auch durch die inzwischen aufgedeckten Verbrechen der Bruderschaft bewiesen.« 199
Er nickte dem Schreiber zu, der Kroum ein anderes Blatt überreichte. Kroum betrachtete es. »Erkennen Sie das?« »Jawohl, Herr Staatsanwalt. Es war in Pazars Zimmer versteckt, zusammen mit den Papieren, aus denen ich soeben vorgelesen habe.« »Was ist es?« »Die Liste der Aktivmitglieder.« »Ist Pazars Name dabei?« »Jawohl, Herr Staatsanwalt.« »Befindet sich noch ein Name darunter, der der Polizei gut bekannt ist?« »Ja.« Kroum zögerte. »Der Name Deltschev.« Jetzt herrschte Totenstille im Gerichtssaal. Deltschev saß in seiner gewöhnlichen Stellung, mit geschlossenen Augen. Er regte sich nicht. »Ist noch etwas Besonderes oder Auffallendes an der Liste?« »Jawohl, Herr Staatsanwalt. Einige Namen sind unterstrichen.« »Welche Namen?« »Die Namen Pazar, Eftib, Vlahow, Pechanatz, Radiuje und Deltschev.« Ein leises Gemurmel lief durch den Saal. Deltschev öffnete die Augen und blickte Kroum nachdenklich an. »Sagten Sie nicht, der Plan, Minister Vukaschin zu ermorden, hätte zu seiner Ausführung fünf Personen erfordert?« »Jawohl, Herr Staatsanwalt.« 200
»Dann könnte die sechste Person der Anführer sein?« »Höchstwahrscheinlich, Herr Staatsanwalt.« »Und was haben Sie unternommen?« »Ich habe den Herrn Innenminister informiert, und es wurden Haftbefehle für Pazar, Vlahow, Pechanatz und Radiuje ausgestellt.« »Haben Sie die Leute verhaftet?« »Es stellte sich heraus, daß Pechanatz und Radiuje bereits das Land verlassen hatten. Vlahow wurde auf dem Flugplatz erwischt, als er ihnen folgen wollte. Der Offizier, der ihn verhaftete, hatte unterlassen, ihn zu durchsuchen, und bevor ihn die Polizei in Gewahrsam nehmen konnte, erschoß er sich im Warteraum. Von Pazar fanden wir bis jetzt keine Spur.« »Was haben Sie gegen die anderen, die auf der Liste stehen, unternommen?« »Ich bitte um die Erlaubnis, diese Frage nicht beantworten zu müssen.« »Ich verstehe, Brigadier.« Prochaska wandte sich an die Richter. »Ich möchte das Gericht darauf hinweisen, daß zumindest ein Verschwörer noch im Land und auf freiem Fuß ist, und daß er vielleicht sogar noch jetzt versucht, sich mit anderen Mitverschworenen in Verbindung zu setzen. Aus diesem Grunde können nicht alle Tatsachen bekanntgegeben werden.« »Das Gericht nimmt dies zur Kenntnis.« Prochaska verneigte sich und nickte wieder dem 201
Schreiber zu, der Kroum daraufhin weitere Papiere aushändigte. »Erkennen Sie diese Zettel?« »Jawohl, Herr Staatsanwalt. Ich identifiziere sie als die, welche ich in Pazars Zimmer gefunden habe.« »Beschreiben Sie sie.« »Nun, es sind Mitteilungen, meist in Maschinenschrift, oder mit Tinte in Blockschrift, auf unliniertem Papier.« »Verlesen Sie sie bitte.« »Die erste lautet: ›zusammenkunft für donnerstag muß freitag stattfinden. v. und p. benachrichtigt.‹« »Keine Unterschrift?« »Nein, keine der Mitteilungen ist unterschrieben, Herr Staatsanwalt.« »Fahren Sie fort.« »Die zweite Mitteilung lautet: ›rat abwarten wie vereinbart.‹ Die dritte: ›p. bleibt erfolglos. andere fortschritte.‹ Die nächste: ›v. nicht erfolgreich. werde beschleunigen.‹ Die nächste –« Prochaska unterbrach ihn. »Einen Augenblick, Brigadier. Ich glaube, wir können Ihnen die Mühe ersparen, alle diese Mitteilungen zu verlesen. Ich wollte nur dartun, welcher Art sie sind. Geht es so weiter?« »Jawohl, Herr Staatsanwalt. Es sind im ganzen über dreißig Zettel.« »Verstehen Sie diese Mitteilungen?« 202
»Ich glaube ja.« »Beziehen sie sich direkt auf das geplante Attentat?« »Jawohl, Herr Staatsanwalt.« »Dann wollen wir nicht darauf eingehen. Ich komme zu einem anderen Punkt. Sind diese Zettel eine Korrespondenz – oder sind es nur empfangene Botschaften?« »Empfangene Botschaften, Herr Staatsanwalt.« »Welche Initialen stehen auf den Zetteln?« »V, P, E, R – und D.« »Sie beziehen sich auf –?« »Vlahow, Pechanatz, Eftib, Radiuje und Deltschev, nehme ich an.« »Ja, wahrscheinlich. Was ist der allgemeine Charakter der Mitteilungen – sind es beispielsweise Anweisungen?« »Ich würde eher sagen: Berichte.« »An den Leiter der Verschwörung?« »Das glaube ich nicht, Herr Staatsanwalt. Es ist schwer zu sagen – aber meines Erachtens hatte Pazar, der die einzelnen Mitteilungen empfing, die Aufgabe, die Informationen zu koordinieren. Wir stellten fest, daß er dort im Hause keine Nachrichten empfangen hat. Ich persönlich bin überzeugt, daß die andern ein Café oder einen Laden als Briefkasten benutzten, und daß er dort die Zettel einsammelte, abschrieb und weiterleitete. Die Art des Planes verlangte während der Vorbereitungen eine ständige derartige Verbindung der Beteiligten. 203
Zweifellos hatte jeder der Verschwörer eine Deckadresse.« »Gut. Wir haben die Mitteilungen einfachheitshalber numeriert. Bitte suchen Sie Nummer 27 heraus.« »Hier ist Nummer 27.« »Bitte lesen Sie sie vor.« »Sie lautet: ›v. in Schwierigkeiten. dringend d. benachrichtigen.‹« »Blockschrift oder Maschinenschrift?« »Maschinenschrift, Herr Staatsanwalt.« »Steht noch etwas anderes auf dem Zettel?« »Ja, Herr Staatsanwalt – eine Bleistiftnotiz.« »Bitte lesen Sie sie vor.« »Sie lautet: ›strumitza 12.‹« Aufregung im Saal. »Ist das eine Adresse?« »Ja, Herr. Es ist die Adresse des Angeklagten Deltschev.« »Und was für eine Erklärung haben Sie dafür?« »Sie ist in Pazars Handschrift geschrieben. Ich vermute, daß die Nachricht besonders dringlich war. Deshalb lieferte Pazar sie nicht wie gewöhnlich an der Deckadresse des Angeklagten ab, sondern mußte sie in sein Haus bringen. Die Bleistiftnotiz erinnerte Pazar an eine Adresse, an der er normalerweise nichts ablieferte.« Ich blickte hinüber zu Deltschev. Seine Augen waren wieder geschlossen. Er hatte sich nicht bewegt. Es war unmöglich, so was zu glauben. Und doch – 204
Stanojew stellte kein Kreuzverhör an. Kroum verließ zögernd den Zeugenstand, wie eine alternde Primadonna bei ihrer Abschiedsvorstellung. Einer seiner Kollegen nahm seinen Platz ein. Die Zeugenbefragung wurde wieder aufgenommen. Was Kroum gesagt hatte, wurde nun ausführlich bestätigt. Ich beachtete es kaum noch. Ich versuchte, mit dem fertig zu werden, was ich gehört hatte.
13 Es stimmte. Daran zweifelte ich nicht. Die zuversichtliche Miene, die Prochaska zur Schau trug, konnte er nicht nach Belieben aufsetzen. Vielleicht hätte ein raffiniertes Kreuzverhör vieles entkräftet, was Kroum ausgesagt hatte. Deltschev war kein ungewöhnlicher Name, und wenn man darauf hingewiesen hätte, daß die Identifizierung des Angeklagten mit dem ›D‹ der Mitteilungen lediglich durch eine mit Bleistift gekritzelte Adresse erfolgt sei, die angeblich von der Hand eines Mannes stammte, der nicht vorgeführt werden konnte, so hätte sich das Vertrauen der Geschworenen in die Glaubwürdigkeit von Kroums Aussage vielleicht erschüttern lassen. Aber hier gab es keine Geschworenen, die man hätte erschüttern können; nach der eindrücklichen Sicherheit Vukaschins und aller anderen machte gerade die Nichtigkeit der Sache sie wahrscheinlich. Jemand, der Deltschev hieß und in Deltschevs Haus 205
wohnte, hatte in engster Beziehung zu Eftib und Vlahow gestanden, zu Menschen also, die so verzweifelt waren, daß sie schossen, wenn die Polizei sie stellen wollte, oder Selbstmord begingen, wenn sie verhaftet wurden. Wer? Madame Deltschev? Lächerlich. Katerina Deltschev? Um die Zeit der Mittagspause glaubte ich, für eine Diskussion mit Paschik vorbereitet zu sein. »Nun?« fragte ich. »Was denken Sie jetzt?« »Ich finde es sehr interessant.« »Ja. Wo ist Pazar jetzt?« Er zuckte übertrieben mit den Achseln. »Das ist ein Rätsel.« »Behauptet die Anklage. Wann wird man den Mann in der Patriarch-Dimo-Straße finden?« Paschiks braune Augen sahen mich fest an. Er antwortete nicht. Ich erwiderte seinen Blick. »Ich nehme an, daß es Pazars Leiche ist, die dort im Zimmer liegt«, sagte ich. »Sie nicht?« »Wie kommen Sie darauf, Mr. Foster?« »Ach, bloß eine Ideenassoziation. Jemand aus Deltschevs Haus sandte Nachrichten an einen Mann namens Pazar – und dieser Pazar ist jetzt abhanden gekommen. Und jemand aus Deltschevs Haus schickte durch mich eine Nachricht an einen Mann, der in der Patriarch-Dimo-Straße wohnt. Dieser Mann ist jetzt tot.« »Das ist unlogisch gedacht, Mr. Foster.« »Aber vielleicht gut geraten. Glauben Sie, daß 206
Deltschev an der Verschwörung gegen Vukaschin beteiligt war?« »Es könnte sein.« »Ja, es könnte sein, freilich. Aber glauben Sie, daß er beteiligt war?« »Wer anders käme in Frage, Mr. Foster?« »Die Person ›D‹ dieser Zettel könnte ja auch Katerina Deltschev sein.« Er zeigte in einem breiten Lächeln seine braunen Zähne. »Eine fesche junge Dame von zwanzig Jahren bei einer Verschwörung der Bruderschaft? Das ist eine ulkige Idee – aber sie ist nur ulkig, nichts weiter. Eine Schwesternschaft des Offizierskorps? Ich bitte Sie, Mr. Foster!« »Ja, das klingt dumm, natürlich. Aber ich versuche eben, eine vernünftige Erklärung zu finden.« »Die vernünftige Erklärung haben wir bereits, Mr. Foster. Vergessen Sie nicht: wir sind Zeitungsleute, keine Strafverteidiger. Wir müssen nur beobachten und berichten. Wir sind gut dran.« Er hatte eine freundliche, undurchsichtige Miene aufgesetzt. Beim Frühstück hatte ich die Ereignisse der vergangenen Nacht nicht erwähnt. Sie kamen mir im Lichte des Morgens wie ein wüster Traum vor, und ehe ich nicht mit Petlarow darüber sprechen konnte, wollte ich sie ruhig so lassen. Außerdem war ich des Leugnens und der Warnungen Paschiks müde und hatte beschlossen, auf eigene Faust etwas über den Fall ›K. Fischer, Wien, 1946‹ herauszufin207
den, ehe ich Paschik wieder in die Zange nahm. Jetzt glaubte er anscheinend, daß ich seinen Rat angenommen hatte. Ich widerstand der Versuchung, diesen Eindruck zu korrigieren. »Was war das für ein Plan der Bruderschaft, mit dem sie so geheimnisvoll tun, Paschik?« »Darüber weiß ich nicht mehr als Sie, Mr. Foster.« »Und Valmo? Weiß Valmo nichts? Ein Mann in seiner Stellung müßte doch solche Dinge wissen.« »Auf so vertrautem Fuße stehe ich nicht mit Herrn Valmo.« »Kannten Sie Pazar oder Eftib?« Zu meiner Überraschung nickte er. »Eftib kannte ich. Er war ein junger Mann mit einem starken Widerwillen gegen Hunde. Eines Tages hat er einen angebundenen Hund mit einer Kette totgeschlagen. Die anderen Studenten fürchteten ihn. Er war bestimmt geistig nicht normal.« »Woher kannten Sie ihn?« »Nun, der Hund, den er totschlug, gehörte einem Universitätsprofessor. Es gab einen Skandal. Ich schrieb darüber einen Bericht an die Zeitung, aber seine Familie bezahlte, damit nichts an die Öffentlichkeit käme. Nun, jetzt wäre es ihnen wahrscheinlich lieber, er säße sicher hinter Schloß und Riegel«, fügte er nachdenklich hinzu. Der Kellner kam mit dem Essen. Der Teil des Restaurants, in dem wir saßen, war für die Presseleute reserviert, die dem Prozeß beiwohnten, und am an208
dern Ende des Raumes konnte ich Sibley sehen, der ernst und vertraulich mit einem Amerikaner sprach. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Paschik mich beobachtete. Er schaute sofort weg, als ich es bemerkte, aber doch nicht schnell genug. Er mußte etwas sagen, um es zu bemänteln. »Ja, ja«, sagte er, »Mr. Sibley ist immer noch an der Arbeit. Vielleicht hat er mehr Erfolg bei jemandem, der keine Ursache hat, ihm zu mißtrauen. Seltsam.« Ich lächelte. »Es gibt etwas anderes, was ich noch viel seltsamer finde, Paschik.« »Ja, Mr. Foster?« Er war wieder auf der Hut. »Ich finde es seltsam, daß Sie zwar bereitwillig jemandem dienen, der behauptet, bei der Geheimpolizei zu sein, unserm Freund Sibley aber Hindernisse in den Weg legen, wenn er dem Propagandaministerium zu dienen versucht.« Er sah mich fest an, und einen Augenblick dachte ich, er würde mir antworten. Aber statt dessen räusperte er sich und griff zu Messer und Gabel. »Mr. Foster«, sagte er dann mit belegter Stimme, »ich glaube, wir sollten lieber weiteressen.« Mehr war nicht aus ihm herauszubekommen. Nach der Frühstückspause wurde die Beweisaufnahme über die Verschwörung wieder aufgenommen. Jetzt, da sich Prochaska auf etwas stützen konnte, das einem echten Beweis doch sehr nahe kam, wurde er weitschweifig. Jede Einzelheit von Kroums Aussage wurde von drei oder vier ver209
schiedenen Zeugen beschworen, jeder Zettel beglaubigt. Wer den Prozeß nicht von Anfang an verfolgt hatte, hätte aus Prochaskas Benehmen schließen müssen, daß die Richter schikanöse Rechtsverdreher seien und gegen die Anklage voreingenommen. Wenn man an den Unsinn dachte, den dieses klägliche Trio bereits als Beweismaterial hatte gelten lassen, dann wirkte ihre Feierlichkeit jetzt belustigend. Aber nicht für lange; bald war sie nur noch langweilig. Das einzige, was mich im Gerichtssaal festhielt, war die Möglichkeit, daß Deltschev vielleicht das Wort in eigener Sache ergreifen würde. Jedoch er schien ebenso gelangweilt zu sein wie ich. Als ein Zeuge nach dem andern aufgerufen wurde, um die Echtheit des Zettels mit seiner Adresse zu beschwören, erwartete ich einen Protest von ihm. Es wäre leicht genug gewesen. »Diese gewissenhaften Polizeibeamten beschwören, daß meine Adresse auf diesem Stück Papier steht. Niemand bestreitet das. Wozu verschwenden sie ihre Zeit, statt sich nützlicheren Aufgaben zu widmen? Bringen Sie lieber einen glaubwürdigen Zeugen bei; den Mann, der diese Adresse geschrieben hat, oder den, der wenigstens gesehen hat, wie sie geschrieben wurde; oder am besten den Mann, der uns sagen kann, warum und unter welchen Umständen sie auf diesen Zettel kam. Diese Fragen sind wichtig, meine Herren, denn auch gegen mich hatten die Mörder sich verschworen. Sie warfen eine Bombe, die mir galt und meinen Chauffeur schwer 210
verletzte. Das geschah vor meinem eigenen Haus. Und um mein Haus zu finden, mußten sie meine Adresse wissen, und um sie nicht zu vergessen, mußten sie sie aufschreiben. Ich habe nicht den Wunsch, Herrn Minister Vukaschin seiner Märtyrerkrone zu berauben, aber wenn ich überführt werden soll, mich gegen sein Leben verschworen zu haben, so vergewissern Sie sich wenigstens, meine Herren, ob der Beweis, den Sie da erbringen, nicht Teil eines alten Komplottes gegen mein Leben ist. Für ein neues Komplott müssen Sie schon neue Beweise fabrizieren. Sparsamkeit in solchen Dingen ist unfein.« Aber Deltschev sagte kein Wort, und der Nachmittag wollte kein Ende nehmen. Merkwürdig war, daß nur die Diplomaten und die Presseleute sich zu langweilen schienen. Für das große Publikum war es anscheinend ein höchst sensationeller Nachmittag. Erwartungsvolles Gemurmel jedesmal, wenn ein neuer Zeuge auftrat; Totenstille während der Aussage; Tuscheln und Flüstern, wenn er den Zeugenstand verließ. Das kam daher, daß diese Aussagen auf dem Boden der Tatsachen blieben. Vermutlich waren viele im Gerichtssaal, die nicht an Deltschevs Schuld glaubten und insgeheim gegen die Prozeßführung waren. Nun genossen sie es, daß die gesetzlichen Vorschriften peinlich genau befolgt wurden und fühlten sich dadurch von der Verantwortlichkeit, eine Ungerechtigkeit gutzuheißen, befreit. Ich war froh, als der Nachmittag vorüber war. 211
Paschik sagte nichts, als er mich zu meinem Hotel zurückfuhr. Er wußte, daß ich mich mit Petlarow treffen würde. Ich vermutete daher, daß er sich seine Ermahnungen in puncto Vorsicht für den Abschied aufgespart hatte. Ich hatte ihn satt, ihn und seinen Geruch. Und seine Ermahnungen, seine Ausflüchte, seine Geheimnistuerei, seine wehleidigen braunen Augen, seinen schmutzigen Leinenanzug und sein miserables Autofahren. Er hielt mit einem Ruck vor meinem Hotel und wandte sich zu mir. »Mr. Foster –«, begann er. Ich unterbrach ihn gereizt. »Sagen Sie, müssen Sie mich denn immer ›Mr. Foster‹ nennen? Können Sie nicht einfach ›Foster‹ sagen oder ›Sie‹? Es wäre bequemer für Sie, und ich würde mich nicht so ungemütlich fühlen!« Er fing wieder an, am Vulkanitschutz des Steuerrades herumzufingern. Er hatte ihn schon fast ganz abgepellt, und man sah das schmutzige Metall darunter. »Es tut mir leid, Mr. Foster«, sagte er. »Ich wollte nur höflich sein.« »Ja, natürlich. Übrigens ist es nicht so wichtig.« Aber jetzt war er aufgeregt. »Mr. Foster, Sie sind leider ein sehr unausgeglichener Mensch«, sagte er. »Ja, das bin ich leider. Entschuldigen Sie. Sie wollten mir eben nochmals erzählen, ich solle recht vorsichtig sein – nicht wahr?« Er klaubte wieder ein paar Sekunden schweigend an dem Vulkanit. Jetzt war ein großes Stück dran, 212
und er pellte es schließlich ab wie einen Streifen sonnenverbrannter Haut. »Ich wüßte nicht, was ich Ihnen noch sagen sollte, Mr. Foster«, meinte er schließlich. »Ich habe versucht, Sie zu warnen; nicht weil Sie mir sympathisch sind, nicht einmal wegen meiner Verantwortung gegenüber der New Yorker Redaktion. Sondern bloß aus dem Instinkt eines Menschen heraus, der zufällig einen andern blindlings in eine Gefahr rennen sieht. Mehr kann ich nicht tun. Es gibt Dinge, die wichtiger sind als die Sicherheit eines Fremden. Sie wollen nicht hören – nun, so werden Sie vielleicht fühlen müssen. Ich will mit Ihnen nicht weiter über den Fall sprechen. Natürlich stehe ich Ihnen zur Verfügung, soweit dies im Rahmen meiner Stellung und meiner Bezahlung liegt. Morgen wird Ihnen Ihr Pressebillett für die Feier des Jahrestages besorgt. Sobald ich den Tag der Urteilsverkündung kenne, werde ich Ihre Rückflugkarte besorgen. Wenn Sie weitere Wünsche haben, müssen Sie es mir sagen. Inzwischen wollen wir lieber von anderen Dingen sprechen, wenn wir zusammenkommen.« Er drehte sich zu mir und sah mich voll an. »Gute Nacht, Mr. Foster.« »Gute Nacht.« Ich stieg aus und ging ins Hotel. Ich war gleichzeitig beeindruckt und niedergeschlagen. Als ich die Treppe hinaufstieg, beschloß ich, seinen Rat zu befolgen. Ich sagte mir, daß es nur meine Antipathie gegen diesen Mann gewesen war, die mich bisher 213
daran gehindert hatte. Das war wirklich zu töricht. Es war meine Aufgabe, Artikel über den Prozeß zu schreiben, nicht Polizei zu spielen. Ich war in einen politischen Mordfall hineingestolpert, in einem Land, wo politische Morde an der Tagesordnung waren. Und daß das für mich ein neues Erlebnis war, gab mir kein Recht, ihm aus purer Neugierde nachzuforschen. Schließlich war ich Ausländer und hier nur geduldet. Ich würde zu meinem sehr einträglichen Beruf zurückkehren. Daß ich in meiner Rolle als Zeitungsreporter mit einem Exklusivinterview mit Madame Deltschev nicht schlecht abgeschnitten hatte, mußte mir genügen. Von jetzt an wollte ich mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Und vielleicht wäre es angebracht, wenn ich mich bei Paschik entschuldigte. Er hatte viel Geduld mit mir gehabt, und ich hatte mich wie ein aufgeblasener Dilettant benommen. Und außerdem – seit wann war Mr. Foster berechtigt, es krummzunehmen, wenn ihn jemand höflich ›Mr. Foster‹ nannte? Mr. Foster hatte sich zum Narren gemacht und zu einem lästigen dazu. Nun Schluß damit. Petlarow saß wie gewöhnlich steif und gerade auf seiner Bank im Korridor. Ohne zu sprechen folgte er mir in mein Zimmer und setzte sich. Ich ging zum Schrank und holte den Whisky heraus. Er nahm das Glas mit seiner üblichen artigen Verbeugung; dann sah er mich an. »Sie scheinen müde zu sein, Herr Foster«, sagte er. »Ich habe anstrengende 24 Stunden hinter mir.« 214
Er nickte höflich. Er fragte nicht einmal durch einen Blick. »Was sagen Sie zu dem heutigen Beweismaterial? Wie denken Sie darüber?« fragte ich. »Es ist wohl mehr oder weniger das, was Sie gefürchtet hatten, nicht wahr?« Er dachte einen Augenblick nach, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, das ist es nicht. Sehen Sie, ich war auf irgend etwas gefaßt. Ich dachte, Jordan hätte vielleicht eine Unvorsichtigkeit begangen, die ein schiefes Licht auf ihn werfen könnte. Aber so etwas nicht. Es ist wirklich sehr komisch. Ich kenne Jordan, und ich weiß, daß solche Verbindungen für ihn gar nicht in Frage kommen. Und gar noch mit Leuten wie Eftib und Pazar – nein, das ist zu grotesk.« »Er hatte aber Verbindung mit Vukaschin und Brankowitsch.« »Er liebte sie nicht, aber er sah ein, daß sie wichtig sind. Beide sind in ihrer Art bedeutende Männer, sind Führer. Aber mit diesem verbrecherischen Abschaum konspirieren? Das ist unmöglich. Dazu ist Jordan ein viel zu großer Snob.« »Was für Unvorsichtigkeiten hatten Sie vermutet?« Er zuckte die Achseln. »Ach, da wären so viele Dinge möglich. Es hätte mich zum Beispiel nicht sehr überrascht, zu erfahren, daß einige Verbannte einen Staatsstreich geplant und Jordan zu ihrem Führer ernannt hätten. Wenn sie ihn darum gebeten hätten – nun, so etwas hätte ihm geschmeichelt. Er 215
hätte vielleicht versucht, Zeit zu gewinnen, aber er hätte mit ihnen verhandelt. Und bei Verhandlungen solcher Art werden manche törichten Worte geschrieben. Aber hier haben wir es mit etwas ganz anderem zu tun. Hier haben wir Indizienbeweise von der Art, mit der man gemeine Verbrecher überführt – den Zettel mit der Notiz darauf, die gekritzelte Adresse, die Verschwörer, die entfliehen, und die anderen, die nicht entfliehen, den geheimnisvollen Pazar, der vermißt wird und in Wirklichkeit tot ist – oh, das alles ist etwas ganz anderes.« Er zuckte die Achseln. »Das heißt, so empfinde ich es.« »Was meinten Sie damit – Sie sagten eben, in Wirklichkeit sei Pazar tot?« »Nun, wenn er am Leben wäre, so hätte man ihn sicher vor dem Prozeß gefunden. Sie konnten nicht riskieren, daß er plötzlich auftaucht. Er hätte ein sehr unbequemer Zeuge werden können, und es hätte gar zu schlecht ausgesehen, wenn auch er beim Widerstand gegen die Verhaftung getötet worden wäre.« Nun erzählte ich ihm natürlich alles. Wenn auch manches nicht meine Angelegenheit war, so ging mich das Problem der Beweise gegen Deltschev doch etwas an, und ich hatte inzwischen gelernt, mich auf Petlarows Ansichten zu verlassen. Ich erzählte ihm von dem Brief, den ich hätte abgeben sollen, von dem Toten in der Patriarch-DimoStraße 9, von Paschiks Dazwischenkommen, dem Besuch bei Aleko und von der Notiz mit dem Na216
men Aleko. Er hörte schweigend zu und schwieg noch eine Zeit, nachdem ich geendet hatte. Ich merkte, daß er sehr blaß geworden war. Dann stellte er sein Glas weg und stand auf. »Herr Foster«, sagte er langsam, »auch ich habe Ihnen etwas zu erzählen. Ich muß mich jeden zweiten Tag bei der Polizei melden und meine Papiere abstempeln lassen. Das bringt die Polizeiaufsicht, der ich als unzuverlässiges Element unterstellt bin, mit sich. Als ich mich heute meldete, warnte man mich. Man sagte mir, ich hätte kürzlich eine nicht wünschenswerte Verbindung aufgenommen und müsse diese Verbindung abbrechen, wenn ich nicht mit meiner Frau in ein Arbeitslager gebracht werden wolle. Das war alles. Ihr Name wurde nicht genannt.« Er zögerte. »Als ich heute abend herkam, Herr Foster, war ich fast entschlossen, diese Warnung stillschweigend zu überhören. Ich dachte, wenn es eine ernste Angelegenheit gewesen wäre, dann hätte man mich nicht gewarnt, sondern verhaftet. Jetzt sehe ich ein, daß ich mich geirrt habe.« »Wie meinen Sie das?« Er antwortete nicht. Er kramte aufgeregt in seinen Taschen herum. Dann zog er die Lebensmittelkarte heraus und hielt sie mir hin. »Es tut mir leid, Herr Foster – ich kann unser Abkommen nicht einhalten.« »Schon gut. Das kann ich verstehen.« Ich verstand es zwar nicht, aber er war so sichtlich erregt, daß ich ihn beruhigen wollte. »Aber bitte be217
halten Sie die Karte doch – auch so. Ich brauche sie nicht.« Er schüttelte den Kopf. Sein Gesicht sah zerquält aus, und auf seiner Stirn stand der Schweiß. Ein seltsames Erschrecken durchfuhr mich. Ich hatte mich daran gewöhnt, Petlarow als eine Art guten Geist zu betrachten, der den Korridor vor meinem Zimmer bewohnte und immer, wenn ich ihn brauchte, bereit war zu erklären, zu belehren, zu dienen. Weil sein Bericht über sein eigenes Schicksal so ruhig und unpersönlich geklungen hatte, weil er nicht von Selbstmitleid troff, das ich doch nur verurteilt hätte, hatte ich es nicht für notwendig befunden, in ihm ein menschliches Wesen zu sehen. Nun sah ich plötzlich, daß er ein menschliches, allzumenschliches Wesen war. Er fürchtete sich. Diese Beobachtung erfüllte mich mit Mißbehagen. »Herr Foster«, sagte er, »bitte, nehmen Sie die Karte. Ich kann sie nicht mehr benutzen, und wenn ich verhaftet werden sollte, möchte ich nicht, daß sie in meiner Tasche gefunden wird.« Ich nahm sie. Er griff nach seinem Hut und ging zur Tür. »Bitte, einen Augenblick«, sagte ich. Er blieb stehen. Es tat mir weh zu sehen, wie er seine Erregung und Furcht zu beherrschen suchte. Er wollte nichts als weg. »Können Sie mir nicht wenigstens andeuten, was das alles heißen soll?« fragte ich ihn. Einen Augenblick dachte ich, er würde gehen, 218
ohne zu antworten. Dann schluckte er und leckte sich die Lippen. Er sah auf seinen Hut, als er sprach. »Gut. Ich will Ihnen etwas erzählen, Herr Foster. K. Fischer. Karl Fischer, Sie erwähnten ihn.« Er zögerte. Dann brach es aus ihm heraus: »Fischer war ein sozialdemokratischer Politiker, in den Arbeitervierteln Wiens sehr beliebt. Ein anständiger Mensch und ein unerschrockener Redner. Im Prinzip stand er zu den Sowjets, aber er protestierte noch 1946 dagegen, daß sie Österreicher aus dem amerikanischen Sektor entführten. Ein tapferer Mann. Er tat, was er für recht hielt. Er wurde ermordet.« Petlarow zögerte und schluckte wieder. »Ja – und?« »Es war im September«, sagte er. »Eines Abends ging er noch aus, um seine verheiratete Tochter in Favoriten zu besuchen. Am nächsten Tag fand ihn die Bahnpolizei – seine Leiche lag hinter einem Schuppen im Rangierbahnhof.« Er machte eine Pause und sah mich an. »Sie sagten, der Mann, den Sie in der Patriarch-Dimo-Straße sahen, sei durch einen Einschuß in den Hinterkopf, dicht am Ohr, getötet worden?« »Ja.« Er nickte. »Genauso starb Karl Fischer«, sagte er. »Das war Alekos Hand.« Dann ging Petlarow.
