Francis Durbridge �
Der Fall Salinger �
Inhaltsangabe
Der Geheimagent Leo Salinger wurde in Amsterdam von einem Spor...
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Francis Durbridge �
Der Fall Salinger �
Inhaltsangabe
Der Geheimagent Leo Salinger wurde in Amsterdam von einem Sportwagen überfahren und getötet. Frazer übernimmt den Auftrag, die mysteriösen Zusammenhänge seines Todes zu klären. War es tatsächlich ein Verkehrsunfall? Oder hat die charmante Barbara Day, die den Wagen steuerte, den Tod Salingers vorsätzlich herbeigeführt? Frazer muß verdammt viel riskieren, bis er hinter die Schliche und Kniffe einer kaltblütig zupackenden Diamantenschmugglerorganisation kommt und bis er sich Zentimeter um Zentimeter an den Boß dieser Bande heranarbeiten kann.
Printed in Western-Germany � Einmalige Sonderausgabe mit � Genehmigung des Gebrüder Weiß Verlages München/Berlin � Gesamtherstellung: Lingen Verlag, Köln • fgb � Schutzumschlag: Roberto Patelli � Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder � chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
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ls ich aus der stillen Seitenstraße, in der ich wohnte, auf die Hauptstraße kam und die endlosen Autoschlangen sah, wußte ich, daß die nachmittägliche Verkehrsspitze ihren Höhepunkt erreicht hatte. Ich war für sechs Uhr mit Mr. Ross verabredet, und zwar pünktlich auf die Minute. Mit einem Blick auf die Uhr stellte ich fest, daß es noch nicht ganz halb sechs war; daher entschloß ich mich, zu Fuß zu gehen. Während ich im Strom der Verkehrsteilnehmer in Richtung Smith Square schwamm, überlegte ich, was Charles Ross wohl mit mir vorhatte. Am Telefon war er kaum mitteilsamer als sonst gewesen. Auf meine interessierte Frage nach meinem nächsten Auftrag hatte er kurz angebunden erwidert: »Der Fall Salinger – falls Ihnen das etwas sagt.« Natürlich tat es das nicht, und noch bevor ich auflegte, hatte die andere Seite längst das Gespräch beendet. Ich war genauso klug wie vorher und fragte mich, warum ich Narr mich eigentlich so mir nichts, dir nichts in die geheimnisvolle Maschinerie einer Dienststelle hineinziehen ließ, die eine Kreuzung zwischen Geheimdienst und Kriminalpolizei darstellte. Sicherlich wäre es besser für mich gewesen, zu meinem erlernten Ingenieurberuf zurückzukehren und mich den weniger aufregenden Reibereien mit Betriebsratsmitgliedern über die Länge der Teepausen zu widmen. Auf meiner besessenen Suche nach Harry Denston – meinem einstigen Geschäftspartner, dessen Extravaganzen unser gemeinsam be1
triebenes Ingenieurbüro zum Konkurs geführt hatten – war ich plötzlich in Kontakt mit Charles Ross und seinen Mitarbeitern gekommen. Auch Ross suchte meinen ehemaligen Teilhaber. Als er erkannte, wie außerordentlich nützlich sich meine Kenntnisse über Harry und dessen Bekannte erweisen konnten, hatte er sich meiner Hilfe versichert, andererseits mir aber auch alle Hilfsmittel seines Apparates zur Verfügung gestellt. Es war mir dann auch wirklich gelungen, Harry aufzuspüren, wobei ich zu meinem eigenen Erstaunen in meiner seelischen Struktur einen bis dato im verborgenen geblühten Zug von Draufgängertum entdeckte. Um ehrlich zu sein – meine Eitelkeit fühlte sich geschmeichelt, als Ross mir eine Position in seiner Abteilung anbot. Ja, wenn ich verheiratet gewesen wäre… Aber ich war es nun einmal nicht. Als Big Ben dröhnend den ersten Glockenschlag der sechsten Stunde ertönen ließ, war ich am Smith Square angekommen. Wie immer, wenn ich das Arbeitszimmer von Charles Ross betrat, schoß mir der gleiche Gedanke durch den Sinn: Welch ungewöhnlicher Raum, um hier in eine Aufgabe eingewiesen zu werden, die ohne weiteres mit meinem gewaltsamen Tod enden konnte. Das Zimmer war hoch und geräumig, mit stuckverzierter Decke, Wänden aus geädertem Marmor und darin eingebauten Bücherregalen. Schwere lederne Klubsessel standen geschickt verteilt auf einem dicken Teppich, dessen Farben gut zur übrigen Einrichtung paßten. Die einzigen Gegenstände, die mich daran erinnerten, daß man mich nicht zu einem harmlosen Plauderstündchen geladen hatte, waren der Aktenschrank aus Stahl in der einen Ecke und die vier Diensttelefone auf dem großen Schreibtisch. Hinter dem Schreibtisch saß ein gepflegter Herr von etwa fünfzig Jahren, der einen gut sitzenden dunkelgrauen Maßanzug anhatte. Auf den ersten Blick hätte man ihn für einen erfolgreichen Ge2
schäftsmann halten können; erst wenn er sprach, merkte man, daß Charles Ross einige Eigenschaften hatte, die in der Welt des Geschäftslebens fehl am Platze gewesen wären. Bei meinem Eintritt erhob er sich, schenkte mir ein Wohlwollen vortäuschendes Lächeln und schüttelte mir die Hand. Während er sich wieder setzte, neigte er den Kopf in Richtung eines Herrn, der es sich in einem der breiten Ledersessel bequem gemacht hatte. »Ich möchte Sie mit Lewis Richards bekannt machen, Frazer. Er wird diesen Fall mit Ihnen gemeinsam bearbeiten.« Und mit leicht amüsiertem Blick in Richtung auf Richards fügte Ross hinzu: »Übrigens ist Mr. Richards noch nicht ganz davon überzeugt, daß es sich hierbei wirklich um einen ›Fall‹ handelt. Oder soll Ihr Zynismus in Wahrheit nur Ihre Trägheit tarnen, Richards?« Richards lächelte grimmig. »Nicht die Trägheit, aber die Müdigkeit, Sir. Meines Erachtens war es Bernard Shaw, der einmal gesagt hat, man brauche Bergschuhe, um Gemäldegalerien abzuklappern. Es wird mir stets ein Rätsel bleiben, wie dieses Mädchen es geschafft hat, solche Marathonstrecken auf Pfennigabsätzen zu bewältigen.« Er stand auf und schüttelte mir mit kräftig zupackendem Griff die Hand. »Wissen Sie, wieviel Museen es in Amsterdam gibt, Frazer?« Ich antwortete ihm mit einem unverbindlichen Lächeln, wie man es gewöhnlich bei Fragen tut, mit denen man nichts anzufangen weiß. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Sie werden es bald wissen«, versicherte er mir. Ich musterte ihn kurz. Er hatte ein kluges Gesicht mit langer, hakenförmiger Nase. Die Augen hatten jenen Ausdruck von Toleranz, die ein Mensch besitzt, der viel gesehen und gehört hat, aber nicht die Hälfte davon glaubt. Mir schien, mit diesem Kollegen würde ich gut auskommen. Ross unterbrach meinen Gedankengang. »Hier haben Sie eine Aufnahme der jungen Dame, die Sie beobachten sollen, Frazer.« Er nahm ein Foto aus einer Akte und reichte es mir. 3
Die Fotografie zeigte eine Frau Anfang Dreißig, brünett, mit großen, dunklen Augen, wohlgeformter Nase und vollem, üppigem Mund. Ich hätte mir eine Menge weniger amüsanter Aufträge vorstellen können, als der Spur so rassiger Beine zu folgen, wie man sie unter dem kurzen, engen Rock zu sehen bekam. »Sie heißt Barbara Day«, erläuterte Ross, »ist Engländerin, Teilhaberin eines Antiquitätenladens in Kensington und mit einem Börsenmakler namens Arthur Fairlee verlobt.« Während ich das Foto interessiert betrachtete, fing ich einen ironischen Blick von Richards auf. »Man könnte diesen Fairlee beneiden, finden Sie nicht auch, Frazer?« Ross unterbrach ihn abrupt. »Übermorgen fliegt sie nach Amsterdam. Ich habe es so eingerichtet, daß Sie mit derselben Maschine fliegen.« Mit fragendem Blick fügte er hinzu: »Haben Sie Ihren Paß bei sich?« Ich holte ihn aus der Tasche und gab ihn Ross, der ihn kurz anschaute und dann in eine Schublade legte. »Sie bekommen ihn rechtzeitig vor der Abreise zurück.« Mir schien der Zeitpunkt gekommen, noch einige Fragen zu stellen. »Darf ich erfahren, warum diese junge Dame beschattet werden soll?« Ross nahm eine Zigarette aus einer silbernen Dose und forderte mich auf, mich gleichfalls zu bedienen. »Vor knapp sechs Wochen wurde ein Mitarbeiter meiner Abteilung namens Leo Salinger getötet. Er wurde von einem Wagen überfahren, den Barbara Day lenkte.« Ich nahm mir eine Zigarette. »Haben Sie den Verdacht, daß es kein Unfall war?« Richards legte seine Hände dachförmig zusammen und kniff ein Auge zu. »Das ist eben die inhaltsschwere Frage.« Ross ließ mit dünnem Lächeln sein Feuerzeug aufflammen. »Wir wollen es einmal so formulieren: Leo war einer unserer besten Män4
ner. Also hat es bestimmt einige Leute gegeben, denen er im Wege war.« Bei der Vorstellung, auch ich könnte eines Tages diesen nicht unbedingt beneidenswerten Status in dieser Dienststelle erreichen, beschlich mich ein leichtes Frösteln. »Aber es wurde doch sicher eine Leichenschau abgehalten. Hat die denn nichts ergeben?« erkundigte ich mich. Ross machte eine einladende Handbewegung zu meinem neuen Kollegen hin. »Jetzt sind Sie an der Reihe, Richards. Sie waren dabei.« »Wenn man den Zeugen glauben darf, dann war es einwandfrei ein Verkehrsunfall«, erläuterte Richards das Ergebnis der Leichenschau. »Sie sagten aus, Barbara Day habe alles getan, um den Wagen zum Halten zu bringen, konnte Salinger aber nicht mehr ausweichen. Nach den Zeugenaussagen trat er unvermittelt vor ihrem Wagen vom Bürgersteig auf die Fahrbahn.« Ich warf erneut einen kurzen Blick auf das attraktive Gesicht auf dem Foto. »Haben Sie eine Ahnung, was Barbara Day damals in Amsterdam getan hat?« Hier schaltete Ross sich ein. »Unseres Wissens verbrachte sie dort ihren Urlaub.« »Ist sie seit dem Unfall noch einmal drüben gewesen?« Ross nickte. »Vor vier Wochen flog sie nach Amsterdam und blieb sechs Tage dort. Wir haben Richards hinübergeschickt, um sie zu beobachten.« Richards stöhnte mit hohlem Klang. »Du meine Güte! Sechs Tage nichts als Museen und Kunstgalerien. Und das Ergebnis: Nichts Belastenderes als ein gelegentlicher Seitenblick auf eine nackte männliche Statue.« Ich lächelte. »Und dennoch verdächtigen Sie die junge Dame auch weiterhin, Salinger absichtlich getötet zu haben?« »Ich nicht«, erwiderte Richards emphatisch. »Was mich betrifft, 5
so halte ich es für einen echten Unfall. So etwas kommt vor … selbst in unseren Reihen.« Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger an seiner langen Nase. »Leider kann ich Mr. Ross nicht davon überzeugen, daß sonst nichts dahintersteckt.« »Schon gut, Richards«, besänftigte Ross seinen Mitarbeiter. »Ich weiß: Ihrer Ansicht nach habe ich in bezug auf Miß Day einen Tick. Aber ich mache mir nun einmal meine eigenen Gedanken darüber.« Richards lachte verlegen. »So habe ich es aber nicht ausgedrückt, Sir.« »Ich würde es Ihnen nicht einmal verübeln, wenn Sie so dächten.« Ross lächelte ihn väterlich an und wandte sich dann wieder mit ernstem Gesicht mir zu. »Diese mehrfachen Reisen von Miß Day nach Holland können nicht ausschließlich Vergnügungsfahrten sein. Ich möchte wissen, was dahintersteckt. Das ist Ihr Auftrag, Frazer. Sie sollen berichten, wohin sie geht und mit wem sie sich trifft.« Er drehte die Zigarette spielerisch zwischen Daumen und Zeigefinger. »Vor allem aber möchte ich wissen, ob sie in Amsterdam auch das Café de Kroon aufsucht.« Ich hob die Augenbrauen. »Warum gerade de Kroon?« »Salinger pflegte dort zu verkehren.« Ross holte aus einer seitlichen Schublade seines Schreibtisches einen Stadtplan von Amsterdam hervor, breitete ihn aus und deutete mit manikürtem Finger auf einen rotumränderten Straßennamen. »Keizersgracht-Platz. Das Café de Kroon liegt gleich um die Ecke.« Ich merkte mir den Namen. »Und was war mit Salinger?« fragte ich. »Können Sie mir etwas über ihn erzählen? Was tat er in Holland?« »Er wohnte und arbeitete dort, und von Zeit zu Zeit lieferte er uns einige Informationen.« Ross preßte die Lippen fest zusammen, so daß mir die Lust verging, die an sich selbstverständliche Frage nach der Art dieser Infor6
mationen zu stellen. Statt dessen fragte ich nur: »Hat jemand davon gewußt?« Er schüttelte langsam den Kopf. »Unseres Wissens nicht! Aber natürlich müssen gewisse Leute gewußt haben, daß wir einen Kontaktmann in Holland haben und durch ihn Informationen erhalten.« Er lächelte dünn. »Darüber brauchen Sie sich aber keine Gedanken zu machen. Es handelte sich um ganz allgemeine Informationen.« Ein durchtriebener alter Knabe, dachte ich und fragte weiter: »Und wenn Richards nun recht hat? Wenn der Unfall echt und Miß Day an Salinger überhaupt nicht interessiert war?« Ross sah mich mit einem langen, kalten Blick an. »Die Fragen stelle ich, Frazer. Ihre Aufgabe ist es, mir die Antworten zu bringen. Ihr Flugticket für Amsterdam wird Ihnen noch heute abend durch Extraboten zugestellt.« Also brauchte ich mir nicht weiter den Kopf über meine Aufgabe zu zerbrechen. Ich erhob mich und verabschiedete mich mit kurzen Worten. »Auf Wiedersehen, Sir.« Als ich an Richards vorbeikam, blinzelte mir dieser aus seinem Sessel mit einem Auge zu. »Ich hoffe, Sie mögen Museen, Frazer«, frotzelte er mit sanfter Stimme. Es dämmerte bereits, als ich aus dem Hause trat. Mir gegenüber, inmitten des Platzes, stand die ausgebombte Kirche mit den vier Türmen. Man sagt, Königin Anna hätte einst einen Schemel umgestoßen und ihren Architekten befohlen, eine Kirche in diesem Stil zu bauen. Ich empfand plötzlich Sympathien für diese Architekten. Meine Instruktionen schienen mir keinesfalls sinnvoller zu sein.
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as Flugticket wurde am nächsten Morgen zusammen mit dem geänderten Paß abgegeben. Ich empfand Erleichterung, als ich feststellte, daß ich nicht unter einem angenommenen Namen zu reisen brauchte. Nur meinen Beruf hatte Ross geändert. Im Paß stand jetzt ›Journalist‹ statt ›Ingenieur‹; außerdem lag eine kurze Mitteilung für mich dabei: »Sie haben den Auftrag, Artikel für eine Fachzeitschrift zu schreiben, und zwar über technische Probleme, da Sie ja die Fachsprache beherrschen. Nehmen Sie eine Filmkamera mit und gebrauchen Sie sie auch. Vernichten Sie diesen Zettel.« Keine Unterschrift. Das war auch nicht nötig, denn die Abfassung der Notiz war ganz und gar von der Persönlichkeit von Charles Ross geprägt. Am nächsten Morgen fand ich mich lange vor der Abfahrtszeit des Zubringeromnibusses der Fluggesellschaft an der Abfahrtsstelle ein. Ich stand am Zeitungskiosk herum und behielt die Taxis im Auge, die nach und nach die anderen Fluggäste heranbrachten. Als Barbara Day eintraf, hielt ich kurz den Atem an. Ihr Foto war nicht geschmeichelt. Sie trug keinen Hut. Ihr pechschwarzes Haar war kurz geschnitten und als Ponyfrisur in die Stirn gekämmt, was ihren wohlgeformten Kopf wirkungsvoll betonte. Sie trug einen Pelzmantel lose über die Schultern gelegt und darunter ein dunkles Kleid. Das beste aber waren ihre Beine. Man hätte meinen können, sie seien geradewegs von einem Werbeplakat für Seidenstrümpfe heruntergestiegen. Selbst wenn ich nicht den dienstlichen Auftrag dazu gehabt hätte, so würde ich doch jeden ihrer Schritte mit – nun, sagen wir, mit Interesse verfolgt haben. Dann stand sie neben mir am Zeitungskiosk, umgeben vom zar8
ten Duft eines Parfüms, das ich nicht näher definieren konnte. Ich kam mir vor wie ein Bluthund, dem man einen Handschuh hingeworfen hatte mit dem Befehl, ihre Spur aufzunehmen und ihr zu folgen. Und hätte ich einen Schweif gehabt, würde ich damit gewedelt haben. Sie kaufte sich ein Modemagazin und den letzten Band der Romantetralogie von Durrell. Ihre Stimme war wohllautend ruhig und dunkel. Wenn Arthur Fairlee mit ihr telefonierte, mußte ihn der Klang der Stimme unfehlbar in angenehme Erregung versetzen. Beim Einsteigen in den Zubringerbus ließ ich ihr den Vortritt und fand dann einen leeren Sitz drei Reihen hinter ihr auf der gegenüberliegenden Seite. Als wir gerade abfahren wollten, kam noch ein Nachzügler keuchend angestürzt und kletterte etwas unbeholfen in den Wagen. Seiner Kleidung nach zu urteilen, war er Amerikaner; er trug einen Panamahut, gestreiftes Hemd, einen karierten Anzug und eine farbenfrohe Krawatte. Es lag aber so gar nichts Hemdsärmeliges in der Art, wie er, seine Luftreisetasche schwenkend, sich stolpernd nach einem Sitzplatz umsah und dabei jedermann mit einem scheuen Grinsen bedachte. Schließlich setzte er sich auf den einzigen noch freien Sitz neben Barbara Day. Noch bevor wir die endlose und langweilige Westend Road erreicht hatten, die zum Flughafen führt, schien er in eine schnell angeknüpfte Konversation mit Barbara Day verwickelt, was mich etwas neidisch stimmte. Er war schätzungsweise in meinem Alter, obwohl er offensichtlich bemüht war, sich ein jugendlicheres Aussehen zu geben. Am Flughafen verließ ich den Bus als erster und erreichte auch allen voran die Empfangshalle. Auch auf dem Wege zu unserer Düsenmaschine ließ ich die anderen Passagiere hinter mir. An der Gangway wartete ich jedoch und ließ Barbara Day vor mir einsteigen. Als ich dann zögernd neben ihrem Doppelsitz stehenblieb, sah 9
sie auf. »Oh, Verzeihung! Sind die Sachen Ihnen im Wege?« Mit diesen Worten räumte sie ihre Handtasche, das Magazin und das Buch von dem Platz neben ihr. Nachdem ich ihr gedankt und mich gesetzt hatte, wurde auch schon die Kabinentür zugeschoben. Die ruhige, distanzierte Stimme der Stewardeß ermahnte uns, die Sicherheitsgurte anzulegen und nicht zu rauchen. Als wir die Flughöhe erreicht und die Gurte gelöst hatten, holte ich mein Zigarettenetui hervor und hielt es ihr nach kurzem Zögern hin. Sie nahm sich mit ihrer schmalfingerigen Hand eine Zigarette. Ihre Fingernägel waren dunkelrot lackiert und für meinen Geschmack etwas zu lang. Sonst aber war nichts an ihr auszusetzen. Ich memorierte kurz, was Richards mir von ihr berichtet hatte. Anscheinend war er ihr auf die unbequeme und mühsame Tour auf den Fersen geblieben und hatte sich hinter Zeitungen und Personen versteckt, als er ihr durch Museen und Kunstgalerien folgte. Ganz plötzlich überkam mich ein unangenehmes Gefühl. Schließlich war Richards ein alter Fuchs in seinem Fach. Dennoch hatte er es vorgezogen, von dem gejagten Wild nicht gesehen zu werden. Ob meine eingeschlagene Taktik nicht doch einen Haken hatte? Vielleicht würde sie mich in eine Situation bringen, der ich nicht gewachsen war? Eine Viertelstunde vor der Landung hielt ich den Zeitpunkt für gekommen, ein Gespräch anzuknüpfen, das mir unter Umständen einen Hinweis auf den Zweck ihrer Reise geben konnte. »Wie jemand auf die Idee kommen kann, seinen Urlaub in Holland zu verbringen, ist mir unbegreiflich«, sprach ich sie unvermittelt an. »Mich kann nur eine Dienstreise hierher bringen.« »Genauso könnte auch Arthur, mein Verlobter, sprechen«, erwiderte sie in leicht gereiztem Ton. »Man braucht ihm gegenüber nur das Wort Urlaub zu erwähnen, und er denkt sofort an Südfrank10
reich.« »Nun, zumindest weiß man im voraus, daß dort die Sonne scheint«, konterte ich höflich. »Sicherlich mag auch Holland seine Vorzüge haben, aber mit dem Wetter hapert es hier doch ständig.« »Ach, Unsinn! Ich bin schon oft in Holland gewesen, und das Wetter war immer prächtig.« »Dann haben Sie aber großes Glück gehabt, möchte ich behaupten.« Ich forcierte das Thema jetzt, soweit dies möglich war, ohne ihren Argwohn zu wecken. »Was gibt es denn hier noch Interessantes zu sehen, wenn nicht gerade die Tulpen blühen?« »Windmühlen.« Sie sah mich einen Moment lang spöttisch an. »Also – um Ihre Neugierde zu befriedigen: Es gibt viele ausgezeichnete Museen und Kunstgalerien. Amsterdam ist nämlich die Stadt der Museen.« Sie fingerte an ihrem Verlobungsring, als wolle sie damit unterstreichen, daß es nicht eine männliche Anziehungskraft war, die sie nach Holland lockte, und wechselte das Thema: »Dann sind Sie also auf einer Geschäftsreise?« Ich nickte. »Ich bin Journalist und schreibe über technische Dinge, meistens über Ingenieurprojekte. Deshalb fliege ich auch nach Amsterdam. Die Holländer haben ein neues Verfahren bei der Herstellung von Außenwänden aus Stahl entwickelt, an dem meine Fachzeitschrift interessiert ist.« »Ich fürchte, das liegt ziemlich außerhalb meines Interessengebietes«, antwortete sie lächelnd. »Hoppla… Mir scheint, wir setzen zur Landung an.« Fast im selben Augenblick ertönte die Stimme des Flugkapitäns über den Lautsprecher. Er kündigte an, daß wir in wenigen Minuten über dem Flughafen Schiphol sein würden, und ermahnte uns, die Sicherheitsgurte anzulegen. Barbara sah mich tadelnd an. »Na bitte, da sehen Sie selbst.« Sie holte einen Taschenspiegel aus der Handtasche hervor und begann unnötigerweise, Korrekturen an ihrem Make-up vorzunehmen. Noch 11
während sie den Lippenstift gebrauchte, bedankte sie sich bei mir: »Nett von Ihnen, daß Sie mir auf so angenehme Weise die Zeit vertrieben haben. Vielleicht trifft man sich zufällig mal in Amsterdam.« Mit einem, wie ich hoffe, nicht mokanten Lächeln antwortete ich: »Ich werde nach Ihnen Ausschau halten.« Die Maschine verlor an Höhe und schwebte auf die flache holländische Küste zu. Zu unserer Linken hoben sich die Silhouetten der Türme von Amsterdam vor dem blauen Himmel eines wunderbaren Spätnachmittags im Frühling ab. Wie weiße Bänder durchzogen die in der Sonne glitzernden Kanäle kreuz und quer das Stadtbild. Im Sonnenschein schien der Anspruch Amsterdams, als Venedig des Nordens zu gelten, nicht ganz so ausschließlich ein Werbespruch der Reisebüros zu sein. Ich ließ Barbara Day den Vortritt bei der Paßkontrolle und beim Zoll. Statt aber ihren feschen, blau-gelb gestreiften Luftkoffer dem Gepäckkarren des Flughafenomnibusses zu überlassen, nahm sie diesen mit sportlichem Griff und ging damit flotten Schrittes zum Hauptausgang. Schnell schnappte ich meinen eigenen Koffer, der schon auf dem Gepäckkarren lag, und eilte hinter ihr her. Ich kam gerade noch zurecht, um ein nylonbekleidetes formschönes Bein in einem Taxi verschwinden zu sehen. Ich winkte dem nächsten Taxi aus der wartenden Reihe, verlor es aber an den Amerikaner. Seinem wilden Gestikulieren mit der Reisetasche entnahm ich, daß er den Fahrer anwies, Barbaras Taxi zu folgen. Einen Augenblick später bot ich selbst die gleiche Szene. Glücklicherweise verstand mein Fahrer genug Englisch, um schnell zu begreifen, was ich von ihm wollte. Einen Zigarettenstummel im Mundwinkel, antwortete er auf meine Gesten und Worte nur: »Gewiß, Sir.« Wir folgten den beiden anderen Taxis durch eine der belebtesten Straßen Amsterdams entlang einer Gracht. Als wir uns der ein12
drucksvollsten der vielen Brücken über die zahllosen Grachten näherten, verlangsamten die beiden Wagen, denen ich folgte, ihr Tempo und fuhren an den Bürgersteig heran. Ich bedeutete meinem Fahrer weiterzufahren. Er antwortete nur »Okay, Sir«, während ich mich im Fond des Wagens zurücklehnte, um nicht von der Dame und dem Herrn erkannt zu werden, die jetzt auf dem Bürgersteig standen und erstaunte Begrüßungsworte wechselten. An der nächsten Ecke ließ ich halten. Beim Bezahlen hielt ich es für angebracht, einen harmlosen Kommentar zu unserer Verfolgungsjagd zu geben. Es bestand ja schließlich die Möglichkeit, daß er den Vorfall der Polizei meldete, und dann würde ich wohl bald von einem Kriminalbeamten beschattet werden. Deshalb murmelte ich etwas von einem hübschen Mädel, das ich im Flugzeug gesehen hatte und dessen Wohnung ich gern in Erfahrung gebracht hätte. Ich hätte mir die Mühe sparen können. Er reagierte nur mit einem uninteressierten Schulterzucken und der Bemerkung: »Warum nicht?« Später entdeckte ich einen österreichischen Schilling unter dem Wechselgeld, das er mir herausgegeben hatte. Ich ging die Straße entlang, die in rechtem Winkel auf die Gracht zulief, bis ich zu einem kleinen Hotel kam, das bestimmt keinen Stern in Michelins Hotelführer hatte. Aber der mit roten Ziegeln ausgelegte Empfangsraum war peinlich sauber, und im metallenen Oberteil des massigen Ofens konnte man sich spiegeln. Man gab mir ein bescheiden eingerichtetes, aber makellos sauberes Zimmer mit Blick auf die Straße. Gleich daneben lag ein Badezimmer. Nachdem ich ausgepackt und mich geduscht hatte, zog ich mich rasch wieder an und ging aus, um mir erst einmal einen Stadtplan zu kaufen. In einem anspruchslosen Lokal studierte ich ihn genau. Ohne besondere Mühe fand ich den Keizersgracht-Platz und prägte mir den Weg dorthin von meinem augenblicklichen Standort aus ein. Dann machte ich mich auf, um mir das Restaurant de Kroon anzusehen. 13
Es war ein typisch kontinentales Restaurant, mit Tischen draußen auf dem Bürgersteig, die dem holländischen Klima tapfer Trotz boten. Es ist eine alte Erfahrung: Will man herausfinden, ob ein Lokal empfehlenswert ist, dann soll man sich die Gäste ansehen, bevor man eintritt. Sehen sie wie Einheimische aus und befinden sich keine Touristen mit umgehängter Kamera darunter, dann kann man ziemlich sicher sein, daß das Essen gut und preiswert ist. De Kroon bestand diese Probe. Ich ging jedoch nicht hinein und lief noch ein paar Stunden durch die Stadt, um mir einige Lokalkenntnisse anzueignen. Nach und nach zog eine Dunstschicht vom Meer herauf, die bei mir ein klammes Kältegefühl am ganzen Körper verursachte. Ich empfand daher das dringende Bedürfnis, etwas zu essen und zu trinken. Am Keizersgracht-Platz gab es verschiedene Bars und Restaurants, die jetzt im Schein grellbunten Neonlichtes Gäste anlockten. Ich war viel zu sehr darauf aus, endlich ein warmes Plätzchen zu finden, und so ging ich durch die Drehtür ins nächstbeste Lokal. Das bißchen Atmosphäre, das es hatte, war auf Tourismus zugeschnitten. Die Kellnerinnen trugen Landestracht mit hellen Schultertüchern; hinter einem Holzkohlenrost stand der Koch und grinste mit vorgetäuschter Bonhomie. Der Büfettier hinter dem langgestreckten Schanktisch hätte in jeder x-beliebigen Touristenbar zwischen Rom und Paris auf den Namen ›Harry‹ gehört. Ich kippte erst einmal ein paar Glas Genever hinunter, die bewirkten, daß meine Lebensgeister wieder erwachten, nachdem ich mich an einem der kleinen Tische niedergelassen hatte. Ich bestellte die Spezialität des Hauses – ›Runderlappen‹, die sich als gedünstetes Steak herausstellte und von bester Qualität war. Als ich dann schließlich einen Kognak vor mir stehen und die Nachtischzigarette angezündet hatte, war ich wieder imstande, meine Gedanken etwas zu ordnen und ein Fazit des ersten Tages meines neuen Einsatzes zu ziehen. Soweit ich die Dinge bis jetzt beurteilen 14
konnte, war ich geneigt, Richards beizupflichten. Während des Fluges hatte Barbara sich sehr freimütig über sich selbst geäußert. Sie hatte ihr Interesse an Antiquitäten erwähnt und mit der Natürlichkeit eines Mädchens, das nichts zu verbergen hat, von ihrem Verlobten erzählt. Ich dachte an Arthur Fairlee. Ein Börsenmakler schien mir auch nicht gerade der richtige Verlobte für eine junge Dame zu sein, die mit Leuten verkehrt, an denen die Dienststelle Ross interessiert war. Noch einmal vergegenwärtigte ich mir die Unterhaltung im Flugzeug. Als ich Barbara Day über ihre häufigen Besuche in Amsterdam befragte, war sie mir nicht im geringsten ausgewichen. Oder doch? Ich zerdrückte in plötzlicher Erregung mit völlig unangebrachtem Kraftaufwand meinen Zigarettenstummel im Aschenbecher, als mir einfiel, wie geschickt sie doch einer Antwort ausgewichen war, als ich sie fast bis zur Unhöflichkeit mit meinen Fragen bombardiert hatte. Nachdenklich zündete ich mir eine neue Zigarette an und folgte dem Rauch mit ziellosem Blick. Ja, es war schon so. Sehr geschickt hatte sie es verstanden, der Unterhaltung eine neue Wendung zu geben, indem sie mich nach den Gründen für meinen Aufenthalt in Amsterdam fragte, gewissermaßen als Retourkutsche für meine plumpe Neugier. Die Stimme eines Mannes, der eine neue Runde Getränke bestellte, erinnerte mich plötzlich an den Amerikaner. Wie paßte er wohl in dieses Bild? Vielleicht war er gar nicht der harmlose Tourist, den er spielte. Das aber würde bedeuten, daß wir Barbara zu zweit nachstellten. Natürlich brauchte auch nicht mehr dahinterzustecken als der übliche Grund, der einen Mann veranlaßt, hinter einem attraktiven Mädchen her zu sein. Bei keiner der beiden halb ausgegorenen Schlußfolgerungen konnte ich zu einer klaren Lösung kommen, am wenigsten bei der zweiten. Daher zahlte ich und kehrte in mein Hotel zurück. 15
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ier Tage später saß ich am Fenster eines Cafés gegenüber einem Museum. Inzwischen hatte ich mir eine Methode ausgeklügelt, um Barbara zu beobachten. Nachdem ich ihr unauffällig in gebührender Entfernung durch fünf Museen gefolgt war, kam ich zu der Ansicht, daß es mein Gewissen nicht belasten würde, wenn ich ihr nur bis zum Eingang folgte und dann in einem nahe gelegenen Café etwas trank, bis sie wieder aus dem Gebäude herauskam. Vielleicht hätte Richards das nicht gebilligt; aber schließlich hatte seine gewissenhaftere Methode auch keine besseren Ergebnisse gezeitigt. Abgesehen davon, war mir inzwischen klargeworden, daß Miß Day zu beschatten gleichbedeutend mit Langeweile war. Ich hatte eine Liste der Plätze aufgestellt, die sie inzwischen außer den historischen Sehenswürdigkeiten aufgesucht hatte. Es waren Läden, Kinos und Restaurants – und zwar nicht wenige. Dem Restaurant de Kroon war sie jedoch nur einen halben Kilometer nahe gekommen. Als Barbara das Museum verließ, trank ich mein restliches Bier mit der Entschlossenheit eines Mannes, der zum Handeln bereit ist. An diesem Nachmittag würde ich sie ansprechen und die sich daraus vielleicht ergebenden Konsequenzen in Kauf nehmen. Um zwei Uhr nachmittags stand ich vor ihrem Hotel, hielt mich aber unter der Masse der Spaziergänger und Schaufensterbummler, um nicht durch allzu großes Interesse für den Hoteleingang aufzufallen. Hin und wieder tat ich so, als fotografierte ich die Touristenboote, die auf der Grachtenrundfahrt vorbeikamen. Erst kurz vor drei Uhr kam Barbara flotten Schrittes aus dem Hotel, überquerte die Straße, stieg die Treppe zum Anlegesteg hinunter und bestieg ein Rundfahrtboot. 16
Sobald das Boot abgelegt hatte, ging ich zum Fahrplan und sah nach, wann es wieder zurück sein würde. Um vier Uhr. Damit hatte ich noch eine Stunde Zeit zum Trödeln. Also setzte ich mich wieder in ein nahegelegenes Café und trank noch ein paar Glas Bier. Punkt vier Uhr plazierte ich mich an der obersten Stufe des Landestegs und zückte die Filmkamera, als ihr Boot auftauchte. Diesmal ließ ich den Film wirklich ablaufen. Schade, daß es kein Farbfilm war, denn das einfache rote Kleid bildete einen vollendeten Kontrast zu ihrem entzückenden schwarzen Haarschopf. Als sie die Stufen heraufkam, ließ ich die Kamera sinken. Sie bemerkte mich erst, als ich ihr einen guten Tag wünschte. Ihre Lippen öffneten sich, und dann verwandelte die Überraschung auf ihrem Gesicht sich in ein warmes Lächeln. »Hallo! Guten Tag – das ist ja eine Überraschung!« rief sie und grüßte winkend mit einer schwarz behandschuhten Hand. »Immer noch allein, wie ich sehe.« »Ich genieße jeden Augenblick, solange ich mein eigener Herr bin.« »Was tun Sie denn in dieser Gegend?« fragte ich, so harmlos es ging. »Sie werden doch nicht schon alle Kunstgalerien durch sein?« Sie schüttelte den Kopf. »Keineswegs. Aber an einem so schönen Nachmittag wollte ich mich doch einmal von Museen und Galerien erholen.« Sie stellte sich neben mich und sah auf die spiegelnde Wasserfläche. »Ist das nicht wirklich reizend?« fragte sie mit einem Seufzer tiefer Zufriedenheit. In diesem Augenblick konnte ich mir nichts Vollkommeneres vorstellen. »Ich muß Ihnen in bezug auf Holland recht geben. Es hat schon seine Reize.« Sie warf mir einen dankbaren Blick zu. Es kostete mich einige Mühe, auf das Thema zu kommen, das den Zweck dieses scheinbar zufälligen Zusammentreffens bildete. »Darf ich mir die Frage erlau17
ben, ob Sie heute abend etwas Besonderes vorhaben?« Sie zuckte mit den Schultern. »Eigentlich nichts, was der Rede wert wäre. Irgendwo essen, wie gewöhnlich. Es gibt eine Reihe netter Restaurants in Amsterdam.« »O ja, das habe ich auch schon festgestellt«, antwortete ich mit Begeisterung. »Erst gestern habe ich wieder ein sehr gemütliches Lokal entdeckt. De Kroon.« Mit einem schnellen Seitenblick fragte ich: »Kennen Sie es?« Sie dachte angestrengt nach. »De Kroon?« Ich nickte, ohne ihr Gesicht aus den Augen zu lassen. »Nein, das kenne ich nicht, habe auch noch nie davon gehört. Wo ist es denn?« Das klang vollkommen glaubwürdig. Dennoch entschied ich mich dafür, weiterhin den Begeisterten zu spielen, um sie so vielleicht doch noch zu einer verräterischen Äußerung zu verleiten. »Man geht am Dolderplatz rechts zur Keizersgracht… Entschuldigung, umgekehrt natürlich. Ich wollte sagen, man geht in die Keizersgracht und biegt dann am Dolderplatz rechts ab, geht durch die Middlestraße und wieder links… Nein, auch nicht.« Ich schluckte ein paarmal und begann dann von neuem. »Also, jetzt habe ich es… Sie gehen in der Middlestraße links ab, und wenn Sie dann zur Keizersgracht kommen, dann…« »Um Himmels willen, hören Sie auf«, flehte sie lachend und legte eine Hand auf meinen Arm. »Offensichtlich haben Sie nicht den Schimmer einer Ahnung, wo es ist.« Ich grinste bewußt einfältig. »Wir könnten ja mit einem Taxi hinfahren«, sagte ich und schnippte mit den Fingern. »Das ist doch überhaupt eine Idee! Darf ich Sie dort zu einem Drink einladen?« Einen Augenblick lang schaute sie sinnend einem Schwan nach, der mit majestätischer Gelassenheit auf der Gracht vorbeisegelte. Dann antwortete sie unentschlossen: »Es ist furchtbar nett von Ihnen – aber ich muß zurück zum Hotel und mich zum Abendessen 18
umziehen. Ich muß –« Ich unterbrach sie. »Aber das macht doch nichts. Für einen Drink bleibt immer noch genug Zeit. Wie wäre es – wollen wir uns nicht in einer Stunde hier wieder treffen?« Barbara Day zögerte noch. Mit einem raschen Blick auf die Armbanduhr stimmte sie dann aber lächelnd zu: »Also gut. Ihr Vorschlag ist dankend angenommen. Wir treffen uns an dieser Stelle um halb sechs. Ist es Ihnen so recht?« »Wunderbar!« rief ich, wobei meine Begeisterung keinesfalls vorgetäuscht war. »Also abgemacht. Um halb sechs Uhr. Auf Wiedersehen bis nachher!« Ich drohte ihr lächelnd mit dem Finger. »Hoffentlich fällt Ihnen nicht inzwischen plötzlich ein, doch noch ein Museum aufzusuchen.« »Bestimmt nicht.« Lächelnd schickte sie sich zum Gehen an. »Ich werde pünktlich sein.« Ich sah ihr nach, wie sie die Straße auf dem Wege zum Hotel überquerte, wobei mir eigentümlich warm ums Herz wurde. Nunmehr war ich sicher, daß ihr der Name de Kroon nicht mehr bedeutete, als wenn ich ihr den Namen irgendeines Restaurants in Timbuktu genannt hätte. Mit seinen Ansichten über Barbara Day war Charles Ross auf dem Holzwege. Und das war mir sehr recht. Als wir anderthalb Stunden später bei de Kroon anlangten, war es trotz der späten Nachmittagsstunde noch sehr warm. Die Tische waren voll besetzt, aber ein diskret dem Kellner in die Hand gedrücktes Trinkgeld überzeugte diesen davon, daß draußen noch Platz für einen weiteren kleinen Tisch war. Ich bestellte für meine Begleiterin einen Cinzano und für mich einen Martini Dry und ging dann auf den Bürgersteig, um mit meiner Kamera Aufnahmen von der farbigen Szenerie zu machen. Gerade als ich die Kamera auf Barbara Day richtete, wurde ich 19
gewahr, daß sie mit jemandem sprach. Eine Sekunde später kam die Gestalt eines Mannes in den Sucher. »Hallo, wie geht's?« erklang eine bekannte Stimme. Sie gehörte dem Amerikaner, dessen pausbäckiges Gesicht das gewohnte entwaffnende Lächeln ausstrahlte. Ich ließ die Kamera sinken, und es gelang mir sogar, ein spöttisches Lächeln zu unterdrücken, als er mit einem detaillierten Bericht über seinen Tagesablauf begann. Langsam ging ich zum Tisch zurück, wo er Barbara mit einem so deutlichen Gefühl schwärmerischer Verehrung anstrahlte, daß man ihm einfach nicht böse sein konnte. »Du meine Güte – was bin ich heute auf den Beinen gewesen!« rief er aus. »Um die Mitbringsel für die Lieben daheim zu kaufen, habe ich mir fast die Füße wund gelaufen.« »Ach so, natürlich. Sie fahren ja morgen wieder nach Hause«, antwortete Barbara. Als mein Schatten auf den Tisch fiel, wandte sie sich um und stellte uns einander vor. Er streckte mir eine gedrungene Hand entgegen. »Freut mich, Sie kennenzulernen!« rief er, und es klang, als ob es wirklich so gemeint war. Ich tat mein Bestes, um ihm ebenso freundlich entgegenzutreten, aber es kostete mich einige Mühe. »Mr. Cordwell wohnt im selben Hotel wie ich«, sagte Barbara zu mir. Er nickte eifrig. »Und außerhalb des Hotels stoßen wir immer wieder aufeinander – einmal auf einem Schiff, ein andermal in einem Omnibus oder in einem Lift…« »Und im Museum nicht?« unterbrach ich ihn ein wenig maliziös. »Aber nein, Sir!« Cordwell winkte verächtlich ab. »Keine Museen; das ist nichts für mich.« Er griff nach der Lehne eines Stuhls. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich meine gepeinigten Füße einen Augenblick von meinem Körpergewicht entlaste?« Ich fügte mich ins Unabänderliche. »Keineswegs.« 20
»Natürlich möchte ich mich nicht aufdrängen…« Ich verschluckte eine drastische Antwort, die ich ihm am liebsten gegeben hätte, und antwortete nur: »Aber nein, schon in Ordnung. Nehmen Sie doch Platz.« Er stellte seine Tasche mit Reißverschluß mitten auf den Tisch, legte die Kamera auf den Boden und machte es sich auf einem freien Stuhl bequem. »Gottlob, jetzt ist mir wohler. Europa ist schon eine Reise wert, Mr. Frazer. Einfach großartig! Ich bin dem alten Kontinent richtiggehend verfallen. Nur meine Füße! Was werden die froh sein, wenn wir wieder zu Hause sind.« Ich lachte pflichtschuldig, verstaute meine Kamera in ihrer Tasche und stellte sie resigniert unter den Tisch. Nur um etwas zu sagen, fragte ich: »Sind Sie zum erstenmal in Holland, Mr. Cordwell?« »O nein. Ich war schon vor fünf oder sechs Wochen hier und habe auch nicht geglaubt, daß ich noch einmal zurückkommen würde.« Er strich mit der Hand über sein kurz geschorenes Haar. »Leider hatte ich ein weniger angenehmes Erlebnis.« Ich zeigte höfliches Interesse. »Nanu, was war denn los?« »Am Abend vor meiner Abreise brach jemand in mein Hotelzimmer ein und erleichterte mich um mein Gepäck.« Er grinste zerknirscht. »Man hat mir damals alles gestohlen; buchstäblich alles!« Barbara warf ihm einen mitfühlenden Blick zu. »Oh, wie schrecklich für Sie.« »Und ob das schrecklich war.« Cordwell strahlte sie dankbar an. »Können Sie sich das vorstellen! Mir blieb nur das, was ich gerade anhatte.« Ich spürte, daß er sich an der Geschichte zu erwärmen begann und sie uns in allen Einzelheiten schildern würde. Deshalb gab ich ihm großzügig das Stichwort: »Und was haben Sie dann getan? Das nächste Flugzeug nach Hause genommen?« Er warf mir einen dankbaren Blick zu. »Aber nein, etwas gab es, 21
was mir der Dieb nicht stehlen konnte – meine Ferien. Ich kaufte mir neue Sachen und machte weiter.« »Aber Sie haben den Diebstahl doch der Polizei gemeldet?« fragte Barbara. »Sofort natürlich.« Cordwell beugte sich aufgeregt vor. »Und jetzt kommt der Clou vom Ganzen. Vor einer Woche schnappte die Polizei den Burschen, der mich bestohlen hatte, schickte mir ein Telegramm und forderte mich auf, zurückzukommen und meine Sachen offiziell in Empfang zu nehmen. Ich war in London und wollte gerade wieder nach Hause fliegen. Natürlich bin ich postwendend umgekehrt.« »Haben Sie nun auch wirklich alles wieder?« fragte ich. »Alles, bis auf einen Feldstecher.« »Sie sind ein Glückspilz, Mr. Cordwell.« Er zuckte mit den Schultern. »Wie man es nimmt. Man könnte sagen, ich hätte Glück im Unglück gehabt.« Er schnippte mit den Fingern, um den vorbeikommenden Kellner auf sich aufmerksam zu machen. »Für meine beiden Freunde hier nochmals dasselbe. Und für mich einen Whisky auf Eis.« Vielleicht hatte ich mich in meiner Annahme doch getäuscht, daß de Kroon ein von ausländischen Touristen noch nicht entdecktes Lokal sei. Jedenfalls lächelte der Kellner bei der in englischer Sprache gegebenen Bestellung ungerührt und wiederholte in bestem Englisch: »Einen Cinzano, einen Martini Dry und einen Scotch on the rocks«, und verschwand in Richtung Schanktisch. »Wetten, daß der Junge genau weiß, wie viele Gulden einen Dollar ausmachen?« fragte Cordwell stolz, nachdem der Kellner verschwunden war. Er zerrte am Reißverschluß seiner Reisetasche. »Den ganzen Vormittag über war ich mit Einkäufen beschäftigt. Ich habe ein paar wirklich reizende Sachen erwischt. Sehen Sie doch mal das hier an.« Nach einigem Herumwühlen holte er ein winziges Fahrrad hervor, auf dem eine Kleiderpuppe saß, ein Holländer in Landes22
tracht. »Nun, was sagen Sie dazu, Barbara?« Barbaras Lippen zitterten leicht amüsiert. »Wirklich süß.« »Warten Sie erst einmal ab, bis ich Ihnen die Krone meiner heutigen Einkäufe gezeigt habe. Ein richtiger Gelegenheitskauf aus einem Geschäft ganz in der Nähe.« Wieder wühlte er in der Tasche. Mit einem erschöpften Seufzer holte er einen Katalog für Tulpenzwiebel hervor und warf ihn auf den Tisch. Mit einem flüchtigen Blick auf den grellfarbigen Umschlag fragte ich ihn: »Nanu, wollen Sie sich zu Hause einen holländischen Blumengarten anlegen, Cordwell?« »Ach, das ist nur für meinen Bruder.« Dann brachte er mit triumphierendem Blick ein eigenartig geformtes Metronom zum Vorschein und stellte es auf den Tisch. »Ist das nicht toll? Wissen Sie, wie man das nennt? Ein Metropol. Die Musiker brauchen es, um damit den Takt einzuüben. Man braucht es nur aufzuziehen – so, mit ein paar Drehungen.« Er machte sich einen Spaß daraus, es aufzuziehen. »Das habe ich für meine Nichte gekauft, für Shirley. Sie spielt ausgezeichnet Klavier, zumindest behauptet ihre Mutter das. Ich kann es nicht beurteilen. Wissen Sie, ich bin nicht musikalisch.« Er setzte das Metronom durch Antippen des Pendels in Gang, um dann mit seinem gedrungenen Finger den Takt zu schlagen. Dann hielt er inne und grinste selbstgefällig: »Immerhin, es sieht reizend aus.« »Es ist wunderschön«, bestätigte Barbara Day atemlos. »Das kann man wohl sagen. Ich habe solche Dinger schon drüben in den Staaten gesehen, aber kein so schönes wie dies hier.« Als auch ich bestätigte, daß ich nie zuvor eine so gute handwerkliche Arbeit gesehen hätte, war dies keine bloße Höflichkeitsfloskel. Cordwell überschlug sich fast vor eitler Freude. »Ja, vom Einkaufen verstehe ich etwas. Ich glaube, es gibt auf der ganzen Welt kein schöneres Metropol.« »Metronom«, korrigierte Barbara ihn sanft, wobei ihre Augen mir 23
zulächelten. Cordwell bot mir aus einem vollgestopften Etui eine dicke Zigarre an. Als ich dankend ablehnte, steckte er eine in eine ungewöhnlich lange Zigarrenspitze, schob diese zwischen seine Zähne und sah glücklich und zufrieden aus wie ein Kind mit seiner Puppe. Dann erschien der Kellner mit den Getränken, und wir gerieten in eine klischeehafte Konversation, wie sie typisch ist für eine Gesellschaft, die aus einer Frau und zwei Männern besteht.
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E
inige Tage später landete ich wieder auf dem Flughafen London. Ich hatte Ross zwar die Ankunftszeit meines Flugzeuges gekabelt – mit der Vorzugsbehandlung aber, die mir zuteil wurde, hatte ich nicht gerechnet. Als die Gruppe der ankommenden Passagiere die große Abfertigungshalle betrat, stand eine Hosteß vom Bodenpersonal da, die uns aufmerksam musterte. »Mr. Frazer bitte! Wer ist Mr. Tim Frazer?« Ich ging zu ihr hinüber, während meine Mitpassagiere mir teils neidisch, teils unverhohlen neugierig nachstarrten. »Draußen wartet ein Wagen auf Sie, Mr. Frazer. Ich habe den Auftrag, Sie so schnell wie möglich durch die Paß- und Zollkontrolle zu schleusen.« Das war schon beinahe ein ›großer Bahnhof‹, fehlte nur noch der rote Plüschläufer. Im Nu hatte ein Zollbeamter meinen Koffer und 24
meine Kamera mit dem bewußten Kreidestrich versehen. Ich grinste ihm unverhohlen ins Gesicht, eingedenk des Kreuzverhörs, das ich hatte über mich ergehen lassen müssen, als ich unter eigener Flagge den Zoll passieren mußte. Sogar ein Gepäckträger stand für mich bereit. Draußen parkte ein schwarz glänzender Humber Snipe an der Bordsteinkante. Ich konnte gerade noch flüchtig Ross im Fond sitzend erkennen, der mir nachdenklich unter dem Rand seines Homburg entgegensah. Dann nahm auch schon ein Chauffeur dem Gepäckträger meinen Koffer und meine Kamera ab. Er öffnete die Wagentür, stellte mein Gepäck auf den Boden, und dann saß ich neben Ross, der ohne alle Begrüßungsformalitäten sofort zur Sache kam. »Ich brauche sofort Bericht über Barbara Day, damit ich unseren Apparat ohne den geringsten Zeitverlust in Bewegung setzen kann. Die Sache ist dringend, Frazer.« Wir hatten schon eine beträchtliche Strecke der Fahrt in die Stadt zurückgelegt, bevor er widerwillig meine Ansichten über Barbara Day akzeptierte. Er zog sich den Homburg tiefer in die Stirn. »Es kommt also darauf hinaus, daß Sie mit Richards übereinstimmen. Sie glauben also auch, das Mädchen sei harmlos?« Seine Stimme klang derart enttäuscht, daß ich fast wünschte, ich hätte ihm mehr als nur Belanglosigkeiten zu berichten. »Tja, leider Sir. Ich fürchte, ich kann Ihnen mit nichts anderem dienen.« Er knurrte vor sich hin. »Ich nehme an, Sie haben sie die meiste Zeit unter Beobachtung gehalten?« Ich nickte. »Selbstverständlich. Zwar habe ich nicht im selben Hotel gewohnt; aber davon abgesehen, habe ich sie kaum aus den Augen gelassen. Sie hat auf jeden Fall fast alle Mahlzeiten außerhalb des Hotels eingenommen.« »Hm…« Nach kurzer Überlegung fragte Ross: »Und was ist mit dem Café, das ich erwähnt hatte? De Kroon. Ist sie auch dorthin ge25
gangen?« »Nur auf meine Einladung hin. Ihr Aufenthalt in Amsterdam näherte sich dem Ende. Soweit ich das beurteilen kann, wäre sie aus eigenem Antrieb nicht in dieses Lokal gegangen. Deshalb hielt ich es für eine gute Idee, sie dorthin auszuführen…« Ross schob den Homburg aus der Stirn und sah mich lange und durchdringend an. »Warum?« fragte er dann. Ich hatte allmählich das Gefühl, er sei auf dem besten Wege, mein Interesse für Barbara Day auf nicht rein berufliche Gründe zurückzuführen. »Ich wollte dabei feststellen, ob man sie dort kennt. Ein Kellner vielleicht…« »Und hat sie jemand erkannt?« »Nein.« Plötzlich fiel mir der Amerikaner Cordwell ein, und ich war selbst erstaunt, daß ich unser Zusammentreffen bei de Kroon bis dahin so völlig vergessen hatte. »Das stimmt nicht ganz«, ergänzte ich leicht geknickt. Mit verzweifelter Miene fuhr Ross sich mit der Hand über das Gesicht. »Lassen Sie sich doch nicht jedes Wort einzeln aus den Zähnen ziehen.« Ich schilderte ihm nun schleunigst die Begegnung zwischen Cordwell und Barbara. »Glauben Sie wirklich, er ist ihr ins Hotel gefolgt?« »Es sah ganz danach aus. Mir scheint, er glaubte bei dem Mädchen Eindruck erweckt zu haben.« Ich mußte bei dieser Feststellung unwillkürlich lachen, während Ross jedoch die Stirn runzelte. »Wie dem auch sei – er drängte sich uns im de Kroon auf und war nicht mehr abzuwimmeln. Der Mann konnte stundenlang reden.« »Worüber?« fragte Ross scharf. »Zumeist über sich selbst. Er bestand darauf, uns seine Souvenirs zu zeigen. Zwischendurch beklagte er sich immer wieder über seine schmerzenden Füße. Ich bin sicher, daß Barbara Day genauso gelangweilt war wie ich.« 26
»Bestimmt?« fragte Ross mit einem Anflug von Sarkasmus. »Etwas jedoch hat mich doch stutzig gemacht«, berichtete ich weiter, wobei ich mir eingestand, daß ›stutzig‹ wohl nicht ganz die richtige Bezeichnung für das Gefühl war, das mich damals befiel. »Bei einer Gelegenheit redete dieser Bursche Miß Day mit ihrem Vornamen an. Zwar wohnten beide im selben Hotel und liefen sich auch sonst gelegentlich über den Weg – im Omnibus, bei Bootsfahrten und so weiter. Als er ihren Vornamen nannte, geschah das aber mehr in einem Tonfall, der für einen Augenblick das Gefühl in mir weckte, beide wären mehr als nur zufällig bekannt.« Ross rieb sich nachdenklich das Kinn. »Wie sah der Mann aus?« »Wie ein typischer amerikanischer Tourist; so, als sei er gerade einem Platzregen entronnen. Er muß etwa 35 bis 40 Jahre alt sein und hat auch etwa meine Größe. Übrigens ist er auf einem Film zu sehen, den ich im de Kroon gemacht habe.« »Ist der Film schon entwickelt?« fragte Ross schnell. »Noch nicht. Er ist hier drin.« Ich hob die Kamera auf. Ross streckte die Hand aus. »Geben Sie mir die Kamera. Ich werde sie gleich nach meiner Rückkehr ins Labor geben.« Er richtete wieder seinen Homburg. »Und dann kommen Sie heute nachmittag zum Smith Square. Um drei Uhr, bitte. Wir wollen uns mal den Film ansehen.« Er neigte sich zum Fahrer vor und sagte: »Lassen Sie mich an der Orchard Street aussteigen.« Ross machte es sich wieder in seiner Ecke bequem und starrte bis zur Ecke Orchard Street gedankenversunken zum Wagenfenster hinaus, wobei er mit den Fingern ungeduldig auf der Kamera in seinem Schoß trommelte. Ich hatte das dringende Verlangen nach einer Zigarette; aber das hätte bedeutet, daß ich mein Etui auch Ross reichen mußte. Er schien meine Anwesenheit völlig vergessen zu haben. Das war mir an sich ganz recht, denn ich fühlte mich wegen der Ausführung dieses Auftrages doch nicht ganz wohl in meiner Haut und wünschte nicht, daß eine kurz angebundene Ablehnung 27
einer angebotenen Zigarette mich an eventuelle Versäumnisse und Fehler erinnerte. Wir setzten Ross an der Orchard Street ab. Er erinnerte mich lakonisch daran, daß wir uns pünktlich um drei Uhr treffen würden; dann fuhr mich der Chauffeur zu meiner Wohnung.