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14 Das war am Freitag, dem vierzehnten Juni. Am Sonnabend geschah der Mord. Ich bin seither in der Presse der Volkspartei als ›bekannter Agent des englischen Secret Service‹ geschildert worden, als ›Anführer einer ausländischen Mörderbande‹, als ›anglo-amerikanischer Spitzel und Schwuler‹ und als alles Mögliche, was für den Druck nicht geeignet ist. Ein Artikel würdigte die Tatsache, daß ich Schriftsteller bin, durch einen Hinweis auf den ›berüchtigten Pornographen Foster, den Lakaien der englischen Mordpropaganda‹. Diese Seite der Angelegenheit war weniger amüsant gewesen, als ich mir gedacht hätte. Die Londoner Zeitungen brachten den Schund auszugsweise, und im Kreise meiner Freunde wurden die ›Glossen zu Fosters Balkanreise‹ ein paar Tage lang ausgelassen zitiert. Aber nach der Verurteilung Deltschevs und als die Massenhinrichtungen von Agrarsozialisten einsetzten, wurden die Angriffe auf mich mit Ereignissen verknüpft, die alles andere als komisch waren. Man fing an, mir Fragen zu stellen, von deren Beantwortung mir das Foreign Office dringend abgeraten hatte. Bei den Zeitungen war das nicht schwer; ich tat, was man mir befohlen hatte, und verwies sie an das Außenministerium. Bei Freunden und Bekannten war es nicht so einfach. Ich erfuhr, wie peinlich es 220
ist, wenn man in der Presse als Mitglied des englischen Geheimdienstes geschildert wird. Das Unangenehme daran ist, daß man nachher die Leute nie vom Gegenteil überzeugen kann. Sie meinen, wenn man tatsächlich Mitglied sei, müsse man vermutlich seine Mitgliedschaft immer noch leugnen. Man ist verdächtig. Und wenn man nichts sagt, so gibt man damit natürlich alles zu. Jeder Protest wirkt nur albern. Es ist sehr lästig. Vermutlich wäre die einzig wirksame Leugnung das feierliche, vielsagende Zugeständnis, daß an dem Gerücht vielleicht ein Körnchen Wahrheit sein könne. Doch dazu kann ich mich nicht durchringen. Foreign Office hin, Foreign Office her – ich muß erzählen, wie es wirklich war. Zunächst möchte ich einmal feststellen, daß ich nicht zu den Leuten gehöre, die die Gefahr lieben. Ich gebe mir alle Mühe, sie zu meiden. Ich bin aber nicht nur ängstlich, ich bin auch umsichtig und vorsichtig. Um ein Beispiel zu geben: ich wohnte – zur Zeit der Stavisky-Unruhen – in Paris in einem Hotelzimmer, das auf eine Straße hinausging, in der die Polizei eine Schießerei mit den Aufständischen hatte. Mein erster Impuls war, mich aus dem Fenster zu beugen und zuzusehen. Das Feuergefecht fand weit über 1000 Meter entfernt statt, und ich wußte, daß auf diese Entfernung ein Revolver so gefährlich ist wie eine Wasserpistole. Jedoch dann fiel mir ein, daß der Autor von Way of Revelation in Mexico City einem ähnlichen Impuls der Neugierde nach221
gegeben hatte und groteskerweise dabei ums Leben gekommen war, von einer verirrten Kugel in den Kopf getroffen. Anstatt mich also aus dem Fenster zu lehnen, kniete ich mich daneben auf den Fußboden und versuchte, meinen Rasierspiegel als Periskop zu benutzen. Aber bis ich alles richtig eingestellt hatte, war der Kampf längst vorbei, und ich sah nichts mehr als eine entrüstete Frau mit einer umgestülpten Einkaufstasche. Auch durch den Krieg wurde meine Einstellung zur Gefahr um nichts kühner oder philosophischer. Ich habe nun einmal keinen Hang zum Heroismus. Die Nachricht, daß meine Frau in unserer Londoner Wohnung durch eine Bombe getötet wurde, löste zwar Gefühle verschiedenster Art in mir aus, aber keine mörderische Wut, in der ich vom Feinde Vergeltung gefordert oder mich als Freiwilliger zu einem Selbstmordkommando gemeldet hätte. Noch lange Zeit danach erschien mir mein Leben weniger lebenswert, aber ich ging deshalb nicht leichtsinnig damit um. Wenn ich von großer Tapferkeit höre, bin ich manchmal tief ergriffen, aber solche Geschichten erregen in mir keinen Wunsch, ihnen nachzueifern. Der Geist romantischer Tollkühnheit pulsiert nicht in meinen Adern. Die Wahrheit über meine Rolle im Fall Deltschev ist nicht erfreulich. Ich bin nicht einmal in die Gefahr hineingestolpert, ich bin hineinspaziert. Ich bin dahingeschlendert, so wie man durch das faszinierende Gewirr von Straßen und Gassen einer alten 222
Stadt schlendert. Man hatte mich gewarnt, mir gesagt, daß sie gefährlich seien, gewiß: aber ich hatte gedacht, sie seien gefährlich für die Warner, nicht für mich. Und als ich sah, daß ich mich verirrt hatte, und herauszukommen versuchte, sah ich auch, daß ich verloren war. So ungefähr empfand ich es. Jener Abend, als Petlarow mein Zimmer verließ, war die letzte Gelegenheit gewesen, umzukehren. Hätte ich da einfach die Achseln gezuckt, mir etwas zu trinken eingeschenkt, irgendwo gegessen und den Abend im Kino verbracht, dann wäre ich einigermaßen in Sicherheit gewesen. Und ich war nahe daran, es so zu machen. Ich trank einen Whisky – es war der Rest aus meiner Flasche –, ging ans Fenster und schaute zum gegenüberliegenden Kino. Es hieß Lux und spielte eine synchronisierte Version des deutschen Films La Paloma, der mich nicht reizte. Ich wollte eine Flasche Slibowitz, die ich gekauft hatte, aufmachen, ließ es aber bleiben, und dann fiel mein Blick auf meine Schreibmaschine, die ich mitgebracht, aber bis jetzt noch nicht benutzt hatte. Ich erinnerte mich daran, wie feierlich ich vor ungefähr zehn Tagen damit aus London abgereist war, und kam mir lächerlich vor. Dabei dachte ich an die Spielzeuggarnituren, die man um die Weihnachtszeit auf grellbunten Pappkartons in den Läden sieht: Der junge Schaffner (komplett mit Billettknipser); Der junge Panzerkommandant (komplett mit Feldstecher); Der junge Detektiv (komplett mit drei Verkleidungen), und ich verbrachte einige Mi223
nuten der Selbsterniedrigung damit, mir eine neue Garnitur auszumalen: Der junge Auslandskorrespondent (komplett mit Reiseschreibmaschine, Whiskyflasche, unsichtbarer Tinte und einem Band von John Gunthers Inside Europe). Dann tat ich etwas sehr Törichtes: ich beschloß, mich zusammenzureißen und vernünftig zu sein. Beim Essen legte ich mir Rechenschaft ab über die Tatsachen. Sie waren ganz einfach. Ich sollte Bericht erstatten über den Prozeß gegen einen Mann namens Deltschev, der angeklagt war, einen Mord geplant zu haben. Wahrscheinlich war er unschuldig. Aber manche Zeugenaussagen tönten glaubwürdig. Dazu kam, daß seine Tochter mit jemandem in Verbindung gestanden hatte, der in den Mordplan verwickelt gewesen war. Diesen Mann hatte ich tot aufgefunden. Er war auf die gleiche Weise getötet worden wie seinerzeit ein österreichischer Politiker, und vermutlich von demselben Mann, Aleko. Aleko hatte behauptet, er sei Mitglied der Geheimpolizei, war aber wohl ein Agent ganz anderer Art. In wessen Diensten stand er? In Deltschevs? Oder im Dienst der Volkspartei, welche Deltschev belasten wollte? Aber weshalb sollte Deltschev, weshalb die Volkspartei ihn dingen, wenn sie so gemeingefährliche Psychopathen zur Verfügung hatten wie Eftib und Pazar? Das reimte sich nicht. Und wo trat Deltschev in Aktion? Darauf kam es an. Ich bereitete mich vor, ihn vor einer sehr breiten Öffentlichkeit zu verteidigen. Es könn224
te nicht schaden – nicht wahr? –, wenn ich mich vergewisserte, daß die Tatsachen stimmten. Wie blöd würde ich dastehen, wenn mein edler Deltschev in Wirklichkeit genau derselbe Mordbube war wie jeder seiner Verfolger, mit dem einen Unterschied, daß er es besser zu verbergen gewußt hatte. ›Mr. Foster, was haben Sie unternommen, um sich zu überzeugen, ob Ihre Vermutungen der Wahrheit entsprachen?‹ – ›Nun, eigentlich gar nichts. Ich zog es vor, nicht neugierig zu sein. Neugierde ist so riskant.‹ Um Gottes willen! Als der Wein gebracht wurde, hatte ich bereits keine Zweifel mehr. Nichts, was ich bis jetzt über den Fall Deltschev wußte, schien logisch oder irgendwie sonst einleuchtend. Allzuvieles war verborgen. Nun, es mußte aufgedeckt werden. Und wenn der eingeschüchterte Petlarow mir dabei nicht helfen wollte, mußte ich es eben allein herausfinden. Auf jeden Fall mußte ich jetzt sofort Madame Deltschev aufsuchen, noch an diesem Abend, um ihre Meinung zu der Beweisaufnahme des heutigen Tages zu erfahren. Und dann würde ich mir das Vergnügen eines Interviews mit der kleinen Katerina gönnen, ihr das Neueste über ihren Freund Valmo berichten und ihr verbotene Fragen stellen. Dann würde ich weitersehen. Ich beendete mein Abendessen und ging zu Deltschevs Haus. Als ich in die Straße einbog, in der es stand, ließ die herzhafte Entschlossenheit, mit der ich mich auf den Weg begeben hatte, plötzlich nach. Vielleicht hatten die Posten, die ich das letztemal 225
passiert hatte, heute nicht Dienst. Sie konnten durch andere abgelöst worden sein. Als ich dann näher kam, sah ich, daß es noch die gleichen waren. Doch das änderte nichts – mein Unbehagen wuchs. Es wurde mir bewußt, daß ich mich nicht vor den Posten fürchtete, sondern vor Aleko, dem ich mein Wort so schnell gebrochen hatte. Wenn Aleko wirklich polizeiliche Befehlsgewalt besaß, so hatte ich geschlossen, hätte er mich nicht um ein Versprechen gebeten, das Haus Deltschev nicht wieder aufzusuchen; er hätte dann ja nur den Posten den Befehl geben müssen, mich nicht einzulassen. Folglich hatte er keinerlei polizeiliche Befehlsgewalt, und ich konnte es zum Äußersten kommen lassen. Aber zu einem theoretisch richtigen Schluß kommen und nach diesem Schluß handeln – das war zweierlei. Allerhand Möglichkeiten, die ich nicht vorausberechnet hatte, gingen mir durch den Kopf, während ich mich dem Hause näherte. Angenommen, er besäße doch polizeiliche Befehlsgewalt und hatte bloß vorgehabt, meine Loyalität zu prüfen, indem er dieses Verbot in mein Versprechen einschloß? Einen Augenblick zögerte ich und war drauf und dran umzukehren, aber da merkte ich, daß mich der Unteroffizier schon gesehen und wiedererkannt hatte. Jetzt gab es keine Umkehr mehr. Ich ging auf ihn zu und zückte meinen Presse-Ausweis. Er nickte kurz, prüfte jedoch den Schein wieder ganz genau, während der Tölpel von Soldat grinsend daneben stand. Endlich gab mir der Unteroffizier den Ausweis mit 226
einem leichten Achselzucken wieder zurück (war es ein böses Vorzeichen?) und nickte dem Soldat zu. Dieser zog den Gewehrriemen fester über die Schulter, ging zum Tor und zog die Klingel. Es war alles wie beim erstenmal. Ich wartete. Sie beobachteten mich. Dann klapperten die Sandalen der alten Rana über den gepflasterten Hof. Das Tor wurde vorsichtig geöffnet. Aber dann erkannte sie mich, machte ganz auf und ließ mich ein. Als wir im Hof waren, sagte sie etwas und gab mir ein Zeichen, zu warten. Sie blieb nicht lange weg. Bald hörte ich drinnen im Haus ihre Sandalen die Treppe hinunterklappern. Sie machte die Haustür auf und winkte mich herein. Ich ging nach oben. Derselbe glatte Fußboden; derselbe Geruch nach Möbelpolitur; aber diesmal keine Katerina. Wahrscheinlich würde sie mit ihrer blasierten Miene hinter dem Stuhl ihrer Mutter stehen. Kaltherzig hoffte ich, sie durch mein Erscheinen zu erschrecken. Aber Madame Deltschev war allein. Sie stand, mit dem Gesicht mir zugewandt, am Fenster. Das Licht war hinter ihr, aber in ihrer Haltung war eine gewisse Spannung. Auf dem Tisch neben ihr waren zwei leere Teegläser. Der alte Freund hatte seinen täglichen Besuch also schon gemacht. »Guten Abend, Herr Foster. Wie liebenswürdig von Ihnen, daß Sie wiederkommen.« »Sie sind sehr freundlich, Madame. Leider muß ich Sie noch verschiedenes fragen.« 227
»Natürlich. Bitte, nehmen Sie Platz.« »Vielen Dank.« Die Pose grande dame betonte noch die Nervosität, die sie dahinter verbergen wollte. Sie fuhr fort: »Wahrscheinlich kann ich Ihnen die Auskünfte, die Sie brauchen, gar nicht geben. Tee?« »Nein, vielen Dank.« »Natürlich. Sie haben gespeist. Und die Engländer trinken nach Tisch keinen Tee.« Sie lächelte mechanisch, nahm eines der Gläser und ging damit zum Samowar. »Bei uns ist es so Brauch«, sagte sie. »Ein russischer Brauch, natürlich. Fast alle unsere Bräuche sind russisch oder türkisch oder deutsch oder griechisch. Eigene besitzen wir kaum.« Das kochende Wasser sprudelte aus dem Hahn in ihr Glas. »Vielleicht verstehen Sie jetzt, weshalb uns unsere Patrioten so viel bedeuten. Ihr unerschütterlicher Glaube, daß wir tatsächlich eine Nation mit einem eigenen kulturellen und politischen Gesicht sind, nicht nur ein Grenzstamm mit ein paar sonderbaren ethnologischen Rassenverwandtschaften – dieser Glaube ist uns Trost und Stütze. Die Wahrheit über viele unserer traditionellen Patrioten ist häßlich oder lächerlich; aber das macht keinen Unterschied. Sie werden heftig verteidigt. Das Nationalgefühl in kleinen Staaten ist immer heftig. Es muß heftig sein, denn es wurzelt in Furcht und Zweifel an sich selbst; dagegen schützt keine Vernunft.« Sie sprach geläufig wie eine Journalistin, die ohne Quellenangabe Stellen aus ihrem Artikel zitiert, den 228
sie eben geschrieben hat. Ich wußte nicht recht, ob sie redete, um etwas zu verbergen, oder ob sie mir einen verhüllten Wink geben wollte. Gab es eine häßliche Wahrheit über den Patrioten Deltschev zu erfahren? »Ihr Gatte hat seinem Volk sehr viel bedeutet«, sagte ich vorsichtig. »Ja, das hat er.« Sie hatte sich ihren Tee zu ihrem Sessel mitgenommen. Nun setzte sie sich mir gegenüber. »Man wird ihn nicht so leicht aufgeben, gleichviel was für Lügen über ihn in Umlauf gesetzt werden. Eine Zigarette, Herr Foster?« »Danke sehr. Ich bin überzeugt, daß Sie recht haben, Madame. Haben Sie schon von der heutigen Gerichtsverhandlung gehört?« »Ja, ich hörte davon.« Ich zündete die Zigarette an, die sie mir gegeben hatte. »Halten Sie das gesamte Beweismaterial für gefälscht, oder handelt es sich um echte Beweise, die man Ihrem Gatten in die Schuhe schieben will?« »Manche Zeugen mögen ehrlich sein – ihre Aussagen zusammengenommen bilden aber eine Lüge.« »Darf ich Ihnen eine hypothetische Frage stellen, Madame? Gesetzt den Fall, die Beweise sind echt und Ihr Gatte ist tatsächlich in die Verschwörung verwickelt gewesen – hätten Sie etwas davon gewußt? Hätte er sich Ihnen anvertraut?« Sie antwortete nicht gleich. Dann: »Er vertraute sich mir immer an. Ich hätte bestimmt davon gewußt.« 229
»Es wäre gefährlich gewesen, dieses Geheimnis irgend jemandem anzuvertrauen.« »Wenn es existiert hätte, ja. Dann wäre es sehr gefährlich gewesen.« »Nur als Vergleich: Bitte, Madame, sagen Sie mir, ob Ihnen Ihr Gatte etwas von seiner Absicht verraten hat, diese Radio-Ansprache über die Wahlen zu halten?« Sie saß einige Augenblicke ganz still und sah aus dem Fenster auf die kahlen Berge. Ich zweifelte, daß sie meine Frage gehört hatte. Sie hatte sie gehört, das wußte ich, und auch verstanden. Aber ich wäre ihr doch fast auf die Pose ›tief in Gedanken versunken‹ hereingefallen. Sie schüttelte verwirrt den Kopf, als wolle sie andere Gedanken bannen und der unmittelbaren Wirklichkeit wieder ins Auge sehen, und richtete ihre sanften, klugen Augen auf mich. »Oh, Herr Foster«, sagte sie mit einem matten, verlegenen Lächeln, »es tut mir leid, aber ich glaube, ich habe Ihnen eben keine Aufmerksamkeit geschenkt. Ich habe an etwas anderes gedacht.« Sie legte die Hand an die Stirn, als habe sie Kopfschmerzen. »Es ist unverzeihlich!« Sie hatte ihre Sache nicht schlecht gemacht. Ich kannte Schauspielerinnen, die es schlechter gemacht hätten; aber wenn ich jemals eine Parodie auf eine spezielle Art der Salonkomödie schreiben sollte, würde ich bestimmt diese Worte verwenden und die Gesten, die Madame Deltschev dazu gemacht hatte. Sie mußte sie in Dutzenden von schlechten Theater230
stücken gesehen haben. Und jetzt erwartete sie wahrscheinlich eine der beiden üblichen Reaktionen; die schuldbewußte: ›Verzeihen Sie mir, Madame – ich habe Sie ermüdet‹; oder die gekränkte: ›Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, Madame – meine Zeit ist kostbar.‹ Ich fühlte mich jedoch weder schuldig noch gekränkt, ich war nur neugierig und wiederholte die Frage. Ihre Lippen zuckten vor Ärger. »Herr Foster – was ist der Zweck dieser Frage? Bitte, seien Sie offen zu mir.« »Aber sicher. Sie bestreiten, daß an dem Beweismaterial, das heute dem Gericht vorgelegt wurde, auch nur ein Wort wahr ist. Ich möchte nun wissen, wie ich diese Feststellung bewerten kann. Beruht sie auf Wissen oder auf gefühlsmäßiger Überzeugung? Sie müssen doch verstehen, daß das wichtig ist.« »Ich verstehe nur eines, Herr Foster«, sagte sie kalt, »nämlich, daß der Prozeß anfängt, die vom Propagandaministerium beabsichtigte Wirkung auszuüben.« Ich fühlte, wie ich vor Ärger rot wurde. Beim Licht der untergehenden Sonne konnte sie es nicht sehen, aber ich antwortete nicht, und nach einer kleinen Pause begann sie sich zu entschuldigen. Ich müsse ihr verzeihen; sie sei müde und überanstrengt; sie habe viele Nächte nicht geschlafen; sie sei halb verrückt vor Kummer. Ich hörte aufmerksam zu. Was sie sagte, klang alles ganz vernünftig und echt, aber es war doch wieder eine Verschleie231
rung. Seit unserem ersten Zusammentreffen war etwas mit ihr geschehen; sie hatte ihre innere Sicherheit verloren. Zuerst hatte sie der Verurteilung und dem Tod ihres Mannes mit stillem Mut entgegengesehen. Vielleicht beruhte dieser Mut auf der Überzeugung von seiner Unschuld, die jetzt erschüttert war. Vielleicht waren die unwürdigen Zweifel, die sie mir vorwarf, nur Projektionen ihrer eigenen Ahnungen. Ich versuchte einen anderen Weg. »Beim Theater«, sagte ich, »genügt wenig Wirklichkeit für viel Illusion. Oder wie Petlarow sagt: ›Die Lüge steht nirgends so fest und sicher wie auf einem Stecknadelkopf von Wahrheit.‹ Brankowitsch ist nicht dumm. Er weiß, daß er zwar seinem Volk jeden Unsinn aufzwingen kann, der ihm beliebt, daß das aber mit dem Publikum im Ausland nicht so einfach sein wird. Er kann nicht hoffen, mit solchen Scheinbeweisen die Welt zu betrügen. Aber er kann eines tun: er kann sie verwirren und unsicher machen, indem er seinen Lügen ein Körnchen Wahrheit beimischt. Diese Verschwörung gegen Vukaschin – warum wird sie in den Prozeß gezogen? Um zu beweisen, daß Ihr Gatte ein Mitglied der Bruderschaft ist? Unsinn! Dafür ließen sich bessere Beweise erfinden. Übrigens wird selbst eine stabilere Regierung als diese hier ein geplantes Attentat für eine schlechte Propaganda halten und wird versuchen, so etwas zu vertuschen, wie sie nur kann. Nein, hier wird es als Beweis herangezogen, 232
weil es einen besonderen Wert hat, nämlich den Wert, wahr zu sein. Und die Leute, die heute im Gerichtssaal anwesend waren, haben es für wahr erkannt. Es war nicht viel; ein paar Aussagen, die ein paar Tatsachen bestätigten – aber sie waren wahr. Und in der Phantasie der Zuhörer von heute ist diese Wahrheit gewachsen und hat die vielen Unwahrheiten, die sie umgeben, überwuchert. Sie, Madame, sagen, daß einige Zeugen vielleicht ehrlich seien, daß ihre Aussagen zusammengenommen aber eine Lüge bilden. Jedoch wieviel ist Lüge? Wo endet die Wahrheit? Wo fängt die Lüge an? Durch Abstreiten allein können Sie die Anklage nicht niederschlagen. So einfach ist es nicht. Sie müssen die volle Wahrheit sagen – und das ist es, was ich von Ihnen will.« Ein langes Schweigen folgte. Sie sah mit versteinertem Gesicht aus dem Fenster, und als sie sprach, wandte sie sich nicht um. »Herr Foster, es gibt keinen zivilisierten Gerichtshof, welcher der Anklage gegen meinen Mann stattgeben würde. Über diesen Punkt bin ich gut informiert worden.« »Es wird auch von keinem zivilisierten Gerichtshof verlangt, daß er dieser Anklage stattgibt«, erwiderte ich. »Wenn die Wahrheit verschwiegen wird, so wird das endgültige Urteil hier gefällt werden. Einige Wenige werden vielleicht zweifeln und grübeln, aber sie müssen alle zu dem gleichen Schluß kommen.« »Zu welchem Schluß?« »Daß an den Beschuldigungen gegen Deltschev 233
etwas Wahres war, daß die Beweise betreffs der Verschwörung niemals ernstlich bestritten wurden, daß er, wenn nicht der Verbrecher, zu dem man ihn stempeln wollte, etwas war, das fast schlimmer ist, nämlich ein Narr. Verzeihen Sie mir, Madame, aber Sie scheinen sich eines nicht klarzumachen: daß jeder von außen kommende Protest gegen den Prozeß Ihres Gatten ein politischer Schritt ist. Kein Außenministerium und keine verantwortungsbewußte Zeitung wird diesen Protest erheben, wenn sie nicht absolut überzeugt sind, daß Deltschev unschuldig ist. Sie müssen die Wahrheit wissen.« »Es ist nicht wahr. Die ganze Anklage ist eine Lüge. Was kann ich Ihnen anderes sagen?« »Bis zu welchem Maße hat Ihnen Ihr Gatte vertraut?« »Was hat das damit zu tun? Wenn ich Ihnen sage, daß er mir immer vertraute, werden Sie antworten, dieser Sonderfall sei vielleicht zu gefährlich gewesen, um ihn überhaupt jemandem anzuvertrauen. Und wenn ich Ihnen sage, daß er ihn mir nicht anvertraut hat, so sind wir immer noch nicht weiter gekommen.« »Wenn er aber auf irgendeine Art in die Verschwörung verwickelt gewesen wäre – hätten Sie dann davon gewußt?« »Ja. Er war es nicht.« »Wußten Sie, daß er am Radio diese Rede halten würde?« »Ja. Das wußte ich.« 234
»Wußten Sie auch, warum er das alles sagen wollte?« »Ja.« »Warum also?« Sie schüttelte entmutigt den Kopf. Ich wußte, daß sie log. »Vielleicht deshalb, weil Ihr Gatte einmal vor langer Zeit Mitglied der Bruderschaft des Offizierskorps gewesen ist?« Einen Augenblick war sie ganz still. Dann hob sie langsam den Kopf und starrte mich an. »Fragen Sie das im Ernst, Herr Foster?« sagte sie kalt. Plötzlich wußte ich, daß es keine ernstgemeinte Frage gewesen war, sondern ein Stück vom Wachtraum eines Eingesperrten. Ich fing an zu stottern: »Es war – es war immerhin eine schwache Möglichkeit, Madame.« Sie starrte mich immer noch an. »Es könnte eine jugendliche Unbedachtsamkeit gewesen sein, ein Fehler, wie …« Ich hörte auf. Sie lächelte gequält. »Solche Unbedachtsamkeiten begeht Jordan nie. Er ist ein intelligenter Mensch. Haben Sie noch andere Fragen, Herr Foster?« Meine Überlegenheit war plötzlich nicht mehr da. »Haben Sie jemals vorher den Namen Pazar gehört, Madame?« »Es ist ein türkischer Name. Nein, ich kenne niemanden, der so heißt.« »Oder Eftib?« »Nein. Auch keine andere von den heute genannten Personen.« 235
»Und Aleko?« »Wurde dieser Name heute genannt?« »Nein. Aber kennen Sie ihn?« »Es ist eine Abkürzung von Alexander. Das ist alles, was ich weiß.« »Valmo?« »Ein ziemlich gebräuchlicher Familienname, der mir aber nichts Besonderes sagt; sollte er das?« »Ich weiß nicht.« Ich stand auf. »Besten Dank, daß Sie mich empfangen haben, Madame.« »Nichts zu danken.« Sie erhob sich auch und schaltete eine Leselampe ein. »Ehe ich gehe, möchte ich noch gern mit Ihrer Tochter sprechen.« Sie wurde steif. »Warum?« »Ich möchte ihr gern ein paar Fragen stellen.« »Vielleicht kann ich sie Ihnen beantworten.« »Vielleicht.« Ich zögerte. »Als ich vor zwei Tagen hier wegging, Madame, bat mich Ihre Tochter, einen Brief für sie hinauszuschmuggeln und ihn einem jungen Mann namens Valmo zu übergeben.« Ich machte eine Pause. Sie versuchte zu lächeln. Es gelang ihr nicht. »Meine Tochter ist ein hübsches Ding. Sie hat ihre Liebesaffären.« »Ja. Und es gelang ihr auch, diesen Eindruck in mir zu wecken. Ich willigte ein und nahm den Brief mit.« »Das war sehr galant von Ihnen.« »Die Adresse des Briefes war: Patriarch-Dimo236
Straße 9. Ich fand das Haus. Ein unbewohntes Haus in einem verrufenen Viertel.« »Und fanden Sie auch den jungen Mann?« Ich schüttelte den Kopf. Sie atmete sichtlich erleichtert auf. »Wenn Sie mir den Brief geben, Herr Foster, werde ich dafür sorgen, daß ihn meine Tochter zurückbekommt. Es war sehr freundlich von Ihnen, sich so viel Mühe damit zu machen.« Sie streckte mir die Hand hin. Ich sagte: »Einen jungen Mann fand ich zwar nicht, aber ich fand einen Toten. Erschossen.« Sehr langsam setzte sie sich. »Hatte er sich selbst erschossen?« fragte sie leise. »Nein. Die Wunde war im Hinterkopf.« Sie regte sich nicht. »Ein junger Mann?« »Nein. Grauhaarig. Vielleicht 50. Warum fragen Sie?« Sie richtete sich ein wenig auf. »Ich dachte, daß vielleicht – ein armer Student –« Sie brach ab und holte tief Atem. »Es gibt so entsetzlich viele Tragödien heutzutage. Sie müssen in ein falsches Haus geraten sein, Herr Foster.« »Nein. Es war das richtige Haus. Wenn aber der Tote der Mann war, der sich Valmo nannte, so ist Ihre Tochter mit Pazar bekannt, denn das war der richtige Name des Toten.« Wir schwiegen beide. Sie sah mich nicht an. »Hat Ihnen die Polizei das gesagt?« fragte sie endlich. 237
»Ich bin nicht zur Polizei gegangen. Es wäre schwierig gewesen, zu erklären, wie ich dazu kam, den Mörder aus der Bruderschaft zu besuchen, hinter dem sie angeblich her ist. Unmöglich und sehr peinlich – für uns alle.« »Wir stehen in Ihrer Schuld, Herr Foster.« »Vielleicht würden Sie es vorziehen, daß uns Ihre Tochter darüber aufklärte?« Sie sah auf ihr Taschentuch. »Meine Tochter ist nicht hier.« Ich schwieg. Sie sah mich an. »Ich spreche die Wahrheit, Herr Foster.« »Soviel ich weiß, steht jeder hier im Haus unter Hausarrest.« »Meine Tochter ist nicht hier. Sie ist fort.« »Meinen Sie, die Polizei hat sie geholt?« »Nein. Sie ist geflohen.« »Geflohen? Aber wie denn? Wo waren die Posten?« »Katerina hat ihr Leben in diesem Hause verbracht, Herr Foster. Es gibt noch andere Wege, hinauszugelangen, als durch das Tor.« Ich zögerte. »Vor ein paar Minuten fragte ich Sie, Madame, ob Sie den Namen Pazar schon früher gehört hätten. Sie sagten nein. Sagen Sie auch jetzt noch nein?« »Allerdings. Denn es ist die Wahrheit.« »Aber andere hier im Hause kannten ihn?« »Ich kenne ihn jedenfalls nicht, Herr Foster.« 238
»Wissen Sie, wohin Ihre Tochter gegangen ist?« »Nein.« »Und wann sie weggegangen ist?« »Heute abend.« »Und können Sie sich den Grund ihrer Flucht denken?« »Herr Foster, ich bin jetzt sehr müde.« Ich wartete ein paar Sekunden, aber sie hob den Blick nicht wieder. »Es tut mir leid«, sagte ich dann. »Ich glaube, ich hätte Ihnen behilflich sein können.« »Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich sagen konnte.« »Sie haben mir genausoviel gesagt, wie Sie für ratsam hielten, Madame.« »Gute Nacht, Herr Foster.« Sie drückte auf die Klingel. Ich sagte Gute Nacht und nahm meinen Hut. Aber als ich zur Tür ging, sprach sie mich noch einmal an. »Herr Foster.« Ich blieb stehen. »Der Brief meiner Tochter. Wollen Sie ihn mir bitte geben.« »Er ist verbrannt worden.« »Sind Sie dessen ganz sicher?« »Ganz sicher.« Sie zögerte. »Verzeihen Sie … wissen Sie nicht, was in ihm stand?« »Ich habe ihn nicht aufgemacht. Ich hätte auch Ihre Sprache gar nicht lesen können.« Sie kam durch das Zimmer auf mich zu. »Herr 239
Foster«, sagte sie, »ich habe Ihnen zwar in keiner Weise geholfen. Aber bitte glauben Sie nicht, ich wüßte Ihre Güte und Geduld nicht zu schätzen. Ich bin Ihnen aufrichtig dankbar.« Ich verbeugte mich. Mir fiel nichts ein, was mich nicht noch verlegener gemacht hätte. Das Geräusch von Ranas Sandalen, die draußen im Gang klapperten, war mir wie eine Erlösung. »Gute Nacht, Madame«, sagte ich und verließ das Zimmer so schnell ich konnte. Erst als ich die Treppe hinunterging, wurde mir bewußt, daß meine Gewissensbisse überflüssig waren. Gegen die phantastischen Ausreden, denen ich die letzte halbe Stunde gelauscht hatte, waren meine stillen Vorbehalte belanglos.
15 Draußen vor dem Hause war es sehr dunkel. Die alte Frau hatte keine Lampe, um uns zu leuchten, und ich stolperte mehr als ich ging hinter ihr über den Hof. Dadurch wurde meine Erbitterung über die Sinn- und Zwecklosigkeit meines Tuns noch gesteigert. Ich stieß mit dem Fuß gegen die Kante einer Steinplatte und sagte wütend »Verdammt!« Die alte Frau öffnete das Tor in der Mauer, und der Schein der Taschenlampe fiel mir von draußen ins Gesicht. Ich machte eine Grimasse und holte meine Briefta240
sche heraus, während sie das Tor hinter mir schloß. Der Lichtschein wich aus meinem Gesicht, und nun erkannte ich den Unteroffizier. »Passieren! Vorwärts!« knurrte er auf deutsch und winkte mir energisch, weiterzugehen. »Willst du denn nicht meinen Ausweis sehen, du Esel?« fragte ich auf englisch. »Passieren! Passieren!« wiederholte er und winkte wieder. »Grins nicht so blöd, du Lümmel«, sagte ich auf englisch und lächelte dem Soldaten zu. Er nickte grinsend und salutierte. Ich ging fort. Der Unteroffizier nahm sich nicht die Mühe, meine Papiere nochmals zu prüfen. Der Unteroffizier war zu dem Schluß gekommen, daß ich harmlos sei. Der Unteroffizier hatte damit vollkommen recht. Ich beschloß, an den Mann, der mich bezahlte, am folgenden Tag ein Telegramm zu schicken und ihm mitzuteilen, daß er sein Geld und meine Zeit verschwende, und dann das erste Flugzeug zu nehmen und das Land zu verlassen. Es war höchste Zeit, daß ich diese Narretei aufgab und mich wieder an meine Arbeit machte. Immerhin, dachte ich wütend, war die Reise nicht ganz auf das Verlustkonto zu buchen. Ich hatte meine Kenntnisse über Napoleon III. erweitert und überdies zwei interessante Erlebnisse gehabt: ich hatte in einem fremden Haus eine Leiche gefunden, und war in einem anderen Haus in ein Zimmer eingesperrt worden. Falls ich jemals jene Art von Stücken schreiben 241
sollte, in denen diese Art von Ereignissen vorkam, dann konnte mir diese Erfahrung nützlich sein. Inzwischen aber sollte der Teufel das ganze holen! Ich bog in den Boulevard Dragutin ein. Er lief in sanfter Kurve um die hohe Mauer des Parks, der zum Regierungspräsidium gehörte. Eine breite Straße, gepflastert und mit hohen Platanen gesäumt. Die meisten anliegenden Gebäude waren Mietshäuser. Läden und Cafés gab es hier nicht. Die Straßenlampen auf ihren hohen Pfosten befanden sich zwischen den Bäumen auf der Seite, wo die Häuser standen. Ich hielt mich auf der anderen Seite. Unter dem dichten Laubwerk war es sehr dunkel. Ich ging langsam. Die Luft war mild, und nach einer Weile vergaß ich meine momentanen Sorgen. Ich hatte, ehe ich aus London abreiste, versucht, den dritten Akt eines neuen Theaterstücks zu schreiben, und hatte mich dabei so festgerannt, daß ich schon so gut wie entschlossen gewesen war, alles in den Papierkorb zu werfen. Der Auftrag, die Berichterstattung im Deltschev-Prozeß zu übernehmen, kam mir wie gerufen; nun hatte ich einen äußeren Anlaß, die Arbeit an dem Stück zu unterbrechen, und konnte den wahren Grund außer acht lassen. Aber jetzt ertappte ich mich plötzlich dabei, daß ich wieder an mein Stück dachte, und auf einmal sah ich ganz deutlich die Lösung des Problems, die ich vorher nicht gefunden hatte. Der dritte Akt begann in meinem Geist Gestalt anzunehmen. Natürlich! Die Frau hatte sich ihren Liebhaber nicht 242
selbst gewählt, sondern ihr Mann hatte ihn ihr zugeschoben, und als ihr das klarwurde, verließ sie ihn. Das war’s! Das war der Schlüssel zu ihrem Verhalten gegenüber ihrem Liebhaber. Er war nicht der Mann ihrer Wahl. Natürlich! Wie merkwürdig! Darauf hatte ich praktisch die ganze Zeit hingewiesen und hatte es selbst nicht bemerkt. Warum nur? Mein Verstand beschnupperte diese Entdeckung mißtrauisch wie ein Hund einen fremden Laternenpfahl. Da mußte doch ein Irrtum unterlaufen sein. Aber nein. Es war ganz richtig so. Ich hatte nur keinen Abstand dazu gehabt und war nervös geworden. Nun war alles gut. Ich holte tief Atem. Vergessen waren die Familie Deltschev und die Rätsel, die sie mir aufgab. Ich hatte soeben mein Theaterstück vollendet. Jetzt war mir leicht und froh ums Herz. Ich beschleunigte meine Schritte. Dann hörte ich es. Es war ein leises Geräusch, und unmittelbar darauf nicht mehr festzustellen. Eine Art Nachhallen meiner Schritte auf den Pflastersteinen. Aber ich nahm in diesem Augenblick alle Dinge um mich her mit außerordentlicher Deutlichkeit wahr, den schwachen warmen Wind, der die Luft bewegte; den Geruch der Bäume; ein fernes Licht, das sich langsam bewegte. In diesem Zustand erhöhter Aufmerksamkeit war der Nachklang meiner Schritte auf dem Pflaster etwas, für das ich empfänglich war und das meine Neugierde erregte. Das Pflaster war hart. Woher kam der leise Ton? Ich verlangsamte meine Schritte und hörte ihn 243
wieder – eine Art Echo. Von der Mauer? Ich schritt rascher aus und trat fest auf. Und dann verstand ich. Was ich hörte, war kein Echo. Hinter mir ging jemand. Wenn man einmal weiß, daß Geräusche wirklich sind, ist es leicht, sie voneinander zu unterscheiden. Als ich nun weiterging, konnte ich diese anderen Schritte ganz deutlich hören. Wieder ging ich langsamer. Die Geräusche ertönten einzeln, dann wieder zusammen. Doch sogar jetzt brauchte ich noch ein paar Sekunden, um zu begreifen, was hier vorging. Der Mensch hinter mir paßte seine Schritte genau den meinen an. Er wollte in gleicher Entfernung von mir bleiben. Er verfolgte mich. Mein Herz schlug schneller. Ich sah mich um. Ich konnte ihn gerade noch erkennen – eine schwache Verdichtung der Schatten unter den Bäumen, fast 30 Meter hinter mir. Ich ging weiter und kämpfte meinen Wunsch zu rennen nieder. Vielleicht bildete ich mir alles nur ein, wie eine hysterische alte Jungfer, die von Vergewaltigung träumt. Aber nein – die Schritte hielten Takt mit den meinen. Ein verrückter Gedanke schoß mir durch den Kopf. Sollte ich mich rasch umwenden und den Verfolger stellen? Nein, ich wollte erst noch ein Stück weitergehen. Meine Waden begannen zu schmerzen. Plötzlich bog ich ab und ging quer über die Straße auf die erleuchtete Seite. Aus dem linken Augenwinkel versuchte ich zu sehen, ob er mir folgte. Ich konnte seine Schritte hören; sie waren langsamer geworden. 244
Er kam also nicht über die Straße. Er wollte im Schatten bleiben. Ein paar Sekunden überflutete mich ein Gefühl der Erleichterung. Erst als ich mich dem Bürgersteig näherte, begriff ich, weshalb er nicht nähergekommen war. Etwa hundert Schritte vor mir begann ein Straßenstück ohne jedes Gebäude und ohne Licht. Ich erinnerte mich, daß ich dort schon früher gegangen war. An dieser Stelle wollte er die Straße überqueren. Ich erreichte den Bürgersteig und zögerte. Dann bückte ich mich und tat, als wolle ich meine Schnürsenkel fester binden. Ich brauchte Zeit zum Überlegen. Wenn ich einfach den Weg zurückging, den ich gekommen war, konnte ich im Licht bleiben. Ich erinnerte mich auch, daß ich an der Ecke zwei gähnende Polizisten gesehen hatte. Aber was sollte ich dann tun? Wie sollte ich es ihnen erklären? Da war nichts zu erklären. Ich konnte nur wie ein furchtsames Kind warten, bis jemand des Weges kam, mit dem ich gemeinsam durch die Dunkelheit gehen konnte. Lächerlich. Was gab es da schon zu fürchten? Jemand folgte mir. Nun gut. Mochte er mir folgen – was machte das schon aus? Es war nichts, wovor man Angst haben mußte. Ganz und gar nicht. Ich richtete mich wieder auf und ging mit steifen Schritten der Dunkelheit entgegen. Sie lag am Ende des beleuchteten Pflasterstreifens wie ein schwarzer Tunneleingang. Das Haus, an dem ich vorher vorbeigehen mußte, war eine riesige 245
Barockvilla, die, nach den erleuchteten Fenstern zu schließen, in einzelne Wohnungen aufgeteilt worden war. Ich sah über die Straße. Jetzt konnte ich ihn sehen, wie er sich entlang den Bäumen bewegte, etwas hinter mir, aber im gleichen Tempo. Die Dunkelheit kam näher. Schon konnten meine Augen ein kurzes Stück durchdringen. Das Trottoir lief zwischen einer steinernen Mauer und den Bäumen weiter, aber es war nun ungepflastert. Wo das Pflaster aufhörte, blieb ich stehen. Die Blätter über mir bewegten sich leise; irgendwo spielte ein Radio; im Hintergrund war das schwache Geräusch fernen Straßenverkehrs zu hören; das Dunkel vor mir war still und unbeweglich. Unter meinen Füßen knirschte der staubige Sand, und die Zweige schienen sich hinter mir zu schließen, als ich weiterging. Ich war ungefähr dreißig Schritte weitergegangen, als ich das Geräusch eines sich nähernden Wagens hörte. Er fuhr in entgegengesetzter Richtung vorüber. Dann, als das Geräusch des Wagens erstarb, hörte ich Schritte auf der Straße. Der Mann hinter mir überquerte sie jetzt im Schatten. Ich ging schneller und stolperte über die hervorstehenden Baumwurzeln. Nun schlug mein Herz zum Zerspringen. Ich fühlte, wie mir der kalte Schweiß ausbrach. Wieder kämpfte ich den Drang nieder, einfach zu rennen so schnell ich nur konnte. Es war lächerlich, sagte ich mir. Ich war in viel gefährlicheren Situationen gewesen. Hier gab es keine Minen, keine elektrisch geladenen Drähte, auf die 246
ich treten konnte, keine Maschinengewehre, keine Geschütze, die gleich losballern würden. Hier mußte ich nur unter ein paar Bäumen entlang einer schlecht beleuchteten Straße gehen, gefolgt von jemandem, der vielleicht schlechte Absichten hatte. Vielleicht war es ein Detektiv, einer von Brankowitschs Leuten, der den Auftrag hatte, über jeden meiner Schritte zu berichten. Petlarow war durch die Polizei vor mir gewarnt worden. Vielleicht kontrollierte sie jetzt, ob ich andere Verbindungen hatte. Vielleicht folgte der Mann mir schon tagelang, ohne daß ich es gemerkt hatte. Ja, ja, so mußte es sein. Ich grinste fast vor Erleichterung und ging langsamer, auf die Schritte hinter mir horchend. Aber ich hörte keine. Vielleicht erstickte sie der weiche Boden. Vielleicht – Ich blieb wie angewurzelt stehen. Vor mir hatte sich etwas bewegt. Ich versuchte, das Pochen des Blutes in meinen Schläfen so weit zu beherrschen, daß ich wieder hören konnte. Es hatte sich etwas bewegt. Ein Schatten. Irgend etwas. Ich machte einen Schritt. Der Sand knirschte. Im nächsten Augenblick blendete mich ein Lichtstrahl. Er kam aus einer sehr starken Taschenlampe, wenige Schritte vor mir, und erlosch sofort wieder. Ebenso schnell reagierte ich. Als das Licht ausging, ließ ich mich seitwärts fallen und preßte mich an den Fuß eines Baumstammes. Den ersten Schuß hörte ich nur, ein dumpfes Krachen, das mir in den Ohren dröhnte; aber die 247
nächsten beiden sah ich – gelbe Flammenflecke, die mir ins Gesicht zu explodieren schienen, als ich überrollte und mich hinter dem Baum in die Erde krallte, um Deckung zu finden. Dann war alles still. Ich mußte nach Luft schnappen, als wäre ich unter Wasser gewesen, aber mein Gehirn arbeitete normal. Er hatte mich dreimal verfehlt und nun meine Spur verloren. Wenn er feststellen wollte, wo ich war, mußte er nochmals die Lampe anknipsen, und das wäre gefährlich; er konnte nicht damit rechnen, daß ich unbewaffnet war. Jedenfalls war ich jetzt vorbereitet, und wenn er nicht ein Meisterschütze war oder besonderes Glück hatte, standen seine Chancen schlecht. Im Augenblick hatte ich den Mann hinter mir ganz vergessen. Fünf Sekunden gingen vorüber. Ich richtete mich langsam auf und löste mich ein wenig von dem Baum, als das Licht wieder aufblitzte. Es fiel nicht direkt auf mich, und in dem Bruchteil der Sekunde, den er brauchte, um das zu erkennen, rannte ich los. Ich war fast beim nächsten Baum, als er Feuer gab. Die Kugel pfiff an meinem Kopf vorbei. Ich kam bis zu dem Baum und schlüpfte hinter den Stamm, als wollte ich Deckung nehmen, arbeitete mich aber sofort weiter auf den nächsten Baum zu. Der Schuß, den er in diesem Moment abgab, verfehlte mich um Meter. Aber eines mußte er jetzt gemerkt haben: daß ich nicht zurückschießen konnte. Die Lampe blitzte wieder auf, wurde aber diesmal nicht gleich ausgeknipst. Er schoß auch nicht. Er folgte mir. 248
Diesmal wollte er sichergehen. Geduckt lief ich weiter. Ich sah meinen eigenen Schatten, der sich durch die langen Schlagschatten der Bäume wand, als das Licht herumschwang. Und dann, während ich an dem nächsten Baum haltmachte, schoß eine andere Waffe. Die Kugel fuhr ein paar Zentimeter neben meinem rechten Auge in die Baumrinde, und ein Holzsplitter stach mich in die Wange. Ich warf mich schnell wieder auf den Boden. Der erste Revolver war meines Erachtens ein 0,38er gewesen, aber der zweite hatte einen dumpferen Ton. Ich begriff die Lage. Wäre ich nicht auf die andere Straßenseite gegangen, dann hätte mich der Mann hinter mir in den Rücken geschossen. Der zweite Mann war da, um dafür zu sorgen, daß ich nicht entkommen konnte. Wahrscheinlich hatte er schon vor mir die Straße überquert, während ich noch in dem erleuchteten Abschnitt war. Für den Augenblick war ich außerhalb des Lichtkreises, aber beide Revolver schossen, und die Kugel aus dem einen prallte von der Straße ab. Meine Feinde waren sichtlich nervös. Fast eine halbe Minute war seit dem ersten Schuß vergangen, und schon vernahm man aus der Ferne Rufe. Die erleuchtete Strecke war nur noch etwa hundert Meter entfernt, aber wenn ich die Deckung aufgab und hinüberrannte, mußte ich an dem großkalibrigen Revolver vorbei und hatte das Licht der Taschenlampe im Rücken. So ging es nicht. 249
Im selben Augenblick begann der Mann mit der Lampe heiser schreiend vorwärts zu laufen. Die schwere Waffe dröhnte wieder, als ich mich zur Seite rollte und am Straßenrand wiederfand. Ich zauderte nur den Bruchteil einer Sekunde. Dann taumelte ich hoch und lief, Haken schlagend wie ein Hase, zu den Bäumen auf der anderen Straßenseite. Nun schossen beide, aber jetzt war ich für einen Revolver nicht mehr zu treffen. Ich tauchte in die Bäume, kam an der Parkmauer heraus und rannte ihr entlang bis zu dem beleuchteten Straßenabschnitt. Ich war in Sicherheit. Ich blieb stehen, um Atem zu schöpfen. Auf der andern Seite standen die Leute, die aus den Häusern gekommen waren, auf dem Trottoir, redeten miteinander und zeigten auf die Bäume. Die beiden Polizisten, an denen ich vorbeigegangen war, kamen angetrabt. Ich war außer Sicht. Langsam kam mein Atem wieder und mit ihm mein Verstand. Ich hatte keinen der beiden Angreifer gesehen. Ich konnte keinerlei Auskunft über sie geben. Doch selbst das bedeutete lange Erklärungen, und die Polizei würde mich sicher zurückbehalten, bis sie einen Dolmetscher gefunden und meine Geschichte nachgeprüft hatte. Wenn ich also die Polizei gänzlich aus dem Spiel lassen konnte, so wäre das am ratsamsten. Ich würde ihnen viel Mühe sparen, wenn ich mich dünnmachte, während sie zwischen den Bäumen die Verwundeten und Toten suchten, die nicht da waren. Kurzum, wenn ich jetzt tat, was ich vor 250
fünf Minuten hätte tun sollen, das heißt, wenn ich jetzt nicht den Kopf verlor, sondern bis zu einem Café zurückging und von dort aus mein Hotel anrief und einen Wagen verlangte, so wäre das für alle Beteiligten weitaus das Beste. Ich begann heftig zu zittern. Es sang noch immer in meinen Ohren, und ich war wie taub. Ich lehnte mich gegen die Parkmauer und bekämpfte meinen Brechreiz. Trotz des Singens in meinen Ohren konnte ich von der Straße her laute Stimmen hören. Dann wurde mein Kopf langsam klarer. Gleichviel, wie übel mir war – wenn ich mich unauffällig aus dem Staube machen wollte, so mußte ich mich beeilen. Und so machte ich mich, immer dicht an der Mauer, auf den Weg. Es dauerte eine Stunde, bis der bestellte Wagen vor dem Café hielt, und um diese Zeit hatte ich schon mehrere Slibowitz getrunken. Ich war nicht betrunken, aber schläfrig. Wie dumm von Aleko, mich umlegen zu wollen, dachte ich. Sehr dumm. Ich war vollkommen harmlos. Immerhin hatte ich eine weitere nutzlose Erfahrung gemacht: ich wußte jetzt, wie einem zumute ist, wenn man in Zivil beschossen wird; genauso wie wenn man Uniform trägt. Das war interessant. Im Wagen schlief ich ein, und der Fahrer mußte mich wecken, als wir vor dem Hotel hielten. Der Nachtportier schlief. Ich nahm selbst meinen Zimmerschlüssel vom Brett. Der Aufzug war außer Betrieb. Gähnend stieg ich langsam die Treppe hinauf. Ich war sehr müde und fühlte mich steif und 251
wie zerschlagen. Wenn das Wasser heiß war (und spät in der Nacht, wenn niemand es benutzte, war es meistens heiß) würde ich ein Bad nehmen und mich um mein zerschrammtes Knie kümmern. Mein Anzug sah übel aus – aber der konnte bis zum Morgen warten. Ein Bad, und dann schlafen; das war das Richtige. Ich fühlte mich merkwürdig entspannt und glücklich. Das Sonderbare daran war, daß dieses Gefühl fast nichts mit dem Slibowitz zu tun hatte. Es kam daher, daß ich einer schweren Gefahr entronnen war. Ich öffnete die Tür zu meinem Zimmer. Zuerst kam ein kleiner Vorraum mit einem Schrank und einem Hutständer zwischen Tür und Schlafzimmer. Ich schaltete im Vorraum das Licht an, ärgerte mich ein wenig, weil ich meinen Homburg verloren hatte und mir nun am nächsten Tag in einem hiesigen Hutgeschäft einen neuen kaufen mußte, und ging in mein Schlafzimmer. Meine Hand lag noch auf dem Lichtschalter, als ich die Überraschung entdeckte. Ich stand ganz still. Eine junge Frau lag mit dem Gesicht nach unten quer über meinem Bett; beim Licht, das aus dem Vorraum hereinfiel, konnte ich sehen, daß ein Regenmantel lose über sie gebreitet war, wie um sie darunter zu verbergen. Ich drehte den Lichtschalter an, und der ganze Raum wurde vom grellen Licht des vergoldeten Kronleuchters überflutet. 252
Ihr Haar war dunkel, und ihre zusammengeballte Hand verdeckte das Gesicht. Ich ging hinüber zum Bett, und ein lockeres Brett knarrte laut. Ich sah hinunter auf die Frau. Sie regte sich. Ihre Hände bewegten sich und sie drehte sich auf die Seite. Das Licht fiel auf ihr Gesicht, und sie hob eine Hand, um ihre Augen zu schützen. Es war Katerina Deltschev.