5
I
ch hatte heute nicht gerade einen Glückstag. Als ich am Nachmittag zu Ross wollte, geriet mein Taxi in Whitehall in eine Verkehrsstauung und mußte weite und zeitraubende Umwege machen, um ans Ziel zu gelangen. So war es denn schon zehn Minuten nach drei Uhr, als ich in das Bibliothekszimmer am Smith Square geleitet wurde. Die Fenstervorhänge waren bereits zugezogen, und Ross marschierte, die Hände in den Jackentaschen, ungeduldig hin und her. Von einem Bücherregal hing eine Filmleinwand herunter. Am anderen Ende des Raumes war Richards mit einem Filmprojektor beschäftigt. Ross tat meine Entschuldigung mit einer ungeduldigen Handbewegung ab. »Nehmen Sie sich einen Stuhl«, bedeutete er mir ziemlich brüsk, legte selbst ein Bein auf die Kante seines Schreibtisches und nickte Richards zu: »Es kann losgehen.« Richards langte nach dem Lichtschalter, schaltete die Lampe aus und ließ dann den Projektor anlaufen. Während noch die ersten unbelichteten Meter des Films auf der Leinwand flimmerten, begann ich mit meinen Erklärungen: »Sie werden Barbara Day gleich in der zweiten Szene sehen – sie besteigt 28
ein Boot zur Grachtenrundfahrt. Die nachfolgenden Aufnahmen zeigen sie dann beim Betreten eines Museums…« Im nächsten Augenblick starrte ich sprachlos und offenen Mundes auf die ersten Bilder des Films. Sie zeigten einen wenig belebten, von Bäumen umgebenen Platz, der mir so unbekannt war wie irgendein Platz in Budapest. »Halt! Moment mal!« rief ich Richards zu, als ich mich wieder gefaßt hatte. »Das ist nicht mein Film!« Die Stimme von Ross übertönte das Surren des Projektors. »Das ist der Film aus Ihrer Kamera! Das ist auch Amsterdam. Ich kenne diesen Platz sehr gut.« »Aber ich nicht«, antwortete ich kurz angebunden. »Diese Kirche habe ich noch nie gesehen.« Ross' Stimme klang verärgert. »Schluß, Richards. Schalten Sie lieber das Licht ein.« Als der Projektor abgestellt und der Kronleuchter wieder eingeschaltet war, kam Ross zu mir herüber. »Also was soll das, Frazer? Dies hier ist Ihr Film. Ich habe ihn unmittelbar nach meinem Eintreffen ins Labor zum Entwickeln gebracht und habe dabeigestanden, bis er fertig war.« »Es tut mir leid, Sir«, antwortete ich, wobei ich mir alle Mühe geben mußte, einen Zornesausbruch gegenüber diesen feindseligen Blicken von Ross zu unterdrücken, »aber das ist wirklich nicht mein Film.« »Widersprechen Sie nicht, Frazer.« Er setzte ein böses Lächeln auf. »Vielleicht haben Sie vergessen, daß Sie diese Aufnahmen gemacht haben, ebenso wie es Ihnen heute nachmittag entfallen war, daß Sie Cordwell im de Kroon getroffen hatten.« Ich lief rot an. »Wenn Ihre Meinung über mich…« Richards unterbrach mich besänftigend. »Wie wäre es, wenn wir uns auch den Rest des Filmes ansehen würden, Sir? Es scheint hier einen – wie soll ich es nennen – einen Meinungskonflikt zu geben. 29
Vielleicht läßt sich das Geheimnis besser lüften, wenn wir alles gesehen haben.« Ross machte auf dem Absatz kehrt, ging zu seinem Schreibtisch zurück und nahm eine Zigarette aus der silbernen Dose. »Also gut, Richards. Sehen wir uns den Rest auch noch an.« Ich machte es mir in meinem Sessel bequem, als der Projektor wieder zu surren begann. Je weiter der Film lief, desto tiefer sank mein Blutdruck. Es stand fest, das war nicht mein Film. Ich erkannte das Rembrandthaus nur, weil ich Barbara dorthin gefolgt war. Mit einem leichten Grinsen sah ich zu Ross hinüber und bemerkte, wie sich im selben Augenblick seine Haltung versteifte. Ohne die Leinwand aus den Augen zu lassen, gab er Richards mit dem glühenden Ende der Zigarette ein Zeichen. Ich sah schnell wieder auf die Leinwand. Dort war jetzt eine belebte Geschäftsstraße zu sehen. Unter den Müßiggängern und Passanten, die an den Schaufenstern vorbeiflanierten, fiel ein gutgekleideter Herr dadurch auf, daß er sich seinen Weg durch die Menge unter kräftiger Benutzung der Ellenbogen bahnte. Ohne das unordentlich verpackte Bündel unter seinem Arm hätte ich ihn für einen Diplomaten gehalten. All das wäre mir aber kaum bemerkenswert erschienen, wenn der Mann nicht plötzlich, ohne nach rechts oder links zu sehen, auf die Fahrbahn getreten wäre. Ich zuckte automatisch zusammen und hörte im Geiste geradezu das Quietschen der Bremsen, als der Wagen ihn erfaßte. Er fiel vornüber, wobei sein Kopf vom Pflaster wie ein Gummiball zurückprallte. Dann lag er auch schon unter dem heftig bremsenden Wagen. Nach einigen Schrecksekunden umdrängten Fußgänger das Auto. Der Film flimmerte merklich, als ob die Hand des Kameramannes gezittert hätte; dann war der Streifen zu Ende. In dem tiefen Schweigen wirkte das Einschalten des Kronleuchters wie ein Blitz, der dem Donnerschlag vorausgeht. Ross nahm langsam das Bein vom Tisch und warf Richards mit 30
grimmig zusammengepreßten Lippen einen Blick zu. Richards nickte leicht und begann dann, den Film aufzuspulen. Ungläubig brach es aus mir hervor: »Das – das war doch Barbara Day, die den Wagen lenkte!« Ross drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und antwortete ruhig: »Ja, das war Barbara Day.« »Dann war der Mann…« Ich machte eine unbestimmte Handbewegung in Richtung auf die Leinwand. »Der Mann, der dort überfahren wurde … das muß doch dann…« »Es war Leo Salinger.« Ross drehte sich um und sah mich an. »Das war ein Film von dem Unfall, Mr. Frazer.« Ich hob mich halb aus meinem Sessel. »In meiner Kamera! Aber das ist doch – das kann doch nicht…« Vom Projektor erklang Richards' ruhige Stimme: »Ihr Film wurde offensichtlich gestohlen und dieser dafür eingelegt.« »Aber wie? Und wann?« Ich erhob mich. »Das ist unmöglich. Die Kamera ist nie aus meinem Blickfeld gekommen, und ich bin mit nichts und niemandem so sehr beschäftigt gewesen, daß ein Dritter Zeit und Gelegenheit gehabt hätte, den Film auszuwechseln.« »Und wie steht es mit Barbara Day?« fragte Ross aalglatt. »Sie haben sich doch mehrfach mit ihr getroffen.« »Ja, aber…« Ich strich mir mit der linken Hand verwirrt über die Stirn. »Das gibt doch alles keinen Sinn. Selbst wenn sie diesen Film besaß, warum sollte sie wünschen, daß ich ihn sehe?« Ross machte eine ungeduldige Geste. »Wie soll ich das wissen? Das ist eben etwas, was wir herausfinden müssen.« Er betrachtete nachdenklich seine Fingernägel. Mit einer Plötzlichkeit, die mich verwirrte, sah er mich eindringlich fragend an. »Haben Sie etwas mit ihr verabredet?« »Ich habe versucht, eine Verabredung mit ihr zu treffen. Sie ist aber nicht darauf eingegangen.« »Gibt es irgendeinen Grund für Ihre Ablehnung?« 31
Ich antwortete mit dünnem Lächeln: »Zufälligerweise ist sie verlobt, wie Sie wohl wissen.« »Ich halte es für angebracht, daß Sie mit diesem Verlobten in etwas stärkeren Wettbewerb treten«, erklärte Ross trocken. »Richten Sie es so ein, daß Sie ein- oder zweimal mit ihr zusammentreffen. Es muß aber ganz zufällig scheinen. Ich schätze, Sie wissen, wie man das macht.« Er sah mich leicht belustigt und abschätzend an. »Aber tragen Sie nicht zu dick auf. Sollte Miß Day doch in unseren Fall verwickelt sein, könnte sie leicht Verdacht schöpfen.« »Ich werde es schon richtig hinkriegen, Sir. Bevor ich aber an diesen« – ich riskierte ein leichtes Grinsen – »Auftrag Charme herangehe, würde ich noch gern etwas über Leo Salinger wissen.« Ross wanderte zu seinem Schreibtisch zurück. »Und das wäre?« »Was trug Salinger in diesem Paket bei sich?« »In dem Paket?« Ross schien ehrlich überrascht. »Warum wollen Sie das wissen?« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich bin neugierig – das ist alles.« Ross warf mir einen nachdenklichen Blick zu und sagte dann: »Salinger trug ein Metronom bei sich.«
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ch war gerade dabei, meine Haustür aufzuschließen, als drinnen das Telefon zu läuten begann. Ich ließ die Tür offen und raste hinein. Nicht daß ich einen dringenden Anruf erwartet hätte. Aber ich gehöre nun einmal zu den Leuten, die unruhig auf und ab wandern, wenn ihr Telefon zu läuten aufhört, bevor sie den Anruf entgegengenommen haben. Ich stieß die Tür zu meinem Wohnzimmer auf und machte einen gewaltigen Satz zum Tisch, um den Hörer abzunehmen. »Hallo? Hier Tim Frazer«, keuchte ich in die Muschel. Eine tiefe, beherrschte Stimme antwortete: »Hier Barbara Day. Was ist denn los? Ihre Stimme klingt so, als hätten Sie gerade einen Hundertmeterlauf hinter sich.« Ich mußte lachen. »Das sind nur die vielen Zigaretten, wahrscheinlich rauche ich zuviel. Ich freue mich, wieder einmal Ihre Stimme zu hören. Wie geht es Ihnen? Hatten Sie einen guten Rückflug?« »Danke. Er war wirklich sehr angenehm.« Ihre Stimme klang nicht mehr so heiter, als sie weitersprach: »Ich fürchte, ich überfalle Sie sehr kurzfristig. Hätten Sie Zeit und Lust, noch heute abend einen Drink bei mir zu nehmen?« »Aber natürlich, gern.« »Arthur Fairlee, mein Verlobter, wird auch kommen. Ich weiß, daß er Sie gern kennenlernen würde.« »Das ist fein. Wann erwarten Sie mich?« Sie zögerte. »Um halb acht? Paßt Ihnen das?« »O ja, ausgezeichnet.« Barbara Day lachte amüsiert. »Wie töricht von mir – Sie wissen ja 33
gar nicht, wo ich wohne. In Chelsea, und zwar Crawford House Mansions Nr. 23. Werden Sie das behalten?« »Ich schreibe es mir gerade auf.« »Freue mich, Sie wiederzusehen. Auf bald!« »Auf Wiedersehen – und herzlichen Dank für die Einladung!« Nachdenklich legte ich den Hörer auf. Warum mochte sie mich so urplötzlich angerufen haben? Und warum wollte sie mich unbedingt ihrem Verlobten vorstellen? Stand das vielleicht in irgendeinem hintergründigen Zusammenhang mit dem seltsamen Film von dem Unfall? Ich zögerte, ob ich Ross telefonisch verständigen sollte. Schließlich entschied ich mich, es zu unterlassen. Crawford House Mansions war einer dieser modernen Apartmentblocks, die wie ein Kaninchengehege wirken – in einer Seitenstraße der Kings Road gelegen. Das Haus hatte einen Lift mit Selbstbedienung, der mich zum ersten Stock hinaufbrachte. Ich schritt über einen langen, läuferbelegten Korridor, an einem halben Dutzend zellenähnlicher Türen vorbei, bis ich zum Apartment 23 kam. Ich tippte mit der Fingerspitze flüchtig auf den Klingelknopf, richtete kurz meine Krawatte und legte in meinen Gesichtsausdruck ein leichtes Lächeln, das den erlaubten Grad froher Erwartung ausdrücken sollte. Leider war es mir nicht möglich, meine Mimik auch wirkungsvoll zur Geltung zu bringen, da ich unentwegt die Tür anlächelte, die sich nicht öffnete. Nach mehrfachem Läuten legte ich ein Ohr an die Tür und lauschte. Kein Laut – weder das Öffnen einer Tür innerhalb der Wohnung noch das Klappern hoher Absätze, die das eilige Herannahen ihrer Trägerin ankündigten. Nur Stille. Ein Blick auf meine Armbanduhr zeigte mir, daß es drei Minuten nach halb acht war. Nachdenklich starrte ich auf die verschlossene Tür. Dann drückte ich fest mit dem Daumen länger auf die Klingel. Etwa eine halbe Minute lang lauschte ich dem Läuten, das mich 34
zu verspotten schien. Dann gab ich es auf. Ich beschloß, Barbara Day später anzurufen. Und sollte ich dann auch nur noch halb so wütend sein wie im Augenblick, dann würde mein pflichtbewußter ›Charme‹ kaum zu mehr als einem hohlen Lachen reichen. Gerade als ich mich zum Gehen anschickte, hörte ich ein kratzendes Geräusch zu meinen Füßen. Ich blickte hinunter und sah, wie ein flacher Sicherheitsschlüssel unter dem Türrand durchgeschoben wurde. Ratlos starrte ich ihn an und hob ihn auf. Was sollte das wohl bedeuten? Unentschlossen spielte ich mit dem Schlüssel in der hohlen Hand. War das etwa ein Wink für mich, zu einem späteren Zeitpunkt wiederzukommen? Endlich entschloß ich mich, doch sofort in die Wohnung zu gehen. Ich schloß auf und betrat einen schmalen Vorraum. Auf dem Fußboden lag eine Flugreisetasche, deren Reißverschluß aufgerissen war. Nachdem ich die Wohnungstür mit dem Absatz zugestoßen hatte, sah ich mir die Reisetasche näher an. Am Handgriff war ein Anhänger befestigt; der Name darauf lautete: R. Cordwell. Die gegenüberliegende Tür zum Wohnzimmer stand halb offen. Ich ging darauf zu, stieß sie weit auf, machte einen Schritt in das Zimmer hinein und blieb wie erstarrt stehen. Mitten auf dem Teppich lag ein winziges Fahrrad; daneben etwas, was einst eine Kleiderpuppe gewesen war – ein Holländer in Nationaltracht. Die Kleidung der Puppe war zerrissen, die Holzwolle aus ihrem Rumpf über den ganzen Teppich verstreut. Nicht weit davon entfernt lag der Tulpenkatalog, den Cordwell in Amsterdam aus einem Koffer geholt hatte. Der mir aus Amsterdam bereits vertraute Zigarrenrauch war schwach im Raume spürbar, und mit einem Frösteln böser Vorahnung sah ich mich weiter im Raume um. Ich sah den umgestürzten Teetisch, sah die messingglänzende Lampe daneben, die zerschlagene Porzellanvase und die über den Boden verstreuten Rosenblätter. 35
Dann erst bemerkte ich die grotesk gegeneinander gewickelten Füße, die viel zu klein für den schweren Mann schienen. Mein Blick wanderte weiter über den zerknüllten, typisch amerikanischen Anzug mit dem zerrissenen Rockaufschlag zu dem schweren, blutbefleckten gläsernen Aschenbecher neben dem Kopf mit dem Bürstenhaarschnitt. Ich muß mindestens eine halbe Minute lang regungslos auf Cordwell gestarrt haben, bevor ich mir des seltsamen Geräusches bewußt wurde. Ein rhythmisches, jubilierendes Ticken beherrschte den sonst totenstillen Raum. Ich wirbelte herum und griff mit einem Sprung nach dem Metronom, das mit Pendel nach oben auf dem Teppich lag. Ich preßte den Finger auf das nach beiden Seiten ausschlagende Pendel und hörte jemanden rufen: »Um Gottes willen, hör auf damit!« Der Rufer war ich selbst. Ich ließ das Instrument wieder auf den Boden fallen, richtete mich auf und ging zu Cordwells Leiche zurück. Was ich mich jetzt zu tun anschickte, war mir sehr zuwider. Aber vielleicht erhielt ich doch einen Hinweis auf die Identität des Mörders, wenn ich Cordwells Taschen durchsuchte. Also kniete ich nieder, um im nächsten Augenblick wie von der Tarantel gestochen wieder hochzuschnellen. Ich war verteufelt nervös; und das plötzliche Schrillen des Telefons in diesem im Zeichen des Todes stehenden Zimmers erklang ebenso unerwartet wie ein Schrei in einer Kirche. Ich schüttelte mich wie ein Hund, der eben einem eiskalten Fluß entstiegen ist, und wandte mich dem Telefon zu, das auf einem Tischchen neben der Anrichte stand. Einen Augenblick lang zögerte ich. Dann aber nahm ich mit meinem Taschentuch den Hörer auf, das ich zuvor aus der Jackentasche gezogen hatte. Kaum hatte ich den Hörer aufgenommen, als mich auch schon eine weibliche Stimme in fast atemloser Hast mit einem wahren Wortschwall überschüttete. »Hier ist Vivien. Ich hatte doch recht, 36
Barbara. Er ist sehr neugierig wegen Ericson und Lennard Street. Ich dachte, wir sollten doch lieber…« Die Stimme schwankte und nahm dann einen dringlicheren Ton an. »Hallo, Barbara! Du bist es doch, nicht wahr?« Es hatte keinen Sinn, dieses Gespräch noch auszudehnen. Deshalb ließ ich den Hörer auf die Gabel zurückgleiten und stand noch einen Augenblick sinnend da, die Hand immer noch auf dem Hörer. Ich versuchte krampfhaft, mir ein Bild von der Lennard Street zu machen, deren Name mir irgendwie bekannt vorkam; aber es gelang mir nicht. Schließlich steckte ich das Taschentuch wieder ein und riß mich so weit zusammen, daß ich mich etwas ruhiger wieder der Leiche zuwenden konnte. Eine innere Stimme sagte mir, daß mir nicht mehr viel Zeit blieb, weshalb ich Cordwells Taschen so schnell wie möglich durchsuchte. In seiner Brieftasche befand sich nichts, was mir wichtig schien. Ich hatte gerade eine seiner Seitentaschen nach außen gestülpt, als ich hörte, wie ein Schlüssel in der äußeren Wohnungstür bewegt wurde. Schnell verstaute ich den Kleinkram wieder, sah mich dann im Raume um und entdeckte dabei eine Tür in der äußersten Ecke. Noch während ich so schnell und lautlos wie möglich hinüberlief, hörte ich, wie die Wohnungstür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Ich verschwand im Schlafzimmer, das nach dem leichten, unverkennbaren Parfümduft offensichtlich Barbara gehörte. Ich ließ die Tür einen Spalt offen und sah mich sofort nach einem anderen Ausgang um. Es gab nur das Fenster als Ausweg, das von einer langen Seidengardine verhüllt war. Behutsam schob ich den Vorhang beiseite und stellte mit Erleichterung fest, daß es sich um ein unverriegeltes Schiebefenster handelte. Draußen war die eiserne Plattform einer Feuerleiter erkennbar. Ich ließ das Fenster fluchtbereit offen und schlich zur Tür zurück. 37
Ich kam gerade zurecht, um zu sehen, wie Barbara in einem schicken Sommerkleid das Wohnzimmer betrat. Sie sah verblüfft aus, und ich nahm an, daß sie voller Erstaunen Cordwells Reisetasche im Vorraum entdeckt hatte. Beim Anblick der zerfetzten Puppe, der umgestürzten Stühle und des Tulpenkatalogs wandelte sich ihr Gesichtsausdruck in Bestürzung. Dann erst erblickte sie Cordwells Leiche. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück, als wolle sie einem Schlag ausweichen. Ihre Hände verkrampften sich über dem Bügel der Handtasche, so daß die Knöchel weiß wurden. Es schien mir eine volle Minute zu vergehen, ehe sie einen Schritt nach vorn tat und dann noch einen. Als ihre Fußspitze gegen das Metronom stieß, hörte man ein kaum vernehmbares Klicken. Sie blieb stehen und schaute hinunter, wobei ihr Gesicht sich von der Leiche abwandte. Das Telefon begann zu läuten, und sie riß sich zusammen, wobei sich auf ihrer Stirn ein paar winzige, nachdenkliche Falten bildeten. Im nächsten Augenblick schien sie sich bereits wieder in der Gewalt zu haben. Sie ging zum Telefon hinüber und nahm den Hörer ab, fast als sei ihr diese Unterbrechung willkommen. Sie sprach nicht, sondern lauschte nur dem Wortschwall, den ich schwach, wenn auch unverständlich vernehmen konnte. Ihre Mundwinkel spannten sich, und schließlich unterbrach sie den Gesprächspartner. »Vivien, bitte geh aus der Leitung!« forderte sie in gebieterischem Ton. »Es ist etwas Schreckliches geschehen…« Wieder hörte man von der anderen Seite einen Wortschwall, bis Barbara Day die Geduld verlor. »Ich muß sofort die Polizei verständigen«, rief sie energisch in die Sprechmuschel, »würdest du also bitte auflegen!« Sie knallte den Hörer auf die Gabel. Als sie ihn wieder aufhob, um festzustellen, ob die Leitung jetzt frei war, zitterte ihre Hand sichtlich. Dann begann sie zu wählen, und ich hatte nicht den ge38
ringsten Zweifel daran, daß sie die bekannte Nummer 999, das Überfallkommando, anrief. Ich war nicht darauf versessen, ihre Meldung an die Polizei mitzuhören, sondern schlich leise zum Fenster und schwang mich über die Brüstung auf die Feuerleiter. Unten fand ich eine Tür mit der Aufschrift ›Für Lieferanten‹. Sie führte zu einem mit Fliesen ausgelegten Flur, an dessen Ende sich eine Tür befand, die durch einen Druck auf einen Knopf elektrisch zu öffnen war. Ich drückte darauf und befand mich auch schon auf der Straße. Es berührte mich eigenartig, daß die Leute draußen unverändert und unberührt ihren Betätigungen nachgingen wie an jedem beliebigen Abend. Wenige Meter weiter die Straße hinauf hatte ein Taxi gerade seinen Fahrgast abgesetzt. Ich hielt den Fahrer an, stieg ein und nannte ihm das Ziel: Smith Square. Beim Abfahren blickte ich mit einem unangenehmen Gefühl zum Eingang des Wohnblocks zurück, der jedoch ruhig und menschenleer dalag. Als wir eben in die Kings Road einbogen, raste ein Polizeiwagen mit solchem Tempo um die Ecke, daß eigentlich nur noch zwei Räder den Boden berührten und mein Taxifahrer erschrocken fester ins Lenkrad griff. »Die fahren bestimmt nach Chelsea«, hörte ich ihn brummen. »Diese verdammten Beatniks werden wohl wieder etwas angestellt haben.« »Immer leben und leben lassen«, erwiderte ich, wobei ich mir Mühe gab, völlig gelassen und unbeteiligt zu erscheinen. Ich ließ mich nicht weiter auf ein Gespräch ein, da es mir ratsam schien, nichts zu tun oder zu sagen, was den Fahrer später an seinen Fahrgast erinnern konnte.
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A
m Smith Square wurde mir von Hobson geöffnet, dem Hausfaktotum und ›Mädchen für alles‹ der Dienststelle, einem Mann mit leiser Stimme, der stets einen schwarzen Zweireiher mit gestreifter Hose trug. Mr. Ross sei leider nicht anwesend, eröffnete er mir in einem Tonfall, als vertraue er mir ein Staatsgeheimnis an. Enttäuscht fragte ich, ob denn wohl Mr. Richards im Hause sei. Auf diese Weise gelangte ich wenigstens in die Vorhalle, während Hobson zum entgegengesetzten Ende ging und dort mit flüsternder Stimme in ein Haustelefon sprach. Als er den Hörer wieder aufgelegt hatte, erklärte er mir in gedämpftem Ton, Mr. Richards geruhe mich zu empfangen. Richards saß im Bibliothekszimmer lässig in einem Sessel, ein Glas Whisky-Soda in der Hand. »Tut mir leid, daß Ross nicht da ist. Aber er wurde ins Unterhaus gerufen, um dort einem Staatssekretär eine doppelsinnige Antwort auf die heikle Frage eines Abgeordneten zu soufflieren…« Richards brach mitten im Satz ab und sah mich verwundert an. »Menschenskind… Sie sehen ja aus, als wären Sie einem Geist begegnet.« »Auf jeden Fall jemandem, dessen Geist wirklich einmal spuken könnte«, entgegnete ich. »Cordwell, der Amerikaner, den ich in Amsterdam kennengelernt habe, ist tot – ermordet.« Richards pfiff kaum hörbar durch die Zähne und erhob sich dann aus dem Sessel. »Sie brauchen erst einmal einen Schluck zur Stärkung.« Er wanderte zum Getränkeschrank hinüber, öffnete ihn und meinte dann: »Da dürfte ein Kognak wohl das richtige sein. Wie wäre es mit dem hier, einem Courvoisier?« Beim Einschenken schlug er bewußt einen burschikosen Ton an, um mir zu helfen, das see40
lische Gleichgewicht wiederzufinden. »Der alte Knabe hat stets ein paar ordentliche Sachen am Lager. Der weiß genau, was gut schmeckt. Und Sie, Frazer, sollten Ihre Morde zu einer günstigeren Zeit servieren. Am besten so zur Lunchzeit, und in seinem Klub.« Ich hatte es mir inzwischen in einem Sessel bequem gemacht, der dem seinen genau gegenüberstand. »Tut mir leid, daß meine Nerven etwas mitgenommen sind«, entschuldigte ich mich, als ich ihm das Glas mit dem Kognak abnahm. »Aber man stolpert ja nicht jeden Tag über eine Leiche.« »Solche Erlebnisse sind nie sehr angenehm«, bestätigte Richards und ließ sich wieder in seinen Sessel fallen. »Ross hat mir von diesem Amerikaner erzählt. Wie wäre es, wenn Sie jetzt in aller Ruhe berichten würden?« Als ich die Ereignisse in Barbara Days Wohnung schilderte, rieb Richards sich die Nase. »Eine verflixt unangenehme Angelegenheit. Und der Mörder hat die Wohnung auf dem gleichen Wege verlassen wie Sie? Über die Feuerleiter?« Ich nickte. »Nachdem er mir vorher noch den Wohnungsschlüssel unter dem Türrand durchgeschoben hatte.« Richards legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Gerade das macht alles so rätselhaft, Frazer. Warum wollte man, daß Sie die Leiche so schnell finden? Normalerweise sollte man von einem Mörder erwarten, daß er versucht, soviel Zeit wie möglich zu finden, um sich aus dem Staube zu machen.« »Denselben Gedankengang habe ich auch schon gehabt.« Ich nippte an meinem Kognak, krampfhaft bemüht, das Rätsel zu ergründen. »Es könnte vielleicht so gedacht gewesen sein.« Richards schloß bei seiner lauten Überlegung nachdenklich die Augen. »Sie wurden in der Wohnung erwartet. Man schob Ihnen den Schlüssel zu, weil man damit rechnete, daß Sie hineingehen würden. Stimmt's? Dann verständigt man die Polizei, es sei da ein Mord geschehen. Die Po41
lizei erscheint in der Wohnung, findet Sie bei der Leiche und…« Ich unterbrach ihn. »Natürlich wurde ich in der Wohnung erwartet. Aber doch von Barbara Day.« Richards sah mich unbeteiligt über den Rand seines Glases an. »Ja und?« »Also bitte, Richards, lassen wir doch das«, fuhr ich ihn erregt an. »Barbara Day hat mit dem Mord nichts zu tun. Ich habe sie vom Schlafzimmer aus beobachtet, als sie die Wohnung nach mir betrat. Und ich sage Ihnen, sie war wie versteinert, als sie die Leiche sah. Und was die Benachrichtigung der Polizei betrifft, so hat sie doch selbst den Fall der Polizei gemeldet.« Richards blickte angestrengt auf seine Fußspitzen und erwiderte nur: »Der Zeuge der Verteidigung darf jetzt den Zeugenstand verlassen.« »Ich habe Ihnen die reinen Tatsachen geschildert. Sie reagierte genauso, wie jede andere Frau reagieren würde, die eine Leiche in ihrer Wohnung vorfindet«, protestierte ich leidenschaftlich. »Und außerdem – warum sollte ich sie verteidigen?« Er warf mir einen amüsierten Blick zu. »Unsere Miß Day ist ein recht attraktives Mädchen«, sprach er nachdenklich vor sich hin. »Was wohl Cordwell in ihrer Wohnung zu tun gehabt hatte?« »Das weiß ich nicht. Mit Sicherheit weiß ich jedoch, daß Miß Day ebenso betroffen war, ihn dort tot zu finden, wie ich selbst.« »Und Sie sagen, Cordwells Reisetasche habe im Vorflur gelegen, während ihr Inhalt im Wohnzimmer auf dem Boden verstreut war?« »Ein Katalog für Tulpenzwiebeln, ein Metronom und die holländische Trachtenpuppe.« »Eine holländische Trachtenpuppe«, wiederholte Richards halblaut. »Haben Sie eine Idee, warum der Mörder sie wohl auseinandergenommen hat?« »Vermutlich suchte er etwas, was sich leicht in einer Puppe verstecken läßt.« 42
Richards nickte. »War es ein besonderes Metronom?« »Der Mechanismus war genauso wie bei allen anderen. Nur das Gehäuse war bei diesem besonders schön geschnitzt und in hellen Farben bemalt, von der Art, wie man sie in den Souvenirläden findet.« Meine Finger umspannten den Stiel des Glases fester, als ich Richards fragte: »Hatte nicht auch Salinger ein Metronom bei sich, als er getötet wurde? Wie sah denn das aus?« »Sie haben es eben ziemlich genau beschrieben.« »Dann…«, begann ich. Richards schüttelte den Kopf. »Nein. Es war nicht dasselbe. Ross hat das von Salinger in seinem Safe verschlossen. Nach der Totenschau habe ich es ›organisieren‹ können.« Er lächelte. »Unsere Dienststelle hat ein paar gute Beziehungen, die sie gelegentlich spielen läßt.« Ich setzte eine entsprechend beeindruckte Miene auf und kippte dann den restlichen Kognak hinunter. »Und was machen wir jetzt?« »Sie tun im Augenblick am besten gar nichts.« Er stand auf und trug unsere Gläser zum Getränkeschrank hinüber. »Ich nehme an, die Polizei wird inzwischen in der Wohnung sein und Miß Day vernehmen. Wenn die junge Dame so harmlos ist, wie Sie glauben, dann wird sie der Polizei erzählen, daß sie Sie heute abend erwartet hat.« »Natürlich wird sie das tun«, erwiderte ich gereizt. »Und es gibt keinen Grund für so sarkastische Bemerkungen.« »O Verzeihung! Klang das sarkastisch?« fragte er besänftigend. »Ich wollte nur auf folgendes hinaus: Sie werden eine recht plausible Geschichte brauchen, um sich die Polizei vom Leibe zu halten.« »Ich erzähle ihnen die reine Wahrheit. Schließlich habe ich ja nichts zu verbergen.« »Nichts?« fragte Richards, der mir noch einen Courvoisier eingoß und dann mit seinem Glas in der Hand auf und ab ging. »Sie ha43
ben doch die Leiche gefunden. Warum haben Sie nicht gewartet, bis die Polizei kam, und ihr dann am Tatort Bericht erstattet? Die Polizei wird von Ihrem Verhalten nicht gerade begeistert sein.« Er machte eine abwinkende Handbewegung. »Natürlich, wir wissen, warum Sie gleich hierhergestürzt sind: Sie wollten Ross berichten. Die Kriminalpolizei aber wird nicht sagen: ›Danke schön, Mr. Frazer; damit sind Sie aus dem Spiel‹, wenn Sie ihr erzählen, Sie hätten Barbara Day beschattet. Sie wird vielmehr verdammt neugierig sein.« »Na, und wenn schon«, erklärte ich leichthin. »Ich brauche doch nur diese Dienststelle hier zu erwähnen und…« »Gerade das dürfen Sie nicht!« Richards wandte sich ruckartig zu mir um. »Prägen Sie sich das ein, Frazer. Ross will nur erfahren, warum einer unserer besten Agenten sterben mußte. Daß wir nicht an einen Unfall glauben, hat mit der Sache unmittelbar nichts zu tun. Ihre Aufgabe ist es, herauszufinden, ob Miß Day mit den Leuten unter einer Decke steckt, die Salinger aus dem Wege haben wollten. Deswegen darf sie auf keinen Fall wissen, daß Sie sie beobachtet haben. Wenn Sie das der Polizei erzählen, werden die Kriminalbeamten ein so unüberhörbares Getue darum machen, daß das Mädchen bestimmt Verdacht schöpft und seine reizenden Muschelöhrchen in Ihre Richtung drehen wird. Und sie wird es dann gewiß nicht mehr auf so charmante Weise tun, wie das bisher der Fall zu sein scheint.« »Da haben Sie mir eine gelungene Rückhand verpaßt. Ich werde sie aber als Kompliment dafür auffassen, wie ich meinen Auftrag bisher ausgeführt habe«, erwiderte ich grinsend. »Übrigens – glauben Sie auch jetzt noch, daß es ein Unfall gewesen ist?« »Der Umstand, daß dieser Amerikaner in ihrer Wohnung ermordet wurde, eröffnet allerdings neue Perspektiven.« Richards schob sinnend die Unterlippe vor und forderte mich plötzlich sehr energisch auf: »Rufen Sie das Mädchen sofort an. Nennen Sie einen 44
glaubwürdigen Grund, warum Sie das Rendezvous nicht eingehalten haben.« Er ging zum Schreibtisch hinüber und blätterte die Seiten eines Vormerkkalenders durch. »Hier ist sie: Ihre Nummer ist Chelsea 7146. Nehmen Sie den grünen Apparat dort, er ist auf Amtsleitung durchgeschaltet.« Ich ging hinüber, nahm den Hörer ab und wählte langsam, wobei ich mir eine plausible Entschuldigung überlegte. Nachdem das Rufzeichen angekommen war, knackte es einen Augenblick später in der Leitung, als die Gegenseite den Hörer abnahm. Eine Männerstimme meldete sich knapp: »Chelsea 7146.« Ich zögerte, und nach einem undefinierbaren, leicht überraschten Laut fragte ich betont energisch: »Könnte ich bitte Miß Day sprechen, mein Name ist Frazer.« Es war unverkennbar, daß der Mann am anderen Ende der Leitung die Hand über die Sprechmuschel legte, und ich bildete, zu Richards gewandt, mit den Lippen lautlos das Wort ›Polizei‹. Er lächelte wissend zurück. Dann war Barbaras Stimme zu vernehmen. »Sind Sie es, Frazer?« »Ja, ich bin's. Ich muß mich wegen heute abend sehr entschuldigen«, legte ich los, wobei ich hoffte, daß meine Stimme überzeugend genug nach ehrlicher Reue klang. »Als ich Ihre Einladung annahm, hatte ich eine geschäftliche Verabredung in Slough total vergessen. Später, als es mir dann wieder einfiel, hoffte ich, rechtzeitig wieder zurück zu sein. Aber die Besprechung zog sich endlos in die Länge, so daß ich Sie auch jetzt noch von Slough aus anrufe.« »Das ist allerdings Pech… Ich meine, das mit Ihrer Besprechung. Ich fürchtete schon ernsthaft, es könnte Ihnen etwas zugestoßen sein.« »Ich hatte vorhin schon einmal angerufen, aber da meldete sich niemand.« Ich warf Richards einen schnellen Blick zu, den das Gespräch zu amüsieren schien. »Das war so um Viertel nach sieben.« 45
»Oh, das ist aber schade. Um diese Zeit war ich noch nicht zu Hause. Arthur, mein Verlobter, hatte mich angerufen. Er litt wieder einmal unter einem seiner schweren Asthmaanfälle, und ich hielt es für geboten, schnell hinüberzufahren und nach dem Rechten zu sehen.« Ihre Stimme bekam einen flüssigeren Klang. »Wären Sie rechtzeitig gekommen, dann hätten Sie vor verschlossener Tür gestanden. Vielleicht klappt es ein andermal besser.« Ich hoffte es sehr, erwiderte ich, entschuldigte mich nochmals und legte auf. »Gute Arbeit«, lobte mich Richards, der sich eine Zigarette aus der silbernen Dose nahm und mir auch eine anbot. »Wo war Miß Day um Viertel nach sieben?« »Sie sagte, ihr Verlobter wäre krank gewesen, und sie sei schnell noch einmal zu ihm gefahren, um sich um ihn zu kümmern.« »Die Polizei wird das nachprüfen; worauf Sie sich verlassen können.« Richards warf mir einen spöttischen Blick zu. »Ich würde Ihnen raten, auf der Hut zu sein, Frazer. Die Polizei wird nach einem Motiv für den Mord an Cordwell suchen. Wie gewöhnlich nach etwas ganz Handlichem und Primitivem – beispielsweise Eifersucht.«
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s war kurz nach acht Uhr, als ich am anderen Morgen erwachte und Mrs. Glover, meine Aufwartefrau, in der Küche herumwirtschaften hörte. Der belebende Duft frisch gebrühten Kaffees drang mir in die Nase, als ich nach der Zigarettendose auf meinem Nachttisch griff. Ich hatte viel zu überlegen und gedanklich in den richtigen Zusammenhang zu bringen. Die Morgenblätter würden sicher schon über den Mordfall berichten, und ich entschloß mich, nachzulesen, ob sie neue Entwicklungen meldeten. Gerade als ich Mrs. Glover rufen wollte, mir die Zeitungen und den Kaffee ans Bett zu bringen, schellte es an der Wohnungstür. Mrs. Glover watschelte zur Tür, um zu öffnen, und war wie stets etwas außer Atem. Dann kam sie zurück und klopfte an meine Tür: »Ein Herr möchte mit Ihnen sprechen, Sir.« Gewöhnlich redete sie mich mit ›Mr. Frazer‹ an; es sei denn, sie wollte Eindruck auf einen Besucher machen. In letzter Zeit waren dies in der Regel Gläubiger in Sachen meiner bankrott gegangenen Firma gewesen. Die hätte allerdings höchstens meine Unterschrift auf einem gedeckten Scheck beeindruckt. Unwirsch langte ich nach meinen Hausschuhen, warf mir meinen Morgenrock über, kämmte mir einmal kurz durch das Haar und steckte mir die Zigarettenschachtel in die Tasche. Mrs. Glover stand wartend vor der Zimmertür; ihr sonst so fröhliches Gesicht zeigte einen Ausdruck leichter Besorgnis. »Es ist einer von der Kripo«, zischte sie. »Diese Sorte rieche ich von weitem.« Da hatten wir den Salat! Ich schob beide Hände in die Taschen 47
des Morgenrocks und schlenderte gelassen ins Wohnzimmer. Ein großer, schlanker Herr mit korrekt zurückgebürstetem Haar, in dunklem Anzug mit silbergrauer Krawatte, beobachtete mein Eintreten mit unauffällig forschendem Blick, offensichtlich darauf bedacht, sich nichts entgehen zu lassen, was verdächtig scheinen könnte. »Mr. Frazer?« begann er mit leiser Stimme. »Mein Name ist Trueman – Detektivinspektor Trueman.« Ich legte verwundert die Stirn in Falten. »Was führt Sie her, Inspektor? Hat sich jemand beschwert, daß ich meinen Wagen vor seiner Garage geparkt habe?« »Ganz so schlimm ist es nicht, Sir«, erwiderte er humorvoll, wenn auch etwas schwerfällig. »Es handelt sich um eine Dame, die Sie meines Wissens kennen, Mr. Frazer. Ich meine Miß Barbara Day.« »O ja, wir sind miteinander bekannt.« Ich setzte eine erschrockene Miene auf. »Ihr ist doch hoffentlich nichts zugestoßen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte Ihnen nur gern ein paar Fragen im Zusammenhang mit dieser Dame gestellt.« Seine Augen waren ganz beiläufig im Zimmer umhergewandert; jetzt konzentrierten sie sich auf mich. »Sie waren gestern abend mit ihr verabredet?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. »Ja, das stimmt«, antwortete ich mit betont verwirrtem Gesichtsausdruck. »Ich sollte sie um halb acht Uhr in ihrer Wohnung aufsuchen. Leider konnte ich die Verabredung nicht einhalten, weil ich in Slough aufgehalten wurde.« »Ich verstehe«, erwiderte er in neutral gehaltenem Tonfall. »Dann waren Sie also gestern abend überhaupt nicht in Crawford House Mansions?« »Das habe ich Ihnen doch eben schon gesagt, Inspektor.« Ich tat leicht verärgert. »Sie haben mir nur gesagt, Sie wären um halb acht Uhr nicht dagewesen«, korrigierte er mich. 48
»Um die Sache noch einmal völlig klarzustellen, Inspektor: Soweit ich weiß, bin ich noch nie näher an dieses Haus … wie heißt es doch? … herangekommen als bis auf einen Kilometer.« Sein glattes Lächeln provozierte mich zu der Frage: »Darf ich übrigens erfahren, was diese ganze Fragerei bedeuten soll? Das ist ja schon beinahe der dritte Grad.« Diese Frage, die ihm offensichtlich gar nicht ins Konzept paßte, schien ihn etwas zu verärgern. »Es tut mir leid, daß Sie es so auffassen, Sir.« Er fingerte an seinem dunkelgrauen Hut mit steifem Rand herum. »Meine Fragen sind reine Routineangelegenheit.« Dann verschärfte sich sein Ton. »Gestern abend wurde ein Mann ermordet – in der Wohnung von Miß Barbara Day.« Ich tat mein Bestes, um wieder aufgeregt zu scheinen. »In Miß Days Wohnung? Haben Sie den Mörder gefaßt?« »Nein.« Er schwieg einen Augenblick und sagte dann in mehr fragendem Ton: »Soweit mir bekannt ist, haben Sie den Ermordeten gekannt.« »Ich soll ihn gekannt haben?« »Sein Name ist Cordwell.« »Cordwell… Cordwell…« Ich tat so, als ob ich krampfhaft überlegte. Dann schnippte ich mit den Fingern. »Aber natürlich! Das ist doch der Mann, den ich mit Miß Day in Amsterdam getroffen habe. Wobei ich übrigens kaum behaupten könnte, ich hätte ihn gekannt. Ich habe ihn nur einmal gesehen.« »Miß Day hat mir von dem Zusammentreffen berichtet.« Trueman lächelte nachsichtig, als habe er mich fast ertappt. »Würden Sie sagen, daß Miß Day mit ihm auf freundschaftlichem Fuß stand?« Ich zuckte mit den Schultern. »Meiner Ansicht nach war es nicht mehr als eine zufällige Urlaubsbekanntschaft während eines Aufenthalts im Ausland.« Er verfolgte mit den Augen seinen Mittelfinger, der um den stei49
fen Rand des Hutes kreiste. »Und Sie hatten sich alle gestern abend bei Miß Day verabredet, um über die Urlaubstage in Amsterdam zu plaudern?« Ich fischte meine Zigarettenpackung aus dem Morgenrock, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Worauf zielte er mit dieser Frage? »Sie hatte mir nichts davon gesagt, daß Cordwell auch eingeladen war«, antwortete ich und bot ihm eine Zigarette an. »Genauer gesagt, ich war der Meinung, er sei bereits wieder nach Amerika zurückgeflogen. Miß Day hatte mich eingeladen, damit ich ihren Verlobten kennenlernen sollte.« »Das hat sie mir auch gesagt.« Er nahm sich eine meiner Zigaretten. »Miß Day ist eine recht attraktive Frau; finden Sie nicht auch, Mr. Frazer?« Ich lächelte, weil mir Richards' Theorie vom Mordmotiv einfiel. »Mein persönlicher Typ ist blond.« Als ich ihm das brennende Feuerzeug hinhielt, sah er mich fragend an. »Weiß der Verlobte von Miß Day, daß Sie noch Junggeselle und im besten heiratsfähigen Alter sind?« »Wie die Dinge liegen, hätte ich diesen Verlobten gestern abend gar nicht getroffen«, antwortete ich scharf. »Es scheint, daß er krank war.« Mit leicht belustigtem Lächeln fügte ich hinzu: »Verbessern Sie mich, wenn ich mich irre, Inspektor. Aber ich glaube, Sie waren bei Miß Day in der Wohnung, als sie es mir am Telefon sagte.« »Ganz recht, ich war dort«, antwortete er, wobei er einen kurzen Blick auf seine Uhr warf. »Ich danke Ihnen für die Auskunft, Mr. Frazer. Bitte lassen Sie sich nicht stören. Sie brauchen mich nicht hinauszubegleiten.« Er machte mit dem Hut eine verabschiedende Geste, als er das Wohnzimmer verließ, drehte sich dann aber noch einmal um. »Wir haben die Sache mit dem Asthmaanfall nachgeprüft. Miß Day war von halb sieben bis kurz nach sieben Uhr bei ihrem Verlobten, Mr. Frazer.« Kaum war er gegangen, kam Mrs. Glover mit dem Tablett herein, 50
auf dem die Kaffeekanne und frisch gerösteter Toast standen. »Ist etwas mit Ihrem Wagen?« fragte sie scheinheilig. »Der Nachbar von nebenan hat gestern fürchterlich geschimpft, als Ihr Wagen vor seinem Garagentor parkte.« »Komisch, daß Sie das auch dachten, Mrs. Glover«, antwortete ich grinsend. »Fast dieselben Worte habe ich auch gebraucht, als ich den Beamten begrüßte.« Sie holte die Morgenzeitung unter dem Tablett hervor und legte sie auf den Tisch. »In Chelsea ist schon wieder jemand ermordet worden, Mr. Frazer«, berichtete sie, wobei sie unnötigerweise die Teller auf dem Tablett noch einmal zurechtrückte. »Das hat mir mein Besucher auch erzählt.« Sie schien den Wink zu verstehen und schlurfte beleidigt hinaus. Ich goß mir Kaffee ein, zündete eine Zigarette an und griff nach der Zeitung. Sie war bereits so gefaltet, daß die ›Letzten Meldungen‹ obenauf lagen. Ich überflog schnell die Nachricht über den Mord. Sie besagte nur, man habe in einem Luxusapartement in Chelsea einen Mann tot aufgefunden. Die Besitzerin der Wohnung, Miß Barbara Day, sei der Polizei bei der Untersuchung des Falles behilflich. Ich legte die Zeitung beiseite und ging im Geiste nochmals meine Unterhaltung mit Inspektor Trueman durch. Es war klar ersichtlich, daß Barbara Day nichts verschwiegen hatte. Das bestätigte meine persönliche Meinung von ihr. Sie wußte über Cordwells Tod nicht mehr als ich selbst. Aber was hatte der Amerikaner in ihrer Wohnung zu suchen? Und wie war er hineingekommen? Ich goß mir gerade die zweite Tasse Kaffee ein, als mir etwas einfiel, was der Inspektor gesagt hatte. ›Und Sie hatten sich alle gestern abend bei Miß Day verabredet, um über die Urlaubstage in Amsterdam zu plaudern?‹ Der Kaffee lief schon über den Rand der Tasse, ehe ich merkte, was ich angerichtet hatte. Mit einem halb unterdrückten »Verdammt!« stellte ich 51
die Kanne auf den Tisch zurück, stand auf, ging zum Telefon und wählte die Nummer Chelsea 7146. Das Besetztzeichen erklang. Nach einer halben Minute legte ich auf und kehrte zu meinem Frühstück zurück. Mit dem Rest der brennenden Zigarette zündete ich mir eine neue an und ließ den Stummel in die mit Kaffee gefüllte Untertasse fallen, in Gedanken darüber versunken, was Truemans Worte wohl für einen Hintersinn haben konnten. War das etwa die Ausrede gewesen, mit der Barbara Day den Amerikaner in ihre Wohnung gelockt hatte? Damit er mich treffen und wir über die Ferientage plaudern konnten? Aber warum? Um ihn zu ermorden? Wieder sah ich die Leiche vor mir und daneben den schweren, blutbefleckten gläsernen Aschenbecher. Diese Gedankenkombination ging einfach nicht auf. Cordwell war ein kräftiger Mann. Er hätte eine Frau mit einem einzigen Faustschlag bewußtlos schlagen können. Außerdem hatte ich doch Barbara Day beobachtet, als sie in ihre Wohnung kam. Nichts in ihrer äußeren Erscheinung wies darauf hin, daß sie vorher in einen Kampf verwickelt gewesen war. Aber irgend jemand mußte Cordwell doch in ihre Wohnung eingelassen haben – und derjenige mußte es auch gewesen sein, der mir den Schlüssel unter dem Türrand durchgeschoben hatte. Den ganzen Umständen nach war diese Person der Mörder; aber auch das stand nicht unbedingt fest. Nach einem Dutzend weiterer Vermutungen und Betrachtungen gab ich es auf. Erst im Badezimmer fiel mir ein, daß Trueman mich gar nicht gefragt hatte, wo ich am gestrigen Abend gewesen sei. Es hätte sehr unangenehm für mich werden können, wenn er mich aufgefordert hätte, den Ablauf des Abends in allen Einzelheiten zu schildern. Warum hatte er es eigentlich nicht getan? Ich hatte das unangenehme Gefühl, er argwöhnte, ich hätte meine Verabredung mit Barbara Day doch eingehalten. Vielleicht wollte er mich nur so lange an der langen Angelschnur halten, bis es ihm paßte, den zappelnden Fisch an Land zu ziehen. 52
Als ich mich angezogen hatte, versuchte ich es noch einmal, Barbara Day anzurufen. Um zehn Uhr, nach dem dritten vergeblichen Versuch, gab ich es auf. Da die Leitung ständig besetzt war, mußte sie wohl zu Hause sein. Es lag daher nahe, sie persönlich aufzusuchen. Ich rief Mrs. Glover zu, ich ginge aus. Als ich meinen Wagen aus der Garage, direkt unter meiner Wohnung, holte, lugte hinter der Gardine meines Wohnzimmers ihr Gesicht hervor. Ich wies spöttisch mit der Hand in Richtung der benachbarten Garage. Mrs. Glover wußte sehr wohl, daß ich meinen Jaguar niemals vor einer anderen Tür parkte.