16 Ich rüttelte nicht eben sanft an dem Bett, und sie seufzte. Dann zuckte sie zusammen, schnappte nach Luft und war wach. Sie setzte sich rasch auf, und der dünne Regenmantel, den sie übergeworfen hatte, glitt auf den Fußboden. »Guten Abend«, sagte ich. Einen Augenblick starrte sie mich an, dann krabbelte sie aus dem Bett und sah sich herausfordernd um. »Es ist sonst niemand hier«, fügte ich hinzu. Sie richtete sich auf, als wolle sie einen Treueeid schwören. »Herr Foster«, sagte sie formell, »ich muß für mein Eindringen vielmals um Entschuldigung bitten. Aber es ließ sich nicht umgehen. Ich will es Ihnen erklären. Ich –«, sie brach ab und sah zu Boden, als sie merkte, daß sie in Strümpfen dastand. »Dort unten sind sie«, sagte ich. Ihre Schuhe wa253
ren hinuntergeglitten, während sie geschlafen hatte, und lagen nun neben dem Bett. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, machte ihn wieder zu, ging zum Bett und zog nachdenklich ihre Schuhe an. Sie war eine junge Frau, die gewohnt war, die jeweilige Situation zu beherrschen; nun sann sie darüber nach, wie sie das auch jetzt tun könnte. »Ich bedaure sehr –«, begann sie. »Geht in Ordnung«, sagte ich. »Sie wollten mich sprechen, und deshalb kamen Sie her. Ich war nicht da. Sie warteten. Sie schliefen ein. Leider kann ich Ihnen nichts weiter anbieten als eine Zigarette. Rauchen Sie?« Einen Moment erwog sie, ob es schicklicher wäre, abzulehnen. Dann zuckte sie die Achseln. »Ja. Danke.« Sie nahm eine Zigarette, und ich zündete sie ihr an. Sie setzte sich wieder aufs Bett und musterte mich ruhig. »Nun, Herr Foster?« fragte sie. »Die Sache ist auch für Sie nicht ganz so einfach, nicht wahr?« »Nein, nicht ganz.« Ich ging ins Badezimmer, tauchte ein Handtuch ins Wasser und wand es aus. Dann kam ich zurück ins Schlafzimmer, setzte mich in den Armsessel, rollte mein Hosenbein auf und fing an, mein wundes Knie mit dem nassen Handtuch zu bearbeiten. Sie sah unsicher zu. »Wer hat Ihnen gesagt, daß ich hier wohne?« fragte ich. 254
»Es gab nur drei Hotels, wo Sie wohnen konnten. Dieses hier war das zweite, das ich anrief.« »Und wie erfuhren Sie die Zimmernummer?« »Indem ich nach einer anderen Nummer fragte. Natürlich bekam ich die falsche Nummer. Der Telefonist korrigierte mich.« »Wer hat Sie hereingelassen?« »Der Etagenkellner. Ich sagte ihm, ich sei Ihr Liebchen, und gab ihm etwas Geld. War das schlimm?« »Keine Spur. Ich frage nur, weil ich momentan etwas mißtrauisch bin. Nun gut. Und wie kamen Sie von zu Hause fort, ohne gesehen zu werden? Wie haben Sie das angestellt?« »Unsere Nachbarn sind freundliche Leute. Zwischen ihrer und unserer Mauer steht ein Baum. Mit Hilfe von zwei Rebstöcken gelangt man von unserer Mauer auf den Baum und von ihm auf ihre Mauer. Für ein Kind ist es leicht. Für einen Erwachsenen ist es gefährlich – aber es geht.« »Warum baten Sie mich dann, den Brief für Sie abzuliefern? Wenn er so wichtig war, hätten Sie ihn auf diesem Wege doch auch selbst abliefern können.« »Wenn es eine andere Möglichkeit gibt, riskiere ich nicht gern mein Leben.« »Und jetzt riskieren Sie es?« »Ja, Herr Foster. Und das Ihre auch.« »Das dachte ich mir.« »Aber nur, wenn man mich hier findet.« »Wie beruhigend!« 255
»Wenn ich heute nacht zurück kann, ohne gesehen zu werden, bin ich wieder in Sicherheit. Die Posten kontrollieren uns nur morgens.« »Gut.« »Ich wäre nicht hergekommen, Herr Foster«, sagte sie ernst, »wenn ich Sie nicht unbedingt sprechen müßte.« »Dazu hätten Sie Ihr Haus gar nicht zu verlassen brauchen. Ich war vor einer Stunde dort.« Sie zuckte die Achseln. »Das konnte ich nicht wissen. Ich wollte Sie sprechen, weil –« Ich unterbrach sie. »Kennen Sie einen Mann namens Aleko?« »Aleko? So heißen viele.« »Wer war der Valmo, dem Sie den Brief schickten?« »Ich weiß es nicht.« »Soso!« »Das ist wahr. Valmo war nur ein Deckname an einer Deckadresse. Der Brief war für jemand anderen.« »Für wen?« »Für meinen Bruder Philip.« Ich seufzte. »Ach ja. Für Ihren Bruder Philip, der in Genf Jura studiert?« »Er ist nicht in Genf.« »Ihre Frau Mama sagte es aber.« »Dann hat meine Mutter gelogen.« »Den Eindruck hatte ich nicht.« »Den Eindruck wollte sie auch nicht in Ihnen 256
erwecken. Bitte, würden Sie mir einen Augenblick zuhören, ohne mich zu unterbrechen?« »Gut, ich höre.« »Mein Bruder hat sich hier versteckt, schon bevor mein Vater verhaftet wurde. Mein Bruder hatte fünf Freunde. Sie hießen Pazar, Eftib, Vlahow, Pechanatz und Radiuje.« Ich ließ das Handtuch fallen. »Wissen Sie, was Sie da sagen?« »Natürlich. Ich kam ja extra her, um es Ihnen zu sagen. Die Beweise gegen meinen Vater sind echt. Nur ist er nicht schuldig. Der Schuldige ist mein Bruder Philip.« Ich lehnte mich zurück und starrte sie an. Sie sprach die Wahrheit. Und jetzt waren plötzlich viele Dinge ganz grauenhaft klar. »Wann hat Ihre Frau Mama das erfahren?« »Das hat sie mir nicht gesagt.« »Weiß Ihr Vater davon?« »Er muß es von Beginn des Prozesses an gewußt oder erraten haben. Aber was kann er tun? Er kann nicht seinen eigenen Sohn beschuldigen und Brankowitsch wird Philip sicher nicht aussagen lassen.« »Außerdem würde ihm niemand glauben. Man würde darüber lachen. ›Gehorsamer Sohn nimmt das Verbrechen seines Vaters auf sich.‹ Ich selbst würde darüber lachen.« Ich dachte einen Augenblick nach. Nun waren viele Dinge erklärt, aber durchaus nicht alle. Ich sah wieder zu ihr auf. »Und weshalb sagen Sie das alles mir, Fräulein?« 257
»Weil ich möchte, daß Sie die Aussagen meines Bruders veröffentlichen.« »Will er denn eine Aussage machen?« Ihre Lippen wurden schmal. »Er muß.« »Weiß Ihre Frau Mama etwas von diesem Plan?« »Ich würde ihr nie davon erzählen. Sie würde sagen, meinem Vater sei nicht zu helfen, und ich würde nur Philip ins Unglück stürzen.« »Womit sie recht hätte.« »Aber im Ausland soll man die Wahrheit wissen.« »Würde Ihre Frau Mama damit einverstanden sein?« »Das weiß ich nicht. Sie ist viel zu klug, um schlicht und einfach zu sein. Sie würde den Plan diskutieren und an Möglichkeiten denken, auf die kein anderer Mensch käme. Und dann würde sie sagen, sie sei müde. Ihre wahren Gedanken würden Sie nicht erfahren.« »Was hatte Ihr Bruder geplant? Ist er verrückt?« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Als mein Vater die Partei verriet, hatten er und Philip miteinander Streit. Sie hatten immer entgegengesetzte Standpunkte. Aber diesmal erreichte auch meine Mutter nichts.« Jetzt standen ihr die Tränen in den Augen. »Wir waren ja alle gegen ihn – sogar ich. Und als die Volkspartei an die Macht kam, trat Philip einer politisch orientierten Studentengruppe bei, dessen Sekretär dieser Pazar war. Pazar brauchte immer Geld, aber die Studenten mochten ihn gern. Er 258
konnte recht amüsant reden, und sie stellten ihn auch als Einpauker an. Als sie einen Klub gründeten, machten sie ihn zum Sekretär und beteiligten ihn an den Mitgliederbeiträgen. Philip merkte bald, daß diese Verbindung nichts Seriöses war, aber er befreundete sich sehr mit Pazar. Und dann erzählte ihm Pazar eines Tages, daß er Mitglied der Bruderschaft sei.« »Er hat es sicher genossen, es dem Sohn des Mannes zu erzählen, der so viel zur Vernichtung der Bruderschaft getan hatte«, warf ich ein. Es war nicht schwer, sich die Atmosphäre dieses gefährlichen Austausches von Vertraulichkeiten zwischen dem ältlichen Rauschgiftsüchtigen und dem fanatischen Jungen vorzustellen. »Vielleicht. Ich weiß jedenfalls, daß sich Philip nur an meinem Vater rächen wollte, als er in die Bruderschaft eintrat. Er hätte sich damit begnügt, nominelles Mitglied zu sein.« »Doch kaum war er eingetreten, da entdeckte er auch schon, daß man mehr als eine bloße Geste von ihm erwartete. War es nicht so?« Sie nickte. »Es wurden sechs unter ihnen ausgewählt, und Philip wurde zum Anführer ernannt. Sie hatten die Aufgabe, Vukaschin bei der Parade zur Feier des Jahrestages zu töten. Aber –« »Einen Augenblick bitte. Wer war der Mann, der ihnen den Auftrag gab?« »Es war kein einzelner Mann, sondern eine Gruppe. Sie nannten sich ›Die Überlebenden‹.« 259
»Wann hat Ihnen Philip all das erzählt?« »Ehe er in die Schweiz ging. Meine Mutter hatte angefangen, sich um ihn zu sorgen. Er sah so krank und müde aus. Sie überredete meinen Vater, ihn zum Studium nach Genf zu schicken. Natürlich weigerte sich Philip zuerst, wegzugehen, aber nach ein paar Tagen sagte er nichts mehr. Das war zu Weihnachten. Er hatte Vorkehrungen getroffen, heimlich zurückzukehren, sobald Pazar nach ihm schicken würde.« Sie machte eine Pause, ehe sie hinzufügte: »Ich wußte damals gleich, daß er gar nicht der wirkliche Führer war, sondern daß sie ihm diese Rolle nur seines Namens wegen zugeschoben hatten.« »Haben Sie ihm das gesagt?« »Er wußte es schon selbst, glaube ich. Aber wenn ich es ihm gesagt hätte, so hätte er sicher eine andere Dummheit gemacht, um mir zu beweisen, daß ich mich irre. Außerdem dachte ich, daß er in Genf vielleicht seine Ansichten ändern und die ganze Geschichte vergessen würde.« »Es kam aber anders.« »Ja. Wir hatten uns einen Code für unsere Briefe ausgedacht, und nach dem Attentat auf meinen Vater schrieb mir Philip, daß er zurückkomme. Ich habe ihn nur einmal gesehen. Wir trafen uns heimlich an einem Ort in der Nähe des Bahnhofs.« »Patriarch-Dimo-Straße 9?« »Nein, dort nicht. Aber er gab mir zwei Adressen, an die ich meine Briefe schicken konnte. Eine 260
davon war Valmo, Patriarch-Dimo-Straße 9. Die andere, sagte er, dürfe ich nur im Notfall gebrauchen, wenn ich ihn unbedingt erreichen müsse.« »Was stand in dem Brief, den Sie mir gaben?« »Ich bat ihn, nach Griechenland zu fliehen und von dort aus die Wahrheit über die Verschwörung gegen Vukaschin zu veröffentlichen.« »Und warum sind Sie heute zu mir gekommen?« Sie schaute mich tadelnd an. »Wegen der Beweise. Das müssen Sie doch begreifen, Herr Foster. Die Polizei weiß alles. Philip und Pazar sind die beiden einzigen Überlebenden. Sie sind irgendwo verborgen – unnütz. Philip kann nichts tun – selbst wenn er wollte. Es muß an seiner Stelle getan werden.« Ich dachte ein paar Sekunden angestrengt nach, dann schüttelte ich den Kopf. »Ich glaube, es ist nicht so einfach, wie Sie denken, Fräulein.« »Wie meinen Sie das?« »Nun, als erstes: Valmo war der Deckname Pazars. Als ich versuchte, Ihren Brief abzugeben, fand ich ihn tot. Mit einem Schuß im Hinterkopf. Er hatte schon ein paar Tage dort gelegen.« »Und was geschah mit meinem Brief?« »Den hat ein Mann namens Aleko verbrannt: dieser Aleko behauptete, zur Geheimpolizei zu gehören und Valmo zu heißen. Er sagte auch, Ihr Brief sei an ihn gerichtet gewesen und habe etwas mit dem Attentat auf Ihren Vater zu tun gehabt.« Ich beschrieb ihr Aleko. »Ist Ihnen ein solcher Mann bekannt?« 261
Sie schien vollkommen verwirrt. »Nein, Herr Foster.« »Und wie sieht Ihr Bruder aus?« Sie gab mir eine Beschreibung. Ich nickte. »So sah ein junger Mann aus, der in Alekos Zimmer trat, während ich da war. Ich sah ihn nur einen Augenblick. Aleko nannte ihn Jika.« Sie stand schnell auf. »Das ist Philip. Seine Freunde pflegen ihn Jika zu nennen. Herr Foster, wo ist die Wohnung?« »Das weiß ich nicht genau. Aber ich vermute fast, es ist die andere Adresse, die Ihnen Ihr Bruder gab. Haben Sie sie noch?« »Ich mußte sie auswendig lernen. Philip sagte, es sei zu gefährlich, sie aufzuschreiben.« »Und wie lautet sie?« »Paschik, Pan-Eurasischer Pressedienst, Serdika Prospek 15.« Ich ging zum Schrank, holte meine Flasche Slibowitz heraus und goß mir ein Glas voll ein. »Trinken Sie gern so etwas?« fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. »Nun gut, Fräulein. Und jetzt gehen Sie lieber nach Hause. Ich glaube, ich weiß, wo man Ihren Bruder erreichen kann.«
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17 Paschik wohnte in einem modernen Etagenhaus in der Nähe seines Büros. Er hatte es mir am Tage meiner Ankunft im Vorbeifahren gezeigt. Ich würde es ohne große Mühe finden. Taxis waren nicht da, also ging ich zu Fuß. Der Weg führte mich durch das Geschäftsviertel, und um diese Zeit waren die Straßen meist still und leer. Sie waren vor einigen Stunden schon für die Parade zum Jahrestag geschmückt worden, und das helle Mondlicht, das schräg durch die Fahnen über meinem Kopfe fiel, warf vielfältige Schatten, die sich im warmen Wind bewegten und drehten. Mir war, als ginge ich im Traum durch einen dunklen Wald. Ich war schon ein ganzes Stück gegangen, ehe ich anfing, mich zu fürchten. Das war ein sehr unangenehmes Gefühl. Die slibowitzbeschwingte Entschlossenheit, mit der ich ausgezogen war, schien plötzlich zu verfliegen. Ich zwang mich, weiterzugehen, aber ich konnte mein Zittern nicht beherrschen, und das kalte Grauen kroch in mein Gehirn. Was ich jetzt tat, war eine geradezu unglaubliche Dummheit. Vor noch nicht drei Stunden hatten zwei Männer versucht, mich auf der Straße abzuknallen. Ich hatte unwahrscheinlich Glück gehabt, daß ich ihnen entkommen war. Und nun ging ich wieder durch die Straßen und bot ihnen eine neue Chance. Denn sie warteten todsi263
cher auf mich. Eine so erbarmungslose Entschlossenheit wie die ihre mußte durch den Mißerfolg nur verstärkt worden sein. Ein zweites Mal würden sie nicht vorbeischießen. Bald sah ich in jedem Schatten einen Mann mit einem Revolver, in jedem Torweg einen Hinterhalt. Ich ging nur vorwärts, weil ich mich fürchtete, umzukehren. Und ich ging nicht schnell, weil ich Angst hatte, durch Rennen mich schneller ins Verderben zu stürzen. Die Beine schmerzten mich vor Anstrengung. Das Hemd klebte mir am Rücken. Ich war so kopflos, daß ich fünfzig Schritte an meinem Ziel vorbeiging, ohne es zu merken. Nach ein paar Sekunden irrer Angst stand ich dann an der Ecke des Boulevard Sokolowsky und versuchte, mich zu orientieren. Nun sah ich das Haus von einem mir bekannten Blickpunkt aus. Ich rannte die fünfzig Schritte zurück. Es war ein hohes schmales Haus mit massiven Balkonen aus Eisenbeton, von deren Seiten moderige Wetterflecken die Mauern hinunterliefen. Bei Tageslicht gaben diese Streifen dem Haus ein müdes, unglückliches Aussehen, so daß man sie ihm am liebsten mit einem Tuch vom Gesicht gewischt hätte. Im Mondlicht aber waren sie harte Schatten, aus denen die Balkone heraussprangen wie mißgestaltete Oberlippen. Die Haustüren – Ziergreuel aus Schmiedeeisen und gezogenem Glas – standen noch offen, und die Halle dahinter war nur matt durch den Lichtschein aus der Portierloge erleuchtet. 264
Als ich einen Augenblick stehen blieb, um wieder zu Atem zu kommen, blickte ich die Straße entlang zurück. Drei oder vier leere Wagen waren am Straßenrand geparkt, aber die waren schon vorhin da gewesen. Niemand war mir gefolgt. Ich ging ins Haus und drückte auf den Klingelknopf an der Portierloge. Nichts rührte sich. Nach ungefähr einer Minute ging ich zum Aufzug. Daneben war eine Tafel mit den Namen der Mieter. Paschik wohnte im vierten Stock. Der Aufzug war natürlich außer Betrieb. Ich sah die Treppe und stieg hinauf. Als ich vorhin den Entschluß gefaßt hatte, Paschik in dieser Nacht aufzusuchen, hatte ich mir ein deutliches Bild von der Unterhaltung gemacht, die sich entwickeln würde. Ich hatte ihn bereits im Bett gesehen, als ich ankam. Auf mein anhaltendes Klingeln war er endlich erschienen, eine trübselige Gestalt im Nachthemd (ich war überzeugt, daß er Nachthemden trug), übelriechend und schimpfend. Ich hatte seine Einwände kurzerhand abgeschnitten, ihm keine Zeit gelassen, sich eine Verteidigung auszudenken, ihm alles, was ich entdeckt hatte, an den Kopf geworfen und beobachtet, wie sich sein Gesicht verzerrte, als ihm klarwurde, wieviel ich wußte. Dann hatte er endlich müde die Achseln gezuckt. »Nun gut. Da Sie schon so viel wissen, kann ich Ihnen auch noch das übrige erzählen.« Und dann hatte ich mich hingesetzt, um ihn anzuhören. Die Wirklichkeit war etwas anders. Seine Wohnungstür lag am Ende eines kurzen 265
Ganges in der Nähe des Haupttreppenabsatzes. Als ich in den Gang bog, sah ich, daß die Tür halb offenstand und daß Licht in der Wohnung brannte. Ich ging durch den Gang bis zur Tür. Dann blieb ich, die Hand an der Klingel, stehen. Drinnen telefonierte jemand – oder vielmehr, er hörte zu; ich unterschied ein paar grunzende Laute, dann einige Worte, die ich nicht verstand. Es war aber nicht Paschiks Stimme. Ich zögerte, dann klingelte ich. Die Stimme brach ab. Drinnen bewegte sich jemand. Dann Schweigen. Plötzlich wurde die Türe aufgerissen und schlug gegen ein leise klirrendes Bild an der Wand dahinter. Einen Moment lang hielt ich den kleinen Vorraum für leer. Dann sah ich den Mann. Zwischen den Türen der beiden Zimmer, mir gegenüber, war ein schmaler Wandstreifen mit einem Spiegel. Darin das Gesicht des Mannes, der mit dem Fuß die Tür aufgemacht hatte. Es war Sibley. Er löste sich langsam von der Wand neben der Tür und blickte mich an. In der Hand hielt er einen schweren Aschenbecher aus Flaschenglas. Er stellte ihn im Vorraum auf den Tisch und grinste. »Sieh mal einer an! Freund Foster!« sagte er schalkhaft. »Das ist aber eine nette Überraschung! Ich sage ja immer: wie klein doch die Welt ist! Was, das sagen Sie auch immer? Natürlich nicht! Sie kommen wohl, um unseren übelriechenden Freund zu besuchen?« »Natürlich. Und was tun Sie hier?« 266
Er sah mich sonderbar an. »Nun, ich wollte ihn natürlich auch besuchen – scheint aber nicht zu Hause zu sein, was? Ich habe ihn schon überall gesucht.« »Und wem wollten Sie denn eins mit dem Aschenbecher über den Schädel geben?« »Jemand anderem, der hier nichts zu suchen hat. Genau wie ich. Ihr Besuch versteht sich von selbst. Sie sind doch sicher nicht zum erstenmal hier?« »Doch.« Er grinste wieder. »Dacht ich mir. Kommen Sie nur herein und tun Sie wie zu Hause. Ich war gerade beim Telefonieren.« »Ja, das hörte ich.« »Sie verstehen aber die Landessprache nicht, oder?« »Nein.« »Hab ich mir auch gedacht. Hier geht’s lang.« Er ging durch die Tür zur Linken. Zögernd folgte ich ihm. Es war ein Wohnzimmer, das offenbar vom Hausbesitzer eingerichtet worden war, mit eingebauten Schränken und Bücherregalen, einem eingebauten Sofa, würfelförmigen Sesseln, runden Tischen mit Glasplatten und einem weizenfarbenen Teppich. Genau dieselben Dinge, die man in jeder möblierten Wohnung in jeder Stadt Europas findet. Das Außergewöhnliche an diesem Zimmer war der Wandschmuck. Die Wände waren mit Ausschnitten aus amerika267
nischen Magazinen tapeziert. Da waren Bilder von Filmstars (lauter Frauen), Skizzen von halbnackten Frauen, die keine Filmstars waren, und plumpe erotische Zeichnungen von hingegossenen Verführerinnen in Spitzenhöschen. Im Zimmer eines Pubertierenden hätte das alles ganz natürlich gewirkt. Und doch war das noch der verständlichste Teil dieser Ausstellung; denn es war gar nicht so merkwürdig, daß Paschik gefühlsmäßig auf der Entwicklungsstufe eines Sechzehnjährigen stehengeblieben war. Aber das Auffallende war, daß jede Ann Sheridan, jede sandalenknüpfende Strandschöne, jede langbeinige Huri von einem säuberlich angeordneten Kranz von Inseraten umrahmt war. Betty Grable, die am nächsten hing, war umkränzt von Frigidaire-, Buick-, Lux- und American-Airlines-Inseraten, alle bunt und schön; eine sonnengebräunte Blondine, die von Wassertropfen glitzerte, hatte einen Rahmen von Coca-Cola-, United-Steel-, Diktaphon- und LordCalvert-Whisky-Anzeigen; eine Brünette im Schleiergewand, einen Herrenpantoffel in der Hand, blickte sinnend aus einem Kreis von Bell-Telefon-, Metropolitan-Lebensversicherungs-, General-Electricund Jello-Inseraten. Das Verblüffende daran war, daß Auswahl und Gruppierung der Inserate keinerlei Beziehungen zu den Bildern hatten. In der Anordnung war weder Witz noch eine Spur sozialer Kritik. Viele Anzeigen waren nicht einmal gut. Es war bizarr. Sibley war wieder zum Telefon gegangen. Er hat268
te etwas gesagt, dann zugehört, noch etwas gesagt und abgehängt. Nun machte er eine Geste mit den Fingern, als werfe er eine Papierkugel an die Wand. »Spaßiges Hobby, was?« »Das kann man wohl sagen. Wie sind Sie hereingekommen?« »Der Portier hat einen Dietrich – und ist bestechlich. Möchten Sie etwas trinken? Es muß doch etwas da sein.« Er öffnete einen Wandschrank und spähte hinein. »Kennen Sie Paschik näher?« »Würden Sie mir glauben, wenn ich ›ja‹ sagte?« »Nein.« »Nun, sagen wir es so: ich glaube ein bißchen mehr über ihn zu wissen als Sie. Zigarren sind da – aber nichts zu trinken«, fügte er hinzu und holte ein Zigarrenkistchen aus dem Schrank. »Zigarre gefällig?« »Danke, nein.« »Natürlich nicht. Sie brauchen etwas Trinkbares. Sie sehen schlecht aus und sind durcheinander. Versuchen wir’s mal hier.« Er ging zu dem anderen Schrank. »Sie haben wohl gar keine Angst, daß Paschik hier auftauchen und Sie dabei ertappen könnte, wie Sie sein Zimmer durchsuchen? Das würde Sie wohl nicht weiter in Verlegenheit bringen?« »Nein, nicht die Spur.« »Sind Sie deshalb hergekommen? Weil Sie wußten, daß er nicht hier ist?« Er sah von dem Schrank auf, in dem er herum269
kramte, und schüttelte den Kopf. »O nein, Foster mio«, sagte er sanft, »nicht deshalb. Ich hätte recht gern etwas mit ihm geplaudert. Als niemand auf mein Klingeln reagierte, kam mir ein anderer Gedanke, und ich holte den Portier. Dumm von mir, was? – Aber ich dachte tatsächlich, unser Georghi könnte tot sein.« »Wie kommen Sie auf solche Gedanken?« »Nun – es fiel mir so ein –« Er richtete sich mit einer Flasche in der Hand auf. »Na also! Unser alter Freund Slibowitz!« Und dann sah er mich direkt an. »Sie wissen doch Bescheid – wegen Pazar?« »Was ist mit Pazar?« »Nach dem Polizeibericht von heute abend wurde er in einem leeren Haus aufgefunden. Tot. Erschossen.« »Ach so. Das meinen Sie«, sagte ich so beiläufig wie möglich. Er griff wieder in den Schrank und holte zwei Gläser heraus. »Ein verlassenes Haus in einer Straße mit einem komischen Namen …«, sagte er. »Wie hieß sie doch?« »Patriarch Dimo.« Meine Stimme klang mir unnatürlich. »Stimmt! Wer hat es Ihnen erzählt? Freund Georghi?« »Ja; er hatte den Bericht.« Er brachte die Flasche und die Gläser herüber und stellte sie auf den Tisch. »Wann haben Sie ihn gesprochen?« 270
»Ach – vor ein paar Stunden.« Er schüttelte den Kopf. »Oh, mein Freund – mangelhaft bis ungenügend«, sagte er. »Nein, Foster, Sie müssen nicht ärgerlich werden. Ich habe Ihnen eine kleine Falle gestellt, und Sie sind prompt hineingerannt. Das ist alles. Der Bericht wurde erst vor einer halben Stunde ausgegeben. Ich telefonierte gerade mit der Redaktion, als Sie hereinkamen. Daher weiß ich es.« Er streckte den Kopf vor. »Und woher wissen Sie es?« Mir wurde wieder übel. Ich setzte mich. »War es doch Georghi, der es Ihnen erzählte?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn selbst gefunden – zufällig.« Er pfiff leise durch die Zähne. »Oi, oi, oi, Sie kommen aber herum! Und was für ein Zufall hat Sie in die Patriarch-Dimo-Straße geführt? Wieder so ein Zufall wie der, durch den Sie in Deltschevs Haus kamen?« »Nicht ganz.« »Ein bißchen den Privatdetektiv gespielt, was?« »Erraten.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Dann muß allerdings jemand eine Stinkwut auf Sie haben.« Mir wurde wieder schlecht. Ich holte tief Luft. »Vielleicht hat mich dieser Jemand deshalb umzubringen versucht.« Er sah mich eine Sekunde starr und ausdruckslos an. »Soll das ein Witz sein, Verehrtester?« fragte er leise. »Ein geschmackloser Witz?« 271
»Es ist kein Witz.« »Wo war das?« »Auf der Straße, die um den Park führt.« »Wann?« »Vor ein oder zwei Stunden.« »Ein Mann – oder zwei?« »Zwei.« »Könnte wohl einer davon unser Georghi gewesen sein?« »Nein.« Er schien erleichtert. »Ach du meine Güte! Armer Foster! Kein Wunder, daß Sie so schlecht aussehen. Und ich sitze da und schwatze in einem fort, statt Ihnen endlich etwas zu trinken zu geben. Hier.« Ich schluckte den Slibowitz hinunter und lehnte mich einen Moment mit geschlossenen Augen zurück. Ich hoffte, er würde mir glauben, daß ich mich elend fühlte. Ich mußte erst nachdenken. Und das war schwierig. Sibley war Brankowitschs bezahlter Spitzel, und schon hatte ich mich verraten. Paschik war mit Aleko und Philip Deltschev in eine Verschwörung der Bruderschaft zur Ermordung Vukaschins verwickelt. Die Trümmer dieses Komplotts wurden dazu benützt, den alten Deltschev zu überführen. Nun war Pazar, den vermutlich Aleko ermordet hatte, offiziell tot aufgefunden worden, am Vorabend der Parade zur Feier des Jahrestages, für die Vukaschins Ermordung geplant war. Die ganze Geschichte war wie eine dilettantische Intrige, wie ein miserabler dritter Akt, ganz als ob – 272
»Na? Ist Ihnen besser?« fragte Sibley. »Ja, danke.« Ich machte die Augen wieder auf. Er sah kalt auf mich herab. Er hatte mich durchschaut. Er lächelte. »Gott, waren Sie emsig diese Woche! Wissen Sie denn überhaupt, was Sie so interessant macht, daß man Sie umbringen will?« »Ganz und gar nicht.« Er setzte sich mir gegenüber. »Wenn Sie mir erzählen, was Sie wissen, könnte ich Ihnen einen Wink geben.« »Ach? Und vielleicht hätten Sie sogar einen Weg, es durch die Zensur zu bringen? Nebenbei, was macht Ihr kleiner Beamter im Propagandaministerium?« Er goß seinen Slibowitz hinunter und sah auf das leere Glas, als erwarte er, daß jemand nachschenke. »Vernimmt mein Ohr einen Ton von Bosheit und Mißtrauen in Ihrer Stimme, lieber Foster?« »Das ist schon möglich.« Er sah die Flasche an und goß sich wieder ein. »Das Trinken wird mich noch umbringen«, sagte er. »Ich war damals natürlich blau«, fuhr er fort, »aber es kam mir ungeheuer witzig vor. Obwohl ich nicht leugnen will, amigo mio, daß ich ganz gern gewußt hätte, wie Sie die Sache sehen würden.« »Nun, ich sah und sehe die Sache so, daß Ihr kleiner Beamter im Propagandaministerium, Brankowitsch heißt.« Er kicherte. »Wer hat Ihnen geflüstert, daß sie mit dem Trick kommen würden? Georghi?« 273
»Nein, nicht Georghi.« Er kicherte wieder. »Ach du meine Güte – nicht Georghi, aber ein anderer, dessen Namen Sie nicht nennen wollen, für den Fall, daß ich ein Spitzel des Ministeriums bin, der ihm Ungelegenheiten machen könnte. O Gott! O Gott! Ich verstehe. Ich habe Ihnen direkt in die Hände gespielt, was? Kein Wunder, daß Sie so unverschämt wurden. Der Witz war, daß man wenige Tage vorher bei mir dasselbe versucht hatte. Ich könne wegschicken, was ich wolle. Das war der Köder. Es würde natürlich eine Kleinigkeit kosten. Das sollte ihn schmackhaft machen.« Er seufzte. »Ich werde nicht gern für einen Esel gehalten – Sie etwa? Ich war ziemlich verärgert, und deshalb wollte ich mir einen Jux machen. Ich wollte zuerst so tun, als sei ich auf den Schwindel hereingefallen, und dann eine wirklich gräßliche Geschichte abliefern, die ich über Vukaschins Sexualleben gehört hatte. Dann wurde ich nüchtern und überlegte. Schließlich klaute ich ihren Text und probierte ihn bei jemand anderem. Georghi war mein erstes Opfer, und ich jagte ihm einen höllischen Schrecken ein – wenigstens stellte er sich so. Und das Verrückteste daran war: erst als er mich mit seinen großen Augen ansah und ich seinen zarten Duft in die Nase bekam, erinnerte ich mich, wo ich ihn schon gesehen hatte. Glauben Sie mir?« »Kein Wort.« Er blickte gefühlvoll zur Decke. »Es ist traurig, sehr traurig. Ich bringe es einfach nicht fertig, der 274
Wahrheit eine überzeugende Stimme zu leihen. Natürlich, ich sehe eben zu gerissen aus. Ich sollte doch lieber beim Lügen bleiben – finden Sie nicht auch?« »Wo haben Sie Paschik früher schon gesehen?« »Ah – nun habe ich doch Ihr Interesse geweckt. Wenn ich es nur so lange wachhalten kann, bis die Schlafmittel zu wirken anfangen, die ich in Ihr Glas geschmuggelt habe – dann wäre alles gut.« Unwillkürlich blickte ich in mein Glas. Er grinste. »Sie sind wirklich ein Langweiler, verehrter Freund. Wenn ich nicht unbedingt herausfinden möchte, warum man Sie eigentlich umbringen will – ich würde kein weiteres Wort verlieren.« »Es ist spät. Und ich bin müde. Außerdem –« »Es bringt einen ganz schön durcheinander, wenn man beschossen wird«, sagte er schnell. »Wie rücksichtslos von mir, das nicht zu bedenken!« »Ich habe mich nicht entschuldigt.« »Natürlich nicht. Sie hofften bloß, daß ich mit meinen blöden Witzen aufhöre und zur Sache komme. Meine Geschwätzigkeit ist lästig. Na schön. Sprechen wir also von Georghi Paschik, warum er lebt, nach wessen Bild er geschaffen wurde. Was hat er denn Ihnen über sich erzählt?« »Daß er aus Italien ausgewiesen wurde, weil er etwas geschrieben hatte, das Mussolini nicht gefiel; daß er in Österreich seiner Militärpflicht genügt hat; daß er Myrna Loy bewundert – ach nein, diesen Schluß zog ich selbst aus dem Bild in seinem Büro.« 275
»Sie muß seine geistige Mutti sein, wie? Nun, die Tatsachen sind kurz folgende: eigentlich staatenlos. Geboren in Trentino, von mazedonisch-griechischen Eltern, deren Staatsangehörigkeit aber nicht klar war. Erwirbt die ungarische Staatsangehörigkeit. Das Kuddelmuddel des Trianonvertrags. Dient in Österreich. Geht schließlich nach Paris und arbeitet als Bote bei Havas. Ehrgeizig, intelligent, ein Arbeitspferd. Schreibt gelegentlich Artikel, kommt vorwärts und kriegt endlich eine Anstellung in der Römer Redaktion. Dort ist er jemand. Dann aus Italien ausgewiesen. Sehr schlimm für ihn, weil seine Frau Italienerin ist und die Squadristi ihrer Familie einheizen. Regelt die Sache mit viel Mühe. Kurz darauf stirbt seine Frau. Er kehrt hierher zurück – in die Heimat seiner Vorväter. Mit sehr eigenartigen Ideen, wie die Welt regiert werden müßte.« »Was waren das für Ideen?« »Darauf komme ich noch. Also weiter: der Krieg bricht aus, und 1940 schifft sich Georghi nach Kairo ein. Eine Zeitlang arbeitet er dort für eine Zeitung, dann entschließt er sich, ein bißchen Kriegsdienst zu leisten, wird angenommen und geht als Dolmetscher zu den Engländern. Später, als das amerikanische Mittel-Ost-Kontingent ankommt, wird er zu den Amerikanern versetzt. 1945 taucht er in einer amerikanischen Zivilverwaltungs-Einheit in Deutschland auf.« »Noch als Dolmetscher?« »Noch als Dolmetscher. Bloß trägt er jetzt eine 276
Phantasie-Uniform und arbeitet in einem Displaced-Persons-Lager bei München. Unter einem Major namens MacReady. Bei dem hatte ich zu tun – und dort sah ich Georghi zum erstenmal und erfuhr etwas über ihn.« »Welche Aufgabe hatten Sie?« »Nachrichtendienst – bei den Engländern.« Er fing den Blick auf, den ich ihm zuwarf. »Ach du meine Güte – nein! Längst nicht mehr. Das war ein Zeitvertreib für den Krieg. Mit Uniform und dem ganzen Schwindel. Ich arbeitete zusammen mit einem Amerikaner, der dieselbe Aufgabe hatte wie ich – die schwarzen Schafe herauszufinden, die sich in den Vertriebenenlagern versteckt hatten, und sie auszubuddeln. Und dieser Mann erzählte mir von Georghi. Noch was zu trinken?« »Ja, gern, ja.« »Das ist recht. Da drin ist noch eine Flasche, wenn wir knapp werden, oder wenn Georghi heimkommt. Also weiter. Wir griffen zurück auf die Zeit, als Georghi in Kairo zu den Amerikanern kam. Kaum war er eingestellt, als er auch schon mit einem Leutnant, einem Techniker-Wachtmeister und einem Soldaten in eine kleine Gebirgsstadt im Libanon geschickt wurde. Ihre Aufgabe war, eine Abhorchstelle zu leiten, die das geheime Nachrichtenfunknetz in den Balkanländern überwachte. Ich glaube, es hatte irgend etwas mit der Eigenart von Kurzwellen zu tun, daß sie gerade dort stationiert wurden. Aber das ist unwichtig. Das Wesentliche 277
war, daß unser Georghi nun fast ein Jahr lang in der Wüste feststeckte, zusammen mit drei Amerikanern, die daran ebensowenig Geschmack fanden und unentwegt von zu Hause redeten. Über den Wachtmeister und den Soldaten weiß ich nichts. Der Leutnant war Funk-Techniker. Er hieß Kromak und kam aus Passaic, New Jersey. Kennen Sie den Libanon?« Ich schüttelte den Kopf. »Abends ist der Himmel weinrot, und die Schatten, die auf die Terrassen fallen, haben purpurne Ränder. Darüber dichtes Gerank – Trauben und andere Pflanzen mit großen Blüten und wundervollem Duft. Alles ist still und warm und sanft. Es ist die Atmosphäre, in der Mythen geboren werden, in der einem die Bilder, die dem Geiste vorschweben, wirklicher vorkommen als der Stuhl, auf dem man sitzt. – Sie sehen, ich werde lyrisch. – Nun, der springende Punkt war, daß Leutnant Kromak über Passaic, New Jersey, sprach und die Briefe seiner Frau laut vorlas. Und Georghi lauschte. Er erfuhr von Mollys bestandenem Examen und Michaels Studienberater im Camp, von Sues Baby und von der neuen Grassaat auf dem Rasenplatz vor dem Haus. Er hörte von dem neuen Eisschrank und von der Benzinknappheit, von Kromaks Freund Peter Staal, dem Zahnarzt, vom Jahrestreffen des Rotary Clubs, von der Maus im Zedernschrank und den neuen Vorhängen für die Veranda. Und wenn der allwöchentliche Brief zu Ende war, begannen die 278
Erinnerungen. ›Peter Staal. Peter Staal‹, pflegte Kromak träumerisch zu sagen, ›ein guter Zahnarzt, ein netter Kerl – aber verrückt, verrückt! Ich denke noch an den Abend, als Kitty und ich, die Deckers und die Staals zu Rossi gingen – Rossi ist ein italienisches Restaurant ganz hinten in der Franklinstraße – und Ravioli aßen. Haben Sie jemals Ravioli gegessen? Bei Rossi gibt es die besten Ravioli der Welt. Nun, wir wollten nicht zwei Wagen nehmen, also fuhren wir in meinem. Ich hatte damals einen Dodge. Aber kaum hatten wir gegessen, da sagte Helen, sie möchte hinüber zum Nutley Field Club. Das machte Peter wütend, und er sagte, wenn sie in den Klub ginge, so würde er nach Wilmington hinunter fliegen und seine Mutter besuchen. Natürlich wußte er ganz genau, was Helen eigentlich wollte – nämlich Marie und Dane Schaeffer treffen – ich habe Ihnen doch schon von den Schaeffers erzählt, nicht? Nun ja, und …‹ Und so redete und redete Kromak, während Georghi zuhörte und jedes Wort trank. Kennen Sie Passaic, New Jersey?« »Nein.« »Chemische Fabriken und etwas Leichtindustrie und die dazu gehörigen Arbeiterhäuser. Aber unserem Freund Georghi Paschik, der es durch die Augen Kromaks sah, den die Sehnsucht nach Frau und Kindern plagte, mußte es wie ein Paradies an häuslicher Geborgenheit und kultivierter Lebensart erscheinen. Sie wissen, wie das ist. Viele recht gescheite Europäer haben seltsame Vorstellungen vom Le279
bensstil der meisten Amerikaner. Nun, auf dieser Terrasse der Gebirgsstadt im Libanon muß der arme, unglückliche, verbannte Georghi für den American Way of Life eine leichte Beute gewesen sein. Um es bloß auf einen kulinarischen Nenner zu bringen: die Vernunft würde ihm sagen, daß die Ravioli, die er bei Rossi in der Franklinstraße in Passaic bekäme, nicht annähernd so gut sein würden wie die, die er schon in Rom oder Florenz gegessen hatte; aber die Ravioli bei Rossi waren eben sein Wunschtraum geworden. Denn sie hatten den Beifall von so legendären Gestalten wie den Deckers, Schaeffers und Staals gefunden, und darauf kam es an. Allmählich verstand er, warum die Amerikaner die Libanesen, mit denen sie zusammenkamen, nicht mochten. Libanesische Hygienebegriffe und libanesische Manieren waren anders als die von Passaic, New Jersey. Georghi hörte, wie ortsübliche Bräuche, die er entweder hingenommen oder nicht einmal bemerkt hatte, von den Amerikanern entrüstet mißbilligt wurden. Er war bedrückt und fing an, sich selbst zu prüfen. Sie verstehen, was nun geschah, nicht wahr? Zugleich mit seinem Traum von Passaic, New Jersey, begann Georghi Paschik ein amerikanisches Gewissen zu bekommen.« Er machte eine kleine Pause, um sein Glas auszutrinken und das meine nachzufüllen. »Wie weit schmücken Sie die Geschichte aus?« fragte ich. Er zuckte die Achseln. »Fast gar nicht. Aber der 280
Mann, der sie mir erzählte, war Amerikaner, und er konnte Kromaks Gefasel so gut wiedergeben, daß man Kromak selbst zu hören glaubte. Ich nehme jetzt nur die Stellen, deren ich mich ganz genau erinnere, und fülle die Lücken aus. Die Wirkung ist nämlich die gleiche. Jedenfalls wurde Georghi nach einem Jahr Unterricht im American Way of Life durch Leutnant Kromak nach Kairo zurückverfrachtet. Wieder kam er zu den Amerikanern – nur war der Hohepriester diesmal ein Molkereichemiker aus Minnesota und der Traum lag in einer etwas höheren Einkommenssphäre. Georghi las die Unabhängigkeitserklärung, die Verfassung der Vereinigten Staaten und die Ansprache von Gettysburg. Der nächste Prophet war ein Tankstellenbesitzer aus Oakland, California, und dann folgte ein Versicherungsagent aus Hagerstown, Maryland. So kam das Jahr 1944, und die Übergabeverhandlungen zwischen Deltschev und den angloamerikanischen Beauftragten. Damals unterstützte eine englische Einheit die Partisanen in Mazedonien. Sie beherrschten ein recht großes Gebiet und hatten ein Rollfeld, so daß es nicht allzu schwer war, die Zusammenkünfte zu arrangieren. Die Amerikaner flogen von Foggia ein. Deltschev reiste irgendwie über Land. Sie trafen sich in einer Dorfschule. Georghi war einer der Dolmetscher. Und nach der zweiten Konferenz verlor der arme kleine Georghi rettungslos den Kopf.« »Einen Augenblick. Hatte er Deltschev schon vorher gekannt?« 281
»Er hatte von ihm gehört, mehr nicht. Aber nun kommen wir zu der zweiten Geheimkonferenz. Nun, sie fand planmäßig statt, aber Gewitter verzögerten die Rückkehr, und man mußte vierundzwanzig Stunden im Dorf warten. Die Atmosphäre der Verhandlungen war recht freundlich gewesen, und in der Wartezeit ergaben sich allgemeine Gespräche über die Verhältnisse im Land und über die zu erwartenden Probleme, über die entsprechenden Maßnahmen, über die möglichen Lösungen etcetera. Der Mann, der mir davon erzählte, war selbst dabei. Nun, eines der behandelten Themen war die Bruderschaft des Offizierskorps. Deltschev sprach sehr offen über die Sache und die Schwierigkeit, damit fertig zu werden. Manche seiner Enthüllungen waren für die amerikanischen hohen Tiere wirklich erschütternd, und sie säumten nicht, ihm das zu sagen. Ich glaube, Deltschev muß gewünscht haben, er hätte die Sache nicht erwähnt. Jedoch in dieser Nacht ging Georghi zu ihm, um ihn allein zu sprechen. Es muß eine sonderbare Unterhaltung gewesen sein. Nachdem ihm Deltschev Geheimhaltung und Straffreiheit zugesichert hatte, enthüllte ihm Georghi, daß er selbst Mitglied der Bruderschaft sei, und zwar schon seit 1937, als er aus Italien in das Land seiner Väter zurückgekehrt war. Ich sagte Ihnen schon, er habe damals sonderbare Ideen darüber gehabt, wie die Welt gelenkt werden müsse. Er hatte ihnen Ausdruck verliehen, indem er der Bruderschaft beitrat. Aber jetzt, versicherte er Delt282
schev, sei das alles ganz anders geworden. Er hatte das Licht der westlichen Demokratie erblickt (das, so hätte er hinzufügen können, von Passaic, New Jersey, bis Hagerstown, Maryland, strahlte), und wollte nun alles wiedergutmachen. Kurz: die große Vernichtungsaktion der Provisorischen Regierung gegen die Bruderschaft wurde nur dadurch ermöglicht, daß Georghi zum Denunzianten wurde.« »Woher wissen Sie das?« »Der Mann, der es mir berichtete, war der Offizier, bei dem sich Deltschev Informationen über Paschik einholte. Der alte Herr hatte natürlich zuerst gedacht, Georghi sei entweder agent provocateur oder ein armer Irrer. Also war er sehr vorsichtig. Aber nach der nächsten Konferenz hatte er eine weitere Aussprache mit Georghi, und sie entwarfen einen Plan.« Sibley grinste. »Wissen Sie, Georghi hat, wenn man es recht überlegt, wirklich etwas sehr Tapferes getan. Er hätte ruhig bei den Amerikanern bleiben können. Statt dessen bat er sie, ihn an Deltschev abzugeben, und kam hierher zurück. Die Gefahr war doch ungeheuer, wenn man es bedenkt. Er konnte nicht wissen, ob ihn die Bruderschaft nicht schon längst als Verräter abgeurteilt hatte. Er war nicht im Lande geblieben, um zu kollaborieren. Er hatte im Dienste einer fremden Macht gestanden. Und nun war er wieder da, heil und gesund, zu einer Zeit, in der für einen Zivilisten die Reise von Athen fast unmöglich war. Jedoch er hatte es gewagt, und es war ihm gelungen. Ich glaube, außerhalb dieser 283
Stadt arbeitete das Nachrichtensystem der Bruderschaft nicht, und in der allgemeinen Verwirrung nahm sich niemand die Mühe, viele Fragen zu stellen. Georghi trat wieder seiner Zelle bei, und das Spiel begann. Eine Zelle bestand aus zehn Brüdern. Georghi lieferte nun Deltschev die Namen von sieben dieser Brüder. Dann wurden die drei Überlebenden, darunter natürlich Georghi, automatisch einer anderen Zelle zugeteilt, und wenn diese als nächste liquidiert wurde, mußten die Überlebenden der ersten Zelle mit den übrigen daran glauben. Bis auf Georghi. Er war der ewige Überlebende. Und eben weil die Bruderschaft eine Geheimorganisation war, konnte niemand wissen, wie viele Säuberungsaktionen unser Mann tatsächlich überlebt hatte. Er kam immer mit den Beglaubigungsschreiben und Geheimparolen der Zelle, die er gerade verraten hatte, und sorgte immer dafür, daß diejenigen, die mit ihm kamen, an der Spitze der nächsten Liquidationsliste standen. Und so war nie jemand da, der behaupten konnte, das Unheil folge ihm auf dem Fuße. Er machte die Liquidation immer zum erstenmal mit. Und doch war es gefährlich. Nach einiger Zeit munkelte man etwas von Verrat, und die Reste der Bruderschaft lösten sich auf. Zur Sicherheit hatte sich Georghi selbst als verdächtig verhaften lassen und war wieder entlassen worden. Nun hatte er getan, was er konnte. Und Deltschev verfrachtete ihn still und heimlich zurück zu den Amerikanern. Damals lernte ich ihn kennen.« 284
»Aber wieso haben Sie ihn dann jetzt nicht sofort erkannt?« »Er trug damals einen Schnurrbart, und, wie ich Ihnen schon sagte, Uniform. Tatsächlich war er so typisch amerikanisch, daß man einfach nicht glauben konnte, daß er nie über die Grenzen Europas hinausgekommen war. Sein Chef in Deutschland, Major MacReady, war das letzte Vorbild für Georghi. Er kam aus Texas. Sie kennen doch das gute Stück, das Georghi immer trägt? MacReady gab es ihm als Abschiedsgeschenk. Es kam aus einem Warenhaus in Houston. Es war auch eine Art Trostpreis. Denn Georghi hatte alles versucht, um eine Einwanderungserlaubnis nach Amerika zu bekommen, aber vergebens. Also kam er hierher zurück – und verlangte seinen Lohn.« »Seinen Lohn? Was meinen Sie?« »Überlegen Sie doch. Vor vier oder fünf Jahren ist er hierher zurückgekommen, ohne einen Pfennig in der Tasche. Und jetzt hat er diese Wohnung, die, wie Sie mir glauben können, für die örtlichen Verhältnisse recht teuer ist, und eine selbständige Presseagentur mit einem Dollareinkommen! Wie hätte er das fertiggebracht?« »Nun, er ist sehr betriebsam und tüchtig.« »Aber kein Genie. Außerdem war der ›PanEurasische Pressedienst‹ lange vor dem Krieg ein gutgehender Laden.« »Nun also, wie denn sonst – wissen Sie es?« 285
»Ja. Ich habe ein bißchen geschnüffelt. Der ›PanEurasische Pressedienst‹ war ursprünglich eine französische Gesellschaft, die in Monaco registriert war. Es war gar nicht leicht, aber es gelang mir mit der Hilfe unserer Pariser Redaktion, alles herauszubekommen. Und gerade heute erhielt ich Nachricht. Haben Sie Appetit auf eine kleine Überraschung?« »Ja.« »Also, hören Sie: alle Aktien des ›Pan-Eurasischen Pressedienstes‹ wurden 1946 dem französischen Syndikat, dem sie gehörten, abgekauft. 49 % davon lauten jetzt auf den Namen Georghi Paschik. Sie wurden auf einen Wechsel gekauft, der vom Besitzer der anderen 51 % ausgestellt wurde.« Er brach ab und grinste. »Nun, und? Wer ist der Besitzer?« »Madame Deltschev.« Mir blieb der Verstand stehen. »Sind Sie sicher?« »Sicher? Natürlich bin ich sicher.« »Aber dann war sie nur ein Strohmann.« »Ein Strohmann? Diese Frau? Seien Sie nicht töricht, Foster. Sie managte Väterchen Deltschev, als sei er ein Familienunternehmen. Und wenn Sie auf ihre Engelsmiene hereingefallen sind, so täten Sie gut, einmal gründlich zu überlegen. Ich bin Zeitungsreporter, mein lieber Foster, und habe einige hanebüchene Herren und Damen kennengelernt – aber unserer Madame Deltschev können sie alle nicht das Wasser reichen! Als ich vor zwei Jahren hier war, regierte sie das Land. Wenn es hier Stroh286
männer gab, so waren es ihr Mann und sein Sekretär, dieser Petlarow. Sie war es, die dachte und plante. Sie verfaßte die Reden. Sie machte die Politik. Glauben Sie denn, der eingetrocknete kleine Rechtsanwalt wäre von sich aus zur Macht gelangt? Nie im Leben! Das einzige, was er je gemacht hat, ohne sie um Rat zu fragen, war diese verflucht dämliche RundfunkAnsprache, die praktisch das ganze Land an die Volkspartei ausgeliefert hat. Väterchen Deltschev! Daß ich nicht lache! Im Gerichtssaal wird nicht ein Prozeß gegen einen Mann geführt, sondern es wird eine Legende zerstört, und ich wette, Madame Deltschev kämpft wie eine Löwin für ihr Junges, um sie am Leben zu erhalten. Warum sollte sie nicht? Es ist alles ihr Werk. Der einzige Deltschev, über den dort zu Gericht gesessen wird, ist sie.« Ich schüttelte den Kopf. »O nein, das stimmt nicht.« Er sah mich groß an. »Nein?« »Nein. Was ihren Mann betrifft, so mögen Sie recht haben. Aber sie hat nicht alle Deltschevs beherrscht.« »Ja, bitte, von wem reden Sie denn?« »Von ihrem Sohn, Philip Deltschev. Er ist Mitglied der Bruderschaft. Er war durch Pazar angeworben worden. Und er ist der Deltschev, der die Verschwörung gegen Vukaschin aufgezogen hat. Verstehen Sie, Sibley; man benutzt die Beweise gegen den Sohn, um den Vater zu verurteilen. Und man weiß es.« 287
Sibley starrte mich an, und sein Gesicht wurde immer länger. »Und das ist noch nicht alles«, fuhr ich betrübt fort. »Die Verschwörung existiert noch. Und Philip Deltschev lebt noch. Ich sollte ihm einen Brief von seiner Schwester Katerina bringen. Die Adresse war Patriarch-Dimo-Straße 9. Und statt Philip Deltschev fand ich dort Pazar – mit einer Kugel im Hinterkopf. Dann tauchte plötzlich Paschik auf. Welche Rolle er dabei spielt, weiß ich nicht. Aber er tauchte auf und nahm mich mit zu einem Mann namens Aleko, der behauptete, zur Geheimpolizei zu gehören, was aber nicht stimmt. Tatsächlich ist er ein Berufskiller, der die aparte Gewohnheit hat, seine Opfer in den Hinterkopf zu schießen. Er schien die ganze Sache zu leiten. Philip Deltschev war auch dort, unter dem Namen Jika. Sie stellten mir die Sache in der Patriarch-DimoStraße so dar, als sei sie nur ein Teil einer Falle, die die schlaue Polizei dem Deltschevattentäter gestellt hatte. Ich tat, als glaubte ich ihnen, und versprach, weitere Besuche im Hause Deltschev zu unterlassen. Natürlich wollten sie vermeiden, daß ich Katerina irgendwelche Fragen stellte. Auch Paschik warnte mich unter vier Augen noch besonders eindringlich davor.« »Und Sie sind doch wieder hingegangen?« Sibley war kreidebleich. »Ja.« »Und da fragen Sie noch, weshalb man Sie ermorden wollte?« 288
»Jetzt frage ich nicht mehr. Denn wenn es herauskäme, daß Philip Deltschev der Deltschev der Beweise ist – dann wäre der ganze Prozeß natürlich lächerlich.« Er sprang auf. »Lächerlich?« Er hob die Stimme. »Sie gottverdammter Narr – wissen Sie denn gar nichts über dieses Land? Sehen Sie nicht, was hier gespielt wird? Die Volkspartei hat die ganze Verschwörung übernommen. Aleko arbeitet für sie, nicht für die Bruderschaft, und er wird es sein, der schießt. Der junge Deltschev ist doch bloß der Sündenbock.« »Der Sündenbock? Wofür?« »Für das morgige Attentat, Sie Tölpel! Verstehen Sie denn immer noch nicht? Es ist der Tag des Jüngsten Gerichts! Die Volkspartei steht im Begriff, ihren Chef Vukaschin zu liquidieren!«
18 Sibley hatte seinen Dienstwagen dabei, und er fuhr mich bis oder wenigstens fast bis zu meinem Hotel. Er fürchtete sich so, daß ich zuerst dachte, er würde mir sogar das abschlagen. Aber in meiner Angst hatte ich insgeheim beschlossen, ihn zu töten, wenn er mich zwingen wollte, zu Fuß zu gehen, und das muß er wohl gemerkt haben. Während der ganzen Fahrt wechselten wir kein Wort. An der Straßenekke vor dem Hotel hielt er. Ich sah ihn an. 289
»Ich fahre nicht mit Ihnen vor«, sagte er grob, »Sie können hier aussteigen.« »Gut.« Ich war kaum ausgestiegen, als er auch schon die Tür hinter mir heftig zuschlug und abbrauste. Ich begriff seinen Standpunkt. Wenn Alekos Leute im Hotel auf mich warteten, war es gefährlich, dort zu halten. Ich ging um die Ecke und wartete. Vor dem Hoteleingang stand ein Polizeiwagen. Ich ging auf die Drehtür zu, die sich in einer Nische befand, und als ich näher kam, sah ich einen Uniformärmel. Ich wurde mutiger und ging weiter. Wenn die Polizei da war, konnten wenigstens keine Mörder im Hinterhalt liegen. Ich erreichte den Eingang und betrat das Hotel. Ein Polizist sah mich scharf an. Im Foyer standen einige Militärpolizisten um den hemdsärmeligen Nachtportier. Sie schienen ihn auszufragen. Als ich dann durch die Drehtür kam, sahen mich alle an. Der Nachtportier deutete auf mich: »Das ist Herr Foster«, sagte er. Ein Offizier trat vor, und zwei seiner Leute traten hinter mich. »Bitte Ihre Papiere.« Er sprach deutsch. Ich kramte sie irgendwie hervor. Meine Hände zitterten. Er prüfte die Papiere, machte dann meine Jacke auf, um nachzusehen, ob ich eine Waffe trug, und nickte den beiden Männern hinter mir zu. »Sie sind verhaftet«, sagte er. »Sie kommen mit uns.« Ich machte kehrt und ging wieder zur Drehtür. 290
Ich kam gerade noch hinaus, ehe ich mich heftig übergeben mußte. Ich setzte mich mit den Polizisten auf die Bank des Polizeiwagens. Der Offizier sperrte uns ein und nahm neben dem Führer Platz. Ich sah nicht, wohin wir fuhren. Es dauerte nicht lange. Schließlich erholte ich mich so weit, daß ich fragen konnte, was man mir eigentlich zur Last lege. Dabei stellte ich fest, daß die Polizisten kein Deutsch sprachen. Der Wagen machte eine Wendung, holperte über Kopfsteinpflaster und hielt. Ich hörte den Offizier aussteigen. Dann herrschte Schweigen. Wir warteten etwa 10 Minuten. Wenn der Wagen stand, drehten sich die Ventilatoren im Dach nicht, und bald wurde die Luft warm und schal. Ich roch die Uniformen der Polizisten, das eingefettete Lederzeug und ihren säuerlichen Weinatem. Endlich klangen Schritte auf dem Pflaster, und die Tür des Wagens wurde aufgemacht. Der Offizier leuchtete mit seiner Taschenlampe herein. »Aussteigen.« Die Polizisten kletterten hinaus, und ich folgte. Wir standen in einem viereckigen Hof mit einem hohen Torbogen. Auf den anderen drei Seiten war der Hof von einem Gebäude mit vergitterten Fenstern umschlossen. Ein Gefängnis, dachte ich. Das einzige Licht kam aus der schmalen Eingangstür in der Nähe des Wagens. »Vorwärts.« Auf dem Weg zur Tür stolperte ich auf den 291
Kopfsteinen, und einer der Polizisten ergriff meinen Arm. Ich schüttelte seine Hand ab und ging hinein. Ich betrat einen langen Gang mit Steinboden, der nach Kaserne roch. Vom Offizier geführt, gingen wir den Korridor entlang, dann ein paar Steinstufen hinauf, dann wieder durch einen Gang, dann wieder über ein paar Stufen. Das Gebäude war offensichtlich kein Gefängnis. Am Ende des zweiten Korridors war eine Holztür mit einem Posten davor. Als wir kamen, riegelte er die Tür auf. Der Offizier ging voran, und plötzlich verstummte das Geräusch seiner Schritte. Der Korridor, den wir jetzt betraten, war mit Teppichen belegt. Wir gingen weiter zwischen Wänden, die bis zur hochgewölbten Decke reich verziert waren. Marmorsockel mit Büsten darauf und vergoldete Armleuchter mit elektrischem Kerzenlicht standen in gewissen Abständen an den Wänden. Türen sah ich keine. Ehe wir das Ende des Korridors erreicht hatten, bogen wir in einen schmalen Durchgang, wie man ihn auf Passagierdampfern findet. Dann kamen mehrere Türen. Der Offizier musterte sie der Reihe nach, dann öffnete er eine und winkte mir, einzutreten. Es war offenbar ein Sitzungssaal, mit einem langen Tisch und etwa einem Dutzend Stühlen, einem zweiten Tisch, auf dem ein Telefon stand, und einem Bücherschrank. Über dem schweren Marmorkamin hing in vergoldetem Rahmen ein Porträt Vukaschins, mit der Landesfahne geschmückt. Vor den Fenstern waren grüne Leinenvorhänge, neben dem 292
Kamin eine verhangene Tür. Der Raum roch nach kaltem Zigarettenrauch. Die Tür, durch die ich eingetreten war, schloß sich hinter mir, und ich hörte, wie der Schlüssel umgedreht wurde. Ich sah mich um und fand mich allein. Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Es war zwei. Ich setzte mich an den Tisch. Der Kopf tat mir weh, und ich hatte einen scheußlichen Geschmack im Mund. Vor mir auf dem Tisch stand eine Karaffe mit Wasser und zwei Gläsern. Ich trank etwas Wasser. Es war stark chlorhaltig und weckte wieder meinen Brechreiz. Ich steckte mir schnell eine Zigarette an. Minuten vergingen. Ab und zu hörte ich draußen auf dem Gang eine Bewegung oder ein Husten. Meine Eskorte war also noch da. Als ich mit der ersten Zigarette fertig war, zündete ich mir eine zweite an. Wenn ich ins Gefängnis kam, würde man mir sicher meine Zigaretten wegnehmen. Da konnte es nicht schaden, zu rauchen, solange ich noch durfte. Aber dieser schwache Versuch, mich philosophisch auf die Situation einzustellen, war nicht sehr erfolgreich. Denn ob ich etwas zu rauchen hätte oder nicht, würde in meiner unmittelbaren Zukunft ziemlich gleichgültig sein. Wenn Sibley recht hatte – und ich wußte, daß er recht hatte –, konnte meine Verhaftung nur eines bedeuten: daß Aleko, nachdem es ihm nicht gelungen war, mich zu erschießen, es seinen Auftraggebern überließ, mit mir fertig zu werden. Das war kein sympathischer Gedanke. Andererseits mochte 293