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ls ich auf den Klingelknopf von Barbara Days Wohnung in Crawford House Mansions drückte, fiel mir ein, daß wenig mehr als zwölf Stunden vergangen waren, seitdem ich erwartungsvoll am selben Fleck gestanden hatte. Unwillkürlich wanderte mein Blick zum Fußboden; fast erwartete ich, daß unter dem Türrand langsam ein Schlüssel sichtbar würde, und zuckte zusammen, als die Tür plötzlich aufgerissen wurde. »Tim! … Mr. Frazer…« Es entging mir nicht, wie erleichtert ihre Stimme klang. »Hoffentlich falle ich Ihnen nicht zu ungelegener Zeit ins Haus«, begrüßte ich sie, da ich das Pelzcape über ihren Schultern bemerkte. »Aber meine wiederholten Versuche, Sie anzurufen…« Sie machte eine Geste, halb Willkommen, halb Entschuldigung. 53
»Oh, das tut mir leid. Hätte ich das gewußt … aber ich habe den ganzen Morgen über den Hörer ausgehängt. Diese Reporter haben mich bald zum Wahnsinn getrieben.« Sie biß sich auf die Lippen. »Und dann dieser Polizeibeamte mit seiner endlosen Fragerei…« Ich unterbrach sie schnell. »Ich hatte auch die Ehre des Besuches von Inspektor Trueman.« »Das habe ich befürchtet«, antwortete sie. »Ich mußte ihm Ihren Namen nennen, als Sie hier anriefen. Aber kommen Sie doch herein, Mr. Frazer.« Ich folgte ihr ins Wohnzimmer, das jetzt sauber aufgeräumt war. »Meine Freunde nennen mich Tim«, sagte ich und lächelte sie dabei an. Sie verzog reumütig das Gesicht. »Das ist mir so 'rausgerutscht, Tim.« Mit einer einladenden Handbewegung forderte sie mich auf, mich auf einen der mit Chintz bezogenen Sessel zu setzen. »Nehmen Sie doch Platz, Tim.« Sie ließ das Pelzcape von den Schultern gleiten. Darunter trug sie ein rotes Kleid und als einzigen Schmuck eine mit Diamanten eingefaßte Brosche. »Sie müssen verzeihen, wenn ich noch etwas geistesabwesend bin«, entschuldigte sie sich, während sie sich auf den gegenüberstehenden Sessel setzte und die Beine lässig übereinanderschlug. »Aber ich habe mich von dem Schock noch immer nicht ganz erholt. So etwas liest man zwar beinahe täglich in den Zeitungen, doch glaubt man nie, daß es einem selbst widerfahren könnte.« Ich nickte mitfühlend. »Als der Beamte es mir erzählte, hat es mich auch beinahe umgeworfen.« Ich holte mein Zigarettenetui hervor und öffnete es bedächtig. »Was ich an der ganzen Sache nicht begreifen kann, ist, daß es gerade Cordwell treffen mußte. Ich glaubte, er wäre schon längst wieder in den Vereinigten Staaten.« Erst jetzt blickte ich auf und sah sie aufmerksam an. Ihre Stirn umwölkte sich. »Ich kann das ja auch nicht fassen. Auch ich war absolut der Meinung, er wäre an dem Tage, nachdem 54
wir ihn im de Kroon getroffen hatten, nach Hause geflogen.« Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen.« Während ich ihr das Zigarettenetui hinhielt, fragte ich sie: »Hat er denn niemals erwähnt, daß er Sie besuchen würde, wenn er nach London kommen sollte?« »Er hat es nicht einmal angedeutet.« Sie nahm sich eine Zigarette und zündete sie an. »Dieser Kriminalbeamte wollte mich unbedingt dazu bringen, zuzugeben, wir hätten uns alle drei hier verabredet.« »Das hat er bei mir auch versucht, und er schien einigermaßen enttäuscht, als ich ihm sagte, Sie hätten Cordwell kaum gekannt.« Sie lächelte dankbar. »Es tut mir schrecklich leid, daß ich Sie in diese Sache hineingezogen habe. Aber was sollte ich tun? Ich mußte dem Beamten doch sagen, daß ich Sie um halb acht erwartete.« »Aber ich bitte Sie, Barbara. Sie konnten ja gar nicht anders handeln.« Zögernd hielt ich mein Feuerzeug in der Hand, um mir eine Zigarette anzuzünden. »Wollten Sie gerade ausgehen? Dann lassen Sie sich bitte durch mich nicht aufhalten.« Ihre Augen blickten mich lächelnd an. »Sie sind sehr rücksichtsvoll, Tim; aber so eilig habe ich es nun doch nicht. An sich erwarte ich Arthur um diese Zeit. Gewöhnlich schaut er auf dem Weg ins Büro kurz bei mir herein. Aber ausgerechnet heute morgen läßt er sich nicht blicken, und ich könnte doch so gut etwas Trost brauchen.« Sie trommelte mit den Fingern auf die Sessellehne. »Deshalb war ich gerade dabei, ihn meinerseits zu überfallen. Aber nach dem Asthmaanfall von gestern abend wird er sich heute vermutlich noch etwas elend fühlen.« »Ach so, aus diesem Grunde waren Sie auch nicht zu Hause, als ich zum ersten Mal hier anrief – das war so gegen Viertel nach sieben.« »Ja«, sie sah gelegentlich auf ihre Schuhspitzen. »Woher riefen Sie doch gleich an … war es nicht von Slough aus?« Sie ließ diese Frage 55
gewissermaßen im Raume stehen. In diesem Augenblick hatte ich einen Gedanken: Wenn ich meinen Besuch in Slough nebelhaft genug schilderte, dann konnte ich vielleicht den allzu genauen Nachforschungen vorbeugen, die Inspektor Trueman in dieser Richtung anstellen mochte. »An sich sollte ich es Ihnen ja gar nicht erzählen, Barbara. Aber ich war aufs Geratewohl dahin gefahren; ich wollte versuchen, bei einer der dortigen Ingenieurfirmen eine feste Stellung zu bekommen.« Ich lachte etwas gezwungen. »Als ich dann aber dort war, bin ich einigermaßen ziellos durch den Ort gewandert, studierte die Firmenschilder und versuchte mich zu überwinden, irgendwo quasi mit dem Hut in der Hand hineinzugehen und vorzusprechen. Am Ende hatte ich so viel Zeit vertrödelt, daß ich sogar unsere Verabredung nicht mehr einhalten konnte.« »Als ob das unter diesen Umständen noch etwas zu bedeuten hätte.« Ihr Gesicht wurde ernst. »Oder doch, es hätte etwas bedeutet, nicht wahr? Wenn Sie vielleicht um halb acht Uhr gekommen wären, dann wäre der arme Cordwell…« Ich durchbrach das nachfolgende Schweigen. »Wie ist er eigentlich in Ihre Wohnung gekommen, Barbara? Und warum war er hier?« »Bitte!« flehte sie mich an. »All das bin ich in der vergangenen Nacht mit dem Inspektor stundenlang durchgegangen.« »Ich hatte den Eindruck, er war nicht ganz davon überzeugt, daß Cordwell nur ein flüchtiger Bekannter von Ihnen gewesen ist.« In diesem Augenblick schien es mir angebracht, eine direkte Antwort von ihr zu erzwingen. »War er das wirklich nur, Barbara?« »Ich habe den Mann nie gesehen, bevor ich ihm in meinem Hotel begegnete«, antwortete sie ärgerlich. Mit einem Schulterzucken fügte sie dann müde hinzu: »Ich sollte es Ihnen doch lieber erzählen. Ich habe gelogen, als ich sagte, ich hätte ihn nach unserem Zusammensein bei de Kroon nicht mehr gesehen.« Sie wich meinem 56
Blick aus, als sie mit leiser Stimme fortfuhr: »Er kam am gleichen Abend noch in mein Zimmer.« »Und?« »Er wurde zudringlich.« Sie spreizte die Hände. »Es ist aber nichts passiert. Ich konnte ihn schnell zur Vernunft bringen, und als er ging, stammelte er als Entschuldigung irgendeinen Unsinn von Liebe auf den ersten Blick, seitdem er mich auf dem Flugplatz in London gesehen habe.« »Haben Sie das dem Inspektor erzählt?« Als sie den Kopf schüttelte, forschte ich: »Warum nicht?« »Damit er es Arthur gegenüber erwähnt?« fragte sie schnell zurück. »Und wenn er es täte?« Ich lächelte. »Fairlee wird sich doch sicherlich nicht einbilden, ein Verlobungsring ziehe eine Art Stacheldrahtzaun um eine attraktive Frau?« »Doch, ich bin überzeugt, daß er in diesem Glauben lebt. Vielleicht macht ihn sein Asthma so intolerant.« Ihre Augen hielten einen Moment lang die meinen fest. »Es ist absurd, aber ich glaube, er ist sogar auf Sie eifersüchtig.« Die Türglocke schrillte anhaltend. Ich lachte kurz. »Auf mich!« Wieder läutete es beharrlich. Sie erhob sich. »Es hat ganz den Anschein, als würden Sie jetzt doch noch mit Arthur zusammentreffen.« Während sie hinausging, drückte ich den Rest meiner Zigarette in einem Aschenbecher aus, der mit dem Wappen von Amsterdam geschmückt war. Eine schrille Stimme erklang aus dem Vorraum. »Was ist los, Barbara? Warum hast du nicht angerufen?« Man hörte jemanden schwer atmen. »Ein Polizeiinspektor war gerade bei mir und sagte…« Barbaras ruhige Stimme unterbrach ihn. »Bitte, Arthur, sei doch 57
nicht gleich so erregt. Denk an dein Asthma…« »Ich soll mich nicht aufregen!« Die Stimme wuchs zum Krescendo. »Du lieber Himmel, Barbara… Machst du dir eigentlich klar…« »Nun beruhige dich endlich, Arthur«, schnitt Barbara ihm scharf das Wort ab. »Mr. Frazer sitzt drin im Wohnzimmer.« »Frazer?« Fairlees Stimme überschlug sich fast vor Argwohn. »Frazer? Der Mann, den du im Flugzeug kennengelernt hast?« Ich konnte nicht verstehen, was sie ihm ermahnend zuflüsterte. Einen Augenblick später stand ich auf und murmelte konventionell: »Freut mich, Sie kennenzulernen«, zu einem hochaufgeschossenen, beinahe dürren Mann mit dunklem Mittelscheitel, kurz geschnittenem Schnurrbart und hakenförmiger Nase, der mich feindselig durch seine Hornbrille ansah. Als er ins Zimmer trat, hatte er seinen steifen Hut abgenommen; der untadelig gerollte Regenschirm vervollständigte das Bild. »Mr. Frazer«, stellte sie uns einander vor, »das ist mein Verlobter, Mr. Arthur Fairlee.« Er reichte mir eine kraftlose Hand. »Barbara hat von Ihnen gesprochen«, sagte er kalt und entzog mir seine Hand so rasch, als hielte ich ein schmutziges Taschentuch in der meinen. Dann wandte er sich sofort wieder Barbara zu. »Ich muß mit dir sprechen, Barbara. Aber allein, wenn ich bitten darf.« »Schon gut, Darling«, besänftigte sie ihn. »Mr. Frazer weiß, was geschehen ist. Deshalb ist er auch hier.« »Ich dachte mir, ich könnte vielleicht irgendwie behilflich sein«, schaltete ich mich schnell ein. »Schließlich ist es ja eine ziemlich üble Geschichte.« »Ziemlich übel? Du meine Güte, das ist aber stark untertrieben, wenn Sie gestatten!« Nach diesem Ausbruch hatte Fairlee Mühe, wieder normal atmen zu können. »Wer ist dieser Cordwell überhaupt? Ich verlange eine Erklärung, Barbara. Du hast ihn vorher niemals erwähnt.« 58
»So wichtig war er auch nicht«, entgegnete sie, wobei sie mir einen spöttisch-verzweifelten Blick zuwarf. »Eine ganz zufällige Bekanntschaft, die wir in Amsterdam gemacht haben.« Fairlee deutete anklagend mit der Spitze seines Regenschirms auf mich. »Sie haben diesen Cordwell auch gekannt?« »Ich bin ihm nur einmal begegnet. Miß Day und ich hatten uns zufällig getroffen und tranken einen Cocktail zusammen.« »Cocktail? Wir?« keuchte er, wobei er argwöhnisch den Blick zwischen Barbara und mir hin und her wandern ließ. »Wieso ist dieser Cordwell hierhergekommen? Ich bin schließlich kein Narr, Barbara. Da steckt doch mehr dahinter, als es auf den ersten Blick den Anschein hat.« Es berührte mich doch eigenartig, daß Barbara mit einem so neurotischen Querulanten verlobt war. Mit leicht sarkastischem Ton wandte ich mich an ihn: »Na, da sind Sie ja jetzt einer tollen Sache auf die Spur gekommen, Mr. Fairlee.« Er starrte mich giftig an. »Zu Ihnen habe ich nicht gesprochen, Sir.« Barbara seufzte. »Aber Arthur, bitte!« »Nehmen Sie sich gefälligst etwas mehr zusammen, Fairlee«, sagte ich jetzt grob zu ihm. »Miß Day hat ein sehr unangenehmes Erlebnis gehabt und braucht gerade jetzt Mitgefühl und keine haltlosen Vorwürfe.« Seine Lippen preßten sich einen Augenblick wütend zusammen, dann lächelte er frostig. »Sie haben recht. Entschuldigen Sie, Frazer.« Und zu Barbara gewandt: »Es tut mir leid, Liebling. Ich glaube, wir sollten jede weitere Diskussion unterlassen, bis ich etwas ruhiger geworden bin. Also dann, bis heute abend.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »In einer halben Stunde fängt meine Aufsichtsratssitzung an. Übrigens, Barbara, setz dich bitte mit deiner Teilhaberin in Verbindung. Sie hat mich heute schon dreimal angerufen, da sie dich nicht erreichen konnte.« 59
»Natürlich werde ich das, mein Lieber.« Barbara schlug einen versöhnlichen Ton an. »Ich schätze, Vivien wird wütend sein, weil ich bei ihrem Anruf gestern abend einfach aufgelegt habe.« Sie schauderte. »Vivien rief gerade in dem Augenblick an, als ich die Leiche entdeckt hatte.« Fairlees Augen folgten ihrer Blickrichtung. Als er antworten wollte, erklang die Türklingel. Barbara seufzte tief. »Will man mich denn heute überhaupt nicht mehr in Ruhe lassen?« »Wenn es Reporter sind, sage ihnen nichts!« sagte Fairlee in einem Befehlston. »Kein Wort, Barbara! Mein Name darf nicht erwähnt werden, verstehst du?« »Keine Sorge, Arthur, mit den Pressefritzen werde ich schon fertig.« Auf dem Weg zur Tür tätschelte sie beruhigend seinen Arm. Ärgerlich schlug Fairlee mit seinem steifen Hut gegen seinen Oberschenkel. »Eine Publizität dieser Art könnte mir ganz schön das Geschäft verderben.« Er starrte mich an, als sei ich für die Lage verantwortlich. »Ich bin nämlich Börsenmakler, Frazer.« »Ich glaube, Sie können sich darauf verlassen, daß Miß Day den richtigen Ton gegenüber den Zeitungsleuten findet«, beruhigte ich ihn. Dann holte ich mein Zigarettenetui hervor und hielt es ihm hin. Er lehnte ab und wies entschuldigend auf seine Brust. »Miß Day erzählte mir einmal, sie sei im Antiquitätenhandel tätig«, sagte ich, während ich mir die Zigarette anzündete. »Sie erwähnten vorhin eine Teilhaberin … Vivien…?« »Ja«, erwiderte er mürrisch. »Vivien Gilmore und meine Verlobte sind Teilhaberinnen.« Er sah sich ungeduldig um, da er es eilig hatte, in sein Büro zu kommen. Von der Tür her erklang Barbaras Stimme: »Es ist Inspektor Trueman, Darling.« Ich wandte mich um. Trueman stand aber bereits im Türrahmen und ließ seine Augen im Zimmer umherwandern, als nehme er von 60
allen Gegenständen Inventur auf. Als er meinem Blick begegnete, nickte er: »Guten Morgen, Sir.« Fairlee kehrte Trueman den Rücken zu und sagte: »Es ist schon sehr spät für mich, Barbara. Ich muß gehen.« Sein Regenschirm machte eine unbestimmte Bewegung in meine Richtung. »Kann ich Sie irgendwo absetzen?« Trueman räusperte sich. »Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich mich gern noch etwas mit Mr. Frazer unterhalten.« Fairlee warf mir einen nachdenklichen Blick zu, nickte dann kurz und ging an Trueman vorbei zum Ausgang. »Entschuldigen Sie mich bitte, Inspektor«, sagte Barbara heiter und geleitete Fairlee aus dem Zimmer.
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in behagliches Heim, nicht wahr, Sir?« Ich war Barbara mit den Augen gefolgt und sah, als ich mich Trueman wieder zuwandte, daß er mich mit leichtem Lächeln beobachtete. »Sehr gemütlich«, antwortete ich mit wacher Aufmerksamkeit. »Sie sind zum erstenmal hier, nicht wahr, Sir?« Mit einiger Mühe gelang es mir, völlig ruhig zu antworten: »Meines Wissens habe ich bereits heute früh klargestellt, daß ich gestern abend zum erstenmal hierher eingeladen wurde.« Mit spöttisch hochgezogenen Augenbrauen fragte er: »Und Sie konnten diese Verabredung nicht einhalten, stimmt's, Mr. Frazer?« Bevor ich antworten konnte, kam Barbara wieder ins Zimmer. Sie 61
schloß die Tür und wandte sich dann zu uns. »Aber bitte, meine Herren, nehmen Sie doch Platz.« Trueman griff sich einen Stuhl mit harter Lehne, genau den beiden Sesseln gegenüber, auf denen Barbara und ich vor wenigen Minuten noch gesessen hatten. »Miß Day«, begann er, während er seinen steifen Hut auf dem Knie placierte, »sagt Ihnen der Name Ericson etwas?« Ich inhalierte den Rauch meiner Zigarette und wartete auf ihre Reaktion. Völlig unbefangen wie jeder, der plötzlich mit einem fremden Namen konfrontiert wird, antwortete sie mit unschuldigem Blick: »Nein, leider gar nichts.« Trueman warf mir einen Blick zu. »Und Ihnen, Sir?« Ich schüttelte den Kopf. »Auch bei mir fällt kein Groschen. Oder müßte er?« »Nicht, wenn Cordwell nur ein flüchtiger Bekannter von Ihnen war«, gab er zu. »Es hätte uns bei unserem Bemühen geholfen, etwas mehr Licht in das Dunkel um die Person Cordwells zu bringen, wenn Sie den Namen gekannt hätten. Er stand in einem Notizbuch, das wir bei der Leiche gefunden haben. Augenscheinlich hatte er Verabredungen mit diesem Ericson für heute, morgen und übermorgen.« Truemans Ton wurde schärfer. »Miß Day, würden Sie mir bitte noch einmal sagen, wie oft Sie Cordwell in Amsterdam getroffen haben?« »Aber … ich muß schon sagen!« rief sie leicht erregt aus. »Das habe ich Ihnen doch alles schon ganz genau berichtet – es war nur ein einziges Mal, damals, als ich mit Mr. Frazer im Restaurant de Kroon war.« Trueman fuhr mit dem Fingernagel am Hutband entlang. »Würden Sie bitte genau nachdenken und mir die Frage dann noch einmal beantworten?« Ihre Entgegnung klang ein wenig dramatisch: »Wollen Sie damit sagen, daß ich lüge, Inspektor?« 62
Er zuckte ungerührt mit den Schultern und erklärte ruhig: »Wir haben unwiderlegbare Beweise dafür, daß Sie Cordwell noch bei einer anderen Gelegenheit gesehen haben, Miß Day.« Meine Haltung versteifte sich, als sie etwas weniger sicher fragte: »Darf man wissen, welcher Art diese Beweise sind, Inspektor?« Er beugte sich vor. »Es ist ein Schmalfilm, Miß Day. Wir fanden ihn bei der Leiche, und ich habe ihn mir vor einer knappen Stunde vorführen lassen. Er zeigt Aufnahmen von Amsterdam – Sie sind mehrfach darauf zu sehen. Eine Szene stammt aus dem Café de Kroon. Sie zeigt, wie Cordwell sich zu Ihnen an den Tisch setzt.« Er räusperte sich. »Die Aufnahmen machen den Eindruck, als ob Sie beide mehr als nur zufällige Bekannte waren.« Meine Reaktion auf den Aufschluß, den mir die Erklärung des Inspektors gab, wonach meine in Amsterdam gemachten Filmaufnahmen bei Cordwell gefunden worden waren, muß wohl zu auffällig gewesen sein. Das leicht maliziöse Lächeln Truemans ließ erkennen, daß er meinen Gesichtsausdruck jedoch auf andere Art deutete. »Sie scheinen bei dieser Gelegenheit nicht dabeigewesen zu sein, Mr. Frazer.« »Sie werden sicher überrascht sein, wenn ich Ihnen jetzt sage, daß diese Filmaufnahmen von mir gemacht wurden, Inspektor«, sagte ich bewußt aggressiv. Für einen Augenblick ließ ihn seine Weltgewandtheit im Stich. »Sie haben diese Aufnahmen gemacht, Sir?« Barbara richtete sich mit einem Ruck auf. Ihre Augen glänzten. »Tim! Aber natürlich! Sie haben mich gefilmt. Ich erinnere mich.« »Einen Augenblick«, warf Trueman ein, wobei sein Gesicht wieder den alten skeptischen Ausdruck annahm. »Wenn Sie diese Aufnahmen gemacht haben, Sir, wie kommen sie dann in Cordwells Tasche?« Ich glaubte die Antwort zu wissen, wollte mich aber nicht in eine Diskussion mit Trueman über den Film einlassen. »Das ist Ihre Sor63
ge, Inspektor. Ich kann Ihnen nur sagen, daß ich den Film irgendwo verloren habe – vermutlich in Amsterdam.« Trueman war ob dieser unerwarteten Entwicklung der Dinge enttäuscht. »Falls Ihnen noch etwas Genaueres einfallen sollte, lassen Sie es mich bitte wissen. Sie können stets eine Nachricht für mich beim Yard hinterlassen.« Er stand auf. »Das ist alles, glaube ich … für den Augenblick jedenfalls. Übrigens, Miß Day, Sie wollen doch in naher Zukunft nicht nach Amsterdam?« »Um Himmels willen, nein!« rief sie aus. »Wie kommen Sie darauf?« »Ich wollte nur sicher sein, daß ich Sie jederzeit erreichen kann, wenn ich Sie brauche.« Er stand steif da und sah nachdenklich auf sie hinab. Mit einem urplötzlichen »Ich finde schon allein hinaus« verließ er uns so hastig, daß wir uns verblüfft ansahen. Als die Wohnungstür sich hinter ihm geschlossen hatte, stieß Barbara einen Seufzer der Erleichterung aus. »Gott sei Dank, er ist fort!« Sie lächelte. »Ich wußte gar nicht, daß Sie so viele Aufnahmen von mir in Amsterdam gemacht haben, Tim.« »Ich habe Sie hin und wieder gesehen«, erwiderte ich geradeheraus. »Eine hübsche junge Dame, dachte ich, würde sich auf den Aufnahmen von Alt-Amsterdam besonders gut ausnehmen.« »Das finde ich reizend von Ihnen«, erwiderte sie mit Wärme. »Wo haben Sie mich denn überall gesehen?« »Och … beim Verlassen eines Museums, mal auf einer Brücke und dann beim Aussteigen aus einem Rundfahrtboot«, erklärte ich ziemlich lahm. Sie lächelte wieder. »An das eine Mal kann ich mich erinnern«, antwortete sie sanft, fast zärtlich. Ich wurde etwas verlegen und erhob mich deshalb. »Ich glaube, jetzt muß ich aber gehen.« »Es war wirklich reizend, daß Sie hergekommen sind und mich seelisch gestützt haben«, verabschiedete sie mich dankbar. »Typisch 64
für Arthur, mich gerade in dem Augenblick allein zu lassen, wo ich ihn am meisten gebraucht hätte.« An der Wohnungstür ermahnte ich sie: »Sie werden mich doch verständigen, wenn neue Ereignisse eintreten, Barbara?« »Natürlich.« Sie sah mir fest in die Augen. »Das verspreche ich Ihnen, Tim. Sie werden der erste sein, der etwas erfährt.« Vor der nächsten Telefonzelle hielt ich an, um Richards anzurufen. In gönnerhaftem Ton fragte er: »Nun, keine Neuigkeiten von der schönen Barbara?« »Erinnern Sie sich, daß ich einen Telefonanruf in Barbaras Wohnung entgegennahm, der für Miß Day bestimmt war?« »Das ging damals leider bei der Schilderung der unheimlichen Begleitumstände unter; ich meine, als Sie mir berichteten, wie Sie die Leiche fanden. Sie kamen nicht dazu, mir zu erzählen, was bei dem Telefonat besprochen wurde.« »Von mir wurde dabei überhaupt nichts gesagt«, antwortete ich, etwas verärgert über seine neckende Formulierung. »Der Anruf kam von einer Dame, die sich Vivien nannte. Sie fing sofort zu sprechen an. Soweit ich mich erinnere, sagte sie: ›Ich hatte recht, Barbara. Er ist wegen Ericson sehr neugierig…‹« Richards unterbrach mich. »Wie war der Name, bitte?« »Ericson.« Ich packte den Hörer fester. »Warum sollte ich den Namen wiederholen, Richards?« »Nichts weiter; ich hatte ihn nur nicht richtig verstanden«, wehrte er meine Frage ab. »Und was weiter?« »Also … diese Vivien hat sich jetzt als eine Miß Gilmore herausgestellt; sie ist Teilhaberin von Barbara Days Antiquitätengeschäft.« »Sind Sie schon in diesem Laden gewesen?« »Nein. Heute früh bin ich zu Barbaras – wollte sagen Miß Days Wohnung gegangen. Ihr Verlobter war anwesend, und ich habe die65
se Information mehr oder weniger zufällig und so nebenbei von ihm erhalten.« »Ist er endlich doch in Erscheinung getreten!« Richards lachte. »Was ist er denn für ein Typ?« »Ihnen sehr ähnlich, Richards, um das Kind beim Namen zu nennen. Ein absoluter Bastard.« Ich ließ ihn erst einmal sich das von der Galle reden, was er auf meine Anspielung loswerden mußte, und berichtete dann weiter: »Während ich in der Wohnung bei Miß Day war, tauchte ein Kriminalbeamter auf, ein gewisser Inspektor Trueman. Vorher, und zwar heute morgen, hatte er auch mich schon in meiner Wohnung durch den Wolf gedreht. Er sagte, man habe in Cordwells Tasche ein Notizbuch gefunden, in dem mehrere Verabredungen mit diesem Ericson festgehalten waren. Trueman warf Miß Day diesen Namen an den Kopf; die behauptete aber, er besage ihr gar nichts.« »Hm…« Richards schwieg einen Augenblick. »Glauben Sie, unser schönes Kind hat gelogen?« »Und ob sie das getan hat«, antwortete ich bissig. »Ich bin da ganz sicher. Als Vivien Gilmore anrief, hielt sie es für absolut selbstverständlich, daß Miß Day diesen Ericson kannte – und den Namen der Straße auch.« »Welcher Straße? Sie haben bisher nie einen Straßennamen erwähnt«, fuhr Richards ziemlich scharf fort. »Aus dem einfachen Grunde, weil ich den Namen vergessen habe«, erwiderte ich, wobei ich mich im Spiegel der Telefonzelle ärgerlich betrachtete. »Er lautete so ähnlich wie Lennox Street; kann auch Lenley … Lenton … oder so ungefähr geheißen haben. Der Name liegt mir auf der Zunge.« »Lassen Sie sich einen grundsätzlichen Tip geben, Frazer. Sobald Sie einen Namen hören, schreiben Sie ihn sich sofort auf … irgendwo, und wenn es auf Ihrer Manschette ist. Auf jeden Fall notieren.« Dann lachte er entschuldigend. »Tut mir leid, Frazer, wenn 66
ich hier wie ein Spieß vor der angetretenen Kompanie rede. Aber etwas, was Sie zu allererst eisern praktizieren müssen, ist, sich nie auf Ihr Gedächtnis zu verlassen. Ich werde mal nachsehen, ob wir in unseren Akten etwas über Ericson haben. Und vergessen Sie nicht, mich anzurufen, sobald Ihnen der Straßenname eingefallen ist.« Unweit der Telefonzelle lag eine kleine Kneipe, die ganz passabel aussah. Ich parkte meinen Wagen davor, ging hinein und ließ mir ein Käsebrot und einen Krug Bitterbier bringen. Dann fuhr ich zu meiner Wohnung zurück, wobei ich mehrfach gerade noch bei Gelb über die Kreuzungen huschte, mehr darauf bedacht, mich des Straßennamens zu erinnern als auf den Verkehr zu achten.
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ch zog den Schlüssel aus dem Schloß der Wohnungstür und wollte gerade meinen Zigarettenstummel im Aschenbecher auf dem Garderobentisch der Diele ausdrücken, als ich ein leises Rascheln von Papier aus meinem Wohnzimmer hörte. Dann wurde eine Schublade aufgerissen. Meine Haushälterin, Mrs. Glover, konnte es nicht sein; sie ging stets Punkt zwölf Uhr nach Hause. Vorsichtshalber ließ ich die Wohnungstür weit offen, ging leise durch den Vorflur und lugte durch den Spalt der nur leicht angelehnten Wohnzimmertür. Alles, was ich von diesem Blickwinkel aus sehen konnte, war eine Hand, die in den Papieren auf meinem Schreibtisch herumwühlte. Behutsam schob ich die Zimmertür ein wenig weiter auf. Ein 67
Mann in grauem Maßanzug stand mit dem Rücken zu mir. Die schlanke Taille und die kraftvollen breiten Schultern warnten mich, daß ich wahrscheinlich jedes Quentchen der zehn Jahre Altersunterschied zwischen uns beiden in die Waagschale würde werfen müssen, sollte es zu einer physischen Kraftprobe kommen. Ich trat ins Zimmer und sprach ihn in ruhigem Ton an: »Geld werden Sie dort kaum finden, wenn es das ist, was Sie suchen.« Er wirbelte herum, und wir starrten uns schweigend an, wobei jeder die Kräfte des anderen abschätzte. Er hatte dunkle Augen; über dem harten Mund zierte, wie von einem Bleistift gezogen, ein schmaler Schnurrbart sein bleiches Gesicht. Er war einer von den Typen, wie man sie in den Westend Bars antrifft, wenn sie dort die letzten Rennergebnisse studieren und es vermeiden, einem Fremden direkt in die Augen zu sehen. Er vermied es auch, meinem Blick zu begegnen, als ich ihn fragte: »Darf ich mir die Frage erlauben, wer Sie sind?« Er setzte ein dünnes Lächeln auf. »Diese Frage möchte ich Ihnen zurückgeben. Wer sind Sie, Frazer?« »Immerhin kennen Sie wenigstens meinen Namen«, gab ich zur Antwort, trat zu einem Tisch und griff nach dem Telefon. »Vielleicht ziehen Sie es vor, daß die Polizei die Fragen stellt.« »Lassen Sie die Finger vom Telefon, Frazer!« Meine Hand zuckte zurück, als sei sie von einer Wespe gestochen worden. Ich blickte in die Mündung eines 38er Revolvers. »Nun mal 'raus mit der Sprache«, forderte er mich auf. »Warum beschatten Sie Barbara Day?« »Ich sie beschatten? Wir sind befreundet.« »Sie waren es nicht, bevor Sie sich im Flugzeug kennenlernten.« »Woher wissen Sie das?« »Wir wissen es. Das muß Ihnen genügen!« antwortete er scharf und knapp. »Und jetzt möchten wir gern etwas über Sie wissen, Frazer.« 68
Während dieses Wortwechsels hatte ich fieberhaft nachgedacht. Mein Wohnzimmer hatte Parkettfußboden, auf dem hier und da Läufer lagen. Mrs. Glover hatte heute früh gewachst. Keine Rose hatte mir bisher so lieblich geduftet wie der durchdringende Wachsgeruch, der mir jetzt in die Nase stieg. »Na schön; Sie sind im Vorteil«, lenkte ich mit einem Kopfnicken auf seine Pistole ein. »Aber warum sollen wir bei Adam und Eva anfangen; kommen wir doch lieber gleich zur Sache.« Bei diesen Worten blickte ich auf das Ende meiner Zigarette. Er folgte meinem Blick, was ich ausnutzte, um einen Schritt vorwärts zu tun. »Was wollen Sie eigentlich von mir?« »Mimen Sie nicht den Ahnungslosen«, entgegnete er. »Was haben Sie mit ihnen angestellt?« »Mit ihnen angestellt?« Diesmal brauchte ich meine Überraschung nicht vorzutäuschen. Er hantierte ungeduldig mit der Pistole. »Wollen Sie, daß ich es Ihnen buchstabiere?« Der Mann stand auf einem schmalen Läufer neben dem Schreibtisch. »Also gut. Von mir aus. Vielleicht sollte ich doch…«, begann ich und stieß dann einen Schmerzensruf aus. »Verdammt!« rief ich, und ließ den Zigarettenstummel fallen. »Vor lauter Antworten auf Ihre dummen Fragen verbrenne ich mir noch die Finger.« Ich bückte mich nach dem Zigarettenstummel und griff mit einer plötzlichen Bewegung nach dem Ende des Läufers vor mir. Er war dünn und glitt über den gewachsten Boden, als wäre dieser aus blankem Eis. Der Mann stürzte rückwärts hin, wobei ihm die Pistole aus der Hand fiel und bis zur gegenüberliegenden Wand rutschte. Ich wollte sie mit einem großen Sprung ergreifen; doch rollte er sich mir in den Weg, packte mich an einer Ferse und riß mich ebenfalls zu Boden. Im nächsten Augenblick war er auch schon über mir. Ich hatte die gewaltige Kraft seiner breiten Schultern schon richtig eingeschätzt. 69
Jetzt, da ich flach mit der Nase darauf lag, roch mir das Wachs gar nicht mehr so lieblich wie vorhin. Ich umklammerte eines seiner Beine mit meinem linken Bein, nutzte dann meine ganze Körperkraft dazu, um mich mit der flachen Hand vom Boden abzudrücken, und rollte ihn über mich. Dann hob ich den Kopf und sah mich blitzschnell nach der Pistole um; sie lag nur etwa fünfzehn Zentimeter von meiner linken Hand entfernt. Ich griff danach … dann krachte etwas auf meinen Kopf, und ich versank in einen gähnenden, pechschwarzen Abgrund… Ein dumpfer, rhythmischer Schmerz im Innern meines Kopfes weckte mich. Ich war groggy und völlig bewegungsunfähig. Ganz oben, am Rand des Abgrunds, gab es Stimmen und Helligkeit. Langsam kämpfte ich mich an die Oberfläche … dann schien der Wachsgeruch mir das Bewußtsein zurückzugeben. Die Stimme des Mannes, mit dem ich gerungen hatte, berichtete gerade: »Nein, im Schreibtisch waren sie nicht.« »Er hat sie aber auch nicht bei sich«, erwiderte eine andere Stimme. Es war eine kultivierte Stimme, welche die Worte mit der Präzision eines Menschen wählt, der sich nicht in seiner Muttersprache ausdrückt. »Ich würde es nicht getan haben, Lloyd; aber im nächsten Augenblick hätte er die Pistole gehabt.« Mein Angreifer lachte kurz. »Der ist zäher, als er aussieht.« »Ich will es hoffen«, bemerkte der andere ernst. »Was ist mit dem Schlafzimmer, Lloyd? Du solltest dich auch dort gründlich umsehen.« Die Tür zum Schlafzimmer wurde geschlossen. Dann spürte ich eine Hand in der inneren Jackentasche. Mein Zigarettenetui wurde mir abgenommen. Ich verharrte regungslos, bis ich hörte, wie das Etui auf den Schreibtisch gelegt wurde. Ganz langsam bewegte ich den Kopf so weit, daß ich den zweiten Unbekannten wenigstens 70
aus einem Augenwinkel sehen konnte. Er wandte mir den Rücken zu und schien gerade etwas zu schreiben. Er war untersetzt und jünger als der Mann, den ich beim Durchsuchen meines Schreibtisches ertappt hatte. Sein blondes Haar war am Hinterkopf und an den Seiten kurz geschnitten. Er machte den Eindruck eines Mannes, der großen Wert auf sein Äußeres legt. Dann hörte ich mein Zigarettenetui zuschnappen und schloß die Augen, als er sich mir wieder zuwandte. Als er mir das Etui wieder in die Tasche schob, kehrte der andere, den er Lloyd genannt hatte, aus dem Schlafzimmer zurück. »Auch da ist nichts zu finden.« »Ich habe so das Gefühl, daß du dich getäuscht hast, Lloyd. Ich glaube nicht, daß Frazer mit den anderen in Verbindung steht.« Aus dem Klang seiner Stimme schloß ich, daß er dicht neben mir stand. »Mir kommen schon selbst Zweifel…« Lloyd brach mitten im Satz ab und meinte dann: »Nun, wir werden ja sehen, wie die Dinge sich weiterentwickeln. Wir wollen lieber gehen, bevor er wieder zu sich kommt!« Ich wartete, bis die Wohnungstür hinter den beiden zugefallen war. Dann rollte ich mich auf die Seite und stand mühsam auf. In meinem Kopf hämmerte es schlimmer als zuvor, und als ich mit der Hand behutsam den Hinterkopf abtastete, fühlte ich eine große Beule. Es war aber kein Blut daran. Mit wackeligen Beinen stakste ich zum Tisch mit den Getränken und goß mir einen doppelten Whisky ein, den ich mit einem Ruck hinunterkippte. Während ich noch mit weichen Knien dastand und auf das leere Glas starrte, begann der Whisky wohltuend zu wirken. Das Zigarettenetui fiel mir ein. Unter die Zigaretten war ein kleiner Zettel geschoben. Ich holte ihn hervor, faltete ihn auseinander und sah, daß nur zwei Worte darauf gekritzelt waren: LENNARD STREET. »Lennard Street«, murmelte ich vor mich hin. »Natürlich, ja! Das 71
war es doch. Lennard Street!« Ich stand noch so unsicher auf den Beinen wie ein neugeborenes Kalb und war nicht imstande, zusammenhängend zu denken. Deshalb beschloß ich, erst einmal unter die Dusche zu gehen. Anschließend streckte ich mich auf der Couch aus und überlegte nochmals in aller Ruhe, was sich seit dem Augenblick ereignet hatte, als ich meine Wohnung betreten hatte. Aus dem, was der Mann namens Lloyd zu mir gesagt hatte, ließ sich schließen, daß man einen Gegenstand bei mir vermutete. Seine Frage »Was haben Sie mit ihnen angestellt?« konnte auf alles mögliche bezogen werden, auf geheime Pläne ebenso wie auf Banknoten. Was auch immer dieses ›Etwas‹ sein mochte: Der Unbekannte war gewillt gewesen, die Pistole zu gebrauchen, um in seinen Besitz zu gelangen. Wo aber paßte Barbara Day in dieses Geschehen hinein? Und warum wollte er wissen, aus welchem Grunde ich sie beschattet hatte? Plötzlich fiel mir die holländische Trachtenpuppe ein. Ich sah sie im Geiste vor mir liegen, aufgerissen, neben der Leiche. Hatte Cordwell dieses ›Etwas‹ bei sich getragen? In der Puppe versteckt? Einen Augenblick lang fragte ich mich, ob ich vorhin wohl Cordwells Mörder gegenübergestanden hatte. Diesen Gedanken gab ich aber schnell wieder auf. Der Angreifer würde das, was er gesucht hatte, in der Puppe gefunden haben. Die beiden Eindringlinge standen aber offensichtlich unter dem Eindruck, ich hätte Cordwell umgebracht und beraubt. Nach dem flüchtigen Blick, den ich auf ihn hatte werfen können, und den Bruchstücken der Unterhaltung, die ich mitgehört hatte, schien mir der zweite Mann der intelligentere von beiden zu sein. Daß er über meine Person im unklaren war, ging aus seinen Äußerungen hervor. Warum aber hatte er mir den Zettel ins Zigarettenetui gesteckt? Behutsam tastete ich an der Beule an meinem Hinterkopf herum. 72
Sie schien nicht von einem Pistolenknauf zu stammen, da die Kopfhaut unverletzt war. Beim Nachhausekommen hatte nicht das geringste Anzeichen an der Wohnungstür auf einen Einbruch hingedeutet. Die beiden schienen also den alten Trick der Einsteigediebe angewendet und einen Streifen Zelluloid ins Schnappschloß geschoben zu haben. Zumindest der zweite Mann sah nicht wie ein Ganove dieser Gattung aus; auch seine Sprechweise klang nicht danach. Morgen, nachdem ich eine Nacht geschlafen hatte, wollte ich mir mal die Lennard Street ansehen. Richards aber sollte erst etwas erfahren, wenn ich mir selbst ein Bild von der Lage gemacht hatte.
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ch fand die Lennard Street im Straßengewirr südlich des Hydeparks. Es war eine ziemlich belebte Straße, die von vielen Kraftfahrern benutzt wurde, um den Weg zur Brompton Road abzukürzen. Nachdem ich meinen Wagen in einer stillen Seitenstraße geparkt hatte, ging ich zurück zur Lennard Street. Wonach suchte ich eigentlich hier? Diese Überlegung stellte ich an, während ich in die Schaufensterscheibe einer Espressobar blickte. Plötzlich merkte ich, daß mein Blick auf einer eigenartigen Trachtenpuppe ruhte, einem kleinen Holländer, der auf einem winzigen Fahrrad saß. Ich sah mir die anderen Gegenstände im Schaufenster an. Da waren ein Paar Holzschuhe, einige bastgeflochtene Blumenkörbe mit Tulpen darin und das Modell einer Windmühle. Ein Blick auf den in Goldschrift 73
quer über die Scheibe gemalten Namen verriet mir, daß diese Espressobar Der Deich hieß. Ich beschloß, hier eine Tasse Kaffee zu trinken. Es war die typische Espressobar, wie man sie in jeder größeren Stadt findet. Die wie eine Miniatur-Jukebox aussehende Kaffeemaschine stand in der Mitte einer langen Theke. Davor waren ein paar hohe Barhocker für Gäste aufgestellt, die es eilig hatten. Für Besucher, die sich zu einem längeren Gespräch niederlassen wollten, standen Tische und Stühle an der gegenüberliegenden Wand. Der holländische Stil des Lokals, auf den schon die Schaufensterauslagen hinwiesen, trat innen noch stärker in Erscheinung. An den Wänden hingen große Plakate, die mit farbenfrohen Bildern für den Besuch Hollands warben. An einem Ende des Schanktisches hing das mannsgroße ausgeschnittene Bild einer Windmühle. Ich zwängte mich auf einen Barhocker. Im Spiegel hinter der Theke konnte ich alle Tische gut im Auge behalten. Nur ein Gast saß dort, eine fesche Blondine in enganliegendem smaragdgrünem Kleid. Ein müde und mißmutig aussehendes Mädchen in holländischem Trachtenrock mit lang herunterhängendem, strähnigem Haar räumte ein benutztes Kaffeeservice vor mir weg. »Was darf es sein, Sir?« fragte sie. Ich bestellte einen Kaffee und sah gelangweilt zu, wie sie mit dem Monstrum von Kaffeemaschine hantierte. Als sie mit den paar Zentimetern Kaffee unter einer braunen Schaumkrone zu mir zurückkehrte, rief das Mädchen am Tisch: »Zahlen bitte, Carol.« Die Kellnerin murmelte ein unfreundliches »Komme«. »Wie geht es Jan?« fragte die Dame in Grün, während sie ihr Make-up auffrischte. »Erwarten Sie ihn heute zurück?« Die Serviererin fuhr sich nervös über die Augen. »Es geht ihm schon besser. Heute nachmittag wird er wahrscheinlich wieder dasein, Miß Gilmore.« 74
Ich war gerade dabei, mir eine Zigarette anzuzünden. Bei der Nennung dieses Namens umspannte meine Hand das Feuerzeug unwillkürlich fester, und ich riskierte einen Blick auf Miß Gilmore. Sie war ungefähr Mitte Dreißig, sah aber noch recht attraktiv aus und wirkte etwas hochmütig. Sie hatte hellblaue, durchdringende Augen, und ihr Mund war um eine Nuance zu groß. Unsere Blicke begegneten einander, und ich wandte schnell den Kopf zur Seite. In diesem Augenblick hatte ich das Gefühl, als bekunde sie ein mehr als zufälliges Interesse für mich. Aber ich war wohl im Moment für Eindrücke überempfänglich; die Straßenangabe in meinem Zigarettenetui und die Anwesenheit von Vivien Gilmore in einer Espressobar in dieser Straße, in deren Schaufenster eine holländische Trachtenpuppe auf einem Miniaturfahrrad saß, machten es mir unmöglich, an einen reinen Zufall zu glauben. Im Spiegel beobachtete ich, wie die Kellnerin Vivien Gilmore die Rechnung überreichte. Vivien klappte ihre Puderdose zu und fragte in gelangweiltem Ton: »Was fehlt Jan eigentlich, hat er die Grippe?« »Ach, die übliche Geschichte mit seinem Magen«, antwortete Carol. »Ich werde froh sein, wenn er wieder da ist. Das ist doch keine Art, mich hier mit der ganzen Arbeit allein zu lassen.« Ein Postbote trat ein, winkte mit einem Bündel Post in Carols Richtung und knallte die Briefpost neben mir auf die Theke. »Nun ist es doch wieder schön geworden«, sagte er. »Wirklich?« fragte Carol. »Ich merke ja doch nichts davon.« Mein Blick fiel auf den Stoß Briefe neben mir. Das meiste schienen Rechnungen zu sein, abgesehen von einem lederfarbenen, dicken Umschlag, der seinem Umfang nach eine Broschüre enthalten mußte. Meine Aufmerksamkeit wurde sehr schnell wieder auf den Spiegel gelenkt, als ich hörte, daß die Tür geöffnet wurde und Vivien Gilmore »Barbara!« rief. 75
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ch hörte das Klappern ihrer Absätze und sah, als sie in mein Blickfeld kam, daß sie ein gelbes Kleid ohne Ärmel mit schwarzem Besatz trug, dazu schwarze Handschuhe und keinen Hut. Rasch ging sie durch das Lokal zu Vivien Gilmores Tisch. »Verzeih, daß ich so spät komme, Vivien«, entschuldigte sie sich. »Ich blieb im Verkehrsgewühl stecken, und dann hat es lange gedauert, bis ich einen Parkplatz fand.« »Ich überlegte schon, was dich aufgehalten haben könnte«, erwiderte Vivien blasiert und warf dabei einen Blick auf ihre Uhr. »Du hast gerade noch Zeit, einen Kaffee zu trinken. Dann müssen wir aber schleunigst nach St. Albans.« »Meinst du, daß es die Fahrt lohnt?« fragte Barbara zögernd. »Auf jeden Fall«, antwortete Vivien. »Wie ich gehört habe, wird die Konkurrenz dort vollzählig anwesend sein.« Aus der sich entspinnenden Unterhaltung entnahm ich, daß die beiden Damen sich verabredet hatten, in St. Albans eine Versteigerung antiker Möbel zu besuchen. Wenn ich gehofft hatte, der Konversation auch nur den geringsten Anhaltspunkt in bezug auf den Zettel entnehmen zu können, der mich hierher in die Lennard Street geführt hatte, wurde ich enttäuscht. Ihr Gespräch hatte nicht mehr Bedeutung als das Geschwätz, das man zufällig irgendwo in einer Straßenbahn hört. Ich hatte konzentriert in den Spiegel gestarrt – und natürlich geschah das Unvermeidliche: Barbara wandte den Kopf in meine Richtung und runzelte leicht die Stirn. Dann aber lag ein Lächeln des Erkennens in ihrem Gesicht. »Wer ist das?« fragte Vivien scharf, während ich von meinem 76
Hocker glitt und zu ihrem Tisch hinüberging. »Hallo… Guten Tag!« begrüßte ich sie. »Das ist aber eine Überraschung.« »Ja, nicht wahr?« antwortete Barbara in einem Ton, der einen Anflug von Skepsis verriet. Dann sagte sie zu ihrer Begleiterin: »Vivien, darf ich dir Mr. Frazer vorstellen? Wir haben uns in Amsterdam kennengelernt.« Und zu mir gewandt: »Vivien Gilmore, meine Teilhaberin.« Vivien erwiderte meinen Gruß mit kühlem Kopfnicken. Barbara spürte, daß Viviens Gleichgültigkeit mir das Gefühl gegeben hatte, ein unwillkommener Störenfried zu sein, und sagte schnell: »Kommen Sie, Tim. Setzen Sie sich zu uns.« Ich zog mir einen Stuhl vom nächsten Tisch heran und fragte: »Hoffentlich habe ich kein wichtiges Gespräch unterbrochen?« »Nur eine Aufsichtsratssitzung«, erwiderte Barbara mit vorgetäuschtem Ernst. »Die Jahreshauptversammlung von Day und Gilmore.« Sie mußte lachen. »Wir machen nur gerade unsere übliche Frühstückspause, Tim. Unser Antiquitätengeschäft ist gleich hier um die Ecke, wie Sie wissen.« Ich zog mein Zigarettenetui heraus. »Nein, das wußte ich nicht. Aber … ich bin sehr erfreut, daß es so ist.« Barbara sah mich verständnisinnig an. »Liegt das hier nicht ziemlich außerhalb Ihres Weges? Ich habe Sie hier noch nie gesehen.« »Ich bin auch zum erstenmal hier. Das Büro einer Ingenieurfirma, mit der ich geschäftlich zu tun hatte, liegt ein Stück weiter unten in der Straße«, erklärte ich ihr und bot den Damen Zigaretten an. »Leider muß ich gestehen, daß es sich um einen unserer Gläubiger handelt. Ich wollte nur schnell eine Tasse Kaffee trinken, bevor ich um elf Uhr mit dem Prokuristen verhandle.« Vivien Gilmore stand unvermittelt auf. »Entschuldigen Sie mich bitte, aber ich muß zurück ins Geschäft.« Ich erhob mich ebenfalls und erwiderte förmlich: »Es tut mir leid, 77
wenn ich Sie aufgehalten habe.« Barbara hielt mich zurück. »Setzen Sie sich doch wieder, Tim. Wir wollen uns in St. Albans nur einige Antiquitäten ansehen. Es genügt, wenn wir in etwa zehn Minuten abfahren.« »Dann also bis gleich im Laden«, verabschiedete sich Vivien Gilmore und schenkte mir ein frostiges Lächeln. »Die arme Vivien«, seufzte Barbara und nahm sich eine Zigarette aus meinem Etui, das ich offen auf den Tisch gelegt hatte. »Ich fürchte, Sie haben sie nicht gerade in bester Laune erlebt. Es ist wegen der Sache mit Cordwell. Sie macht sich Sorgen wegen der unerwünschten Publizität – es könnte dem Geschäft schaden.« »Auch das geht vorbei«, beruhigte ich sie, während ich ihr das Feuerzeug hinhielt. »Ich würde mich dadurch nicht unterkriegen lassen.« »Das tue ich auch nicht. Aber Vivien bedeutet das Geschäft so ziemlich alles.« Sie sah mir zu, wie ich meine Zigarette anzündete. »Wissen Sie, ich bin vom Geschäft nicht abhängig, zumindest nicht – finanziell.« »Ach so, ich verstehe«, antwortete ich schnell. So gern ich es getan hätte – dies war kein Thema, das ich weiter verfolgen konnte. »Da ich nun schon Ihr Gespräch unterbrochen habe – darf ich Ihnen jetzt einen Kaffee bestellen?« »Danke, nein. Ich kann Vivien nicht länger warten lassen. Sie will unbedingt an Ort und Stelle sein, bevor die Auktion beginnt.« Ihre Augen blieben auf meinem Gesicht haften. »Es freut mich aber, daß ich Sie getroffen habe, Tim. Ich habe übrigens versucht, Sie telefonisch zu erreichen, bevor ich hierherkam.« Sie warf einen Blick auf das Mädchen, das die Kaffeemaschine polierte, und erklärte dann: »Jetzt ist keine Zeit mehr dafür. Aber ich muß mich so bald wie möglich mit Ihnen unterhalten, Tim.« Plötzlich wirkte sie verloren und hilflos. »Wann werden Sie zurück sein?« fragte ich. 78
»Heute abend gegen sieben Uhr, schätze ich.« »Kommen Sie doch auf einen Drink bei mir vorbei, sobald Sie wieder zurück sind.« Nach kurzem Zögern nickte sie. »Gut, Tim. Ich werde kommen, sagen wir, so gegen halb acht.« Sie zerdrückte nachdenklich den Rest ihrer Zigarette im Aschenbecher. Dann stand sie auf. »Vielen Dank, Tim.« Ich sah ihr nach, als sie draußen am Schaufenster vorbeiging. Meines Erachtens mußte sie in einem Pensionat erzogen worden sein, wo jungen Mädchen gute Körperhaltung beigebracht wird. Dann aber verscheuchte ich ihr reizendes Bild aus meinen Gedanken und überlegte, was sie mir wohl heute abend zu sagen hätte. Das Läuten des Telefons hinter der Theke erinnerte mich daran, daß dort immer noch mein Kaffee unberührt stand. Ich kehrte zu meinem Hocker zurück. Der Kaffee war nur noch lauwarm, und ich wollte gerade einen neuen bestellen, als ich sah, daß die Serviererin telefonierte. »Ich bin wirklich froh, daß es Ihnen wieder besser geht«, erklärte sie in unterwürfigem Ton. »Alle Stammgäste haben schon nach Ihnen gefragt…« Ich hörte nur mit halbem Ohr auf ihren Monolog und beschloß, keinen neuen Kaffee mehr zu bestellen, sondern gleich zu zahlen. In diesem Augenblick legte sie den Hörer nieder und blätterte die auf der Theke liegende Post durch. Sie zog den großen Umschlag heraus und riß ihn auf, wobei ein Katalog zum Vorschein kam. Ich warf einen uninteressierten Blick darauf, dann aber blieben meine Augen an dem farbenfrohen Umschlag haften. Es war ein Katalog für Tulpenzwiebeln. Nach einem kurzen Blick auf den Katalog eilte das Mädchen zum Telefon zurück. »Es stimmt, Sir. In dem großen Umschlag ist ein Tulpenkatalog.« Sie lauschte einen Augenblick und verabschiedete sich dann von ihrem Gesprächspartner: »Ich werde froh sein, wenn 79
Sie wieder da sind, Sir.« Damit legte sie auf. Ich zahlte und verließ das Lokal. An sich gab es keinen Grund, warum ein Mann mit dem holländischen Namen Jan, der eine holländische Espressobar leitete, nicht einen Tulpenkatalog geschickt bekommen sollte – schließlich standen mindestens zwanzig Schalen mit Tulpen im Raum verteilt. Und warum sollte er angesichts des ganzen holländischen Lokalkolorits nicht auch die gleiche Trachtenpuppe im Schaufenster ausstellen, wie Cordwell sie bei sich hatte? Und dennoch: Die Puppe und der Tulpenkatalog zusammen mußten doch mehr als ein Zufall sein. Allerdings handelte es sich, soweit mir bekannt war, um die einzige holländische Espressobar in ganz London. Nun wollte ich doch zu gern erfahren, wie Charles Ross auf diese neue Entwicklung reagieren würde. Ich hielt Ausschau nach der nächsten Telefonzelle.