die Partei zu dem Schluß gekommen sein, daß es ein unkluger Schachzug wäre, einen ausländischen Journalisten ausgerechnet dann zu ermorden, wenn sie dabei war, ihre Schuld an einem viel größeren Verbrechen in Abrede zu stellen. Aber vielleicht war ihre Überlegung eine andere. Vielleicht hielten sie die Scherereien, jemanden umzubringen, der zu viel wußte, für ein Kinderspiel im Vergleich mit den Scherereien, als Komplizen des Mörders ihres Führers entlarvt zu werden. Der Tod schien mir in diesem Augenblick sehr nahe. Ich hoffte nur, er würde es gnädig machen. Vielleicht, wenn er sich der Hand Alekos bediente … Ich fuhr mit einem Ruck herum, mein Herz raste, und ich bekam eine Hühnerhaut. Die Gardine vor der Tür auf der anderen Seite des Zimmers hatte sich bewegt. Ich stand auf. Ich hatte die verrückte Idee, ich müsse aufstehen, um ein bequemes Ziel zu sein, wenn mich jemand, der hinter dem Vorhang stand, erschießen wollte. Der Vorhang bewegte sich wieder. Eine leichte Zugluft von irgendwoher hatte sich darin verfangen. Dann hörte ich, daß eine Tür im Nebenraum geschlossen wurde, dann Schritte, und nun öffnete sich die Tür hinter dem Vorhang und eine Hand schob die Falten beiseite. Brankowitsch trat ins Zimmer. Er sah mich kurz an, ehe er die Tür hinter sich 294
schloß. Dann kam er um den Tisch herum auf mich zu. »Setzen Sie sich, Mr. Foster.« Er deutete mit dem Kopf auf einen Stuhl und setzte sich mir gegenüber. Sein Gesicht war hager und unrasiert, aber er sah nicht aus, als sei er eben aus dem Bett geholt worden. Wahrscheinlich kam er von einer Konferenz. Die Stunden vor einem Staatsstreich, der mit einem Mord beginnen sollte, waren für einen Propagandaminister sicher recht strapaziös. Ich war eine der unvermeidlichen Störungen. Er seufzte. »Eine Zigarette?« Er zog sein Etui heraus. »Danke nein, ich habe schon eine.« Das war idiotisch. »Es freut mich, daß Sie Ihren Gefangenen das Rauchen erlauben«, fügte ich hinzu. Er kniff die Lippen zusammen. »Ich glaube, es ist besser, wenn Sie witzige Bemerkungen unterlassen, Mr. Foster. Sie werden mit großer Rücksicht behandelt, wie Ihnen meine Gegenwart hier wohl beweisen dürfte. Es wäre nichts als höflich von Ihnen, das auch anzuerkennen. Denn hoffentlich begreifen Sie, daß Sie sich in einer sehr ernsten Lage befinden.« »Es fällt mir schwer, überhaupt etwas zu begreifen. Herr Minister. Ich weiß nur, daß ich verhaftet und hierhergebracht wurde. Ich würde gern erfahren, was denn gegen mich vorliegt. Und ich möchte vor allem, daß die Britische Botschaft sofort davon unterrichtet wird.« Seine hochmütigen dunklen Augen sahen mich fest 295
und kalt an. »Es wäre gescheiter, Sie ließen die Maske der Unschuld fallen, Mr. Foster. Sie verschwenden Zeit. Wenn Sie es vorziehen, als gewöhnlicher Verbrecher behandelt zu werden, so können Sie das haben. Wenn Sie aber die Tatsache, daß ich hier sitze und mit Ihnen spreche, als Beweis der Rücksichtnahme auf einen berühmten ausländischen Schriftsteller anerkennen, können wir weiterreden.« Ich schwieg. Er zündete sich eine Zigarette an. »Also gut. Heute am frühen Abend wurden in der Allee, die um den Regierungspark führt, von zwei Männern Schüsse auf einen dritten Mann abgegeben. Die Polizei verfolgte die Männer, die geschossen hatten. Sie entkamen. Der dritte Mann ebenfalls. Aber etwas fand die Polizei doch. Einen Hut. In dem Hut stand Ihr Name, Mr. Foster. War es Ihr Hut?« Ich zögerte. »Ja, es war mein Hut.« »Warum zögerten Sie? Haben Sie überlegt, ob Sie lügen sollten, Mr. Foster?« Seine Augen hingen an den meinen, und in dieser Sekunde verstand ich den Sinn unseres Gesprächs. Brankowitsch wußte, was Aleko wußte. Er wußte von dem Brief an Philip Deltschev; er wußte, daß ich Pazar gefunden hatte; er wußte, daß Aleko mir Deltschevs Haus verboten und daß ich an diesem Abend das Verbot übertreten hatte; er wußte von Alekos Versuch, mich zu ermorden, und daß es ihm mißlungen war; er wußte vielleicht sogar, daß Katerina mit mir gesprochen hatte. 296
Und jetzt versuchte er, herauszubekommen, wieviel ich wußte und wie gefährlich ich war. Wenn ich von der Verschwörung gegen Vukaschin nichts wußte, war ich ungefährlich. Wenn ich aber darum wußte oder auch nur eine Ahnung von der Wahrheit hatte – dann mußte ich verschwinden. Ich beugte mich vor und drückte meine Zigarette in dem Aschenbecher aus, der neben ihm stand. Dann lächelte ich kläglich. »Sie haben sicher Verständnis für meine Lage, Herr Minister. In ein polizeiliches Verfahren verwickelt zu werden, ist das Letzte, was ich mir wünsche. Zwei bewaffnete Männer versuchten mich aufzuhalten. Zum Glück gelang es mir, ihnen zu entkommen. Es passierte in einem sehr dunklen Straßenstück, und ich konnte ihre Gesichter nicht sehen. Was hätte ich also der Polizei nützen können?« »Es wäre Ihre Pflicht gewesen, dieses Vorkommnis zu melden. Dadurch, daß Sie wegliefen, und durch die Art Ihrer Flucht haben Sie bei der Polizei einen Verdacht erregt.« »Was für einen Verdacht?« »Nun, ob Sie nicht selbst einer der Männer waren, die geschossen haben.« »Glauben Sie das, Herr Minister?« »Was ich glaube, spielt dabei keine Rolle. Das Ganze ist Sache der Polizei. Sie ist mir lediglich zunächst einmal als politische Angelegenheit vorgelegt worden, weil Sie sich hier als fremder Pressevertre297
ter aufhalten. Aber ich kann nicht verhindern, daß Sie als gewöhnlicher Verbrecher behandelt werden. Ich kann der Polizei nur meine Meinung mitteilen.« »Wenn ich ein Verbrecher wäre, Herr Minister, würde ich dann wohl so nachlässig gewesen sein, einen Hut mit meinem Namen darin zurückzulassen?« »Die Polizei zieht ihre Schlüsse aus der Dummheit des Verbrechers, nicht aus seiner Klugheit. Aber nehmen wir einmal an, Mr. Foster, daß Ihre Darstellung der Wahrheit entspricht: aus welchem Grunde hat man Sie, Ihrer Meinung nach, wohl angegriffen?« Nun war es soweit. Ich machte ein betretenes Gesicht. »Aus welchem Grunde? Nun, es war ein Raubversuch, nehme ich an. Was sonst?« Er stellte sich, als denke er darüber nach. Dann fragte er: »Nun, haben Sie sich vielleicht hier irgendwelche Feinde gemacht?« Ich atmete erleichtert auf. Wenn er nichts Besseres vorzubringen hatte, brauchte ich mir keine Sorgen zu machen. »Feinde? Nicht daß ich wüßte.« »Sind Sie vielleicht – wieder bloß eine Annahme – in ungewöhnliche Begebenheiten verwickelt worden, die der Polizei einen Hinweis geben könnten?« Ich zögerte wieder. »Ich würde Ihnen raten, offen zu sprechen, Mr. Foster. Sehen Sie, Raubversuche dieser Art sind hier ein höchst ungewöhnliches Vorkommnis. Ich will damit nicht etwa sagen, daß es hier keine gewalttäti298
gen Verbrecher gäbe. Aber es kommt kaum vor, daß sie Revolver haben. Denn es ist verboten, Schußwaffen zu tragen; das ist bei uns ein Verbrechen, auf dem Todesstrafe steht. Wir mußten das Gesetz erlassen, weil wir mit der Bruderschaft aufzuräumen hatten, aber natürlich gilt es für jeden. Nun, Räuber hätten versucht, Sie mit einem Messer zu töten. Das versuchten diese Männer nicht. Wenn sie aber keine Räuber waren, was waren sie dann? Das ist die Frage, die die Polizei beschäftigt.« Ich zögerte immer noch. Ich war in einer schrecklichen Lage. Offenbar meinte er mit den ›ungewöhnlichen Begebenheiten‹, von denen ich ihm erzählen sollte, daß ich die Leiche Pazars gefunden und mit Aleko gesprochen hatte. Aber welche Taktik war jetzt die richtige? Offenheit oder List? Hinter welcher konnte ich das, was ich wußte, am besten vor ihm verbergen? Die Offenheit hatte ihre Gefahren. Er war imstande, mich ins Kreuzverhör zu nehmen, in der Hoffnung, mich dabei zu erwischen. Oder er konnte aus meinem Benehmen schließen, daß ich nicht so naiv war, wie ich schien, und daß ich vermutlich auf Alekos Erklärungen nicht hereingefallen war. Vielleicht war verstocktes Schweigen besser. Das Schweigen allein konnte schon zweckdienlich sein. Es würde ihm sagen: ›Dieser Mann weiß gar nicht, daß ich weiß, was er verbirgt. Wenn er daher vorgibt nichts zu wissen, so ist das ein Beweis, daß er die wichtigsten Dinge tatsächlich nicht weiß.‹ Aber er konnte auch hinzufü299
gen: ›Und sicher will er, daß ich das denken soll. Also blufft er, das ist klar.‹ »Nun, Mr. Foster?« Er hatte mein Gesicht ganz genau beobachtet. Plötzlich, verzweifelt, traf ich die Entscheidung. Ich holte tief Atem. »Nun gut, Herr Minister. Ich will offen sein. Ich muß Ihnen etwas gestehen.« »Etwas gestehen, Mr. Foster?« »Allerdings.« Und dann hatte ich eine tollkühne Eingebung. Ich sah ihn ärgerlich an. »Und genau darauf warten Sie doch, nicht?« »Auf was soll ich warten?« »Herr Minister – bei allem schuldigen Respekt: ich habe genug von diesem Katz- und Mausspiel. Ich bin töricht gewesen. Gut. Ich habe meine Nase in etwas hineingesteckt, was mich nichts anging und habe dabei ein paar Dinge entdeckt, die ich nicht wissen sollte. Auch gut. Ich gebe es zu. Ich dachte nicht, daß Herr Valmo Sie damit belästigen würde. Ich hoffte, er würde es nicht tun. Aber da es geschehen ist, bedaure ich es. Ich kann Ihnen versprechen, daß ich in meinen Artikeln nichts davon auch nur andeuten werde. Mehr kann ich dazu nicht sagen.« Er starrte mich an. Die Haut seines Gesichtes spannte sich ganz straff. Für eine Sekunde war es eine höchst merkwürdige und furchtbare Maske. Die Lippen bewegten sich. »Mehr – nicht, Mr. Foster?« »Ja, was soll ich sonst noch sagen? Ich fand einen 300
Toten, den die Polizei als Köder irgendwo hingelegt hatte. Natürlich war Herr Valmo darüber wütend. Aber er tadelte mich nicht. Denn ich hatte in aller Unschuld gehandelt. Ich begreife nicht, weshalb ein solches Theater darum gemacht wird.« »Hatten Sie Herrn Valmo nicht ein feierliches Versprechen gegeben?« Ich machte ein verlegenes Gesicht. »Ja, das tat ich allerdings.« »Und dennoch gingen Sie wieder in Deltschevs Haus?« »Leider – ja.« »Warum gingen Sie hin?« »Ich hatte das Gefühl, ich müsse hören, was Madame Deltschev über die Beweisaufnahme sagte. Um ehrlich zu sein: ich fand es wichtiger, ihre Ansichten zu hören, als einem Befehl zu gehorchen, dessen Sinn ich überhaupt nicht einsehen konnte.« »Haben Sie mit Katerina Deltschev gesprochen?« Ich machte wieder ein verlegenes Gesicht. »Nein, die alte Dienerin hat mich eingelassen.« »Mr. Foster, was meinen Sie: wer waren die beiden Männer, die heute abend versuchten, Sie zu töten?« »Ich habe keine Ahnung. Das sagte ich Ihnen schon. Ich habe ihre Gesichter nicht sehen können.« »Ich glaube, Sie stellen sich dümmer, als Sie sind, Mr. Foster. Wie erklären Sie sich nach reiflicher Überlegung die Geschichte mit den beiden Männern? Wenn es keine Räuber waren – was waren sie?« 301
Eine Sekunde lang dachte ich, nun sei mir doch noch alles mißlungen. Es war der Ausdruck ›nach reiflicher Überlegung‹, der den Ausschlag gab. Wenn er nun weiterdachte bis zu dem Moment, wo mir, nach Vukaschins Ermordung, ein Licht aufgehen würde, dann war ich tatsächlich erledigt. Wenn er dachte, ich hätte auch nur die entfernteste Möglichkeit, die Wahrheit aufzudecken, dann mußte er sich gegen mich entscheiden. Ich machte einen letzten Versuch. Ich starrte ihn voll Entsetzen an, als begriffe ich plötzlich: »Meinen Sie, es waren Mitglieder der Bruderschaft?« Zehn lange Sekunden antwortete er nicht. Dann nickte er. »Ja. Sie sehen, Mr. Foster, daß Valmos Verbot, das Sie so unverantwortlicherweise übertreten haben, nicht unbegründet war. Natürlich hat Valmo Ihnen nicht alle Tatsachen erzählt, aber wir hatten Grund zur Annahme, daß die Bruderschaft Interesse daran hatte, Madame Deltschev zu erreichen … Man hat Sie heute nacht irrtümlich für einen von Valmos Leuten gehalten. Sie können von Glück sagen, daß Sie noch leben.« Er hatte den Schwindel mit Haut und Haaren geschluckt! Und er hatte sich selbst verraten. Ich lehnte mich mit einem Seufzer zurück, der alles mögliche bedeuten konnte, tatsächlich aber aus einem Gefühl der Erleichterung kam, das fast weh tat. Zum Glück verlor ich nicht den Kopf. Denn es war noch etwas unerwähnt geblieben. Und wenn er 302
nicht von selbst davon anfing, mußte ich es tun, und ich wußte nicht wie. Ich wagte es noch einmal. Ich runzelte plötzlich die Stirn. »Nur eines verstehe ich nicht«, sagte ich. »Ihr Amt hat heute den Bericht herausgegeben, daß man Pazar erschossen aufgefunden hat. Die Details ließen mich vermuten, es sei der Mann, den ich gefunden hatte. Warum hat mir Valmo nicht gesagt, wer er war? Wozu die Geheimniskrämerei?« »Hätte er sich denn auf Ihre Diskretion verlassen können, Mr. Foster?« »Natürlich.« »Ebenso wie auf das Versprechen, das Sie ihm gaben?« Jetzt glaubte er, meiner ganz sicher zu sein. Ich versuchte es wieder mit der verlegenen Miene. Er lächelte ein böses Lächeln. »Ich will deutlich sprechen, Mr. Foster. Ich finde, Ihr Betragen hier hat, milde gesagt, gegen die Standesregeln verstoßen. Wären Sie Zeitungsreporter, so würde ich eine geharnischte Beschwerde loslassen, sowohl bei Ihrem Arbeitgeber als auch bei der Britischen Botschaft hier. So wie die Dinge liegen, werde ich die Polizei anweisen, Sie morgen früh zu entlassen. Jedoch muß ich Ihnen jede Vergünstigung in bezug auf den Prozeß Deltschev entziehen. Ich empfehle Ihnen auch – inoffiziell –, das Land sofort zu verlassen – sagen wir spätestens mit dem morgigen Abendzug. Falls Sie diesen Rat nicht befolgen, würde ich vorschlagen, daß Ihnen Ihr Visum und Ihr 303
permis de séjour sofort entzogen werden. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?« Ich protestierte so überzeugend ich konnte, ich verlangte einen offiziellen Ausweisungsbefehl, ich wurde wütend, und schließlich verlegte ich mich aufs Bitten. Offensichtlich langweilte ich ihn sehr. Erst nachträglich machte ich mir klar, daß er damals fast ebenso erleichtert gewesen sein mußte wie ich, daß das Problem, das ich verkörperte, nun aus dem Wege geräumt war. Vielleicht war ihm sogar der Gedanke, mich töten lassen zu müssen, sehr unangenehm gewesen. Die letzten Worte, die er zu mir sagte, ließen sich fast so auslegen. Um meinen Redefluß abzuschneiden, pochte er endlich an die Tür, und die Wachen kamen herein. Er gab ihnen einen Befehl und wandte sich zum Gehen. Dann hielt er inne und kam zurück. »Mr. Foster«, sagte er, »ich habe einmal eine Aufführung eines Ihrer Stücke gesehen. Es hat mir sehr gut gefallen. Warum bleiben Sie nicht beim Theater? Ich glaube, das wäre für Sie doch erheblich sicherer.« Auf demselben Wege, den ich gekommen war, wurde ich wieder aus dem Gebäude gebracht. Es muß ein Flügel des Propagandaministeriums gewesen sein. Wieder eine Fahrt im Polizeiwagen, wieder bedrückendes Warten, dann eine Zelle in einer Polizeistation. In der Zelle eine von Wanzen wimmelnde Holzpritsche. Aber ich war viel zu erschöpft und durcheinander, um mich um Wanzen zu kümmern; als das Fleckchen Himmel, das ich sehen konnte, 304
heller wurde, fiel ich trotz meiner heftigen Kopfschmerzen in ein leichtes Dösen und dann sogar eine Weile in tiefen Schlaf. Um acht Uhr öffnete sich die Zellentür, und ich wurde in eine Art Warteraum neben dem Eingang gebracht. Dort saß in seinem Leinenanzug mit drei Füllfedern in der äußeren Brusttasche, seine Aktenmappe auf den Knien, schmutzig und unrasiert – Georghi Paschik. Er erhob sich, als er mich sah, und nickte. »Guten Morgen, Herr Foster.« »Wie kommen Sie denn hierher?« sagte ich. Seine Augen blinzelten warnend zu den Posten hinüber. Er sprach deutsch. »Ich bin soeben benachrichtigt worden, daß man Sie irrtümlich verhaftet hat, und daß Sie hier sind. Wenn ich recht unterrichtet bin, hat man sich bereits entschuldigt, und die Entschuldigung ist angenommen worden.« »Ja. Also darf ich gehen?« »Wie man mir sagte – ja.« Ich schüttelte den Wachtposten die Hand und folgte Paschik die Treppe hinunter zu seinem Wagen. Er gab Gas und fuhr erst um die nächste Straßenecke, ehe er etwas sagte. Sein Ton war düster und unverbindlich. »Was ist geschehen, Mr. Foster?« »Ich bin vernommen worden – von Brankowitsch.« »Und?« »Nun, er wollte herausbekommen, was ich weiß und was ich vermute.« 305
Paschik wandte sich um und sah mich an. Der Wagen fuhr pfeilgerade auf eine Verkehrsinsel zu. »Aber vielleicht ist es besser, wir halten an, wenn wir reden wollen?« fügte ich rasch hinzu. Er riß das Steuerrad herum, hielt aber nicht an. »Und was wissen Sie? Was vermuten Sie, Mr. Foster?« »Daß die Verschwörung der Bruderschaft, Vukaschin zu ermorden, von der Anti-VukaschinBewegung innerhalb der Volkspartei übernommen worden ist. Daß Aleko engagiert wurde, um diese Sache zu erledigen. Daß Philip Deltschev in die Verschwörung verwickelt war – und noch ist. Daß, wenn Vukaschin heute bei der Parade umgelegt wird, Philip Deltschev für das Verbrechen hängen soll. Daß man die Sache dann so drehen wird, als habe – nach der Verhaftung seines Vaters – Philip Deltschev den Plan übernommen und mit Wissen und Billigung der agrar-sozialistischen Parteiexekutive ausgeführt. Daß die agrar-sozialistische Partei darauf für illegal erklärt und liquidiert werden soll. Daß Brankowitsch dann die Regierung übernehmen wird.« Er hob den Blick nicht von der Straße. »Und wieviel davon haben Sie ihm erzählt, Mr. Foster?« »Nur was ihm Aleko bereits erzählt haben muß – daß ich Pazars Leiche gefunden und Herrn Valmos Erklärungen vollen Glauben geschenkt habe.« »Und konnten Sie ihn überzeugen?« »Meinen Sie, ich lebte noch, wenn ich ihn nicht überzeugt hätte?« 306
»Nein, Mr. Foster. Sicher nicht. Darf ich Ihnen sagen, daß ich vor Ihrer Intelligenz immer die größte Hochachtung hatte?« »Vielen Dank.« »Sie haben natürlich mit Mr. Sibley gesprochen?« »Ja.« »Ich wußte, daß er mich wiedererkannt hatte und daß jemand indiskret gewesen war. Wieviel weiß er wohl?« »Er hat es in großen Zügen begriffen, und er hat schreckliche Angst.« »Ich verstehe. Nun, wir haben einander viel zu erzählen, Mr. Foster.« »Ja. Übrigens ist mir der Spezialausweis für den Prozeß entzogen worden, und ich muß noch heute abend außer Landes.« Er nickte. »Das war zu erwarten. Ich empfehle Ihnen den Fünf-Uhr-Zug nach Athen.« »Athen? Warum Athen?« »Weil Philip Deltschev in Athen ist.« Ich starrte ihn an. Er lächelte merkwürdig geziert. Er begann sogar leise schnaubend zu kichern. »Was um alles in der Welt reden Sie da?« fragte ich. Er bog mit elegantem Schwung in die Straße, in der das Hotel Boris stand. An den Straßen standen schon Leute, die auf den Umzug warteten. Paschik sah auf seine Uhr und mähte dabei um ein Haar eine größere Familie in Nationaltracht nieder. »Es ist jetzt zwanzig vor neun«, sagte er. »In ei307
ner Stunde wird Philip Deltschev im Hotel Splendid Palace in Athen sein. Außer Madame Deltschev und mir sind Sie der einzige Mensch, der das weiß. Sie sind der erste Reporter, der ihn interviewen kann, der erste, der die politische Mordverschwörung der Volkspartei aufdecken wird.« »Aber woher wissen Sie, daß er dort ist?« »Ich dachte, Sie hätten es erraten, Mr. Foster. Ich habe ihn gestern nacht selbst über die Grenze gebracht.«
19 Wenn man Paschik für seine der Provisorischen Regierung erwiesenen Dienste insgeheim mit Anteilscheinen und der Leitung des ›Pan-Eurasischen Pressedienstes‹ belohnt hatte, so war er dafür nicht übertrieben dankbar. Er hatte sein Leben gewagt, um einem politischen Ideal zu dienen; aber es war ein Ideal, das in seiner Vorstellungswelt ausschließlich den Vereinigten Staaten von Amerika gehörte; anderswo war es nicht gültig. Er hatte seine Dienste ungefähr in dem Geiste geleistet, in dem ein in Amerika zu Reichtum gekommener Emigrant seinem alten Heimatland eine öffentliche Bibliothek oder eine Entbindungsanstalt stiftet. Als Wohltätigkeitsgeste, die aber auch Wiedergutmachung und Versöhnungsritus ist und die Trennung vollständig und endgültig macht. Daß seine Leistung ehrlich 308
anerkannt und in nützlicher Weise honoriert worden war, befriedigte Paschik nur wenig. Seine Freude an dieser Gegenleistung entsprang einzig der Tatsache, daß die Klienten der Agentur fast alles Amerikaner waren, und daß er sich als deren Vertreter in gewissem Sinne zu Recht als vorgeschobener Posten des American Way of Life fühlen konnte. Vielleicht durfte er eines Tages mit einem Besuchervisum nach Amerika reisen; vielleicht würde er eines Tages, bevor er alt wurde, sein Einwanderungsvisum bekommen. Inzwischen hielt er den Kontakt aufrecht. Für Paschik, der gelernt hatte, nicht zu viel vom Leben zu erwarten, war schon das ein einzigartiges Glück, und er genoß es bewußt. Nach einiger Zeit hatte er fast vergessen, daß es einmal eine Bruderschaft gegeben hatte. Die Mahnung, daß sie tatsächlich existiert hatte und sogar auf reduzierter Basis noch existierte, war ein schwerer Schlag für ihn. Pazar war der Bote. Er erzählte von vorsichtigen Annäherungen und Zusammenkünften, von behutsamem Sondieren und von halbgaren Plänen. Es war, als sei die Bruderschaft durch die Pest dezimiert worden. Jetzt fingen die Überlebenden an, die Köpfe herauszustrecken und Umschau zu halten, ob noch Ansteckungsgefahr bestehe. Nach und nach wurden in einer Atmosphäre äußersten Mißtrauens und schrecklicher Angst die Verbindungen wieder hergestellt. Die Sicherheitsmaßnahmen waren sehr streng. Alle überlebenden Mitglieder mußten erneut um Aufnahme ersuchen 309
und sich den schärfsten Verhören unterziehen; jede Weigerung, wieder um die Mitgliedschaft nachzukommen, wenn die Aufforderung dazu ergangen war, wurde als Schuldbeweis angesehen. Bisher habe sich noch keiner geweigert, sagte Pazar grimmig zu Paschik. Die Brüder erwarteten ihn nun. Paschik nickte und begab sich zu seinem Hauptaktionär, Madame Deltschev. Es war gerade um die Zeit der Wahlen, und Madame Deltschev riet ihm, sein Gesuch einzureichen. Abgesehen davon, daß eine Ablehnung gefährlich für ihn gewesen wäre (Paschik glaubte nicht, daß dieses Moment bei Madame Deltschev sehr ins Gewicht gefallen war), meinte sie, es sei vielleicht ganz ratsam, über die Tätigkeit der neuen Bruderschaft unterrichtet zu sein. Sie ließ nie die Möglichkeit aus den Augen, daß die Volkspartei die Bruderschaft zu ihren Zwecken ausnützen könne. Vielleicht bedeutete diese Auferstehung mehr, als den Anschein hatte. Damit begann für Paschik wieder ein Doppelleben. Er wurde erneut feierlich in die Bruderschaft aufgenommen und hatte mit über die Aufnahmegesuche der anderen zu entscheiden. Die Säuberungsaktion hatte sich für die älteren Brüder als besonders unheilvoll erwiesen, und so wurde er bald in den Hohen Rat der Organisation aufgenommen. Etwa zwei Monate vor der Verhaftung Deltschevs hörte er von der Mitgliedschaft des jungen Philip und dem geplanten Attentat auf Vukaschin. Zum erstenmal war Madame Deltschev ratlos. Sie 310
hatte schon den Zwischenfall beim Fußballspiel geplant und tat jetzt ihr Bestes für einen agrarsozialistischen Putsch, der die Volkspartei aus dem Sattel heben würde. Die Betätigungen ihres Sohnes gefährdeten alles, gleichviel ob er Erfolg hatte oder nicht. Soweit es das Volk betraf, war Philip Deltschev lediglich eine Erweiterung des Begriffs Väterchen Deltschev. Die Ermordung Vukaschins durch Bruder Philip würde die Volkspartei einigen wie nie zuvor und die Agrarsozialisten ein für allemal zerschmettern. Sie durfte den jungen Menschen nicht betrügen, denn das würde dieselben üblen Folgen haben. Sie wußte, wie nutzlos jeder Versuch wäre, ihn zu überzeugen, denn er war viel zu tief verstrickt. Sie konnte die Sache nicht einmal mit ihm besprechen, denn dann mußte er ihren Vertrauensmann Paschik als Denunzianten erkennen. Es hätte ihr nichts ausgemacht, Paschik zu opfern, aber sie wollte ihn nicht sinnlos opfern. Sie konnte nur eines tun: Paschik anweisen, seine Stellung in der Bruderschaft zu benutzen, um mit Philip in Kontakt zu bleiben, vielleicht seinen Glauben an sein Vorhaben zu untergraben. Das war ein armseliger Plan, aber im Augenblick fiel ihr nichts Besseres ein. Und dann begannen auf höchst seltsame Art die Ereignisse ihr in die Hände zu spielen. In den Tagen vor der Säuberungsaktion war Pazar ein verhältnismäßig unbedeutendes Mitglied der Bruderschaft gewesen; man kannte seine Schwächen und rechnete mit ihnen. Von einem Plan, der so ent311
scheidend war wie der, den er jetzt ausführen sollte, hätte er früher überhaupt nichts erfahren. Es war unvermeidlich, daß er redete, aber daß es gerade der armselige Gauner Rila war, dem er sich anvertraute – das war fast ein Glücksfall. Wäre Rila damals nicht zufällig der Polizei in die Hände geraten, so wäre vielleicht alles ganz anders gekommen. Die Verluste der Verschwörergruppe stürzten die Bruderschaft in Panik. Die Überlebenden, die ihre Köpfe erhoben hatten, mußten feststellen, daß die Pest tatsächlich immer noch wütete. Also gab es wieder Verrat, wieder Säuberungsaktionen; innerhalb weniger Stunden war die Mehrzahl der wieder aufgenommenen Brüder zerstreut und verbarg sich in Schlupfwinkeln. Die übrigen, die sich keinen Schlupfwinkel verschaffen konnten, saßen in ihren Zimmern und memorierten Ausreden. Nur Paschik wußte dank seiner Stellung, daß die Pest nicht wieder aufgeflackert war, und daß es eine banalere Erklärung für diese Katastrophe geben müsse. Er erstattete Madame Deltschev Bericht und wartete. Eine Woche später kamen die Dinge langsam in Fluß. Eines Nachts erschien Philip bei ihm. Er brachte Neuigkeiten. Er und Pazar waren entkommen und befanden sich für den Augenblick in Sicherheit. Inzwischen baute sich auch die Bruderschaft wieder auf. Pazar war seines Amtes als Leiter der Verschwörung entsetzt – seiner schlechten Nerven wegen. An seine Stelle war ein neuer Mann ge312
treten. Er hieß Aleko und mußte ein Teufelskerl sein, voll von Energie und Zielstrebigkeit. Aber man brauchte weitere Verschwörer. Einige Brüder hatten sich schon feige geweigert. Würde er, Paschik, mitmachen? Denn jetzt mußte der Plan zum Erfolg führen, zu einem Erfolg, an dem alle teilhaben sollten. Paschik willigte ein und berichtete alles Madame Deltschev. Sie hatte den gleichen Eindruck wie er – die Sache sah sonderbar aus. Mißtrauisch machte sie beide vor allem die Tatsache, daß es der Polizei nicht gelungen war, Pazar und Philip zu verhaften. Paschik wußte, daß schriftliche Beweise gegen sie vorlagen, und daß in einem so gefährlichen Fall wie einer Verschwörung der Bruderschaft gegen Vukaschin der Preis eines Schlupfwinkels für die beiden Flüchtlinge unerschwinglich gewesen wäre. Und dazu kam Philips Name. Warum brachte die Volkspartei die Sache nicht an die Öffentlichkeit? Madame Deltschev vermutete, daß die Volkspartei am Ende selbst die Bruderschaft übernehmen würde. Paschik lauschte ehrerbietig; aber er hatte einen weniger ehrerbietigen Gedanken. Beschäftigte sich etwa Madame Deltschev so ausschließlich mit dieser Idee, weil sie wütend war, daß sie selbst verpaßt hatte, die Bruderschaft zu übernehmen? Sie war nach Paschiks Ansicht eine einzigartige Frau, aber sie neigte dazu, die Klugheit anderer zu unterschätzen. Ein paar Tage später wurde er aufgefordert, Aleko zu treffen. Die Zusammenkunft fand in der 313