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ine Stunde später saß ich meinem Chef im Rauchsalon seines Klubs gegenüber und nippte an einem Sherry. Ich lächelte in mich hinein; aus dem Klang meiner Stimme am Telefon hatte er wohl geschlossen, ich sei schlechter Laune. Daher hatte er, was typisch für ihn war, für unsere Aussprache einen Ort gewählt, wo ein ungeschriebenes Gesetz es jedem Gast unmöglich machte, sich mit dem Gastgeber in eine hitzige Diskussion einzulassen. Schweigend widmete er sich seinem Getränk und gab mir Gelegenheit, mich innerlich zu sammeln. Als er schließlich sein Glas auf den Tisch stellte, fragte er in leichtem Konversationston: »Nun, 80
Frazer, was haben Sie auf dem Herzen?« »Den Fall Salinger, Sir«, erwiderte ich trocken. »Es hat sich da einiges ereignet, worüber ich gern mit Ihnen gesprochen hätte.« »Ich dachte es mir schon, daß sich da noch etwas entwickeln würde«, erwiderte er. »Versuchen Sie bitte, die Dinge so anschaulich und sachlich wie möglich zu schildern.« »Ich möchte mit einem Namen beginnen«, fuhr ich fort und lehnte mich in meinem Ledersessel zurück. »Ericson. Ich habe bereits Richards von einem Telefonanruf Vivien Gilmores berichtet, den ich am Abend von Cordwells Ermordung in Barbara Days Wohnung entgegennahm und bei dem sie den Namen Ericson erwähnte.« Sein Gesicht verriet kaum mehr als höfliches Interesse. Ich legte eine kurze Pause ein und streckte dann die Fühler aus: »Mir schien, daß Richards den Namen schon kannte.« »Das ist möglich«, erwiderte Ross. Jetzt ließ ich meinem Unwillen etwas freien Lauf. »Das hat doch so keinen Zweck, Mr. Ross«, protestierte ich. »Sie müssen wir schon so weit vertrauen, daß Sie mich ausreichend über die Hintergründe des Falles Salinger aufklären.« Er griff nachdenklich nach seinem Glas. Zu meiner Überraschung ging er auf meinen Protest ein. »Das ist ein verständliches Verlangen, Frazer. Die Dinge sind jetzt wohl auch so weit gediehen, daß ich Sie mehr ins Vertrauen ziehen kann.« Er stellte das Glas auf den Tisch zurück, lehnte sich in seinen Sessel und fuhr fort: »Während der letzten zwölf Monate hat eine gewisse verbrecherische Organisation Interpol viel Arbeit verursacht. Die Beamten von Interpol haben allen Grund zu der Annahme, daß ein gewisser Ericson Chef dieser Bande ist.« »Und womit befaßt sich diese Organisation?« stieß ich nach, als er stirnrunzelnd in sein vorheriges Schweigen zurückfiel. »Mit gestohlenen Diamanten«, antwortete er, aus seinen Gedan81
kengängen aufgescheucht. »Sie werden vom Kontinent nach England geschmuggelt. Ericsons kleine Gruppe hat ein ausgezeichnet funktionierendes System aufgebaut, sie zu kaufen und zu verkaufen.« Ich trommelte unzufrieden mit den Fingern auf die Sessellehne. »Aber gestohlene Diamanten gehen doch eigentlich nur die Polizei etwas an. Ich kann immer noch nicht erkennen, welches Interesse gerade Ihre Dienststelle an einer solchen Sache haben kann.« »An Ericsons Organisation sind wir direkt auch nicht interessiert. Das ist eine Angelegenheit der Polizei«, bestätigte er. »Es gibt da aber zwei Berührungspunkte mit meiner Abteilung. Einige der nach England geschmuggelten Diamanten sind Industriediamanten, mit denen lebhafte Geschäfte getätigt werden, und zwar hauptsächlich durch ausländische Agenten.« Er lächelte. »Ich habe Interpol bereits eine Liste der möglicherweise in Frage kommenden Agenten übermittelt!« »Verstehe«, erwiderte ich, was jedoch nicht ganz den Tatsachen entsprach, denn ich wußte immer noch nicht, worauf er hinauswollte, und fragte daher: »Aber wo ist hier das Bindeglied zu Barbara Day? Oder, besser gesagt, zu Leo Salinger?« »Das ist der zweite der beiden Berührungspunkte, die ich vorhin erwähnte – für mich übrigens der wichtigste.« Das Gesicht von Ross verdüsterte sich. »Vor zwei Monaten wurde mir berichtet, die Polizei von Amsterdam habe Salinger in Verdacht, in diese Diamantenaffäre verwickelt zu sein. Sie werden sich denken können, daß ich von dieser Nachricht nicht gerade begeistert war. Schließlich hatte Salinger sehr lange für uns gearbeitet und war dadurch im Besitz wertvoller Informationen. Außerdem wäge ich stets alles genau ab, damit auch ja der richtige Mann für die jeweils zu lösende Aufgabe eingesetzt wird. Ich glaubte nicht, im Falle von Leo Salinger einen Fehler gemacht zu haben. Aus Sicherheitsgründen mußte ich der Angelegenheit jedoch nachgehen. Deshalb forderte ich ihn auf, nach 82
London zu kommen.« Ross schwieg ein paar Sekunden, bevor er fortfuhr: »Er war auf dem Wege zum Flughafen, als er von Barbara Day überfahren wurde.« Während des nun folgenden Schweigens betrachtete ich aufmerksam sein Gesicht. Das war plötzlich ein ganz anderer Ross. Ich hatte ihn stets für einen Mann gehalten, der sich ohne Skrupel und Sentiments der einzigen Aufgabe widmete, seine Abteilung wirksam einzusetzen. Soeben aber, und wenn auch nur für einen Moment, hatte ich einen flüchtigen Einblick in die warme, sensitive Natur erhalten, die er seinen Untergebenen gegenüber hinter der Maske der Gleichgültigkeit verbarg. Von seinem unerwartet menschlichen Zug seltsam berührt, fragte ich so nebenbei: »War Salinger Ihr Freund?« Er richtete sich in seinem Sessel auf und warf mir einen Blick zu, der teils mißbilligend, teils amüsiert war. »Das ist eine Suggestivfrage, Frazer«, antwortete er dann scharf, ließ dem jedoch eine halb zustimmende Geste folgen. »Wir kannten uns seit langem persönlich. Er spielte wunderbar Klavier. Leo und sein Bruder Arnold hatten auf der Musikakademie Amsterdam studiert; beide waren brillante Musiker. Natürlich gab es für mich andere Gründe als diese, Leo als Geheimagenten zu verwenden. Obgleich seine Mutter Holländerin war, hatte der Vater als britischer Marineoffizier gedient.« »Wußte Arnold, daß sein Bruder für Ihre Dienststelle tätig war?« »Natürlich nicht«, reagierte Ross unwirsch. »Ich wünschte, Sie hätten diese Frage nicht gestellt. Es fällt mir schwer, an Leo zu zweifeln. Sollte er jedoch seinem Bruder oder sonst jemandem erzählt haben, daß er für uns arbeitet, dann muß ich zugeben, einen Fehler gemacht zu haben.« Ross machte mit beiden Händen eine abwehrende Bewegung. »An sich irre ich mich selten in der Beurteilung von Menschen, Frazer; und ich werde keine ruhige Stunde haben, ehe ich nicht den endgültigen Beweis für Leos Unschuld habe. Ganz abgesehen von meinen persönlichen Gefühlen, möchte ich es 83
auch nicht auf dem Gewissen haben, als Leiter dieser Dienststelle einen solchen Fehler begangen zu haben.« Leicht belustigt stellte ich fest, daß mit dieser Bemerkung wieder der rücksichtslos seiner Arbeit ergebene Ross zum Vorschein kam. »Was geschah eigentlich mit dem Metronom, das Salinger bei sich hatte, als er überfahren wurde?« fragte ich. »Hat Richards es sich näher angesehen?« »Die Polizei von Amsterdam hat es ihm ausgehändigt. Es waren aber keine Diamanten darin versteckt, wenn Sie darauf hinauswollen. Auch nicht in dem, das Cordwell gehörte.« Er lächelte. »Im allgemeinen finden wir Scotland Yard stets hilfsbereit, wenn wir besondere Wünsche haben.« »Das höre ich gern«, erwiderte ich. »Könnten Sie dann Scotland Yard nicht überreden, einen der Gegenstände herauszurücken, die Cordwell bei seiner Ermordung bei sich hatte?« Ross sah mich durch halb geschlossene Augenlider an. »Welchen wollen Sie, Frazer? Das Metronom? Ich versichere Ihnen, daß man es fast in seine Moleküle zerlegt hat, um es zu untersuchen.« »Nicht das Metronom«, winkte ich lässig ab. »Ich interessiere mich für den Tulpenkatalog.«
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m sechs Uhr abends rief mich Arthur Fairlee aufgeregt an. Er müsse mich unbedingt eine halbe Stunde später in der Bar des Restaurants Die Antilope sprechen. Da ich um halb acht Uhr mit Barbara in meiner Wohnung verabredet war, wollte ich ihn schon 84
abwimmeln; doch dann überlegte ich es mir anders. Schließlich wollte ich es auch nicht riskieren, bei meiner Unterhaltung mit Barbara durch einen Fairlee gestört zu werden, der, von Eifersucht geplagt, an meine Tür trommelte. Deshalb verabredete ich mich mit ihm für einen kurzen Drink. Fairlee stand an der Bar und fingerte nervös an einem Glas Gin mit Zitrone herum, als ich eintrat. »Wir müssen uns kurz fassen«, ermahnte ich ihn, nachdem ich mir Whisky mit Ginger Ale bestellt hatte. »Ich bin um halb acht verabredet.« Seine wäßrigblauen Augen sahen mich hinter den Gläsern neugierig an. »Mit Bar…«, begann er, um sich dann schnell zu verbessern, »…mit diesem verdammten Polizeifritzen?« Ich schüttelte den Kopf. »Wie kommen Sie darauf, Fairlee?« »Dieser Kerl ist immer wieder hinter mir her. Heute nachmittag mußte ich ihm eine ganze Stunde meiner Bürozeit opfern. Immer wieder reitet er auf den Beziehungen zwischen Barbara und diesem Cordwell herum.« »Aber sie hat ihm doch schon mehrfach gesagt, daß sie Cordwell kaum gekannt hat«, sagte ich ausweichend. Ich kam mir vor, als wäre ich dazu ausersehen, den Argwohn eines eifersüchtigen Verlobten zu beschwichtigen. »Schon. Aber aus irgendeinem Grunde scheint dieser Inspektor alles nur bedingt zu glauben, was man ihm erzählt.« Der hervorstehende Adamsapfel von Fairlee zuckte nervös auf und ab. »Frazer, Sie waren doch mit Barbara zusammen, als sie Cordwell in dem bewußten Café in Amsterdam traf?« »Ja«, antwortete ich und versuchte dabei, einen Ton leichter Verzweiflung aus meiner Stimme herauszuhalten. Nun schoß er seine nächste Frage ab: »Hatten Sie den Eindruck, daß die beiden sich schon von früher kannten?« »Natürlich hatten sie sich schon früher getroffen. Sie wohnten 85
doch im selben Hotel.« »Ja, ich weiß. Das meinte ich auch nicht.« Ohne meinen Mißmut zu verbergen, fragte ich scharf: »Was meinten Sie dann, Fairlee?« Er blickte verwirrt und unruhig in sein Glas. »Ich meinte … als die beiden im Café zusammen waren, hatten Sie da den Eindruck, das Barbara und Cordwell sich vielleicht besser kannten, als sie sich in der Öffentlichkeit gaben?« Es war die gleiche Frage, die ich mir selbst mehrfach gestellt hatte. »Nein, den Eindruck hatte ich nicht.« Bei dieser Antwort war ich mir nicht ganz im klaren, ob ich mich nicht selbst damit mehr beruhigen wollte, als Fairlee es tat. »Aber ich bin ja auch nicht mit Miß Day verlobt. Sie selbst hätten ihre Reaktion sicher besser beurteilen können.« »Sachte, sachte! Ich möchte nicht, daß Sie einen falschen Eindruck von Barbara erhalten«, lenkte er hastig ein. »Natürlich vertraue ich ihr. Aber diese ewige Fragerei der Polizei macht mich nervös.« Er stellte das Glas mit hartem Ruck auf den Tisch. »Die Polizei hat sogar Vivien Gilmore vernommen.« »Warum denn sie?« fragte ich. »Weiß der Himmel!« erwiderte er. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, alter Freund.« Wozu hatte er mir dann aber diese Information gegeben? Ich beschloß, etwas auf den Busch zu klopfen. »Verlebt Miß Gilmore auch ihre Ferien in Amsterdam?« »Aber nein! Sie kann diese Stadt nicht ausstehen. Ich erinnere mich, daß sie mir einmal erzählt hat…« Er brach mitten im Satz ab und fragte langsam: »Warum interessiert Sie das überhaupt?« Ich zuckte mit den Schultern. »Weil die Polizei sie vielleicht deshalb vernommen haben könnte.« »Ach ja, natürlich. Sie gehen den Dingen wirklich auf den Grund, alter Junge.« Er setzte wieder sein dünnes Lächeln auf. »Nein, Vi86
vien mag Holland überhaupt nicht. Offen gestanden, mir geht es auch so. Verdammt langweilige Gegend, wenn Sie mich fragen.« Er griff wieder nach seinem Glas und nippte an seinem Gin, ehe er weitersprach: »Ich kann vor allem nicht begreifen, daß Barbara auch jetzt noch immer dort hinfährt – nach allem, was vor ein paar Monaten geschehen ist.« Ich setzte eine Miene auf, die höfliches Interesse andeuten sollte, und fragte: »War es etwas Unangenehmes?« »Sehr unangenehm«, bestätigte er, wobei er mich nicht aus den Augen ließ. »Sie hat in Amsterdam einen Mann namens Salinger überfahren. Er war gleich tot, der arme Kerl.« »Großer Gott!« rief ich und spielte den Erschrockenen. »Das war schon eine üble Sache. Obwohl es keineswegs ihre Schuld war, beileibe nicht!« Fairlee warf einen flüchtigen Blick auf seine Uhr. »Was, schon so spät?« Er kippte schnell den Rest seines Getränks hinunter. »Mir fällt eben ein, daß ich noch eine Verabredung habe, Frazer. Hätte das bei unserer netten Plauderei fast vergessen. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich jetzt verabschiede? Richtig – Sie sind ja auch verabredet.« Etwas zu betont gleichgültig setzte er hinzu. »Wenn Sie zufällig in Richtung Westend wollen…« »Mein Wagen steht vor der Tür«, lehnte ich ab. »Vielen Dank für das Angebot.« »Also dann auf Wiedersehen, Frazer.« Ohne mir die Hand zu geben, wandte er sich zur Tür, um sich dann nochmals umzudrehen. »Ach, ehe ich es vergesse. Sollten Sie zufällig Barbara begegnen … es wäre mir lieb, wenn Sie unsere heutige Unterhaltung nicht erwähnen würden. Sie könnte sonst glauben, ich spioniere ihr nach.« Mit einigen geheimen Vorbehalten versprach ich ihm, unser Gespräch vertraulich zu behandeln. »Wirklich nett von Ihnen«, bedankte er sich und steuerte auf den Ausgang zu. Um ihm Zeit zu lassen, vor mir abzufahren, vertrödelte ich noch eine Weile mit meinem Getränk und ließ mir indessen unsere Un87
terredung noch einmal durch den Kopf gehen. Ich hatte das Gefühl, daß nicht nur Eifersucht allein Fairlee zu einem Treffen mit mir bewogen hatte. Zweifellos hegte er einen undefinierbaren Argwohn bezüglich der Beziehungen zwischen Barbara und Cordwell. Aber steckte nicht doch noch mehr dahinter? Zwei seiner Bemerkungen machten mich nachdenklich. Die erste war sein Hinweis darauf, daß auch Vivien Gilmore von der Polizei vernommen worden war. Er erwähnte das nur kurz und wechselte sofort das Thema, als ich neugierig wurde. Und warum hatte er den Autounfall erwähnt, bei dem Salinger von Barbaras Wagen überfahren und getötet worden war? Er hatte mich genau beobachtet, als er es mir erzählte. Vielleicht sollte diese Frage aber gar nichts weiter als testen, wie gut ich mich mit Barbara stand und was sie mir anvertraut hatte. Das war es wohl auch gewesen, dachte ich schließlich und trank aus. Vivien Gilmores Vernehmung hatte er vielleicht nur aus dem Drang eines Mannes heraus erwähnt, der sich wegen der Freundschaft seiner Verlobten mit einem anderen Manne peinigende Gedanken macht. Schließlich kam ich zu der Ansicht, Fairlee sei nichts als ein gescheiterter Romeo, und fuhr zu meiner Wohnung zurück. Vor der Tür zu meiner Garage parkte ein Morris Minor undefinierbaren Alters. Eine lange Gestalt lehnte dagegen und rauchte eine Zigarette. Die Bemerkung, die ich vor mich hin murmelte, als ich den Wartenden erkannte, war nicht gerade salonfähig. Als ich aus meinem Wagen stieg, flehte Richards mich an: »Etwas zu trinken, um der Liebe Allahs willen! Seit mehr als einer halben Stunde trete ich hier von einem Fuß auf den anderen und warte auf Sie.« »Es gibt da seit einiger Zeit so eine Einrichtung, die man Telefon nennt«, erwiderte ich mit schadenfrohem Grinsen. »Und noch eins: Das Getränk muß recht schnell die Kehle hinunter, denn in etwa 88
zehn Minuten erwarte ich Besuch.« »Dieser Besuch wird doch nicht etwa Barbara Day sein?« fragte er ironisch, während ich ihm kurz darauf im Wohnzimmer einen Whisky mit Soda servierte. Ich wandte mich dem Tisch mit den Getränken zu und erklärte mit etwas gezwungenem Lachen: »Da wir gerade von ihr sprechen – ich hatte ein Plauderstündchen mit Fairlee, ihrem Verlobten.« »Das muß ja höchst interessant gewesen sein. Was wollte er denn?« »Genaugenommen nichts. Offensichtlich wollte er sich nur eine Portion Eifersucht von der Leber reden.« Ich kehrte mit dem Getränk, das ich mir gemixt hatte, zu meinem Sessel zurück. »Möchte nur wissen, was Barbara Day an ihm findet.« Richards sah mich einen Augenblick fragend an, murmelte ein leises ›Prost‹ und stürzte sich auf seinen Whisky. Mittlerweile begann ich unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen, darauf bedacht, seinen schelmischen Blicken auszuweichen. Laß dich doch nicht nervös machen, sagte ich mir. Und was soll geschehen, wenn Barbara eintrifft, bevor er geht? Gut, sie ist wirklich eine recht attraktive Frau. Aber deswegen brauchen mich Richards' anzügliche Bemerkungen doch nicht so aus der Fassung zu bringen. »Wie ich hörte, haben Sie heute mit Ross gesprochen.« Ich nickte. »Es war ein ziemlich offenes Gespräch. Zumindest hat es die Atmosphäre gereinigt.« »Ich erfuhr, daß Sie sich für Cordwells Tulpenkatalog interessieren.« Ich fingerte an einem Ornament auf meinem Schreibtisch herum. »Ross erwähnte allerdings nicht, warum Sie daran interessiert sind«, fuhr Richards fort, wobei er seiner Feststellung ein deutlich hörbares Fragezeichen anhängte. »Er hat mich nicht danach gefragt«, antwortete ich kühl, mit spür89
barem Unbehagen. »Ich hätte ihm auch gar keine klare Antwort geben können. Unter uns gesagt: Ich jage da nur einer unbestimmten Eingebung nach.« »Dann Hals- und Beinbruch!« Richards lächelte verständnisvoll. »Übrigens sind Sie nicht der einzige, der sich für spezielle Gegenstände interessiert, die bei Cordwell gefunden wurden. Barbara hat Inspektor Trueman gefragt, ob sie sich nicht einmal den Film ansehen dürfe, der sich in Cordwells Reisetasche befand. Er ist ihr heute früh vorgeführt worden.« »Ein merkwürdiges Verlangen«, erwiderte ich verblüfft. »Hat sie einen Grund dafür angegeben?« »Nein, aber den kann ich Ihnen liefern.« Richards blickte mit ernstem Gesicht in sein Glas. »Es hat ganz den Anschein, als ob das Mädchen sich für Sie zu interessieren beginnt, Frazer.« Er schwieg einen Augenblick und fragte: »Es ist doch Barbara Day, die Sie hier erwarten, nicht wahr?« »Ja, sie ist es«, gab ich zu. »Ich möchte aber betonen, daß sie es war, die den Anstoß zu dieser Einladung gegeben hat.« »Das überrascht mich nicht. Ich gehe jede Wette ein, daß sie mit Ihnen über den Film sprechen will.« Er schüttelte besorgt den Kopf. »Sie werden zweifellos einige Phantasie aufbringen müssen, um das Mädchen von der Harmlosigkeit dieses Filmes zu überzeugen. Ich habe ihn gesehen. Meiner Ansicht nach haben Sie mit den Aufnahmen von ihr etwas zuviel des Guten getan.« »Das läßt sich doch einleuchtend erklären. Ich habe ihr bereits anläßlich einer anderen Gelegenheit gesagt, sie sei nur deswegen auf dem Film, weil ich meine Erinnerungen an Amsterdam mit einer schönen Frau bereichern wollte.« »So nennen Sie das«, murmelte Richards. »Ich würde es umgekehrt formulieren: Sie haben Ihre Erinnerungen an Barbara Day mit ein wenig Amsterdam-Hintergrund bereichert.« Zynisch lächelnd ging er zum Fenster, schob den Vorhang etwas 90
zur Seite und meldete, nachdem er eine Weile hinausgesehen hatte: »Und hier kommt auch schon der Star Ihres Films höchstpersönlich. Und dazu noch in einem Drei-Liter-Rover.« Er ließ die Gardine wieder fallen. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich in Richtung Schlafzimmer von der Bildfläche verschwinde?« Der Gedanke, Richards werde vielleicht Zeuge einer für mich nicht gerade angenehmen Unterhaltung sein, schien mir wenig verlockend; aber im Augenblick blieb mir nichts anderes übrig. »Es ist die Tür gleich links«, erklärte ich ihm kurz angebunden. »Versuchen Sie, wirklich überzeugend zu wirken«, riet er mir. »Es ist auch wichtig für uns zu erfahren, ob sie einen Verdacht hegt.« Ich nickte nur, denn es läutete bereits an der Tür. Sie hatte sich umgezogen und trug das Kleid, in dem ich sie bei unserem ersten Zusammentreffen gesehen hatte. Als ich ihr ins Wohnzimmer folgte, schien sie mir jedoch weniger unbeschwert als damals. »Es tut mir leid, Tim; aber ich bin zeitlich sehr im Druck«, entschuldigte sie sich noch auf dem Wege ins Zimmer. »Als ich von St. Albans zurückkam, wartete dieser Kriminalbeamte schon wieder auf mich. Dieses endlose Katz-und-Maus-Spiel ist wirklich unerhört. Ich habe es satt und bin es müde, immer wieder dieselben Fragen beantworten zu müssen. Ich muß ihm schon x-mal erzählt haben, daß ich diesen – wie heißt er doch – ach ja, diesen Ericson nicht kenne und noch nie von ihm gehört habe. Trotzdem fragt er immer wieder danach.« Als ich in ihre vor Empörung funkelnden dunkelblauen Augen sah, mußte ich mich sehr zurückhalten, um sie nicht auf der Stelle damit zu konfrontieren, daß ich von Vivien Gilmores Telefonanruf wußte. Wahrscheinlich hielt mich nur der Gedanke, daß Richards nebenan im Schlafzimmer mithörte, davon ab. Ich wandte mich da91
her ziemlich unvermittelt dem Tisch mit den Getränken zu. »Nehmen Sie doch Platz, Barbara. Was darf ich Ihnen anbieten?« »Ginger und Ale, wenn Sie so etwas da haben.« Sie sank mit einem Seufzer der Erleichterung in den Sessel. »War das wieder ein Tag heute. Erst Vivien, dann dieser fürchterliche Inspektor, dann Arthur…« Ihre Stimme nahm jetzt eine hellere Klangfarbe an. »Er hat doch nicht etwa angerufen?« Während ich mit den Flaschen hantierte, wandte ich ihr den Rücken zu und überlegte dabei, ob ich ihr die Wahrheit sagen sollte. »Nein«, log ich schließlich, »er hat nicht angerufen.« »Wenigstens etwas Gutes«, erwiderte sie mit kurzem Lachen. »Vielleicht hat er sein Mißtrauen nun endlich aufgegeben.« Als ich mit den gefüllten Gläsern zurückkam, lächelte sie mich freundlich an. Ich nahm einen Whisky-Soda und setzte mich in den gegenüberstehenden Sessel. »Das ist genau das, was ich im Augenblick brauche«, sagte sie. »Und jetzt sollte ich wohl lieber darauf zu sprechen kommen, was ich auf dem Herzen habe.« Sie sah mich unter halbgeschlossenen Augenlidern aufmerksam an. »Ich habe Ihren Film gesehen, Tim. Ich meine den, der bei Cordwell gefunden wurde. Die Polizei hat ihn mir vorgeführt.« »Ich fürchte, er ist nicht gerade ein Meisterwerk«, antwortete ich leichthin. »Es war mein erster Versuch, müssen Sie wissen. Ich hatte die Kamera erst kurz vor meiner Abreise gekauft.« Ihre Augen wurden größer. »Für einen Anfänger waren die Aufnahmen bemerkenswert gut – besonders die von mir.« Sie drehte den Stiel des Glases zwischen den Fingern und fragte dann rundheraus: »Warum sind Sie mir in Amsterdam gefolgt, Tim?« »Ich Ihnen gefolgt?« wiederholte ich. Daß sie so schnell aufs Ziel zusteuern würde, hatte ich nicht erwartet und konnte daher nicht schlagfertig parieren. »Eine andere Erklärung gibt es wohl kaum. Obwohl der Inspek92
tor mich anscheinend nur bei ein oder zwei Szenen erkannt zu haben scheint, habe ich mich selbst in mindestens sechs weiteren erblickt.« Ihre Augen verengten sich. »Ich kann es einfach nicht glauben, daß wir beide rein zufällig zur gleichen Zeit an all diesen verschiedenen Plätzen gewesen sind.« Es schien mir nicht mehr viel Sinn zu haben, weiter zu leugnen. »Nun gut«, gab ich zu. »Ich bin Ihnen gefolgt.« Die Knöchel ihrer Hand traten weiß unter der Haut hervor, als die Finger sich fester um das Glas preßten. Es dauerte einige Sekunden, bis sie fragte: »Warum?« »Wenn Sie unbedingt darauf bestehen, es zu erfahren« – ich kam mir bei diesen Worten etwas lächerlich vor –, »der Grund ist ein sehr einfacher. Sie sind eine äußerst attraktive Frau.« »Aber warum sind Sie mir dann heimlich gefolgt?« drang sie weiter in mich. »Sie hatten mich doch im Flugzeug kennengelernt. Sie hätten mich doch ganz einfach bitten können, mit Ihnen auszugehen.« »Sie hatten mir sehr deutlich zu verstehen gegeben, daß Sie verlobt sind; und ein Wink mit dem Zaunpfahl genügt bei mir.« Sie lehnte sich entspannt in den Sessel zurück. »Dann haben Sie also respektvolle Distanz gewahrt«, murmelte sie. »Das klingt beinahe rührend.« »Und Sie scheinen so eigenartig erleichtert«, erwiderte ich scharf in dem Bestreben, herauszufinden, ob sie meinen Ausreden Glauben schenkte. »Ich muß gestehen, daß ich es wirklich bin; ich vermutete nämlich, Sie seien so etwas wie ein Privatdetektiv.« »Ich?« lachte ich laut heraus. »Wie ich Ihnen bereits sagte, bin ich Ingenieur.« »Ich weiß auch nicht, wie ich auf diesen Gedanken gekommen bin. Aber es sind seltsame Dinge geschehen, seit…« Sie machte eine abwehrende Handbewegung. »Vergessen wir das lieber. Sie sind also 93
kein Privatdetektiv, das ist alles, worauf es wirklich ankommt.« »So leicht kommen Sie mir jetzt nicht davon«, drängte ich. »Vor allem nicht, nachdem Sie mich mehr oder weniger beschuldigt haben, ich hätte Ihnen nachspioniert. Was sind denn das für seltsame Dinge, die Ihnen zugestoßen sind?« Sie biß sich auf die Lippen. »Ich hasse es, mir das alles wieder ins Gedächtnis zurückzurufen.« Sie schloß die Augen. »Ich habe einen Menschen getötet.« Ich versuchte, augenblicklich schockiert auszusehen. Sie öffnete wieder die Augen und sah mich mit aufrichtigem Blick an. »Es war ein Verkehrsunfall in Amsterdam. Er hieß Leo Salinger. Es war zwar seine eigene Schuld – das wurde bei der Untersuchung einwandfrei nachgewiesen –, aber dennoch fühle ich mich nicht wohler. Ich habe versucht, mit seiner Familie Kontakt aufzunehmen, schließlich sogar einen Anwalt beauftragt, seine Verwandten ausfindig zu machen, aber ohne jedes Ergebnis. Ich stand immer wieder wie vor einer unübersteigbaren Mauer.« »Das ist aber seltsam. Er muß doch irgendwelche Verwandten haben.« »Tim«, sagte sie plötzlich mit spürbarer Erregung, wobei sie sich in ihrem Sessel vorbeugte, »was meinen Sie – ob ein Zusammenhang zwischen dem Mord an Cordwell und meinem Unfall besteht?« »Ich wüßte nicht, wie es da einen Zusammenhang geben könnte«, log ich und beobachtete sie dabei genau. »Sie etwa?« »Ich weiß es nicht, es sei denn, Cordwell und Salinger hätten sich gekannt. Cordwell war ja schon vorher einmal in Amsterdam gewesen, wie Sie sich erinnern werden.« »Ja, natürlich. Er erzählte uns doch, man habe ihm damals seine ganze Habe gestohlen. Worauf wollen Sie hinaus, Barbara?« »Ach, ich weiß es selbst nicht. Ich bin von allem, was in den letzten Tagen geschehen ist, so durcheinander.« Sie rieb sich mit dem 94
Handrücken über die Stirn. »Können wir nicht von etwas anderem sprechen?« »Wie wäre es mit noch einem Drink?« Barbara warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Danke, es geht nicht mehr. Ich muß mich jetzt verabschieden. Vivien und ich müssen ein paar Möbelstücke nach Surrey bringen. Man erwartet uns dort um neun Uhr.« »Machen Sie denn niemals Feierabend?« fragte ich und versuchte, dabei nicht allzu neugierig zu erscheinen. »Bis jetzt ist es mir noch nie gelungen, sie länger als ein paar Minuten festzuhalten.« Barbara bemühte sich, leicht zerknirscht auszusehen, während ich mein Klagelied weitersang: »Da war unser allererstes Rendezvous…« Ich ließ den Satz bewußt unvollendet in der Hoffnung, sie würde mir irgendeinen Anhaltspunkt geben, über den ich auf mein eigentliches Ziel zusteuern konnte. Sie schauderte. »Dieser entsetzliche Abend. Und ich hatte mich so darauf gefreut.« »Etwas wollte ich Sie eigentlich schon lange fragen«, begann ich ganz beiläufig, während ich aufstand und mit den beiden leeren Gläsern zum Getränketisch hinüberging. »Ich habe mich schon mehrfach gefragt, warum Sie mich an jenem Abend eingeladen hatten, Barbara.« »Aber das habe ich Ihnen damals doch gesagt – damit Sie meinen Verlobten kennenlernen sollten.« Ich ging zu ihrem Sessel und blickte auf sie hinab. »Barbara – wir beide wissen, daß Fairlee fast psychopathisch eifersüchtig ist. Meines Erachtens hätte Ihnen viel mehr daran gelegen sein müssen, ihn auf keinen Fall mit einem anderen Mann zusammenzubringen, den Sie im Urlaub kennengelernt hatten.« »Aber das ist es ja gerade«, erwiderte sie sehr ernst. »Ich hatte nun einmal den Fehler gemacht, Sie in meinem Bericht über den Urlaub zu erwähnen. Hätte ich Sie danach nicht in meine Wohnung 95
eingeladen, wäre er bestimmt auf den Gedanken gekommen, zwischen uns habe mehr als eine zufällige Bekanntschaft bestanden.« »Das wäre er allerdings, da haben Sie recht«, pflichtete ich ihr bei. Sie stand auf und zog ihre Jacke zurecht. »Ich bin so froh, daß wir uns ausgesprochen haben, Tim. Das Gefühl, Ihnen nicht trauen zu können, war mir sehr zuwider.« »Und tun Sie es jetzt?« Ihre Augen wurden feucht. »Sie wissen, daß ich es tue«, antwortete sie sanft. Sie stand jetzt dicht vor mir, das Gesicht zu mir erhoben. Als ich unwillkürlich eine Bewegung auf sie zu machte, hielt sie abwehrend eine Hand gegen meine Brust. »Tim, warum haben Sie mich nach dem Grund meiner Einladung gefragt?« Ich lächelte sie an. »Das ist jetzt alles klargestellt, Barbara.« »Und Sie hegen mir gegenüber keinen Argwohn?« In diesem Augenblick war alle Vernunft wie fortgeblasen. »Argwohn? Ihnen gegenüber? Aber natürlich nicht! Warum sollte ich?« Ihre Hand fiel müde herab, und sie seufzte tief. »Alle scheinen nämlich argwöhnisch zu sein.« Als ich auf ihren lackschwarzen Schopf blickte, der sich dicht unter meinem Kinn befand, überfiel mich ein fast überwältigendes Gefühl, dieses glänzende seidenweiche Haar zu streicheln. Dann aber fiel mir Richards ein. Ich trat einen Schritt zurück. »Sie dürfen Vivien nicht warten lassen«, mahnte ich mit leicht gekünsteltem Lachen. Einen Augenblick sah sie mich verwirrt an, dann lächelte sie. »Danke, Tim. Ich hatte es völlig vergessen.« Der Zauber war gebrochen. Als ich sie hinausgeleitete, waren wir wieder zwei normale Menschen, die nach einem kurzen Drink konventionelle Redensarten wechseln. Bei meiner Rückkehr ins Wohnzimmer spritzte Richards gerade Soda in seinen Whisky. »Tut mir leid, daß ich Ihre Gastfreund96
schaft so ausnutze, aber die Zunge hing mir schon zum Halse 'raus.« »Mir auch«, stimmte ich ihm lachend zu und hoffte, daß es nicht allzu verlegen klang. »Daß Miß Day keinen zweiten Drink wollte, verdarb mir völlig das Konzept.« »Das habe ich mir gedacht«, entgegnete er trocken. »Übrigens, ehe ich es vergesse – hier ist der Tulpenkatalog, nach dem Sie gefragt hatten.« Er holte ihn aus der Jackentasche und reichte ihn mir. Ich blätterte den Katalog flüchtig durch. »Hoffen wir, daß meine Vermutung mich nicht trügt.« Ich schlenderte wieder zum Getränketisch. »Was halten Sie von der ganzen Sache?« Er stand breitbeinig mitten im Raum. »Darf ich Ihnen einen uneigennützigen Rat geben, Frazer?« Während ich die Whiskyflasche entkorkte, fragte ich: »Sie wollen mir raten, ich soll nicht Beruf und private Gefühle miteinander vermengen, nicht wahr?« »So etwas Ähnliches.« Warum mußte der Bursche sich stets so schulmeisterlich aufführen, dachte ich verärgert, wobei ich mir, ohne es zu merken, einen doppelten Whisky eingoß. Dann hob ich das Glas und prostete ihm lächelnd zu. Er sah mich nachdenklich an und fragte ganz ruhig: »Aber sie können ja gut auf sich aufpassen, nicht wahr, Frazer?« »Das kann ich, Richards.« »Das haben andere Leute auch schon gesagt.« Er kippte den Whisky mit einem Ruck hinunter. »Vielleicht auch Leo Salinger. Wer weiß?«
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ach dem Frühstück am folgenden Morgen zündete ich mir eine Zigarette an und blätterte den Tulpenkatalog durch, Seite für Seite. Ich konnte nichts finden, was als verschlüsselte Botschaft deutbar war, keine unterstrichenen Buchstaben, die die Grundlage eines Geheimkodes hätten sein können. Der Katalog unterschied sich in nichts von anderen seiner Art. Dann studierte ich systematisch die Namen aller Tulpen: Flamingo, Schneesturm, Sammetkönig, Blauer Diamant und andere exotische Bezeichnungen waren phantasievoll gewählt worden, um dem Tulpenliebhaber das Geld aus der Tasche zu locken. Ich hätte eine zweifarbige Kollektion von 50 Tulpen zu elf Schilling und sechs Pence haben können – wenn ich Besitzer eines Gartens gewesen wäre. Aber ich hatte keinen, dafür jedoch eine Ahnung, daß es irgendwo in London jemanden gab, für den die Tulpen auf dem Einbanddeckel keineswegs so farbenfroh blühen würden, wenn ich ihm den Katalog präsentieren könnte. Als Mrs. Glover den Frühstückstisch abräumte, fragte sie mit der unschuldigsten Miene, die ihre brennende Neugier tarnen sollte: »War die Dame, die gestern abend hier war, dieselbe, die heute früh angerufen hat, Mr. Frazer?« »Sie sollten besser mit der Zeit gehen, Mrs. Glover. Heutzutage benutzen auch Männer Parfüm.« Dann spielte ich den Überraschten. »Hat sie nicht ihren Namen genannt?« Widerwillig kehrte Mrs. Glover von den Höhen ihrer Entrüstung auf die Erde zurück. »Sie fragte nur, ob Sie da sind. Als ich sagte: ›Der Herr ist nicht zu Hause‹, hat sie gleich aufgehängt.« Mrs. Glover setzte wieder ein harmloses Lächeln auf. »Ob es vielleicht je98
mand von der weiblichen Kriminalpolizei war, Sir?« Ich erklärte ihr mit feierlicher Miene, es sei die Kriminalbeamtin gewesen, die mir Judo beibringe. Wir beschlossen dann, das Frageund-Antwort-Spiel unentschieden ausgehen zu lassen. Ich holte den Wagen aus der Garage, um damit zur Lennard Street zu fahren. Nachdem ich ihn in einer Seitenstraße geparkt hatte, ging ich eiligen Schrittes zur Espressobar Der Deich. Es schien, als habe die Zeit stillgestanden, seit ich das erste Mal dort gewesen war. Der einzige Gast, am selben Tisch und im selben grünen Kleid wie am Tage zuvor, war Vivien Gilmore. Nur stand heute ein Mann statt der faden Serviererin hinter der Theke. Er war klein und gedrungen; das schwarze Haar wuchs ihm bis in die Stirn. Seine Augen lagen tief unter buschigen Brauen. Sein fleischiger Hals zeigte bereits den ›Fünf-Uhr-nachmittags‹-Bartwuchs. Als ich eintrat, rief Vivien Gilmore ihm gerade zu: »Meine Rechnung bitte, Jan.« Ich ging zu ihrem Tisch hinüber und blieb, eine Hand auf der Stuhllehne, einen Augenblick zögernd stehen. »Guten Morgen, Miß Gilmore.« Sie blickte reserviert zu mir auf. »Oh, guten Morgen«, antwortete sie und verzog das Gesicht auf eine Weise, die ihrer Ansicht nach wohl ein freundliches Lächeln darstellen sollte. »Wollen Sie nicht Platz nehmen?« Ich zog mir einen Stuhl heran, während Jan mit der Rechnung kam. »Wieder schönes Wetter heute, Miß Gilmore«, sagte er mit stark holländischem Akzent. Obgleich ich zur Seite blickte, merkte ich aus der Richtung seiner Stimme, daß er mich einer genauen Prüfung unterzog. Als ich dann aufsah, strich er gerade mit seiner muskulösen, behaarten Hand das Geld ein, das Vivien Gilmore auf den Tisch gelegt hatte. »Einen Kaffee, bitte«, bestellte ich und sah ihm dabei plötzlich fest in die Augen. »Wollen Sie nicht eine Tasse mit mir trinken, 99
Miß Gilmore?« »Ich bin gerade im Begriff zu gehen«, antwortete sie und ließ die Handtasche zuschnappen. »Schönen Dank für die Einladung.« Nachdem er noch einen weiteren abschätzenden Blick auf mich geworfen hatte, ging Jan wieder hinter seinen Schanktisch. »Kommt Barbara heute nicht?« fragte ich Vivien. »Ich fürchte, nein, wir haben so viel zu tun.« Sie zog sich einen Handschuh über. »Zu allem Überfluß ist die Polizei heute früh schon wieder in unserem Laden gewesen.« Ich schnalzte mitfühlend mit der Zunge. »Ich habe schon viel über Mordfälle, polizeiliche Untersuchungen und Vernehmungen gehört«, fuhr sie fort. »Aber selbst bei aller Phantasie hätte ich es mir so nicht vorgestellt!« Sie zuckte ausdrucksvoll mit den Schultern. »Dieser Inspektor ist anhänglich wie ein Terrier. Der würde bedenkenlos jede Art von Folterung anwenden, wenn er damit die ihm genehmen Antworten herauspressen könnte. Woher soll ich beispielsweise wissen, ob Cordwell Verabredungen mit einem gewissen Margetson gehabt hat.« Ich kratzte nachdenklich mein Kinn. »Wie war der Name? Ich dachte, er laute Ericson.« »Ja, natürlich – Ericson.« Sie sah mich einen Augenblick ausdruckslos an. »Der Name sagt mir gar nichts. Ich habe ja auch nie etwas von Cordwell gehört, bevor ich diesen Namen in den Zeitungen las. Woher sollte ich wissen, daß er eine Verabredung mit…« »Ericson«, ergänzte ich. »Ach, was geht mich dieser Name an. Man soll mich doch damit in Ruhe lassen.« Sie stand auf. »Jetzt muß ich aber wirklich gehen.« Ich erhob mich ebenfalls. »Übrigens, Miß Gilmore – Sie haben mich heute früh nicht zufällig angerufen?« »Was für eine seltsame Frage«, entgegnete sie ärgerlich und sah mich dabei auf eine fast beleidigende Weise an. »Ich kenne Sie ja kaum.« 100
»Genausowenig wie ich Sie«, antwortete ich lächelnd. »Die Dame, die angerufen hat, nannte ihren Namen nicht, und meine Putzfrau hat die Stimme nicht erkannt… Ich habe zufällig ein sehr gutes Gehör für Stimmen, Miß Gilmore«, füge ich hinzu. Dabei sah ich sie fest an und rief mir den Augenblick ins Gedächtnis zurück, in dem ich ihr durchdringendes Organ zum erstenmal gehört hatte – am Telefon in Barbaras Wohnung. Sie hielt meinem Blick ein bis zwei Sekunden stand, ohne auf meine Bemerkung zu antworten. Dann erwiderte sie mit hartem Lächeln: »Ich darf Barbara nicht warten lassen, Mr. Frazer.« Sie wechselte einen schnellen Blick mit Jan und stolzierte aus der Bar. Ich setzte mich und sah vorsichtig zu dem Mann hinter der Theke hinüber. Er hatte gerade meine Kaffeetasse aus der Espressomaschine gezogen und war im Begriff, sie mir zu bringen. Ich nahm den Tulpenkatalog und blätterte langsam eine Seite nach der anderen um, als suchte ich mir die schönsten Sorten aus. Als er mir den Kaffee auf den Tisch stellte, hielt ich den Katalog so, daß er den leuchtendbunten Deckel unmittelbar vor Augen hatte. »Danke«, sagte ich, als er die Tasse auf den Tisch stellte, und blickte nur flüchtig auf. Seine Augen wanderten unruhig zwischen dem Katalog und meinem Gesicht hin und her. Dann faßte er sich nachdenklich mit einer Hand unter das Kinn. »Interessieren Sie sich für Tulpen, Jan?« fragte ich mit bedeutungsvoller Miene. Seine Hand kratzte an seinem stoppeligen Kinn. »Wann sind Sie angekommen?« fragte er. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, erwiderte ich kühl. Er sah mich lange und gedankenversunken an, nickte dann mehr für sich selbst als für mich und ging zur Theke zurück. Dort sah er unter den Tisch, holte etwas hervor, kam wortlos zu mir zurück und 101
ließ den Gegenstand auf meinen Tisch gleiten. Es war ein Tulpenkatalog von genau der gleichen Art, wie Cordwell ihn bei sich gehabt hatte… Sein klobiger Finger wies auf einen auf den Umschlag geklebten Zettel. »Das hier ist ein neuer«, bemerkte er schwerfällig. »Er ist auf dem neuesten Stand.« Auf dem Zettel stand: Internationale Tulpenzwiebel-Importeure. Londoner Vertreter: Gordon Dempsey, 43a Long Acre, E.C.4. Als ich die Espressobar mit beiden Katalogen unter dem Arm verließ, sauste ich zur nächsten Telefonzelle, um leider festzustellen, daß ich keine passende Münze hatte. Ein Obstkarren, der vorhin vor dem Espresso gestanden hatte, parkte jetzt neben der Telefonzelle. Ich ging hin und fragte den Händler: »Würden Sie mir das bitte wechseln? Ich habe leider keine Münze zum Telefonieren.« Ich reichte ihm ein Six-Pence-Stück. »Aber selbstverständlich, Chef«, antwortete er mit breitem Grinsen. »Hier haben wir es – drei und nochmals drei, macht sechs.« Als ich ihm dankte, sah er sich vorsichtig um und flüsterte mir dann zu: »Wollen Sie einen guten Tip, Chef? Dann vergessen Sie nicht ›Fantasie‹. Zwei-dreißig, bester Tip der Woche, Chef.« Ich dankte ihm mit einem lächelnden Kopfnicken und ging zur Telefonzelle zurück. Dort suchte ich mir die Telefonnummer von Gordon Dempsey heraus und wählte sie. Eine Minute lang lauschte ich dem ankommenden Rufzeichen. Nachdem sich niemand meldete, legte ich auf. Da es beinahe Mittagszeit war, entschloß ich mich, zunächst eine Kleinigkeit zu essen und es dann erneut bei Dempsey zu versuchen. Als ich die Telefonzelle verließ, grinste mich der Mann am Obstkarren wieder breit und freundlich an. »Nicht vergessen – ›Fantasie‹, zwei-dreißig, Chef«, erinnerte er mich. »Da setzen Sie auf Sieg.« 102
Ich winkte ihm dankend zurück und blieb dann nachdenklich stehen. Grübelnd biß ich mir auf die Lippen – vorher war mir das nicht bewußt geworden, aber jetzt kam mir doch irgend etwas an diesem sportlich gewachsenen blonden Mann bekannt vor. Achselzuckend gab ich es auf, weiter darüber nachzudenken. Es war wohl nur die Tatsache, daß er für einen Obstkarrenhändler einen ungewöhnlich gepflegten Eindruck machte. Ich kehrte zu meinem Wagen zurück, fuhr zur Brompton Road und parkte ihn in einer Seitenstraße neben der Brompton-Kapelle. In einer Kneipe, die im Viktorianischen ›Plüsch-mit-Troddeln‹-Stil ausgestattet war, mit riesigen Wandspiegeln und Mahagonimöbeln, aß ich ein Kalbssteak mit Kartoffelsalat und trank dazu einen Krug Bier. Unterwegs hatte ich mir eine Mittagszeitung gekauft, die ich schnell überflog, um zu sehen, ob es Neuigkeiten in der Sache Cordwell gab. Ich fand aber nur eine nichtssagende Meldung, wie sie gewöhnlich publiziert wird, wenn die Polizei bei ihren Ermittlungen in eine Sackgasse geraten ist. Inspektor Trueman schien in einer ausweglosen Phase seiner Untersuchungen zu sein. Aus reiner Neugier überflog ich auch die Seite mit den Rennberichten. Der ›heiße Tip‹ meines Obstkarrenhändlers erwies sich als Niete, da nirgendwo ein Pferd namens ›Fantasie‹ genannt wurde. Nach dem Essen fuhr ich in Richtung Long Acre und hielt unterwegs zweimal an Telefonzellen an, um Dempsey anzurufen, der sich aber noch immer nicht meldete. Ich ließ meinen Wagen auf einem Parkplatz und ging in ein Tageskino, das Wochenschauen und Kulturfilme zeigte. Um fünf Uhr rief ich erneut an. Schon nach dem ersten Klingelzeichen wurde der Hörer abgenommen, und eine ölige Stimme meldete sich: »Internationale Tulpenzwiebel-Importeure.« Als ich nach dem Namen des Sprechers fragte, bekam ich zur Antwort: »Dempsey am Apparat.« 103
Ich versuchte überzeugend zu wirken, als ich erklärte: »Ich bin am Kauf von Tulpen interessiert, Mr. Dempsey. Ihre Firma ist mir von einem guten Freund empfohlen worden.« Einige Sekunden lang war es still am anderen Ende der Leitung. Dann fragte die Stimme reserviert: »Wie heißt Ihr Freund?« »Ericson«, erwiderte ich, wobei meine Hand den Hörer unwillkürlich fester faßte. Ich konnte mir das Kopfnicken vorstellen, als Dempsey in sachlichem Ton antwortete: »Verstehe. Und wie ist Ihr Name bitte?« Das Telefonbuch lag offen unter meinem Ellenbogen. Ich warf einen schnellen Blick darauf und nannte den ersten Namen, der mir ins Auge fiel: »Scott – Normann Scott. Sie kennen mich sicher nicht.« »Nein, ich kenne Sie nicht.« Dempsey legte eine kurze Pause ein und fragte dann: »Haben Sie auch einen Katalog?« »Natürlich«, antwortete ich leichthin. »Sonst hätte ich Sie doch nicht anrufen können.« »Geht in Ordnung.« Dempsey schien meine Geschichte geschluckt zu haben. »Ich bin während der nächsten halben Stunde in meinem Geschäft«, erklärte er kurz entschlossen. »Und vergessen Sie nicht, den Katalog mitzubringen.« Ich versicherte ihm, daß ich ihn nicht vergessen würde, und legte auf. Es hatte nicht viel Sinn, mit dem Wagen zu fahren und dann in der Long Acre Street erneut nach einem freien Parkplatz zu suchen. Deshalb ging ich mit flotten Schritten durch die Nebenstraßen und befand mich drei Minuten später vor dem Bürohaus von Dempsey. Es war nicht gerade eindrucksvoll. Ein handgemaltes Schild am Eingang informierte mich, daß die Firma ›Internationale Tulpenzwiebel-Importeure‹ ein Büro im ersten Stockwerk unterhielt. Ich klomm die enge Holztreppe empor, ging durch einen halbdunklen 104
Flur und gelangte schließlich zu einer Tür, auf deren Milchglasscheibe die Firmenbezeichnung Internationale Tulpenzwiebel-Importeure, London und Hilversum zu lesen stand. Auf mein Klopfen antwortete die ölige Stimme, die ich am Telefon gehört hatte: »Herein!« Ich öffnete und trat in einen Raum, dessen Fußboden mit abgetretenem Linoleum belegt war. An den verblichenen und teilweise feuchten Tapeten hingen kaum weniger verblichene Plakate mit Landschaften aus Holland sowie ein Kalender, der eine bestimmte Sorte Kunstdünger anpries. Das gesamte Mobiliar bestand aus einem Besucherstuhl mit Holzlehne, einem Aktenregal und einem Schreibtisch. Dahinter saß ein Mann mittleren Alters, der mit offensichtlichem Appetit ein belegtes Brot verzehrte. Sein Gesicht war rund und farblos wie der Vollmond im Dezember. Das strohfarbene Haar war genau über einem Ohr gescheitelt und die wenigen Haare sorgsam über das sonst kahle Haupt gebürstet. »Mr. Scott?« fragte er, mit vollem Munde kauend. Ich nickte, und er machte mit seinem Sandwich eine einladende Bewegung in Richtung auf den einzigen Stuhl. »Haben Sie den Katalog bei sich?« Ich war so vorsichtig gewesen, den Cordwellschen Katalog im Wagen zu lassen, holte jetzt den hervor, den ich von Jan in der Espressobar bekommen hatte, und legte ihn auf den Tisch. Dempsey griff danach, sah sich den Aufkleber genau an und schaute dann fragend zu mir herüber. Einen Augenblick lang war ich ratlos. Ich war mir darüber klar, daß meine nächsten Worte bestimmend für den weiteren Verlauf der Unterredung sein würden. Darum entschied ich mich, ihm den Schwarzen Peter zuzuschieben. »Ich habe mich noch nicht ganz entschlossen, welche Tulpensorten ich…« Mit leichtem Lächeln hielt ich mitten im Satz inne. Offensichtlich hatte ich das Richtige gesagt, Dempsey nickte, biß ein weiteres Stück von seinem Sandwich ab und schnurrte dann 105
eine Liste von Namen herunter, wobei ihm die Krümel aus dem Munde fielen. »Wir haben Verschiedenes: Piccadilly, Roter Papagei, Fantasie, Oktavius, Hilversum Rot…« In diesem Augenblick sah ich den Mann vom Obstkarren vor mir. Ich schaltete sofort und sagte mit erzwungener Fassung: »Ich glaube, ich werde ein paar ›Fantasie‹ nehmen.« Er schluckte die Reste des Brotes hinunter, bohrte mit der Zunge in einem hohlen Zahn, während er mein Gesicht studierte, und fragte dann: »Wieviel?« Mir schien, ich hatte mit der ersten Hälfte des Tips, den mir der Obsthändler gegeben hatte, auf den Sieger Fantasie gesetzt. Jetzt vermutete ich, daß auch die Zeit des Rennens bedeutsam sein mußte, und ich antwortete: »Lassen Sie mich mal überlegen … ich möchte … ja, sagen wir – zwei-dreißig.« Dempseys schmaler Mund verzog sich zu einem Lächeln. »In Ordnung, Mr. Scott«, stimmte er leutselig zu. »Wie wäre es, wenn wir erst mal eine Tasse Kaffee trinken, bevor wir zum Geschäft kommen?« Was mir im Augenblick weit mehr not tat, war ein doppelter Whisky. Außerdem lag mir viel daran, weitere Fragen zu vermeiden. »Danke für die freundliche Einladung«, erwiderte ich zögernd, »aber warum sollen wir Zeit verlieren und jetzt erst noch in ein Restaurant gehen?« »Ich habe immer Kaffee hier im Büro«, antwortete er gut gelaunt, lehnte sich zurück und zog eine Schublade aus dem Aktenschrank. »Anweisung vom Arzt. ›Geben Sie Ihrem Magengeschwür immer etwas zu essen‹, sagte der Doktor. ›Essen Sie stets eine Kleinigkeit und trinken Sie alle zwei Stunden heißen Kaffee.‹« Er holte zwei Frühstückstassen ohne Untertassen hervor, dazu eine Thermosflasche, und stellte alles auf den Tisch. »Heiß wie die Hölle, süß wie die Sünde, nicht wahr, Mr. Scott?« Er lachte glucksend, schraubte den Deckel von der Thermosflasche und goß die dampfende Flüs106
sigkeit in die beiden Tassen. Eine Tasse schob er mir herüber und sagte: »Und nun können wir zum geschäftlichen Teil übergehen.« Dempsey holte ein Schlüsselbund aus der Tasche, suchte einen bestimmten Schlüssel und öffnete damit die Schublade seines Schreibtisches. Meine Handflächen wurden feucht, während ich ihn beobachtete. »Da haben wir es ja!« sprach er, holte einen Gegenstand hervor und stellte ihn neben die Thermosflasche auf den Tisch. Das genaue Gegenstück dazu hatte ich neben Cordwells Leiche liegen sehen… Dempsey schob das buntbemalte Metronom auf seine Schreibunterlage und sah mich erwartungsvoll an. Der Tip des Mannes vom Obstkarren hatte das Kaninchen aus dem Zylinder hervorgezaubert. Jetzt kam ich mir genauso dumm vor wie die Person aus dem Zuschauerraum, die nach Aufforderung des Zauberkünstlers auf die Bühne gekommen war, um sich den Trick aus nächster Nähe abzusehen. Ich fügte mich in die Rolle des passiven Mitspielers und zeigte ein nichtssagendes Lächeln. Wie sich eine Wolke über den Mond schiebt, so verschwand langsam das wohlwollende Grinsen von Dempseys Gesicht. »Nun, Mr. Scott…«, forderte er mich auf. In diesem Augenblick läutete das Telefon. Ohne mich aus den Augen zu lassen, griff er nach dem Hörer. »Internationale Tulpenzwiebel-Importeure«, meldete er sich. Der Teilnehmer am anderen Ende vergeudete keine Zeit mit langen Vorreden. Ich konnte kein Wort des Redeschwalles auffangen, merkte aber, daß es eine Frauenstimme war. Dempsey lauschte mit zunehmender Spannung, die sich in seinen zusammengepreßten Lippen äußerte. Jetzt wußte ich, daß die angespannte, drängende Stimme in der Leitung ihn vor mir warnte. Ganz nebenbei glaubte ich im Klang dieser Stimme etwas Vertrautes zu entdecken. Während des Telefongesprächs setzte ich eine gelangweilte und uninteressierte Miene auf, wie man das so zu tun pflegt, wenn die 107
Person, mit der man sich gerade unterhalten hat, einen Telefonanruf entgegennimmt. Doch wußte ich, daß ich mich so nicht aus der Affäre ziehen konnte. Ein plötzliches Klicken im Hörer zeigte an, daß der Anrufer aufgelegt hatte. Mit finsterer Entschlossenheit legte Dempsey den Hörer auf die Gabel. Während ich mich leicht vom Stuhl erhob, berechnete ich mit bis zum Zerreißen angespannten Nerven die Entfernung bis zur Tür. »Einen Augenblick noch, Mr. Scott…!« rief Dempsey drohend. »Oder sollte ich besser Mr. Frazer sagen?« Mit einem Ruck hatte er die mittlere Schublade aufgezogen, und bevor ich noch die Chance hatte, meinen Stuhl zu verlassen, blickte ich in die Mündung einer Pistole. Meine Lippen waren trocken vor Erregung; doch gelang es mir, ein schwaches Lächeln vorzutäuschen. »Sie sind heute aber wirklich nicht auf der Höhe, Dempsey. Der Sicherungshebel ist ja noch umgelegt.« Seine Augen wanderten zur Sicherung der Waffe. Im selben Moment griff ich nach der Kaffeetasse vor mir und schüttete ihm blitzschnell den heißen Inhalt ins Gesicht. Er stieß einen kurzen Schmerzensschrei aus, ließ die Pistole fallen und griff sich ins Gesicht. Ich fegte die Waffe vom Tisch auf den Fußboden, schnappte mir das Metronom und rannte aus dem .Zimmer.
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ls ich auf die Straße trat, stieg gerade ein Fahrgast aus einem Taxi. Ich nahm schnell seinen Platz ein und fuhr zu dem Parkplatz, wo ich meinen Wagen abgestellt hatte. Von dort kehrte ich dann zur Lennard Street zurück. Ich wollte unbedingt den Mann am Obstkarren noch erwischen, bevor er einpackte und nach Hause fuhr, denn ich wußte jetzt, was mir heute früh so bekannt an ihm vorgekommen war, als ich ihn zum erstenmal gesehen hatte. In dem Augenblick, als Dempsey die Pistole gezückt hatte, war eine ganze Kette von Erinnerungsbildern vor mir abgerollt: Auch dabei sah ich in die Mündung einer Pistole, erhielt einen Schlag auf den Hinterkopf, kam langsam wieder zum Bewußtsein und sah aus dem Augenwinkel die gutgekleidete Gestalt eines blondhaarigen Mannes eine Notiz in mein Zigarettenetui schieben… Nun war ich ganz sicher, daß der Obsthändler und der Mann, der die Notiz für mich hinterlassen hatte, identisch waren. Als ich in die Lennard Street einbog, glaubte ich schon, ich hätte ihn verfehlt. Dann aber sah ich seinen Karren am anderen Ende der Straße stehen. Ich bremste unmittelbar dahinter, stieg aus und ging auf den Mann zu. Er hatte mir den Rücken zugewandt, als ich ihn ansprach: »Schönen Dank für den Tip, er hat sich bezahlt gemacht.« Als er sich umdrehte, schaute ich in ein fremdes, bleiches Gesicht. »Was sagst du, Kumpel? Verwechselst mich wohl mit jemandem?« »Oh, tatsächlich«, antwortete ich lachend. »Ein Pfund Äpfel bitte.« Er sah mich an, als wäre ich betrunken, kam dann wohl doch zu 109
dem Schluß, daß dies nicht der Fall war, legte vier Äpfel in eine Tüte, reichte sie mir und sagte: »Macht dreißig Cent, Chef.« Ich holte eine Fünfpfundnote aus der Brieftasche. »Wo ist der andere Bursche, der heute früh hier bediente?« fragte ich. »Ach, der hat seinen freien Nachmittag«, antwortete er. Dann kratzte er sich hinter dem Ohr. »Haben Sie es nicht kleiner?« »Wegen des Wechselgeldes brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, redete ich ihm zu, während ich mit der Banknote vor seiner Nase wedelte. »Sie brauchen mir nur zu sagen, wo der andere Mann ist.« »Wofür halten Sie mich?« fragte er mißtrauisch. »Verschwinden Sie, aber schnell.« Ich zeigte ihm eine alte Geschäftskarte und überzeugte ihn schließlich, daß der andere ein ehemaliger Schulkamerad von mir gewesen sei. Da rückte er endlich mit der Sprache heraus. »Da ist nicht viel zu erzählen. Der Mann kam und gab mir zehn Pfund, wenn ich ihm für ein paar Stunden den Karren leihen würde. Er sei Schriftsteller, sagte er, und wolle ein Buch schreiben, in dem auch etwas über Straßenhändler vorkommt. Hab' mich schon gewundert, was er wohl anstellen würde, und bin deshalb immer in seiner Nähe geblieben. Er hat sich überhaupt nicht bemüht, etwas zu verkaufen. Dann habe ich heute früh gesehen, wie er mit Ihnen gesprochen hat.« Er wischte sich die Nase mit dem Jackenärmel. »Das ist alles, Chef.« »Werden Sie ihn wiedersehen?« »Weiß nicht. Vielleicht in der Eckkneipe. Dort ist er während der letzten Abende immer gewesen…« »Wenn Sie ihn sehen, geben Sie ihm diese Karte.« Ich reichte ihm meine Geschäftskarte mit der Fünfpfundnote. »Meine Telefonnummer steht drauf. Sagen Sie ihm, er möchte mich anrufen.« »Wird gemacht!« Er steckte das Geld in die Jackentasche und 110
grinste mich zufrieden an. »Donnerwetter! Meine Alte wird mir kein Wort davon glauben.« Als ich mit meinem Wagen aus der Lennard Street in eine andere Straße einbog, sah ich einen schlanken Mann mit steifem Hut am Bordstein stehen. Ungeduld und Verärgerung spiegelten sich auf seinem Gesicht, denn sein Winken mit dem Regenschirm nach einem der besetzten Taxis hatte nicht den geringsten Erfolg. Ich fuhr an den Bürgersteig heran und bremste. »Soll ich Sie mitnehmen, Fairlee?« rief ich ihm durch das offene Fenster zu. »Zu dieser Tageszeit werden Sie kein freies Taxi erwischen.« Er blinzelte etwas verdattert, dann erkannte er mich und lächelte. »Ach, Sie sind es, Frazer. Es wäre wirklich nett von Ihnen, wenn Sie mich an der Ecke Hydepark absetzen könnten.« Entgegen der Wahrheit versicherte ich ihm, ich führe in diese Richtung, und langte hinüber, um ihm die Wagentür zu öffnen. »Da bin ich Ihnen wirklich dankbar, alter Junge«, erklärte er, während er neben mir Platz nahm. »So ein Zufall, daß Sie gerade hier vorbeikamen.« Aus der verschlagenen Art, in der er das sagte, entnahm ich, daß er mich aushorchen wollte. »Wirklich ein großer Zufall«, bestätigte ich. »An sich bin ich hier nur durchgefahren, um dem dichtesten Verkehr auszuweichen.« Ich schleuste meinen Wagen wieder in den Fahrzeugstrom. »Diese Abkürzung muß ich mir für die Zukunft merken.« Natürlich hatte ich ihm nicht aus purer Nächstenliebe die Mitfahrt angeboten. Ich war mindestens genauso neugierig, zu erfahren, was ihn in die Lennard Street geführt hatte, wie er darauf brannte, zu wissen, was ich in dieser Gegend tat. »Sie kommen wohl gerade vom Antiquitätenladen?« leitete ich die Konversation ein. »Ja, aber ohne Erfolg«, gab er zu. »Ich wollte mit Barbara über den Besuch sprechen, den der Kriminalbeamte mir heute nachmittag abgestattet hat. Leider war sie nicht da.« 111
»Das ist natürlich Pech«, murmelte ich und erkundigte mich beiläufig, was Trueman denn nun schon wieder gewollt habe. »In seinem Kopf hat sich der Gedanke festgesetzt, ich könnte ihm Auskunft über einen Mann namens Ericson geben.« »Und können Sie das?« »Nein, natürlich nicht; ich habe nie von diesem Burschen gehört!« Er brachte das so leidenschaftlich hervor, daß ein kurzer Asthmahusten die Folge war. Als er ihn überwunden hatte, fragte er: »Hat er Sie auch über Ericson befragt?« »Ja, er wollte auch von mir wissen, ob ich ihn kenne.« Fairlee schien noch erregter, als er fortfuhr: »Vivien erzählte mir, er sei auch bei ihr wieder gewesen. Es ist mir einfach rätselhaft, warum er so steif und fest davon ausgeht, daß wir alle etwas über diesen Ericson wissen.« »Wir alle?« fragte ich scharf. »Wie meinen Sie das, Fairlee?« »Na, das ist doch so!« erwiderte er. »Er meint Sie, mich, Barbara, Vivien … er traut doch keinem von uns. Seltsame Zustände sind das, wenn ein angesehener Börsenmakler es sich gefallen lassen muß, immer wieder auf unwürdige Weise von so einem idiotischen Polizisten verhört zu werden! Noch dazu in Zusammenhang mit einem Mordfall!« Bis zu dem Zeitpunkt, als wir den Hydepark erreichten, mußte ich einem Monolog über den untadeligen Lebensweg des Arthur Fairlee lauschen. Als ich ihn schließlich verabschiedete, fragte ich mich, ob Barbara auch nur im entferntesten ahnte, worauf sie sich mit dieser Verlobung eingelassen hatte. Eine Stunde später, als ich Barbara Day in einer kleinen Bar gegenübersaß, mußte ich wieder darüber nachdenken, wie unvorstellbar es war, daß ein so attraktives Persönchen mit einem Mann wie Fairlee verlobt war. Sie selbst hatte gefragt, ob wir uns nicht zu einem 112
schnellen Drink treffen könnten. Ihre Stimme hatte am Telefon sehr aufgeregt geklungen. Als ich ihr Feuer für ihre Zigarette gab, sagte ich mit leichter Bitterkeit: »Ein Drink auf die Schnelle, so en passant – wie immer bei uns, nicht wahr, Barbara?« »Es tut mir wirklich leid, Tim.« Impulsiv faßte sie meine Hand, zog die ihre aber schnell wieder zurück. »Aber ich muß Vivien auf jeden Fall in einer halben Stunde treffen. Ich bin seit Mittag nicht mehr im Geschäft gewesen.« Ihr Gesicht umwölkte sich. »Deshalb wollte ich Sie übrigens auch sprechen, Tim … wegen dem, was heute nachmittag geschehen ist.« Ich fingerte am Stiel meines Glases herum. »Was ist denn passiert?« »Heute mittag fuhr ich nach Haus, um mich umzuziehen. Ich hatte mir etwas Kaffee auf mein Kleid gegossen. Da ich in Eile war, achtete ich zunächst nicht besonders auf meine Umgebung. Dann fiel mir aber doch auf, daß einige Dinge nicht an ihrem gewohnten Platz lagen, so daß ich sie in der ganzen Wohnung suchen mußte. Eine Schublade meines Schreibtisches war nicht geschlossen, und die Küchentür stand offen, obwohl ich genau weiß, daß ich sie heute früh zugemacht hatte…« Ihre Augen suchten meinen Blick. »Irgend jemand hat meine Wohnung durchsucht, Tim.« »Wurde etwas gestohlen?« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist es ja gerade, was mich so verwirrt. In der Schreibtischschublade befand sich etwas Geld, und auf meinem Frisiertisch lagen einige Schmuckstücke. Sie sind zwar nicht besonders kostbar, aber ein Dieb hätte sie bestimmt nicht liegen lassen.« »Es sieht ganz so aus, als habe der Eindringling in Ihrer Wohnung etwas ganz Bestimmtes gesucht«, sagte ich. »Vielleicht Briefe, oder ein bestimmtes Dokument – haben Sie in dieser Richtung keinen Anhaltspunkt?« Ich sah sie fragend an. 113
»Aber ich besitze doch nichts, was möglicherweise zu…« Sie hielt plötzlich den Atem an. »Denken Sie an etwas, was man benutzen könnte, um mich zu erpressen?« »So habe ich es nicht gemeint, Barbara«, beschwichtigte ich sie. »Ich wollte damit nicht andeuten, daß Sie…« »Natürlich wollten Sie das nicht, Tim«, erwiderte sie freundlich. Dann aber veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, und sie sagte mit gerunzelter Stirn: »Cordwell war ein Erpresser.« Fast brach ich den Stiel meines Glases entzwei. »Woher wissen Sie das?« fragte ich ungläubig. »Sobald ich die Gewißheit hatte, daß jemand in meine Wohnung eingedrungen war, hielt ich es für besser, Inspektor Trueman anzurufen. Er kam auch bald, schien aber nicht besonders interessiert an dem, was ich ihm zu berichten hatte, und erzählte mir dann aus unerfindlichem Grunde, daß Cordwell ein Erpresser gewesen sei.« Ich legte die Stirn in Falten. »Das sieht dem Inspektor so gar nicht ähnlich, jemandem Informationen zu geben.« »Er hat mich dabei auch so seltsam angesehen; mir schien, er wollte auf etwas anspielen, was mit Cordwells Erpressertätigkeit zusammenhing.« Ihre Lippen begannen zu zittern. »Ich hatte das schreckliche Gefühl, er wollte andeuten, daß Cordwell und ich…« Sie zögerte. »Daß Sie beide einer Erpresserbande angehörten?« Ich schüttelte lachend den Kopf. »Trueman ist ein typischer Kriminalbeamter. Er wird stets versuchen, den anderen in die Defensive zu treiben. Was hat er denn sonst noch wissen wollen?« »Ob Cordwell tatsächlich Zigarren geraucht hat.« »Sehr stark duftende Zigarren sogar, wenn ich mich recht erinnere, damals im Restaurant de Kroon«, erwiderte ich. Plötzlich kam mir zum Bewußtsein, wie komisch die Frage des Inspektors war. »Was wollte er denn damit erfahren? Hat er Ihnen nicht gesagt, warum er das wissen wollte?« 114
»Er erzählte nur, die Polizei habe Cordwells Hotelzimmer in der Cromwell Road durchsucht und dabei mehrere Kisten Zigarren gefunden. Volle Kisten.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung, warum er glaubt, das würde mich interessieren oder in Verlegenheit bringen. Er schien zu erwarten, daß ich nach Kenntnis dieser Information zusammenbrechen und ein Geständnis ablegen würde.« »Jetzt gehen Ihnen aber wohl doch die Nerven durch, Barbara! Sie sollten Ihrer Phantasie nicht so viel freien Lauf lassen.« Während ich dies sagte, überlegte ich krampfhaft, was Trueman mit dieser Mitteilung bezweckt haben mochte. »Ich bin trotzdem froh, Barbara, daß Sie mich unterrichtet haben. Sie wissen doch, daß Sie mit allem Kummer zu mir kommen können.« »Ja, das weiß ich«, erwiderte sie. Sie senkte den Blick, zögerte eine Weile und spielte dann an Ihrem Glas. »Nun kommen Sie schon heraus mit der Sprache. Sie haben doch noch etwas auf dem Herzen«, ermunterte ich sie. »Ach, ich frage mich nur, warum ich eigentlich Arthur nicht angerufen habe, als das alles abrollte.« »Und warum nicht, Barbara?« »Ich weiß es selbst nicht. Es ist mir gar nicht in den Sinn gekommen. Ich dachte nur an Sie…« Jetzt sah sie mich forschend an. »Ich griff einfach nach dem Telefon und wählte Ihre Nummer.« In diesem Augenblick konnte ich mir Richards' spöttisches Lachen vorstellen. »Da Sie gerade von Arthur sprechen«, unterbrach ich sie, »ich traf Ihren Verlobten, kurz bevor Sie anriefen, und nahm ihn in meinem Wagen bis zum Hydepark mit.« »Sie haben ihn getroffen? Wo denn?« »An der Ecke Lennard Street.« »Ich hatte erwartet, daß er in meinen Laden kommen würde. Wie gut, daß ich nicht da war; so blieben mir wenigstens seine endlosen Tiraden darüber erspart, wie die Publizität um die Cordwell-Affäre 115
sein Geschäft ruiniere. Er denkt doch nicht einen Augenblick daran, wie sehr ich von all den Geschehnissen geplagt werde.« »Wenn ich ihn recht verstanden habe, hat Inspektor Trueman ihn schon wieder aufgesucht, um ihn erneut nach Ericson zu fragen.« »Ich kann diesen Namen nicht mehr hören«, murmelte sie. »Fairlee erzählte mir, die Polizei habe selbst Vivien Gilmore nach Ericson befragt«, berichtete ich weiter und beobachtete sie dabei sehr genau. »Hat sie den Namen jemals Ihnen gegenüber erwähnt?« »Nur als sie mir erzählte, daß Trueman sie danach gefragt hätte.« Barbara runzelte die Stirn. »Tim, Sie glauben doch nicht etwa, daß Vivien diesen Ericson kennt?« Ich lächelte ironisch. »Sollte es so sein, würde sie es mir am wenigsten anvertrauen.« Sie konnte ein leises Lächeln nicht unterdrücken. »Es war töricht von mir, so zu fragen. Aber in dieser Atmosphäre des Argwohns beginnt man selbst an den eigenen Freunden zu zweifeln. Ich kann nur hoffen, daß Sie mich nicht auch schon beargwöhnen, Tim.« »Bestimmt nicht! Warum sollte ich auch?« Sie antwortete nicht, sondern sah auf ihre Armbanduhr. »Jetzt muß ich aber wirklich gehen.« Nach Handschuhen und Handtasche greifend, stand sie auf. »Schade, daß ich keine Zeit mehr habe.« Ich erhob mich ebenfalls. »Vielleicht läßt es sich so einrichten, daß wir zusammen zu Abend essen?« »Ich fürchte, nein. Ich werde den ganzen Abend bei Vivien sein.« Sie legte eine Hand auf meinen Arm. »Wenn Ihnen inzwischen ein Grund einfallen sollte, weshalb man meine Wohnung durchsucht haben könnte, dann rufen Sie mich bitte bei Vivien an. Sie finden ihre Nummer im Telefonverzeichnis.« Ich versprach es und geleitete sie zur Tür. Sie verschwand im Menschengewühl von Park Lane, und ich kehrte zu meinem Tisch zurück. 116
Bei einem zweiten Sherry dachte ich über das eben Gehörte nach. Als ich mein Zigarettenetui hervorholte und gedankenverloren mit den Fingern darauf herumtrommelte, fügten sich die gedanklichen Bruchstücke plötzlich wie selbstverständlich zusammen. Dieselben Männer, die meine Wohnung durchsucht hatten, mußten auch in Barbaras Wohnung eingedrungen sein. Sie suchten offensichtlich, was sie bei mir nicht gefunden hatten, etwas, was klein genug war, daß es sich in einer Puppe verstecken ließ. Ich trug denselben Anzug wie in der Mordnacht. In der kleinen Innentasche meiner Jacke fanden meine Finger, was sie suchten – den Schlüssel zu Barbaras Wohnung. Behutsam schloß ich die Wohnungstür hinter mir und stand dann einen Augenblick lauschend im dunklen Flur des Apartments von Crawford Mansion House Nr. 23. Richards' Worte fielen mir ein: »Ich hoffe doch, Sie können auf sich achtgeben, Frazer? … Eine Menge anderer Leute haben das auch gesagt… Vielleicht auch Leo Salinger…« Es war ein Risiko, das ich auf mich nehmen mußte. Ich ging zur Wohnzimmertür und stieß sie mit der behandschuhten Rechten weit auf. Ein zweites Mal wollte ich keine Spuren hinterlassen, wenn Trueman noch einmal Grund haben sollte, hier nach Fingerabdrücken zu suchen. Das Zimmer lag in tiefer Dunkelheit, die schweren Vorhänge waren schon vorgezogen. Im huschenden Schein meiner Taschenlampe gähnten mich die leeren Sessel und die Couch auf ungemütliche Weise an. Mit schnellen Schritten war ich an der Schlafzimmertür, riß sie auf und sah hinein. Ich erblickte ein leeres Bett, auf dem eine rosafarbene Decke lag, einen Kleiderschrank, dessen Türen weit offenstanden, und verspürte den schwachen Duft von Barbaras Parfüm. Sonst nichts. Ich kehrte ins Wohnzimmer zurück und schaltete das Licht ein. Im selben Augenblick ordneten sich die Dinge in mei117
nem Kopf, und ich kam auf die Idee, die Szene zu rekonstruieren, in der Cordwell vermutlich seinem Mörder gegenüberstand. Zwei Annahmen waren es vornehmlich, die meine nun folgenden Handlungen bestimmten. Die erste war, daß der Zigarrenrauch, den ich am Mordabend im Zimmer gespürt hatte, mehr als rein zufällige Bedeutung haben mußte. Der zweite Schluß war, daß Cordwells Mörder des Opfers unmittelbare Reaktion auf seinen Angriff nicht erfaßt hatte. Darüber hinaus vertraute ich darauf, daß alle, die vor mir die Wohnung durchsucht hatten, nicht die gleichen Gedankengänge gehabt hatten wie ich und somit nicht gefunden hatten, was ich jetzt suchte. Ich ging zu der Stelle hinüber, wo Cordwells Leiche gelegen hatte, nahm mir eine Zigarette und steckte sie in den Mund. Dann wandte ich mich zur Tür um, wobei ich mir vorstellte, mir sei blitzartig bewußt geworden, daß ein Angriff auf mich unmittelbar bevorstehe. Ich handelte auf die gleiche instinktive Weise, wie ein Mensch sich bewegen würde, der einen Angreifer abwehren muß. Ich riß mir mit einem Ruck die Zigarette aus dem Mund und warf sie in hohem Bogen fort. Dann erst ließ ich die Augen von dem imaginären Angreifer. Meine Zigarette war neben einen Papierkorb gefallen. Ich hob sie auf und untersuchte dann den Inhalt des Korbes. Zerrissene Umschläge und Reklameschreiben waren das einzige, was ich fand. Nach einigen Überlegungen folgerte ich, daß Cordwells Zigarre ungefähr doppelt so weit geflogen sein mußte wie meine federleichte Zigarette. Dementsprechend dehnte ich den Radius meiner Suchaktion aus und gelangte dabei zum Kamin. Meine Hände zitterten, als ich niederkniete und unter dem Rost des elektrischen Kaminfeuers herumtastete. Plötzlich berührten meine Finger einen glatten, zylindrischen Gegenstand. Ich zog ihn hervor und stand auf. In der Hand hielt ich eine halbgerauchte Zigarre in einer kurzen Zigarrenspitze. Es war dieselbe Spitze, die ich im Café de Kroon bei Cordwell gesehen hatte. 118
Ich ging zum Tisch, breitete mein Taschentuch aus und legte Zigarre und Zigarrenspitze darauf. Mit einem Brieföffner, den ich auf dem Schreibtisch fand, schlitzte ich die Zigarre auf. Der durchdringende Geruch kalten Tabaks stieg mir in die Nase. Ich rieb die Tabakblätter zwischen den Fingern, nahm mir dann die Zigarrenspitze vor und untersuchte sie gründlich. Das Material war Meerschaum, von Nikotin ziemlich verfärbt. Enttäuscht drehte ich sie zwischen Daumen und Zeigefinger, wobei mir der Gedanke nicht sehr angenehm war, wie nahe dieser Gegenstand einst mit dem toten Cordwell verbunden gewesen war. Plötzlich bemerkte ich zwischen Mundstück und der Hülle für die Zigarre eine Vertiefung. Nun benutzte ich Daumen und Zeigefinger beider Hände, um das Mundstück abzuschrauben, und bohrte schließlich mit einem Streichholz das heraus, was in der Vertiefung verborgen lag und so schwer ans Tageslicht zu befördern war. Zwei Diamanten beachtlicher Größe fielen mir prismatisch funkelnd in die Innenfläche der Hand.
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nd ob das Diamanten sind, mein Lieber! Ich kann sie zwar im Wert nicht genau abschätzen, aber einen ganz schönen Batzen sind sie schon wert, das kann ich Ihnen versichern, Frazer.« Es war am Nachmittag des folgenden Tages. Den ganzen Vormittag über hatte ich versucht, mit Ross Verbindung aufzunehmen; aber weder er noch Richards waren zu erreichen. Jetzt saß ich in der Bibliothek des Hauses am Smith Square und beobachtete, wie 119
Richards mit seinen langen, knochigen Fingern die Diamanten auf einem Löschblatt hin und her rollen ließ. »Richards war früher einmal ein Diamantenhändler«, erklärte Ross trocken, als er sich mir zuwandte. »Im übrigen paßt das alles sehr gut zu gewissen Dingen, die wir inzwischen ausgegraben haben. Die Akte Cordwell von Interpol enthält eine Menge Vorstrafen wegen Handels mit gestohlenen Edelsteinen auf dem Kontinent. Meiner Ansicht nach war Cordwell als Kurier für Ericson tätig und schmuggelte Diamanten nach England. Außerdem ist er aktenmäßig auch als Erpresser bekannt.« Ich lächelte. »Diese Information habe ich auch schon erhalten, und zwar von Barbara Day. Trueman erzählte ihr von Cordwell; wahrscheinlich nur, um herauszufinden, ob auch sie von ihm erpreßt wurde.« »Das wäre allerdings ein Motiv für einen Mord«, meinte Ross. »Aber nicht in diesem besonderen Fall. Cordwell wurde umgebracht, weil jemand wußte, daß er diese Diamanten bei sich hatte.« »Und Ericson hatte es so eingerichtet, daß er Cordwell in der Wohnung von Barbara Day treffen würde«, ergänzte Richards. »Was bedeuten würde, daß sie ebenfalls Mitglied dieser Schmuggelorganisation ist«, sagte ich mit gerunzelter Stirn. »Ich kann das einfach nicht glauben! Erinnern Sie sich, daß ich Barbara beobachtete, als sie in ihre Wohnung zurückkehrte und Cordwells Leiche fand. Sie war völlig konsterniert und ganz offensichtlich auch von panischer Angst erfaßt, als sie mit der Polizei telefonierte.« Ich schüttelte den Kopf. »Sie ist genauso ratlos, wie wir es sind.« Richards lehnte sich vor, um mir zu antworten; aber Ross gab ihm einen Wink, sich zurückzuhalten. »Was halten Sie von dem Telefonanruf, als Vivien Gilmore Ericson erwähnte? Leugnet Barbara Day immer noch, je diesen Namen gehört zu haben?« »Sie fragte mich heute, ob ich der Ansicht wäre, Vivien sei vielleicht mit Ericson bekannt. In gewisser Weise könnte das diesen 120
Anruf erklären. Nehmen wir einmal an, Vivien kennt Ericson wirklich – hat vielleicht ein Verhältnis mit ihm, ohne zu wissen, daß er in kriminelle Sachen verwickelt ist. Würde das nicht erklären, warum Miß Day leugnet, Ericson zu kennen? Ich meine, daß eine Freundin die andere deckt.« »Das spricht für Ihren Einfallsreichtum, erklärt aber nicht, wieso Cordwell in Barbara Days Wohnung ermordet wurde.« »Nein«, gab ich zu. »Das tut es nicht.« Während dieses Gesprächs hatte Ross unaufmerksam mit den Fingern auf den Tisch getrommelt; er verfolgte bereits einen neuen Gedankengang. »Sagten Sie nicht, Sie hätten den Mann am Obstkarren als einen der beiden identifiziert, die bei Ihnen eingebrochen und Ihre Wohnung durchsucht haben?« »Ich bin mir da ziemlich sicher.« »Und sind die beiden Ihrer Meinung nach auch in Miß Days Wohnung gewesen?« »Das kann ich natürlich nicht mit Sicherheit behaupten. Fest steht, daß jemand dort war – wir können nur vermuten, daß es dieselben Männer gewesen sind.« Ross nickte. »Ich sehe die Sache so: Wenn die beiden zu Ericsons Organisation gehörten, dann haben sie nach Richards' Ansicht Wind davon bekommen, daß Cordwell sich mit Ericson treffen wollte. Sie haben Ericson übers Ohr gehauen und Cordwell ermordet, um sich selbst die Diamanten anzueignen.« Richards blickte, sich konzentrierend, zur Zimmerdecke. »Es könnte natürlich auch sein, daß einer der beiden selber Ericson war. Vielleicht hat er sich bei diesem Zusammentreffen mit Cordwell zu einer unüberlegten Gewalttat hinreißen lassen«, gab er zu bedenken. »Das wäre absolut möglich, Richards.« Ross rieb sich einen Augenblick nachdenklich das Kinn und wies dann mit der Hand auf die drei Metronome, die auf seinem Schreibtisch standen. »Wir haben diese drei Dinger da untersuchen lassen. Sie sind nichts weiter 121
als ganz normale Metronome. Was sie für eine Bedeutung haben, ist mir noch völlig schleierhaft. Können Sie es sich vielleicht denken, Frazer?« »Für mich steht fest, daß Dempsey zur Organisation Ericson gehört. Sicher ist er ein Strohmann, dessen Geschäft dazu benutzt wird, gestohlene Diamanten anzukaufen. Der Tulpenkatalog gilt als Ausweis, um den Verkäufer zu identifizieren. Als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme muß der Dieb auch noch ein Kodewort nennen, in diesem Falle ›Fantasie zwei-dreißig‹. Es muß aber noch eine dritte Prozedur geben, eine, die etwas mit dem Metronom zu tun hat.« »Hat dieser Dempsey irgend etwas gesagt, als er das Metronom hervorholte?« fragte Ross. »Kein Wort. Offensichtlich war ich an der Reihe, eine bestimmte Äußerung zu tun. Ich war verdammt froh, als sein Telefon in diesem Augenblick läutete.« »Sie sagten, die Stimme am Telefon sei Ihnen bekannt vorgekommen?« erkundigte sich Richards. »Ich bin ziemlich sicher, daß es Vivien Gilmore war.« »Dann gehört auch sie zur Organisation Ericson. Und Dempsey wird ihr das Nötige über Sie gesagt haben.« Ross sah mich ernst und warnend an. »Von jetzt an müssen Sie mit Unannehmlichkeiten rechnen, Frazer.« »Und das nicht nur mit der Ericson-Bande, mein Lieber«, setzte Richards zynisch hinzu. »Trueman ist noch keinesfalls mit Ihnen fertig. Mir scheint, er ist bei weitem noch nicht davon überzeugt, daß Sie die Verabredung mit Barbara Day in der Mordnacht nicht eingehalten haben.« Ich sah zu Ross hinüber. »Warum kann man Trueman nicht einfach ins Vertrauen ziehen?« Ross schüttelte energisch den Kopf. »Lassen Sie es sich ein für allemal gesagt sein, Frazer: Ich bin nur an Salinger interessiert. Ich möchte sicher sein, daß er ein ehrenwerter Agent und nicht in die122
sen Diamantenschmuggel verwickelt war. Die Aufklärung des Mordes ist Sache der Polizei. Sie müssen sich aus der Affäre ziehen, so gut es eben geht.« Sein Blick wurde hart. »Weiß erst einmal die Polizei, was Sie tun, dann können auch die Zeitungen bald Wind davon bekommen. Und dann steht diese Dienststelle hier im Scheinwerferlicht.« Er schnaubte verächtlich. »Das wäre ein gefundenes Fressen für die Sensationspresse: Britischer Geheimagent in CordwellMordaffäre verwickelt … oder wie die Schlagzeilen lauten mögen. Möglicherweise kommt es noch zu einer Anfrage im Unterhaus. Nein, Frazer, mit diesen Sachen müssen Sie schon allein fertig werden.« »Geht in Ordnung, Sir«, antwortete ich. »Aber wenn ich schon auf mich allein gestellt arbeiten muß, dann möchte ich auch freie Hand haben.« Ross sah mich scharf an. »Was haben Sie vor, Frazer?« »Die Einzelheiten habe ich noch nicht ausgearbeitet«, erklärte ich munter. »Doch mir scheint ein nochmaliger Besuch bei Dempsey angebracht.« Als ich wieder in meinem Wohnzimmer saß, war mir bedeutend weniger forsch zumute als vorhin bei Ross. Daß ich Dempsey wiedersehen mußte, lag auf der Hand. Schließlich bildete er für mich das einzige Bindeglied zu Ericson. Und um die Wahrheit über Leo Salinger herauszufinden, war es am besten, ein Treffen mit dem Leiter der Schmuggelorganisation herbeizuführen. Ich hatte keine Ahnung, wie Ericson in einer solchen Situation reagieren würde, abgesehen davon, daß die Reaktion vermutlich in höchstem Grade unangenehm sein würde. Im Augenblick war ich nur damit beschäftigt, eine Geschichte zusammenzubrauen, die Dempsey veranlassen konnte, mich an Ericson weiterzuleiten. Aber das mußte schon eine sehr überzeugende Geschichte sein. Wie ein Tiger im Käfig lief ich in meinem Wohnzimmer auf und 123
ab, bis ich es nach einer halben Stunde aufgab. Es war schon nach achtzehn Uhr, und die Dämmerung brach herein. Ich schaltete die Tischlampe ein, und im selben Augenblick setzte mein Herzschlag für einen Moment aus. Hatte ich gestern abend eigentlich das Licht in Barbaras Wohnung ausgeschaltet? Mich beunruhigte das Gefühl, es in meiner Erregung über die gefundenen Diamanten vergessen zu haben. Ich entschloß mich, sie anzurufen. Ganz bestimmt würde sie es erwähnen, wenn bei ihrer Rückkehr das Licht in der Wohnung gebrannt hatte. Schnell blätterte ich im Telefonbuch, um die Nummer des Antiquitätenladens zu finden. Dabei überlegte ich, welchen Vorwand ich für den Anruf angeben konnte. Während ich die Nummer wählte, mußte ich ein wenig schuldbewußt lächeln. Wäre Richards hier gewesen, hätte er sicherlich eine bissige Bemerkung gemacht. Vivien Gilmore war am Apparat. Ich nannte ihr meinen Namen und fragte nach Barbara. Sie antwortete gar nicht erst, sondern rief: »Es ist dieser Frazer, Barbara!« Fast unmittelbar darauf wurde der Hörer von Barbara übernommen, die in flüsterndem Ton zu mir sprach: »Tim … ich war gerade im Begriff, hier wegzugehen, um Sie anzurufen.« Dann hatte die Lampe also doch gebrannt, dachte ich mir. »Ist es etwas Wichtiges, Barbara?« fragte ich laut. »O ja.« Sie sprach schnell und leise. »Ich kann es Ihnen jetzt nicht sagen. Können wir uns nicht abends treffen?« »Wie wäre es, wenn wir zusammen essen würden?« Sie zögerte. »Können wir uns an einem ruhigen Ort ungestört unterhalten?« »Dann sollten wir uns bei Marino treffen. Kennen Sie das Lokal in der Charlotte Street? Ich werde um halb acht dort sein.« Wir verabschiedeten uns und legten auf. Dabei bemerkte ich, daß der alphabetisch geordnete Adressenblock, den ich stets neben dem 124
Telefon liegen hatte, verschwunden war. Ich hatte ihn schon seit mehreren Tagen nicht mehr benötigt, so daß ich nicht genau wußte, wie lange er schon fehlte. Ich fragte mich, ob der Mann, der meine Wohnung durchsucht hatte, ihn sich vielleicht eingesteckt hatte, um später in Ruhe die Namen meiner Telefonliste zu überprüfen. Dann erinnerte ich mich, daß die letzte Nummer, die ich darauf notiert hatte, die von Barbara gewesen war. Das würde vielleicht erklären, warum man ihre Wohnung durchsucht hatte. Die anderen Namen und Adressen würden für ihn uninteressant sein. Glücklicherweise waren Ross und auch Richards auf der Liste nicht notiert. Das Telefon läutete. Ich hob ab, nannte meine Nummer und hörte, wie der Zahlknopf eines Münzautomaten gedrückt wurde. Dann fragte eine akzentuierte Stimme: »Spreche ich mit Mr. Frazer?« Ich erkannte die Stimme und packte unwillkürlich den Hörer fester. Zweifellos gehörte sie dem Manne, der mir den Zettel in das Zigarettenetui geschoben hatte. »Ja«, antwortete ich. »Mein Name ist van Dakar«, sprach die Stimme weiter. »Sie kennen mich nicht.« »Fantasie, zwei-dreißig, bester Tip der Woche, Chef«, erwiderte ich und ahmte nach, wie er den Obsthändler gespielt hatte. »Gratuliere zu Ihrem Cockneyakzent, Mr. van Dakar.« Er lachte. »Den habe ich in Ihren Londoner Kneipen aufgeschnappt.« Sein Ton änderte sich. »Sie haben dem Obsthändler Ihre Karte gegeben. Haben Sie Lust, sich mit mir zu treffen?« »Sehr sogar«, antwortete ich, wobei ich mir sanft über den Hinterkopf strich. »Ich habe immer noch eine leicht schmerzhafte Erinnerung an unser erstes Zusammentreffen.« »Sie haben erraten, daß ich das war? Nun, nicht so schlimm. Ich kann mich jetzt bei Ihnen entschuldigen. Wir haben in Ihrem Falle einen schweren Fehler gemacht, Mr. Frazer.« 125
»Wir?« fragte ich. »Am Telefon kann ich Ihnen das nicht alles erklären. Wenn ich es später tue, werden Sie aber einsehen, daß mein Freund und ich einen legitimen Grund hatten, Ihre Wohnung zu durchsuchen.« »Und mir dabei meinen Merkkalender mit Telefonnummern zu stehlen?« »Ich verstehe Sie nicht, Mr. Frazer. Aus Ihrer Wohnung wurde von uns nichts entwendet.« Sein Ton wurde nachdenklich. »Mir scheint es doch sehr wichtig zu sein, daß wir uns bald treffen. Vielleicht sogar sofort?« »Das wird leider nicht möglich sein. Ich habe für halb acht Uhr eine Verabredung zum Abendessen.« »Ach so. Wo werden Sie speisen, bitte?« Ich zögerte. In seinem Ton lag jedoch eine Dringlichkeit, die mir zu erkennen gab, daß ich mehr als nur meine Neugier befriedigen könnte, wenn ich diesen Mann noch am selben Abend traf. »In der Charlotte Street«, antwortete ich. »Ich werde dort mit jemandem zu Abend essen.« »Und die Nummer Ihres Wagens?« Verwundert zuckte ich mit den Schultern. »297 GPD.« »Sobald Sie sich von Ihrem Bekannten verabschiedet haben, fahren Sie bitte zum Grosvenor Square und halten Sie kurz vor dem Haupteingang der amerikanischen Botschaft«, wies er mich ganz geschäftsmäßig an. »Ich werde dort um elf Uhr auf dem Bürgersteig auf Sie warten.« »Warum müssen Sie es so spannend machen?« fragte ich ärgerlich. »Können wir uns nicht einfach zu einem Drink treffen?« »Es ist besser, wenn wir nicht zusammen gesehen werden«, erwiderte er ernst. »Ich muß Sie warnen, Mr. Frazer. Die Leute, mit denen wir es zu tun haben, lassen nicht mit sich spaßen. Sie werden keinen Augenblick zögern, gewalttätig zu werden – wenn nicht gar Schlimmeres zu tun.« 126
Schon wieder dieses ›wir‹. »Mir wäre wohler, wenn ich wüßte, wer Sie wirklich sind, Mr. van Dakar«, äußerte ich scharf. »Ich werde Ihren Wissensdurst später befriedigen, sobald Sie mit Miß Day gespeist haben.« »Einen Augenblick mal!« rief ich aus. »Ich habe Ihnen doch gar nicht gesagt…« »Ich habe nur auf den Busch geklopft, Mr. Frazer«, unterbrach er mich mit kurzem Lachen. »Im übrigen ist es ganz gut, daß Sie nicht zu Miß Day in die Wohnung eingeladen wurden. Auf diese Weise können Sie Ihre Tasse Kaffee wenigstens unbesorgt trinken.« »Was, zum Teufel, wollen Sie damit sagen?« erhitzte ich mich. Er sprach nicht mehr weiter. Ich hörte ein Aufseufzen, danach das Splittern von Glas und das klappernde Geräusch, als der Hörer auf das Pult der Telefonzelle fiel. »Van Dakar!« rief ich. »Van Dakar! Was ist geschehen?« Plötzlich war nur ein seltsam erstickter Laut zu vernehmen, lautes Stimmengewirr und der entsetzte Schrei einer Frau. Ich rief immer wieder ›Hallo!‹ ins Telefon, aber es antwortete niemand, bis schließlich jemand den Hörer auf die Gabel knallte. Ich legte meinerseits auf und zögerte. Es würde unmöglich sein festzustellen, woher der Anruf gekommen war. Vielleicht sollte man die Polizei benachrichtigen? Dann entschied ich mich jedoch dafür, nichts zu unternehmen, da ein Anruf bei der Polizei mich wieder zu Erklärungen nötigen würde, die dort mehr als nur vorübergehendes Interesse wecken mußten. Ich hatte keine Lust, mich erneut von Trueman ausquetschen zu lassen. Van Dakar blieb mir ein Rätsel. Aus den Andeutungen, die er gemacht hatte, mußte ich den Eindruck gewinnen, daß er in dieser Angelegenheit auf der Seite von Gesetz und Recht stand. Und nach den Geräuschen in der Telefonzelle schien es mir höchst unwahrscheinlich, daß er unsere Verabredung um elf Uhr einhalten würde. Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Mir blieben noch zwanzig Mi127
nuten, um zur Charlotte Street zu gelangen. Marino ist mein Stammlokal, dort habe ich an einem Ecktisch meinen Platz. Der Kellner brachte mir einen Tio Pepe und die Speisekarte. Während ich das Menü zusammenstellte, das ich Barbara empfehlen wollte, versuchte ich gleichzeitig, meine Gedanken von diesem van Dakar abzulenken. Der Vorfall in der Telefonzelle hatte mich nervös gemacht, und ich wollte nicht, daß Barbara es mir anmerkte. Ich erwartete ohnehin, daß ich Mühe haben würde, mich wegen des Lichts in ihrer Wohnung am Abend zuvor geschickt aus der Affäre zu ziehen, zumal ich den Eindruck gewonnen hatte, daß sie mich irgendwie mit der vorangegangenen Durchsuchung ihrer Wohnung in Verbindung brachte. Im selben Augenblick, als Barbara im Restaurant auftauchte, wußte ich auch schon: Was immer auch auf ihrem Abendprogramm stehen mochte, ein Abendessen mit mir würde es bestimmt nicht sein. Sie trug ihr rotes Kleid und eine Andeutung von Hut. »Es tut mir schrecklich leid«, begann sie schuldbewußt, »aber ich fürchte, aus unserem Abendessen wird nichts.« Ich verspürte ein Gefühl der Erleichterung, tat jedoch mein Bestes, dies zu verbergen. »Sie werden doch wenigstens Zeit zu einem kleinen Drink haben«, erklärte ich, während ich aufstand und ihr einen Stuhl hinschob. »Außerdem habe ich das Gefühl, Sie könnten ein Beruhigungsmittel brauchen.« »Genauso ist es«, antwortete sie seufzend und setzte sich. »Aber ich habe nicht viel Zeit. Vivien wartet draußen in meinem Wagen. Es gibt Ärger wegen eines alten Stückes, das wir in St. Albans erworben haben. Wir haben einen Kunden dafür, und jetzt behauptet der Auktionator auf einmal, er habe unser Gebot nicht angenommen. Vivien kann es nicht abwarten, die Sache mit ihm auszutragen.« 128
Ich hielt die Stunde für reichlich spät, geschäftliche Meinungsverschiedenheiten mit einem Auktionator auszutragen, und sagte dies auch. »Er tätigt sehr oft Geschäfte noch am späten Abend«, erklärte Barbara und spielte mit dem Aschenbecher, der vor ihr stand. »Aber ich mußte Sie unbedingt sprechen. Es ist wegen meiner Wohnung. Dort ist schon wieder etwas Seltsames passiert.« »Wirklich?« erwiderte ich mit betont höflichem Interesse. »Ich besitze zwei Wohnungsschlüssel. Einen habe ich stets bei mir« – sie deutete auf ihre Handtasche –, »und der andere liegt immer auf dem chinesischen Tisch im Vorraum.« Sie legte eine Pause ein, die etwas zu sehr pointiert war. Um sie zu überbrücken, forderte ich Barbara auf: »Ja und?« »Als ich heute früh nach dem Reserveschlüssel sah, war er fort! Ich versuchte sofort, Sie anzurufen, aber es meldete sich niemand.« »Warum wollten Sie denn gerade mich anrufen, Barbara? Ich hätte Ihnen doch auch nicht helfen können.« »Natürlich nicht, aber…« Ihre Augen sahen mich sonderbar an. »Nun ja, ich habe Ihnen doch schon erzählt, daß man meine Wohnung durchsucht hat, und da dachte ich, die Sache mit dem verschwundenen Schlüssel würde Sie ebenfalls interessieren.« Ich unternahm den Versuch, Interesse für den Verbleib eines Schlüssels zu bezeugen, der sich in diesem Augenblick in der Tasche eines meiner Anzüge im Kleiderschrank befand. »Wenn dieser Schlüssel wirklich benutzt worden ist, um in Ihre Wohnung einzudringen – wie ist der Eindringling denn vorher in seinen Besitz gelangt?« forschte ich. »Gerade das macht mir Sorgen.« Sie sah mir lange fest in die Augen. »Jemand, der mich in den letzten Tagen in meiner Wohnung besucht hat, muß ihn an sich genommen haben.« Ich wartete, bis sie weitersprach. »Es waren nur vier Personen«, rekapitulierte sie, ohne den Blick von mir zu wenden. »Vivien, Ar129
thur, dieser Kriminalbeamte und … Sie.« »Sie vergessen Cordwell«, fügte ich schnell hinzu. »Und seinen Mörder.« »Cordwell wurde ermordet…«, begann sie. Dann nahm ihre Stimme einen aufgeregten Klang an. »Der Mörder! Ob er den Schlüssel mitgenommen hat … und gestern zurückgekommen ist?« Bis zu dem Augenblick, als van Dakar mich anrief, hatte ich geglaubt, dieses Problem gelöst zu haben. Jetzt mußte ich diesen Gedankengang korrigieren. »Das ist doch absolut möglich«, antwortete ich und schoß dann eine gezielte Frage ab. »Wie ist Cordwell überhaupt in Ihre Wohnung hineingekommen?« Sie starrte mich einen Augenblick schweigend an und fragte dann mit ruhiger Stimme: »Sie wollen doch wohl nicht andeuten, ich hätte ihm einen meiner Schlüssel gegeben?« »Aber nein«, begann ich kleinlaut, »was ich meinte – aber schlecht ausgedrückt habe, war, daß der Mörder über die Feuerleiter in Ihre Wohnung eingedrungen sein könnte. Und als Cordwell dann an der Tür läutete…« »O Tim«, sagte sie müde. »Warum hätte Cordwell denn bei mir läuten sollen?« »Immerhin war er ja in London, und da war es für ihn doch ein leichtes, im Telefonbuch Ihre Adresse ausfindig zu machen und Ihnen dann schnell entschlossen einen Besuch abzustatten…« Sie erhob sich. »Es ist wieder der alte Circulus vitiosus, die Katze, die sich in den Schwanz beißt. Das bringt uns einfach nicht weiter, nicht einen Schritt.« Sie blickte auf ihre Uhr. »Oje, ich bin schon zehn Minuten hier; Vivien wird gleich einen Wutanfall bekommen.« Ihr Blick wurde plötzlich sanft. »Ich komme mir wirklich abscheulich vor, daß ich Sie so oft einfach sitzenlasse.« »Es gibt immer wieder mal einen Abend«, beruhigte ich sie. »Vielleicht morgen?« 130
»Morgen abend esse ich mit Arthur. Und an allen anderen Abenden dieser Woche habe ich bereits feste Verabredungen.« Plötzlich hellte ihr Gesicht sich auf. »Ich habe eine Idee! Ich werde sehen, daß wir gegen zehn Uhr von St. Albans zurück sind. Kommen Sie kurz nach zehn bei mir vorbei, dann können wir wenigstens noch zusammen eine Tasse Kaffee trinken.« In diesem Augenblick erschien der Wirt höchstpersönlich an unserem Tisch. Bestürzt über das offensichtliche Zeichen des Aufbruchs, hob er beschwörend die Hände. Sie lächelte ihn freundlich an und war nach einem kurzen Winken verschwunden. Ich beruhigte den Wirt, der sich herbemüht hatte, um die Wünsche der Dame persönlich entgegenzunehmen. »Es hat nichts mit der Bedienung zu tun«, versicherte ich ihm, »ihre Schwester ist plötzlich erkrankt.« Ich bestellte dann die Scampi, die seiner Empfehlung alle Ehre machten. Aber meine Gedanken waren bei der Tasse Kaffee, die folgen sollte … dem Kaffee um zehn Uhr in Barbaras Wohnung. Ich verließ das Restaurant in zwiespältiger Stimmung, enttäuscht einerseits wegen Barbaras erneuter Ausflucht, andererseits in Erwartung unseres nächsten Zusammentreffens. Einige Minuten lang saß ich in meinem Wagen und überlegte, wie und wo ich die nächsten Stunden verbringen sollte. Zwar gab es in unmittelbarer Nähe eine ganze Reihe guter Lokale; aber es schien mir unbedingt notwendig, für die nächsten Stunden einen klaren Kopf zu behalten. Schließlich hielt ich es doch für das beste, in meine Wohnung zurückzukehren; es konnte ja sein, daß mich jemand noch vor zehn Uhr anrief. Ich ließ den Motor anspringen und fuhr langsam die Charlotte Street entlang. Als ich rechts einbog und mich im Rückspiegel vergewisserte, daß ich niemanden behinderte, fiel mir eine schwarze Limousine auf, die dicht neben dem Restaurant Schultz 131
geparkt hatte und sich jetzt hinter mir in den Verkehr einreihte. In Tottenham Court Road mußte ich vor einer roten Ampel an der Oxford Street halten und sah den schwarzen Wagen scharf am Dominion-Kino an den Bordstein fahren, als wolle er in Richtung Holborne weiterfahren. Ein paar Minuten später war er jedoch schon wieder hinter mir in der Oxford Street, keine zwanzig Meter Abstand haltend. Ich nutzte den Verkehrsstrom aus, um in eine enge Seitenstraße nach links abzubiegen. Als ich auch hier wieder die dunkle Limousine hinter mir sah, war ich sicher, daß mich jemand verfolgte. Aufmerksam durchfuhr ich die enge Straße in Soho, wobei ich darüber nachdachte, wer der Verfolger wohl sein mochte. Mehrfach versuchte ich, im Rückspiegel einen Blick auf den Fahrer des anderen Wagens zu erhaschen; aber der Blickwinkel zeigte mir nichts als Reflexe auf der Windschutzscheibe. Nun bog ich in die Shaftesbury Avenue ein, beschleunigte auf der freien Straße das Tempo und fuhr schnell bei Rot über eine Kreuzung, während mein Verfolger auf Grün warten mußte. Im Verkehrsgewühl am Piccadilly Circus glaubte ich, ihn endlich abgeschüttelt zu haben, aber als ich Green Park passierte, erschien er wieder in meinem Rückspiegel. Mir fiel van Dakars Warnung ein: Diese Leute werden vor Gewalttaten nicht zurückschrecken – oder sogar noch Schlimmerem. Als ich das hektische Gewühl an der Hydepark Corner, die zu dieser Zeit einem Chaos glich, durchfahren und die Richtung Knightsbridge eingeschlagen hatte, blieb der geheimnisvolle Wagen immer noch im Abstand von ungefähr zwanzig Metern hinter mir. Ich überlegte, warum man mir wohl nachfuhr. Wenn man einen Angriff auf mich plante, dann wäre es entschieden leichter, an den trüb beleuchteten Garagenbauten neben meinem Haus auf mich zu warten. Oder wußte der Verfolger nicht, wo ich wohnte? Ich warf einen Blick auf die Benzinuhr. Es war noch genug im 132
Tank für eine ziellose Rundfahrt bis zu dem Zeitpunkt, zu dem ich mit Barbara verabredet war. Das aber würde einschließen, daß man mir eventuell zu ihrer Wohnung folgte. Deshalb beschloß ich, die schwarze Limousine endgültig abzuschütteln. Kurz hinter der Brompton-Kapelle bog ich ganz scharf links ein, fuhr dann am Ende des Beauchamp Place schnell an die Bordkante, zog den Zündschlüssel ab und war mit einem Sprung aus dem Wagen. An der Schlange haltender Omnibusse vorbei lief ich in die Arkaden des Hochbahnbahnhofs, um dann im Zubringertunnel zur Piccadilly Line zu verschwinden. Der Aufzug näherte sich nur langsam, so daß ich die Geduld verlor und mich in Richtung der Treppe zu den Zügen des Inneren Ringes in Bewegung setzte, wo gerade ein Zug in Richtung Westen einlief. Ich murmelte dem Mann an der Sperre etwas Unverständliches zu und raste die Treppe hinunter, jeweils drei Stufen auf einmal nehmend. Kaum hatte ich ein Abteil erreicht, schlossen sich wie auf Kommando die Wagentüren. Atemlos sank ich auf den nächsten Sitz, aber doch befriedigt, daß mir in diesen Zug bestimmt niemand gefolgt sein konnte. Am Bahnhof Gloucester Road verließ ich den Zug, gab dem Mann an der Sperre einen Shilling und ging auf die Straße. Selbst jetzt noch sah ich mir argwöhnisch jede schwarze Limousine an, aber deren Fahrer würdigten mich keines Blickes. In mein Haus gelangte ich schließlich durch den Hintereingang. Ich betrat meine Wohnung so leise wie möglich, schloß lautlos die Tür hinter mir und blieb, aufs äußerste angespannt, auf der Hut. Mit einem Ruck riß ich die Wohnzimmertür auf und wartete dann noch einen Augenblick, bevor ich eintrat. Ich sah hinter die Tür, trat ans Fenster und zog die Vorhänge zu, bevor ich das Licht einschaltete. Der Raum schien mir geradezu unnatürlich ruhig. Nach einer Zigarette fühlte ich mich schon etwas entspannter. Die Wanduhr in der Ecke schlug neun. Bedächtig blickte ich dem Rauch einer zweiten Zigarette nach und kam dabei zu dem Ent133
schluß, zum Beauchamp Place zurückzufahren und meinen Wagen zu holen. In den Sessel zurückgelehnt, überlegte ich, was Barbara mit ihrer Einladung bezwecken mochte; aber die drückende Stille im Zimmer begann mir auf die Nerven zu gehen, und so langte ich nach meinem kleinen Transistorradio, um etwas Musik einzuschalten. Noch bevor ich es tun konnte, läutete es an der Tür. In meiner Hast, das Licht auszuschalten, warf ich beinahe das Radiogerät um. Mit vier großen Schritten war ich am Fenster, wo ich vorsichtig durch die geschlossenen Vorhänge nach draußen lugte. Vor der Haustür stand die mir gut bekannte dunkle Limousine. Wieder läutete es an der Tür. Ich kam zu der Überzeugung, daß ich das Geheimnis ebensogut jetzt wie später klären konnte – immerhin befand ich mich auf eigenem Grund und Boden und in voller Alarmbereitschaft. Deshalb schaltete ich das Licht wieder ein und ging zur Wohnungstür. Ich plante, sie vorsichtig einige Zentimeter weit zu öffnen – bereit, sie jedem unerwünschten Besucher vor der Nase zuzuschlagen. »Keine Sorge, Sir – ich bin es nur«, erklang eine mir wohlvertraute Stimme, als ich die Tür öffnete. Ich zog sie weiter auf und erkannte sofort den Mann im Regenmantel und grauen Homburg. Es war Detektivinspektor Trueman. Ich trat einen Schritt zurück, die Hand noch am Türknauf. »Guten Abend, Sir. Darf ich eintreten?« fragte Trueman, wobei er eine Augenbraue mit leicht amüsiertem Lächeln hochzog. »Natürlich«, antwortete ich kurz, »warum nicht?« Er trat ein und nahm den Hut ab. »Ich dachte mir, Sie hätten vielleicht schon Besuch.« »Heute ist nicht der Wochentag, an dem ich Damenbesuch habe«, erwiderte ich grinsend. »Schade, daß sie die Scampi bei Marino 134
nicht essen konnte. Wie war denn das Essen bei Schultz, Inspektor?« »Die Suppe kann ich sehr empfehlen«, antwortete er ungerührt. »Es tut mir leid, daß ich Sie so lange warten ließ«, erwiderte ich. »Aber warum sind Sie auch nicht direkt hierhergekommen, statt Räuber und Gendarm zu spielen. War doch ziemlich melodramatisch, mir so zu folgen nicht wahr?« »Ich wollte Sie nicht verfehlen, Mr. Frazer. Sie hätten ja noch eine andere Verabredung haben können.« »Nun, das war nicht der Fall. Und warum folgten Sie Miß Day zum Restaurant Marino?« »Reine Routine, Sir. Schließlich wurde in ihrer Wohnung eine Leiche gefunden, und zwar unter recht mysteriösen Umständen. Es gehört zur selbstverständlichen Routinearbeit, daß wir uns um den Tageslauf der jungen Dame kümmern.« »Sie meinen, Miß Day könnte Sie zu dem Mörder führen? Ist das nicht etwas naiv, Inspektor?« »Halten Sie es für naiv, zu glauben, der Mörder könne mit ihr befreundet gewesen sein, Mr. Frazer?« Er sah mich spöttisch an. »Wie sollte er in Miß Days Wohnung gelangt sein, wenn sie ihn nicht gekannt hätte?« »Über die Feuerleiter«, antwortete ich schlicht. »Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie sich besagte Leiter am Tage nach dem Mord gründlich angesehen.« Er lächelte etwas gequält. »Ach so, ja. Wir haben sie natürlich nach Fingerabdrücken untersucht.« Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich das Geländer berührt hatte, als ich die Leiter hinuntergeklettert war. Trueman sah mich forschend an. Um seinem Blick auszuweichen, wandte ich mich dem Tisch mit den Flaschen zu. »Was darf ich Ihnen einschenken, Inspektor?« »Danke. Für mich nichts, Mr. Frazer.« 135