Wohnung statt, in der auch ich gewesen war, und bald war es Paschik völlig klar, daß Aleko nicht der war, der er zu sein vorgab. Als erstes hatte Paschik genau wie ich bemerkt, daß die Möbel vom Trödler stammten und nur schnell so hingestellt worden waren. Doch dafür hätte sich noch eine vernünftige Erklärung finden lassen. Entscheidend für ihn war Alekos Art zu sprechen. Paschik war mit vielen Mitgliedern der Bruderschaft zusammengekommen, hatte dabei ihre Art zu denken und ihre Art zu reden kennengelernt und kannte ihren euphemistischen Jargon. Die Brüder hätten zum Beispiel niemals davon gesprochen, jemanden zu ermorden, ohne sich des Ausdrucks ›die Beseitigung eines Hindernisses‹ zu bedienen. Aleko sprach von ›ausmerzen‹. Das war ein Unterschied, und es war einer von vielen. Sehr eigenartig war, daß er, wenn er vom Schießen sprach, mit dem Zeigefinger auf seinen Hinterkopf deutete und ein schnalzendes Geräusch mit der Zunge machte. Für die Brüder aber war eine Schußwaffe eine sehr ernste Sache. Man schnalzte nicht scherzhaft mit der Zunge, wenn man die Tragweite ihrer Macht andeuten wollte. Die ganze Geste erinnerte Paschik unklar an etwas, was ihm, das wußte er, später bestimmt wieder einfallen würde. Zum Schluß ihrer Unterredung war er überzeugt, daß Aleko keineswegs ein echtes Mitglied der Bruderschaft war. Und doch machte er sehr logische Pläne zur Ermordung Vukaschins und gab viel Geld aus. In den frühen Morgenstunden 314
war sich Paschik darüber klargeworden, daß Madame Deltschev der Wahrheit sehr nahe gekommen war. Jemand hatte Aleko in Dienst genommen; jemand, der die Polizeitätigkeit beschneiden und außerdem gut zahlen konnte; jemand aus der Volkspartei; doch nicht notwendig die ganze Volkspartei. Also eine Gruppe innerhalb der Partei? Das war wahrscheinlich. Jemand sollte ermordet werden – und ein anderer sollte für den Mord büßen. Paschik entschied sich dafür, keine Schlüsse in bezug auf die Identität des Anführers zu ziehen, ehe er nicht mehr in Erfahrung gebracht hatte. Dann wurde das Bombenattentat auf Deltschev verübt. Dieses war nach Paschiks Überzeugung von Vukaschin selbst organisiert worden, ohne Brankowitschs Wissen und Billigung. Die Presseveröffentlichungen des Propagandaministeriums verrieten Hast, Improvisation und allgemeine Unsicherheit, was darauf schließen ließ, daß Brankowitsch nicht vorbereitet war. Selbst Aleko geriet aus der Fassung und sprach von ›Stümperei‹. Die Bezeichnung konnte sich auf das Mißlingen des Attentats beziehen, aber Paschik hatte eher den Eindruck, sie sei eine Art Kritik an der Situation, die das Attentat überhaupt ermöglicht hatte. Das war interessant. Denn wenn dieser Eindruck stimmte, so bedeutete das, daß Brankowitsch und Aleko mindestens eines gemeinsam hatten: sie wußten nichts von Vukaschins Plänen. Und das konnte wiederum bedeuten, daß sie auch andere Dinge gemeinsam hatten. 315
Die Verhaftung Deltschevs schuf für Paschik ein neues Problem. Bisher war es für ihn nicht schwierig gewesen, private Zusammenkünfte mit Madame Deltschev zu arrangieren. Jetzt, da sie unter Hausarrest stand, konnte er sie unmöglich persönlich sehen. Er wußte, daß jeder Besucher des Hauses der Polizei gemeldet wurde, und konnte es sich nicht leisten, daß auch sein Name auf der Liste erschien. Seine Situation war lebensgefährlich. Zweifellos wußten Alekos Auftragsgeber, daß er Mitglied der Bruderschaft war. Der leiseste Hauch eines Verdachtes in bezug auf seine Motive würde dazu führen, daß er angezeigt und unverzüglich gehenkt würde. Außerdem aber mußte er sich um Philip Deltschev kümmern und war verpflichtet, den jungen Mann aus seiner Verstrickung zu lösen, wenn er irgend konnte. Er wußte nicht mit Sicherheit, was bevorstand. Er hatte keine Verbündeten. Im Augenblick konnte er nichts anderes tun, als so unauffällig wie möglich bleiben, Philip Deltschev beeinflussen und Nachforschungen über Aleko anstellen. Jedoch eine ganze Weile kam er mit diesen Absichten nicht vorwärts. Philip Deltschev konnte ihn nicht leiden. In bezug auf Aleko war das ganze Resultat seiner Bemühungen, daß ihm wieder einfiel, woran ihn Zeigefinger und Zungenschnalzen erinnerten. Daher die Notiz über K. Fischer, die ich gefunden hatte. Es war Pazar, der endlich des Rätsels Lösung lieferte. Als Aleko die Verschwörung in die Hand ge316
nommen hatte, befand sich Pazar in einem jämmerlichen Zustand von Angst und Erschöpfung. Er war durch die Verhaftung Rilas seines Heroins beraubt worden. Er hatte kein Geld, keine Wohnung, und die Polizei war ihm auf den Fersen. Philip, der damals unter dem Namen Valmo das Zimmer in der Patriarch-Dimo-Straße bewohnte, nahm ihn auf, und die beiden blieben fast eine Woche dort, hungrig, weil sie nicht wagten auszugehen und Nahrungsmittel zu kaufen, und in ständiger Angst vor der Entdeckung. In der Nacht, da Aleko in Erscheinung trat, war Pazar zusammengebrochen und lag in einem komaähnlichen Zustand. Erst nach mehreren Tagen – als er ständig sein von Aleko herbeigezaubertes Heroin bekommen hatte – kam er wieder in eine halbwegs normale Verfassung, und als er soweit war, mußte er feststellen, daß man ihn ersetzt hatte. Pazar war nicht dumm. Er erkannte ziemlich bald, was Paschik schon wußte, nämlich daß Aleko nicht zur Bruderschaft gehörte, doch zog er zum Unterschied von Paschik einen ganz falschen Schluß. Sein rauschgiftumnebeltes Hirn verkettete diese Entdeckung mit seinem eigenen Sturz und mit der Erinnerung an jenen Verräter, der niemals entlarvt worden war. Alle seine paranoiden Projektionen konzentrierten sich plötzlich auf einen Punkt: Aleko. Von diesem Augenblick an begann er, Pläne gegen Aleko zu schmieden und ihn auszuspionieren. Inzwischen war Philip in Alekos Wohnung ge317
zogen, und Pazar hatte das Zimmer in der Patriarch-Dimo-Straße für sich allein. Daher war es für ihn leicht, Alekos Schritten außerhalb der Wohnung ständig nachzuspüren. So folgte er ihm eines Nachts in ein Vorstadthaus. Es war ein großes Haus, und davor stand ein Wagen von einem Typ, wie er gewöhnlich von einem Chauffeur gefahren wird. Aleko blieb eine Stunde dort. Als er herauskam, folgte ihm Pazar nicht, sondern blieb da, um weiter das Haus und den Wagen zu beobachten. Zehn Minuten, nachdem Aleko gegangen war, kam ein Mann heraus, ging an Pazar vorbei, stieg in den Wagen und fuhr weg. Pazar hatte ihn erkannt. Es war Brankowitsch. Zwei Tage später erzählte Pazar Paschik, vor Erregung und Bosheit kochend, was er gesehen hatte. Paschik brauchte zehn Sekunden für die Entscheidung, was nun geschehen mußte. Pazar mußte zunächst unter seiner strengen Aufsicht bleiben und immer wieder zur Besonnenheit ermahnt werden. Dann mußte er dazu gebracht werden, die ganze Geschichte in Paschiks Gegenwart Philip Deltschev zu berichten. Denn wenn dem Jungen endlich klarwurde, was hier wirklich vorging, konnte sein Rachedurst in nützliche Bahnen geleitet werden. Offenbar plante Brankowitsch, seinen Parteirivalen zu vernichten und die Schuld an dem Verbrechen auf die Familie Deltschev abzuwälzen. Mit anderen Worten: er würde die Verschwörung der Bruderschaft dazu benutzen, Jordan Deltschev für schuldig 318
erklären zu lassen; die Verschwörung des Brankowitsch würde Vukaschin beseitigen, und Philip Deltschev wäre der ideale Sündenbock. Paschik aber plante, den Sündenbock dann zu entfernen, wenn es zu spät war, das Attentat abzublasen – dann mußte der verfehlte Plan auf des Erfinders Haupt zurückfallen. Was aber das wichtigste war: Paschik wußte genau, wie er diese Absicht in die Tat umsetzen konnte. Alles hing jedoch von Philip ab. Es war eine kitzlige Angelegenheit. Nachdem Philips erste Wut verraucht war, verfiel er in hysterische Verzweiflung, die mehrere Tage anhielt und auch Aleko nicht verborgen bleiben konnte. Zum Glück war es Paschik gelungen, Philip seine Pläne begreiflich zu machen, und der junge Deltschev besaß immerhin die Geistesgegenwart, die Rolle zu spielen, die man ihm aufgenötigt hatte. Es war nicht allzu schwierig. Er brauchte sich bloß weiterhin so zu stellen, als widme er sich fanatisch seiner Aufgabe, Vukaschin zu beseitigen; Fanatiker brauchen nicht sehr logisch zu sein. Das Problem war Pazar, der seinen Haß auf Aleko so schlecht verbergen konnte, daß ein Ausbruch irgendwelcher Art unvermeidlich schien. Paschik konnte nichts dagegen tun, als ihn ständig an die Notwendigkeit absoluter Geheimhaltung zu mahnen; und wenn der Ausbruch käme, so hoffte er, würde man ihn eher Pazar, dem Rauschgiftsüchtigen, als Pazar, dem Verschwörer, zuschreiben. Und so geschah es, bei Ge319
legenheit eines ihrer zweiwöchentlichen Treffen, als Aleko darauf bestand, den Plan noch einmal durchzugehen und jede Einzelheit zu überprüfen. Der Plan war einfach genug, und der Zweck der Zusammenkünfte war offensichtlich nur der, die Verschwörer fest in der Hand zu behalten. An diesem Abend nun fiel es Pazar ein, der Besprechung eine ganz andere Deutung zu geben. Ganz plötzlich und unbegründet beschuldigte er Aleko, im Nebenzimmer Polizei versteckt zu haben, die das Gespräch abhöre. Wortlos erhob sich Aleko und zeigte das leere Nebenzimmer. Pazar behauptete, dann seien eben Mikrofone darin angebracht, und fing an, den Teppich aufzurollen, um es zu beweisen. Philip Deltschev saß da und tat, als höre und sehe er nichts. Paschik schwitzte Blut und Wasser. Was würde geschehen? Aleko sah lächelnd zu, verfolgte aber sehr aufmerksam Pazars Gefasel. Er hörte genug Sinn heraus, um zu erraten, was Pazar entdeckt hatte. Und als Pazar schließlich weinend zusammenbrach, gab ihm Aleko eine starke Dosis Heroin. Als Pazar ruhig geworden war, blickte Aleko die anderen an und schüttelte den Kopf. »Wir können uns nicht auf ihn verlassen«, sagte er. »Er wird uns alle an den Galgen bringen.« Die beiden andern nickten schnell. Sie stimmten ihm aus ganzem Herzen zu. Aleko lächelte: »Überlaßt die Sache mir«, sagte er. Bei der nächsten Zusammenkunft erschien Pazar 320
nicht; er habe in seinem Zimmer Selbstmord begangen, teilte Aleko den anderen kurz mit. Die Leiche müsse an Ort und Stelle bleiben, damit die Polizei sie finde; doch da seine Dienste für die Bruderschaft niemals wirklich notwendig gewesen seien, brauche man keinen andern Bruder zu suchen, der seinen Platz einnehme. Am Tage nach dieser Zusammenkunft kam ich an. Ich bedeutete für den vielgeprüften Paschik ein schwieriges Problem. Es war schon schlimm genug, daß nun jemand in seinem Büro saß, suchte und stöberte, seine Bewegungsfreiheit behinderte und möglicherweise auch noch seine neutralen Beziehungen zum Propagandaministerium gefährdete. Noch beunruhigender war es für ihn, einen Menschen um sich zu haben, der mit Petlarow in Verbindung stand – denn wer konnte wissen, wie Brankowitsch das auffassen würde? Paschik hatte auch Sibley schon erkannt und war von ihm erkannt worden. Sibley, der damals Nachrichtenoffizier gewesen war und seine Geschichte sehr wohl kennen mochte. Und noch dazu kannte Sibley mich. Auch von hier drohte also Gefahr. Besonders, weil ich neugierig war. Mein Interview mit Madame Deltschev hatte Paschik in panische Angst versetzt. An dem Abend, als er davon hörte, trug er den Revolver in der Tasche, als er zu Aleko ging, nicht wie sonst in seiner Aktenmappe. Aber bei ihrer Zusammenkunft begab sich nichts Ungewöhnliches. Nachher nahm ihn Aleko beiseite, 321
übergab ihm einen Stoß Papiere und befahl ihm, sie in Pazars Zimmer zu verstecken, um die Polizei, die sie auffinden mußte, ›irrezuführen‹. Paschik erriet, daß Brankowitsch die Gelegenheit wahrnehmen wollte, die sich durch Pazars Tod bot, um Jordan Deltschev weiteres Belastungsmaterial aufzuhalsen. Als Paschik aber in Pazars Zimmer kam, fand er mich dort vor. Jetzt war er in einer fürchterlichen Zwickmühle. Alles, was ich sagte, konnte er auf mehrere Arten deuten. Vielleicht sagte ich die Wahrheit, vielleicht belog ich ihn. Doch auch wenn ich die Wahrheit sagte, konnte ich, ohne es zu wissen, ein Agent Brankowitschs sein, und das Ganze war vielleicht nur eine Falle, in der er sich fangen sollte. Andererseits arbeitete ich für einen seiner amerikanischen Klienten, stand also unter dem Schutz des ›PanEurasischen Pressedienstes‹. Wenn es eine Falle war, dann gab es für ihn nur eins: mich zu Aleko zu bringen – mochte dieser mich ausfragen. War es aber keine Falle, so schickte er den Beauftragten eines amerikanischen Klienten vielleicht in den Tod. »Und warum entschlossen Sie sich, mich zu Aleko zu bringen?« fragte ich. Paschik blinzelte mir verlegen zu. »Nun, ich traf ja nicht die volle Entscheidung, Mr. Foster«, sagte er. »Ich entschloß mich zu einem Kompromiß. Ich überließ einen Teil der Entscheidung Ihnen.« »Wie meinen Sie das?« »Nun, während ich die Papiere, die mir Aleko ge322
geben hatte, in Pazars Zimmer versteckte, schickte ich Sie zu meinem Wagen, der am andern Ende der Straße stand. Ich dachte, vielleicht würden Sie die Gelegenheit zur Flucht ergreifen. Wenn nicht …« Er zuckte die Achseln. »Und wissen Sie, weshalb ich nicht weggelaufen bin?« »Nun, weil Sie keine Angst hatten, nehme ich an.« »Nein. Weil ich Sie verschiedenes fragen wollte.« Er seufzte. »Sie haben großes Glück gehabt, Mr. Foster. Es war sehr schwierig, Aleko von Ihrer Harmlosigkeit zu überzeugen, und sehr peinlich, als er entdeckte, daß Sie durchaus nicht harmlos waren. Ich habe bei Gott nicht erwartet, Sie heute morgen noch lebendig vorzufinden. Und wenn ich daran denke, was Sie mir von Katerinas Torheit erzählten, so kann ich nur staunen.« »Ich nehme an, sie ist gut nach Hause gekommen«, sagte ich. »Andernfalls säßen Sie nicht hier, Mr. Foster. Das Haus Deltschev wird jeden Tag um acht Uhr früh kontrolliert.« »Weiß Madame Deltschev, was geschehen ist?« »Ja. Es gelang mir, ihr gelegentlich kurze Nachrichten zu übermitteln.« »Durch den alten Freund der Familie, der immer zum Tee erscheint?« »Sie sind wirklich zu gut unterrichtet, Mr. Foster.« 323
Ich trank meine vierte Tasse Kaffee aus. »Wenn Sie anfangen, mir schmeichelhafte Dinge zu sagen, werde ich mißtrauisch. Sie meinen doch, ich wüßte immer noch nicht, was gespielt wird.« Seine braunen Augen betrachteten mich sinnend durch die randlosen Brillengläser. Er roch an diesem Morgen besonders stark. Der Anzug war fürchterlich schmutzig. Er zuckte die Achseln. »Nun, was wird denn gespielt, Mr. Foster?« »Warum sind Sie in diesem Moment überhaupt noch hier? Warum sind Sie nicht bei Philip in Athen?« Wir saßen in meinem Hotelzimmer. Er machte seine Aktenmappe auf, zog ein unappetitliches Wurstbrot heraus und fing an zu essen. Er stopfte sich den Mund gehörig voll, ehe er antwortete. »Sie vergessen, Mr. Foster, daß heute ein Mord geschehen soll.« »Das habe ich nicht vergessen. Ich wundere mich nur, warum Sie damit so geheimnisvoll tun. Was soll denn eigentlich geschehen? Wie ist der Plan? Wann sollte Philip in Aktion treten? Was geschieht jetzt, da er nicht hier ist?« »Sie wissen nicht, daß er nicht hier ist. Er ist erst nach der letzten Zusammenkunft gestern abend abgereist.« »Aber was wird geschehen?« »Das will ich Ihnen sagen. Pazars ursprünglicher Plan war einfach und dumm. Der festliche Aufzug findet auf dem Michaelsplatz statt. Der Umzug mar324
schiert durch den Boulevard hinein und durch die Allee wieder hinaus. Die Ehrentribüne ist die steinerne Plattform in der Mitte der großen Treppe, die zum Portal der Vorderfront des Innenministeriums führt. Dort war der offizielle Haupteingang des Alten Palais. Von den Bronzestatuen unten bis zur Ehrentribüne sind es vierzig Stufen, und bei solchen Gelegenheiten wird die Treppe durch Truppen flankiert, vierzig Mann auf jeder Seite. Sie bilden eine Leibgarde und sind mit Maschinenpistolen bewaffnet. Pazar plante nun, vier von diesen Soldaten zu entführen und sie durch seine Leute zu ersetzen. Sobald Vukaschin auf der Plattform stand, sollten sie auf ihn schießen; sie konnten dann hoffen, in der allgemeinen Verwirrung zu entkommen, denn es würde den Anschein haben, als hätten die echten Truppen geschossen. Das war übrigens der Plan, den der Ankläger bei der Gerichtsverhandlung nicht der Öffentlichkeit preisgeben wollte.« »Und warum nicht?« »Weil er so blöd ist, daß die Leute darüber gelacht hätten. Müssen Sie selbst nicht auch darüber lachen, Mr. Foster?« »Er hätte gelingen können.« Er schüttelte bekümmert den Kopf. »Ich sehe schon, Mr. Foster, aus Ihnen wäre nie ein guter Verschwörer geworden. Man braucht sich bloß eine Sekunde lang diese Entführung vorzustellen –« »Aber wovon handelten denn alle diese Mitteilungen?« 325
»Von den Uniformen natürlich. Sie konnten sie doch nicht kaufen. Also stahlen sie sie aus Soldatenbordellen zusammen. Es war alles sehr kindisch. Als Aleko die Sache übernahm, machte er einen neuen Plan. Man brauche zwar Uniformen, aber Uniformen von Linienregimentern, nicht von der Leibgarde. Und man brauche überhaupt nur drei Mann. Sein Plan war gut. Sie müssen wissen, daß scharfe Vorsichtsmaßnahmen gegen mögliche Attentäter getroffen werden, wenn eine Parade stattfindet. Die Bewohner der Zimmer, deren Fenster auf den Platz gehen, werden sorgfältig von der Polizei überprüft, und die flachen Dächer der umliegenden Gebäude werden durch Truppen von außerhalb bewacht. Der erste Teil des Planes bestand darin, ein Maschinengewehr mit Munition auf einem dieser flachen Dächer zu verstecken. Dann sollten kurz vor der Parade Männer in Uniform auf dieses Dach gehen und den dort befindlichen Soldaten sagen, daß man die Posten verdoppelt habe, weil man Unruhen erwarte. Da die echten Soldaten von außerhalb waren, würden sie die Leute, die angeblich zu einem Bataillon aus der Stadt gehörten, kaum kennen. Die falschen Soldaten sollten Branntwein und Eßwaren in ihren Brotbeuteln haben und nach einer Weile ihren Kameraden davon anbieten. In dem Branntwein sollte eine gehörige Dosis Morphium sein. Daraufhin würden die Soldaten einschlafen, dann wollte man das Maschinengewehr hervorholen und in Stellung bringen und auf 326
die Ehrentribüne richten. Und dann wäre alles für Vukaschins Empfang bereit. Nach getaner Arbeit wäre die Flucht durchaus möglich gewesen. In der Überraschung und Verwirrung hätte niemand sagen können, woher die Schüsse kamen. Die Truppen auf den benachbarten Dächern hätten wahrscheinlich geglaubt, die Salve käme aus den Fenstern unter ihnen. Aber natürlich würden Zweifel aufkommen. Und während man noch zweifelte, hätten wir Zeit gehabt, zur Straße hinunterzusteigen und uns unter die Menge zu mischen. Wer würde schon drei gewöhnliche Soldaten verdächtigen? Bis die echten Wachtposten nach Stunden aufwachten, würde niemand wissen, wie es geschehen konnte – und dann würde es zu spät sein.« »Und Philip Deltschev wäre entkommen?« »Jawohl, Mr. Foster. Aus diesem Grunde schien der Plan Philip und Pazar so gut und mir so sonderbar. Bis ich erfuhr, daß Brankowitsch selbst darin verwickelt war, und sah, wie leicht es für ihn sein würde, die Polizei zu warnen, daß – sagen wir: ein paar Diebe, als Soldaten verkleidet, während der Parade einen Überfall auf das und das Haus vorhätten; dann konnte eine Patrouille an den Ausgängen warten und sie auf frischer Tat ertappen.« »Also: da kein Philip da ist, wird es auch keinen Mord geben? Stimmt das?« »Nein, Mr. Foster, das stimmt nicht. Denn es sollten drei Männer bei dem Maschinengewehr stehen – Philip, ich und einer von Alekos Leuten.« 327
»Einer von denen, die mich umlegen sollten?« »Jawohl. Doch jetzt blieben immer noch der zweite Mann und Aleko selbst. Was, fragte ich mich, würden sie tun, während Vukaschin erschossen wurde?« »Nun, ich sollte annehmen: das Land verlassen.« »Ja, das nahm ich auch an. Doch vor drei Tagen gab es eine ernsthafte Komplikation. Aleko sagte uns, daß auf einem andern Dach ein zweites Maschinengewehr stehen würde, von ihm und dem andern Mann bedient. Philip sollte die Ehre haben, zuerst zu schießen, aber für den Notfall würde immer noch er, Aleko, da sein. Was würden Sie sich dabei denken, Mr. Foster?« »Daß er argwöhnisch war? Daß er Philip mißtraute?« »Ja, diese Möglichkeit hatte ich auch erwogen. Doch dann kam mir ein anderer Gedanke. Ein guter Einfall. Zum Glück war es mir möglich, die Probe aufs Exempel zu machen. In der folgenden Nacht wurden die Maschinengewehre auf den Dächern versteckt, die wir ausgesucht hatten, und –« »Welche Dächer waren das?« Er lächelte. »Das möchte ich Ihnen doch lieber nicht erzählen, Mr. Foster. Sie werden es erfahren.« In seinem Lächeln war etwas sehr Beunruhigendes. Mir wurde er plötzlich unheimlich. »Erzählen Sie weiter«, sagte ich. »Die Maschinengewehre wurden in Säcke gewikkelt und an Drahtseilen in die Schornsteine gehängt. 328
Ganz früh am Morgen kehrte ich allein zurück und untersuchte sie.« Er machte eine Pause und lächelte wieder. »Und?« »Philips Maschinengewehr hatte keine Zündnadel. Sie war herausgenommen worden.« Ich sah ihn verständnislos an. »Pardon, aber ich verstehe nicht …« »Verstehen Sie wirklich nicht, Mr. Foster?« Seine Augen funkelten jetzt durch die Brille und sahen gar nicht mehr traurig aus. »Die Macht ist eine große Sache, müssen Sie wissen, Mr. Foster. Große Geschehnisse in Fluß zu bringen und lenken zu können – nicht Bühnengestalten und Bühnensituationen, Mr. Foster, sondern wirkliche –, das ist die allergrößte Wonne, die es gibt. Man fühlt sie – hier.« Er klopfte sich auf den Leib. »Hier. Jetzt fühle ich sie.« »So?« Ob er wohl verrückt ist? dachte ich plötzlich. »Bedenken Sie doch.« Er stand auf und ging mit langen Schritten zum Fenster hinüber. »Ein Mann in Alekos Beruf ist immer in einer schwierigen Lage. Er muß immer sicher sein, daß sein Herr die Macht hat, ihn zu schützen. Er muß immer sicher sein, daß sein Herr auch den Wunsch hat, ihn zu schützen. Und er muß an die Zukunft denken. Für ihn ist es gefährlich, einer mächtigen Person auf Kosten einer anderen zu dienen, die ihm später schaden könnte. Aleko ist sehr schlau. Wäre er es nicht, 329
so wäre er längst nicht mehr am Leben. Er ist daran gewöhnt, die Vorteile gegeneinander abzuwägen. Und deshalb frage ich mich: wozu die beiden Maschinengewehre? Warum ist keine Zündnadel in der Waffe, die, wie Aleko vorgesehen hat, Vukaschin durchlöchern soll? Und ich antwortete mir: weil es Vukaschin ist, der Alekos bester Lohnherr ist – vielleicht von Anbeginn gewesen ist! Welche Chance hat denn Brankowitsch eigentlich in einem Kampf um die Macht, wenn Vukaschin tot ist? Keine! Er würde am Ende selbst zugrunde gehen. Seine eigene Intelligenz würde ihn zu Fall bringen. Die brutale Gerissenheit, die den Gegner sein eigenes Grab schaufeln läßt, die wird immer gewinnen. Das ist Vukaschins Stärke, und das weiß Aleko. Philip sollte auf den Abzug des Maschinengewehrs drücken, das auf Vukaschin gerichtet ist – und es würde nichts geschehen. Aleko aber wollte auf den Abzug des Maschinengewehrs drücken, das auf Brankowitsch gerichtet ist, und dieses Gewehr würde Feuer geben. Philip und ich und Alekos Mann, wir wären gefaßt und gehenkt worden. Und die Waffe, die Aleko auf dem anderen Dach gelassen hatte, die sollte als Beweisstück dienen. Die beiden Mörder Deltschev, Vater und Sohn, würden zusammen gehenkt werden. Die mörderischen Agrarsozialisten würden bestraft werden. Vukaschin würde vor der Opposition und zugleich vor den Verschwörungen und dem Ehrgeiz Brankowitschs sicher sein. Aleko, ein leidenschaftlicher Skiläufer, würde reich belohnt 330
und höchst zufrieden in St. Moritz sitzen und auf den Schnee warten. Ein schönes Bild, nicht wahr, Mr. Foster?« »Ja.« Was sollte ich antworten. »Aber man wird es nicht sehen können.« »Weil Philip in Athen ist.« Er hob den Finger. »Und weil ich hier bin.« »Das verstehe ich nicht.« »Sie werden gleich begreifen, warum ich wünsche, daß Sie es verstehen. Das eine Hindernis ist der eine Mann Alekos – einer von denen, die Sie umzubringen versuchten –, und zwar der, der bei Philip und mir sein sollte. In einer Stunde wird er weggehen, um sich mit uns zu treffen. Wenn wir nicht kommen, wird er zu Aleko gehen und ihn warnen, und wenn Aleko weiß, daß Philip nicht hier ist, wird auch er nicht schießen. Dann wäre Brankowitschs Leben gerettet.« »Ja.« »Aber wenn ich diesen Mann aufhalte, wird Aleko schießen. Brankowitsch wird sterben, und weil kein Philip da ist, den Vukaschin verhaften kann, wird er Aleko nehmen müssen. Und wenn Philip Ihnen in Athen seine Geschichte erzählt und die ganze Welt davon widerhallt, wird Vukaschins Sonne untergehen. Das heißt, wenn ich diesen Mann aufhalte.« Ich sagte nichts. Er starrte noch einen Augenblick aus dem Fenster. Dann wandte er sich um und sah mich an. Sei331
ne Selbstsicherheit war verflogen. Es arbeitete wunderlich in seinem Gesicht. »Soll ich ihn aufhalten, Mr. Foster? Sagen Sie es mir!« Ich starrte ihn an, und er las meine Gedanken. Er schüttelte den Kopf. »Nein, Mr. Foster – Sie können nichts daran ändern. Es gibt hier keinen Menschen, dem Sie die Geschichte erzählen können. Das heißt, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist. Warnen Sie Brankowitsch – wird er es Ihnen durch eine Kugel lohnen. Warnen Sie Vukaschin – so wird er dasselbe tun. Sie wissen zu viel über diese beiden Herren.« »Wir haben eine Botschaft hier. Die könnte Brankowitsch warnen.« »Damit würden Sie mich statt ihn töten. Ich glaube nicht, daß Sie diesen Ausweg wählen werden. Für Sie gibt es kein moralisches Dilemma. Es ist mein Dilemma, das ich hier vor Ihnen ausbreite.« Ich schwieg. Er setzte sich und starrte eine Weile mürrisch ins Leere. Dann fragte er plötzlich: »Kennen Sie Amerika gut?« »Nein, gut eigentlich nicht.« »Ich auch nicht«, sagte er langsam. Dann schwieg er wieder. Auch ich sprach nicht. Und als könnte ich seine Gedanken lesen, wußte ich, daß er jetzt sein Problem vor Passaic, New Jersey, Oakland, California und Hagerstown, Maryland ausbreitete – das war das Urteil, das er hören wollte. Und vielleicht war dieser Weg, zu einem 332
Entschluß zu gelangen, auch nicht schlechter als jeder andere. Als er endlich aufstand, war er so ruhig und geschäftsmäßig wie an dem Tag, als wir uns zum erstenmal gesehen hatten. Er zog einen Briefumschlag aus der Tasche und gab ihn mir. »Ihr Logenplatz für die Jahrestagsparade, Mr. Foster. Ich hätte Ihnen das Billett längst geben müssen. Ich wüßte nicht, was Sie hindern sollte, es noch zu benützen. Ihr Zug – wenn ich Sie daran erinnern darf – geht um fünf Uhr. Haben Sie Geld?« »Ja. Vielen Dank.« Er hielt mir die Hand hin. »Ich werde versuchen, zur Bahn zu kommen, um Ihnen behilflich zu sein. Aber vermutlich werde ich mich um Telegramme und dergleichen kümmern müssen. Sie werden mich entschuldigen, wenn ich es nicht schaffe.« Ich schüttelte ihm die Hand. »Selbstverständlich. Und ich danke Ihnen noch vielmals für alle Ihre Hilfe.« Er wehrte mit einer Handbewegung ab. »Es war mir ein Vergnügen, Mr. Foster.« Er wandte sich rasch ab, nahm seine Aktenmappe und schritt zur Tür. Dann hielt er inne. »Nichts zu danken!« setzte er hinzu und ging hinaus.