»Sie trinken nie im Dienst, Inspektor?« »So ist es, Sir.« Er drehte seinen Hut in der Hand hin und her. »Dann darf ich wohl…«, sagte ich und nahm mir ein Glas. »Ich habe nur ein oder zwei Fragen, die ich mit Ihnen noch klären möchte, Mr. Frazer.« »Oh…« Ich konnte nur hoffen, daß mein Lachen ihm nicht so hohl klingen mochte, wie es mir selbst schien. »Ist es auch gegen die Vorschrift, sich im Dienst zu setzen?« Er nahm Platz, und ich setzte mich ihm gegenüber auf einen Stuhl mit hoher Rückenlehne. Ich tat dies mit der Absicht, aufzustehen und im Zimmer umherzuwandern, falls seine Fragen mir unangenehm werden sollten. »Und welche Fragen haben Sie?« »Es geht darum, wo Sie in der Mordnacht waren, Sir. Soweit ich mich erinnere, hatten Sie erklärt, Sie konnten die Verabredung mit Miß Day an jenem Abend nicht einhalten.« Ich nickte zustimmend. »Ja, ich war nach Slough gefahren und konnte nicht mehr rechtzeitig zurück sein.« »Ach so.« Er schloß nachdenklich ein Auge. »Was war der Zweck Ihrer Fahrt nach Slough, Sir?« Da ich bereits Barbara eine plausible Geschichte erzählt hatte, wiederholte ich sie jetzt in der gleichen Form, sprach von meinen geschäftlichen Schwierigkeiten, wie ich auf der Suche nach einer Stellung nach Slough gefahren war und mich dann in letzter Sekunde doch davor drückte, die Sache anzupacken. »Ich verstehe, wie Ihnen zumute war, Sir.« Er nickte mitfühlend, als ich geendet hatte, und sah dann nachdenklich vor sich hin. »Dennoch macht dies die Sache ziemlich unangenehm, Sir.« Er lächelte undurchsichtig. »Ich will damit sagen, daß in diesem Falle wohl niemand bezeugen kann, Sie in der Mordnacht um halb acht in Slough gesehen zu haben.« »Wollen Sie damit sagen, ich hätte gelogen?« fragte ich erregt. 136
Seine Augen wanderten fast mechanisch über mein Gesicht. Ohne den Ausdruck zu ändern, sagte er beiläufig: »Sie sind wohl niemals im Diamantengeschäft tätig gewesen, Mr. Frazer?« »Im Diamantengeschäft? Natürlich nicht! Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich Ingenieur bin.« Ich stand auf und tat nun, was ich mir vorgenommen hatte, und wanderte ruhelos im Zimmer auf und ab. »Auch das ist nur eine Routinefrage, Sir«, erwiderte er kühl. »Ich dachte nur, daß dies vielleicht Sie und Cordwell in Amsterdam zusammengeführt haben könnte – eine Art gemeinsamen Interesses für Diamanten.« »Wir wollen doch noch einmal unmißverständlich klarstellen, Inspektor«, konterte ich ärgerlich. »Ich habe Cordwell nur einmal getroffen, und zwar zusammen mit Miß Day. Ich kann mich nicht einmal mehr erinnern, worüber wir uns damals unterhalten haben – aber bestimmt nicht über Diamanten.« Er pustete ein nicht vorhandenes Stäubchen vom Hutrand. »Dann wird es Sie sicher überraschen zu erfahren, daß Cordwell im Diamantenschmuggel tätig war.« Ich versuchte, angemessen überrascht auszusehen. »Ist ja unvorstellbar! Gerade er schien mir wie ein typischer amerikanischer Tourist und benahm sich auch so.« Ich drehte mich um und wanderte um Truemans Stuhl herum, krampfhaft überlegend, worauf Trueman wohl hinauswollte. Schließlich erklärte ich: »Ich fürchte, ich komme nicht hinter den Sinn dieser Andeutungen und Fragen, Inspektor.« »Ich komme schon darauf zurück, Sir. Nach allem, was wir über Cordwell wissen, ist es ziemlich sicher, daß sein Mörder hinter den Diamanten her war, die Cordwell bei sich hatte.« »Wissen Sie denn, ob er damals im Besitz von Diamanten war?« fragte ich mit unschuldiger Miene. »Seine Tätigkeit bestand darin, sie vom Kontinent nach England 137
zu schmuggeln. Daher ist anzunehmen, daß er auch in der Mordnacht welche bei sich hatte.« Trueman drehte sich in seinem Stuhl um und sah mir scharf ins Gesicht. »Möglicherweise waren die Diamanten in dieser Puppe versteckt, Mr. Frazer.« Ich sah ihn verständnislos an. »Puppe? Was für eine Puppe?« »Neben der Leiche lag eine Puppe. Sie war aufgeschlitzt.« Ich schnippte mit den Fingern. »Jetzt erinnere ich mich. Er hatte in Amsterdam eine kleine Trachtenpuppe als Souvenir gekauft. Eine männliche Figur in holländischer Tracht auf einem winzigen Fahrrad.« »Genau die ist es, Mr. Frazer.« Trueman nickte zustimmend. »Und Sie haben sie seit Ihrem Zusammentreffen in Amsterdam nicht mehr gesehen?« »Wie sollte ich? Ich habe ja Cordwell nicht mehr gesehen.« »Sind Sie dessen ganz sicher, Sir? Haben Sie ihn wirklich niemals mehr gesehen, weder lebend« – er machte eine bedeutungsvolle Pause – »noch tot?« »Worauf, zum Teufel, wollen Sie hinaus?« fragte ich wütend und starrte ihn bissig an. »Es ist nur wegen Ihrer Fingerabdrücke, Mr. Frazer. Wir fanden sie an der Tür von Miß Days Wohnzimmer.« Ich lachte. »Natürlich müssen Sie die gefunden haben. Schließlich war ich ja am nächsten Morgen dort.« Ich trank mein Glas aus. »Übrigens, Inspektor, woher wissen Sie, daß es meine waren?« Er schob eine Hand in die Tasche. »Hierdurch, Sir.« Dabei hielt er mein Telefonbüchlein in die Höhe. Ich starrte ihn an und antwortete reichlich lahm: »Dann haben Sie also das Ding an dem Morgen gestohlen, als Sie hier waren.« »Ich war so frei, Sir. Obwohl ›gestohlen‹ wohl nicht der zutreffende Ausdruck ist. Sagen wir besser: ›Im Zuge der polizeilichen Untersuchung an mich genommen.‹ Das wäre die richtige Formulierung.« »Drücken Sie es aus, wie Sie es wollen«, antwortete ich ärgerlich. 138
»Von mir aus – Sie haben also die Fingerabdrücke gefunden, die ich am folgenden Morgen in der Wohnung von Miß Day hinterlassen habe. Was besagt das?« »Das würde gar nichts besagen, Sir«, antwortete er kalt. »Nur – Ihre Fingerabdrücke befanden sich bereits unter denen, die wir am Abend des Mordes in der Wohnung von Miß Day abgenommen haben…« Sein Blick wurde hart. »Würden Sie die Güte haben, mir dies zu erklären, Frazer?« An der Tür klingelte es. Das Schicksal schien prinzipiell darauf bedacht zu sein, mich durch Telefonanrufe oder Türschellen vor unangenehmen Fragen zu bewahren. Trueman erhob sich mit allen Anzeichen der Bereitschaft, selbst zu öffnen. »Bemühen Sie sich nicht, Inspektor«, wehrte ich ab und ging zur Tür. »Es wird ja nicht gleich ein Mann mit einer Pistole sein.« Es war Richards. Als er mit einem Blick über meine Schulter Trueman erkannte, erstarrte sein Gesicht. »Wenn Sie beschäftigt sind, Frazer…« Ich packte ihn beim Rockaufschlag und zog ihn fast herein. »Keineswegs. Inspektor Trueman wollte ohnehin jetzt gehen, nicht wahr, Inspektor?« Etwas widerwillig bewegte Trueman sich in Richtung auf den Ausgang. »Ja, Sir. Aber ich werde wahrscheinlich noch einmal kurz mit Ihnen sprechen müssen.« »Sollte mich freuen, Sie wiederzusehen«, erwiderte ich. »Übrigens, darf ich bekannt machen … Mr. Richards … Inspektor Trueman.« Die beiden Herren begrüßten sich durch leichtes Kopfnicken, wobei es mir vorkam, als zeigte sich in Truemans Gesicht bei der Nennung von Richards' Namen für den Bruchteil einer Sekunde ein Anflug von Verwirrung. Dann sagte Trueman: »Vielleicht rufen Sie mich an, Mr. Frazer, wenn Ihnen eine Erklärung für das einfallen sollte, worüber wir eben gesprochen haben.« »Ich bin sicher, daß es eine gibt, Inspektor.« 139
Er lächelte trocken. »Ich hoffe es, Sir. Guten Abend.« »Gibt es Schwierigkeiten?« fragte Richards, als Trueman fort war. »Und was für welche! Ich habe in Barbara Days Wohnung Fingerabdrücke hinterlassen.« »Das macht doch nichts. Er weiß doch, daß Sie dort gewesen sind.« »Aber nicht, bevor die Polizei Cordwells Leiche fand.« »Das kann ich nicht begreifen. Wie konnte er feststellen, daß es Ihre Abdrücke waren?« Er wandte sich ruckartig zu mir um. »Sie haben doch nicht schon etwa eine Vorstrafenakte, alter Junge?« »Noch nicht, aber vielleicht bald. Trueman hat sich selbst bedient und bei einem früheren Besuch mein Notizbuch für Telefonnummern an sich genommen.« Ich warf einen kurzen Blick hinüber zu dem Platz, wo Trueman gesessen hatte. »Verdammt noch mal, er hat das Ding wieder mitgenommen.« Richards pfiff lautlos vor sich hin. »Da haben Sie sich was Schönes eingebrockt, Frazer. Warum waren Sie nicht vorsichtiger?« »Schließlich konnte ich nicht wissen, daß ich auf eine Leiche stoßen würde«, rechtfertigte ich mich. »Übrigens, was führt Sie hierher?« Richards holte ein zusammengerolltes Blatt Papier aus der Tasche. »Ich wollte Sie bitten, sich das einmal anzusehen.« Als ich es aufrollte, erkannte ich die Blitzlichtaufnahme vom Kopf eines Mannes, der auf einem Kissen ruhte. Seine Augen waren geschlossen, der Mund stand offen. Entweder war er tot oder doch ziemlich nahe daran. »Wer ist das?« fragte ich. »Ein Mann namens van Dakar. Er ist Holländer.« Betroffen sah ich mir das Foto an und versuchte, das Gesicht mit dem des lächelnden Mannes am Obstkarren zu vergleichen. Schließlich erkannte ich die Kopfform, das blonde Haar und die hervortretenden Backenknochen, die mich von der Identität des Mannes 140
überzeugten. »Ja, ich erkenne ihn. Es ist der Mann, der mir am Obstkarren in der Lennard Street den bewußten Tip gegeben hat.« »Dort wurde er auch niedergeschossen, in einer Telefonzelle der Lennard Street, während eines Telefongesprächs.« »Er telefonierte gerade mit mir«, antwortete ich schnell. »Ich hörte durch Geräusche, daß ihm in jenem Augenblick etwas zugestoßen sein mußte.« Nach einem weiteren Blick auf das Foto fügte ich hinzu: »Daß es so schlimm sein würde, hätte ich nicht gedacht.« »Diese Aufnahme wurde vor zwanzig Minuten in einem Krankenhaus gemacht. Er hat das Bewußtsein noch nicht wiedererlangt, und ich fürchte, das wird wohl auch nicht mehr der Fall sein.« Richards deutete auf seine Brust, dicht über seinem Herzen. »Er wurde hier getroffen.« »Wer hat auf ihn geschossen? Hat man den Täter erwischt?« Richards schüttelte den Kopf. »Die Schüsse kamen aus einen vorbeifahrenden Kraftwagen. Der Täter konnte ohne Schwierigkeit entkommen.« Ich gab Richards das Foto zurück. »Wie kommen Sie an diese Sache?« »Sie sollten wissen, Frazer, daß auch ich immer noch an diesem Fall arbeite«, antwortete er zurückhaltend. »Erzählen Sie mir mehr über diesen Telefonanruf.« Ich tat mein Bestes, um jede Einzelheit des Telefongespräches mit van Dakar zu schildern. »Er hat Sie also gewarnt«, sagte Richards mit grimmiger Miene. »Ist es nicht eine Ironie, daß er unmittelbar danach selbst niedergeschossen wurde?« »Bestimmt. Aber von wem?« Eine leichte Gänsehaut lief mir über den Rücken, als mir bewußt wurde, daß es sich hier um Fragen handelte, auf die wir sehr schnell eine Antwort finden mußten. »Hat er Ihnen keinen Anhaltspunkt für seine Identität gegeben?« »Nicht den geringsten. Obgleich ich den Eindruck hatte, er könn141
te für eine Dienststelle wie die unsrige tätig sein. Er war doch nicht etwa einer von Ross' Leuten?« Richards schüttelte den Kopf. »Vielleicht gehörte er zur holländischen Geheimpolizei und jagte gestohlenen Diamanten nach. Außerdem besteht natürlich noch die Möglichkeit, daß er selbst im Diamantengeschäft tätig war. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Ericson ein Monopol auf den ganzen Markt für gestohlene Diamanten hat.« »Aber warum hat van Dakar mich dann vor einer Gefahr gewarnt? Und warum hat er mir den Tip mit der Lennard Street und ›Fantasie zwei-dreißig‹ gegeben?« Richards zuckte mit den Schultern. »Vielleicht wollte er nur sehen, wie Sie darauf reagieren.« Plötzlich fiel mir ein, was van Dakar über den Kaffee bei Barbara gesagt hatte. »Da ist noch etwas Sonderbares«, ergänzte ich meinen Bericht über das Telefongespräch. »Van Dakar erriet, daß ich heute abend eine Verabredung mit Barbara hatte.« »In puncto Erraten scheint er es mit mir aufnehmen zu können«, murmelte Richards. Ich überhörte diese Bemerkung und berichtete weiter: »Das Komische daran ist nur folgendes: Als er hörte, daß wir in einem Restaurant und nicht bei Barbara zu Hause essen würden, sagte er, dann könnte ich meinen Kaffee wenigstens unbesorgt trinken.« »Hm … das klingt ziemlich mysteriös.« Richards überlegte einen Augenblick. »Und haben Sie den Kaffee genossen?« »Barbara mußte die Verabredung aus geschäftlichen Gründen absagen. Aber sie hat mich nun wirklich eingeladen, sie heute abend zu besuchen, um eine Tasse Kaffee bei ihr zu trinken.« Richards grinste mich an, als er sich eine Zigarette anzündete. »Übrigens, wir sprachen ja schon einmal darüber, Frazer: Sie können doch auf sich aufpassen? Und da wir gerade bei diesem Thema sind – wie steht es mit dem zweiten Besuch beim Tulpenzwiebel142
Importeur?« »Der ist schon fest eingeplant«, antwortete ich sorglos. »Vorher brauche ich aber noch ein paar Sachen von Ihnen. Setzen Sie sich doch, Richards, damit wir das in Ruhe besprechen können.« Als ich Barbara ins Wohnzimmer folgte, wandte sie sich zu mir um und sagte mit gewinnendem Lächeln, wie zu einem alten Freunde: »Fühlen Sie sich bitte wie zu Hause, Tim.« Sie hatte sich umgekleidet und trug ein schlichtes schwarzes Kleid und als einzigen Schmuck eine Diamantenbrosche. Barbara ging zum Serviertisch, auf dem eine kleine Kaffeemaschine stand, unter der eine Spiritusflamme brannte. »Es macht Ihnen doch nichts aus, Tim, wenn es etwas länger dauert? Einen guten Kaffee zu kochen kommt bei mir einer kultischen Handlung gleich.« Ich lächelte zustimmend. »Wie ist denn der Streit mit dem Auktionator ausgegangen?« »Vivien ist wie immer mit einer solchen Situation glänzend fertig geworden. Natürlich hat er zunächst ein Feuerwerk an Beredsamkeit losgelassen. Zum Schluß versprach er aber doch, den Tisch bis morgen früh zehn Uhr zu liefern.« »Der Antiquitätenhandel scheint auch nicht gerade uninteressant zu sein«, erwiderte ich und holte mein Zigarettenetui hervor. »Der unsere bestimmt nicht! Übrigens hat uns der Kriminalbeamte wieder besucht, kurz nachdem Sie heute angerufen hatten.« »Trueman? Was wollte er denn schon wieder?« Ich gab ihr Feuer für ihre Zigarette; sie inhalierte langsam den Rauch und sagte dann gedehnt: »Es ging um Sie, Tim.« »Wie Sie das so sagen, klingt es ziemlich ominös.« »In gewisser Weise ist es das auch.« Sie stieß einen leichten Seufzer aus. »Warum müssen wir immer wieder auf diese unglückselige 143
Geschichte mit Cordwell zu sprechen kommen?« Sie sah mich mit sanften Augen an. »Und dabei gibt es einiges andere, worüber ich gern mit Ihnen gesprochen hätte, Tim.« »Wollen wir nicht lieber erst die Wolken verjagen, die über meinem Kopf hängen?« »Es handelt sich um die Verabredung in der Mordnacht. Ganz offensichtlich ist Trueman nicht so fest davon überzeugt, daß Sie hier nicht aufgekreuzt sind.« Sie lächelte distanziert. »Er scheint mich jetzt im Verdacht zu haben, daß ich Ihnen die Wohnungsschlüssel geliehen hätte.« Mit einer geringschätzigen Handbewegung schob ich diesen Gedanken beiseite. »Und wie kommt Trueman auf diese Kateridee?« »Er behauptet, man habe Ihre Fingerabdrücke an der Tür meines Wohnzimmers vorgefunden.« Zu diesem Zeitpunkt wollte ich ihr noch nichts über mein letztes Gespräch mit Trueman erzählen. »Warum sollte er auch nicht meine Fingerabdrücke gefunden haben? Er hat mich doch am Morgen nach dem Mord an Cordwell hier persönlich angetroffen.« »Genau das habe ich ihm auch gesagt.« Sie sah mich verwirrt an. »Er hat sich nicht ganz klar ausgedrückt, doch hatte ich den Eindruck, er wollte andeuten, Sie seien am Abend vorher schon hier gewesen.« »Sind Sie auch seiner Ansicht?« »Natürlich nicht!« Sie tat die Frage mit einer ungeduldigen Handbewegung ab. »Das war doch gar nicht möglich. Sie riefen mich ja aus Slough an, und zwar eine ganze Weile nach halb acht.« Das Telefon läutete. Sie entschuldigte sich und hob den Hörer ab. Als der Anrufer sich zu erkennen gab, warf sie mir einen schnellen Blick zu. »Ach du bist es, Arthur… Ja. Ich bin allein…« Sie nickte ergeben mit dem Kopf, während am anderen Ende der Leitung ein Wortschwall losgelassen wurde. »Hast du deine Tabletten genommen, Arthur? … Natürlich dauert es eine Zeit, bis sie wirken, 144
Liebling.« Sie lauschte einem langatmigen Protest. »Also gut, Arthur – ich komme. In einer halben Stunde bin ich da. Bis bald.« Mit einem Seufzer legte sie den Hörer auf. »Er scheint wieder einen Asthmaanfall zu haben. Manchmal frage ich mich allerdings, ob er nicht bloß auf mein Mitgefühl setzt und diese Anfälle zum Vorwand nimmt, damit ich zu ihm komme und ihn bemuttere.« Ich setzte eine Miene höflicher Überparteilichkeit auf. »Dennoch ist er wohl wirklich zu bedauern, nicht wahr?« Sie nickte, wenn auch wenig begeistert, eilte dann zum Serviertisch zurück und blies die Spiritusflamme unter der Kaffeemaschine aus. »Himmel! Fast hätte ich den Kaffee vergessen!« Sie setzte sich und schenkte zwei Tassen ein. »Nehmen Sie Zucker, Tim?« »Zwei Stück, bitte.« »Du meine Güte; mir ist der Zucker ausgegangen. Ist es schlimm, wenn ich Ihnen statt dessen Süßstoff gebe?« Sie lächelte mich entschuldigend an. Ich erklärte, es mache mir nichts aus. Barbara holte ein kleines Fläschchen hervor und ließ zwei winzige weiße Tabletten in meinen Kaffee fallen. Sie reichte mir die Tasse und lehnte sich in den Sessel zurück. »Arthur würde wirklich einen Anfall bekommen, wenn er wüßte, daß Sie jetzt bei mir sitzen und Kaffee trinken.« Sie sah mich amüsiert an »Vivien behauptet, Arthur sei sehr eifersüchtig auf Sie.« »Er ist der Typ, der selbst auf den Milchmann eifersüchtig sein würde«, antwortete ich lachend. »War Vivien dabei, als Trueman heute zu Ihnen kam?« Sie nickte. »Ja. Und ich mußte mir auf dem ganzen langen Weg nach St. Albans Viviens Theorien über den Fall Cordwell anhören.« »Waren die denn wenigstens plausibel?« Sie biß sich nachdenklich auf die Lippen, bevor sie antwortete. »Wissen Sie, Tim, Vivien wird aus Ihnen nicht recht klug. Sie wollte 145
unbedingt wissen, ob Sie mir in Amsterdam den Hof gemacht hätten. Als ich das verneinte, fragte sie: ›Wenn er nicht zu den Männern gehört, die einem verlobten Mädchen nachstellen, warum bemüht er sich denn jetzt auf einmal so sehr um dich?‹« Mit leiser Stimme fragte Barbara: »Warum tun Sie das, Tim?« Wieder einmal rettete mich ein Läuten; diesmal war es an der Wohnungstür. Sie sah mich schweigend an, erhob sich dann und ging hinaus in die Diele. Als ich hörte, daß sie die Tür öffnete, vertauschte ich schnell unsere Kaffeetassen. »Vivien!« hörte ich Barbara rufen. »Ist etwas nicht in Ordnung?« »Kein Grund zur Aufregung«, erklang Viviens Stimme. »Ich habe mein Zigarettenetui in deinem Wagen liegenlassen.« Barbara sagte gerade: »Ach, da hättest du doch nur anzurufen brauchen«, als Vivien die Tür aufstieß. Die Überraschung, die sie bei meinem Anblick erkennen ließ, war um eine Nuance zu auffällig. »Sie sind der letzte, den ich hier anzutreffen erwartete«, sagte sie affektiert und wandte sich dann Barbara zu. »Es tut mir leid, Darling. Hätte ich gewußt, daß du Besuch hast, dann wäre ich nicht so hereingeplatzt.« »Das macht nichts«, erwiderte Barbara mit gekünsteltem Lächeln. »Hast du das Etui wirklich im Wagen vergessen? Ich kann mich nicht erinnern, daß du unterwegs geraucht hast.« »Dann habe ich es in St. Albans im Lokal liegenlassen. In diesem Falle wird es wohl verloren sein.« »Vermutlich wirst du es in der Tasche des Mantels finden, den du vorhin getragen hast«, antwortete Barbara kühl. »Da du nun einmal hier bist, kannst du auch eine Tasse Kaffee mit uns trinken.« »Störe ich auch wirklich nicht?« »Aber nein, ich hole noch eine Tasse.« Vivien zuckte unmerklich mit den Schultern und lächelte mich dann an. »Freut mich, Sie wiederzusehen«, begann sie, während sie es sich in einem Sessel bequem machte. »Es war wirklich unklug 146
von mir, daß ich nicht vorher angerufen habe.« »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, erwiderte ich. »Ich war ohnehin im Begriff zu gehen.« Barbara brachte eine dritte Tasse. »Und ich muß übrigens gleich zu Arthur. Er hat vorhin angerufen…« Sie stellte das Kaffeegedeck klappernd auf den Tisch, als das Telefon erneut läutete. »Sollte mich nicht wundern, wenn es Arthur wäre, der wissen will, warum ich nicht schon eine Sekunde nach seinem Anruf zu ihm gestürzt bin. Wäre typisch für ihn.« »Läßt er dich denn niemals von der Leine, Barbara?« fragte Vivien mit hochgezogenen Augenbrauen. Sie nahm die gefüllte Kaffeetasse und rührte mechanisch mit dem Löffel darin. Barbara hatte inzwischen schon wieder aufgelegt und kehrte zum Tisch zurück. »Ja, er war es. Ich soll sofort zu ihm kommen; aber eine Tasse Kaffee werde ich mir vorher wohl noch genehmigen können.« Sie sah auf Vivien herab. »Ich glaube, du hast meine Tasse genommen.« »Tut mir leid, Darling…«, begann Vivien. »Ich gieße dir gleich eine neue Tasse ein…« Ich kippte schnell meinen Kaffee hinunter. »Nanu!« rief ich aus, wobei ich Barbaras Gesicht beobachtete. »Es scheint eine allgemeine Verwechslung der Tassen gegeben zu haben. Dieser Kaffee hier ist nicht gesüßt.« »Ach, Tim. Dann haben Sie meine erwischt. Schadet nichts, ich hatte noch nicht angefangen. Nehmen Sie doch noch etwas Süßstoff…« »Danke, bemühen Sie sich nicht. Ich muß jetzt wirklich gehen.« Barbara griff nach ihrer Handtasche. »Ich auch. Arthur ist ziemlich schlechter Laune.« Als ich aufstand, sagte Vivien entschlossen: »Du kannst mir Mr. Frazer nicht so einfach entführen, Barbara. Ich verlasse mich darauf, daß er mich nach Hause fährt, sobald ich meinen Kaffee ge147
trunken habe.« »Aber«, meinte Barbara offensichtlich ärgerlich, »du hättest zumindest fragen können, ob Tim nichts dagegen hat.« Sie lächelte mich an. »Ich werde Sie im Laufe des morgigen Tages anrufen.« »Also dann bis morgen früh, Darling!« rief Vivien ihr nonchalant zu, während sie sich eine Zigarette anzündete. »Und Arthur kannst du von mir bestellen, er sei deiner ein wenig zu sicher.« »Das ist wirklich ein eigenartiger Mann«, seufzte Vivien, als Barbara uns verlassen hatte. »Er betrachtet andere Menschen als persönliches Eigentum, um es milde auszudrücken.« »Kranke Menschen tun das gewöhnlich«, entschuldigte ich ihn. »Ich habe ihr schon hundertmal erklärt, daß sie einen Invaliden am Halse haben wird, wenn sie ihn wirklich heiraten sollte. Können Sie nicht versuchen, ihr diese Ehe mit Arthur auszureden?« »Ich?« protestierte ich. »So gut bekannt sind Barbara und ich noch nicht, daß ich es wagen könnte, mich in ihre persönlichsten Angelegenheiten einzumischen.« »Sie mögen recht haben, obwohl« – Vivien blies langsam den Rauch durch die vorgeschobenen Lippen – »obwohl Sie doch Ihre persönlichen Angelegenheiten mit Barbara zu erörtern scheinen.« »Wie meinen Sie das?« »Nun, Ihre geschäftlichen Angelegenheiten zumindest. Wie Barbara mir erzählte, ist Ihre Ingenieurfirma in Schwierigkeiten geraten.« »Ich habe zwar etwas davon erwähnt, doch wundere ich mich, daß Barbara das hinausposaunt haben sollte.« Vivien lachte. »So schlimm ist es nun auch wieder nicht, Mr. Frazer. Sie wissen doch, wie das so vor sich geht, wenn zwei Mädchen ihre kleinen Geheimnisse miteinander austauschen.« Sie trank den Rest des Kaffees aus. »Ich nehme an, Sie werden Ihre Firma 148
wieder in Gang bringen, sobald Sie festen Boden unter den Füßen haben?« »Ich hoffe es«, antwortete ich kurz. »Sobald ich etwas Kapital in die Hände bekomme.« »Das ist wohl nicht so einfach.« Sie schlug die Beine übereinander. »Hat Barbara Ihnen eigentlich erzählt, daß Inspektor Trueman sie heute nachmittag wieder aufgesucht hat?« »Sie hat es nebenbei erwähnt.« »Ich habe zwar nicht richtig zugehört, doch war es unvermeidlich, daß ich einige seiner Fragen mitbekam. Er schien sehr an Ihrer Verabredung mit Barbara interessiert.« »Meinen Sie die in der Mordnacht? Ich wurde in Slough aufgehalten und konnte nicht rechtzeitig zurück sein.« »Und natürlich hätten Sie auch gar nicht in die Wohnung gelangen können, selbst wenn Sie rechtzeitig dagewesen wären. Barbara wurde von Arthur aufgehalten – wie gewöhnlich.« Sie ließ sorglos die Asche ihrer Zigarette auf den Teppich fallen. »Wissen Sie, dieses Verfahren mit den Fingerabdrücken hat mich stets fasziniert. Kann man wirklich genau den Tag feststellen, an dem ein Fingerabdruck gemacht worden ist?« »Ich möchte annehmen, daß Sie die Antwort auf diese Frage kennen. Warum fragen Sie mich?« stellte ich die Gegenfrage. »Das war wohl töricht von mir, nicht wahr? Natürlich würden nur die Fingerabdrücke von Bedeutung sein, die aus der Mordnacht stammen.« Sie hob das elegant bestrumpfte schlanke Bein etwas an und besah sich interessiert die Fußspitze. »Ich hörte Trueman sagen, Cordwell sei Mitglied einer Bande von Diamantenschmugglern gewesen.« »Das hat er mir auch erzählt«, erwiderte ich, wobei mir einfiel, daß Barbara mir von diesem Teil ihres Gespräches mit Trueman nichts erzählt hatte. Wollte sie es absichtlich nicht erwähnen? Aber wir waren schließlich mehrfach unterbrochen worden, und da konn149
te es ihr ohne weiteres entfallen sein. »Ich habe mich schon gefragt, ob Cordwell vielleicht Diamanten bei sich hatte, als er ermordet wurde«, äußerte Vivien. »Wenn ja, muß der Mörder einen guten Fang gemacht haben, meinen Sie nicht auch?« Ganz augenscheinlich steuerte sie auf ein bestimmtes Ziel los, so daß ich mich entschloß, darauf einzugehen. »Aber hätte er etwas mit den Diamanten anfangen können?« fragte ich mit unschuldiger Miene. »Er kann doch nicht einfach mit gestohlenen Diamanten in einen Juwelierladen gehen und sie dort verkaufen.« »Es gibt aber Leute, die solche Geschäfte tätigen. Cordwell muß einen von ihnen gekannt haben.« »Dann muß das auch der Mann gewesen sein, mit dem er die Verabredung hatte«, erwiderte ich, als sei mir plötzlich die Erleuchtung gekommen. »Ericson! Jetzt weiß ich auch, warum Trueman mich immer wieder nach Ericson gefragt hat.« »Er hat uns alle danach gefragt: mich, Barbara, Arthur –« Vivien lachte amüsiert. »Jetzt weiß ich auch, was ich zu tun habe. Sollte jemals ein Mann mit gestohlenen Diamanten zu mir kommen, die er loswerden will, dann schicke ich ihn einfach zu – Ericson!« »Wenn Sie ihn finden«, gab ich zu bedenken und lachte ebenfalls. »Die Polizei kann es anscheinend nicht.« »Das stimmt.« Sie ließ ihren Zigarettenstummel in den Kaffeesatz fallen. »Sie sehen, Mr. Frazer, es würde Ihnen gar nichts nützen, gestohlene Diamanten zu finden, weil Sie nicht in der Lage wären, sie auch gewinnbringend zu verkaufen.« Sie lächelte wehmütig. »Was für ein schrecklicher Gedanke. Da wandert nun jemand mit dem potentiellen Kapital umher, mit dem er seine Firma wieder auf die Beine stellen könnte, und kann nicht das geringste damit anfangen.« »Das ist so, als wolle er eine Nähnadel in einem Heuhaufen suchen«, pflichtete ich ihr scheinheilig bei. »Wie mag dieser Ericson 150
wohl aussehen?« »Ich nehme an, wie ein reputierlicher Bankbeamter.« Sie stand auf. »Leider habe ich allzu selbstverständlich über Sie verfügt. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mich in Ihrem Wagen mitzunehmen?« »Aber keineswegs. Wo darf ich Sie hinbringen?« »Wäre Sloane Square Ihnen recht?« »Das liegt sogar auf meinem Weg.« An der Wohnungstür blieb sie nachdenklich stehen. »Wissen Sie, ich habe so den Eindruck, als ob diese Unannehmlichkeiten Barbara dazu bringen, daß sie Arthur plötzlich in ganz neuem Licht sieht. Bisher hat er auch nicht für fünf Pfennig Interesse für die vielen Probleme gezeigt, die seitdem auf Barbara eingestürmt sind. Was sie durchmachen muß, kümmert ihn offensichtlich überhaupt nicht.« Sie hob bedeutungsvoll die Augenbrauen. »Unter uns gesagt – Ihr Mitgefühl hat Barbara sehr wohlgetan, Mr. Frazer. Das hat sie mir erzählt.« Ich murmelte irgendeine Phrase von der Mannesschulter, an der eine zarte Frau sich ausweinen kann. »Barbara ist ein so reizendes Wesen…« Sie lächelte mich wissend an. Dann gab sie mir mit ihrer Handtasche einen kleinen, freundlichen Schubs: »Sie sollten sich beeilen, Mr. Frazer, das Kapital zu beschaffen, um Ihre Firma endlich wieder in Gang zu bringen.«
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ls ich am nächsten Morgen ins Wohnzimmer trat, stand Mrs. Glover mit dem Staubwedel in der Hand neben dem Telefon. Kaum war ich eingetreten, begann sie das Telefon mit ungewohnter Energie abzustauben. Daran merkte ich, daß sie irgend etwas in petto hatte, um ihre persönliche Neugier zu befriedigen. »Was ich Sie schon fragen wollte, Mr. Frazer«, begann sie, »haben Sie den Merkkalender vom Telefon in Verwahrung genommen?« Ich setzte mich hinter mein Frühstücksgedeck. »Er liegt in meiner Schreibtischschublade. Brauchen Sie eine bestimmte Telefonnummer?« Einen Augenblick lang war sie betroffen, erholte sich dann aber rasch und begann, einen makellos sauberen Messingleuchter zu polieren. »Haben Sie inzwischen herausgefunden, wer die Dame war, die angerufen hat?« Natürlich war es Barbara gewesen. Sie hatte es mir erzählt, als wir uns in der Espressobar trafen. Doch war ich nicht gewillt, Mrs. Glovers Neugier in diesem Punkt zu befriedigen. Daher schüttelte ich den Kopf und goß mir Kaffee ein. »Ein paar Häuser weiter stand heute früh ein Polizeiwagen«, setzte sie hartnäckig das Gespräch fort. »Ich nehme an, die beobachten jemanden.« Das nahm ich auch an. Im stillen verfluchte ich Trueman. In meinen Plänen für diesen Morgen war ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei nicht vorgesehen. Immerhin schien es mir nützlich, herauszufinden, in welcher Richtung der Wagen sich postiert hatte. Ich versuchte es mit der bei Mrs. Glover so beliebten indirekten Methode. »Haben Sie zufällig gesehen, ob der Flieder in den Anla152
gen schon aufgeblüht war, als Sie heute früh vorbeikamen, Mrs. Glover?« Meine Frage zeitigte dieselbe Wirkung, als hätte ich versucht, einen Hund mit einer Pille von einem Stück Fleisch abzulenken. »Wenn ich Sie wäre, Mr. Frazer, würde ich heute den Hinterausgang benutzen«, riet sie mir und fuchtelte mit dem Staubwedel in der Luft. Als es kurz danach an der Tür läutete, stieg die Spannung bei ihr noch beträchtlich. »Soll ich sagen, Sie sind nicht zu Hause, Sir?« wisperte sie mir eifrig zu. Ich überwand meinen aufkommenden Ärger und lachte. »Sie sind mir vielleicht ein Herzchen, Mrs. Glover. Lassen Sie den Herrn herein und bringen Sie uns noch eine Tasse.« Wie ich erwartet hatte, war es Richards, der mit einer kleinen Ledertasche in der Hand erschien. »Guten Morgen, Frazer. Ich bringe Ihnen das Gewünschte.« »Prächtig. Sie trinken doch eine Tasse mit?« Er nickte lächelnd. »Da wir gerade von Kaffee sprechen…«, begann er, offensichtlich in Anspielung auf meine Verabredung mit Barbara vom Abend zuvor. »Vergessen wir das!« winkte ich ab. »War eine Fehlanzeige. Ich habe die Tassen vertauscht.« Dann gab ich ihm einen ausführlichen Bericht über den Ablauf des Abends. »Barbara Day reagierte völlig unbefangen; und Vivien Gilmore zeigte nicht die geringsten Anzeichen einer Drogeneinwirkung. Im Gegenteil – sie war gedanklich besonders aktiv.« »Das klingt so, als wollte van Dakar Sie nur einschüchtern.« »Sieht ganz so aus«, pflichtete ich ihm bei. »Obwohl er Barbara offensichtlich nicht mehr traute, als Sie und Ross es tun.« Richards faßte sich an die Nasenspitze. »Und Sie selbst sind immer noch fest davon überzeugt, daß man ihr trauen kann?« »Mit einem Vorbehalt, ja.« Ich wechselte schnell das Thema. »Übrigens, wie geht es van Dakar?« 153
»Ich habe heute früh mit dem Krankenhaus telefoniert. Er hat das Bewußtsein wiedererlangt, und die Ärzte glauben, er hat eine Chance durchzukommen. Ich werde mich heute nachmittag mit ihm unterhalten, wenn es mir gestattet wird.« Mrs. Glover kam mit dem zweiten Kaffeegedeck herein, beäugte Richards von der Seite und kam dann wohl zu der Ansicht, es handle sich um einen Geschäftsfreund. Sie zog sich enttäuscht zurück. Ich goß Richards Kaffee ein. »Hatten Sie keine Schwierigkeiten, Ross zu überreden, damit er die Sachen herausrückte?« Richards öffnete die kleine Ledertasche auf seinem Schoß. »An die Diamanten wollte er zuerst nicht so recht heran.« »Das hatte ich mir schon gedacht. Aber keine Sorge, ich werde sie nicht verlieren.« Ich öffnete den Juwelenkasten, den er mir reichte, und sah mir die beiden Diamanten, die darin lagen, genau an. Auf dem schwarzsamtenen Untergrund sahen sie recht eindrucksvoll aus. Richards wühlte noch einmal in seiner Ledertasche. »Und hier ist auch das Metronom, das Sie Dempsey abgenommen haben.« Er stellte es auf den Tisch. »Wenn ich nur wüßte, was ich hätte sagen müssen, als er das Ding auf den Tisch stellte.« Ich rieb mit dem Finger über die polierte Oberfläche. »Ich habe so eine Ahnung, als ob das der Schlüssel zu allem ist, was wir wissen wollen.« »Womit wir wieder beim Fall Salinger wären«, antwortete Richards warnend. »War er der ehrbare Mann, für den Ross ihn hält? Oder war er ein Mitglied der Schmugglerbande? Das ist alles.« Richards sah mich einen Augenblick lang besorgt an. »Werden Sie lieber nicht zu ehrgeizig, Frazer.« »Ich werde es beherzigen, Richards«, antwortete ich nicht gerade aufrichtig. Ganz privat war ich zu sehr in die Angelegenheit verwickelt, als daß ich mich mit weniger als der restlosen Aufklärung des 154
Falles Salinger zufriedengegeben hätte. »Und hier ist noch etwas, was Sie haben wollten.« Richards holte eine kleine automatische Pistole hervor und balancierte sie auf der Handfläche. »Ross zog ein ziemlich langes Gesicht, als ich ihm sagte, Sie wollten eine Anleihe bei unserer Rüstkammer machen.« Er gab mir die Waffe vorschriftsmäßig mit dem Kolben nach vorn. »Und glauben Sie nicht, daß Sie von unserer Dienststelle einen Orden erhalten, wenn Sie das Ding benutzen.« Ich ließ die Pistole in meine Jackentasche gleiten. »Nur, um meinen Überredungskünsten etwas Nachdruck zu verleihen«, erläuterte ich grinsend meine Absicht. Richards lachte zurück, schloß seine Aktentasche und ließ die Schlösser einschnappen. »Haben Sie sich schon Gedanken darüber gemacht, auf welche Weise Sie Dempsey zum Reden bringen wollen?« »Wie gesagt, mit meiner ganz persönlichen Überredungsgabe.« »Tatsachen oder Fiktion?« »Vielleicht von beidem etwas«, antwortete ich. Bei meinem ersten Besuch in Dempseys Büro hatte ich unweit seines Hauses eine kleine Snackbar bemerkt, die von den Dienstmännern des Covent Garden besucht wurde, wenn die anderen Kneipen geschlossen waren. Ich vermutete, daß Dempsey irgendwann einmal aus seinem Büro kommen würde, um in diesem Lokal seine Thermosflasche mit Kaffee füllen zu lassen und sich ein paar belegte Brote zu kaufen. Ich stellte mich in den Eingang eines gegenüberliegenden Lagerhauses, von wo aus ich Dempseys Bürohaus im Auge behalten konnte. Nur eine halbe Stunde brauchte ich zu warten, dann erschien er auf der Bildfläche, die Thermosflasche unter dem Arm. Als ich sah, daß er die Snackbar betrat, eilte ich über die Straße 155
in das Haus und durchquerte mit schnellen Schritten den schwach erleuchteten Korridor zu seinem Büro. Hatte er die Tür abgeschlossen oder nicht? Das war jetzt die große Frage. Aber das Glück blieb mir treu. Ich huschte ins Zimmer und schloß die Tür hinter mir. Ich ging zu Dempseys Stuhl, packte das Metronom aus und stellte es mitten auf den Schreibtisch. Dann drehte ich den Stuhl um, holte die Pistole hervor und legte sie griffbereit neben das Metronom. In diesem Augenblick hörte ich auch schon schwere Schritte den Flur entlangkommen. Vor sich hin brummend, betrat Dempsey das Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Er war noch ganz in die Überschriften der Zeitung vertieft, die er sich auf der Straße gekauft hatte. Als er sich umwandte, fiel sein Blick zuerst auf das Metronom. Einen Augenblick starrte er es unverwandt an, dann wanderten seine Augen langsam zu der Pistole, die ich auf ihn richtete. Die Thermosflasche rutschte ihm unter dem Arm weg und schlug krachend auf dem Boden auf. »Guten Morgen, Mr. Dempsey«, begrüßte ich ihn freundlich. »Sie sind wohl gerade dabei, in der Zeitung einen Sieger für Fantasie zwei-dreißig ausfindig zu machen?« Nun entglitt ihm auch die Zeitung. »Frazer!« Er fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Was tun Sie hier?!« Seine Stimme klang heiser, beinahe erstickt. »Ich bringe Ihnen nur Ihr Metronom zurück.« Ohne die Augen von meinem Gesicht zu wenden, schob er die Thermosflasche mit dem Fuß beiseite. »Wozu?« »Unsere Unterhaltung wurde damals so abrupt beendet, noch bevor wir überhaupt auf das Metronom zu sprechen kamen.« Ich lächelte. »Da hielt ich es für eine gute Idee, wenn wir beide uns noch einmal ganz freundschaftlich unterhielten.« »Ich verstehe«, antwortete er mit ängstlichem Blick. 156
»Kommen Sie nicht auf dumme Gedanken, Dempsey«, warnte ich ihn und zog den Finger am Abzug etwas an. »Ich würde Sie wahrscheinlich kaum tödlich treffen; aber auf diese kurze Entfernung kann ich mir schon den passenden Zielpunkt genau aussuchen.« Er gab einen wehleidigen Laut von sich. »Was wollen Sie von mir?« »Sehen Sie, so ist es schon viel besser«, antwortete ich umgänglich und wies mit meiner Pistole auf den Stuhl. »Setzen Sie sich doch.« Er ließ sich schwerfällig auf den Stuhl fallen und legte ein Päckchen mit belegten Broten auf den Tisch. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich ein Sandwich esse?« fragte er und wickelte die Brote aus. »Essen Sie nur. Den Kaffee werden wir uns heute schenken.« Er sah mich einen Augenblick säuerlich an, da ihm wohl einfiel, welchen Gebrauch ich bei unserem letzten Zusammentreffen von dem heißen Kaffee gemacht hatte. Dann schob er mit einer plötzlichen Bewegung die Brote zu mir herüber. »Corned beef – eben frisch geschnitten.« Ich schüttelte ablehnend den Kopf. »Kommen wir zur Sache, Dempsey … zu diesem Metronom. Als Sie es damals auf den Tisch stellten, erwarteten Sie doch, daß ich daraufhin etwas ganz Bestimmtes sagen würde, nicht wahr?« Er nahm sich ein Sandwich. »Meinen Sie?« fragte er vorsichtig. »Warum haben Sie es denn nicht gesagt?« »Sie werden sich vielleicht erinnern, daß mir nicht viel Zeit dafür blieb, bis zu dem Augenblick, da Sie die Pistole zückten.« »Heutzutage weiß man nie, woran man mit den Leuten ist. Es hätte ja auch ein Überfall sein können.« Er biß herzhaft in das Sandwich. »Woher sollte ich wissen, ob Sie nicht auch bei Ihrem letzten Besuch einen Überfall mit dieser Pistole auf mich vorhatten – so, wie Sie es jetzt tun, Frazer?« »Ach, damals hatte ich gar keine Pistole bei mir, weil ich keine Diamanten zu beschützen brauchte.« 157
Er dachte über das nach, was ich ihm eben gesagt hatte, während er schmatzend kaute. »Haben Sie denn jetzt welche bei sich?« versuchte er mich auszuhorchen. Ich holte das Juwelierkästchen aus meiner Tasche, drückte auf den Verschluß und brachte die beiden Steine zum Vorschein. Dempseys Augen wurden groß und größer. Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Darf ich sie mir einmal ansehen, Mr. Frazer?« Er erhob sich etwas von seinem Stuhl und langte über den Tisch. Ich legte blitzschnell meine Hand über das Kästchen und gab ihm mit dem Pistolenlauf einen leichten Schlag auf den Arm. »Lassen Sie gefälligst Ihre Hände seitwärts auf dem Tisch liegen, Dempsey!« »Würden Sie mir wenigstens die Lupe geben?« bat er. »In der zweiten Schublade von oben.« Ich fand sie und schob sie ihm hinüber. Er klemmte sie in ein Auge und besah sich sachverständig die Diamanten. »Was verlangen Sie dafür, Frazer?« fragte er ganz sachlich, als er die Lupe wieder absetzte. »Nicht den Preis für einen Mittelsmann. Ich möchte mit dem Boß persönlich verhandeln.« Sein Gesichtsausdruck wandelte sich. »Wer sagt Ihnen, daß ich einen Boß habe?« »Cordwell.« Er wollte das zur Hälfte gegessene Sandwich gerade zum Munde führen, legte es aber wieder zu den anderen zurück. »Sind Sie ein Freund von Cordwell?« »Ich kenne ihn von Amerika her«, antwortete ich ausweichend. »Wir haben früher einmal gemeinsame Geschäfte gemacht.« »Was für Geschäfte?« »Wir wollen jetzt damit keine Zeit verlieren«, erwiderte ich kurz. »Ich hatte mehrere Jahre hindurch den Kontakt mit ihm verloren. 158
Vor einer Woche traf ich ihn ganz zufällig in Amsterdam. Wir haben gemeinsam eine Nacht durchgebummelt.« Ich schüttelte geringschätzig den Kopf. »Es war immer noch das alte Lied. Wenn Cordwell ein paar Schnäpse getrunken hatte, dann konnte er den Mund nicht halten. Er wurde dann stets sehr redselig.« Dempsey fuhr sich mit der Hand über die wenigen Haare. »Redselig worüber?« »Über seine Tätigkeit, seine Geschäfte. Da wir in Amerika einst gut zusammengearbeitet hatten, war er nicht zurückhaltend.« »Ich habe ja schon immer gesagt, daß dieses Großmaul uns noch mal in Schwierigkeiten bringen wird!« Dempsey sah mit scheelem Blick auf die Diamanten. »Also, was erzählte er?« »Er begann damit, daß er Diamanten vom Kontinent nach England schmuggle«, erzählte ich und war selbst überrascht, wie leicht jetzt alles über die Bühne lief, ganz so, wie ich es erhofft hatte. »Nach ein paar Schnäpsen hat er dann die Katze aus dem Sack gelassen. Er erzählte von der gut organisierten Schmuggelbande für Diamanten und brüstete sich damit, wie groß die Organisation sei, für die er arbeite. Er sprach auch von dem narrensicheren Kodesystem, das die Organisation benutzt.« »Da haben Sie also die ganze Sache aufgeschnappt«, murmelte Dempsey, der von meinem sorgsam gesponnenen Garn offensichtlich beeindruckt war. »Wir wunderten uns schon, wie Sie an den Tulpenkatalog und das Kodewort geraten waren.« »So – da hat also schon eine kleine Aufsichtsratssitzung stattgefunden?« fragte ich lachend. »Welcher der Direktoren war denn anwesend, außer Ihnen und dem Vorsitzenden?« »Sie sitzen jetzt nicht einem Betrunkenen in der Bar gegenüber, Mr. Frazer. Und ich bin nicht Cordwell. Sie können sich also die Mühe sparen, einen Namen aus mir herauszulocken.« »Na schön. Dann werde ich Ihnen einen Namen nennen. Ericson. Er ist der Boß Ihrer Organisation.« 159
»Cordwell!« Dempsey legte seine ganze Verachtung in dieses Wort. »Dieser Bastard mit seiner verflucht losen Zunge!« Seine fleischigen Finger spielten mit den Diamanten. »Und jetzt erscheinen Sie also hier auf der Bildfläche und verlangen, daß wir Ihnen die Dinger abkaufen? Dazu müssen wir erst einmal wissen, woher Sie die haben.« »Ich habe sie von Cordwell bekommen.« Er ließ erstaunt den Unterkiefer sinken. »Er hat sie Ihnen verkauft?« »Nein.« Ich legte eine Kunstpause ein und sprach dann in vertraulichem Ton weiter: »Ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein, Dempsey. Ich habe so das Gefühl, daß Ericson Ihnen gegenüber nicht ganz aufrichtig ist.« »Der sollte lieber nicht versuchen, irgendwelche Tricks anzuwenden«, reagierte Dempsey ärgerlich. Dann fragte er reservierter: »Was meinen Sie damit?« »Haben Sie jemals von einer Dame namens Barbara Day gehört?« fragte ich und beobachtete ihn scharf. Er schüttelte den Kopf mit so verwirrtem Blick, daß man ihm glauben konnte; ich fuhr fort: »Ich traf sie in Amsterdam. Sie war mit Cordwell gut bekannt. Als ich wieder in London war, lud sie mich zu einem Drink in ihre Wohnung ein. Ich ging zu ihr, aber niemand öffnete auf mein Läuten. Gerade als ich gehen wollte…« Ich sah ihn stirnrunzelnd an. »Sie werden es mir nicht glauben, Dempsey…« »Sie können es ja mal versuchen«, erwiderte er. »Also was war dann?« »Gerade als ich mich umdrehte und weggehen wollte, schob jemand einen flachen Schlüssel unter dem Türschlitz durch. Ich hob ihn auf und öffnete die Tür. In der Wohnung war niemand außer einer Leiche auf dem Fußboden im Wohnzimmer.« Er befeuchtete die Lippen. »Cordwell?« Ich nickte. »Er war ermordet worden, man hatte ihm den Schädel 160
eingeschlagen. Da fiel mir ein, was er mir über die Diamantenschmuggelorganisation erzählt hatte, und ich dachte mir gleich, daß sein Tod damit in Zusammenhang stehen müßte. Und noch etwas anderes fiel mir ein: Drüben in den Staaten hatte er oft Heroin in seiner Zigarrenspitze über die mexikanische Grenze geschmuggelt. Es wäre ja möglich, kombinierte ich, daß er dieselbe Methode auch bei Diamanten angewendet hat. Er hatte die Zigarrenspitze nicht bei sich. Aber gerade als ich die Wohnung verlassen wollte, sah ich sie im Kamin liegen.« Ich deutete mit der Pistole auf die Diamanten. »Die beiden da habe ich dann in der Zigarrenspitze gefunden.« Dempsey atmete schwer, sein schwammiges Gesicht war vor Angst mit Schweißperlen bedeckt. »Und Sie meinen, daß Ericson…?« »Tja, man kann da natürlich nur vermuten«, zuckte ich mit den Schultern. »Aber wenn er es getan hat, dann hat er die Diamanten jedenfalls nicht bekommen.« Dempsey preßte die Hand auf den Magen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht stieß er hervor: »Und was jetzt, Frazer?« »Sie setzen sich mit Ericson in Verbindung. Sagen Sie ihm, ich hätte die Diamanten und sei zu einem Geschäft bereit. Sonst weiter keine Fragen. Ich werde ab sieben Uhr abends in meiner Wohnung sein.« Ich langte nach den Diamanten, legte sie in das Kästchen, verschloß es und ließ es in meiner Tasche verschwinden. »Übrigens können Sie ihm auch noch den Tip geben, daß ich kein so harmloser Trottel wie Cordwell bin.« Ich stand auf und ging rückwärts zur Tür. »Tut mir leid, daß ich Ihr zweites Frühstück unterbrochen habe, Dempsey.« Sobald ich im Flur war und die Tür hinter mir geschlossen hatte, schob ich die Pistole in meine Tasche und eilte auf die Straße. Auf der Suche nach einem Taxi hörte ich ein energisches Hupen. Als ich mich umschaute, lehnte Richards sich aus der offenen Tür seines Wagens. Ich ging zurück und öffnete die entgegengesetzte 161
Tür. »Der Fluchtwagen«, erklärte Richards. »Nur für den Fall, daß Sie Dempsey eins auf den Pelz brennen und dann schnell verschwinden mußten. Ich nehme an, Sie können jetzt einen Drink gut gebrauchen. Wir fahren schnell zu Nags. Dort ist um diese Zeit bestimmt schon geöffnet.« »Genau der richtige Ort, um zu hören, was sich in Dempseys Büro zugetragen hat«, meinte Richards mit einem Nicken in Richtung auf die mit alten Plakaten beklebten Pfeiler. »Das gibt dem Ganzen eine gewisse Theateratmosphäre.« »Die Sache ist ganz planmäßig verlaufen«, begann ich leicht blasiert und ließ einen ausführlichen Bericht folgen. Als ich geendet hatte, nippte Richards nachdenklich an seinem Sherry. »Eigentlich ein bißchen riskant, zuzugeben, daß Sie in der Mordnacht in Barbaras Wohnung waren.« »Sie meinen, er könnte die Polizei benachrichtigen und dann zusehen, wie sie in seinem Betrieb herumschnüffeln? Das dürfte doch wohl kaum in Frage kommen. Wenn ich mit meiner Vermutung recht habe, daß es Vivien Gilmores Stimme war, die ich damals an Dempseys Telefon hörte, dann wird er ihr jetzt jedes Wort unserer Unterhaltung brühwarm berichten. Außerdem war das für mich eine gute Gelegenheit, Barbaras Namen bei ihm auszuprobieren.« »Und – wie hat er reagiert?« »Überhaupt nicht. Ich bin ganz sicher, daß er den Namen nie zuvor gehört hat.« »Das muß doch geradezu Balsam für Ihr Herz gewesen sein«, entgegnete Richards lächelnd. »Übrigens, was gedenken Sie zu tun, wenn Ericson heute abend in Ihrer Wohnung aufkreuzen sollte?« »Aus den Andeutungen, die ich Dempsey über meine angeblichen Abenteuer mit Cordwell in Amerika serviert habe, wird Ericson folgern, er habe es mit einem ausgekochten Gauner zu tun.« Das war weniger eine Antwort an Richards als vielmehr laut ge162
dacht. »Ich brauche also kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Im Laufe der Unterredung gedenke ich Leo Salinger als einen meiner Kunden für gestohlene Diamanten zu erwähnen. Ericsons Reaktion wird dann wohl endgültig Aufschluß geben, ob Salinger für ihn gearbeitet hat oder ob Ross' Vertrauen in ihn gerechtfertigt war.« »Hier, bei einem Glas Sherry, klingt das alles ganz einfach«, meinte Richards zweifelnd. »Aber Sie stehen einer hartgesottenen Bande gegenüber, Frazer. Vergessen Sie das nicht.« Als wolle er diesem Satz noch besonderen Nachdruck verleihen, fügte er hinzu: »Ich komme gerade von einem ihrer Opfer.« »Von van Dakar? Wie geht es ihm?« »Wenn sich keine besonderen Komplikationen ergeben, wird er höchstwahrscheinlich durchkommen.« »Haben Sie mit ihm gesprochen?« »Etwa fünfzehn Minuten. Er ist Privatdetektiv einer holländischen Versicherungsgesellschaft und arbeitet schon seit langem am Fall Ericson. Cordwell war dafür bekannt, daß er Diamanten für die Organisation schmuggelte, und van Dakar war ihm seit Wochen auf den Fersen. Er folgte ihm auch in der Mordnacht zu Barbara Days Wohnung.« Ich lächelte grimmig. »Und hielt mich wohl für den Mörder?« Richards nickte. »Er glaubte damals auch, Sie hätten Cordwells Diamanten. Deshalb wurde Ihre Wohnung durchsucht.« »Das ist verständlich. Aber warum hat er mir eigentlich die Notiz über die Lennard Street in das Zigarettenetui gesteckt? Und später den Tip mit den Kodewörtern gegeben?« »Ja, das muß an Ihrem unwiderstehlichen Charme liegen, Frazer«, › entgegnete Richards ironisch. »Also Scherz beiseite: Als man die Diamanten nicht in Ihrer Wohnung fand und auch keine anderen Beweise dafür, daß Sie in diese kriminellen Geschäfte verwickelt sind, kam er zu der Ansicht, Sie gehörten zur Interpol, und zwar zu der Abteilung, die sich mit gestohlenen Edelsteinen befaßt. Van Da163
kar und sein Assistent waren bei ihren Nachforschungen zwar bis zu Dempsey vorgedrungen, standen aber seitdem wie vor einer Mauer und kamen nicht weiter. Da entschlossen sie sich, Ihnen alle verfügbaren Informationen zuzuspielen und zu beobachten, was sich dann weiter entwickeln würde.« »Ist ja recht großzügig von den Herren – obwohl ich bestimmt nichts dagegen gehabt hätte, wenn sie etwas weniger schlagkräftige Methoden angewandt hätten«, erklärte ich und strich mir unwillkürlich mit der Hand über den Hinterkopf. »Hat van Dakar eigentlich an dem Mordabend sonst noch jemanden in der Nähe von Barbaras Wohnung gesehen?« »Niemanden. Das Haus hat aber noch einen anderen Ausgang über den Innenhof. Der Mörder ist höchstwahrscheinlich die Feuerleiter heruntergeklettert.« Während ich meinen Sherry trank, fiel mir ein, daß ich ja noch fragen wollte, ob van Dakar eine Erklärung für seine seltsame Äußerung über den Kaffee gegeben hatte. »Er wollte damit nur andeuten, daß Gauner sich oft schöner Frauen bedienen. Im übrigen ist Ihre lebhafte Tätigkeit als Kameramann in Amsterdam nicht unbemerkt geblieben.« »Die Aussicht, daß ich für ihn als Privatdetektiv schwärmen könnte, besteht jedenfalls nicht«, bemerkte ich kurz. »Steht Barbara Day bei ihm auf der Liste der Verdächtigen?« »Cordwell wohnte in Amsterdam im selben Hotel wie sie. Sie wurde öfter mit ihm zusammen gesehen. Er besuchte sie hier in ihrer Wohnung. Alles zusammen gibt ein ganz interessantes Dossier.« Richards sah mich plötzlich scharf an. »Sie haben sich doch nicht etwa in das Mädchen verliebt, Frazer?« »Ach, lassen Sie das doch, Richards. Barbara Day ist, wie Sie wissen, verlobt. Und ganz abgesehen davon, daß es meine Aufgabe ist, sie zu beobachten, traue ich ihr seit diesem Telefonanruf von Vivien Gilmore in Barbaras Wohnung auch nicht mehr so ganz.« 164
»Und wenn es für diesen Anruf eine vernünftige Erklärung gäbe?« »Ich lasse mich gern überzeugen«, grinste ich ihn an. »Übrigens, wie hat denn der gute Onkel Richards seine Freizeit verbracht? Haben sie mal nachgeforscht, welche beruflichen Aussichten der zukünftige Ehemann Fairlee hat?« »Da kann ich Ihnen nicht viel Hoffnung machen, Frazer. Bei der Börse steht er auf der Liste der besonders empfohlenen Makler. Sein Bankdirektor lädt ihn oft zum Lunch ein.« Richards leerte sein Glas. »Da wir gerade vom Essen sprechen. Ich bin heute Ihr Gastgeber, als Belohnung für ein mannhaftes Unternehmen. Man ißt hier übrigens sehr gut.« Nach dem Mittagessen fuhr ich in meine Wohnung zurück, um mich etwas zu entspannen. Aber ich war innerlich zu unruhig, um mich auf die Lektüre eines Buches zu konzentrieren. Die geplante Zusammenkunft mit Ericson um sieben Uhr war ja nicht gerade dazu angetan, freudige Erwartungen aufkommen zu lassen. Angenommen, er drückte mir eine Pistole in den Magen, sobald ich auch nur die Tür geöffnet hatte? Ich tastete nach dem Revolver in meiner Jackentasche. ›Pistolenduell in einer Reihenhauswohnung‹, das würde eine sensationelle Schlagzeile für die Morgenzeitungen abwerfen, dachte ich mir. Und meine Aufwartung, Mrs. Glover, würde diesen Bericht heißhungrig verschlingen. Gleichzeitig fiel mir ein, daß sie leidenschaftlich gern zu Beerdigungen ging… Meine Wohnung kam mir plötzlich kalt, einsam und unwirtlich vor wie die Eigernordwand. Auch über Barbara war ich mit mir noch nicht im reinen. Richards hatte mich mit seinen hartnäckigen Fragen in die Enge getrieben. Zugegeben, ich kannte sie noch nicht lange. Ihr Wesen strahlte aber so viel Wärme und Freundlichkeit aus, daß dies unter anderen Voraussetzungen zu einer engeren Freundschaft geführt haben würde. Ein Läuten an der Wohnungstür unterbrach meine Gedankengän165
ge. Ich blickte auf die Uhr und stellte fest, daß es erst sechs war. Meine Hand in der Jackentasche umklammerte die Pistole, als ich zur Tür ging und öffnete. Auf seinen Regenschirm gestützt, den unvermeidlichen steifen Hut auf dem Kopf, stand eine Figur vor mir, die kaum furchteinflößender wirkte als ein gereiztes Kaninchen. Es war Arthur Fairlee. »Gut, daß Sie zu Hause sind«, begann er, wobei sich sein Schnurrbart komisch bewegte. »Ich muß Sie in einer dringenden Angelegenheit sprechen.« Ich nahm die Hand von der Pistole und konnte ein amüsiertes Lächeln nicht unterdrücken. »Ich würde die Sache gern unter vier Augen mit Ihnen besprechen.« »Kommen Sie doch herein«, forderte ich ihn auf und trat einen Schritt zurück. Er ging an mir vorbei ins Wohnzimmer. »Nehmen Sie doch Platz und entspannen Sie sich erst etwas – sonst bekommen Sie wieder einen Ihrer Anfälle.« »Ich ziehe es vor, stehen zu bleiben«, antwortete er in gereiztem Ton und pflanzte sich mitten im Zimmer auf, wobei er den steifen Hut auf die Krücke des Regenschirmes preßte. Dann hob er den Schirm und schwenkte ihn in meine Richtung. »Ich will gleich zur Sache kommen: Haben Sie ein Verhältnis mit Barbara?« »Ob ich was habe? Sagen Sie mal, mein Lieber…« »Haben Sie ein Verhältnis mit ihr, Frazer?« Ich tauchte unter dem geschwungenen Regenschirm hinweg, als er auf mich zukam. Seine Augen starrten wie die eines Wahnsinnigen. »Machen Sie sich doch nicht zum Narren. Natürlich habe ich kein Verhältnis mit ihr.« »Das ist eine Lüge!« fauchte er. »Ich bin doch nicht blind. Außerdem ist das nicht aus heiterem Himmel auf mich zugekommen, 166
Frazer.« »Aber was denn nur?« Plötzlich griff ich wieder nach dem Revolver in meiner Tasche. »Die Auflösung unserer Verlobung.« Einige Sekunden lang war es still im Raum. Dann hörte ich mich fragen: »Wann ist das geschehen?« »Gestern abend. Als ob Sie das nicht wüßten«, stieß er erregt hervor. »Wir waren glücklich – bis Sie auftauchten, Frazer.« »Sind Sie sicher, Fairlee? Vielleicht waren Sie glücklich. Wenn Barbara die Verlobung aufgelöst hat, dann haben Sie sich das nur selbst zuzuschreiben. Sie waren ihrer allzu sicher.« »Ich mir selbst zuzuschreiben?« explodierte er. »Meinen Sie, ich habe es mir selbst zuzuschreiben, wenn ein anderer Mann sich meine Krankheit zunutze macht, um mir meine Verlobte zu stehlen?« Langsam wurde ich wirklich ärgerlich. »Das ist Unsinn, Fairlee. Bei den wenigen Malen, die Barbara Sie im Gespräch erwähnt hat, geschah das mit größtem Verständnis und Mitgefühl. Und ich bin überzeugt, daß sie auch auf niemanden hören würde, der Sie kritisiert – dazu ist sie viel zu loyal.« »Eine Verlobung aufzulösen entspricht nicht gerade meiner Vorstellung von Loyalität.« Er kam zwei Schritte näher auf mich zu. »Können Sie beschwören, daß zwischen Barbara und Ihnen nichts vorgefallen ist?« »Um Gottes willen, hören Sie doch endlich auf, hier den dramatischen Helden zu spielen!« schrie ich ihn wütend an. »Barbara und ich haben nie auch nur ein einziges Wort gewechselt, das Sie nicht hätten mithören können.« Er sah mich lange eindringlich an. »Ich nehme Ihr Wort an, Frazer«, lenkte er schließlich ein. Etwas widerwillig fuhr er dann fort: »Ich müßte mich wohl bei Ihnen entschuldigen.« »Schon gut; vergessen wir das, Fairlee«, winkte ich ab. »Ich wünschte, ich könnte es«, antwortete er voller Selbstmitleid. 167
Seine Stimme wurde ängstlich und wißbegierig, als er fragte: »Hat Barbara Ihnen gegenüber jemals einen anderen Mann erwähnt?« »So, wie Sie es meinen – nein. Natürlich hat sie verschiedene Leute im Zusammenhang mit dieser verflixten Mordsache erwähnt – Cordwell, Trueman zum Beispiel.« »Ericson?« fragte er nervös. »Sie bestreitet, den Namen je gehört zu haben«, antwortete ich und fragte mich, wieviel er wohl wußte. »Ist nicht gerade das verdächtig?« Er atmete stoßweise. »Warum verleugnet sie ihn? Ich bin sicher, daß sie ihn kennt.« »Wie kommen Sie darauf, Fairlee?« »Gestern besuchte ich ihren Antiquitätenladen. Als ich hineinging, telefonierte Vivien gerade, und ich hörte, wie sie sagte: ›Ericson will dich noch einmal sprechen. Soll ich die Verabredung für morgen früh um zehn Uhr im Deich festmachen?‹ Als Vivien mich sah, hängte sie augenblicklich auf.« »Woher wissen Sie, daß sie mit Barbara gesprochen hat?« fragte ich scharf. »Barbara war nicht im Laden. Und die schuldbewußte Art und Weise, wie Vivien die telefonische Unterhaltung beendete, überzeugte mich, daß sie mit Barbara gesprochen hatte.« »Haben Sie Vivien gefragt, wer ihr Gesprächspartner gewesen ist?« »Natürlich.« Er begann unruhig im Zimmer auf und ab zu wandern. »Sie hat es selbstverständlich geleugnet und behauptet, sie habe mit einem Kunden telefoniert, dem sie eine Zusammenkunft mit einem Antiquitätenhändler namens Merrison vermitteln wollte. Heute vormittag bin ich dann in der Espressobar gewesen. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß weder Vivien noch Barbara dort aufgekreuzt sind.« »Und Sie sind ganz sicher, daß Vivien den Namen Ericson genannt hat?« »Es besteht nicht der geringste Zweifel.« Er blinzelte mich un168
glücklich an. »Warum leugnen beide Frauen, Ericson zu kennen? Was soll diese ganze Geheimniskrämerei? Ein anderer, und zwar dieser Ericson, ist schuld daran, daß Barbara die Verlobung mit mir gelöst hat. Und Vivien hat die Sache angestiftet. Sie hat mich nie leiden können…« Ich wurde dieser emotionellen Ausbrüche langsam müde. »Warum sehen Sie nicht den Tatsachen ins Gesicht, Fairlee?« attackierte ich ihn. »Nur Ihr Egoismus ist der Grund dafür, daß Barbara sich von Ihnen getrennt hat. Aber Ihr Stolz läßt nicht zu, sich das einzugestehen, weshalb Sie die Schuld einem anderen Mann anhängen wollen. Erst war ich es – jetzt soll Ericson es sein. Ich bin fast überzeugt, daß Sie sich nur einbilden, seinen Namen gehört zu haben.« »Gebe Gott, daß Sie recht haben«, winselte Fairlee mit brüchiger Stimme. »Ich könnte es nicht ertragen, sie zu verlieren. Seit kurzem ist sie so verändert…« Er brach ab und rang nach Atem. Ich goß ihm schnell einen Kognak ein und drückte ihm das Glas in die Hand. Er zitterte heftig, stammelte einen Dank und trank. Ich fragte mich gerade, ob es nicht besser sei, einen Arzt zu rufen, als es zweimal kurz hintereinander an der Tür läutete. Für einen Augenblick überkam mich ein Gefühl der Panik. Wenn das jetzt Ericson war, würde die Lage sich phantastischer entwickeln, als ich es mir vorstellen konnte. Mir schien, es würde dann mindestens eine Leiche geben, um Mrs. Glover zufriedenzustellen. Fairlee war einem Kollaps nahe, und es schien unwahrscheinlich, daß er den Schock überleben würde, gerade in diesem Augenblick und völlig unvorbereitet Ericson gegenüberzustehen. Als ich die Tür weit aufriß, wäre mir um ein Haar der Telegrammbote vor die Füße gefallen. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er mit einem dämlichen Grinsen. »Ich wollte es gerade durch den Briefschlitz stecken, weil ich glaubte, Sie seien nicht zu Haus.« Ich nahm ihm das Telegramm ab und riß es auf. Dann sagte ich dem Boten, er brauche nicht auf Antwort zu warten, gab ihm einen 169
Shilling und eilte ins Wohnzimmer zurück. Fairlee stand noch immer auf dem selben Fleck. Er sah elend aus und blickte mit starren, ausdruckslosen Augen in sein leeres Glas. »Fühlen Sie sich jetzt besser?« fragte ich mit ehrlichem Mitgefühl. »Danke. Der Kognak hat mir gutgetan.« Er lächelte schwach. »Ich sollte mich wirklich nicht so aufregen.« »Machen Sie sich jetzt nicht solche Gedanken über die Geschichte, Fairlee«, beruhigte ich ihn und nahm ihm das Glas ab. »Es wird sich bestimmt alles wieder einrenken. Wenn Sie glauben, es allein bis nach Haus zu schaffen, dann entschuldigen Sie mich bitte. Ich habe eben ein Telegramm bekommen, das mich abruft.« »Um mich brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Diese Anfälle sehen schlimmer aus, als sie in Wirklichkeit sind.« Er gab sich einen Ruck und schwenkte nochmals seinen Regenschirm. »Ich hoffe, Sie haben keine schlechte Nachricht erhalten?« »Nein. Eine Verabredung wurde nur zeitlich verlegt.« An der Wohnungstür entschuldigte er sich nochmals und ging dann ziemlich forsch die Stufen hinunter. Ich hatte das Gefühl, er wolle damit seine Männlichkeit unter Beweis stellen. Im Wohnzimmer las ich mir noch einmal das Telegramm durch: TREFFE SIE HEUTE ABEND ELF UHR IM PARK NAHE QUEENSMERE-TEICH WIMBLEDON. WERDE NACH IHNEN AUSSCHAU HALTEN. DEMPSEY. Ich schob das Telegramm in die Tasche, nahm mein unberührtes Glas in die Hand und sah es lange und nachdenklich an. Dann trug ich es hinaus in die Küche und goß den Inhalt ins Spülbecken. Für die Verabredung um elf Uhr brauchte ich einen klaren Kopf. Es war zehn nach elf Uhr, als ich am Ort des verabredeten Rendezvous erschien. Absichtlich war ich etwas später gekommen, weil ich wollte, daß Dempsey als erster am Treffpunkt sein sollte. Wenn er allein war, wollte ich ganz dicht an ihn heranfahren. Vielleicht 170
benutzte man ihn nur als Köder, um mich aus dem Wagen zu locken, damit ich einem Angriff ungeschützt ausgesetzt war. Auch hielt ich es für unwahrscheinlich, daß Ericson als Haupt einer internationalen Gangsterbande ohne Leibwache umherlaufen würde. Natürlich hatte ich meine Pistole bei mir, hatte aber nicht die Absicht, sie zu benutzen, es sei denn, es bliebe mir kein anderer Ausweg. Ein halbes Dutzend Streifenwagen anzulocken war gewiß das letzte, was ich mir wünschte. Es stellte sich dann aber heraus, daß alle vorherige Planung umsonst gewesen war. Kein Empfangskomitee wartete, um mich unsanft zu begrüßen; selbst der Köder war nicht zu sehen. Ich parkte den Wagen so dicht wie möglich am vereinbarten Ort, schaltete die Scheinwerfer aus, vergewisserte mich noch einmal, daß die Türen von innen verriegelt waren, und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Es war eine mondlose Nacht mit leichter Nebelbildung. Wahrlich, ein ideales Wetter für finstere Pläne. Ich zündete mir eine Zigarette an und machte es mir auf meinem Sitz bequem, wobei ich bedauerte, daß ich mir nicht ein Taschenfläschchen mit Whisky abgefüllt hatte. Alle meine Nerven und Sinne waren angespannt, und ich war gewissermaßen ständig auf dem Sprung. Jedesmal, wenn vor mir die Scheinwerfer eines Wagens aufleuchteten, hielt ich mich sorgsam im Dunkeln. Ich erinnerte mich ja noch genau der Methode, die man bei van Dakar angewendet hatte. Beim Warten ging ich nochmals meine Unterredung mit Fairlee durch. Selbst wenn man seine notorische Eifersucht und sein stetes Mißtrauen berücksichtigte, schien es doch zu stimmen, daß Vivien Gilmore am Telefon den Namen Ericson genannt hatte. Weniger sicher war, ob sie in diesem Augenblick mit Barbara telefoniert hatte. Mittlerweile hatte ich meine dritte Zigarette zu Ende geraucht. Anscheinend war ich in meiner Planung zu umsichtig gewesen, was 171
Dempsey und seine Kumpane veranlaßt haben konnte, nicht zu erscheinen oder noch vor meiner Ankunft wieder wegzufahren. Mit einem unbestimmten Gefühl der Enttäuschung darüber, daß mir eine aufregende Szene entgangen war, schaltete ich die Scheinwerfer ein und setzte den Motor in Gang. Ich war erst wenige hundert Meter gefahren, als ich vor mir auf der Straße die Umrisse eines Mannes erkannte, der eine Taschenlampe kreisförmig bewegte. Ich verlangsamte das Tempo, weil ich einen Trick der Dempsey-Bande vermutete. Dann erfaßten die Scheinwerfer einen Mann mitten auf der Straße, der sich über ein Fahrrad lehnte, das er quer zur Fahrbahn gestellt hatte. Er trug die Uniform der Parkwächter und machte einen harmlosen Eindruck. Ich hielt neben ihm an und kurbelte das Fenster nur so weit herunter, daß ich ihn fragen konnte, was er von mir wolle. »Dahinten im Gebüsch liegt ein Mann«, berichtete er aufgeregt. »Er ist ziemlich übel zugerichtet – sonst hätte ich Sie nicht angehalten.« »Was ist denn passiert? Ist er überfahren und liegengelassen worden?« »Es sieht eher so aus, als ob man ihn zusammengeschlagen habe, Sir«, antwortete der Parkwächter grimmig. »Der muß unbedingt zur Behandlung in ein Krankenhaus.« Ich überlegte einen Augenblick und sagte dann: »Also gut, ich fahre an den Straßenrand. Wir werden uns um den Mann kümmern. Wenn er nicht zu schwer verletzt ist, könnte ich ihn vielleicht zum Krankenhaus in Putney fahren.« Ich stellte den Wagen ab und folgte dem Wärter ins Gebüsch, wo eine massige Gestalt stöhnend auf dem Boden lag, den Kopf zum Teil unter den Armen verdeckt. Ich beugte mich über ihn. Das strohblonde Haar, das sonst so sorgfältig über den kahlen Kopf seitwärts gekämmt war, hing jetzt zerzaust über den Ohren. 172
Das runde Mondgesicht mit der breiten Nase war geschwollen und entstellt. Die unruhigen Augen, die jetzt nicht mehr imstande gewesen wären, eine Juwelierlupe einzuklemmen, starrten mich an. »Frazer … sind Sie es, Frazer?« Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Keine Sorge, Dempsey. Es wird schon wieder alles gut werden«, versuchte ich, ihm zuversichtlich zuzureden. »Wir bringen Sie jetzt zu meinem Wagen und dann…« »Sie kennen ihn, Sir?« fragte der Parkwächter überrascht. »Das ist aber komisch, daß Sie gerade vorbeikommen mußten…« »Wirklich ein glücklicher Zufall«, unterbrach ich ihn. »Helfen Sie mir bitte, ihn zu meinem Wagen zu bringen.« Dempsey war schwer hochzuwuchten. Er hing zwischen uns wie ein Sack Mehl. Aber schließlich hatten wir ihn im Rücksitz meines Wagens verstaut. Der Wächter holte Notizbuch und Bleistift hervor und setzte eine amtliche Miene auf. »Es ist Vorschrift, die Sache der Polizei zu melden, Sir. Könnte ich bitte Ihre Namen und Adressen haben?« Es bedurfte nicht des protestierenden Stöhnens aus dem rückwärtigen Teil des Wagens, um mir zu sagen, daß wir so schnell wie möglich von hier fort mußten. »Mein Freund leidet an einem bösen Magengeschwür, weshalb die Sache für ihn sehr kritisch werden kann. Ich muß ihn erst ins Krankenhaus bringen!« rief ich mit dringlicher Stimme und legte die Gangschaltung ein. »Das Krankenhaus wird Ihnen unsere Namen geben. Rufen Sie nachher dort an. Guten Abend, und vielen Dank für Ihre Hilfe.« »Sie sind ein guter Mensch, Frazer«, stammelte Dempsey, als wir mit zunehmender Geschwindigkeit davonfuhren. »Gut ist das höchstens für Sie!« rief ich nach hinten. »Der Parkwächter hat sich bestimmt die Nummer meines Wagens notiert. Und nun sparen Sie lieber Ihre Kräfte, bis wir bei mir zu Haus angelangt sind.« 173
Während der Fahrt hatte Dempsey das Bewußtsein verloren. Als ich vor meiner Wohnung parkte, atmete er unregelmäßig, und sein Kopf hing schlaff herab. Ich eilte ins Haus, goß einen Becher halb voll Kognak und kehrte zum Wagen zurück. Dempsey rührte sich etwas und öffnete das unverletzte Auge. »Milch … Frazer … Milch«, murmelte er. Es gelang mir, ihn unter Aufbietung all meiner Kräfte über die Schultern zu legen und in meine Wohnung zu tragen. Dort zog ich ihm die Jacke aus, lockerte die Krawatte und ließ ihn in einen Sessel sinken. Als ich hinaus in die Küche ging, um ihm ein Glas Milch und ein Sandwich zu holen, nahm ich seine Jacke mit und brachte sie erst wieder ins Wohnzimmer zurück, nachdem ich seine Taschen durchsucht und das Gesuchte gefunden hatte. Ich hängte sie über die Lehne eines Stuhls und mixte mir dann einen Whisky mit Soda. »Wie geht es Ihnen jetzt?« fragte ich, während ich stehend auf ihn hinabsah. »Ich komme wieder langsam zu mir«, antwortete er. »Gottlob haben sie mir nicht in den Magen getreten.« Sein Gesicht war arg zugerichtet. An der linken Schläfe war eine klaffende Wunde, die aussah, als sei sie von einem Tritt mit dem Stiefelabsatz hervorgerufen worden, der tödlich wirken sollte. »Wen meinen Sie mit ›sie‹, Dempsey?« »Eine Bande von Halbstarken«, erklärte er ohne Überzeugungskraft. Es trat eine Pause ein, während der er wieder von seinem Sandwich abbiß. »Das hat mir der Arzt verordnet«, sagte er, wobei ihm die Brotkrümel auf sein zerknülltes Oberhemd fielen. »Soso – da hat also eine Bande von Halbstarken Sie überfallen und nur so zum Spaß zusammengeschlagen?« »So etwas kommt doch heutzutage oft vor. Aber die hier waren hinter meinem Geld her. Haben mir alle Taschen umgekrempelt.« 174
Ich ging zu dem Stuhl, über dem seine Jacke hing, und nahm die Brieftasche heraus. »Da haben die Kerle aber Pech gehabt! Übersehen doch glatt die Brieftasche mit 50 Pfund darin.« »Da habe ich vielleicht einen Dusel gehabt«, stöhnte er. »Vielleicht hat der Parkwächter sie gestört. Ich wünschte nur, er wäre früher gekommen. Morgen werde ich so steif sein, daß ich mich überhaupt nicht bewegen kann.« Aus seiner Jackentasche nahm ich zwei weitere Gegenstände und hielt sie hoch. »Dann werden Sie wohl das Flugticket nach Montreal zurückgeben müssen. Wie ich sehe, startet Ihre Maschine um 10.30 Uhr.« Ich warf ihm das Ticket in den Schoß. »Wie, zum Teufel, kommen Sie eigentlich dazu, in meinen Taschen herumzuwühlen?« fragte er bissig, wobei er mich unruhig mit dem einen unverletzten Auge beobachtete. »Und was machen Sie mit meinem Paß?« »Den behalte ich, Dempsey. Ob Sie ihn zurückbekommen, wird davon abhängen, wieweit Sie meine Fragen beantworten.« Er reagierte sauer. »Ich werde Ihnen überhaupt keine Fragen beantworten, Frazer. Sie vergeuden Ihre Zeit.« Ich warf den Paß auf den Tisch vor mir. »In Ihrer Jackentasche befand sich noch etwas, Dempsey. Es ist eine Pistole, für die sich unter Umständen die ballistischen Experten von Scotland Yard interessieren werden. Bei dem Mann, der gestern in einer Telefonzelle der Lennard Street durch einen Schuß schwer verletzt wurde, hat man die Kugel durch Operation entfernt.« »Das war ich nicht.« Er versuchte, sich im Stuhl aufzurichten, sank aber stöhnend wieder zurück. »Ich schwöre bei Gott, das war ich nicht.« »Sie müssen schon etwas gesprächiger werden, Dempsey. Sonst händige ich die Pistole der Polizei aus. Ich hoffe doch, daß Sie einen Waffenschein haben?« Er stieß einen hilflosen Seufzer aus. »Also gut«, antwortete er fast 175
tonlos. »Was wollen Sie wissen?« »Zunächst einmal – warum kamen Sie zu unserer Verabredung mit der Pistole in der Tasche?« Ich ging zu ihm hinüber, schob eine Hand unter sein Kinn und hob es so hoch, daß er mir ins Gesicht sehen mußte. »Ich kann die Antwort auch selbst geben. Sie wollten mich mit dem Ding zwingen, Ihnen die Diamanten auszuhändigen, stimmt's? Sie wollten auch Ericson übers Ohr hauen und mit den Diamanten außer Landes gehen – so war es doch, nicht?« »Dafür habe ich doch schon genug gebüßt«, seufzte er. »Sie sehen doch, wie die Kerle mich zusammengeschlagen haben.« »Erwarten Sie kein Mitleid von mir!« fuhr ich ihn grob an. »War Ericson mit von der Partie?« »Ericson ist viel zu gerissen dafür«, antwortete er bitter. »Aber Sie wissen doch, wer Ericson ist«, drang ich in ihn. Er schüttelte den Kopf, während es schmerzhaft in seinem Gesicht zuckte. »Diese Hunde sagen einem doch nie etwas.« »Antworten Sie auf meine Frage, Dempsey. Wer ist Ericson?« »Ich weiß es wirklich nicht. Ich habe noch nicht einmal am Telefon mit ihm gesprochen. Und das ist wirklich die Wahrheit.« Er sah mich von der Seite an. »Sind Sie ein Detektiv, Frazer?« »Sie wissen genau, wer ich bin, Dempsey. Diese Auskunft bekamen Sie doch schon telefonisch, als ich zum ersten Male bei Ihnen war.« Ich sah ihn nachdenklich an. »Ihre Rolle in der Organisation ist also die des Mittelsmannes. Die Diamanten werden auf dem Kontinent gestohlen und dann von Leuten wie Cordwell nach England geschmuggelt. Damit sich niemand einschleicht, der nicht zur Bande gehört, muß sich jeder Schmuggler erst ausweisen, bevor er an Sie weitergeleitet wird. Stimmt das, Dempsey?« »Ich denke, Cordwell hat Ihnen das schon erzählt? Warum sollen wir das alles noch einmal aufwärmen?« »Ich möchte nur überprüfen, ob alles wirklich so ist, wie er es mir 176
gesagt hat. Also: Wenn ich für Ericson arbeiten würde, dann erhielte ich einen Tulpenkatalog und ginge damit zum Restaurant Deich, von wo aus ich an Sie weitergeleitet werde.« »Der Jan hat da einen Fehler gemacht«, antwortete er. »Sie wären auf all das nicht gekommen, wenn dieser Idiot Ihnen nicht den Katalog gegeben hätte.« »Ericson wird ihm das schon heimzahlen«, beruhigte ich ihn. »Und jetzt möchte ich den Rest hören.« »Ich wage es nicht, Frazer«, winselte er, wobei er sich vor Angst schüttelte. »Sie sehen doch, was man jetzt schon mit mir angestellt hat. Beim nächsten Mal, da…« Er machte eine unmißverständliche Handbewegung um seine Kehle. »Um so eher sollten Sie mir alles erzählen«, drängte ich und nahm den Paß vom Tisch. »Den hier werden Sie dringend brauchen. Aber Sie kriegen ihn nicht eher, bis ich alle Informationen habe, die ich benötige.« »Um Gottes willen, Frazer! Ich muß den Paß haben! Sie müssen ihn mir geben!« Er rutschte ungeduldig im Sessel hin und her. »Also dann weiter, Dempsey. Ich höre.« Ich wartete schweigend, und endlich reagierte er: »Wenn jemand zu mir kommt, dann nenne ich hintereinander eine ganze Reihe von Namen, unter denen auch das Kodewort ist. Nennt der Betreffende das dann und dazu auch noch die entsprechende Kodezahl…« »Fantasie, zwei-dreißig«, ergänze ich seinen Satz. »Möchte bloß wissen, wo Sie das aufgeschnappt haben. Es wird jede Woche gewechselt.« Dann sah er mich verschlagen an. »Beim letzten Test sind Sie dann doch hängengeblieben.« »Aha… Das Metronom.« »Richtig.« Trotz seiner Schmerzen streckte er einen Finger aus und bewegte ihn hin und her. »Sie mußten das Pendel auf eine bestimmte Zahl einstellen. Als Sie das nicht taten, wußte ich, daß Sie nicht zu uns gehörten.« 177
»Und wenn ich die Zahl gewußt hätte? Was dann?« »Dann hätte ich Sie an jemand weitergeleitet.« »An Ericson?« »Niemand kommt zu Ericson.« Er wischte sich mit dem Handrücken den Mund. »Lassen Sie es jetzt endlich genug sein, Frazer. Oder wollen Sie, daß die Leute mich umbringen?« »Sie selbst hätten mich doch kaltblütig draußen im Park umgebracht!« fuhr ich ihn wütend an. »Ist Vivien Gilmore der nächste Mittelsmann?« Er befeuchtete nervös die Lippen mit der Zunge und nickte zustimmend. »Sie war es doch, die Sie telefonisch vor mir gewarnt hat?« Wieder nickte er. »Sie sagen, niemand kommt mit Ericson direkt in Berührung. Wickelt Vivien Gilmore die Geschäfte ab?« »Ja.« Er umkrampfte die Lehne des Sessels, einem Schwächeanfall nahe. Ich füllte den Becher nochmals zur Hälfte mit Kognak und schob ihn zu ihm hinüber. Das tat ich gewiß nicht aus reiner Fürsorge, vielmehr hoffte ich, der Alkohol werde seine Zunge noch mehr lockern. Er kippte den Kognak mit einem Zuge hinunter und sah mich dann zerknirscht an. »Da haben Sie mich aber falsch eingeschätzt, Frazer. Die Pistole hätte ich gegen Sie bestimmt nicht gebraucht. Ich wollte nur damit drohen.« »Na schön. Ich will Ihnen glauben.« Damit ließ ich mich in den gegenüberliegenden Sessel fallen. Plötzlich kam er zu einem Entschluß. »Wissen Sie, Frazer: Nachdem die Kerle mich so brutal behandelt haben, werde ich sie auch nicht mehr schonen.« Ich war der Überzeugung, daß er jetzt wirklich die Wahrheit sagen würde, wenn ich ihm Fragen stellte, und begann: »Was wissen 178
Sie über einen Mann namens Leo Salinger?« »Ich habe von ihm gehört«, gab er zu. »Der wurde in Amsterdam bei einem Verkehrsunfall getötet.« »Und was wurde aus den gestohlenen Diamanten, die…« »Leo wußte nichts von den Diamanten«, unterbrach er mich. »Sie waren in dem Metronom versteckt, das Salinger bei sich trug. Er selbst glaubte aber nur, er liefere ein Geburtstagsgeschenk für einen Freund seines Bruders ab.« »Was für ein Bruder?« »Arnold Salinger. Der hat für Ericson oft Diamanten herübergebracht. Damals aber lag er mit gebrochenem Fuß zu Haus. Er hatte die Idee, die Diamanten in einem Metronom zu verstecken und Leo zu bitten, das Ding abzugeben.« »Aber Leo Salinger ist nie bis hierher gekommen.« »Auf dem Weg zum Flugplatz wurde er überfahren. Das Metronom verschwand. Mir ist bekannt, daß Ericson darüber sehr wütend wurde. Er glaubte, Arnold habe ihn hereingelegt. Daraufhin hat er dem armen Teufel die Daumenschrauben angelegt, bis Arnold es satt hatte und Selbstmord beging.« »Wie mag Cordwell an die gestohlenen Diamanten gekommen sein?« Dempsey zuckte mit den Schultern. »Er muß gewußt haben, daß Salinger sie bei sich trug. Vielleicht hat Arnold es ihm auch erzählt. Ich nehme an, Cordwell ist Leo dann gefolgt und hat auf eine günstige Gelegenheit gewartet, ihm das Metronom abzunehmen. Schließlich ist er ja auch hier aufgetaucht und hat versucht, mit Ericson ins Geschäft zu kommen. Was dann passiert ist, wissen Sie ja.« Dies schien mir absolut die Antwort auf die Frage zu sein, die Ross beschäftigte. Aber ich gab mich noch nicht zufrieden. »Barbara Day hat den Wagen gefahren, mit dem Leo Salinger überfahren wurde. Was wissen Sie von ihr?« 179
»Ich habe es Ihnen doch schon gesagt, Frazer. Den Namen habe ich nie gehört. Wer zum Team Ericson gehört, darf nicht viele Namen kennen. Auch Vivien Gilmore kenne ich nur deshalb, weil ich mit ihr Kontakt aufnehmen mußte, wenn jemand mit Diamanten in mein Büro kam. Der Antiquitätenladen ist ja nur ein Deckmantel für sie.« »Gemeinsam mit Barbara Day«, sagte ich, mehr zu mir selbst als zu ihm. »Wurde Cordwell nicht in Miß Days Wohnung ermordet?« Dempsey kratzte sich dabei am Hinterkopf. »Wenn Sie mich fragen, so wurde er ermordet, weil Ericson glaubte, er verkaufe Diamanten an eine andere Organisation.« »Von Ericson persönlich?« »Das halte ich für möglich.« »Haben Sie weitergemeldet, daß ich mit Ericson ein Geschäft machen will?« »Ja, ich habe Miß Gilmore unterrichtet. Ich weiß nicht, wie Ericson vermuten konnte, ich hätte einen Hintergedanken dabei gehabt. Ich habe ausdrücklich darauf hingewiesen, daß Sie die Diamanten mitbringen würden.« »Ist es dann nicht seltsam, daß Ericson seine Schlägerbande nicht auf mich angesetzt hat?« »Das finde ich auch. Sie haben verdammtes Glück gehabt, Frazer. Aber die werden auch Sie bald zu fassen kriegen. Passen Sie ja gut auf sich auf, oder wollen Sie auch so enden wie Cordwell?« »Ich werde mich entsprechend einstellen.« »Wie ist es«, fragte er nach einer Weile, »bekomme ich jetzt meinen Paß zurück?« Das Telefon läutete. Ich hob ab, ohne Dempsey aus den Augen zu lassen. Eine weibliche Stimme sprach laut und langgezogen: »Hier Vivien Gilmore. Ich hätte Sie gern gesprochen. Könnten Sie morgen um zehn Uhr im Restaurant Deich sein?« 180
»Ich glaube, ich kann es einrichten, Miß Gilmore.« »Aber erwähnen Sie es niemandem, besonders nicht Barbara gegenüber. Also dann – bis morgen um zehn Uhr.« Als ich den Hörer auflegte, fragte Dempsey: »Was wollte sie?« »Sie will sich mit mir treffen.« »Na, was habe ich Ihnen gesagt?« Er setzte eine wichtigtuerische Miene auf. »Jetzt ist man hinter Ihnen her, Frazer! Ich habe Sie gewarnt! Nun, was ist mit meinem Paß?« »Den können Sie haben.« Ich schob ihm den Paß hinüber. Er nahm ihn und steckte ihn in die Tasche. »Würden Sie mir einen Gefallen tun? Bitte, bestellen Sie mir ein Taxi. Bis zur Untergrundbahn schaffe ich es nie.« Ich tat ihm den Gefallen. »Also dann, Dempsey. Der Wagen wird in fünf Minuten hier sein. Ich an Ihrer Stelle würde ein heißes Bad nehmen und ein paar schmerzstillende Tabletten schlucken. Und dann sehen Sie zu, daß Sie morgen früh das Flugzeug erwischen.« »Da können Sie sicher sein!« Er nahm die Jacke von der Stuhllehne und stöhnte schmerzhaft bei jeder Bewegung, als er sie anzog. »Könnten Sie mir bitte behilflich sein?« Während ich ihm half, nahm ich die Pistole aus seiner Jackentasche. Es war eine 38er Automatik. »Ich an Ihrer Stelle würde mich bei der Landung in Montreal nicht mit diesem Ding antreffen lassen, Dempsey. Ich habe mir sagen lassen, die kanadische Polizei geht mit Revolverhelden ziemlich rauh um.« »Danke für den gutgemeinten Rat. Und viel Glück noch, Frazer. Ich hoffe, Sie tragen mir nichts nach.« »Sie sind vielleicht ein Optimist«, gab ich zur Antwort und schob ihn in Richtung Tür. »Eben ist Ihr Taxi vorgefahren.« Am anderen Morgen lief ich beim Verlassen meiner Wohnung In181
spektor Trueman direkt in die Arme. »Ich hätte gern mit Ihnen gesprochen, Sir«, sagte er und dirigierte mich zurück zu meiner Wohnung. »Es wird nicht lange dauern.« »Das hoffe ich auch. Ich habe nämlich in zwanzig Minuten eine Verabredung.« Im Wohnzimmer räumte Mrs. Glover gerade meinen Frühstückstisch ab. »Trinkt der Herr vielleicht eine Tasse Kaffee, Mr. Frazer?« fragte sie. Ich winkte mit der Bemerkung ab, der Besucher werde gleich wieder gehen, und sie verstand den Wink. »Eine Ehefrau würden Sie nicht so leicht loswerden«, meinte Trueman neidvoll, als Mrs. Glover das Zimmer verlassen hatte. »Es gibt Zeiten, in denen ich mir wünsche, ich wäre wieder Junggeselle, Sir.« »Das wundert mich. Für einen Kriminalbeamten gibt es doch immer eine Ausrede, wenn er mal länger ausbleibt. Meiner Ansicht nach genießen Sie auf diese Weise das Beste aus beiden Bereichen, Inspektor.« »Seltsam, daß Sie gerade vom langen Ausbleiben sprechen«, begann er jetzt den dienstlichen Teil des Gespräches. »Um welche Zeit sind Sie gestern nach Haus gekommen, Sir?« »Sieh da. Der Parkwächter hat Ihnen wohl die Nummer meines Wagens gemeldet«, antwortete ich schlagfertig. »Also, was wollen Sie wissen?« »Den Namen des Mannes, den Sie angeblich in ein Krankenhaus bringen wollten.« »Es war ein Bekannter. Ich brachte ihn hierher. Alles, was er brauchte, war ein Kognak.« »Nach uns vorliegenden Informationen war er zusammengeschlagen worden. Wissen Sie, warum?« »Wenn ich das wüßte, Inspektor, wäre das Problem der Jugendkriminalität gelöst.« »Also Halbstarke? Das nahm auch der Parkwächter an.« Trueman 182
sah mich ziemlich ungläubig an. »Toller Zufall, daß es gerade ein Bekannter von Ihnen war, finden Sie nicht?« »Und ob. Ich werde von solchen Zufällen geradezu verfolgt. In einer Wohnung wird ein Mann ermordet, und meine Fingerabdrücke befinden sich an der Tür.« Ich lachte. »Das ist genau die Art von Zufällen, über die ich immer wieder stolpere.« »Ich an Ihrer Stelle würde es nicht so oft geschehen lassen, Sir. Einmal könnte es sich doch als sehr unangenehm herausstellen.« »Meinen Sie damit vielleicht, daß man eines Mordes verdächtigt wird?« »In der Mordsache Cordwell stehen Sie nicht unter Verdacht, Mr. Frazer«, informierte er mich etwas widerwillig. »Wir sind jedoch der Ansicht, daß Sie wissen, wer es getan hat.« Er studierte intensiv sein Hutband. »Übrigens ist es ein schweres Vergehen, Beweismaterial zurückzuhalten, das der Polizei zur Aufklärung eines Verbrechens dienen könnte.« »Wie kommen Sie darauf, daß ich die Polizei hintergehen könnte?« »Sie scheinen mit der Dame, in deren Wohnung der Ermordete gefunden wurde, befreundet zu sein, Mr. Frazer. Frauen haben die Neigung, sich anzuvertrauen – vor allem einem ganz bestimmten Mann.« »Auch ich kenne das menschliche Leben, Inspektor. Sollte es aber im Leben von Miß Day ›einen ganz bestimmten Mann‹ geben, wie Sie es diskret nennen, dann ist das kein anderer als ihr Verlobter.« »Ich habe Mr. Fairlee gesprochen, kurz bevor ich hierher kam. Er erzählte mir, die Verlobung sei aufgelöst. Über Ihre Freundschaft mit Miß Day schien er nicht gerade sehr erbaut zu sein.« »Seltsam… Als er gestern hier war, hatte ich ganz den Eindruck, daß er Ihre häufigen Besuche bei Miß Day für übereifrig hielt… Aber das sollte Sie nicht stören, Inspektor.« »Das tut es auch nicht«, versicherte er mir. »Obwohl es Sie sicher 183
überraschen würde, wenn ich Ihnen gestehen würde, wie vorsichtig selbst ein Kriminalbeamter manchmal sein muß, wenn er sich in seinem sachlichen Urteil nicht beirren lassen will. Eine so attraktive Frau wie Miß Day kann einen Mann schon ganz schön an der Nase herumführen und seine Verstandeskraft trüben.« »Gottlob bin ich kein Polizeibeamter und brauche solche Gewissensnot nicht zu fürchten.« »Sie scheinen aber mit recht eigenartigen Leuten zu verkehren«, entgegnete er und schien damit auf Richards anzuspielen. »Ich habe viele Freunde und Bekannte. Da frage ich nicht jeden erst, wie er sein Geld verdient.« »Für mich als Kriminalbeamten ist das das erste, was mich interessiert. Leute, die keine nachweisbare Beschäftigung haben, erregen stets unsere Aufmerksamkeit.« Er rieb sich mit der Hand am Kinn. »Sie gehören auch zu dieser Kategorie, Sir.« »Für Ihre Polizeiakten bin ich ein Ingenieur, der sich augenblicklich journalistisch betätigt. Genügt das nicht?« »Das erklärt aber nicht, warum Sie so viel freie Zeit haben, Mr. Frazer. Oder was Sie damit anfangen.« »Was soll das alles, Inspektor?« »Damit will ich Ihnen nur eines sagen, Sir. Überlassen Sie Polizeiarbeit denen, die dafür bezahlt werden.« »Wie kommen Sie nur auf den Gedanken, ich mischte mich in die Arbeit der Polizei ein?« »Weil Sie an dem Fall Cordwell zu stark interessiert sind, Sir. Und wenn Sie einen wirklich gut gemeinten Rat annehmen wollen – lassen Sie die Finger davon. Cordwell hatte Umgang mit einigen sehr unangenehmen Typen, die ausgesprochen bösartig werden können, wenn man ihre Wege kreuzt. Ich warne Sie, Mr. Frazer!« »Dank für den Rat und die Warnung, Inspektor. Übrigens – haben Sie eigentlich jemals diesen Ericson aufgespürt, nach dem Sie uns gefragt haben?« 184
»Wir wissen, daß Ericson Chef der Bande ist, die gestohlene Diamanten schmuggelt und der auch Cordwell angehörte. Mehr konnten wir bisher noch nicht herausfinden.« Er sah mich durchdringend an. »Warum fragen Sie das?« »Ich bin nur neugierig; das ist alles.« »Dann möchte ich Ihnen doch raten, Ihre Neugier zu beschränken, Sir.« Trueman stand auf und ging zur Tür. »Sollten Sie zufällig etwas über diesen Ericson erfahren, rufen Sie mich an – und zwar sofort! Das ist eine strikte Anweisung, Mr. Frazer! Sonst könnte es Ihnen passieren, daß Sie wegen Behinderung der Polizeiarbeit unter Anklage gestellt werden. Dabei kümmert es mich nicht, wer hinter Ihnen steht«, fuhr er emphatisch fort. »Ich werde dafür sorgen, daß Sie sechs Monate bekommen. Das rede ich nicht nur so daher – ich meine es ernst!« Seinem Gesicht entnahm ich, daß er nicht spaßte. Als ich mir ein Taxi nach der Lennard Street nahm, fragte ich mich, wie gut wohl die Beziehungen sein mochten, die Ross zur Polizei hatte – und ob er sie notfalls zu meinen Gunsten spielen lassen würde. Ich hatte das unangenehme Gefühl, er würde es nicht tun. Vivien unterhielt sich mit Jan, als ich im Deich eintraf. Bei meinem Anblick verschwand das Lächeln aus ihrem Gesicht. Er folgte ihrem Blick, drehte sich dann schnell um und verschwand hinter der Theke. Ich ging zu ihrem Tisch und setzte mich unaufgefordert. Währenddessen ging Jan zur Tür, drehte den Schlüssel im Schloß um und hängte das Schild ›Geschlossen‹ an die Scheibe. Als ich ihn dabei beobachtete, hörte ich Vivien fragen: »Trinken Sie eine Tasse Kaffee, Mr. Frazer?« »Nein, danke«, antwortete ich und behielt Jan im Auge, der aber 185
zu seinem Schanktisch zurückkehrte, ohne zu uns herüberzublicken. »Nun, weshalb wollten Sie mich sprechen?« fragte ich. Sie ließ ein Stückchen Zucker in den Kaffee fallen und rührte langsam darin herum. »Ich mache mir Sorgen wegen Barbara«, erklärte sie dann mit bedrückter Miene. »Sie hat ihre Verlobung wieder gelöst.« »Daß das gerade Ihnen Sorge macht, wundert mich aber.« Ich bemühte mich gar nicht, den Sarkasmus in meiner Stimme zu unterdrücken. »Arthur bringt Barbara noch zum Wahnsinn und ruiniert ihre Nerven völlig. Er glaubt immer noch, sie dazu bringen zu können, ihre Entscheidung rückgängig zu machen.« »Wie sollte er denn Ihrer Ansicht nach darauf reagieren?« »Ich dachte, Sie könnten vielleicht mit Barbara reden. Auf Ihren Rat hört sie doch sehr. Wenn Sie sie nun überzeugen könnten, daß sie wirklich den richtigen Entschluß gefaßt hat…« Ich sah sie amüsiert an. »Haben Sie mich etwa deswegen heute früh hierher gebeten? Nur, um mich zu bitten, die Seelenkraft Ihrer Freundin zu stärken?« Ihre Augen bekamen plötzlich einen harten Blick. »Nein, das war nicht der Hauptgrund.« »Warum kommen wir dann nicht zum Hauptgrund?« Sie blickte zu Jan hinüber und sagte dann leise mit kalter Stimme: »Ich will die Diamanten haben.« Ich tat überrascht. »Welche Diamanten?« »Spielen wir doch nicht weiter Versteck«, antwortete sie, wobei ihre Stimme noch metallischer wurde. »Ich weiß, daß Sie die Diamanten von Cordwell haben.« Ich lachte ungläubig. »Was, zum Teufel, ist in Sie gefahren, Vivien? Wollen Sie damit sagen, Cordwell habe Diamanten bei sich gehabt?« »Sie wissen genau, daß es der Fall war.« Mit einem Blick zu Jan 186
forderte sie ihn auf: »Es kann losgehen, Jan.« Er langte unter den Bartisch und holte ein Tonbandgerät hervor. Kaum hatte er es eingeschaltet, erkannte ich Dempseys Stimme. »›Was verlangen Sie dafür, Frazer?‹ ›Nicht den Preis für einen Mittelsmann. Ich möchte mit dem Boß persönlich verhandeln.‹ ›Wer sagt Ihnen, daß ich einen Boß habe?‹ ›Cordwell.‹« Ich lauschte dieser mir wohlvertrauten Unterhaltung noch einige Zeit. Dann nickte Vivien wieder, und Jan schaltete gehorsam das Gerät aus. Es entstand eine Pause. »Sie haben Dempsey also nicht getraut.« »Ericson tat es nicht. Aber er traut niemandem. Nicht einmal mir.« »Offensichtlich traut er Ihnen aber wenigstens so weit, daß er Sie die Diamanten ankaufen läßt«, erwiderte ich. »Also, reden wir nicht mehr darum herum. Wieviel wollen Sie zahlen, Vivien?« »Keinen Penny«, antwortete sie kühl. »Händigen Sie mir die Diamanten aus, und dann wollen wir die Angelegenheit als erledigt betrachten.« »Und wenn ich das nicht tue, Vivien?« Sie zuckte mit den Schultern. »Dann melden wir einfach der Polizei, daß Sie die Diamanten haben. Rechnet man dazu, daß Ihre Fingerabdrücke in Barbaras Wohnung gefunden wurden, dann sitzen Sie ganz schön in der Tinte.« »Als Cordwells Mörder, meinen Sie? Glauben Sie wirklich, Sie könnten mir das anhängen? Hören Sie sich den Rest des Tonbandes an, dann wissen Sie, wie ich damals in die Wohnung hineingekommen bin.« »Ich habe es mir ganz angehört, Tim. Glauben Sie etwa, die Polizei wird Ihnen die Geschichte von dem Schlüssel abnehmen, der durch den Türschlitz geschoben wurde?« 187
»Wie sollte ich denn sonst hineingekommen sein?« »Auf demselben Wege wie Cordwell – über die Feuerleiter.« »Und warum sollte er diesen ungewöhnlichen Weg genommen haben?« fragte ich ungläubig. »Irgend jemand hat ihn in die Wohnung eingelassen.« »Dann hat Barbara Ihnen also nicht erzählt, was geschehen ist?« Sie lachte kurz. »Dann werde ich es Ihnen sagen: Cordwell hatte nämlich außer dem Diamantenschmuggel noch eine Nebenbeschäftigung.« »Erpressung?« Sie nickte. »Im Café de Kroon in Amsterdam hat er Ihre Kamera an sich genommen, vermutlich aus Versehen. Als er sich dann den Film angesehen hatte, glaubte er etwas in der Hand zu haben, womit er Barbara erpressen könnte. Er wußte, daß sie mit einem Mann verlobt war, der vor Eifersucht außer sich geraten würde, wenn er erführe, daß ein anderer Mann stark an ihr interessiert ist.« »Für diesen Film gibt es doch eine höchst harmlose Erklärung. Hat Barbara es Ihnen nicht erzählt?« »Ihre faule Ausrede, daß Sie ein attraktives Mädchen auf den Erinnerungsfotos von Amsterdam haben wollten?« Vivien lachte höhnisch. »Barbara muß schon verteufelt naiv sein, wenn sie auf so etwas hereingefallen ist! Aber zurück zu Cordwell – er rief Barbara an und wollte wissen, wieviel sie für den Film zahlen würde. Sie hielt ihn für verrückt und dachte gar nicht daran, ihm den Film abzukaufen. Deshalb stieg er über die Feuerleiter in ihre Wohnung, um sie durch Einschüchterung doch noch zu einem Geschäft zu bewegen.« »Woher wissen Sie das alles? Waren Sie etwa zur gleichen Zeit in der Wohnung?« »Natürlich nicht. Aber die Dinge liegen doch ganz klar. Während Barbara zu Arthur fuhr, folgten Sie Cordwell und kletterten hinter ihm die Feuerleiter hoch. Sie wußten, daß er die Diamanten bei sich 188
hatte – das haben Sie Dempsey selbst erzählt. Vergessen Sie nicht – auch das ist auf Band festgehalten. Diesmal können Sie sich nicht aus der Sache herauswinden.« Richard hatte also recht gehabt. Es war falsch von mir gewesen, Dempsey von meinem Besuch in Barbaras Wohnung am Mordabend zu erzählen. »Ich war da«, gab ich zu. »Aber Cordwell war bereits tot. Er wurde von dem ermordet, der mir den Schlüssel durch den Türschlitz geschoben hat.« »Wer soll Ihnen die Geschichte abnehmen? Die Polizei? Bestimmt nicht! Das können Sie mir glauben. Und ich werde dafür sorgen, daß dieser Teil der Bandaufnahme gelöscht wird.« »Auch ich habe meine Trümpfe«, unterbrach ich sie. »Das habe ich gestern abend aus Dempsey herausgeholt, nachdem man ihn zusammengeschlagen hatte.« Mit einem kurzen Blick auf die Uhr hatte ich festgestellt, daß Dempsey jetzt schon auf dem Wege nach Montreal sein mußte. »Jawohl, ich war in der Wohnung und nahm auch den Hörer ab, als Sie Barbara anriefen, um sie zu warnen, daß jemand wegen Ericson und der Lennard Street neugierig war.« Sie nickte. »Nur, daß dieser ›jemand‹ Fairlee war. Versuchen Sie ja nicht, Barbara etwas anzuhängen, Tim. Sie ist eine kleine, dumme Närrin, die keinen festen Entschluß fassen kann.« »Warum riefen Sie sie denn wegen Ericson an? Wenn sie mit ihm nicht in Verbindung steht, warum dann diese Warnung?« »Ericson hat mich mit Barbara gesehen und ist in sie verknallt. Ich sollte unbedingt für ihn ein Rendezvous mit ihr im Deich arrangieren. Fairlee kam eines Tages in den Antiquitätenladen, als Barbara gerade nicht da war. Er behauptete, er hätte gehört, wie sie mit jemandem ein Rendezvous ausmachte. Deshalb rief ich an dem bewußten Abend an – um sie zu warnen, daß Fairlee Verdacht geschöpft hatte.« »Hat Barbara diesen Ericson jemals persönlich gesehen?« »Niemals«, antwortete Vivien emphatisch. »Sie weiß auch nichts 189
von dem Diamantenhandel.« Obwohl diese Antwort mich keineswegs befriedigte, wollte ich mich in keine weitere Diskussion mit ihr einlassen. »Also gut, Vivien. Ich nehme Ihre Erklärungen an. Sie können Ericson melden, ich fordere 12.000 Pfund für die Diamanten. Sie sind viel mehr wert, und ich bin überzeugt, daß er noch immer einen ganz schönen Gewinn erzielen wird. 12.000 Pfund und keinen Penny weniger. Und ich will sie von Ericson persönlich.« Sie starrte mich argwöhnisch an. »Sie arbeiten doch nicht etwa für die Polizei, Tim?« »Meinen Sie, dann könnte ich Ihnen gestohlene Diamanten zum Verkauf anbieten? Sollte Ericson aber nicht die 12.000 Pfund herausrücken, dann werde ich der Polizei über Sie einen Tip geben. Daher sollten Sie lieber schnell mit Ericson Verbindung aufnehmen.« Sie überlegte ein paar Minuten und sagte dann: »Ich werde versuchen, eine Zusammenkunft zwischen Ihnen und Ericson zu arrangieren.« Sie bekam einen verkniffenen Zug um den Mund. »Eins kann ich Ihnen aber jetzt schon versprechen: Anschließend werden Sie eine Tracht Prügel beziehen, daß Ihnen die Sache mit Dempsey wie eine harmlose Balgerei in einem Kindergarten vorkommen wird.« Ich ließ sie deutlich spüren, daß diese Drohung mich überhaupt nicht schreckte. Auf dem Weg zur Tür nahm ich Jan beiseite. »Sie sollten sich für gestern abend um elf Uhr lieber ein gutes Alibi ausdenken«, riet ich ihm. »Die Polizei sucht die Rabauken, die um diese Zeit Dempsey im Wimbledon Park zusammengeschlagen haben. Bevor ich mich mit Ericson treffe, werde ich einen Brief an Inspektor Trueman schreiben und ihn bitten, bei Ihnen 'reinzuschauen, wenn ich länger als 24 Stunden von meiner Wohnung abwesend sein sollte. Daran sollten Sie jede Stunde denken, Jan.« 190
»Trueman kann hier einen Kaffee auf Geschäftskosten trinken«, konterte Jan drohend. »Und sich dabei das Tonband anhören, Mr. Frazer.« »Vielleicht spielt er Ihnen dann anschließend das Tonband vor, das ich von meiner Unterhaltung mit Dempsey aufgenommen habe – gestern abend, nachdem er zusammengeschlagen wurde.« Ich grinste frech. »Ihr Name kommt mehrfach darin vor. Das Schild ›Geschlossen‹ lasse ich wohl lieber gleich hängen«, erklärte ich, als ich die Hand auf den Türgriff legte. »Ich habe so das Gefühl, es wird dort noch ziemlich lange hängen. Guten Morgen, Jan.« Ich verließ das Lokal mit der Erkenntnis, daß Jans Schatz an englischen Flüchen für einen Holländer recht beachtlich war.