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20 Um zwei Uhr begann die Parade. Die Entfernung zwischen meinem Hotel und dem Michaelsplatz betrug kaum einen halben Kilometer, aber entlang der Marschroute des Umzugs und auf den Straßen, die zum Platz führten, drängten sich die Leute, und ich brauchte ziemlich lange, um durchzukommen. Der Tag war sehr warm, und ich fühlte mich müde und krank und fürchtete mich. Ich hatte nicht zu Mittag gegessen. Meine Beine waren wie aus Watte, und ich hatte immerzu das Gefühl, als hätte ich etwas Wertvolles verloren. Das war mir sonderbar vertraut: ich mußte es gerade so schon einmal verspürt haben. Und dann fiel es mir ein: genauso war mir zumute gewesen, als ich in Sevilla zum Hotel zurückging, nachdem ich den ersten und einzigen Stierkampf meines Lebens gesehen hatte. Die Presseloge befand sich in einem hölzernen Aufbau, der sich über den Stufen des Domes und im rechten Winkel zur Vorderseite des Palais erhob. Der Festzug sollte unten vorbeikommen, dann nach links abbiegen und an der Ehrentribüne vorüberziehen, die auf halber Höhe der großen Treppe zum Palais errichtet war. Davor war eine mit Fahnen drapierte, etwa einen Meter hohe Balustrade und darunter Blumen, wodurch das Bauwerk noch plastischer wirkte. Dahinter und darüber waren die 334
vollbesetzten Logen unbedeutenderer Würdenträger. Der ganze Platz war ein Meer von Fahnen und prächtig bunten Blumen. Die Fassaden der Gebäude, die den Platz umgaben, waren meist aus honigfarbenem Stein, aber das Pflaster war mit weißem Sand bestreut und glitzerte im grellen heißen Sonnenlicht, daß man förmlich geblendet war. Es war jetzt fünf Minuten vor zwei Uhr. Die Loge war bis auf wenige Plätze besetzt. Weit vorne erglänzte Sibleys Hinterkopf. Fast alle trugen Sonnenbrillen, nur ich hatte meine vergessen, und der Sand funkelte, daß mir die Augen weh taten. Irgendwo spielte eine Militärkapelle, und ab und zu brach eine Gruppe in der Menge in Hochrufe aus. Dann wandten sich alle Köpfe um, aber die Rufe erstarben jedesmal wieder. Ich blickte zu den Dächern empor, jedoch über unserer Loge war ein Baldachin, und ich konnte nur einen kleinen Abschnitt davon sehen. Aber von dort bis zur Ehrentribüne waren es ungefähr zweihundert Meter, und auf diese Entfernung konnte selbst ein Rekrut mit der ersten Maschinengewehrgarbe einen Menschen treffen. Vielleicht spähte schon in diesem Augenblick ein Auge durch das Visier auf die Palaststufen. Ich fuhr mir mit dem Taschentuch über Gesicht und Hals und warf einen Blick ins offizielle Programm. Um es uns Ausländern bequemer zu machen, hatte man eine vervielfältigte Übersetzung beigelegt. Der Festzug symbolisierte die Eintracht von Pflug und Schwert. 335
Zuerst sollten Festwagen mit lebenden Bildern aus den verschiedensten Industrie- und Handwerkszweigen kommen. Dann die Vertreter von Sport und Kultur. Endlich die Parade von Heer und Luftwaffe. Als Spitze des Festzuges war ein lebendes Bild vorgesehen, das den Sieg der Volkspartei darstellte. Diese Gruppe sollte vor dem Innenministerium haltmachen und die Parteiführer einladen, sich den Festzug anzusehen, der ein sichtbarer Beweis für den Erfolg ihrer Arbeit für das Vaterland war. Ich hatte diese Gruppe schon bemerkt, in einer Seitenstraße dicht beim Platz. Auf einer auf einen Transportwagen der Luftwaffe montierten Plattform waren die lebenden Bilder, die Kunst, Wissenschaft, Landwirtschaft, Industrie und Militär darstellten, um einen weißen, flaggenbedeckten Sockel gruppiert, der eine große geflügelte Viktoria aus Holz und Gips trug. Die Untergruppen zeigten die üblichen Symbole: die Industrie einen Amboß, die Wissenschaft einen Laboratoriumstisch mit einer Retorte, die Landwirtschaft einen Pflug und so weiter. Seitlich aus dem Sockel traten Balken und Leisten hervor, offenbar für die Mädchen in gebauschten weißen Gewändern bestimmt, die sich zu den Füßen der Viktoria lagern sollten. Acht Minuten nach zwei betrat eine andere Kapelle den Platz und formierte sich um das Denkmal in der Mitte. Dann zog die Leibgarde mit geladenen Maschinenpistolen auf und nahm unter begeisterten Hochrufen der Menge ihren Platz auf den Stufen 336
unterhalb der Ehrentribüne ein. Das Bühnenbild war fertig. Es konnte losgehen. Um zwei Uhr elf kam eine Kavallerie-Schwadron auf den Platz gesprengt und hielt in Reih und Glied unter der Loge, in der ich saß. Auf Kommando zog die Kavallerie die Säbel, und ein Hornsignal ertönte. Die Kapelle schmetterte einen Tusch und spielte dann die Nationalhymne. Alles, was saß, erhob sich und blieb stehen. Und dann rollte unter tosendem Beifall bei Flaggenwehen und Hüteschwenken und Tusch der Wagen mit der geflügelten Viktoria langsam auf den Platz. Mein Herz raste und das Blut pochte so laut in meinen Schläfen, daß mir der Lärm der Blechmusik und die Hochrufe nur wie ein monotones Brausen vorkamen. Ich setzte mich, aber es wurde nicht besser. Ich stand wieder auf. Aus dem Lautsprecher ertönte eine Männerstimme. Sie sprach sehr schnell – vermutlich eine Erklärung zu den lebenden Bildern. Die Siegesgöttin, der eine kleine Abteilung Infanterie voranmarschierte, bog ruckartig ab und fuhr an unserer Loge vorbei. Die Statue schwankte beim Fahren, und die Mädchen, die auf dem Sockel postiert waren, schwankten mit; aber ich fand es nicht lächerlich. Ich ertappte mich, wie ich auf die ›Industrie‹ starrte, die sich in einer Ecke der Plattform befand. Ein Mann mit Lederschürze hielt einen Schmiedehammer hoch über dem Kopf, als wolle er ihn gleich auf den Amboß niedersausen lassen. Die Arme waren offenbar schon müde von der Anstrengung, und ich sah, wie sich die Spitze des 337
Hammers ganz langsam senkte. Dann machte der Wagen eine Schwenkung, der Schmied verschwand aus meinem Blickfeld. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes präsentierten die Truppen das Gewehr, als die Viktoria in Sicht kam. Der Wagen kroch weiter, bis er fast neben dem Denkmal in der Mitte des Platzes war, machte dann eine Wendung und hielt am Fuß der Stufen, genau vor der Ehrentribüne. Die Mädchen auf dem Sockel nahmen eine neue Position ein, so daß sie jetzt alle auf das Palais blickten. Plötzlich erscholl Trommelwirbel. Die Menge verstummte. Der Wirbel brach abrupt ab und dann setzten die Kapellen mit dem Marschlied der Partei ein. Alle Köpfe wandten sich dem Portal des Palastes und der Treppe zu, die zwischen den oberen Logen zur Ehrentribüne lief. Aus dem Lautsprecher tönte, von einem Chor gesungen, das Marschlied. Die Menge fiel ein. Die Luft erbebte unter den Klangwellen. Als das Lied seinen Höhepunkt erreicht hatte – das Ja-Gebrüll, das mit dem letzten Ton zusammenfiel – erschien Vukaschin im Portal, und die Hochrufe setzten ein. Er trug einen schwarzen Anzug und hatte eine Tuchmütze in der Hand. Ein paar Sekunden stand er reglos. Dann hob er eine Hand zum Gruß und schritt langsam die Stufen zur Ehrentribüne hinab, während die Hochrufe anschwollen. Als er auf der zweiten oder dritten Stufe war, löste sich ein Mann in Marschallsuniform aus der Gruppe hinter ihm und folgte. 338
Dann kam der Innenminister. Und schließlich ging Brankowitsch die Treppe hinunter. Er trug einen sehr eleganten schwarzen Anzug und einen weichen grauen Filzhut. Er ging sehr langsam und gemessen, als merke er gar nichts von dem Trubel unten auf dem Platz. Als er an den oberen Logen vorbeikam, applaudierte das Publikum, und er nickte einem Bekannten gelassen zu. Vukaschin hatte die Ehrentribüne erreicht. Nun trat er nach vorn zur Balustrade und sah hinab. Ein neuer Beifallsjubel grüßte ihn. Der Marschall und der Innenminister nahmen rechts und links von ihm Aufstellung. Brankowitsch ging bis zur Balustrade, trat neben den Innenminister und sagte ein paar Worte zu ihm. Der Angesprochene lächelte und wies auf die Siegesgöttin. Jetzt war die Balustrade in ihrer ganzen Länge besetzt. Man sah zwei oder drei Uniformen, die meisten aber trugen dunkle Anzüge und graue Homburgs. Die einzige Tuchmütze, die ich entdeckte, war die Vukaschins. Links von Brankowitsch stand ein dicker Mann, der sich so steif hielt, als habe er einen Furunkel im Genick. Sie waren keinen halben Meter voneinander entfernt. Brankowitsch wandte sich zur Seite, um etwas zu ihm zu sagen. Nun hob Vukaschin die Hand grüßend zum Wagen der Viktoria, der sich mit einem Ruck wieder in Bewegung setzte. Im gleichen Augenblick fingen die Militärkapellen an zu spielen, und der große Aufmarsch des Festzuges begann. Zuerst kam in Achterreihen eine Gruppe von 339
Männern in weißem Arbeitsanzug. Ich beachtete sie aber kaum. Meine Augen hingen an Brankowitsch. Er sprach immer noch zu dem Mann an seiner Seite. Als die Hochrufe und das Beifallsklatschen erneut einsetzten, versuchte ich verzweifelt, mich selbst zu beruhigen. Es konnte einfach nicht sein! Das war das Geschwätz eines Irren gewesen. Oder – besser, weit besser! – Passaic und Hagerstown und Oakland hatten das Urteil gefällt, daß man Gott überlassen solle, was Gottes war, und daß (Artikel soundso der Verfassung der Vereinigten Staaten) niemand etwas tun dürfe, das sich gegen Leben, Freiheit oder Person eines andern Menschen richte, es sei denn, daß das vorgeschriebene Rechtsverfahren ganz genau befolgt werde, und daß Georghi Paschik gut daran täte, seinen fetten Steiß so rasch wie möglich in Sicherheit zu bringen und seinen Anzug reinigen zu lassen. Ich war plötzlich überzeugt, daß alles in Ordnung war. Jetzt mußte Paschik jeden Augenblick neben mir auftauchen, geschäftsmäßig, höflich, und ein Herz und eine Seele mit der Regierung. Ich lachte fast vor Erleichterung. Es war zwei Uhr neunzehn. Und dann geschah es. Die Spitze des Festzuges war eingeschwenkt und marschierte auf die Ehrentribüne zu; Brankowitsch wandte sich um und blickte hinab. Er hörte einen Moment auf zu sprechen und bewegte sich nicht. In dieser Sekunde hallte der Platz wider vom Knattern einer Maschinengewehrsalve. Und kaum wurde das 340
Echo der ersten Salve vernehmbar, krachte auch schon die zweite. Meine Augen hingen an Brankowitsch. Wahrscheinlich war dort oben hinter jedem Würdenträger ein Stuhl oder irgendeine Art Sitz, damit sie während der Parade ausruhen konnten, denn Brankowitsch taumelte, als fiele er rückwärts, und schien dann einen Augenblick innezuhalten. Dann traf ihn die zweite Salve am Hals. Er wandte sich ein wenig zur Seite, als wolle er wieder mit dem Innenminister reden. Dann sank er hinter der Balustrade zusammen, und ich konnte ihn nicht mehr sehen. Der Mann mit dem Furunkel faßte sich am schnellsten. Kaum daß Brankowitsch umgesunken war, nahm er Deckung hinter der Balustrade. Schließlich konnten ja noch weitere Schüsse folgen. Der Innenminister starrte ganz fassungslos vor sich hin. Vukaschin warf einen raschen Blick in die Runde, dann trat er zu Brankowitsch, wie um ihm zu helfen. Ich glaube, zuerst war nur ganz wenigen klar, daß auf der Ehrentribüne etwas nicht stimmte. Die meisten Zuschauer hatten ihre Aufmerksamkeit ganz auf den Festzug gerichtet. Doch auf einmal schrie jemand auf. Im gleichen Augenblick begannen Männer auf dem Platz so laut zu rufen und zu schreien, daß sie den Lärm der Kapellen übertönten, und die Leibgarde zog einen schützenden Halbkreis um die Ehrentribüne, die Maschinenpistolen auf die Menge gerichtet. Und dann kam die Panik. Alles tobte und schrie. Die Musik brach ab und der Fest341
zug geriet ins Stocken. Die geflügelte Siegesgöttin kam mit einem scharfen Ruck zum Stehen. Sie war jetzt auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes. Ich sah ein Mädchen vom Sockel fallen, als sich ein Menschenstrom, der den Platz zu verlassen suchte, an dem Wagen vorbeidrängte. Ein Mann in der Presseloge, ganz nahe bei mir, brüllte wie ein Besessener. Ich war schon dicht beim Ausgang. Ich stolperte darauf zu und gelangte auch wirklich die Stufen hinunter. Ein Beamter kam treppauf und versuchte mich aufzuhalten, aber ich schob mich an ihm vorbei und lief auf die schmale Gasse zu, die zwischen dem Dom und seinem Nebengebäude in den Platz mündete. Sie war von der Polizei abgesperrt worden und diente als Haupteingang für Logengäste. Ich dachte nun: wenn es mir gelänge, am Dom vorbeizukommen, ehe die Menge auf dem Platz ganz außer Rand und Band war und die umliegenden Straßen unpassierbar machte, könnte ich noch rechtzeitig im Hotel sein, um meine Aufgabe zu beenden. Dieselbe Absicht hatten auch andere Leute in den Logen. Die Gasse füllte sich blitzschnell und die meisten Leute rannten. Auch ich fing an zu rennen. Als ich die Gasse erreicht hatte, war die Schranke schon weggefegt und die Leute kletterten über die Trümmer und tauchten in den wilden Menschenstrom, der sich aus dem Platz ergoß. Es wäre jetzt unmöglich gewesen, zu gehen, selbst wenn man es gewollt hätte, denn jetzt mischte sich in das Ge342
schrei der Menschen hinter uns noch das Knallen der Schüsse, welche die Leibgarde über die Köpfe der entsetzten Menge hinweg abfeuerte. Jeder rannte. Ich muß gut einen halben Kilometer so gelaufen sein, ehe ich mich sicher genug fühlte, um im Schrittempo zu gehen. Die Menschen sanken erschöpft auf das Pflaster. Viele weinten dabei. Ich ging weiter und befand mich bald in einer Straße mit kleinen Läden. In welcher Gegend ich war, wußte ich nicht. Die Kaufleute hatten ihre Geschäfte für diesen Tag geschlossen, und ich wollte niemanden, der vielleicht wußte, was geschehen war, nach der Richtung fragen. Es war kein günstiger Moment, sich als Ausländer zu erkennen zu geben. Ziellos ging ich weiter, nach irgend etwas Ausschau haltend, an dem ich mich orientieren konnte. Ich mußte unbedingt noch Madame Deltschev besuchen und ihr von Paschik erzählen, ehe ich abreiste. In der ersten Verwirrung hatte ich die verrückte Idee gehabt, mir noch meinen Koffer und meine Schreibmaschine vom Hotel abzuholen, mich dann von einem Taxi zum Hause Deltschevs bringen zu lassen und von dort aus direkt zum Bahnhof zu fahren. Jetzt war mir klar, daß so etwas gar nicht in Frage kam. Selbst wenn es mir gelänge, den Weg zum Hotel zu finden und einen Wagen zu mieten, so fand ich bestimmt keinen Fahrer, der mich an einem solchen Tage zum Hause Deltschevs fuhr. Und dabei begriff ich gleich noch etwas anderes: wenn ich das Haus nicht erreichte, ehe die Nachricht vom 343
Attentat zu den Posten am Tor durchgedrungen war, würden sie mich vermutlich nicht mehr hineinlassen. Jetzt war es zwanzig vor drei. Wahrscheinlich war sofort nach dem Anschlag das Radio abgeschaltet worden. Vor Ablauf einer Stunde würde sicher keine offizielle Nachricht ausgegeben werden. Aber inzwischen konnte sich die Neuigkeit mit den tollsten Verzerrungen wie ein Lauffeuer durch die ganze Stadt verbreiten. Ich mußte mich beeilen. Ich ging weiter. Ich hatte die Sonne im Gesicht. Wenn ich westwärts ging, mußte ich schließlich zu der wohlbekannten Parkmauer kommen, und wenn ich ihr entlangging, würde ich unvermeidlich das Stadtviertel, in dem Jordan Deltschevs Haus stand, erreichen. Ich gelangte tatsächlich hin, aber ich brauchte mehr als eine halbe Stunde dazu, und ich fürchtete schon, zu spät zu kommen. Die Atmosphäre der ganzen Stadt war ungewöhnlich. Ein Blick auf die Straßen zeigte schon, daß etwas Ernstes geschehen war. In kleinen Gruppen standen die Leute vor den Häusern und flüsterten. Ich hatte richtig vermutet: das Radio war abgeschaltet worden. Aus den offenen Fenstern der Mietshäuser drang kein Laut. Panzerwagen überwachten die Verkehrsknotenpunkte und patrouillierten durch die Straßen. Vukaschin hatte offenbar alles gut vorbereitet, um einen vorbereiteten Notstandsplan in Aktion zu setzen, sobald er ins Ministerium zurückkam. Und als ich in der heißen Sonne weiterging, war es mir klar, daß 344
es nicht leicht sein würde, heute abend die Stadt zu verlassen. Zu meinem Schrecken standen Gruppen von Leuten vor Deltschevs Haus, und als ich näher kam, sah ich, daß auch Extraposten vor der Türe aufgezogen waren. Ob Vukaschin schon wußte, daß kein Philip Deltschev hier war, den er verhaften konnte? Wenn der Regierungschef keine befriedigende Erklärung der Lage zur Hand hatte, konnte im Regierungspalais noch das schlimmste Chaos herrschen. Die Leute, die hier auf der Straße standen, mußten die ärgsten Gerüchte gehört haben und einfach automatisch hierhergekommen sein, weil das Haus Deltschevs der nächste Ort von politischer Bedeutung war. Ich konnte sogar ganz kaltherzig erwägen, daß mir jetzt nach Brankowitschs Tod nichts Schlimmeres passieren konnte, als daß man mir den Zutritt verweigerte. Ich erkannte meinen Unteroffizier. Er schaute mürrischer drein als sonst und wirkte sehr nervös. Das bedeutete wohl, daß er nichts wußte. Ich trat zu ihm, und er erkannte mich und nickte. Ich zog meine Papiere hervor. Er sah sie mißtrauisch an und gab sie mir zurück, machte aber keine Miene, mich durchzulassen. »Ich weiß nicht recht, mein Herr«, sagte er auf deutsch. »Ich muß neue Befehle abwarten.« »Was für neue Befehle?« »Es ist etwas passiert.« »So? Was denn?« Er schüttelte den Kopf. »Die Leute reden viel.« 345
»Ach, Sie meinen die Unruhen?« Er sah mich scharf an. »Wissen Sie, was passiert ist?« fragte er. »Ja – es gab während der Parade auf dem Michaelsplatz Unruhen. Die Truppen mußten schießen.« »Unruhen? Sind Sie sicher, daß es nichts Schlimmeres war?« »Es war schlimm genug. Soviel ich hörte, gab es Tote.« »Aber nur Unruhen?« fragte er beharrlich. »Natürlich. Vor zehn Minuten hat es mir ein Offizier erzählt.« »Was? Ein Offizier hat es Ihnen erzählt?« »Natürlich. Ich sagte –« Er seufzte ungeduldig. »Diese Hammel!« rief er aus und deutete mit einer Kopfbewegung auf die wartenden Leute. »Diese blöde Hammelherde mit ihrem Geblök! Sie sagten mir, die Agrarsozialisten hätten einen Putschversuch gemacht, und die Revolution sei ausgebrochen. Diese Hammel!« Er spuckte verächtlich aus und grinste. »Unruhen, sagen Sie. Na, mit Unruhestiftern werde ich fertig.« Ich grinste auch, und er nickte einem Posten zu. Die Klingel schlug an, und nach einer Weile ertönte im Hof das wohlbekannte Klappern von Ranas Sandalen. Ich fühlte die Augen der ganzen Straße auf mir, als ich eintrat. Derselbe Geruch nach Möbelpolitur, derselbe glatte Fußboden, dasselbe Zimmer. Und sie erhob 346
sich aus demselben Stuhl, um mich zu begrüßen. Dieselben weichen, klugen Augen unter derselben hohen Stirn, dasselbe höfliche Lächeln. Doch für mich hatte sich etwas verändert. Ich sah sie in einem andern Rahmen. Das Lächeln erlosch. »Herr Foster«, sagte sie schnell, »ich bin so froh, daß Sie gekommen sind. Was ist passiert? Es ist etwas passiert. Rana sagt, daß draußen vor dem Haus Leute warten, und daß die Wachen verstärkt worden seien. Ich verstehe das nicht.« Einen Augenblick gab ich keine Antwort. Dann sagte ich: »Wenn Sie mich fragen, ob Aleko Erfolg gehabt habe, so kann ich Ihnen mit Ja antworten.« »Aleko?« »Ich darf meinen Zug nicht versäumen, Madame. Vielleicht sparen wir Zeit, wenn ich Ihnen sage, daß Paschik und ich sehr offen miteinander gesprochen haben; und da es Paschik nicht möglich war, Sie ganz auf dem laufenden zu halten, weiß ich im Augenblick ein gut Teil mehr über die Affäre als Sie. Ich kam hierher, um Ihnen zu erzählen, was Sie noch nicht wissen.« Sie sah mich groß an und setzte sich dann sehr ruhig hin. »Ich verstehe – Sie sind ein Bote von Paschik.« »Nein, Paschik weiß nicht, daß ich hier bin.« »Wo ist er? Bei meinem Sohn?« »Ihr Sohn ist in Athen. Paschik ist irgendwo in der Stadt.« 347
»Sie sagten, daß Vukaschin tot sei. Haben Sie mit angesehen, wie es passierte?« »Ich sagte nicht, daß Vukaschin tot sei. Ich sagte nur, daß Aleko Erfolg gehabt habe. Vor genau einer Stunde wurde Brankowitsch ermordet.« »Brankowitsch?« Ihre Hände schlugen so heftig auf die hölzernen Armlehnen ihres Sessels, daß sie vor Schmerz aufgeschrien hätte, wenn sie in diesem Augenblick Schmerz hätte fühlen können. »Brankowitsch?« »Jawohl. Brankowitsch.« »Und Sie sahen es selbst?« »Ja.« »Nun und? So sprechen Sie doch, Herr Foster!« Ich sprach. Es war schwierig, denn sie unterbrach mich fortwährend mit Fragen, von denen ich manche nicht beantworten konnte. Von Katerinas Besuch erwähnte ich nichts. Wozu auch. Sie wußte wahrscheinlich ohnedies darum. Als ich geendet hatte, lehnte sie sich zurück und schloß die Augen. Ihr Gesicht war sehr weich und schön. »Ich reise mit dem 5-Uhr-Zug nach Athen«, sagte ich. »Wenn man mich abreisen läßt, heißt das. Morgen werde ich Philip sehen. Seine unterschriebene Erklärung wird mit meinem Kommentar spätestens Dienstag in New York, London und Paris sein. Vukaschin hat zwei Tage Zeit, sich zum Narren zu machen. Dann ist es aus mit ihm.« Langsam schlug sie die Augen auf. »Mein lieber Herr Foster«, sagte sie müde, »glauben Sie wirk348
lich, Sie könnten Männer wie Vukaschin durch Propaganda im Ausland schlagen? Dieser Glaube ist naiv.« »Ich dachte, es sei Ihre Idee?« »Meine?« Sie stand ärgerlich auf. »Paschiks Idee vielleicht. Meine nicht. Verstehen Sie denn nicht? Sie haben uns geschlagen.« »Dann waren Sie sowieso schon geschlagen.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Sehen Sie, Herr Foster, mit Brankowitsch hätten wir uns verständigen können. Er hätte die Agrarsozialisten gebraucht. Er hätte gedacht, er könnte sie ausnützen.« »Und Ihr Mann?« Sie schaute verlegen drein. »Über ihn hätte man sich verständigen können. Ein Freispruch – und dann hätte er sich eben eine Weile zurückgezogen.« Mir wurde plötzlich sehr vieles klar. Ich erinnerte mich aber vor allem noch an den Klang meiner Stimme, als ich sie gefragt hatte, ob es nicht gefährlich sei, die Straße einfach zu ignorieren, und an ihre Antwort, ihre schöne fromme Antwort: ›Für meine Kinder – ja. Für mich – nein. Denn ich werde nicht versuchen, der wirklichen Welt meine private Welt aufzuzwingen.‹ Ich wurde mir auf einmal einer tiefen Abneigung gegen sie bewußt und gab mir keine Mühe, sie aus meiner Stimme zu verbannen. »Glauben Sie das wirklich?« fragte ich. Sie wandte sich von mir ab und sah aus dem Fenster. »Herr Foster«, sagte sie nachdenklich, »glauben Sie, daß Sie hier in Sicherheit sind?« 349
Das kam unerwartet. Mein elender Magen zog sich zusammen. »In Sicherheit?« sagte ich. »Nun, Aleko muß jetzt begriffen haben, was Paschik getan hat. Sie sagen, er habe schon einmal versucht, Sie zu töten. Er könnte erraten, daß Sie hier sind.« Nun verstand ich sie. Sie wollte mich strafen. Ich lachte. »Wenn Aleko begreift, was geschehen ist, wird er es sehr eilig haben, außer Landes zu kommen, und sich nicht um mich kümmern. Ich kann ihm nichts anhaben. Und wenn er nicht weiß, was sich zugetragen hat, so ist er vermutlich schon verhaftet. In diesem Falle wird er kaum sprechen, ehe er weiß, ob Vukaschin ihn retten will oder nicht.« »Sie sind sehr zuversichtlich«, sagte sie kalt. »Ich halte es für unklug, daß Sie hier sind.« »Dann werde ich gehen. Wenn Sie erlauben, würde ich mich gern von Ihrer Tochter verabschieden.« »Ich werde es ihr ausrichten.« »Wünschen Sie, daß ich Ihrem Sohn eine Nachricht von Ihnen bringe?« »Ja, Herr Foster. Wenn Sie wollen, sagen Sie ihm bitte, daß er es gut gemacht hat, und daß es nicht unsere Schuld ist – nicht die seine und nicht die meine –, daß wir geschlagen worden sind. Und daß Katerina und ich, wenn irgend möglich, bald zu ihm nach Athen kommen werden.« »Ich werde es ihm sagen. Nur eines möchte ich noch gern wissen.« 350
»Und das wäre?« »Was Ihren Mann veranlaßt hat, diese Rede über die Wahlen zu halten. Was ging schief?« »Nichts, woraus sich ein Artikel machen ließe, Herr Foster.« »Ich frage nur danach, weil ich es persönlich gern wissen möchte.« Sie zuckte die Achseln. »Ganz wie Sie wünschen. Es spielt jetzt keine Rolle mehr, was für ein Mensch mein Gatte war.« Als sie mir alles erzählt hatte, ging ich. Ich kehrte nicht mehr ins Hotel zurück. Ich erreichte den Bahnhof eine halbe Stunde vor Abgang des Zuges. Man ließ mich mit meinem Paß ohne weiteres in den Zug. Erst an der Grenze wurde ich aufgehalten. Dadurch brauchte ich sechsunddreißig Stunden, um nach Athen zu kommen, und da war Vukaschins Bericht über den Mord an Brankowitsch längst erschienen. Der Mörder war ein Mann namens Alexander Gatin, und er wurde zusammen mit einem Komplizen namens Georghi Paschik niedergeschossen, während sie sich der Verhaftung widersetzten. Beide waren tot. Philip Deltschev war ein wichtigtuerischer, aber liebenswürdiger junger Mann, der mir für die Botschaft seiner Mutter sehr dankbar war. Nun empfände er alles nur noch halb so schlimm, sagte er. Und er sei überzeugt, es werde ihr schon gelingen, nach Athen zu kommen. Seinen Vater erwähnte er nicht. 351
21 Ich sah das Ende des Prozesses gegen Deltschev im Vorführungsraum einer Wochenschaugesellschaft in London. Im harten Schwarz-Weiß der Kameraleute des Propagandaministeriums sah die Szene echter aus als in meiner Erinnerung. Vielleicht verlieh ihr der Film eine Glaubwürdigkeit, die sie in Wirklichkeit gar nicht besessen hatte. Oder vielleicht löste der Tonstreifen diese Wirkung aus, da kein Dolmetscher dabei war, der die Aufmerksamkeit ablenkte. Brankowitschs Nachfolger hatte zu den sechs Filmspulen, die er zur Verwendung im Ausland ausgesucht hatte, gleich eine Übersetzung der Verhandlung geliefert. Aber im Augenblick wollte ich nur den Film sehen. Ich wollte Deltschev sehen. Nur auf wenigen Bildern trat er überhaupt in Erscheinung. Man hatte nur eine der drei Kameras auf die Anklagebank gerichtet und den Film dann so geschnitten, daß die Richter und Doktor Prochaska zur Geltung kamen. Eine Aufnahme, während einer Brandmarkung durch den Staatsanwalt gemacht, zeigte den Angeklagten, wie er ängstlich die Stirn runzelte und so unruhig auf seinem Platz hin und her rutschte, daß er schuldbewußt wirken mußte. Höchstwahrscheinlich hatten diese Gesten in Wirklichkeit ganz andere Ursachen, Langeweile oder körperliche Schmerzen. 352
Jedoch für mich wie für das Propagandaministerium hatten sie eine andere Bedeutung. Das Propagandaministerium sah einen ränkevollen Bösewicht, der überführt worden war. Ich sah einen Vorkriegspostminister, der ein Staatsmann sein wollte. Aber schließlich hatte ich ja von seiner Frau seine Geschichte gehört. Es war das Wort ›Väterchen‹ gewesen, das ihn zur Strecke gebracht hatte. Als Deltschev das Wort zum erstenmal vor seinem Namen gedruckt sah, hatte es ihm gefallen; er kannte seine Landsleute und spürte daher die Note trockener Zuneigung darin. Es bedeutete, daß sie ihm vertrauten und daß sie – wenn auch brummend – aus seiner Hand auch Härten hinnehmen würden, ohne ihn dafür allzu leidenschaftlich zu hassen. Mit belustigtem Stolz zeigte er seiner Frau und seinem Sohn die Zeitung. Seine leise Nervosität dabei fand er unerklärlich und beachtete sie nicht weiter. Bald war dieser Übername allen geläufig, und niemand machte mehr Bemerkungen darüber; nur er selbst gewöhnte sich aus irgendeinem Grund nicht recht daran. Im Gegenteil. Im Laufe der Zeit verstärkte sich das leise Unbehagen, das er empfand, wenn er ihn hörte oder las. Er tönte ihm fast wie eine Anklage. Seine Frau hatte gesagt: ›Jordan forderte immer die Kritik heraus. Und er fürchtete sie immer.‹ Deltschev kannte die Witze, die man über seine Motive riß. Bisher war er davon überzeugt gewesen, 353
sie besser und unvoreingenommen beurteilen zu können. Zugegeben, er war vielleicht schlau; aber er hatte sich 1944 den Nazis widersetzt, nicht persönlicher Vorteile wegen (wenn man Internierung und Vergessenheit nicht als solche ansehen wollte), sondern weil er es für recht und billig gehalten hatte; vielleicht war er ehrgeizig, zugegeben; dennoch hatte er das Komitee der Nationalen Einheit geschaffen, nicht wegen der Gefahr, durch die Hand der Gestapo den Märtyrertod zu sterben, sondern weil er es für recht und billig gehalten hatte. Jetzt aber, da seine Macht täglich zunahm und das Wort ›Väterchen‹ mit seinem Namen verwuchs, war er seiner nicht mehr sicher. Sein ganzes Gedanken- und Gefühlsklima schien sich zu verändern. Wenn man ihn liebte und ihm vertraute, dann mußte er dessen auch würdig sein. Und sein Gewissen sagte ihm, daß er nicht würdig war. ›Jordan ist selbstquälerisch veranlagt‹, hatte seine Frau gesagt. Jetzt begann in ihm ein schrecklicher Kampf. Als Schlachtfeld suchte er sich die Sache mit den versprochenen freien Wahlen aus. Vernunft und Erfahrung sagten ihm, daß die Provisorische Regierung das Beste war, was man seinem Land zur Zeit wünschen konnte, und daß Wahlen in der jetzigen Situation sehr leicht bewirken könnten, daß die Volkspartei an die Macht kam. Nach seiner Überzeugung würde das aber ein Unglück für das Volk sein. Seine Vernunft – die 354
Vernunft eines Advokaten – sagte ihm auch, daß das Versprechen vor allem freie Wahlen vorgesehen hatte, und daß die wesentliche Voraussetzung dieser Freiheit zur Zeit nicht gegeben war. Und doch war da die andere Stimme in ihm, die grausame, verächtliche, anklagende, strafende Stimme, die ihn plagte und ihm ganz andere Gründe zuraunte. ›Warum bist du so ängstlich?‹ forschte die Stimme. ›Warum zögerst du? Vielleicht weil du weißt, daß du tief im Herzen korrupt geworden bist, und daß die Gründe, die du für dich erfindest, um an der Macht zu bleiben, nur Scheingründe, nur Ausflüchte sind, um die Wahrheit zu verbergen. Ist es nicht so? Ihr Diktatoren seid doch alle gleich! Ihr winselt, daß alles, was ihr tut, nur zum Besten des Volkes geschehe, und ihr bettelt beim Volk um Liebe und Vertrauen. Doch wenn sich euch eine Möglichkeit bietet, diese Liebe und dieses Vertrauen auf die Probe zu stellen, dann findet ihr Gründe – oh, ausgezeichnete Gründe! – warum ihr das nicht dürft. Und die Gründe lauten immer so: Es ist zum Besten des Volkes. Das, mein Freund, ist die Spirale der Korruption, aus der du nicht mehr entkommst. Regierung durch Zustimmung der Regierten! Kennst du diese Phrasen? Wer bist du, daß du entscheiden darfst, welcher Regierung sie zustimmen sollen? Deine Macht und ihr Vertrauen geben dir eine Verantwortlichkeit über deine Parteiinteressen hinaus. Da siehst du nun den Unterschied zwischen einem Staatsmann und einem Politiker. Der Staatsmann hat 355
Mut. Und du? Hast du gesprochen? O nein! Du hast nicht einmal den Mut deiner eigenen Überzeugung. (Wie du dich drehst und windest, mein Freund, um der Wahrheit auszuweichen!) Der Staatsmann hat den Mut, unparteiisch zu sein, selbst wenn er Gefahr läuft, sich selbst zu vernichten.‹ Er sagte keinem Menschen etwas davon, bis es vorbei war. Dann erzählte er es seiner Frau. ›Meine Hände sind rein‹, hatte er gesagt. Es war, als habe er durch die Vernichtung seines Glaubens und seiner Interessen und des Glaubens und der Interessen anderer ehrlicher Männer sich Absolution erteilt für eine unnennbare Sünde. »Letzte Rolle«, sagte der Operateur, der den Projektor bediente. »Resümee des Vorsitzenden und Urteilsverkündung.« Ich sah wieder auf die Leinwand. Ich sah die müde Hülle eines Mannes, der einst Jordan Deltschev gewesen war, und den Gerichtsvorsitzenden, der das Urteil verkündete: Tod durch den Strang. Es war inzwischen vollstreckt worden. Nach dem Urteil herrschte Schweigen im Gerichtssaal. Wahrscheinlich warteten die Zuschauer auf ein letztes Wort von Deltschev. Aber er sagte nichts. Er nickte leicht mit dem Kopf und wandte sich zum Gehen. Die Wachen traten vor. Dann stieg er von der Anklagebank herab und ging langsam zwischen ihnen hinaus. Ich erinnerte mich, wie er früher aus dem Saal ge356
gangen war, und an den Vergleich, den ich mit dem Prozeß des Sokrates zu ziehen gedacht hatte. Jetzt war meine Erinnerung klarer geworden. Mir fielen Worte ein, die besser paßten als die, welche ich damals gewählt hatte. »Aber, ihr Herren, es könnte sein, daß das Problem nicht darin liegt, vor dem Tod zu fliehen, sondern vor der Schuld. Denn die Schuld ist schneller als der Tod.« »Das war der Prozeß«, sagte der Operateur. »Wollen Sie sich gleich noch die Ermordung Brankowitschs ansehen? Ich habe sie hier.« »Danke«, antwortete ich. »Die hab ich schon gesehen.«