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ichards ging ungeduldig vor meinem Hause auf und ab. Als ich aus dem Taxi stieg, sagte ich dem Fahrer, er solle zehn Minuten warten und mich dann nach Chelsea fahren. »Ich wette eine Flasche Whisky, wenn ich nicht die Adresse weiß«, neckte mich Richards, der plötzlich neben mir stand. »Der Herr will nachher zum Crawford House Mansions Nr. 23, Fahrer.« »Das war aber nicht gerade originell, Richards«, knurrte ich ärgerlich, als wir in meine Wohnung gingen. »Frazer, Ihr Auftrag ist erledigt«, sagte Richards energisch. »Was hat es jetzt noch für einen Sinn, hinter Barbara Day herzujagen und einen Mord aufklären zu wollen, der uns nichts angeht?« »Sie hat mich zum Lunch in ihre Wohnung eingeladen. Muß ich 191
Ross vielleicht erst um Erlaubnis bitten, ob ich mit jemandem essen darf?« »Ross ist zur Zeit in einer Stimmung, in der er zu allem ja sagen würde, um was Sie ihn bitten. Das ist auch der eigentliche Grund meines Kommens. Ich soll Ihnen seine Anerkennung zu der Art und Weise übermitteln, wie Sie den Fall Salinger gelöst haben. Da wir jetzt wissen, daß Salinger unschuldig war und nichts mit Ericson zu tun hatte, ist der Fall für uns abgeschlossen.« »Für mich aber noch nicht. Im Ingenieurberuf lernt man, eine Sache wirklich bis zum Ende zu bringen. Dieses Ende ist für mich erst erreicht, wenn ich weiß, wer Ericson ist.« »Das ist natürlich außerordentlich edel gedacht, Frazer. Leider bringe ich dafür nicht das geringste Verständnis auf.« »Darf ich etwas genauer erfahren, was Sie damit sagen wollen?« fragte ich ärgerlich. Er schüttelte tadelnd den Kopf. »Habe ich nicht recht mit der Annahme, Sie wollen beweisen, daß Barbara Day nichts mit dem Mord an Cordwell zu tun hat?« »Na, und wenn schon?« wies ich ihn zurecht. »Ist es vielleicht verboten, einem Mädchen aus einer verdammt unangenehmen Lage zu helfen?« »Und wenn Sie wirklich beweisen sollten, daß sie das süße, unschuldige Geschöpf ist, als das sie in Ihren Vorstellungen lebt – was dann? Welche Art von Belohnung erwarten Sie sich?« »Ihre schwache Seite ist, daß Sie zu romantisch sind, Richards«, erwiderte ich bissig. »Meine schwache Seite ist eher, daß ich ein Zyniker bin, der es liebt, seinen Gewinn einzustreichen, wenn er die Wette gewonnen hat.« »Lassen wir das jetzt, Richards«, lenkte ich ein. »Schenken Sie sich lieber ein Glas ein.« Er ging zur Hausbar und sah mich besorgt an. »Sie befinden sich 192
auf gefährlichem Pflaster, Frazer.« »Ich weiß es. Trotzdem verfolge ich die Sache bis zum Ende, Richards. Ich bin gerade dabei, mich mit Ericson zu verabreden, und hoffe, ihm diese Diamanten für 12.000 Pfund zu verkaufen.« Er stieß einen überraschten Pfiff aus. »Sie wissen hoffentlich, daß der Handel mit gestohlenem Gut ein Verbrechen ist? Ganz abgesehen davon, daß die Diamanten nicht Ihnen gehören. Wollen Sie mich etwa zum Komplicen einer strafbaren Handlung machen, indem ich Ihnen grünes Licht dafür gebe?« »Ich spiele die Karten auf meine Weise aus«, antwortete ich ziemlich selbstbewußt. »Ich will nichts weiter als Ericson treffen, wozu die Diamanten nur der Köder sind. Mein Ziel ist es, Cordwells Mörder zu finden.« Nicht gerade überzeugend meinte ich dann: »Alles deutet darauf hin, daß Ericson der Mörder ist. Sobald dieses üble Subjekt hinter Schloß und Riegel sitzt, wird der Fall Salinger auch für mich abgeschlossen sein.« »Sie sollten sich lieber auf den eben errungenen Lorbeeren ausruhen«, riet Richards. »Im Augenblick sind Sie das Lieblingskind von Ross.« »Unvollendete Aufgaben haben mich noch nie befriedigt«, wehrte ich ab. »Dann sollten Sie mich wenigstens wissen lassen, wann und wo Sie ihn treffen werden, Frazer«, erwiderte Richards. »Van Dakar fühlte sich nicht sehr wohl, als ich ihn heute früh im Krankenhaus anrief. Er ist ziemlich schwach.« »Das ist ein weiterer Grund, Ericson zur Strecke zu bringen«, reagierte ich heftig. »Also gut; ich verspreche, Ihnen Bescheid zu geben, wann und wo ich ihn treffe. Sind Sie jetzt beruhigt?« »Immerhin erspart mir das möglicherweise den Griff in die Brieftasche, um meinen Anteil am Kranz zu zahlen.« Mein Taxifahrer ging bereits auf und ab, als wir das Haus verließen. 193
»Einsteigen, Chef«, forderte er mich auf. Richards betrachtete mich nachdenklich, als er mich im Wagen sitzen sah. Ich fuhr in Richtung Chelsea. Vor Barbaras Haus angekommen, zahlte ich und fuhr mit dem Lift nach oben. Barbara schien erleichtert, als sie mich sah. »Vivien ist hier«, sagte sie, »und Arthur hat auch eben angerufen. Er entwickelt sich zu einer Landplage.« »Weil Sie die Verlobung aufgelöst haben?« fragte ich mitfühlend. »Dann ist er also bei Ihnen gewesen?« Barbara führte mich ins Wohnzimmer. »Ja, er war bei mir, und zwar in höchster Erregung. Er beschuldigte mich, für den Bruch verantwortlich zu sein.« Ich nickte Vivien zu, die es sich in einem Sessel bequem gemacht hatte. Sie erwiderte den Gruß mit einem bedeutungsvollen Blick. Das Telefon läutete, und Barbara machte eine ungeduldige Geste. »Das ist er wahrscheinlich schon wieder. Ich nehme den Apparat ins Schlafzimmer, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Tim.« Ich nickte verständnisvoll, und sie verschwand mit dem Telefon. Vivien blickte ihr nach und wandte sich dann mir zu. »Ich habe für heute abend eine Verabredung mit Ericson arrangiert. In Maide Vale.« »Er ist also verhandlungsbereit?« »Er hat Ihren Preis akzeptiert und will Sie in Monkton Villas Nr. 3 treffen.« Ich holte mein Notizbuch hervor. »Einen Augenblick; ich will mir nur die Adresse notieren.« Mir war Richards' Mahnung eingefallen, Adressen grundsätzlich aufzuschreiben. »Und kommen Sie allein«, mahnte Vivien. »Falls Sie jemand begleitet, ist das Geschäft sofort abgeblasen.« »Ich komme schon allein«, beruhigte ich sie. »Ericson wird sehr darauf bedacht sein sicherzugehen. Das Haus 194
können Sie gar nicht verfehlen. Draußen hängt ein Schild ›Zu vermieten‹.« Sie nahm einen Sicherheitsschlüssel aus der Tasche und händigte ihn mir aus. »Damit können Sie sich selbst einlassen. Das Haus steht leer.« Ich sah sie nachdenklich an. »Und welche Garantie habe ich, daß Ericson mir wirklich das Geld gibt und ich das Haus wieder bei voller Gesundheit verlasse?« »Dafür gibt es keine Garantien«, erwiderte sie kühl. »Ich nehme an, Sie haben auch daran gedacht, bevor Sie um diese Begegnung nachsuchten.« Ich nickte lächelnd. »Wenn ich jetzt nach Haus komme, schreibe ich einen Brief an Inspektor Trueman. Ich werde ihn mit genauen Weisungen meinem Bankdirektor übergeben. Welcher Art diese Instruktionen sein werden, brauche ich Ihnen wohl kaum zu erklären, Vivien. Sollte mir heute abend etwas zustoßen, wird der Brief morgen früh bei Scotland Yard abgeliefert. Das können Sie auch Ericson mitteilen.« »Das werde ich tun.« Sie lachte. »Ich glaube, Ihnen steht eine Überraschung bevor, Frazer.« »Vielleicht wird auch Ericson nicht weniger überrascht sein«, erwiderte ich und steckte den Schlüssel ein. »Um welche Zeit kommt er?« »Um Mitternacht.« Sie warf einen schnellen Blick auf ihre Armbanduhr. »Da fällt mir ein, daß ich in zehn Minuten verabredet bin. Entschuldigen Sie mich bitte bei Barbara.« Kurze Zeit danach kam Barbara wieder ins Zimmer. Sie nickte schweigend, als ich ihr erzählte, Vivien sei gegangen, und ließ sich offensichtlich deprimiert in einen Sessel sinken. »Arthur treibt mich noch zum Wahnsinn«, beklagte sie sich. »Unter anderem droht er mit Selbstmord.« »Er wird darüber hinwegkommen. Sie müssen aber fest bleiben und sich weigern, ihn wiederzusehen.« 195
Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück. »Zuerst hatte er mich ja beschuldigt, mit Ihnen ein Verhältnis zu haben. Dann aber schob er die Schuld auf diesen Ericson. Ich versuchte ihm klarzumachen, daß Sie niemanden dieses Namens kennen. Das verhält sich doch auch so, nicht wahr, Barbara?« »Nein, ich kenne ihn nicht«, antwortete sie zögernd, den Blick fest auf mich gerichtet. »Ich kenne ihn nicht, aber … Ericson ist ein Freund von Vivien, und wenn ich das Trueman erzähle, dann –« Sie brach den Satz mit einem hilflosen Zucken der Schultern ab. »Was dann?« »Ich dachte, die Polizei würde dann glauben, Vivien habe auch etwas mit der Sache Cordwell zu tun.« »Und hat sie etwas damit zu tun?« bohrte ich weiter. »Nein. Ich bin sicher, daß dies nicht der Fall ist«, antwortete Barbara mit fester Überzeugung. »Kennen Sie Vivien schon lange?« »Schon ziemlich lange.« Sie verschränkte die Hände hinter dem Kopf und schloß halb die Augen. »Genaugenommen hat Arthur uns miteinander bekannt gemacht.« »Wußten Sie etwas über sie, bevor Sie Vivien kennenlernten?« »Nicht viel«, gestand sie widerwillig. »Aber sie kannte eine Menge Leute mit Geld, die sich für Antiquitäten interessierten. Aus diesem Grund hielt ich sie für eine passende Geschäftspartnerin.« Sie fing meinen Blick auf und meinte dann: »Vivien könnte Ihnen nützlich sein, wenn Sie etwas Kapital brauchen, um Ihre Firma wieder in Gang zu bringen. Warum sprechen Sie nicht einmal mit ihr?« »Ich würde 12.000 Pfund benötigen«, antwortete ich zweifelnd. »Das ist eine Menge Geld, und ich kann ihr keine Sicherheiten bieten.« »Das ist allerdings schwierig. Haben Sie denn überhaupt keine Sicherheiten?« Ich schüttelte den Kopf und brachte das Gespräch langsam wie196
der auf Ericson zurück. »Hat Cordwell Ihnen gegenüber jemals Ericson erwähnt?« erkundigte ich mich und fügte schnell hinzu: »Sie wissen doch, daß Cordwell mit gestohlenen Diamanten handelte, Barbara?« Sie sah überrascht aus. »Nein! Nein, das wußte ich nicht. Zwar erzählte mir Trueman, daß Cordwell ein Erpresser gewesen sei, aber…« Ich wollte ihr glauben. Vivien mußte mich belogen haben, als sie mir sagte, Barbara habe um die andere Tätigkeit von Cordwell gewußt. Vermutlich hatte sie das nur behauptet, um das Gespräch auf die Diamanten lenken zu können. »Wollen Sie mich etwa vor Vivien warnen, Tim?« fragte sie besorgt. »Ich habe ihr stets vertraut. Der Gedanke, daß sie in eine böse Sache verwickelt sein könnte, wäre mir sehr unangenehm.« »So meinte ich das nicht«, tröstete ich sie schnell. »Aber Vivien kennt Ericson, und Trueman hegt einen schweren Verdacht gegen Ericson. Da ist es doch nur natürlich, daß man sich für Viviens Vergangenheit interessiert.« »Wirklich, Sie sind genauso schlecht wie Arthur«, protestierte sie. »Er hat mich auch stets vor ihr gewarnt.« »Da gibt es noch eine andere Möglichkeit, Barbara. Glauben Sie, Cordwell sei vielleicht an jenem Abend gekommen, um Sie zu erpressen?« »Mich erpressen? Wie sollte er das? Es gab doch nichts, weswegen er mich hätte erpressen können.« »Und wie ist es mit dem Film, den man bei ihm gefunden hat? Ich meine den, den ich von Ihnen in Amsterdam aufgenommen hatte. Fairlee hätte eifersüchtig werden können, wenn er erfahren hätte, daß ich Ihnen überall gefolgt bin.« »Ich muß gestehen, es sah wirklich so aus, als hätten Sie ein mehr als zufälliges Interesse für mich, Tim«, gab sie lächelnd zu. Sie setzte sich aufrecht. »Wie ist denn Cordwell nur an den Film herangekommen? Ich erinnere mich, daß Sie dem Inspektor sagten, Sie hät197
ten ihn irgendwo verloren; Cordwell muß ihn gestohlen haben.« Sie stand mit einer verzweifelten Geste auf. »Ich kann das alles einfach nicht mehr ertragen. Seit jenem Unfall mit dem Wagen habe ich ständig das Gefühl, verfolgt zu werden. In Amsterdam ist mir ein Mann überallhin gefolgt. Er war immer in der Nähe, wohin ich auch ging – in Museen, Gemäldegalerien… Dann kamen Sie, machten die vielen Aufnahmen von mir… Dann der Mord an Cordwell in meiner Wohnung … und diese ständigen Vernehmungen durch den Inspektor.« Impulsiv legte ich eine Hand auf ihre Schulter. »Sagen Sie mir die Wahrheit, Barbara: Haben Sie Ericson jemals getroffen?« fragte ich sanft. Sie hob den Kopf und sah mir fest in die Augen, ohne den Blick zu senken. »Ericson bedeutet mir nichts, gar nichts, Tim. Können Sie das nicht verstehen?« Beruhigt lächelte ich zu ihr hinab. »Heute abend treffe ich Ericson. Vivien hat es arrangiert.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie dürfen diese Verabredung nicht einhalten. Ich bin sicher, daß etwas Furchtbares geschehen wird.« »Wie kommen Sie darauf?« »Ich spüre es«, antwortete sie. »Irgendwie ist Vivien in die Sache verwickelt, wenn ich auch nicht genau weiß, wie. Es ist scheußlich, wenn man sich von so viel Argwohn umgeben sieht. Tim, ich muß von allem etwas Abstand gewinnen. In Cornwall besitze ich ein kleines Landhaus, in St. Mawes, hoch über dem Hafen. Dort ist es wundervoll ruhig.« Sie lächelte mich an. »Können Sie ein Segelboot bedienen, Tim?« Ich nickte. »Ich habe viel gesegelt … in Burnham-on-Crouch. Dort bin ich früher immer hingefahren, wenn ich geschäftliche Probleme am Halse hatte. Wenn man in einem Boot auf dem Wasser schwimmt, erscheinen die Probleme gar nicht mehr so riesenhaft.« Sie streckte mir die Hand entgegen. »Warum kommen Sie nicht 198
mit mir, Tim? Dann könnten wir die vielen unangenehmen Dinge einmal in die richtige Perspektive rücken. Wollen Sie, Tim?« Es klang sehr verlockend. Ihre Augen nahmen einen sanften Schimmer an. »Bis morgen früh werde ich alles gepackt haben. Wir könnten um 10.30 Uhr vom Bahnhof Paddington abfahren. Wollen Sie mich hier abholen?« Ich sagte zu, was ihr einen Seufzer der Befriedigung entlockte. »Und bitte, gehen Sie heute abend nicht zu Ericson. Versprechen Sie mir das?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich möchte diese Cordwell-Angelegenheit um Ihretwillen klären, Barbara. Solange das nicht erledigt ist, werden Sie nicht zur Ruhe kommen. Keine Sorge, Barbara. Wenn wir uns morgen wiedersehen, hoffe ich alles geklärt zu haben.« »Dann passen Sie gut auf sich auf. Versprechen Sie mir das, Tim?« Während ich es ihr versprach, berührte ich ganz kurz die Pistole in meiner Jackentasche. Nur so aus Aberglauben. Der Gedanke an die Pistole in meiner Tasche war mir auch recht tröstlich, als ich nachts durch die verlassene Maide Vale Street ging und mir die hohen, im spätviktorianischen Stil erbauten Villen ansah. Die meisten waren baufällig oder hätten zumindest dringend einen neuen Verputz nötig gehabt. Die Nummer 3 mit dem Schild ›Zu Vermieten‹ an der Tür machte keine Ausnahme. Ich stieg die Stufen zur Haustür empor, deren Farbe abgeblättert war, und schob den Schlüssel ins Schloß. Die Tür quietschte, als ich sie aufstieß, und ich gelangte in einen übelriechenden Vorraum. Dort schaltete ich die Taschenlampe ein und sah mich in der dürftig möblierten Diele um. Rechts, gegenüber der Treppe, war eine Tür. Ich blieb stehen und lauschte. Wenn Ericson bereits hier war, dann gab es zumindest kein Anzeichen für seine Anwesenheit. Langsam drehte ich den Türknauf und öffnete die Tür dann mit ei199
nem Stoß. Es war ein ganz gewöhnliches Wohnzimmer. Im Schein der Taschenlampe tauchten die vertrauten Umrisse von Stühlen, Anrichten und einem kleinen Schreibtisch auf; nur lag auf allem eine dicke Staubschicht. Ich ließ den Lichtkegel der Lampe in weitem Umkreis umherwandern und ging dann langsam ins Zimmer hinein – in einen Raum, der auf die Möbelpacker zuwarten schien, nichts weiter. Plötzlich fiel das Licht meiner Taschenlampe auf den Fuß eines Mannes. Der Fuß war nach oben gekehrt, und als ich den Lichtschein weiterwandern ließ, entdeckte ich, daß der Besitzer dieses Fußes offensichtlich bewußtlos hinter der Couch lag. Meine erste Reaktion war, die Taschenlampe auszuschalten und, ohne mich zu rühren, auf seinen Atem zu lauschen. Durch das verhängte Fenster drang der schwache Lichtschimmer einer Straßenlaterne. Eine beängstigende und unheimliche Stille herrschte im Raum. Auch aus den anderen Räumen des Hauses war kein Laut zu vernehmen. Schließlich ermannte ich mich, eilte zur Couch und legte mich, mit der Taschenlampe leuchtend, auf sie. Was ich sah, ließ mich um die Couch herumgehen, um besser sehen zu können. Das bleiche Gesicht und die spärlichen strohfarbenen Haare waren mir nur allzu gut bekannt. Dempsey hatte seinen Paß nach Montreal nicht gebraucht, und wie es schien, würde er ihn auch nie mehr benötigen. An seiner linken Schläfe bemerkte ich eine blutverkrustete Wunde, und aus einem Mundwinkel floß ein schwaches Rinnsal Blut. Dempsey war nicht mehr zu helfen, das war auf den ersten Anblick ersichtlich. Als ich mich wieder aufrichtete, wurde mein Gesicht vom grellen Schein einer starken Taschenlampe getroffen. Meine Augen brauchten ein paar Sekunden, um sich an das starke Licht zu gewöhnen. Im Türrahmen stand, die Taschenlampe in 200
der Linken und eine automatische Pistole in der Rechten, Arthur Fairlee. Er hatte seine Brille nicht auf, und seine Augen starrten mich kalt und drohend an. Ich wartete darauf, daß er das Schweigen brach; aber er blieb stumm. »Ich will mich hier mit Ericson treffen«, sprach ich ihn schließlich an, wobei ich plötzlich das Gefühl hatte, daß meine Lippen sehr trocken waren. »Das ist eine verdammte Lüge«, entgegnete er wütend. »Sie haben sich hier mit Barbara verabredet.« Ich umspannte mit beiden Händen die Lehne eines Sessels. »Schalten Sie die Taschenlampe aus und nehmen Sie die Hände hoch!« befahl er, und es schien mir sicherer, ihm zu gehorchen. Sein Gesicht war seltsam verzerrt, als er sagte: »Warum, zum Teufel, konnten Sie sich nicht auf die Arbeit beschränken, die Ihnen aufgetragen war, und Barbara aus dem Spiele lassen?« »Welche Arbeit war mir denn aufgetragen?« fragte ich, wobei ich mich vorsichtig um einige Zentimeter vorschob. »Sie sollten doch den Schmugglerring aufdecken, stimmt es?« Er umspannte den Griff der Pistole fester. »Vivien ist Ihnen auf der Spur geblieben, seit Ihrem ersten Besuch bei Dempsey.« »Ich habe die Diamanten mitgebracht«, antwortete ich, nahm den Arm herunter und suchte in der Jackentasche nach dem Schmuckkästchen. »Haben Sie die 12.000 Pfund dabei?« »Bleiben Sie stehen, wo Sie sind!« warnte er mich scharf. »Nein, die 12.000 Pfund habe ich nicht dabei. Glauben Sie etwa, ich sei Ericson?« »Nein, das glaube ich nicht. Aber seien Sie doch kein Narr, Fairlee. Glauben Sie wirklich, die Leute, für die ich arbeite, werden Sie entkommen lassen, nachdem Sie mich umgebracht haben? Stecken Sie Ihre Pistole weg, und Sie können die Diamanten haben.« »Nicht Sie stellen hier die Bedingungen, Frazer.« Er kam bei die201
sen Worten einen Schritt näher auf mich zu. »Sie werden sterben, nicht nur, weil Sie zu viel wissen, sondern auch, weil Sie mir Barbara ausgespannt haben.« »Nehmen Sie Vernunft an«, drängte ich und öffnete den Schmuckkasten. »Trueman ist Cordwells Mörder hart auf den Fersen. Wenn Sie noch einen Rest von Verstand haben, verlassen Sie dieses Land so schnell wie möglich. Dazu werden Sie viel Geld brauchen. Hier, nehmen Sie diese Diamanten und verkaufen Sie sie an Ericson.« Ich hielt ihm das Kästchen hin, wobei ich es so einrichtete, daß das Licht seiner Taschenlampe sich in den funkelnden Steinen brach. »Hiermit können Sie sich die Freiheit erkaufen. Im anderen Falle warten mindestens fünfzehn Jahre Zuchthaus auf Sie.« Die Pistole in seiner Hand schwankte. Er beugte sich vor und starrte auf die funkelnden Diamanten. Im selben Augenblick schnellte ich die Hand mit meinem ganzen dahinterstehenden Körpergewicht hoch, so daß die Diamanten ihn direkt zwischen die Augen trafen. Er prallte zurück, und ich schlug ihm blitzschnell mit dem anderen Arm die Pistole aus der Hand. Als ich jedoch mit einem Satz vorschnellte, um sie zu fassen, kam er mit angezogenem Knie auf mich herunter. Seine Finger umkrallten meine Kehle mit der unheimlichen Kraft eines nahezu Wahnsinnigen. Im verzweifelten Bemühen, diesen würgenden Fingern zu entgehen, wuchtete ich meinen Körper hoch, wobei ich Fairlee über meinen Kopf schleuderte. Seine linke Hand gab meine Kehle frei, erreichte aber wieder die Pistole. Dann kniete er über mir und zielte zwischen meine Augen. Ich hörte ein hartes Krachen, das ich im ersten Augenblick für die Explosion der Kugel hielt, die mir in den Schädel drang. Aber dann erkannte ich, daß die Pistole selbst auf meine Stirn geprallt war und das Blut, das ich im Gesicht spürte, von Fairlees Handgelenk tropfte. »Für einen kranken Mann war das doch eine ganz beachtliche 202
Leistung, finden Sie nicht auch?« hörte ich Richards fragen. »Danke, Richards!« war das einzige, was ich atemlos herausbrachte, als ich endlich wieder auf den Füßen stand. Ich deutete hinter die Couch. »Immerhin geht es mir besser als Dempsey dort, dem armen Teufel.« »Das wissen wir bereits«, entgegnete Richards trocken. »Als ich hier eintraf, hatte die Bande mit ihm schon abgerechnet.« »Nun sagen Sie mir erst einmal, was Sie hier eigentlich tun«, fragte ich, immer noch um Atem ringend. »Unsere Dienststelle ist ja schließlich kein Selbstmörderverein, Frazer. Als Sie nicht davon abzubringen waren, sich mit Ericson zu treffen, blieb mir nichts anderes übrig, als Sie im Auge zu behalten.« »Also darum wollten Sie unbedingt wissen, wann und wo ich mich mit Ericson treffen sollte.« Er lächelte, hob Fairlees Pistole auf und wickelte sie in ein Taschentuch. »Das Ding hier wird Scotland Yard interessieren, schätze ich«, sprach er zu Fairlee, der sich sein eigenes Taschentuch um das verletzte Handgelenk band. »Inspektor Trueman muß jeden Augenblick hier eintreffen. Ich rief ihn an, als ich Dempsey entdeckt hatte.« »Da habe ich einen Mordsdusel gehabt, Richards! Wenn Sie nicht hergekommen wären… Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll –« »Es war mir ein Vergnügen. Und vergessen Sie die Diamanten nicht, Frazer. Ross wird mir ihren Gegenwert so lange vom Gehalt abziehen, bis sie bezahlt sind, wenn ich sie ihm nicht heil zurückbringe.« Ich lachte, sammelte die Diamanten auf und übergab Richards das Kästchen. Ein Wagen fuhr draußen vor. »Kommen Sie, Frazer. Wir können gehen.« Als wir den Gartenweg entlangliefen, stieg Inspektor Trueman aus 203
dem Wagen. »Mit Ihnen rede ich morgen mal ein ernstes Wort, Mr. Frazer«, erklärte er im Vorbeigehen. »Sagen wir um zehn Uhr«, antwortete ich. »In Crawford House Mansion Nr. 23, es wird vielleicht sehr dringend sein.« »Ich werde zwei meiner Leute schicken«, antwortete Trueman über die Schulter. »Wir wollen es doch lieber nicht riskieren, daß wieder jemand über die Feuerleiter verschwindet, nicht wahr, Sir?« Am nächsten Morgen läutete ich pünktlich um zehn Uhr an Barbaras Tür. Sie öffnete mir in einem schwarzen Kleid, über dem sie eine Pelzjacke trug. »Genau das hatten Sie an, als wir uns kennenlernten. Erinnern Sie sich noch, Barbara? Damals im Flugzeug.« Sie nickte, wobei es in ihren Augen feucht schimmerte. »Dachten Sie vielleicht, ich hätte es vergessen?« Sie küßte mich leicht auf die Wange und deutete mit der Hand auf die Koffer in der Diele. »Ich bin schon seit sieben Uhr auf den Beinen – es ist alles gepackt.« Sie ließ mich eintreten und schloß dann die Tür hinter mir. »Ich bin so froh, daß Sie da sind. Telefonisch habe ich Sie leider nicht erreicht.« »Ich hatte doch versprochen, daß ich kommen würde«, antwortete ich ruhig. »Ja, ich weiß.« Sie seufzte. »In letzter Zeit habe ich aber so viel Aufregendes durchmachen müssen, daß man nichts mehr für selbstverständlich hält. Und Vivien ist total durchgedreht. Es wird wunderbar sein, das alles endlich einmal hinter sich zu lassen.« Sie lächelte und hielt mir ihre Hand hin. »Tim, wo ist Ihr Gepäck?« »Draußen, in meinem Wagen«, hielt ich sie hin. Sie warf einen flüchtigen Blick auf die Armbanduhr. »Wir haben gerade noch Zeit für eine Tasse Kaffee. Darf ich Ihnen eine anbieten?« 204
Ich schüttelte den Kopf. Jetzt erst schien sie zu merken, daß ich verkrampft und aufs äußerste angespannt war. »Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte sie. Ich deutete auf die Tür des Wohnzimmers. »Können wir nicht hineingehen? Nur für ein paar Minuten?« Sie stand mit dem Rücken zum Kamin und sah mich an. Zunächst wußte ich nicht, wie ich es sagen sollte. Dann aber gab ich mir einen Ruck: »Ich gehe nicht mit, Barbara.« Einen Augenblick hielt sie den Atem an, während ihre Hand die Lehne eines Stuhles umkrampfte. »Warum sind Sie dann gekommen?« fragte sie, während ich einige Schritte auf sie zuging. »Um Ericson zu treffen«, antwortete ich ruhig. Sie starrte mich einige Sekunden lang sprachlos an. Kein Laut war im Zimmer zu hören, außer dem gedämpften Dröhnen eines pneumatischen Gesteinsbohrers irgendwo draußen auf der Straße. »Sie erwarten Ericson hier bei mir zu treffen?« fragte sie mit ungläubigem Ton. Ich nickte. »Arthur Fairlee hat bei der Polizei ein volles Geständnis abgelegt. Man weiß dort über die Diamanten Bescheid und warum Cordwell zu Ihnen gekommen ist. Auch daß Fairlee ihn ermordete und dann den Schlüssel unter dem Türschlitz durchschob, damit ich in die Wohnung gelangen und meine Fingerabdrücke hinterlassen konnte.« »Das ist nicht wahr!« protestierte sie, aber ich sprach unbeirrt weiter. »Sie verschwanden beide über die Feuerleiter. Dann kamen Sie allein zurück und spielten mir eine Szene vor, die einer großen Tragödin würdig gewesen wäre. Hatten Sie mich zu diesem Zweck eingeladen – um ein gutes Publikum dafür zu haben?« »Nein, Tim«, antwortete sie. »Es war ein Unfall, das müssen Sie mir glauben.« »Und warum luden Sie mich für jenen Abend in Ihre Wohnung 205
ein?« »Damit Arthur Sie einmal sehen konnte. Ich wußte, daß Sie mir in Amsterdam gefolgt waren. Und ich dachte, falls auch Sie im Diamantengeschäft tätig waren, hätte Arthur Sie vielleicht wiedererkennen können.« »Es war also nicht von vornherein geplant, Cordwell umzubringen?« »Nein. Er tauchte ganz plötzlich auf – aus heiterem Himmel. Als er dann mit erpresserischen Drohungen begann, verlor Arthur die Beherrschung. Die Sache ist ja dann noch einigermaßen gut abgelaufen – bis auf die Diamanten.« Sie fingerte an der Naht des Polstersessels herum. »Wie kamen Sie auf die Idee, in der Zigarrenspitze nachzusehen?« »Es gehört zu meinem Beruf, an derlei Dinge zu denken«, erwiderte ich ausweichend. Die Karten lagen jetzt offen auf dem Tisch, und ich beobachtete Barbara scharf auf das geringste Anzeichen einer verdächtigen Bewegung. »Ich kann Sie nicht verstehen, Barbara«, erklärte ich dann hilflos. »Sie töteten Leo Salinger, weil Sie glaubten, sein Bruder Arnold betrüge Sie und Leo wolle sich mit den Diamanten auf und davon machen. Arnold Salinger trieben Sie zum Selbstmord. Sie haben Ihre beste Freundin in den Diamantenschmuggel hineingezogen und Ihren Verlobten in einen Mordfall… Warum das alles?« Sie sah mich lange schweigend und distanziert an. Dann antwortete sie gelassen: »Weil ich nun einmal Ericson bin.« Einen Augenblick zögerte ich, ging dann in die Diele hinaus und öffnete die Wohnungstür. Trueman stand draußen, wie ich es erwartet hatte, und wir gingen zusammen zurück ins Wohnzimmer. Als wir eintraten, nahm Barbara ihre Handtasche an sich. »Ich war mir schon lange darüber im klaren, daß dies alles irgend206
wann einmal enden mußte«, sagte sie mit einem Kopfnicken in Richtung auf den Inspektor. »Aber es wird auf meine Art enden, nicht so, wie andere es wollen.« Als Trueman durch das Schlafzimmer ging und den Beamten auf der Feuerleiter hereinrief, zog sie eine kleine Pistole aus der Tasche. »Rühren Sie mich nicht an!« rief sie und richtete die Pistole auf Trueman. Der Polizist kam aus dem Schlafzimmer, ein gemütlicher, grauhaariger Mann, der beim Anblick der Waffe erstarrte. »Stellen Sie sich dort drüben neben den Inspektor!« befahl Barbara mit einer drohenden Bewegung. »Ich mache sonst von diesem Ding hier Gebrauch. Ich spaße nicht!« »Tun Sie, was sie sagt«, wies Trueman den Beamten an. »Es hat keinen Sinn mehr, jetzt noch eine große Szene aufzuziehen.« Barbara faßte noch einmal in ihre Handtasche und holte noch eine kleine Phiole mit roter Kappe hervor. »Ich gehe jetzt in mein Schlafzimmer«, erklärte sie. »Folgen Sie mir nicht, Tim – auch nicht später. Ich möchte nicht, daß Sie mich noch einmal sehen.« Ich hörte eine seltsam klingende Stimme, die ich mit Mühe als meine eigene erkannte, sagen: »Barbara, seien Sie doch nicht töricht!« Dann verschwand sie im Schlafzimmer und verriegelte die Tür hinter sich. »Fairlee hat mir das bereits angekündigt«, sagte Trueman. Hastig schickte er den Polizisten los mit der Anweisung, nochmals über die Feuerleiter ins Schlafzimmer einzusteigen. Als der Mann wenig später die Tür von innen geöffnet hatte, wußten wir, daß es zu spät war. Trueman blickte auf die leblose Gestalt auf dem Bett. »Dafür werde ich von meinen Vorgesetzten einiges zu hören kriegen; aber besser so als noch ein Mord«, meinte er. »Sie hätte die Pistole bestimmt abgedrückt.« Als ich auf das Bett zuging, hob er abwehrend die Hand. »Ich würde es an Ihrer Stelle nicht tun, Sir«, warnte er mich ruhig. Ich zögerte, verließ dann mit kurzem Kopfnicken das Zimmer 207
und ging hinaus in die Diele. Richards saß an einem reservierten Tisch seines Stammlokals, als ich dort ankam. »Ich habe ein Dutzend Austern bestellt«, sagte er. »Wollen Sie nicht lieber zuerst ein Glas Sekt trinken?« Er winkte dem Kellner. »Sie hat Selbstmord begangen«, berichtete ich, als der Kellner davongeeilt war. »Sie hatte mehr Zivilcourage als dieser Fairlee«, antwortete Richards. »Der diskutiert noch immer. Er will zwar gewußt haben, was gespielt wurde, der Organisation selbst will er aber nicht angehört haben. Angeblich will er bereits früher mit Auflösung der Verlobung gedroht haben, wenn Barbara die Gangsterbande nicht aufgäbe. Damit wird er vor Gericht aber nicht weit kommen. Daß man es ihm abnimmt, er habe Cordwell in einem Anfall von Eifersucht getötet, halte ich jedoch für möglich. Das würde ihn vor dem Strang retten.« »Auch ich würde meinen, daß er in diesem Punkt die Wahrheit sagt«, erwiderte ich. »Cordwell wurde mit dem schweren Aschenbecher erschlagen, was an sich auf einen Ausbruch sinnloser Wut schließen läßt. Letzte Nacht in Maide Vale hatte ich unbedingt den Eindruck, daß Fairlee nicht normal war – obwohl ich nicht zu seinen Gunsten in den Zeugenstand treten würde.« »Sie treten überhaupt nicht in den Zeugenstand. Punktum.« Richards wurde energisch. »Ross wünscht nicht, daß seine Dienststelle diese Art von Publizität erhält.« Er legte einen Augenblick seine Hand auf meinen Arm. »Tut mir leid, alter Junge. Barbara Day war schon ein verdammt attraktives Mädchen, und ich kann es gut verstehen, daß Sie sich in sie verknallt hatten. Aber die Hauptsache ist, Sie haben Ihre Aufgabe gelöst, und zwar großartig, und darauf sollten wir jetzt trinken!« 208
»Bollinger … Jahrgang 49«, las ich auf dem Flaschenetikett. »Das ist schon ein Sekt zum Feiern. Den größten Teil müssen Sie allerdings austrinken, Richards.« »Verdammt noch mal, ich möchte nur wissen, was mit mir los ist«, erwiderte Richards. »Aber mir ist heute gar nicht so sehr nach Austern und Champagner zumute. Ich habe übrigens so etwas läuten hören, daß Ross schon einen neuen Fall für uns in petto hat. Nur jetzt sollten wir ihn nicht überfallen, er liebt es gar nicht, wenn man während der Bürostunden bei ihm aufkreuzt. Manchmal habe ich den Eindruck, er hält Morde, die nicht zwischen morgens neun und nachmittags fünf Uhr stattfinden, als nicht zuständig für seine Abteilung. Ich hoffe, es ist Ihnen nicht zu langweilig, für unsere Behörde zu arbeiten, Frazer.« Ich sagte ihm, ich würde versuchen, mich nicht zu langweilen. Als wir zwei Stunden später das Restaurant verließen, fragte Richards: »Sagen Sie mal, Frazer, Sie gehören doch wohl nicht zu den Männern, die Parfüm benutzen?« Ich schnupperte am Ärmel meiner Jacke. »Das erinnert mich an ein Mädchen, das ich einst auf dem Londoner Flughafen kennenlernte. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir zuerst bei mir zu Haus vorbeifahren? Ich würde gern meinen Anzug wechseln.« »Und stecken Sie sich auch ein neues Taschentuch vorn in Ihre Rocktasche«, riet mir Richards. »An diesem hier ist Lippenstift. Ross würde das nicht richtig zu würdigen wissen.« »Zum Teufel mit Ross, Richards! Ich habe meine Meinung geändert. Wir fahren direkt zum Smith Square.« Richards und ich saßen Ross gegenüber, der unsere Berichte über den Fall Ericson vor sich liegen hatte. Über Barbaras Einladung, sie nach Cornwall zu begleiten, war in dem meinen nichts erwähnt. Ross schloß die Akte und wandte sich mir zu. 209
»Ich hoffe, Sie wissen es zu schätzen, daß wir Ihnen in diesem Fall eine gewisse Ellenbogenfreiheit gelassen haben, Frazer. Sie haben den Fall Salinger so zufriedenstellend gelöst, daß ich mich von Richards dazu überreden ließ, Ihnen zu gestatten, noch hinter Ericson herzujagen. Doch möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie dies nicht als Präzedenzfall werten können.« Ich murmelte etwas vor mich hin, daß ich persönlich zu sehr in die Sache verwickelt gewesen sei, um anders handeln zu können. »Sie können von Glück reden, daß Richards Sie die ganze Zeit im Auge behalten hat«, sagte Ross sehr ernst. Er schloß auch die zweite Akte und legte beide in den Aktenschrank zurück. Dann griff er nach einem neuen Ordner und legte ihn vor sich auf den Tisch. »Nun zu unserem nächsten Auftrag…«, begann er, wurde jedoch vom Läuten des Telefons unterbrochen. Der Anruf war für Richards bestimmt, der ins Nebenzimmer ging, um von dort aus zu sprechen. Während wir auf seine Rückkehr warteten, öffnete Ross die Schublade zu seiner Rechten und entnahm ihr eine Filmkamera. »Die können Sie jetzt auch zurückhaben.« Ich nahm sie, warf einen flüchtigen Blick darauf und reichte sie ihm zurück. »Die gehört mir nicht«, sagte ich. »Das erklärt dann auch, wie die Filme vertauscht wurden.« Ross holte aus einer unteren Schublade eine andere Kamera hervor. »Die hier wurde bei Cordwells Leiche gefunden.« »Ja, die beiden Kameras sind bestimmt bei de Kroon vertauscht worden. Cordwell hatte seine gerade erst von der Polizei zurückerhalten, sie war ihm bei seinem vorherigen Besuch in Amsterdam gestohlen worden. Das muß damals gewesen sein, als er die Aufnahme von dem Autounfall gemacht hatte.« »Ja, so muß es gewesen sein«, stimmte Ross mir zu. »Die Kameras sind das gleiche Fabrikat, und auch die Taschen sind fast iden210
tisch.« »Es war Vivien Gilmore, die mich zuerst auf diesen Gedanken brachte«, berichtete ich. »Sie wollte mich glauben machen, Cordwell habe die Kamera durch Zufall an sich genommen und dann meinen Film benutzt, um Barbara zu erpressen. Sicherlich geschah das Vertauschen zufällig, aber Cordwell brauchte meinen Film gar nicht zu seinem Erpressungsversuch. Er hatte schon längst herausgefunden, wer Ericson war. Damit hat er sie erpreßt!« »Es war vielleicht ein wirklicher Glücksfall, daß Sie die falsche Kamera bekamen«, sagte Ross lächelnd. »Hin und wieder erweisen sich Fehler als ganz nützlich. Aber leiten Sie hiervon niemals eine Entschuldigung ab.« »Ich freue mich sehr, daß Sie im Falle Salinger recht behalten haben, Sir.« Er zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich haben Sie mich für übertrieben sentimental gehalten. Da er nun einmal tot ist, was spielte es da noch für eine Rolle, ob er schuldig oder unschuldig war? Aber für mich spielt es doch eine große Rolle.« Diese Geisteshaltung war es, die Ross die volle und rückhaltlose Mitarbeit aller Männer sicherte, die unter ihm tätig waren. Richards kehrte aus dem Nebenzimmer zurück, und Ross öffnete zum zweiten Male den Aktendeckel auf seinem Tisch. »Und jetzt zu Ihrem nächsten Auftrag, Frazer…«
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